Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung will ich einige amtliche Mitteilungen bekannt geben. Interfraktionell ist
vereinbart worden, in der laufenden Sitzungswoche
keine Befragung der Bundesregierung durchzuführen.
Außerdem ist vorgesehen, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten
Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Haltung der Bundesregierung zur drohenden Altersarmut
in Deutschland aufgrund des zu geringen Rentenniveaus
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD zu der zweiten Beratung des Antrags
der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({1}),
1413 ({2}), 1444 ({3}), 1510 ({4}), 1563 ({5}),
1623 ({6}) und 1707 ({7}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Birgit Homburger, Hellmut
Königshaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({8}),
1413 ({9}), 1444 ({10}), 1510 ({11}), 1563 ({12}),
1623 ({13}) und 1707 ({14}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/4298, 16/4571, 16/4620, 16/4621,
16/5636 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Wolfgang Gerhardt
Jürgen Trittin
ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD
Die Verfasstheit der Europäischen Union zügig klären Für ein klares und enges Mandat einer Regierungskonferenz
- Drucksache 16/5601 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({16})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Meyer
({17}), Dr. Martina Krogmann, Hans-Joachim Fuchtel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Uwe Küster, Dr. Rainer
Wend, Dr. h. c. Susanne Kastner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Den Wettbewerb stärken, den Einsatz offener Dokumentenstandards und offener Dokumentenaustauschformate fördern
- Drucksache 16/5602 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer
Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Planungen für Bundeswehr-Ehrenmal am Bendlerblock aussetzen - Würdigung der Toten in unmittelbarer Reichstagsnähe
- Drucksache 16/5593 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({19})
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Redetext
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 8 - Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes - wird abgesetzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 9 und 10 sowie 11 und 12
jeweils getauscht.
Schließlich mache ich auf einige nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 97. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({20}) zur Mitberatung
überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
- Drucksache 16/5200 überwiesen:
Finanzausschuss ({21})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Der in der 97. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({22}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Axel Troost, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
- Drucksache 16/5245 überwiesen:
Finanzausschuss ({23})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Der in der 97. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({24}) zur
Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, Julia
Klöckner, Ursula Heinen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Volker Blumentritt, Mechthild Rawert,
Waltraud Wolff ({25}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung gesundheitsrelevanten Verhaltens
zur Prävention von Fehl- und Mangelernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel insbesondere bei Kindern und Jugendlichen
- Drucksache 16/5258 überwiesen:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({26})
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Der in der 100. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend ({27}) zur Mitberatung überwiesen
werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Anerkennung von Berufsqualifikationen der
Heilberufe
- Drucksache 16/5385 überwiesen:
Ausschuss für Gesundheit ({28})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 ({29}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der
Internationalen Sicherheitspräsenz ({30})
und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({31}) und der
Republik Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 16/5600 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({32})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Eine Aussprache ist für heute nicht vorgesehen. Wir
kommen daher gleich zur Überweisung. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5600
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/5561, 16/5581 Ich weise darauf hin, dass für die Fragestunde nur
eine Zeitstunde vorgesehen ist.
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Ziff. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf Drucksache 16/5581 auf. Zunächst ist
der Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz
betroffen.
Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch auf:
Trifft es zu, dass die Staatsanwaltschaft Dresden im Zuge
der sächsischen Affäre um organisierte Kriminalität eine
Strafanzeige gegen den Kanzleramtsminister Dr. Thomas
de Maizière wegen Strafvereitlung im Amt prüft, und teilt die
Bundesregierung meine Auffassung, dass der Kanzleramtsminister seine Tätigkeit als Koordinator der Geheimdienste ruhen lassen sollte, bis die Vorwürfe geklärt sind ({33})?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach zur Verfügung. - Herr
Hartenbach, ich bitte um Beantwortung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Lötzsch, ich gebe Ihnen folgende Antwort: Der Bundesregierung sind entsprechende Medienberichte bekannt.
Strafanzeigen als Reaktion auf öffentliche Berichterstattungen sind nicht ungewöhnlich. Für die Bundesregierung ergibt sich aus dem Vorliegen einer Strafanzeige allein allerdings keine Notwendigkeit für Konsequenzen.
Nachfragen?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Informationen weisen darauf hin, dass die Stadt Leipzig
der wichtigste Knotenpunkt der organisierten Kriminalität war. Darum würde es mich interessieren, ob die Bundeskanzlerin oder ein anderes Mitglied der Bundesregierung mit Minister Tiefensee, der ja zum damaligen
Zeitpunkt Bürgermeister von Leipzig war, bereits über
diesen Fall gesprochen hat und ob Sie ausschließen können, dass hier eine Verbindung zum System der organisierten Kriminalität besteht.
Verehrte Frau Kollegin, wir beide kennen uns, glaube
ich, schon seit acht oder neun Jahren. Sie wissen, dass
ich die Freiheit der Presse sehr schätze. Ich kann aber
nicht einordnen, ob die Informationen, die die ordnungsgemäße freie Presse erhalten hat, tatsächlich richtig sind.
Deswegen haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich
Zeitungsmeldungen hier nicht kommentiere.
Zweite Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, da
wir hier so verständnisvoll miteinander sprechen, gehe
ich davon aus, dass wir heute in dieser Fragestunde nicht
zum letzten Mal über diesen Fall sprechen werden; dafür
haben Sie sicher Verständnis.
Um beim Thema Verständnis zu bleiben: Ich will Sie
darauf hinweisen, dass ich Mitglied des Vertrauensgremiums bin. Im Vertrauensgremium hat Herr de Maizière
als Geheimdienstkoordinator die Aufgabe, die Abgeordneten über die Tätigkeit der Geheimdienste, in diesem
Fall insbesondere über die Wirtschaftspläne, zu informieren. Können Sie verstehen, dass ich in Anbetracht
der vielfältigen Informationen im Augenblick nicht das
uneingeschränkte Vertrauen habe, dass Herr de Maizière
uns in diesem Gremium umfassend informiert, wenn er
es gegenüber den zuständigen Abgeordneten in Sachsen
augenscheinlich auch nicht getan hat? Darum rege ich
an, dass er seine Tätigkeit als Geheimdienstkoordinator
ruhen lässt.
Frau Kollegin, das ist Ihre Sicht der Dinge. Als ausgebildeter Jurist mit zwei Staatsexamen und früherer
Staatsanwalt und Richter - jetzt bin ich im Justizministerium tätig - bin ich der Auffassung, dass für jeden die
Unschuldsvermutung gilt.
({0})
Uns liegen bisher nur Berichte vor. Ich kann Ihnen, wenn
Sie möchten, bei einem Glas Wein - das habe ich Ihnen
schon einmal angeboten ({1})
erzählen, was ich als Staatsanwalt und Richter früher erlebt habe; das gehört aber nicht hierher. Ich lade Sie
herzlich ein: Rotwein oder Weißwein, wie Sie möchten.
({2})
Es gibt eine weitere Frage des Kollegen Volker Beck.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass das nicht die persönliche Meinung der
Kollegin Lötzsch ist? Wie bewerten Sie den Umstand,
dass der Vorsitzende der Parlamentarischen Kontrollkommission des Sächsischen Landtages - ich glaube, er
gehört sogar der gleichen Partei an wie der geschätzte
Chef des Bundeskanzleramtes - im Zusammenhang mit
der Art, wie die Parlamentarische Kontrollkommission
des Sächsischen Landtages informiert worden ist, von
glattem Rechtsbruch gesprochen hat, und meinen Sie
nicht auch, dass dieser Vorfall deshalb ernster zu nehmen ist? Auch ich bin gegen Vorverurteilung; das ist ein
wichtiges Prinzip im Rechtsstaat. Gibt es in der Bundesregierung Diskussionen über die Amtsauffassung von
Herrn de Maizière, und meinen Sie, dass sich die Amtsauffassung von Herrn de Maizière gegenüber den Parlamentarischen Kontrollgremien - damals in Sachsen und
heute als Mitglied der Bundesregierung gegenüber dem
Bundestag - womöglich geändert hat?
Herr Präsident, würden Sie Herrn Beck bitten, mir zu
sagen, welche seiner drei Fragen ich beantworten soll.
Denn ich glaube, er hat nur eine Zusatzfrage.
Ich glaube, das war ein grammatikalisch verbundener
Satz, der mit einem Fragezeichen endet.
Aber es waren drei Fragen.
Kollege Beck hat ja noch eine schriftliche Frage zum
gleichen Themenkomplex gestellt. Deswegen hat er
noch genügend Gelegenheit, Nachfragen zu stellen. Sie
können sich aussuchen, welche Frage Sie jetzt beantworten wollen.
Die erste Frage beantworte ich gerne. Herr Kollege
Beck, ich habe Frau Kollegin Lötzsch so verstanden,
dass sie kein Vertrauen mehr in Herrn de Maizière hat.
Darauf habe ich meine Antwort gegeben.
Im Übrigen teile ich ihre Auffassung nicht.
Dann geht das Fragerecht an den Kollegen HansChristian Ströbele.
Herr Staatssekretär Hartenbach, bei mir kommen Sie
mit dem Glas Wein nicht weiter,
({0})
weil Sie mich mit Rotwein nicht locken können.
Sie würde ich auch nicht einladen, Herr Ströbele.
({0})
Das ist der Vorteil, wenn man drogenfrei lebt; dann
kann das keine Versuchung sein.
({0})
Herr Staatssekretär, meine Frage lautet: Ist die Bundesregierung bereit, dem deutschen Parlament in irgendeiner Weise mitzuteilen, welche Erkenntnisse Herr
de Maizière seinerzeit als Innenminister in Sachsen
hatte, die er der dortigen Parlamentarischen Kontrollkommission nicht mitgeteilt hat, damit wir uns ein Bild
davon machen können, ob er seine Amtspflichten, so wie
wir sie im Deutschen Bundestag verstehen, erfüllt hat
und ihnen nachgekommen ist oder nicht?
Herr Ströbele, Sie wissen, dass die Bundesregierung
offen ist, wenn es darum geht, die Abgeordneten auf demokratischen Wegen zu informieren. Ich glaube, sofern
sich aus den Ihnen bekannten Gerüchten und Berichten
etwas ergeben sollte, was für die Bundesregierung ein
Anlass wäre, zu berichten - sofern dies Auswirkungen
auf die Arbeit der Bundesregierung und des Bundestages
haben sollte -, würde sich die Bundesregierung einem
solchen Bericht nicht verschließen. Eine Ausnahme ist
gegeben, wenn ein Thema der Geheimhaltungspflicht
unterliegt; darüber darf nur in den entsprechenden Gremien, denen Vertreter aller Fraktionen angehören, berichtet werden.
Eine weitere Frage hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort zu Recht darauf hingewiesen, dass
wir uns im Prinzip nur auf Medienberichte stützen können, was zur Folge hat, dass sehr viele Gerüchte kursieren. Allerdings gibt es nicht nur Printmedien, sondern
auch Fernsehen und Rundfunk. Herr Minister de
Maizière hat im MDR selbst kundgetan, dass er von der
Existenz der Akten wusste. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wäre es durchaus angebracht, eine Würdigung
dieses Faktums vorzunehmen.
Darüber hinaus würde mich interessieren, wie Sie es
bewerten, dass der derzeitige Innenminister des Freistaates Sachsen, Herr Buttolo, in einer Sondersitzung des
Sächsischen Landtages davor gewarnt hat, dass die organisierte Kriminalität zurückschlagen wird.
Das waren erneut zwei Fragen. Darf ich beide beantworten?
Bitte, Herr Staatssekretär. Das liegt in Ihrer Hand.
Natürlich, gerne. - Wenn sich Herr de Maizière dazu
geäußert hat, dann ist Ihrer Forderung doch Genüge getan. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Vor allem habe
ich diese Aussage nicht zu bewerten; das werden Sie
vielleicht verstehen.
Ihre zweite Frage zielte darauf, wie ich es werte, dass
der sächsische Innenminister, Herr Buttolo, gesagt hat,
die organisierte Kriminalität wird zurückschlagen. Diese
Äußerung kann ich im Moment nicht nachvollziehen.
Ich könnte sie erst dann nachvollziehen, wenn mir Akten
vorlägen, aus denen das hervorginge. Aber solche Akten
liegen mir nicht vor, und ich werde sie vermutlich auch
nicht bekommen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung der Fragen steht der Staatssekretär Dr. Hans
Bernhard Beus zur Verfügung.
Wir kommen zur dringlichen Frage 2 des Kollegen
Volker Beck:
Aufgrund welcher Informationen wie Erklärungen des
Kanzleramtsministers Dr. Thomas de Maizière gegenüber der
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel oder in welcher anderen
Form hat die Bundesregierung nach den wochenlangen Ermittlungen und Berichten über die Korruptionsaffäre in Sachsen beschlossen, ihn in seiner Funktion als Beauftragter für
die Nachrichtendienste des Bundes zu belassen ({0}), obwohl ihm vom Vorsitzenden der Parlamentarischen Kontrollkommission des Sächsischen Landtages „glatter Rechtsbruch“ ({1}) vorgeworfen wird und die Staatsanwaltschaft Dresden eine
Strafanzeige gegen ihn prüft ({2})?
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Abgeordneter, in der Frage, die Sie gestellt haben, geht
es um denselben Komplex, der gerade erörtert worden
ist.
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Bundesregierung hat die öffentliche Berichterstattung über Formen der organisierten Kriminalität in Sachsen zur
Kenntnis genommen. Sie geht davon aus, dass die zuständigen Behörden den erhobenen Vorwürfen mit
Nachdruck nachgehen und die Vorgänge so schnell wie
möglich aufklären. Die Tätigkeit von Bundesminister de
Maizière als Beauftragter für die Nachrichtendienste des
Bundes wird hierdurch nicht berührt.
Können Sie den letzten Satz bitte wiederholen? Die
Kollegen aus den Koalitionsfraktionen waren so laut,
dass ich ihn nicht verstehen konnte.
Herr Staatssekretär, das war wirklich kaum zu verstehen. Würden Sie den letzten Satz bitte etwas lauter wiederholen?
Die Tätigkeit von Bundesminister de Maizière als Beauftragter für die Nachrichtendienste des Bundes wird
hierdurch nicht berührt.
Eine Nachfrage? - Kollege Beck.
Eine Sprecherin des Kanzleramtschefs hat die Entscheidung der Bundesregierung, an seiner gegenwärtigen Verantwortung nichts zu ändern, damit begründet
- ich zitiere wörtlich aus einer AFP-Meldung -:
Die Erkenntnisdichte war aber seinerzeit nicht so
hoch, dass die Parlamentarische Kontrollkommission hätte informiert werden müssen.
Wie würden Sie die damalige Erkenntnisdichte charakterisieren, und wann wäre sie hoch genug gewesen, damit
das Parlamentarische Kontrollgremium hätte unterrichtet
werden müssen?
Herr Abgeordneter, das sind alles Angelegenheiten,
die das Land Sachsen betreffen und die in den dortigen
parlamentarischen Gremien zu erörtern sind. Ich denke
deshalb, es wäre nicht richtig, hier dazu Stellung zu nehmen. Im Übrigen zitieren Sie eine Äußerung, die auf
Herrn de Maizière zurückgeht. Ich denke, dass dem
nichts hinzuzufügen ist.
Eine weitere Nachfrage, bitte schön.
Ich habe eine Nachfrage zu den Hintergründen einer
öffentlichen Aussage einer Sprecherin des Kanzleramtschefs und damit zu einer Aussage der Bundesregierung
gestellt. Das liegt in unserem Zuständigkeitsbereich: Wir
kontrollieren die Bundesregierung. Da der Staatssekretär
mir an diesem Punkt keine Auskunft geben will, stelle
ich namens meiner Fraktion den Antrag, Herrn de
Maizière herbeizuzitieren; er wird offensichtlich als Antwortperson benötigt.
Wollen Sie jetzt eine Antwort von dem Herrn Staatssekretär?
Nein.
Dann war das, wenn ich das richtig verstanden habe,
ein Geschäftsordnungsantrag. Dazu hat sich der Kollege
Grund von der CDU/CSU gemeldet.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Für die CDU/CSUFraktion widerspreche ich dem Geschäftsordnungsantrag, Bundesminister de Maizière herbeizuzitieren.
Die Fragen, die bisher gestellt worden sind, sind ausreichend beantwortet worden, sowohl durch Staatssekretär
Hartenbach als auch durch Staatssekretär Beus. Bundesminister de Maizière befindet sich, wie auch den anderen
Fraktionen bekannt ist, in einer parlamentarischen Anhörung. Deshalb besteht erstens keine Notwendigkeit,
ihn herbeizuzitieren, und zweitens würden wir damit in
Dinge eingreifen, in die wir von hier aus nicht eingreifen
sollten.
({0})
Ich frage, ob es weitere Wortmeldungen zu diesem
Geschäftsordnungsantrag gibt. - Das ist nicht der Fall.
Dann lasse ich darüber abstimmen. Wer für den Antrag
des Kollegen Beck ist, Herrn Bundesminister de
Maizière herbeizuzitieren, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das
Zweite war offenkundig die Mehrheit. Damit ist der Antrag abgelehnt, und wir setzen die Fragestunde fort.
Kollege Beck, Sie haben das Recht zu einer weiteren
Nachfrage.
Ich muss dann leider Ihnen, Herr Staatssekretär, noch
einmal auf den Zahn fühlen. Die Bundesregierung hat
sich offiziell zu diesem Sachverhalt geäußert und erklärt,
sie habe nach einer Prüfung festgestellt, dass die Dichte
der Informationen noch keinen Anlass gab, die Parlamentarische Kontrollkommission in Sachsen zu unterrichten. Ich möchte von Ihnen wissen, wer innerhalb der
Bundesregierung diese Aussage stützt und auf welche
Faktenlage sich die verantwortlichen Stellen dabei stützen.
Herr Abgeordneter Beck, ich muss zunächst Ihrer
Fragestellung insofern widersprechen, als die Bundesregierung sich nicht zu den Vorgängen in Sachsen geäußert hat. Die Sprecherin hat eine Äußerung von Herrn de
Maizière wiedergegeben, die er in Bezug auf seine damalige Tätigkeit in Sachsen gemacht hat. Insofern ist das
ein Vorgang, der Sachsen betrifft, der dort zu klären ist
und nicht Gegenstand der Erörterungen im Deutschen
Bundestag sein kann.
Eine weitere Frage des Kollegen Jan Mücke.
Herr Staatssekretär, vorausschicken möchte ich, dass
selbstverständlich auch für Herrn de Maizière die Unschuldsvermutung gilt.
Nichtsdestotrotz stellen sich für mich angesichts der
Vorwürfe, die in den Medien gerade transportiert werden
- dass die Korruptionsaffäre in diesem Bundesland ein
weitreichendes Ausmaß habe, ja, wie in einigen Medien
zu lesen war, das Ausmaß einer Staatskrise annehme -,
die Fragen, welche Informationen das Landesamt für
Verfassungsschutz hatte, ob das Landesamt für Verfassungsschutz das Bundesamt für Verfassungsschutz über
diese Vorgänge informiert hat und welche Erkenntnisse
dem Bundesamt für Verfassungsschutz über das Ausmaß
der Korruptionsaffäre vorliegen.
Herr Abgeordneter, wenn solche Fragen gestellt werden, dann müssen sie in dem zuständigen parlamentarischen Gremium erörtert werden, weil sie die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste betreffen und darüber
hinaus nicht in die Zuständigkeit des Bundeskanzleramtes fallen; denn die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden ist Angelegenheit des Bundesministeriums des Innern. Ich denke aber, dass es primär darum
gehen muss, sie in dem zuständigen parlamentarischen
Gremium zu erörtern.
Wir kommen zur dringlichen Frage 3 des Kollegen
Hans-Christian Ströbele:
Wie bewertet die Bundesregierung die Kritik des Vorsitzenden der Kontrollkommission des Sächsischen Landtages
für die Geheimdienste, Gottfried Teubner, CDU, wonach der
frühere sächsische Innenminister Dr. Thomas de Maizière
pflichtwidrig diese Kommission nicht über brisante, ihm
schon Mitte 2005 gemeldete Erkenntnisse des dortigen Landesamtes für Verfassungsschutz unterrichtet habe, ferner insgesamt als Innenminister Vorschriften „nicht für ganz voll genommen“ habe sowie „glatten Rechtsbruch“ im Umgang mit
geheimen Verfassungsschutzakten begangen habe ({0}), hinsichtlich
möglicher Entsprechungen bei der derzeitigen Amtsführung
des nunmehrigen Chefs des Bundeskanzleramtes, und was
wird die Bundesregierung unternehmen, um auszuschließen,
dass Kanzleramtsminister Dr. Thomas de Maizière nunmehr
- insbesondere im Umgang mit Geheimdienstangelegenheiten
sowie bei der diesbezüglichen geschuldeten umgehenden Unterrichtung der Kontrollgremien des Deutschen Bundestages Anlass zu ähnlichen Vorwürfen wegen Missachtung rechtlicher Vorgaben gibt?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter, auch Ihre Frage betrifft den gleichen Komplex. Ich beantworte sie wie
folgt: Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Äußerungen des Vorsitzenden eines Gremiums des Sächsischen Landtages, die in der Presse wiedergegeben worden sind, zu kommentieren. Bundesminister de Maizière
kennt die gesetzlichen Regelungen über die Unterrichtung der für die Nachrichtendienste des Bundes zuständigen Gremien des Deutschen Bundestages und ist sich
der damit verbundenen Verpflichtungen bewusst.
Zusatzfrage, Herr Ströbele?
Ja. - Können Sie mir die Frage beantworten, wer
Herrn Minister de Maizière als Bundesminister kontrolliert?
Die Geheimdienste des Bundes werden von den dafür
zuständigen parlamentarischen Gremien kontrolliert.
({0})
Dann frage ich hinsichtlich dieses Sachverhalts noch
einmal andersherum: Es trifft zwar zu, dass die Vorgänge
in Sachsen spielen und dass sie das Parlament in Sachsen, den Landtag, wahrscheinlich beschäftigen werden.
Gibt die Bundesregierung mir aber Recht, wenn ich
sage, dass es selbstverständlich erhebliche Auswirkungen auf die Frage hat, ob dieser Herr Bundesminister de
Maizière heute der für die Unterrichtung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestages
zuständige Minister sein kann, wenn er sich in Sachsen
als zuständiger Innenminister für die Unterrichtung des
dortigen Parlamentarischen Kontrollgremiums falsch
verhalten hat?
Herr Abgeordneter, Sie wissen, dass Sie hier eine hypothetische Frage gestellt haben. Ich weiß, dass Sie sie
so stellen müssen. Ich glaube aber, dass Sie ebenso gut
wissen, dass die Bundesregierung auf solche hypothetischen Fragen keine hypothetischen Antworten gibt, sondern darauf hinweist, dass auf hypothetische Fragen im
Augenblick keine Antworten gegeben werden können.
Weitere Frage des Kollegen Volker Beck.
Mit Blick darauf, wie sich die Bundesregierung zu
dem Vorgang und zu der Frage stellt, ob Herr de
Maizière den Bundestag in der jetzigen Situation noch
als verantwortliche Person über die Geheimdienstvorgänge informieren kann, frage ich Sie, ob es ein Gespräch zwischen der Bundeskanzlerin und ihrem Chef
des Bundeskanzleramtes über diesen Vorgang gegeben
hat und, wenn ja, welchen Inhalt das hatte bzw., wenn
nein, warum nicht.
Herr Abgeordneter, es ist eben schon darauf hingewiesen worden, dass die Bundesregierung die Pressemeldung über diese Vorgänge in Sachsen zur Kenntnis
genommen hat. Ich denke, sie hat ebenso zur Kenntnis
genommen, was der Minister dazu gesagt hat. Das ist der
Sachstand innerhalb der Bundesregierung.
({0})
Weitere Frage des Kollegen Jürgen Koppelin.
Sie haben eben erklärt, dass die Bundesregierung
durch Pressemeldungen usw. über den Sachstand informiert wurde. Das heißt für mich, dass auch die Bundeskanzlerin auf diese Weise informiert wurde. Oder ist sie
auch schon auf andere Weise über die Vorgänge in Sachsen informiert worden bzw. nimmt sie diesen Vorgang
grundsätzlich nicht zur Kenntnis?
Die Bundeskanzlerin ist über die Pressemeldungen
und damit auch über den Konkretisierungsgrad, den
diese Pressemeldungen enthalten, informiert worden. Sie
wissen, wie dieser Konkretisierungsgrad aussieht.
Eine weitere Frage des Kollegen Wolfgang Wieland.
Herr Staatssekretär, ich komme auf eine Frage zurück, die mein Kollege Beck eben schon angeschnitten
hat, die aber offenbar außerhalb seines Fragekontingents
gewesen ist. Hat die Bundeskanzlerin nach diesen Veröffentlichungen mit Herrn de Maizière über diese Angelegenheit geredet und, wenn ja, mit welcher Zielsetzung
und mit welchem Ergebnis?
Herr Abgeordneter, ich habe, wie ich glaube, über den
Informationsstand der Bundesregierung in dieser Ange10450
Dr. Hans Bernhard Beus, Staatssekretär im Bundeskanzleramt
legenheit hinlänglich berichtet. Im Übrigen ist es eine
gute Übung dieses Hauses, dass in der Fragestunde über
interne Gespräche von Regierungsmitgliedern generell
nicht berichtet wird.
Vielen Dank. - Damit unterbreche ich die Besprechung der dringlichen Fragen und rufe zum selben Fragenkreis die Fragen 17 und 18 auf Drucksache 16/5561,
Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz,
auf, da diese nach Ziff. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die
Fragestunde ebenfalls vorgezogen werden. Zur Beantwortung steht wiederum der Kollege Alfred Hartenbach
als Parlamentarischer Staatssekretär zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 17 des Kollegen Peter
Hettlich auf:
In welcher Weise ist die Bundesregierung in die Ermittlungen zur sächsischen Affäre um organisierte Kriminalität und
Korruption involviert, und in welcher Weise sind Personen
bzw. Institutionen der Bundesregierung darin verwickelt?
Herr Präsident! Lieber Herr Kollege Hettlich, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Das Bundesministerium
der Justiz ist als zuständige Aufsichtsbehörde für die Generalbundesanwältin beim Bundesgerichtshof darüber
informiert, dass das Landesamt für Verfassungsschutz
Sachsen dieser mit Schreiben vom 25. Mai 2007 Unterlagen zu den von Ihnen als „sächsische Affäre“ bezeichneten Vorgängen mit der Bitte um Übernahme der
Strafverfolgung übersandt hat. Die mittlerweile abgeschlossene Prüfung dieser Unterlagen hat keine zureichenden Anhaltspunkte für eine Straftat ergeben, die in
die Strafverfolgungszuständigkeit der Generalbundesanwältin fielen.
Mit Schreiben vom 5. Juni 2007 wurden der Generalbundesanwältin vom Landesamt für Verfassungsschutz
Sachsen weitere Unterlagen übermittelt. Ob diese Unterlagen zu einer abweichenden Beurteilung der Frage der
Zuständigkeit für die Strafverfolgung Anlass geben,
wird gegenwärtig noch geprüft. Eine Verwicklung der
Bundesregierung oder von Personen bzw. Institutionen
der Bundesregierung in Ermittlungen gibt es nicht.
Eine Nachfrage, Herr Kollege Hettlich? - Bitte.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Wir hatten eben
schon ein lustiges Rätselraten dazu, wie die Bundesregierung bzw. ihre Institutionen über dieses Verfahren
informiert wurden. Sie haben gesagt, Sie hätten die
meisten Kenntnisse aus der Presse und den sonstigen
Medien. Deshalb an dieser Stelle die ganz konkrete
Frage: Sind neben der Generalbundesanwältin auch andere Institutionen des Bundes, beispielsweise Ihr Haus
oder das Bundeskanzleramt, informiert worden und,
wenn ja, in welcher Form?
In unserem Haus haben die zuständigen Referate und
Abteilungen - es waren zwei, drei Leute - Kenntnis davon gehabt; ihnen lagen die Unterlagen vor. Da es sich
um Verschlusssachen handelt, kann ich darüber hier
nicht reden; das wissen Sie. Anschließend haben sie die
Verschlusssachen an die Generalbundesanwältin zurückgegeben. Wenn Sie es genau wissen wollen: Aus Anlass
einer Besprechung in unserem Haus hat die Generalbundesanwältin das ganze Paket mitgenommen.
Eine zweite Nachfrage? - Bitte schön.
Dazu noch einmal die Frage: Ab wann genau lagen
diese Unterlagen den von Ihnen erwähnten Leuten vor?
Ich habe eben verlesen, wann wir sie übersandt bekamen. Den zweiten Teil haben wir nicht gesehen. Den ersten Teil hatten wir Anfang dieses Monats nur für wenige
Tage; dann sind sie zurückgegeben worden.
Eine weitere Frage des Kollegen Koppelin.
Herr Staatssekretär, da in dieser Affäre auch ein Mitglied der Bundesregierung immer wieder genannt wird,
frage ich Sie, ob Ihr Haus es für nötig gehalten hat, mit
dem Bundeskanzleramt oder mit Mitgliedern der Regierung darüber Gespräche zu führen und sie über diesen
Vorgang zu informieren.
Herr Koppelin, Sie haben doch eben gehört, dass es
sich um Verschlusssachen handelt, sodass ich Ihnen hierüber keine weitere Auskunft geben kann.
Eine weitere Frage des Kollegen Volker Beck.
Im Rahmen der Beantwortung verschiedener Fragen
durch Vertreter Ihres Hauses sowie des Bundeskanzleramtes wurde mehrmals betont, dass die Bundesregierung
manches erst aus der Presse erfahren und daraufhin gesagt habe, sie habe weiter Vertrauen in den Geheimdienstkoordinator. Weil hier immer gesagt wird, die
Bundesregierung halte an ihm fest, frage ich: Gab es
denn nach Ihrer Kenntnis in irgendeiner Staatssekretärsrunde oder einer Kabinettssitzung, an der Ihr Haus womöglich beteiligt war oder von der es durch Vermerke
erfahren hat, eine Willensbildung zu dieser Frage? Wenn
sie daran aktiv festhält, dann gehe ich davon aus, dass
das Ganze auf einen Beschluss, also einen Akt zurückVolker Beck ({0})
geht. Können Sie mir sagen, wann die Bundesregierung
beschlossen hat, an der Geheimdienstkoordinatorenfunktion von Herrn de Maizière festzuhalten?
Herr Kollege Beck, die Beratungen im Kabinett sind
grundsätzlich vertraulich, und die Protokolle sind als
Verschlusssachen zu bewerten. Sie können in entsprechenden Gremien vorgetragen werden oder, wenn sie für
die Veröffentlichung freigegeben werden, zum Beispiel
durch Pressemitteilungen zur Kenntnis gegeben werden.
Deswegen kann ich Ihre Frage nicht beantworten, und
ich werde sie auch nicht beantworten.
Dann kommen wir zur Frage 18 des Kollegen Peter
Hettlich.
Welche Erkenntnisse zu dieser Affäre liegen der Bundesregierung bislang vor, und welche weiteren Schritte beabsichtigt sie in dieser Sache zu gehen?
Herr Hettlich, wie bereits gesagt, hat die Generalbundesanwältin eine eigene Strafverfolgungszuständigkeit
auf der Basis der übersandten Unterlagen nicht für gegeben erachtet. Nach unserer Verfassung obliegt es somit
den zuständigen Landesbehörden, nach eigener Einschätzung zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welche
Schritte sie einleiten. Ich kann mich naturgemäß nicht zu
Ermittlungsverfahren äußern, die in die Zuständigkeit
der Bundesländer gehören.
Die Generalbundesanwältin prüft, wie bereits gesagt,
die am 5. Juni 2007 vom Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen übermittelten Unterlagen. Allerdings erwägt die Bundesregierung selbst in dieser Angelegenheit
keine weiteren Schritte.
Eine Nachfrage, Kollege Hettlich.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Ich bin kein Volljurist, sondern Agraringenieur; deswegen stelle ich eine
juristische Fachfrage. Das Landesamt für Verfassungsschutz des Freistaates Sachsen hat offensichtlich Erkenntnisse gesammelt, bei denen es nicht um verfassungswidrige Organe ging, sondern um organisierte
Kriminalität. Nun habe ich als juristischer Laie bisher
immer geglaubt, dass dies eigentlich in den Bereich des
jeweiligen Landeskriminalamtes gehört und die Sache
zur Klärung strafrechtlicher Belange an die ermittelnde
Staatsanwaltschaft übergeben werden müsste. Wäre dies
- übertragen auf den Bund - beispielsweise die Vorgehensweise im Verhältnis zwischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt? Vielleicht können Sie mich einmal darüber informieren, wie man mit
solchen strafrechtlich relevanten Dingen gerade im Bereich der organisierten Kriminalität eigentlich umzugehen pflegt.
Es gibt da ganz klare Zuständigkeiten. Dies ist in
§ 120 des Gerichtsverfassungsgesetzes geregelt. Das gilt
auch - Kollege Montag, Sie sollten jetzt nicken - für die
Zuständigkeit der Generalbundesanwältin. Diese ist hier
auf jeden Fall nicht zuständig gewesen.
({0})
Eine weitere Nachfrage, bitte.
Moment, der Kollege Wieland hat noch eine Frage.
Wir wollen in der Ordnung der Fragestunde bleiben,
wenn es erlaubt ist. - Sie bekommen gleich das Wort.
Jetzt hat der Kollege Peter Hettlich eine weitere
Nachfrage.
Mir geht es vor allem um Folgendes: Kann man
- analog zum Bund, für den Sie sprechen - in Bezug auf
das Landesamt für Verfassungsschutz eigentlich von
Strafvereitelung im Amt sprechen, wenn es solche Erkenntnisse hatte und sie nicht weitergegeben hat?
Ich weiß nicht, ob hier eine Strafvereitelung im Amt
vorliegt, aber wenn es einen entsprechenden Verdacht
gibt, dann ist dies kein Tatbestand, der gemäß § 120 Gerichtsverfassungsgesetz die Zuständigkeit der Generalbundesanwältin begründen würde. Ich habe eben gesagt,
ich äußere mich nicht zu Verfahren, für die ausschließlich das jeweilige Land - der Justizminister bzw. der Generalstaatsanwalt oder gegebenenfalls der Innenminister zuständig ist. Das verstehen Sie sicherlich auch.
Eine weitere Frage des Kollegen Wolfgang Wieland.
Herr Staatssekretär Hartenbach, da Sie meinem Kollegen Hettlich so großzügig Rechtsauskunft erteilt haben, frage ich Sie: Ist es richtig, dass es auch auf Landesebene eine derartige Verpflichtung zur Weitermeldung
von Erkenntnissen gibt, die Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität betreffen? Haben Sie sich bei
Kenntnisnahme der Materialien aus Sachsen ein eigenes
fachliches Urteil über die Dichte dieser Hinweise gebildet?
Herr Kollege Wieland, die Generalbundesanwältin
hatte zu prüfen, ob eine Zuständigkeit ihrer Behörde gegeben ist. Diese Prüfung hat sie vorgenommen. Sie hat
die Akten an das Landesamt für Verfassungsschutz zurückgesandt und eine eigene Zuständigkeit verneint. Ich
glaube, ich muss Sie nicht weiter belehren. Sie waren
selbst Justizsenator und hätten sich sicherlich mit einem
lauten Paukenschlag gewehrt, wenn sich seinerzeit die
Bundesjustizministerin in Ihre Angelegenheiten eingemischt hätte. Habe ich recht, Herr Wieland?
({0})
- Wunderbar, dann sind wir uns ja einig.
Vielen Dank. - Eine weitere Frage des Kollegen
Jürgen Koppelin.
({0})
- Das stimmt, Herr Staatssekretär, und zwar deshalb,
weil die Bundesregierung, wie ich finde, bei der Beantwortung der Fragen unglaublich mauert.
({0})
Deshalb müssen wir vielleicht versuchen, anders zu fragen.
Da ich immer wieder feststelle, dass sich die Justizministerin, seitdem sie dieses Amt innehat, zu allen möglichen Themen auch öffentlich äußert - was im Übrigen
ihr gutes Recht ist -, darf ich Sie fragen, ob die Justizministerin zu der Affäre in Sachsen eine Meinung hat, ob
wir diese Meinung erfahren können oder ob das auch
Verschlusssache ist.
Herr Koppelin, Ihnen steht auf die Stirn geschrieben,
wie ernst Sie diese Frage nehmen.
({0})
Das wird Ihnen die Justizministerin selbst mitteilen,
wenn sie vom JI-Rat zurückgekehrt ist.
Vielen Dank. - Wir kommen dann zurück zu zwei
weiteren dringlichen Fragen auf Drucksache 16/5581. Es
handelt sich um den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage 4 der Kollegin
Cornelia Hirsch auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Korrektur der Polizeisondereinheit „Kavala“ am Freitag, dem 8. Juni 2007, dass
sich beim G-8-Einsatz entgegen ihrer ursprünglichen Aussage
getarnte Zivilpolizisten in den Reihen der Demonstrierenden
befanden, und hat sie darüber bereits Gespräche mit den Ländern aufgenommen, auch hinsichtlich des Vorwurfs, diese
seien als Agents provocateurs aufgetreten?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantworte die Frage der Kollegin Hirsch wie folgt: Die originäre Zuständigkeit für alle allgemeinpolizeilichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung einschließlich des Schutzes von
Demonstrationen im Rahmen des G-8-Gipfels in Heiligendamm oblag der Polizei des Landes MecklenburgVorpommern. Wie Sie sich sicherlich denken können,
nimmt die Bundesregierung zu Maßnahmen der Bundesländer im Rahmen ihrer eigenen Zuständigkeit keine
Stellung.
Ihre Nachfrage.
Wie bewertet die Bundesregierung, dass Bundespolizei, Bundeskriminalamt und offensichtlich auch der
Bundesverfassungsschutz an den Gegenaktivitäten beteiligt waren? Sieht sie insofern nicht die Notwendigkeit,
zu diesem Einsatz in irgendeiner Form Stellung zu nehmen, auch vor dem Hintergrund, dass dieses Ereignis
nicht nur bundesweite Relevanz hat, sondern darüber hinaus auch international in den Medien Beachtung gefunden hat, und gerade in der Frage, wie der Polizeieinsatz
verlaufen ist, von verschiedenster Seite massive Kritik
geäußert wurde?
Soweit die Bundesregierung mit eigenen Kräften
- etwa der Bundespolizei - in Heiligendamm präsent
war, ist sie selbstverständlich bereit, Auskunft zu geben
und Stellung zu nehmen. Ich darf allerdings darauf hinweisen, dass sich Ihre Frage auf diesen Punkt nicht bezieht.
Zweite Nachfrage.
Ich möchte das in meiner zweiten Nachfrage konkretisieren: Kann die Bundesregierung definitiv ausschließen, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesverfassungsschutzes oder der Bundespolizei getarnt
als Zivilpolizisten unter die Demonstrierenden gemischt
haben und teilweise als Agents provocateurs gewirkt haben? Falls ja, würde ich gerne eine Aussage der Bundesregierung zu Augenzeugenberichten haben, die deutlich
machen, wie vor Ort konkret gehandelt wurde und dass
anderes der Fall war.
Soweit sich die Frage auf das Bundesamt für Verfassungsschutz bezieht, muss ich Sie wieder enttäuschen;
denn wir nehmen zu Fragen, die die Nachrichtendienste
betreffen, nur in dem dafür zuständigen Gremium des
Deutschen Bundestages Stellung; das ist das Parlamentarische Kontrollgremium. Im Übrigen darf ich Ihnen versichern, dass die eingesetzten Beamten der Bundespolizei - wie erwartet - rechtmäßig und im Rahmen ihrer
Befugnisse gehandelt haben.
Eine weitere Frage stellt die Kollegin Dr. Dagmar
Enkelmann.
Herr Staatssekretär, schauen wir einmal, ob Sie für
die Bundeswehr zuständig sind. Wie begründet die Bundesregierung den Einsatz von Tornadoflugzeugen und
Spähpanzern zur Aufklärung im Zusammenhang mit
G-8-Gipfelgegnern?
Ich bin mir zwar nicht sicher, ob eigentlich das Bundesministerium des Innern hierfür zuständig ist. Da sich
aber die Bundesregierung bereits geäußert hat, möchte
ich noch einmal darauf hinweisen, dass der Einsatz von
Tornadoflugzeugen im Rahmen der Amtshilfe erfolgt ist,
um aufzuklären, ob beispielsweise Manipulationen an
Straßen oder im Gelände vorgenommen wurden. Das ist
ein üblicher und normaler Vorgang. Dafür gibt es eine
einwandfreie rechtliche Grundlage.
Eine weitere Frage stellt der Kollege Volker Beck.
Da Sie vorhin so ausweichend geantwortet haben,
möchte ich Sie ganz konkret fragen: Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Beteiligung von
Zivilpolizei oder Mitarbeitern von Verfassungsschutzämtern an den Aktionen wie in der Ursprungsfrage dargestellt?
Ich darf darauf hinweisen, dass ich für die Bundesregierung nie ausweichend, sondern immer nur korrekt
antworte.
({0})
Über die Fragen nach Beteiligungen von Verfassungsschutzmitarbeitern ist im Parlamentarischen Kontrollgremium zu diskutieren; insofern wiederhole ich mich.
Mir ist außerdem nicht bekannt, dass Beamte der Bundespolizei in diesem Zusammenhang in irgendeiner
Weise tätig geworden sind.
({1})
Das Fragerecht geht jetzt an die Kollegin Ulla Jelpke
von der Linkspartei.
Herr Staatssekretär, wie Sie wissen, gab es einen Polizeieinsatzstab aus Landespolizei und Bundespolizei.
Wie ich bei meinem Besuch in Heiligendamm erfahren
habe, war auch die Bundeswehr in diesem Polizeistab
vertreten. Mich interessiert, wer die Zusage gemacht hat,
dass Panzerspähfahrzeuge bzw. Tornados eingesetzt
werden. Darüber hinaus interessiert mich im Zusammenhang mit der Frage von Frau Hirsch Folgendes: Sie haben auf meine Frage im Rahmen einer Kleinen Anfrage,
ob Zivilpolizisten unter den Demonstranten eingesetzt
werden, deutlich mit Nein geantwortet. Finden Sie nicht,
dass es eine Lüge ist, wenn man jetzt so tut, als wäre das
nicht Sache des Parlaments?
Ich kann nur darauf verweisen, dass der Einsatz der
Bundeswehr - das betrifft nicht nur den Einsatz der Tornados, sondern auch den Transport von Gipfelteilnehmern und andere logistische Aufgaben - ordnungsgemäß
im Rahmen der Amtshilfe erfolgt ist. Ich bitte um Verständnis, dass ich die Einzelheiten des Verfahrens nicht
schildern kann, weil dies nicht mein Haus betrifft. Wir
sind aber selbstverständlich gerne bereit, Ihnen Ihre
Frage schriftlich zu beantworten.
Das Fragerecht geht nun an die Kollegin Silke Stokar
von Neuforn, bitte.
Ich möchte die Frage nach den Spähpanzern und den
Feldjägern konkretisieren. Da es in die Zuständigkeit Ihres Hauses fällt, werden Sie mir die Frage beantworten
können, ob der Bundespolizei von Feldjägern und Spähpanzern Aufklärungserkenntnisse über das Demonstrationsgeschehen geliefert wurden. Der Hintergrund ist: Es
war ganz offensichtlich, dass Spähpanzer Demonstrationen wie feindliche Truppen beobachtet und Bilder gemacht haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese
Bilder an die NATO geliefert worden sind. Wir befanden
uns nicht im Bürgerkrieg oder im Kriegszustand. Ich
glaube, dass diese Bilder an die Bundespolizei oder die
Einsatzleitung weitergegeben worden sind. Ich bitte Sie
um eine konkrete Auskunft, welche Aufklärung Spähpanzer und Feldjäger über das Demonstrationsgeschehen
betrieben haben und an wen diese Aufklärungsergebnisse weitergeleitet wurden, weil dies über die technische Amtshilfe, die zulässig ist, weit hinausgeht.
Meine zweite Frage betrifft den Vorfall mit Greenpeace. Ich hätte gern die Auffassung der Bundesregierung darüber gewusst, ganz gleich, ob das ein Boot der
Wasserschutzpolizei oder der Bundespolizei war. Offensichtlich haben beide im selben Seeraum agiert, was
nach der Rechtslage fragwürdig ist. Wie bewertet die
Bundesregierung, dass mit dem Überfahren der Greenpeacemitglieder in Kauf genommen wurde, dass es
Schwerverletzte bis hin zu Toten hätte geben können?
Halten Sie solche Aktionen auf See noch für verhältnismäßig? Die Aktivisten von Greenpeace sind dafür bekannt, dass sie ihre Aktionen absolut gewaltfrei durchführen.
Frau Kollegin Stokar, ich darf darauf hinweisen, dass
Ihre Zusatzfragen in gar keinem Zusammenhang mit der
ursprünglichen dringlichen Frage der Frau Kollegin
Cornelia Hirsch stehen.
({0})
Deshalb bitte ich um Verständnis, wenn ich mich jetzt
auf das beschränke, was mir an konkreten Erkenntnissen
vorliegt. Es gab den Vorwurf, dass die Tornadoflugzeuge
bei ihren Einsätzen beispielsweise Camps von G-8-Gegnern ausgespäht hatten. Dazu kann ich ganz eindeutig
sagen, dass die Beobachtung dieser Camps und die Auswertung nicht der Auftrag der Tornadoflugzeuge war
und dass der Umstand, dass eines von diesen Camps bei
einem der Einsätze überflogen worden ist, mit dem Einsatz zu tun hatte, dies aber nicht das Ziel des Einsatzes
war, und dass die entsprechenden Informationen nicht
ausgewertet und verwertet wurden.
Ich bitte um Verständnis, dass ich die anderen Fragen
schriftlich beantworten möchte.
({1})
Jetzt hat der Kollege Jerzy Montag das Fragerecht.
Herr Staatssekretär, Sie waren so freundlich, auf die
Zusatzfrage nach dem Einsatz der Tornados selber zu
antworten. Ich werte Ihre Bereitschaft und Freude zur
Antwort so, dass das Bundesinnenministerium gerne die
Zuständigkeit dafür hätte.
Sie haben auch gesagt, dass die Tornados im Wege
der Amtshilfe eingesetzt worden sind, um Manipulationen an Straßen und an der Landschaft festzustellen. In
diesem Zusammenhang frage ich Sie, ob es die Bundesregierung als einen Erfolg des Einsatzes der Tornados
bewertet, dass die Tornados tatsächlich eine Manipulation festgestellt und weitergemeldet haben. Es wurde
nämlich - so die Berichterstattung über den Erfolg des
Tornadoeinsatzes - eine Manipulation am Landschaftsbild festgestellt, als rings um Heiligendamm ein Zaun
gebaut worden ist. Ist dies nach Auffassung der Bundesregierung ein Erfolg des Einsatzes der Tornados?
Herr Kollege Montag, ich darf Sie darauf hinweisen,
dass dieser Zaun nicht von der Bundesregierung und
auch nicht von der Bundespolizei gebaut worden ist,
sondern von den Behörden des Landes MecklenburgVorpommern. Allerdings haben die Bundesregierung
und das Bundesministerium des Innern bereits zu einem
sehr frühen Zeitpunkt dem Wunsch von wichtigen Mitgliedern des Innenausschusses, auch aus Ihrer Fraktion,
Rechnung getragen und dafür gesorgt, dass diese Anlagen vor Ort von den Obleuten der Fraktionen besichtigt
werden konnten und dass auch Angehörige der Bundespolizei und der Landespolizei von Mecklenburg-Vorpommern zur Beantwortung entsprechender Fragen zur
Verfügung standen.
Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich darauf hinweisen, dass sich die Bundesregierung durch das Sicherheitskonzept des Landes Mecklenburg-Vorpommern und auch durch die Beiträge des
Bundes insgesamt bestätigt fühlt: Trotz der Anwesenheit
einer erheblichen Anzahl von gewaltbereiten Störern ist
es gelungen, den friedlichen und ordnungsgemäßen Ablauf dieses G-8-Gipfels sicherzustellen, und zwar zu jedem Zeitpunkt. Dies wurde unter Beibehaltung eines hohen Maßes an Demonstrationsfreiheit geleistet. Ich
möchte mich an dieser Stelle auch bei den überwiegend
friedlichen Demonstranten bedanken, die mitgeholfen
haben, zu verhindern, dass diese Demonstrationen aus
dem Ruder laufen.
Wir kommen damit zur dringlichen Frage 5 der Kollegin Cornelia Hirsch:
Wie bewertet die Bundesregierung Forderungen nach einer stärkeren Überwachung der sogenannten autonomen
Szene, die nach dem G-8-Gipfel unter anderem von Vertretern
des Bundesministeriums des Innern ins Gespräch gebracht
wurden?
Hier kann ich Ihnen im Namen der Bundesregierung
antworten: Der Ablauf des Gipfels hat in der Tat bestätigt, dass es im Bereich autonomer Gruppierungen, insbesondere mit Nähe zum linksextremistischen Spektrum, ein erhebliches Maß an Gewaltbereitschaft gibt.
Die Bewegung dieser Autonomen ist allerdings bundesweit nicht homogen. Es gibt über das Bundesgebiet verstreut mehr oder weniger gefestigte und eigenständige,
meist kleinere Gruppierungen, die von den zuständigen
Sicherheitsbehörden schon jetzt lageangepasst beobachtet und aufgeklärt werden. Dies hat sich durch die Ereignisse in Rostock übrigens als richtig herausgestellt.
Unabhängig davon haben die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem G-8-Gipfel nach Auffassung der
Bundesregierung deutlich gemacht, dass die SicherheitsParl. Staatssekretär Peter Altmaier
behörden die autonome Szene noch stärker als bisher in
den Blick nehmen müssen, um Vorkommnisse wie in
Rostock künftig vermeiden zu können.
Die im Zusammenhang mit dem G-8-Gipfel gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen der Sicherheitsbehörden werden derzeit ausgewertet. Die sich hieraus
ergebenden Schlussfolgerungen sind Grundlage für weitere Erörterungen in den hierfür zuständigen Bund-Länder-Gremien. Ich bitte um Verständnis dafür, dass wir
zunächst einmal die Auswertung vornehmen müssen,
bevor wir zu konkreten Schlussfolgerungen gelangen.
Nachfrage, Kollegin Hirsch.
Erst einmal besten Dank dafür, dass Sie hier in einigen Sätzen geantwortet haben; das war schon mehr als
bei der Beantwortung der anderen Frage. Mit Blick auf
Ihre Antwort, die Sie auf die letzte Frage der Kollegen
der Grünen gegeben haben, möchte ich noch sagen: Von
Demonstrationsfreiheit rund um Heiligendamm in der
letzten Woche konnte man weiß Gott nicht sprechen.
Diese Erfahrung haben auch mehrere Mitglieder unserer
Fraktion gemacht, die vor Ort waren.
Meine Nachfrage bezieht sich nun auf den Punkt
„Überwachung der sogenannten autonomen Szene“. Ich
habe in meiner Frage extra die Formulierung „sogenannte autonome Szene“ gewählt. Mir ist aus Ihrer Antwort nach wie vor nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien Sie bei der Einordnung der „autonomen Szene“
vorgehen. Ich kann für meine Person sagen: Ich bin bei
der Demo am Samstag in Rostock mitgelaufen, und zwar
teilweise im Block „Make Capitalism History!“, der von
der Einsatzleitung der Polizei nachträglich als „Der
schwarze Block“, also als der Block der autonomen
Szene, bezeichnet wurde. Ich habe auch einen schwarzen
Kapuzenpullover getragen. Gehöre ich damit zur autonomen Szene? Bin ich dadurch einer verschärften Überwachung durch den Verfassungsschutz oder durch eine
andere Einrichtung ausgesetzt? Welche Kriterien legen
Sie da an?
Da ich selbst Ihr Auftreten und Verhalten in Heiligendamm nicht beurteilen kann - ich habe es nämlich nicht
erlebt -, verbietet sich eine Bewertung von selbst.
Sie wissen im Übrigen, dass die Partei, der Sie angehören, bereits seit einiger Zeit vom Verfassungsschutz
beobachtet wird. Dies bedeutet allerdings nicht, dass wir
behaupten, alle Mitglieder Ihrer Partei gehörten automatisch autonomen Gruppen an. Sie wissen so gut wie ich,
dass autonome Gruppen prinzipiell gewaltbereit sind; sie
selbst definieren sich in diesem Sinne. Diese Gruppen
werden ebenfalls seit längerer Zeit vom Verfassungsschutz beobachtet, und wir werden in der Auswertung
der Ereignisse von Rostock entscheiden müssen, ob wir
diese Beobachtung in Zukunft verstärken müssen oder
ob die gegenwärtige Praxis ausreichend ist.
Eine zweite Nachfrage, bitte.
Meine zweite Nachfrage: Teilen Sie meine Befürchtung, dass die angekündigte stärkere Überwachung einer
sogenannten autonomen Szene die Gefahr in sich birgt,
dass damit eine große Anzahl von Menschen pauschal
unter eine Art Generalverdacht gestellt wird?
({0})
Auch in dieser Beziehung haben wir in Heiligendamm
einige Erfahrungen machen müssen. Ich denke daran,
dass beispielsweise Menschen festgenommen wurden,
nur weil sie Walkie-Talkies bei sich trugen, oder dass sie
mitgenommen wurden, weil sie mit einem Edding-Stift
eine Nummer des Ermittlungsausschusses auf ihren Arm
geschrieben haben oder eben weil sie den erwähnten Kapuzenpullover trugen. Ich frage Sie, ob Sie die Befürchtung teilen, dass damit ein pauschaler Generalverdacht
vorangetrieben wird, der rechtsstaatliche Grundsätze
ziemlich weit aushebelt.
Nach meiner Einschätzung haben die Sicherheitsbehörden keine pauschalen Verurteilungen oder Vorverurteilungen vorgenommen. Sie sind im Gegenteil ausgesprochen umsichtig vorgegangen mit dem klaren Ziel,
zur Deeskalation der Lage in Rostock beizutragen. Diese
Strategie war im Übrigen im Großen und Ganzen sehr
erfolgreich.
Ich darf allerdings darauf hinweisen, dass der Staat es
nicht zulassen darf, inhaltlich notwendige Debatten zu
unterlassen und etwa über die Frage der Beobachtung
bestimmter Gruppen nicht mehr zu diskutieren, nur weil
damit unter Umständen aus der Sicht einiger eine Provokation verbunden sein könnte. Der demokratische
Rechtsstaat ist ein starker Staat, und das muss er auch in
seiner Arbeit zum Ausdruck bringen.
({0})
Die nächste Frage hat der Kollege Volker Beck.
Zu dieser Stärke gehört auch, dass wir uns an die gesetzlichen Regeln halten. Sie haben vorher mehrere Fragen mit dem Hinweis abgewiegelt, zu Sachverhalten im
Zusammenhang mit den Geheimdiensten würden Sie lediglich im Parlamentarischen Kontrollgremium Auskunft geben. Im Gesetz über das Parlamentarische Kontrollgremium steht ausdrücklich, dass dieses eine
zusätzliche Informationsmöglichkeit für das Parlament
darstellt, aber im Übrigen die Fragerechte des Parlamentes in keiner Weise abschneidet.
Wären Sie bereit, uns im Lichte dieser Rechtslage
entweder die Informationen von vorhin nachzuliefern
oder zumindest darzulegen, worin bei der jeweiligen
Volker Beck ({0})
Frage im Einzelnen das aktuell bestehende Geheimschutzbedürfnis besteht, angesichts dessen, dass es sich
ausnahmslos um abgeschlossene Vorgänge handelt, bei
denen ich nicht erkennen kann, wie die Arbeit der Geheimdienste durch eine offene Beantwortung der Fragen
des Parlamentes gefährdet werden könnte?
Herr Kollege Beck, ich habe nicht den geringsten Anlass, irgendeine meiner Aussagen, die ich vorhin gemacht habe, zu korrigieren oder zu relativieren. Sofern
Sie es wünschen, können wir gerne auch noch einmal
schriftlich im Einzelnen darlegen, wieso bestimmte Informationen nur in den dafür vorgesehenen Gremien des
Deutschen Bundestages diskutiert werden. Dies hat der
Deutsche Bundestag im Übrigen selbst so gewollt, weil
er selbst diese Regelung getroffen hat.
({0})
Die nächste Frage hat die Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Staatssekretär, ich glaube, Sie widersprechen
mir nicht, wenn ich sage, dass laut Verfassungsschutzbericht die sogenannten autonomen Gruppen, wie sie bei
Ihnen heißen, bereits beobachtet werden. Nun haben Sie
ja schon vor dieser Demonstration in Heiligendamm
Razzien mit 900 Beamten gegen mehr als 40 Projekte
durchgeführt, meines Wissens ohne Ergebnisse. Ich
frage Sie: Welche Kriterien wollen Sie jetzt zusätzlich
aufnehmen - bitte benennen Sie sie einmal konkret -,
und was soll diese Ankündigung einer Verschärfung von
Überwachung letztendlich bedeuten?
Frau Kollegin Jelpke, wir sollten die Dinge nicht
durcheinanderbringen; das sind wir diesem Hohen
Hause und auch der Öffentlichkeit schuldig. Wir haben
eben über präventive Beobachtungen durch die Nachrichtendienste des Bundes und der Länder in bestimmten
Fällen gesprochen. Das, was Sie jetzt angesprochen haben, hat mit Prävention nichts zu tun; denn Sie wissen so
gut wie ich, dass die Durchsuchungen im Vorfeld des
Gipfels von Heiligendamm ausschließlich repressiven
Charakter hatten. Das heißt, es ging um die Aufklärung
von Straftaten, die bereits begangen worden waren.
Ich will nur noch einmal darauf hinweisen, dass im
Vorfeld des Gipfels von Heiligendamm über
21 Brandanschläge zu verzeichnen waren und dass es
die Verpflichtung der entsprechenden Behörden und
Stellen ist, diese Straftaten aufzuklären. Diesem Zweck
- und keinem anderen - dienten die Durchsuchungen.
Das habe ich auch im Innenausschuss des Deutschen
Bundestages in der letzten Sitzungswoche - in Ihrer Anwesenheit, wenn mich nicht alles täuscht - eindeutig
klargestellt. Deshalb bitte ich Sie, in der Öffentlichkeit
nicht den gegenteiligen Eindruck zu erwecken.
({0})
Das Recht zur nächsten Frage geht an den Kollegen
Josef Winkler.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Überraschung
darüber, dass sich neben den bereits eben erwähnten
Agents provocateurs, die sich offensichtlich aus den Reihen der Sicherheitsorgane im schwarzen Block befunden
haben, offensichtlich auch Agents provocateurs aus den
Reihen der Linksfraktion, die sich mit schwarzen Kapuzenpullovern getarnt haben, in diesem autonomen Block
befunden haben, und meinen Sie nicht auch, dass sich
diese Anbiederung beim autonomen Block, bei den autonomen Gruppen in die Relativierung der Gewaltbereitschaft dieser speziellen Gruppe einreiht, die - auch nach
den Zwischenfällen an dem Samstag - von Kollegen aus
diesem Hause, insbesondere aus den Reihen der PDS,
von sich gegeben wurde?
Herr Kollege Winkler, bitte sehen Sie es mir nach,
wenn ich Ihre Feststellung nicht en détail kommentieren
möchte. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass alle
Fraktionen in diesem Hohen Hause sich so klar und eindeutig von der Gewaltanwendung in Rostock distanziert
hätten, wie dies beispielsweise von Attac geschehen ist,
die die große Demonstration organisiert hatte, die sich in
Zusammenarbeit mit der Bundespolizei und mit der Sondereinheit „Kavala“ vor Ort um einen friedlichen Verlauf
bemüht hat und die anschließend den Umstand, dass es
teilweise aus dem Ruder gelaufen ist, sehr eindeutig verurteilt und bedauert hat.
Das Recht zur nächsten Frage geht an die Kollegin
Sevim Dağdelen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
Sie haben im Zusammenhang mit der vorangegangenen
Frage meiner Kollegin Ulla Jelpke behauptet, dass sich
die Durchsuchungen auf bereits begangene Straftaten
bezogen haben. Im Zusammenhang mit einer Beschwerde gibt es einen Brief, den die Generalbundesanwältin an mich gerichtet hat. Hintergrund ist, dass bei einer Razzia bei der Werbe- und Kommunikationsagentur
Warenform hier in Berlin - sie war unter den 40 durchsuchten Objekten - Informationen mit beschlagnahmt
worden sind. In dem Brief der Generalbundesanwältin
heißt es, dass es sich um Ermittlungsverfahren wegen
des Verdachts einer Straftat nach § 129 a StGB handelt.
Der Verdacht des Vorliegens einer Straftat ist aber etwas
anderes als eine ausgeführte Straftat. Mich würde interessieren, inwieweit jetzt eigentlich Gründe, Rechtfertigungsgründe für diese Verfahren bzw. für die Durchsuchungen vorliegen; bis vor einer Woche waren sie noch
immer nicht vorhanden.
Frau Kollegin Dağdelen, Sie versuchen schon wieder,
die Dinge zu verwischen und zu vermischen. Es geht um
Straftaten, die nachweislich begangen worden sind. Es
sind nicht nur Brandanschläge, sondern in erheblichem
Umfang auch Sachbeschädigungen in den letzten anderthalb Jahren vor dem G-8-Gipfel verübt worden. Es geht
bei den Ermittlungsverfahren selbstverständlich um den
Verdacht gegen unbekannt; denn schuldig ist jemand erst
dann, wenn er von den Gerichten verurteilt worden ist.
Es ging bei all den Maßnahmen und Durchsuchungen
immer ganz konkret darum, Straftaten, die bereits begangen worden waren, aufzuklären. In dem von Ihnen angesprochenen Fall gab es den Verdacht der Bildung einer
terroristischen Vereinigung. Auch dies vollzieht sich im
Rahmen der repressiven Zuständigkeiten, wie sie von
der Generalbundesanwältin ausgeübt werden.
Die Zeit für die Fragestunde ist nun eigentlich abgelaufen. Ich lasse aber die eine Frage von dem Kollegen
Omid Nouripour noch zu, weitere Fragen dann nicht
mehr. - Bitte schön.
Herr Staatssekretär Altmaier, jenseits der aus unserer
Sicht nicht bestrittenen Unrechtmäßigkeit des Einsatzes
von Agents provocateurs wurde uns berichtet, diese
seien vermummt gewesen und entlarvt worden, weil sie
die Demonstranten gesiezt hätten, was in dem Milieu
nun einmal nicht gang und gäbe ist. Meine Frage ist
- wenn man solche Menschen einsetzt, jenseits des Gesetzes, bringt man sie auch in Gefahr -: Gab es denn
keine Schulung? Hat man ihnen vorher nicht gesagt,
dass sie die Leute duzen sollen?
({0})
Herr Kollege Nouripour, es ist ehrenvoll, dass Sie
zum dritten Mal versuchen, mir eine Antwort zu entlocken. Aber es handelt sich hier nach wie vor um Zuständigkeiten der Landespolizei, und deshalb kann ich dazu
nicht Stellung nehmen.
({0})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Damit sind die dringlichen Fragen abgearbeitet. Zu
den anderen Fragen kommen wir nicht mehr. Diese Fra-
gen werden wie üblich schriftlich beantwortet.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:
3 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen
Verfolgung in der ehemaligen DDR
- Drucksache 16/4842 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Schneider ({0}),
Petra Pau, Dr. Gesine Lötzsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für politisch Verfolgte im Beitrittsgebiet und zur
Einführung einer Opferrente ({1})
- Drucksache 16/4846 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 16/5532 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Wieland
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 16/5540, 16/5541 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Lothar Binding ({4})
Otto Fricke
Roland Claus
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Cornelia Behm, Katrin GöringSevim DaðdelenSevim Dağdelen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wirksame Unterstützung für die Verfolgten
des DDR-Regimes
- Drucksachen 16/4409, 16/4404, 16/5532 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Wieland
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Nein. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaas Hübner von der SPD-Fraktion
das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir gehen heute einen großen Schritt bei der weiteren Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Regelungen
für die Opfer von Unterdrückung und Unrecht durch
den SED-Staat. Auch 17 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir uns mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Dabei ist uns allen klar, dass wir einmal geschehenes Unrecht nicht wiedergutmachen können. Was wir
aber können und auch wollen, ist, den Opfern das Gefühl
geben, dass sie nicht vergessen sind und dass ihr Leiden
nicht umsonst war.
Es hat eine Weile gedauert, bis wir zu tragfähigen Regelungen gefunden haben. Auch ich weiß, dass das Ergebnis nicht bei allen Beteiligten nur Freude hervorruft.
Trotzdem denke ich, dass es sich sehen lassen kann.
({0})
Wir haben den für die erste Lesung vorgelegten Entwurf noch einmal entscheidend verbessert und dabei Anregungen aus der vom Rechtsausschuss durchgeführten
Anhörung aufgenommen. Der Kollege Vaatz hat in der
Debatte zur ersten Lesung ausgeführt, warum wir die
viele Betroffene irritierende Bedürftigkeitsklausel nicht
vermeiden können. De facto ist sie aber für die größte
Gruppe, nämlich die Rentner, ohne Belang. Alle Renten
und rentenähnlichen Zahlungen werden nicht angerechnet. Dadurch ist es uns gelungen, den Kreis der Anspruchsberechtigten auf circa 42 000 auszuweiten.
({1})
Ich möchte mich in diesem Zusammenhang ganz ausdrücklich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP und auch von den Grünen, wenden. Einige der
in Ihren Anträgen formulierten zusätzlichen Wünsche
nimmt die uns vorliegende Beschlussempfehlung des
Ausschusses auf. Wir sind uns alle einig, dass der demokratische Staat den Opfern von Terror und Unterdrückung gegenüber in der Pflicht ist. Mit diesem Gefühl der Verpflichtung verbinden wir auch die
Anerkennung und Würdigung des Eintretens für freiheitliche Grundwerte, ungeachtet damit verbundener persönlicher Nachteile. Diese Würdigung ist umso glaubhafter und überzeugender, je größer die Mehrheit in
unserem Hause ausfällt. Insofern bitte ich Sie ganz herzlich, zu überlegen, ob Sie sich nicht unserem Gesetzentwurf anschließen und ihm zustimmen wollen.
({2})
Ich habe mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion Die Linke, bewusst nicht an Sie gewandt.
Ich kann verstehen, dass einige von Ihnen sich auf Kosten der Allgemeinheit von der Verantwortung freikaufen
wollen.
({3})
Ihr Gesetzentwurf verbindet alles Gute und Schöne in einer Maximalvariante aller bisherigen Vorschläge in diesem Zusammenhang. Nur der entscheidende Passus
fehlt: das Sich-Stellen der eigenen Verantwortung als
ausdrückliche Nachfolgepartei der Partei, die das Unrecht für die Menschen verursacht hat. Das findet sich
bei Ihnen überhaupt nicht wieder. Insofern ist Ihr Antrag
in meinen Augen höchst zynisch.
({4})
Ich bin mir sicher, dass die Opfer von einst sehr genau
wissen, wer ihr Leiden zu verantworten hat. Sie können
natürlich politisch alles fordern, was Sie wollen; in moralischer Hinsicht aber wäre es, glaube ich, heute angebracht, an dieser Stelle zu schweigen und Ihre Rede zu
Protokoll zu geben.
({5})
Auch bisher schon hat der deutsche Staat nicht unerhebliche Leistungen für die Opfer der zweiten deutschen
Diktatur aufgebracht. Es wurden rund 600 Millionen
Euro als Haftentschädigung und weitere 100 Millionen
Euro als Unterstützungsleistungen gezahlt.
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz verbessert sich die Lage der überwältigenden Mehrheit der Opfer, vor allem der älteren Opfer, willkürlicher Verfolgung. Wir gehen davon aus, dass die Gesamtsumme der
Zahlungen sogar höher sein wird, als es die von einigen
Verbänden und der Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur vorgeschlagene Zahlung eines Sockelbetrags
mit der Möglichkeit zur Aufstockung gewesen wäre.
Ich habe in der Vergangenheit viele hundert Briefe
von Betroffenen bekommen. Viele waren von Verbandsfunktionären vorformuliert und recht rüde im Ton. Aber
es gab auch sehr persönliche Briefe und Anrufe, die
mich sehr berührt haben. Für die Vielzahl der Bezieher
kleiner Renten ist die jetzt vereinbarte Leistung eine
echte Hilfe; das wissen sie auch. Mich rief unlängst ein
Rentner aus Chemnitz an und sagte, dass es ihm mit dieser Opferrente wieder möglich ist, in den Urlaub zu fahren. Diese Hilfe zu ermöglichen, ist es doch, wofür wir
arbeiten.
({6})
Wir wollen eine spürbare Verbesserung der Lebensumstände der einzelnen Menschen erreichen. Deshalb ist
das Gesetz, das wir heute verabschieden, ein gutes Gesetz.
({7})
Ich möchte noch zwei Gedanken anführen.
Ein in Gesprächen mit politisch Verfolgten immer
wieder begegnendes Moment ist der Wunsch nach einer
fühlbaren Würdigung ihres Schicksals, die sich nicht
unbedingt finanziell auswirken muss. Wir sollten daher
alle miteinander darüber nachdenken - damit spreche ich
vor allem die Länder an -, ob es nicht möglich ist, durch
besondere Ehrungen zu bestimmten Anlässen oder durch
besondere Benefits - Freifahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Ähnliches - die Schicksale der Opfer
zu würdigen. Es geht nicht nur um das Finanzielle, sondern auch um die Würdigung durch die Gesellschaft. In
diesem Bereich können wir eine Menge tun. Ich hoffe,
dass die Länder entsprechende Gesetze verabschieden
werden. Der Freistaat Thüringen und das Land Berlin
haben dies bereits getan.
({8})
Gleichfalls Änderungsbedarf sehe ich noch bei der
Anerkennungspraxis verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden nach dem Bundesversorgungsgesetz. Diesen Punkt nennt bereits der Koalitionsvertrag als eine
Handlungsmöglichkeit. Bisher sind wir dabei leider
noch nicht zu einem tragfähigen Ergebnis gekommen.
Wir wissen, dass der legislative Spielraum in diesem Zusammenhang sehr eng ist. Wir wissen auch, dass die Gesetzgebungskompetenz in der Hoheit der Länder liegt.
Deswegen fordern wir die Länder ausdrücklich auf, an
dieser Stelle nachzujustieren. Das soll nicht unter den
Tisch fallen.
({9})
Naturgemäß ist - abhängig von der Entfernung zum
Geschehen - das historische Wissen und die Bereitschaft
zu emotionaler Einfühlung bei den Gutachtern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Eine zentrale Begutachtung
durch entsprechend qualifiziertes Personal könnte die
Praxis vereinheitlichen und unnötige Verletzungen der
Betroffenen vermeiden helfen. Mit etwas gutem Willen
sollten wir auch dieses Problem in der Zukunft lösen
können.
Insgesamt gesehen verabschieden wir heute ein gutes
Gesetz. Es soll kein Schlussgesetz sein. Einige der Baustellen habe ich gerade aufgezeigt. Wir mussten aber zu
einem Ende kommen. Denn wir dürfen die Opfer nicht
länger vertrösten, und wir können die in der Öffentlichkeit genährten Erwartungen nicht länger enttäuschen.
Auch wenn wir genau wissen, dass das Unrecht, das den
Menschen widerfahren ist, nicht wiedergutgemacht werden kann, müssen wir doch sagen, dass das Gesetz eine
spürbare materielle Verbesserung der Lebenssituation
der anspruchsberechtigten Opfer darstellt. Deswegen ist
es ein gutes Gesetz. Ich empfehle dem Hause, diesem
Gesetz zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, mir geht es so wie vielen von uns: Trotz des guten Ergebnisses, dass nun Zahlungen an die Opfer des
sozialistischen Unrechtsstaates auf deutschem Boden erfolgen, haben wir nämlich das Gefühl, dass es viel zu
lange gedauert hat. Denn schon im Einigungsvertrag gab
es einen klaren Auftrag an uns alle, die Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass die Opfer des sozialistischen Unrechtsstaates auf deutschem Boden eine Entschädigung
erhalten. Mit der Tatsache, dass es 17 Jahre gedauert hat,
bis man überhaupt zu einer Regelung gekommen ist,
während diejenigen, die Täter waren, seit vielen Jahren
Sonderrenten beziehen und damit in vielen Fällen sehr
viel besser leben als die Opfer, müssen wir uns beschäftigen.
({0})
Deshalb ist es wichtig, dass wir heute bekennen, dass
wir das Ganze zu lange haben schleifen lassen. Das ist
ein Vorwurf, der sich nicht nur an diejenigen richtet, die
jetzt in der Regierungsverantwortung sind, sondern an
alle, auch an uns, an meine eigene Fraktion, die ja auch
eine Zeit lang Regierungsverantwortung getragen hat.
Ich will für meine Fraktion sagen, dass wir zwar froh
sind, dass jetzt endgültig eine Regelung geschaffen wird,
wir dem, was Sie vorschlagen, aber nicht zustimmen
können. Denn ich habe das Gefühl, dass das, was der
verstorbene Bundespräsident Rau bei einer Feierstunde
anlässlich des 50. Jahrestages des 17. Juni 1953 angemahnt hat - er hat uns gesagt, wir sollten verhindern,
dass diejenigen, die lange gelitten haben, wieder verbittert werden -, doch nicht eintreten könnte. Ich glaube,
das, was wir heute verabschieden, wird leider zur Verbitterung führen. Denn es wird zwei Gruppen geben: Eine
Gruppe bekommt etwas, die andere Gruppe nicht. Wer
etwas bekommt, wird an der Bedürftigkeit festgemacht.
Das führt dazu, dass das, was eigentlich beabsichtigt ist,
nämlich eine Ehrenpension, nicht umgesetzt wird. Dies
ist auch der richtige Begriff; denn diejenigen, die diese
Pension bekommen sollten, haben sich für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt. Das Ganze
wird zu einer Sozialleistung, zu einer Leistung nur für
Bedürftige.
({1})
Unser Ansatz ist ein eindeutig anderer. Die Argumentation, die von Ihnen vorgebracht worden ist, nämlich
dass man zu einer Bedürftigkeitsprüfung gezwungen sei,
ist spätestens nach der Anhörung, die wir im Bundestag
durchgeführt haben, nicht mehr haltbar.
({2})
Von acht Sachverständigen haben sieben klar und eindeutig ausgeführt, dass es dafür keine Notwendigkeit
gibt. Deshalb ist das für uns kein Ansatz für eine Lösung.
Wir haben den Vorschlag, den die Beauftragte des
Landes Thüringen für die Stasiunterlagen gemacht hat,
aufgegriffen, nämlich für alle Betroffenen einen Sockelbetrag vorzusehen, der niedriger ist als die jetzt vorgesehene Zuwendung, und einen Aufstockungsbetrag für
diejenigen, die bedürftig sind. Das ist aus unserer Sicht
der einzig gangbare und richtige Weg.
({3})
Deshalb haben wir einen entsprechenden Änderungsantrag in den Deutschen Bundestag eingebracht.
Ich bin Ihnen, Herr Kollege Meckel, übrigens sehr
dankbar, dass auch Sie gerade geklatscht haben; denn ich
weiß, dass Sie an diesem Prozess in besonderer Weise
beteiligt sind und sich besondere Verdienste erworben
haben. Ich finde es ganz wichtig, dass Sie Ihre Unterstützung hier deutlich machen.
Wir haben einen entsprechenden Änderungsantrag
auch deshalb eingebracht, weil es einige weitere Gruppen gibt, die in Ihrem Gesetzentwurf nicht berücksichtigt werden: Zwangsumgesiedelte, Schüler. Das, was wir
eigentlich wollen, nämlich zu einer vernünftigen Regelung für alle diejenigen zu kommen, die unter dem sozialistischen Unrechtsstaat auf deutschem Boden gelitten
haben, wird leider nicht erreicht. Deshalb ist es weiter
unsere Aufgabe, uns um alle Betroffenen zu kümmern.
Meine letzte Bemerkung für heute: Wenn man sich
die Bestrebungen in den letzten Jahren anschaut, kann
man feststellen, dass es einen wohltuenden Unterschied
gegeben hat: Wir erleben auf der einen Seite immer frecher auftretende Täter, die sich insbesondere in den Gedenkstätten in einer Weise aufführen, dass es unerträglich ist.
({4})
Wir haben zum anderen die Opferverbände erlebt, die
sehr vernünftig auf uns zugegangen sind, sehr gute Gespräche mit uns geführt und keine überzogenen Forderungen gestellt haben. Dies macht nach meiner Auffassung mehr als alles andere deutlich: Die Opfer haben
Ehre verdient. Wir sollten dafür sorgen, dass das auch
materiell seinen Niederschlag findet.
Ich werbe deshalb noch einmal für den, wie gesagt,
ursprünglich aus Thüringen kommenden Vorschlag der
FDP-Bundestagsfraktion. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Das ist nach meiner Auffassung der einzige vernünftige
Weg. Diesen haben die Opfer wirklich verdient.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Voßhoff von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Heute, wenige Tage vor dem nationalen Gedenktag des
17. Juni 1953, der sich am kommenden Sonntag zum
54. Mal jährt, entscheiden wir in diesem Hause über die
Einführung einer Opferpension für Opfer der kommunistischen Diktatur und der SED-Willkürherrschaft. Aus
Sicht der CDU/CSU, die bekanntermaßen lange dafür
gekämpft hat, ist dies ein wichtiger und guter Tag für die
Haftopfer der kommunistischen Diktatur.
({0})
Bevor ich auf die Inhalte des Gesetzes eingehe, erlauben Sie mir eine Anmerkung zum Gedenken an den
17. Juni 1953. Unserem Anspruch hinsichtlich Würdigung und Anerkennung dieses historischen Ereignisses
werden wir nur gerecht - darin sind wir uns sicher einig -,
wenn wir das Gedenken an diesen Tag aufrechterhalten,
pflegen und weitertragen. Daher sollte auch die heutige
Debatte im Zeichen des Gedenkens an die Ereignisse vor
54 Jahren stehen. Gedenktage sollen nicht nur die Erinnerung an historische Ereignisse wachhalten. Sie sind
immer auch Brücke zwischen der Geschichte und damit
den historischen Wurzeln einer Gesellschaft, ihrer Gegenwart und ihrer Zukunft. Wann, wenn nicht am
17. Juni eines jeden Jahres, haben wir die historische
Verpflichtung, in besonderer Weise an Opposition und
Widerstand gegen die zweite deutsche Diktatur zu erinnern und der Opfer zu gedenken?
({1})
Bestandteile unseres Gedenkens an ebendiesen
17. Juni müssen aber auch die Fragen sein, wie wir das
Gedenken in die Zukunft tragen und wie wir in der Gegenwart damit umgehen. Was tun wir? Tun wir genug,
um den nachwachsenden Generationen die Erinnerung
an den 17. Juni 1953 mit auf den Weg zu geben? Sind
die Ereignisse des 17. Juni 1953 in ausreichendem Maße
Gegenstand des Unterrichts in den Schulen?
Zum Gedenken gehört auch die Gegenwart. Dazu gehört für mich die heutige Diskussion in diesem Hohen
Hause, die sich mit der öffentlichen Anerkennung und
Rehabilitierung der Opfer der kommunistischen Diktatur
vor und nach dem 17. Juni 1953 befasst. Es ist gut und
richtig, heute, wenige Tage vor dem Jahrestag, erneut
Verbesserungen des bestehenden SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes zu beschließen.
Ich habe einige der Protokolle über die in den vergangenen 17 Jahren in diesem Haus immer wieder geführten
Debatten zur SED-Unrechtsbereinigung gelesen. Die jeweiligen Regierungsfraktionen, gleich ob schwarz-gelb
oder rot-grün, und die jeweiligen Oppositionsfraktionen
haben immer darum gerungen - Herr Kollege van Essen,
Sie haben bereits erwähnt -, welche Verbesserungen für
die Opfer der politischen Verfolgung notwendig und geboten sind. Das Ergebnis war aus Sicht der jeweiligen
Oppositionsfraktionen immer zu gering, während die
Regierungsfraktionen, die zu entscheiden hatten, die
Grenzen des Machbaren zum Wünschenswerten aufzeigten.
Auch mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stehen wir erneut vor dieser grundsätzlichen Frage. Heute
wird die Große Koalition eine weitere ganz wesentliche
Verbesserung für Haftopfer kommunistischer Verfolgung, der SED-Willkürherrschaft auf den Weg bringen.
Mehr als 40 000 Haftopfern wird künftig unter bestimmten Voraussetzungen eine regelmäßige monatliche
Opferpension in Höhe von 250 Euro gezahlt werden.
Ich bedauere insbesondere - der Kollege Hübner
sagte es schon -, dass die Oppositionsfraktionen der
FDP und der Grünen unserem Gesetzentwurf heute nicht
zustimmen werden. Bei der Fraktion Die Linke habe ich
nichts anderes erwartet. Herr van Essen, dem Modell,
das Sie vorgestellt haben, kann man durchaus Sympathie
entgegenbringen; das ist keine Frage. Auch ich hätte mir
andere Kompromisse vorstellen können. Wenn wir aber
heute beschließen, dass 40 000 Opfer eine monatliche
Rente in Höhe von 250 Euro bekommen, dann ist das, so
denke ich, allemal ein Grund, unabhängig von unterschiedlichen Auffassungen zur Weichenstellung, zu sagen: Wir stimmen zu.
({2})
Unser Koalitionspartner möge es mir nachsehen:
Aber es war die CDU/CSU, die immer wieder nachhaltig
gefordert hat, Verbesserungen bei der SED-Unrechtsbereinigung durch eine Opferpension auf die Agenda dieses Hauses zu bringen. Ich erlaube mir die Anmerkung,
dass insbesondere der Kollege Vaatz und der ehemalige
Kollege Nooke diese Angelegenheit in besonderer
Weise, intensiv und über Jahre hinweg thematisiert haben.
({3})
Ich danke aber auch ganz besonders unserem Koalitionspartner dafür, dass er mitgezogen hat. Die Anträge
der CDU/CSU spiegelten teilweise weitergehende Vorstellungen wider.
({4})
Daran werden wir immer wieder gern erinnert.
({5})
Sie bestätigen damit aber nur unser Engagement für die
Opfer kommunistischer Diktaturen. Sie alle, die Sie uns
daran erinnern, wissen: Politik ist nicht nur die Kunst
des Möglichen, sie ist auch die Kunst der Mehrheiten.
Unsere vor einigen Monaten hier vorgestellten Eckpunkte zur Verbesserung der SED-Unrechtsbereinigung
und der kurze Zeit später vorgestellte Gesetzentwurf
wurden in den Reihen der Opferverbände als wichtige
Hilfe begrüßt. Das kam auch in der von uns durchgeführten Anhörung zum Ausdruck. Es gab aber durchaus
auch - das soll nicht unerwähnt bleiben - Kritik, zum
Beispiel bezüglich der Opfergruppen, die in den Kreis
der Begünstigten aufgenommen werden sollen, und
- das ist sicherlich die umstrittenste Voraussetzung - der
Bedürftigkeitsprüfung, die heute schon kritisch angesprochen wurde.
Umso mehr freut es mich, dass wir zwischenzeitlich
zwei wesentliche Verbesserungen bei der Bedürftigkeitsprüfung erreichen konnten. Unabhängig davon, ob
die Bedürftigkeitsprüfung hineingehört oder nicht - Herr
Kollege van Essen, Sie haben richtigerweise gesagt, dass
sich in der Anhörung viele Sachverständige kritisch dazu
geäußert haben -, bitte ich Sie, zu bedenken, dass es in
Deutschland bei der Entschädigung eine große Bandbreite von Regelungen gibt. Das sehen Sie, wenn Sie
sich mit den Protokollen der Anhörung und den Ausführungen der Sachverständigen beschäftigt haben. Wir
müssen uns die Frage stellen, wo in der Systematik wir
diese Entschädigungsregelung einpassen. Das hat auch
mit den Bedürftigkeitskriterien zu tun.
Es freut mich, dass es uns gelungen ist, zwei wesentliche Verbesserungen in diesem Bereich erreichen zu können. Zum einen bleibt das Einkommen des Ehegatten
oder eines Partners, mit dem der Betroffene in Lebensgemeinschaft lebt, bei der Ermittlung der Einkommensgrenzen außen vor. Es kommt also nur auf das Einkommen des Betroffenen an. Dieses darf derzeit bei einem
Alleinstehenden 1 035 Euro oder bei einem verheirateten oder in Partnerschaft lebenden Betroffenen
1 380 Euro nicht übersteigen. Begünstigt werden auch
Personen, bei denen das ermittelte Einkommen die maßgebliche Einkommensgrenze um einen Betrag überschreitet, der geringer als die Zuwendung in Höhe von
250 Euro ist. Diese erhalten dann den Differenzbetrag.
Zum anderen konnten wir uns mit unserem Koalitionspartner auf eine weitere Verbesserung einigen. Bei
der Berechnung des Einkommens bleiben nunmehr - das
ist ein entscheidender Durchbruch - Rentenleistungen
aller Art unberücksichtigt, und zwar unabhängig vom
Alter der Betroffenen. Künftig werden statt bisher geschätzter 16 000 - die Zahl wurde heute schon genannt über 40 000 Haftopfer eine monatliche besondere Zuwendung - wir nennen sie Opferpension - in Höhe von
250 Euro beziehen.
Eine weitere wesentliche Erleichterung für die Betroffenen wird sein, dass das zunächst auf sechs Monate
beschränkte Bewilligungsverfahren gestrichen wurde.
Die monatliche Zuwendung wird jetzt auf den Erstantrag
hin dauerhaft gewährt. Der Berechtigte ist nur noch verpflichtet, der zuständigen Behörde Einkommensänderungen mitzuteilen. Ein kaum umsetzbares bürokratisches Monstrum, das den Betroffenen schwer zumutbar
gewesen wäre, konnte so verhindert werden. Ein Großteil der Betroffenen wird zwischenzeitlich das Rentenalter erreicht haben, sodass wesentliche Einkommensänderungen ohnehin nicht mehr eintreten. Zudem haben
wir die Rehabilitierungsfristen erneut um vier Jahre verlängert.
Hinsichtlich der Frauen, die östlich von Oder und
Neiße in Gewahrsam genommen und zur Zwangsarbeit
in die Sowjetunion verschleppt worden sind, ist es unsere Absicht, die finanzielle Situation des Personenkreises, der diese besonders schwere Freiheitsberaubung erlitten hat, zu verbessern. Unser Ziel ist es, die Stiftung
für ehemalige politische Häftlinge auch für diese Gruppe
zu öffnen. In der Gesetzesbegründung - Sie haben es sicher gelesen - ist zu diesem Zweck eine Aufstockung
der Mittel vorgesehen. Dies wird im Rahmen des
Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes voraussichtlich
im Herbst dieses Jahres geregelt werden.
Dass dies heute so beschlossen wird, ist eine gute
Nachricht für die Haftopfer von politischer Verfolgung
in der ehemaligen DDR. Aber das Schicksal aller Opfer
kommunistischer Diktaturen und der SED-Willkürherrschaft ist zu komplex und zu vielschichtig, als dass wir
uns heute mit dem Ergebnis zufrieden zurücklehnen
könnten. Auch da hat Kollege Hübner die noch offenen
Baustellen benannt. Allen Opfern kommunistischer Diktatur und SED-Willkürherrschaft das notwendige Maß
an individueller Anerkennung und Hilfe zukommen zu
lassen, ist ein wohl kaum leistbares Unterfangen. Was
auch immer wir tun, es wird Betroffene geben, die es als
unzureichend empfinden. Sie alle zu erfassen, ist
schlicht unmöglich.
Es ist nicht nur einmal an dieser Stelle gesagt worden,
dass das erlittene Unrecht, was auch immer wir tun,
nicht wiedergutgemacht werden kann. Wie oft haben wir
das an dieser Stelle schon gehört. Und warum? Die für
die Opfer streitenden Verbände, die Opfer selbst, aber
auch die ständig fortschreitende Aufarbeitung der Geschichte dokumentieren in beeindruckender Weise Gruppen- und unterschiedlichste Einzelschicksale deutscher
Diktaturen, die uns immer wieder betroffen machen.
Deshalb bin auch ich nicht der Auffassung, dass es sich
hier heute um ein Schlussgesetz handelt. Ich denke aber,
dass die Opferpension, für die wir jahrelang gekämpft
haben, ein guter Weg ist. Wir als CDU/CSU-Fraktion
hätten uns mehr gewünscht. Nichtsdestotrotz ist es ein
gutes Gesetz. Es macht Sinn, dem Gesetzentwurf heute
zuzustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Zuge der staatlichen Vereinigung von Bundesrepublik
und DDR wurde ein Einigungsvertrag geschlossen. In
Art. 17 heißt es unter dem Stichwort „Rehabilitierung“:
Die Vertragsparteien bekräftigen ihre Absicht, daß
unverzüglich eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen wird, daß alle Personen rehabilitiert werden können, die Opfer einer politisch motivierten
Strafverfolgungsmaßnahme oder sonst einer rechtsstaats- und verfassungswidrigen gerichtlichen Entscheidung geworden sind. Die Rehabilitierung dieser Opfer des SED-Unrechts-Regimes ist mit einer
angemessenen Entschädigungsregelung zu verbinden.
So weit der Einigungsvertrag.
Parallel dazu hatte die letzte Volkskammer der DDR
ein eigenes Rehabilitierungsgesetz beschlossen, und
zwar partei- und fraktionsübergreifend, also auch mit
den Stimmen der PDS. Nimmt man den Beschluss der
Volkskammer aus dem Jahre 1990 als Maßstab, ist festzustellen: Die Rechtswirklichkeit in der Bundesrepublik
- und damit die Entschlossenheit des Bundestages bleibt noch immer hinter dem politischen Willen zur Rehabilitierung, den die Volkskammer hatte, zurück. Das
wird sich auch mit dem heute zu beratenden und zu beschließenden Gesetzentwurf nicht ändern.
Noch einmal zum Einigungsvertrag zurück. Dort ist,
wie ich eingangs zitiert habe, von „unverzüglich“, „alle
Personen“ und einer „angemessenen Entschädigungsregelung“ die Rede. Von „unverzüglich“ kann 17 Jahre
nach der Vereinigung keine Rede sein, „alle Personen“
werden auch mit diesem Gesetz mitnichten erreicht, und
„angemessen“ ist die nun gefundene Regelung auch
nicht, jedenfalls nicht nach meiner Auffassung.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde von vielen Seiten kritisiert: von Betroffenen, von Verbänden, von
Experten und auch von der Fraktion Die Linke. Hauptkritikpunkt ist, dass erlittenes DDR-Unrecht nur partiell
anerkannt und nur ausnahmsweise berücksichtigt wird:
nur partiell anerkannt, weil ganze Opfergruppen ausgeschlossen bleiben, und nur ausnahmsweise berücksichtigt, weil lediglich ärmste Betroffene bedacht werden.
Salopp ausgedrückt: Nutznießer dieses Gesetzes werden
nur jene Opfer des DDR-Unrechts sein, die inzwischen
zu den Ärmsten zählen. Es geht also nicht um eine
Opferrente, wie der Titel des Gesetzentwurfes suggeriert, sondern um einen Sozialausgleich, durch den die
Armut gelindert werden soll. Das ist aber eine völlig andere politische Zielsetzung als die, die im Einigungsvertrag formuliert ist. Das beginnt bereits bei der Botschaft:
Gewürdigt wird nicht mehr das Engagement der Betroffenen für Demokratie, Bürgerrechte und Freiheit zu
DDR-Zeiten, sondern lediglich die aktuelle Bedürftigkeit der Anspruchsberechtigten. Das ist zu wenig.
({1})
Die Fraktion Die Linke hat daher einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. In ihm ist die Einführung einer
Opferrente vorgesehen, die unabhängig vom aktuellen
Einkommen der Betroffenen zu zahlen ist. Darüber hinaus werden durch unseren Gesetzentwurf mehr Menschen, die in der DDR politisch verfolgt wurden, erfasst,
zum Beispiel Schülerinnen und Schüler, denen aus politischen Gründen versagt wurde, einen bestimmten Bildungsweg einzuschlagen, oder Bürgerinnen und Bürger,
die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen wurden.
({2})
Wir wollen, dass ehemals Inhaftierte nicht auf bürokratischem Weg nachweisen müssen, dass sie gesundheitliche Schäden erlitten haben. Wir plädieren auch dafür,
dass die Befristung des Anspruchs auf Opferrente gestrichen wird. Der Anspruch muss jederzeit geltend gemacht werden können. Dass dies der richtige Weg ist,
haben uns die Sachverständigen in der Anhörung anhand
einzelner, betroffen machender Schicksale sehr nachdrücklich vor Augen geführt.
Kurzum: Wer Anspruch auf eine Opferrente hat,
sollte diesen auf möglichst unbürokratische Weise
durchsetzen können, um eine Opferrente in angemessener Höhe und ohne Verrechnung mit anderen Bezügen
zu erhalten; dafür will die Fraktion Die Linke mit ihrem
Gesetz sorgen. Nach allen Gesprächen, die ich persönlich mit Betroffenen und mit Vertreterinnen und Vertretern der Opferverbände geführt habe, muss ich sagen:
Diese Regelung kommt ihren Vorstellungen sehr nahe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen nachher
über verschiedene Gesetzentwürfe und Änderungsanträge abstimmen. Natürlich wird die Fraktion Die Linke
für ihren eigenen Gesetzentwurf stimmen; das wird Sie
nicht überraschen. Uns wiederum wird es nicht überraschen, dass unser Gesetzentwurf in diesem Haus keine
Mehrheit finden wird. Was also dann? Meine Empfehlung an die Fraktion Die Linke war und ist:
({3})
Lasst uns jedem Antrag zustimmen, der besser ist als der
Gesetzentwurf der Koalition bzw. der diesen Entwurf im
Interesse der Betroffenen verbessert! Sollte das allerdings nicht von Erfolg gekrönt sein, dann, finde ich, sollten die Unionsparteien und die SPD ihr Gesetz allein
verantworten.
({4})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland vom
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Ramelow, Sie kommen mit den Blockparteien.
Mein Schicksal ist es, in dieser Debatte immer nach der
Linksfraktion reden zu müssen.
({0})
Das war diesmal im Ton moderater als das, was Herr
Schneider uns immer geboten hat. Aber die Melodie ist
genauso unerträglich.
({1})
Es ist, als ob ein Angeklagter, der vor Gericht steht, kein
Wort des Bedauerns für seine Opfer findet,
({2})
auch kein Geständnis ablegt, aber stattdessen sagt, der
Skandal sei doch, dass seine Opfer von diesem Staat zu
gering entschädigt würden. So jemanden würde man an
den Gutachter überweisen; man würde fragen, ob er zurechnungsfähig ist.
({3})
Aber Sie haben die Chuzpe, diese Ansicht Debattenrunde um Debattenrunde zu wiederholen.
({4})
Sie hätten mit Ihren Geldern als Erstes die Opfer entschädigen müssen; das wäre ein glaubwürdiger Schritt
gewesen.
({5})
- Sie waren nicht da, als wir die Debatte geführt haben,
Herr Ramelow. Die Gelder wurden von Ihrem Herrn
Langnitschke und wie sie alle hießen in krimineller
Weise beiseite geschafft. Sie wurden dafür verurteilt.
({6})
Wenn Sie nun glauben, von Blockflöten reden zu
müssen, mein lieber Herr Ramelow, muss ich feststellen:
Zu den Blockflöten kann man eine Menge sagen;
({7})
die Geldkoffer von Gerald Götting waren unappetitlich.
({8})
Aber erklären Sie mir doch einmal: Welchen Geheimdienst hat denn die Ost-CDU gehabt, und welches Gefängnis hat die LDPD betrieben? Keines. Sie wollen sich
wieder verstecken, Sie wollen sich herausreden,
({9})
Sie wollen zu Ihrer eigenen Schuld nicht stehen.
({10})
Herr Ramelow, Sie haben nicht das Wort.
Es sind die Getroffenen, die bellen, und das freut
mich.
({0})
- Dann sage ich noch etwas: In der Anhörung hat Frau
Neubert, die thüringische Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, genau das Richtige gesagt, nämlich dass sich die Opfer angesichts Ihres
Entwurfs und Ihres Vorgehens das zweite Mal gedemütigt und erniedrigt fühlen. So reagieren die Opfer darauf.
({1})
Fahren Sie einmal nach Görlitz, wo sich am Wochenende die Opferverbände treffen, und stellen Sie sich den
Opfern! Da werden Sie etwas zu hören bekommen.
({2})
Jetzt möchte ich gerne etwas zu dem vorliegenden
Entwurf sagen.
({3})
Wir hatten bei der Einbringung gesagt, dass wir uns enthalten, weil wir warten wollen, ob es im parlamentarischen Prozess zu substanziellen Verbesserungen kommt.
Wir haben ähnlich wie Herr van Essen anerkannt, dass
hier niemand auf einem hohen Ross sitzen kann, dass
auch wir selbstkritisch sein müssen, weil auch unter RotGrün keine befriedigende Lösung gefunden wurde.
({4})
Die Frage ist nun: Ist man einen entscheidenden Schritt
weitergekommen? Man ist weitergekommen, was die
Rentnerinnen und Rentner betrifft; das erkennen wir an,
keine Frage. Aber Sie haben nicht begründen können,
weder die SPD noch die CDU/CSU - Sie haben es auch
in dieser Debatte nicht getan, Frau Voßhoff, obwohl Sie
dazu aufgefordert waren -, warum Sie die Brücke, für
die sich die Sachverständigen beinahe unisono ausgesprochen haben: „Lasst uns das splitten; lasst uns eine
Anerkennungsgeste von 100 Euro machen
({5})
und für die Bedürftigen etwas drauflegen!“, nicht betreten haben.
({6})
Wir wären dann nicht in der Situation, dass es in Zukunft
drei Opfergruppen geben wird. Die Mitglieder der ersten
Gruppe bekommen gar nichts, weil sie die Anrechnungszeiten nicht erfüllen. Das sind diejenigen, die
eben nicht sechs Monate in Haft waren, weil die Haftzeiten nach Helsinki kürzer waren. Man wollte die Häftlinge schneller verkaufen, um für das von Ihnen installierte Regime mehr Devisen einzunehmen. Das hat man
getan.
({7})
- Herr Kollege Ramelow, ich weiß, dass Sie damals
noch in Hessen und so wie heute für den Weltfrieden waren. Aber Sie haben sich dieser Fraktion angeschlossen.
({8})
Es wurde bereits gesagt, dass es auch Opfer von Zersetzungsmaßnahmen gibt, nämlich die Schüler, die in die
Sowjetunion verschleppt wurden. Auch sie gehen leer
aus. Die zweite Gruppe bilden die Menschen, die bei der
Bedürftigkeitsprüfung durchfallen werden. Es gibt
auch Selbstständige, die sich mehr oder weniger durchschlagen, sich noch nicht im Rentenalter befinden und
aufgrund der Bedürftigkeitsprüfung außen vor bleiben.
Als dritte Gruppe gibt es dann noch die Begünstigten des
heutigen Tages. - Man schafft Unfrieden, indem man
drei Opfergruppen bildet, und ist nicht in der Lage, zu
begründen, warum man das eigentlich tut. Deshalb kann
man von der FDP und uns nicht erwarten, dass wir dem
zustimmen. Sorry, das können wir nicht.
({9})
Es wurde schon mehrfach gesagt - auch von Ihnen -,
dass dies leider kein Schlussgesetz ist. Es wäre nötig, zu
einer abschließenden Regelung zu kommen, da viele Betroffene unlängst sterben werden. Es ist ein weiterer
Schritt, den ich nicht kleinreden will; das tue ich auch
nicht. Ich hätte es aber für gut gehalten, wenn die Große
Koalition vor einem ereignisreichen Tag, nämlich dem
wiederkehrenden 17. Juni, an dem sich hier in Berlin
glücklicherweise nicht die Kundschafter des Friedens
treffen und eine Propagandaveranstaltung durchführen
- das hat Marianne Birthler glücklicherweise verhindert -,
eine wirklich allseits befriedigende Regelung getroffen
hätte. Das war der Wunsch, der Traum. Er ist nicht in Erfüllung gegangen. Das Kapitel ist nicht abgeschlossen.
Die Auseinandersetzung geht weiter. Wir werden sie alle
gemeinsam führen müssen.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich zuerst sagen: Herr Ramelow, das, was Sie gerade während der Rede des Kollegen Wieland aufgeführt
haben, gehört mit zu dem Unwürdigsten, was ich in diesem Parlament jemals erlebt habe.
({0})
Statt, wie es Ihnen als Vertreter der Täterpartei zustünde,
({1})
in Sack und Asche zu gehen und sich endlich bei den
Opfern zu entschuldigen, machen Sie ausgerechnet bei
diesem Thema den gleichen Klamauk wie bei allen Themen.
({2})
Das ist eine Unverschämtheit und ein Schlag ins Gesicht
der Opfer.
({3})
Herr Ramelow, einem Sprichwort zufolge kann man der
Strafe wohl entgehen, aber nicht dem Gewissen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man eines hat.
({4})
- Nein, ich rede erst einmal zu den Opfern.
Ich rede erst einmal darüber, dass die Frauen und
Männer, die sich in der DDR gegen das SED-Regime
und für Freiheit und Demokratie einsetzten, ihrem Gewissen folgten und dafür schwer bestraft wurden: durch
Inhaftierung, durch Folter und in den frühen Zeiten häufig auch durch Ermordung.
Die Geschichte lehrt uns, dass manchmal nur wenige
ihrem Gewissen folgen. Die Geschichte lehrt uns auch,
dass es diese wenigen sind, die einer unterdrückten Gesellschaft Hoffnung geben. Diese Opfer der DDR, der
SED-Herrschaft, haben lange auf eine Geste der politischen Anerkennung gewartet und sie oft vergeblich
eingefordert. Frau Kollegin Voßhoff, sowohl unter der
Regierung Kohl als auch unter der Nachfolgeregierung
wurde dieser Wunsch mehrmals aufgegriffen: in den ersten beiden Perioden von meiner Fraktion, in den beiden
nächsten Perioden von Ihrer Fraktion. Jedes Mal scheiterten die entsprechenden Vorhaben an den Mehrheitsverhältnissen.
Ich bin froh darüber, dass wir im 17. Jahr der deutschen Einheit endlich dazu kommen, ein Ergebnis vorzulegen und das notwendige Maß an Anerkennung auszusprechen. Damit setzen wir eine Vereinbarung aus
dem Koalitionsvertrag um und geben ein unmissverständliches Signal. Die Opfer erfahren dadurch ein wenig Milderung ihres Unglücks.
Ich erinnere Sie an das, was seit 1990 getan wurde:
Das Erste und Zweite Unrechtsbereinigungsgesetz aus
dem Jahr 1992 und 1994, die man nicht vergessen sollte,
haben bereits das Unrecht politischer Verfolgung durch
das SED-Regime anerkannt und so eine Rehabilitierung
der Opfer ermöglicht. Im Zusammenhang mit dem
Thema Opferentschädigung sollte man auch nicht vergessen, dass die Häftlingshilfestiftung schon seit Jahren
einzelnen Opfern Finanzmittel zur Verfügung stellt.
Aus den Opferverbänden wurde zu Recht stets der
Wunsch nach weitergehenden Regelungen vorgetragen.
Eine über die strafrechtliche Rehabilitierung hinausgehende Würdigung haben wir durch den heute vorliegenden Gesetzentwurf erreicht. Am 1. März haben wir in
diesem Hause das Eckpunktepapier behandelt und verabschiedet und am 29. März in erster Lesung über den
Gesetzentwurf beraten. Für die Zeit seit der ersten Lesung danke ich vor allem dem Bundesministerium der
Justiz für die beständige Unterstützung sowie meiner
Kollegin Voßhoff und dem Kollegen Vaatz und der Kollegin Wicklein und den Kollegen Hübner und Scholz aus
meiner Fraktion für die häufig zeitintensive, aber freundliche Zusammenarbeit.
Nach der Anhörung im Rechtsausschuss haben wir
durch unsere Änderungsanträge deutliche Verbesserungen erreichen können. Vorhin wurde wiederholt von der
Bedürftigkeitsprüfung gesprochen. In der Anhörung
haben wir von unserem Sachverständigen dankenswerterweise gehört, welche Möglichkeiten wir in dem System der Vereinbarung von 1992 haben, einzelne Einkünfte im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nicht
anzurechnen. Davon machen wir Gebrauch. Das Ergebnis, das wir gefunden haben, bedeutet eine Verdreifachung des Kreises der Berechtigten und eine Verdreifachung der einzusetzenden Mittel. Wenn dann noch, wie
wir in den Eckpunkten vorgeschlagen haben, der Bun10466
desminister des Innern die Mittel für die Häftlingshilfestiftung erhöht, sodass zahlreiche weitere Opfer Mittel
aus dieser Stiftung abrufen können, werden wir eine
deutliche Verbesserung erreicht haben.
Zu dieser Verbesserung gehört auch eine Verlängerung der Antragsfristen. Eine einmalige Antragsstellung reicht aus; die Frist dazu wird bis zum
31. Dezember 2011 verlängert.
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich eines deutlich machen: Neben der finanziellen Anerkennung wird
dieser Gesetzentwurf auch die Erinnerung an den Einsatz der Opfer für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie lebendig halten. Wir dürfen die Opfer der DDR und
der SED niemals vergessen. Mit finanziellen Regelungen lässt sich ihr Schaden nicht wiedergutmachen, auch
wenn wir uns das sehr wünschen. Leider können nicht
alle Hoffnungen erfüllt werden. Aber durch das vorliegende Gesetz wird sich die Situation vieler Betroffener
verbessern.
Lassen Sie uns ein eindeutiges Votum zugunsten der
in weiten Teilen schon sehr alten Opfer abgeben. Was
Sie von den Oppositionsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP vorgeschlagen haben, ist legitim und
durchaus im Bereich des Vorstellbaren - im Gegensatz
zu dem Klamauk der PDS, der Täterpartei. Wir sollten
bei der Abstimmung über dieses Thema in diesem Parlament einen weiten Bogen schlagen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will nicht versäumen, die Repräsentanten
der Opferverbände, die unserer heutigen Sitzung beiwohnen, sehr herzlich zu begrüßen,
({0})
und ich rufe ihnen zu: Ohne Sie hätten wir das wahrscheinlich nicht geschafft! Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Demzufolge bin ich für Ihre Arbeit sehr
dankbar.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem
kurzen Verweis auf ein persönliches Schicksal beginnen.
Am 8. März dieses Jahres hatte ich den letzten Besuch
eines Mannes in meinem Büro, den ich über die Jahre
überaus schätzen gelernt habe, von Hermann Kreutzer,
vielen von Ihnen sicherlich gut bekannt. Hermann
Kreutzer war elf Jahre seines Lebens im Gefängnis, das
erste Mal als 17-Jähriger bei Hitler für vier Jahre und anschließend sieben Jahre zur Zeit der SBZ bzw. der
DDR. Danach war er lange Zeit als Bevollmächtigter der
Bundesregierung für Berlin tätig.
Hermann Kreutzer ist am 28. März dieses Jahres gestorben. Ich bin betroffen, dass er den heutigen Tag nicht
mehr erleben konnte und ebenso wie viele, denen es genauso ergangen ist, möglicherweise in dem Bewusstsein
gestorben ist, dass die Demokratie der Bundesrepublik
Deutschland offenbar nicht in der Lage ist, ihre Vorkämpfer so zu würdigen, wie sie es verdienen. Das sollte
man am heutigen Tag zur Kenntnis nehmen.
Ich nenne diesen Namen stellvertretend für die vielen,
gegenüber deren Schicksal ich als Demokrat eine gewisse Scham empfinde, weil wir tatsächlich 17 Jahre gebraucht haben. Meines Erachtens kommt es bei dem
heute zu beschließenden Gesetz nicht vordergründig auf
den materiellen Nutzen an, den der Einzelne davon hat.
Vielmehr geben wir damit eines der wichtigsten Signale,
das die Demokratie geben muss, nämlich dass sie zwischen denjenigen zu unterscheiden versteht, die antidemokratische Zustände installieren, festigen und sichern,
und denjenigen, die sich aus einer inneren Kraft heraus
dagegen auflehnen.
({1})
Wir können als Bundesrepublik Deutschland nicht damit
leben, eingestehen zu müssen, dass die Besitzstände, die
einmal unter Missachtung von Demokratie, Menschenrechten und Gewaltenteilung zustande gekommen sind,
nahezu unverändert von einer Demokratie übernommen
werden und die Zerstörungen, die in ebendieser Phase
angerichtet worden sind, ebenso unrepariert fortleben.
Das darf nicht sein, meine Damen und Herren.
({2})
Ich glaube, wir werden heute das äußerst wichtige Signal
setzen: Die Demokratie vergisst ihre Vorkämpfer nicht.
Die symbolische Nähe zum 17. Juni ist sehr gut; denn
der 17. Juni steht für das erste große Aufbegehren in
Ostdeutschland. Die Menschen, die damals für Demokratie eingetreten sind, haben alles - ihre körperliche
Unversehrtheit, Gesundheit, berufliche Perspektive, den
Rest Freiheit, den sie in der DDR noch hatten - riskiert,
manche sogar ihr Leben. Das sollten sich alle vor Augen
führen, auch unsere Kollegen aus Westdeutschland, die
nicht für die Demokratie kämpfen und leiden mussten.
Ich halte es für sehr wichtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf ein Gemeinschaftswerk von Ost und West
ist. Damit bringen wir das Zusammenwachsen ein Stück
voran und sagen Ja zu den Biografien auf beiden Seiten
des Landes. Ich bin Ihnen deshalb außerordentlich dankbar.
Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen. Als wir
in der Opposition waren, wurde zu unserer Forderung
nach Opferrenten viele Jahre lang das Argument vorgebracht: Wartet mal ab, bis ihr regiert. Wenn ihr selber die
Opferrenten einführen könnt, dann werden irgendwelche
finanziellen Bedenken vorgeschoben, und es geht wieder
nicht. - Deshalb haben wir uns, insbesondere meine Kollegen aus Ostdeutschland in der CDU, während der Oppositionszeit vorgenommen, dieses Vorhaben wirklich
durchzusetzen. Ich bin Ihnen - insbesondere einer Reihe
von Kollegen der SPD aus Ostdeutschland, durch deren
Kompromissfähigkeit wir uns nach und nach einigen
konnten - außerordentlich dankbar, dass wir diesen Gesetzentwurf innerhalb der Großen Koalition erarbeiten
und zur Abstimmung vorlegen konnten.
({3})
Nach wie vor gilt - auch das muss klar sein -: Der
Druck auf die Parlamentarier ist erst dadurch gewachsen, dass sich das Erste und Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz als unzureichend erwiesen haben. Das ist
erstens darauf zurückzuführen, dass es einige materielle,
aber im Wesentlichen eher symbolische Wiedergutmachungsleistungen des Staates gab. Zweitens war der gegenläufige Prozess festzustellen, dass im Wesentlichen
durch Bundesverfassungsgerichtsurteile die materielle Situation der Repräsentanten des Systems unaufhörlich bessergestellt worden ist. Diesen Zustand haben die
Menschen, die von den Repressalien betroffen waren,
zunehmend als unerträglich und inakzeptabel empfunden.
({4})
Ich halte es daher für eine richtige Reaktion des Parlaments, das diese Gerichtsentscheidungen zu akzeptieren
hat, durch entsprechende Anpassungen auf der anderen
Seite nachzuziehen.
Lassen Sie mich die Dimension der Unterschiede
deutlich machen: Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales beliefen sich allein 2006 die
Ausgaben des Bundes und der Länder für Personen, die
Ansprüche aus den Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR haben - dabei handelt es sich insbesondere um ehemalige Angehörige der Nationalen Volksarmee, Volkspolizei und des Ministeriums für
Staatssicherheit -, auf 1,5 Milliarden Euro. Im Vergleich
dazu betragen die Leistungen des Bundes nach dem
Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz, also Kapitalentschädigung und Unterstützungsleistungen, nur insgesamt 16 Millionen Euro. Das entspricht etwa 1 Prozent.
Das ist ein äußerst bedauerlicher Zustand. Insofern halte
ich es für außerordentlich wichtig, dass wir jetzt erheblich nachlegen konnten und noch eine Verbesserung erreicht haben, durch die ermöglicht wird, dass Rentenleistungen nicht mehr in Anrechnung gebracht werden.
Es wären sicherlich noch viele andere Konstruktionen
vorstellbar gewesen. Aber alle, die jetzt darauf hinweisen, sollten die Kirche im Dorf lassen. Bitte erinnern Sie
sich, dass unsere Gesetzentwürfe, die wir während der
Oppositionszeit vorgelegt haben, größtenteils schlechtere Konditionen enthielten als der vorliegende Gesetzentwurf. Das fängt schon bei der Haftdauer an. Wir hatten damals ein Jahr Haft als Kriterium vorgesehen. Nun
ist es nur noch ein halbes Jahr Haft; das ist wesentlich
weniger.
({5})
- Das ist nicht ganz zutreffend, lieber Herr Kollege
Wieland. Wir hatten ursprünglich ein gestaffeltes System
vorgesehen, das bei einer niedrigeren Summe als
250 Euro begann. Aber auch das hatte Nachteile.
({6})
Meine Damen und Herren von den Grünen, wir hätten
damals gerne von Ihnen die Kritik gehört, dass das Gesetz zu wenig für die Betroffenen vorsieht. Aber Sie haben damals dem Gesetzentwurf nicht zugestimmt, weil
er zu viel gekostet hätte. Das ist die Wahrheit. Wir wollen nun keinen Überbietungswettbewerb machen, sondern erst einmal sehen, wie das Gesetz greift. Ich bin fest
davon überzeugt, es wird das Los vieler Menschen verbessern und die Akzeptanz in unserer Demokratie erhöhen.
Herr Ramelow, Ihre Fraktion hat einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Dazu kann ich nur sagen: Sie
hätten im Hinblick auf Ihr Ansehen und die Rehabilitierung der Mitglieder der ehemaligen SED in Gesamtdeutschland und insbesondere in Ostdeutschland sehr
viel geleistet, wenn Sie gesagt hätten: Wir bedauern das
furchtbare Unrecht, das wir an vielen Tausend Menschen
begangen haben; wir möchten uns dafür entschuldigen.
({7})
Aber bei Ihnen ist das genaue Gegenteil herausgekommen. Sie sind zynisch und geben anderen die Schuld. Offenbar haben Sie vergessen: Nicht die CDU hat die SED
gleichgeschaltet, sondern die SED die CDU. So ist es gewesen.
({8})
Herr Ramelow, bevor es so weit war, wurden etliche
Mitglieder meiner Partei eingesperrt und haben es mit
dem Leben bezahlt. Das ist die Realität. Was mich besonders kränkt, ist Folgendes: Nachdem sich die Demokratie in Ostdeutschland durchgesetzt hatte, kam eine
Reihe von Zaungästen aus dem Westen und hat sich ausgerechnet der Partei angeschlossen, die uns jahrelang
unterdrückt hat. Dazu gehören Sie, Herr Ramelow. Das
werfe ich Ihnen vor.
({9})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor einigen Tagen rief mich eine Kindererzieherin aus Berlin an. Sie berichtete mir von ihrer 20-monatigen Haftzeit in der Frauenhaftanstalt Hoheneck unter
unmenschlichen Haftbedingungen. Ins Gefängnis kam
sie, weil sie von einer vermeintlich guten Freundin denunziert wurde. Darunter leidet sie noch heute. Dieses
Gespräch hat mich sehr bewegt. Ihr gehe es nicht um das
Geld, sagte sie. Die Würdigung durch die Opferpension
sei eine große Genugtuung für sie, auf die sie schon viele
Jahre gewartet habe. - So wie diese Frau empfinden
viele Opfer.
Wie wir alle wissen, gibt es aber auch andere Stimmen. Manche Betroffene lehnen dieses Gesetz ab, weil
es ihnen nicht weit genug geht. Vor wenigen Tagen
schrieb ein Bürger in einem Leserbrief in der „Märkischen Allgemeinen-Zeitung“: Mut und Unbeugsamkeit
hätten sich nicht ausgezahlt. Er sei zutiefst empört, wie
heute mit den SED-Opfern umgegangen werde. Die
Opferpension sei nur ein Almosen und keine angemessene Entschädigung für erlittenes Unrecht.
Diese beiden Beispiele machen noch einmal deutlich,
wie unterschiedlich die Reaktionen derjenigen sind, deren Situation wir mit dem Gesetzentwurf verbessern
wollen. Wie hoch müsste jedoch eine Opferpension sein,
um das individuell sehr unterschiedlich erlittene Leid
wiedergutzumachen? Welchen Maßstab sollten wir anlegen? Können wir Mut und Unbeugsamkeit überhaupt
mit Geld aufwiegen? Nein, das können wir nicht; das
wurde hier schon mehrfach gesagt. Ich glaube, darin sind
wir uns alle einig. Aber eines ist sicher: Der tausendfache Widerstand hat sich ausgezahlt. Der Fall der Mauer,
Freiheit und Demokratie sowie die deutsche Einheit sind
heute Realität.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir ein
weiteres Zeichen setzen. Die Einführung einer Opferrente ist ein weiterer Versuch, die Folgen für diejenigen
abzumildern, die inhaftiert waren und am meisten gelitten haben. Mir ist bewusst, dass sich durch die vorgesehenen Regelungen zur Opferpension nicht alle in ausreichendem Maße gewürdigt sehen. Umso wichtiger ist es,
dass wir einige Fragen, die noch offengeblieben sind, erneut aufgreifen. Auch darin sind wir uns einig. Besonders liegt mir am Herzen, die Verfahren zur Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden zu verbessern.
Hier muss eine zügige Abstimmung mit den Ländern erfolgen.
({0})
In den Eckpunkten für dieses Gesetz ist eine Aufstockung der Mittel für die Häftlingshilfestiftung auf
3 Millionen Euro jährlich vereinbart. Dies sollte über das
anstehende Gesetz zur Auflösung der Heimkehrerstiftung erfolgen. Mir ist es an dieser Stelle wichtig, zu erwähnen, dass dadurch die damals zivildeportierten
Frauen jenseits von Oder und Neiße einen verlässlichen
Anspruch auf Hilfe bekommen. Möglich ist das auch
schon nach geltendem Recht. Allerdings ist die Praxis in
den Ländern sehr unterschiedlich. Hier ist der Bundesinnenminister gefordert, der für eine einheitliche Auslegung der Bestimmungen sorgen muss.
({1})
Wir sollten auch prüfen, ob sich bei der beabsichtigten
Novellierung des BAföG-Gesetzes noch etwas für die
verfolgten Schülerinnen und Schüler tun lässt. Jugendliche von Bildungschancen auszuschließen, war eine besonders perfide Art der Repression. Hier könnten wir auf
einfache Weise mehr Gerechtigkeit schaffen.
({2})
So wichtig die Verbesserung der materiellen Situation
der SED-Opfer ist, so wichtig ist es auch, gegen das Vergessen anzukämpfen. Goethe sagte einmal: Wenn das Interesse schwindet, schwindet auch die Erinnerung. Kürzlich las ich eine Studie des Forschungsverbundes
SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Überraschendes Ergebnis der Forscher war: Viele Schüler glauben, dass die Alliierten oder die Sowjetunion die Mauer
errichtet hätten. 40 Prozent der Ostberliner Schüler glauben, dass die Stasi ein Geheimdienst war wie jeder andere auch. Diese Befunde sind besorgniserregend, sie
sind erschreckend.
({3})
Sie verstärken das Gefühl der Opfer, nicht mehr gefragt
zu sein, einer Vergangenheit anzugehören, die nach und
nach verblasst. Dagegen müssen wir etwas tun. Die Auswirkungen der SED-Diktatur auf das Leben der Menschen muss ein fester Bestandteil der Lehrpläne in den
Schulen sein, sowohl im Osten als auch im Westen. Wir
brauchen unabhängig von materiellen Zuwendungen
auch eine gesellschaftliche Kultur der Würdigung und
Anerkennung,
({4})
der Würdigung und Anerkennung derer, die sich in Ostdeutschland für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben und deshalb politisch verfolgt, unterdrückt und eingesperrt waren. Hier sind wir alle gefragt, gemeinsam
mit den Ländern und den Kommunen zu handeln und geeignete Formen der Würdigung zu entwickeln.
({5})
- Der Kollege Hübner hat in der Tat schon gute Vorschläge gemacht. In einigen Ländern gibt es Beispiele,
die wir uns gemeinsam anschauen sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz, das wir
heute hier auf den Weg bringen, ist ein Erfolg. Die Lage
von über 40 000 SED-Opfern wird sich spürbar verbessern. Ich möchte, dass diese Menschen noch im Herbst
die Opferpension von monatlich 250 Euro bekommen.
Es wäre ein gutes Signal, wenn wir heute hier in aller
Geschlossenheit diesem Gesetz zustimmen würden.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, teile ich
Ihnen mit, dass mir drei schriftliche Erklärungen zur Ab-
stimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorlie-
gen, und zwar von der Kollegin Ute Berg und den Kolle-
gen Rainer Fornahl und Gunter Weißgerber.1)
1) Anlage 14
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nun erteile ich zu einer mündlichen Erklärung zur
Abstimmung dem Kollegen Bodo Ramelow das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dieser Abstimmung werde ich dem Antrag der FDP
folgen, weil ich die darin vorgetragenen Argumente
überzeugend finde und weil ich die Überlegung in der
Abwägung mit der Bedürftigkeitsprüfung für berechtigt
erachte.
Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Ich persönlich
kann mich in der PDS, die es übermorgen nicht mehr geben wird,
({0})
nur engagieren, weil sie auf ihrem Gründungsparteitag
1989 bei den Opfern um Entschuldigung gebeten hat.
Das ist in den Dokumenten nachlesbar. Das ist ein Parteitagsbeschluss. Diese Partei hat in der Schumann-Rede
mit dem Stalinismus als System unmissverständlich gebrochen. Insoweit sehe ich meine politische Aufgabe darin, genau darauf zu achten, dass die Einschränkung von
Redefreiheit, Menschenrechten und Demokratie - egal,
in welchem Namen, egal, welcher Ismus dies rechtfertigt nicht akzeptiert werden kann. Das, was in der DDR unter
ideologischen Bedingungen geschehen ist, ist nicht zu
akzeptieren. Deswegen unterstütze ich das, was Petra
Pau gesagt hat: Im Einigungsvertrag war festgelegt,
was hätte geschehen müssen. Die Volkskammer hat dazu
einen Beschluss gefasst, den ich achte, weil er fraktionsund parteiübergreifend getroffen wurde.
In diesem Sinne darf ich noch einmal deutlich sagen:
Die Diskussion über das Thema, das heute auf der Tagesordnung steht, ist notwendig und längst überfällig.
Ich glaube, es wäre besser, wenn im Regierungsentwurf
keine Bedürftigkeitsprüfung, sondern das gesplittete
Verfahren vorgesehen wäre. Dem hätte dieses Hohe
Haus tatsächlich einstimmig zustimmen können. Die Bedürftigkeitsprüfung lehne ich ab. Ich begrüße aber, dass
es 40 000 Opfern besser gehen wird. Ich denke, dass damit viele Menschen wiederum zurückgesetzt werden.
Deswegen werde ich mich bei meinem Abstimmungsverhalten an dem FDP-Antrag orientieren.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Aufmerksamkeit. Wir kommen zu Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 3 a. Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen
Verfolgung in der ehemaligen DDR. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5532, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/4842 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
FDP vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 16/5597? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der Fraktion der FDP, der Fraktion des Bündnisses
90/Die Grünen, der Fraktion Die Linke und eines Mitglieds der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei einigen Enthaltungen aus der Fraktion Die Linke und bei Gegenstimmen
der Fraktion der FDP, der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen und der Mehrheit der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
bei der zweiten Lesung angenommen.
({0})
Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 3 a. Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke
zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif-
ten für politisch Verfolgte im Beitrittsgebiet und zur Ein-
führung einer Opferrente. Der Rechtsausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5532, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/4846 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Frak-
tion der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung dieses Gesetzent-
wurfes.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b. Abstim-
mung zu der Beschlussempfehlung des Rechtsausschus-
ses auf Drucksache 16/5532. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5532 die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4409 mit dem Titel
„Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe!
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5532
die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bünd-
nisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4404 mit dem
Titel „Wirksame Unterstützung für die Verfolgten des
DDR-Regimes“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 a bis
4 h:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Chancen am Weltmarkt durch marktwirtschaftliche Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik und Subventionsabbau nutzen
- Drucksache 16/4185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarpolitischer Bericht 2007 der Bundesregierung
- Drucksache 16/4289 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Bleser, Ursula Heinen, Uda Carmen Freia Heller,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Wilhelm
Priesmeier, Volker Blumentritt, Dr. Gerhard Botz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neuordnung des Berichtswesens
- Drucksache 16/5421 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({5})
TA-Projekt: Moderne Agrartechniken und
Produktionsmethoden - ökonomische und
ökologische Potenziale
1. Bericht: Alternative Kulturpflanzen und
Anbauverfahren
- Drucksache 16/3217 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({7}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({8})
TA-Projekt: Moderne Agrartechniken und
Produktionsmethoden - ökonomische und
ökologische Potenziale
2. Bericht: Precision Agriculture
- Drucksache 16/3218 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Landwirtschaftliche Krankenversicherung ab
2009 weiter an Bundesmitteln zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung beteiligen
- Drucksache 16/5427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Alexander Bonde, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes zur
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Gemeinschaftsaufgabe Entwicklung der ländlichen Räume ausbauen
- Drucksache 16/5503 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({12}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Planungssicherheit für Landwirte und Milchwirtschaft durch definitiven Beschluss zum
Auslaufen der Milchquotenregelung schaffen
- Drucksachen 16/3345, 16/4595 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Bärbel Höhn
Zu dem Agrarpolitischen Bericht 2007 der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre dazu keinen Widerspruch; dann werden wir so verfahren.
({13})
- Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der
weiteren Aussprache nicht folgen wollen, den Saal zu
verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hans-Michael Goldmann für die FDPFraktion das Wort.
({14})
Sehr verehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich betrachte es nicht als Zufall, dass
ich heute zu einem Tagesordnungspunkt, unter dem auch
der Agrarbericht insgesamt zu diskutieren ist, als Sprecher der FDP das erste Wort habe. Ich glaube, das ist
Ausdruck und Spiegelbild einer hervorragenden agrarpolitischen Leistung, die meine Fraktion - vielleicht
kann ich das auch für mich persönlich sagen - seit Jahren in diesem Bereich erbringt.
({0})
- Lieber Kollege Bleser, weil Sie wissen, dass ich Recht
habe, lächeln Sie auch so freundlich.
({1})
Wenn wir uns erinnern, dann wissen wir alle gemeinsam,
dass die FDP die sogenannte Kulturlandschaftsprämie
erfunden hat. Wir haben gesagt: Wir müssen wegkommen von den Subventionen für Produktion. Wir müssen
hinkommen zur Anerkennung der gesellschaftlichen
Leistung, die Landwirte im ländlichen Raum eigentlich
an allen Orten erbringen. Das sind die Orte, die in unserer Gesellschaft auch boomen. Ich denke zum Beispiel
an Regionen im bayerischen Raum, im Münsterland, in
Südoldenburg oder natürlich auch in den sogenannten
neuen Ländern.
Wir haben immer auf Rückverfolgbarkeit und auf
Qualitätssicherung gesetzt. Wir haben den Tierschutz in
besonderer Weise im Auge gehabt und haben mit dazu
beigetragen, dass er endlich in qualifizierter Form im
Grundgesetz verankert ist. Wir haben Weichenstellungen
bei der Zuckermarktreform vorgenommen, und Herr
Seehofer hat dann das Ergebnis eingefahren. Mir sind
dafür die Rübenschnitzel um die Ohren geflogen, Herr
Seehofer ist dafür vom Deutschen Bauernverband gelobt
worden. So ungerecht ist die Agrarwelt manchmal. Aber
es stört uns nicht.
({2})
Wir werden weitermachen auf einer Linie der Marktorientierung und einer Linie, die auf die Dauer ganz sicher
zum Erfolg des Agrarbereichs insgesamt führen wird.
({3})
Ich bin sehr stolz darauf - das sage ich ganz deutlich -,
dass wir in diesem Bereich führen und dass wir nicht zuckeln oder zaudern. Das bringen wir heute bei dieser
Agrardebatte wieder mit zwei richtungweisenden Anträgen zum Ausdruck. Es geht darum, die Chancen am
Weltmarkt zu nutzen, es geht darum, den Subventionsabbau voranzutreiben, und es geht darum, gerade die
Milchmarktordnung so zu reformieren, dass insgesamt
eine Perspektive für Milchbauern in Deutschland, in Europa, im Grunde genommen für dieses Produkt in der
Welt gegeben wird.
Die Anerkennung der gesellschaftlichen Leistung
habe ich schon angesprochen. Aber wir müssen auch die
sogenannte Nachhaltigkeitsprämie sichern, die in besonderer Weise Ökologie, Ökonomie und soziale Bedingungen miteinander verknüpft. Das bringt unser Antrag
ganz klar zum Ausdruck.
Geschlossene Verträge haben Gültigkeit bis 2013;
ganz eindeutig. Ich bin froh darüber, dass auch mein
Vorsitzender Dr. Guido Westerwelle das auf dem Bauerntag in Rostock sehr klar zum Ausdruck gebracht hat.
Das findet sich in unserem Antrag wieder. Das untermauern wir.
({4})
- Wenn Sie etwas fragen möchten, bitte, jederzeit.
({5})
- Das ist immer schlecht. Wenn man etwas behauptet,
weiß man manchmal nicht so ganz genau, ob man in der
Sache richtig liegt.
({6})
Deswegen sollten Sie Fragen stellen, wenn Sie ein Problem haben. Ich spreche aber eigentlich so, dass man es
relativ gut verstehen kann.
({7})
Ich habe Spaß daran, zu diesem Thema zu reden. Jeder, der sich im Moment mit diesem Thema befasst, hat
diesen Spaß, weil der Agrarbereich in einem Maße
boomt, wie wir es uns eigentlich erträumt haben.
({8})
Die Veredelungsmärkte entwickeln sich, weil die Weltbevölkerung wächst und auch finanziell in der Lage ist,
Nachfrage zu entfalten. Ein Bereich, liebe Freunde,
boomt im Moment so, wie wir es vor einem halben oder
einem Jahr noch nicht zu träumen gewagt haben,
({9})
und das ist der Milchbereich. Aber dafür hat nicht diese
Bundesregierung die Weichen gestellt, lieber Peter
Bleser; ganz im Gegenteil.
({10})
Die Bundesregierung bleibt in diesem Bereich ganz eindeutig die Antworten schuldig.
Die Botschaften in der Presse sind gut. Die Preise
steigen. Es gibt zum Beispiel die Aussage von Herrn
Udo Folgart, dass der Rohstoffwert der Milch gewaltig
steigt. Es gilt jetzt, diese Situation zu nutzen und klipp
und klar zu sagen: Die Quote wird 2015 nicht überleben. Die Quote muss auch abgelöst werden, weil die Chancen, am Weltmarkt teilzuhaben, ohne Quote viel höher
sind als bei einem Verharren in der Quote.
({11})
Diese Aussage, Herr Minister Seehofer, sollten Sie ohne
Wenn und Aber treffen.
Wir müssen aus der Quote raus, wir können in der jetzigen Situation aus der Quote raus, und wir können auch
kluge Antworten geben. Herr Minister Seehofer, da müssen Sie zur Lokomotive werden. Sie dürfen nicht Europaregelungen einfordern, sondern müssen konzeptionell
aktiv werden. Sie müssen vielleicht auch einen etwas
zaudernden Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes
auf Linie bringen und sagen: Herr Sonnleitner, bleiben
Sie bei der Position: Die Quote muss durch Marktregelungen abgelöst werden!
Wenn wir Marktregelungen haben, dann können die
Bauern in diesem Bereich sogar so viel verdienen, wie
zum Beispiel der BDM, der Bundesverband Deutscher
Milchviehhalter, in Aussicht stellt. 40 Cent pro Liter
sind in einem Quotenmarkt nicht zu erzielen; 40 Cent
pro Liter sind allerdings für tüchtige deutsche Landwirte
erzielbar, wenn sie sich dem Marktgeschehen öffnen.
Herr Kollege, ich muss Sie auf den Ablauf der Redezeit aufmerksam machen.
Frau Präsidentin, ich komme ganz schnell zum
Schluss.
Liebe Freunde, lassen Sie uns gemeinsam für dieses
Ziel arbeiten! Vor zwei oder drei Jahren habe ich das
schon in Bonn als Position vertreten. Es hat einer geklatscht, und den hatte ich auch noch selbst mitgebracht.
In Rostock haben viele junge Leute gesagt: Du bist auf
dem richtigen Weg. Ihr seid auf dem richtigen Weg. Lassen Sie uns heute gemeinsam den richtigen Weg gehen, die Quote durch eine marktorientierte Regelung, die
allen hilft, abzulösen!
Herzlichen Dank.
({0})
Nun hat der Kollege Peter Bleser für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Goldmann, bei einer so erfolgreichen Agrarpolitik und einer so erfolgreichen Politik auch auf anderen
Feldern ist es wahrhaftig nicht einfach, Oppositionspolitik zu machen.
({0})
Ich wollte das an Ihrer Stelle nicht machen; das gebe ich
unumwunden zu.
Die Tatsache, dass Sie zuerst gesprochen haben, ist
damit zu begründen, dass Sie einen Antrag eingebracht
haben, der allerdings einerseits sehr banale Forderungen
erhebt, die wenig konkret werden, und andererseits offene Scheunentore einrennt. Das ist nicht sehr hilfreich.
Insofern, Herr Kollege Goldmann, sollten Sie sich jetzt
einmal anhören, was wir in den letzten Monaten - wir
sind ja erst gut anderthalb Jahre an der Regierung - für
die deutsche Agrarwirtschaft geleistet haben.
({1})
Zunächst möchte ich einen Beleg für einen konkreten
Antrag geben: Wir bringen heute einen Antrag ein, der
die Neuordnung des Berichtswesens regeln soll. Damit
soll hier und heute zunächst einmal ganz konkret beschlossen werden, dass wir nur noch einmal pro Legislaturperiode Bericht erstatten.
({2})
Damit besteht die Möglichkeit, längere Zeiträume zu betrachten, statt, wie heute im Agrarbericht, eine zwei
Jahre alte Ernte bei der Ergebnisermittlung zu berücksichtigen; hier sind die Zahlen kaum noch von Relevanz.
({3})
Wir werden also hier einen ganz konkreten Beitrag zur
Entbürokratisierung leisten, ohne allerdings den Informationsanspruch, dem in den angesprochenen Bereichen
selbstverständlich entsprochen werden muss, zu beschneiden.
Dieser Antrag hat - das will ich vorweg noch sagen darüber hinaus eine weitere wichtige Botschaft: Wir sollen das Landwirtschaftsgesetz nicht abschaffen, sondern
ganz im Gegenteil prüfen, ob es möglich ist, daraus ein
landwirtschaftliches Gesetzbuch zu machen, in dem das
Fachrecht konzentriert wird, sodass es für die Betroffenen einfacher zu handhaben ist.
({4})
Nun zum Agrarbericht. Da, Herr Kollege Goldmann,
muss man wirklich aufhorchen: Der Deutsche Bauernverband, der ja unverdächtig ist, bei der Schilderung der
Situation etwas zu beschönigen - das Klagen ist ja nicht
wenigen in die Wiege gelegt worden -, weist darauf hin,
dass das Agrar-Konjunkturbarometer 2004 bei minus
15,1 stand,
({5})
in 2006, wenige Monate nach der Regierungsübernahme, bei 14,4 und im März 2007 - da sind wir ja jetzt
ungefähr - bei 27,3. Das ist fast um den Faktor vier besser als noch vor drei Jahren,
({6})
und das in einer solch kurzen Zeit. 50 Prozent der Landwirte wollen im nächsten halben Jahr investieren.
({7})
Das ist doch eine Botschaft, die besser nicht sein könnte.
Im Land herrscht Euphorie, und das ist etwas ganz Tolles.
({8})
Meine Damen und Herren, was ist eigentlich die Botschaft dieser Zahl, die ich vorhin genannt habe? Es gibt
nur eine einzige Deutung: Die 4 Millionen in der Agrarwirtschaft Beschäftigten haben wieder Vertrauen in die
Politik gefunden. Das ist die schlichte Botschaft, die wir
heute hier verbreiten können. Das ist etwas sehr Gutes;
es setzt nämlich Kräfte frei, es schafft Mut für Investitionen, stärkt das Selbstbewusstsein und macht die Agrarberufe wieder attraktiv. Das ist eine fantastische Entwicklung, auf die wir sehr stolz sind.
({9})
Wir sind aber nicht nur im Inland besser geworden,
sondern auch im Ausland. Die Zahl unserer Exporte ist
gestiegen, 10 Prozent im letzten Jahr. Wir haben jetzt
40 Milliarden Euro erreicht. Auch das ist zum großen
Teil auf unsere Veränderungen in der Politik zurückzuführen.
({10})
Wir ruhen uns auf diesen Erfolgen nicht aus, Herr
Dr. Goldmann.
({11})
- Ich habe das mit dem Doktortitel hinbekommen. - Wir
werden an unserer Vision festhalten. Wir wollen eine
wettbewerbsfähige Landwirtschaft, die im Wesentlichen
ohne staatliche Hilfen auskommt.
({12})
Nur das, was die Gesellschaft über die gute fachliche
Praxis hinaus will - Pflege der Kulturlandschaft,
({13})
sensible Gebiete erhalten -, soll auch in Zukunft in Form
von Kostenerstattung durch die Gesellschaft in der
Landwirtschaft ausgeglichen werden.
({14})
Ich denke, diese Linie sollten wir stringent verfolgen.
Wir haben einen Anteil an der Preisentwicklung; denn
die Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen in Bezug
auf die Energieerzeugung bedeutet eine Entlastung des
Marktes, wodurch die Preisentwicklung entsprechend
beeinflusst wird.
Wir haben vorhin in der Fraktion darüber beraten, wie
wir die Absatzentwicklung für Biodiesel stabilisieren
können. Wir haben uns noch nicht festgelegt. Aber dass
wir etwas tun müssen, damit diese Branche nicht wegbricht, ist uns allen klar. Wir werden uns in wenigen Wochen weiter damit beschäftigen, wenn der entsprechende
Bericht vorgelegt worden ist.
Ein weiterer Punkt. Ich bin sehr glücklich und auch
stolz, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in Brüssel so erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Was unser Minister an Entbürokratisierung und an Vereinfachungen erreicht hat, hätte ich zu Beginn dieses Jahres
nicht für möglich gehalten.
({15})
Es ist ihm aber gelungen. Deshalb ein großes Kompliment an den Minister. Er war mit seinen Vorhaben erfolgreich und wird nachher in seiner Rede auf die Details
eingehen.
({16})
Auf diesen Erfolg sollten wir im Parlament stolz sein.
Man hat sich in Brüssel gewundert, wie sehr sich die
deutsche Agrarpolitik nach dem Regierungswechsel verändert hat.
({17})
- Ja. - Nicht alle, die in den zuständigen Institutionen arbeiten, haben diese Veränderungen von Anfang an befürwortet.
Wir haben in den nächsten Jahren und auch aktuell
noch viel zu tun. Wir werden das Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg bringen.
({18})
Wir werden das Vieh- und Fleischgesetz reformieren.
Ich sage an dieser Stelle, dass meine Fraktion die Interessen der Betroffenen vertreten wird.
({19})
- Der Bauern.
({20})
Die Reform der Erbschaftsteuer wird noch eine sehr
schwierige Aufgabe. Wir müssen uns sehr darauf konzentrieren, dass wir zu einer vernünftigen Regelung bezüglich der Bodenverteilung kommen. Wir werden auch
die landwirtschaftliche Unfallversicherung genauso wie
das Gentechnikgesetz reformieren.
Noch ein Satz zur Reform des Milchmarktes.
Herr Kollege, aber wirklich nur ein Satz.
Ich bin dann auch am Ende.
({0})
Auch hier werden wir mit den Betroffenen darüber
sprechen, wie sie es gerne hätten. Der Bauernverband
hat die Gelegenheit, sich zuerst zu positionieren. Danach
werden wir im Herbst unsere Entscheidung treffen. Sie
wird so ausfallen, wie die Bauern es für richtig halten.
So sind die Fakten. Dann werden wir - das ist der zweite
Schritt - für ein Übergangsszenario zu sorgen haben,
wodurch den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt
wird, die Klippe, die mit der Abschaffung der Milchquote verbunden ist, zu überwinden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Hüseyin Aydin von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es gibt zwei Kriterien, an
denen sich die Agrarpolitik in Deutschland messen lassen muss. Es geht um soziale Gerechtigkeit und um ökologische Nachhaltigkeit.
Es kann nicht angehen, dass ein Milchbauer mit
50 Hektar Land seine Familie nicht mehr ernähren kann,
weil die Preispolitik des Einzelhandels ihn an die Wand
drückt. Es ist diese Marktmacht der großen Konzerne,
die der Landjugend die Perspektive raubt und die Abwanderung aus den Randregionen in die Städte fördert.
Der Staat muss hier handeln; der Staat muss hier gegensteuern. Agrarpolitik bedeutet deshalb mehr als nur die
Rahmensetzung für einen Wirtschaftssektor. Agrarpolitik muss zu einer Politik für den ländlichen Raum
werden.
({0})
Familien mit bäuerlichen Betrieben benötigen ebenso
wie die Arbeitskräfte in den landwirtschaftlichen Betrieben funktionierende Schulen, ein ausreichendes Angebot
im medizinischen Sektor und eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur.
Richtig ist, dass der globale Zugang in der Agrarpolitik zunehmend in den Vordergrund der Debatte rückt. Es
ist schon erstaunlich, wie sehr die Regierung hier hinter
den Erfordernissen zurückbleibt. Das angekündigte Programm von Minister Tiefensee für eine Politik gegen die
Abwanderung junger Frauen aus den ländlichen Regionen, insbesondere aus dem Osten, ist nicht mehr als ein
Tropfen auf den heißen Stein. Seit Jahren werden die
Fördermittel für den ländlichen Raum gekürzt: auf EUEbene durch die Reduzierung der Mittel für den ELERFonds, auf Bundesebene durch die permanente Reduzierung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgaben im Rahmen der Förderung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes und auf Länderebene durch die fehlenden
Möglichkeiten der Kofinanzierung von Agrarumweltprogrammen. Am Sonntag spricht die Regierung über
die Bedeutung der Politik für den ländlichen Raum.
Doch am Montag gibt es nur heiße Luft.
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht wurde im
Bundestag bereits in einer Aktuellen Stunde mit Minister
Seehofer debattiert. Blickt man auf die Ergebnisse der
größeren Betriebe in Ostdeutschland, wird auch hier
der politische Einfluss auf die landwirtschaftlichen Betriebsergebnisse deutlich. Der Einbruch der Gewinne
von über 20 Prozent bei ostdeutschen Betrieben, der im
Agrarbericht ausgewiesen wird, erklärt sich unter anderem durch die geringeren Direktzahlungen, die mit der
Entkoppelung verbunden sind, sowie durch die gerade
für diese Betriebe deutlich wirksame Reduzierung der
Agrardieselerstattung. Diese beiden Faktoren, die zum
Gewinneinbruch beitrugen, sind auf politische Beschlüsse auf EU- wie auf Bundesebene zurückzuführen.
Die Agrarberichterstattung in der vorliegenden
Form hat sich unserer Meinung nach bewährt. Da es einen sehr großen Einfluss der Politik auf diesen Wirtschafts- und Lebenssektor gibt, ist es notwendig, die Berichterstattung beizubehalten. Die Vergleichbarkeit und
die Evaluierung der in diesem Hause getroffenen politischen Entscheidungen müssen erhalten bleiben. Es ist
ein eingespieltes System, das funktioniert und die Vergleichbarkeit in der Rückschau bewahrt. Die von der
CDU/CSU vorgeschlagenen aktuelleren Darbietungen
von Daten und Analysen über die neuen Medien, via Internet zum Beispiel, können hinzukommen, widersprechen aber nicht der Beibehaltung des Bewährten.
Einer der wichtigsten Bereiche der deutschen Agrarwirtschaft ist die Milchproduktion. Gut 20 Prozent des
landwirtschaftlichen Produktionswertes Deutschlands
wird über die Milch erwirtschaftet. Bezogen auf die
landwirtschaftliche Flächennutzung bietet die Milcherzeugung nach wie vor die im Durchschnitt höchste
Wertschöpfung pro Hektar, verbunden mit einer hohen
Arbeitsplatzbindung. Deutschland liegt zudem im EUVergleich an der Spitze der Milcherzeugung.
Der von der FDP vorgelegte Antrag zum Ausstieg aus
der Milchquote im Jahre 2015 wird von den Linken abgelehnt,
({1})
unter anderem deswegen, weil die regionale Differenzierung in diesem Antrag gar keine Rolle spielt. Eine völlige Freigabe des Milchmarktes würde sehr schnell zu
einer sehr starken Konzentration der gesamten Milcherzeugung führen. Viele kleine Erzeuger in schwierigen
Regionen wie etwa den Mittelgebirgen fielen unter den
Tisch. Der Marktradikalismus, den die FDP hier vorhat,
richtet sich gegen die Existenz Zehntausender Familien.
Er richtet sich gegen ganze Regionen.
Dabei hat eine industrialisierte Milchproduktion mit
der Fixierung auf den Weltmarkt über die Erzeuger in
Deutschland und Europa weit hinausführende Konsequenzen. Das hat kürzlich eine Studie des Evangelischen
Entwicklungsdienstes über den Weltmarkt für Geflügelproduktion gezeigt.
({2})
Innerhalb einiger weniger Jahre sind Hunderttausende
afrikanische Existenzen durch die Exporte von Billiggeflügelfleisch aus Europa und Südamerika vernichtet
worden. Die europäischen Exportsubventionen verschlimmern dieses Problem.
({3})
Sie sollen 2013 zwar auslaufen. Zugleich wird aber den
AKP-Staaten die Pistole auf die Brust gesetzt und ein
Freihandelsabkommen bis Ende dieses Jahres verlangt.
Hier zeigt sich: Die aktuelle Agrarförderpolitik geht
nicht nur an den Bedürfnissen der bäuerlichen Familienbetriebe hierzulande vorbei. Sie ist obendrein auf die
Zerstörung der Existenzgrundlagen der Kleinbauern in
den Entwicklungsländern ausgelegt. Wer profitiert davon? Einzig die großen transnationalen Nahrungsmittelkonzerne.
({4})
Nein, das ist keine Politik für den ländlichen Raum. Das
ist eine Politik für die Profite der Agrar- und Lebensmittelkonzerne.
Wir, die Linke, wollen eine sozial gerechte Politik
auch für den ländlichen Raum. Deshalb unterstützen wir
den von den Grünen vorgelegten Antrag zu einer weiteren Beteiligung der landwirtschaftlichen Krankenversicherung an den Bundesmitteln für versicherungsfremde
Leistungen. Außerdem ist es notwendig, die Mittel und
Möglichkeiten der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ zu erhöhen. Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, mehr
Infrastruktur in den ländlichen Gebieten. Das Europaparlament hat in einer Entschließung Ende März festgestellt, dass die gegenwärtigen Ansätze zur Förderung des
ländlichen Raumes nicht ausreichen. Die Linksfraktion
kann sich dieser Erkenntnis nur anschließen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Erfolg hat
immer viele Väter.
({0})
Es ist im Augenblick eine spannende Zeit, um Agrarpolitik zu machen. Ich stelle die Weisheit des Kollegen
Goldmann und seinen Anteil an der Steigerung des
Milchpreises auf dem Weltmarkt nicht in Abrede. Er hat
sich als vorausschauender Politiker erwiesen. Ich finde
das ganz beachtlich.
({1})
- Ich erkenne an, dass du über drei Jahre hinweg konsequent eine Linie verfolgt hast. Das wünscht man sich in
der Politik öfter.
Gehen wir zurück zu den Wurzeln. Die Entwicklung
hat 1992 mit der McSharry-Reform begonnen. Sie
wurde unter maßgeblicher Beteiligung der rot-grünen
Bundesregierung fortgesetzt.
({2})
Das Ganze hieß damals GAP-Reform. Diese Politik
wurde konsequent weiterentwickelt und musste gegen
viele Widerstände auf europäischer Ebene durchgesetzt
werden.
Der Agrarbericht spiegelt nicht die Realität wider.
Aus diesem Grund ist es angemessen, sich darüber zu
unterhalten, ob dieser Bericht auch in Zukunft in den
bisherigen Abständen zu publizieren ist oder ob man
nicht besser größere Zeiträume vorsieht.
Der Kollege Goldmann hat die folgenden Fragen angesprochen: Wie positionieren wir uns auf dem Milchmarkt, und welche Perspektiven haben wir auf diesem
Markt?
({3})
Ich glaube, wir haben ganz hervorragende Perspektiven.
Das kommt auch in dem Papier, das ich dazu erstellt
habe, ganz klar zum Ausdruck.
({4})
Die SPD bezieht diesbezüglich eine ganz klare Position:
Ausstieg aus der Quote, und zwar mit entsprechender
Begleitung.
({5})
Wir nehmen alle Produzenten mit, die von der Quotenänderung, von der Quotenstreichung betroffen sind.
In dieser Entwicklung stecken viele Potenziale. Ich
glaube, das hat mittlerweile nicht nur die FDP erkannt,
sondern auch die CDU/CSU. Manchmal muss man vielleicht noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten. Das
gilt vor allem, wenn man Richtung Süden schaut. Die
Welt dreht sich vielleicht oft um Bayern, aber nicht immer. Die entscheidenden Positionen zur Milchmarktreform werden sicherlich nicht in Bayern formuliert werden. Wir sind durchaus bereit, einen kritischen Dialog
mit den süddeutschen Ländern, insbesondere mit Bayern, zu führen. Vielleicht gelingt es uns ja, im Hinblick
auf den Bauerntag in Bamberg vom Bauernverbandspräsidenten eine klare Aussage dazu zu erhalten, die nicht
ausschließlich von der bayerischen Sichtweise geprägt
ist, sondern auch seine Verantwortung für die Landwirtschaft in allen deutschen Bundesländern widerspiegelt.
({6})
Der Bundesminister kann sich auf meine Unterstützung verlassen, sich aber auch der Unterstützung der anderen Fachpolitiker in der SPD-Fraktion sicher sein,
wenn er klar Position dazu bezieht, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Voraussetzungen der endgültige Ausstieg aus der Milchquote erfolgen soll. Deutschland ist der größte Milchproduzent in Europa. Insofern
kann es eine führende Funktion einnehmen und den Prozess vorantreiben.
Letztendlich geht es um die Gestaltung dieses Bereichs. Es geht darum, dass wir die Finanzmasse, die zur
Verfügung steht, wenn wir keine Milchquote mehr haben
und der Binnenmarkt nicht mehr entsprechend bewirtschaftet werden muss - Größenordnung: 1,1 bis 1,3 Milliarden Euro -, nutzen, um die Voraussetzungen dafür zu
schaffen, dass die konkurrenz- und wettbewerbsfähigen
Betriebe in Deutschland auch weiterhin in diesem Bereich investieren und sich aktiv an der Agrarwertschöpfung beteiligen können. Ich glaube, es ist ganz wichtig,
dass wir das als politisches Ziel formulieren. Ein Konsens ist durchaus wahrscheinlich.
Die andere Möglichkeit wäre, dass die Kommission
vorschlägt, die Geltung der Quotenregelung zu verlängern. Das wird sie nicht tun. Das Quorum, mit dem ein
weiterer Beschluss zu verhindern wäre, beträgt 91 Stimmen. Das ist relativ einfach zusammenzubekommen.
({7})
Von daher sind die politischen Positionen und auch die
Handlungsoptionen ganz klar. Ich glaube, dass wir in der
Koalition auf einem guten Weg sind.
Zu dem Antrag, den Sie, Herr Goldmann, hier eingebracht haben: Er ist in der Zielrichtung richtig; aber bezüglich der begleitenden Maßnahmen, vor allen Dingen
bezüglich der Agrarumweltmaßnahmen, der Ausgleichszahlungen und der speziellen Angebote für die Regionen, die von diesem Strukturwandel in besonderer Weise
betroffen sind, steht in diesem Antrag wenig. Aus diesem Grunde kann ich ihm heute nicht zustimmen. Aber
ich lade Sie ein, sich an unserem Antrag, der dazu einiges aussagen
({8})
und demnächst eingebracht wird - davon gehe ich aus -,
zu beteiligen und ihm zuzustimmen.
({9})
Ein weiterer Aspekt, den ich hier heute erwähnen
möchte, betrifft das, was wir zukünftig für einen weiteren großen Wertschöpfungsbereich in der Veredlung zu
regeln haben. Es geht um den Bereich der Schweineproduktion. Es gibt diesbezüglich einen Entwurf, der durch
das Bundeskabinett gegangen ist, aber die Parlamentarier nicht ganz zufriedenstellt. Herr Minister, ich verspreche Ihnen: Wir als Parlamentarier werden ihn geflissentlich nachbessern.
({10})
Es ist schon ein bisschen verwunderlich, wenn der
Bauernverband und die ZMP einen Preisvergleich anstellen und im Hintergrund von der Schlachtindustrie
überlegt wird, ob man das nicht juristisch angehen kann,
um ihn auszuhebeln. Das zeigt, dass gerade in diesem
Bereich Transparenz wichtig ist. Dazu trägt natürlich
bei, dass der Magerfleischanteil als einziges Kriterium,
das der Mäster nachvollziehen kann, für den Preis, den
man bekommt, klar und deutlich auf der Rechnung ausgewiesen wird, damit jeder weiß, ob er fair bedient worden ist oder nicht.
({11})
In diesem Zusammenhang, glaube ich, wird es uns
gelingen, diesen Gesetzentwurf - ich hoffe, in Zusammenarbeit mit den Bundesländern - mit einer entsprechenden Mehrheit gemeinsam durch dieses Parlament zu
bekommen zum Vorteil unserer Landwirte und zum Vorteil aller, wahrscheinlich auch der Verbraucher. Denn
Transparenz ist wichtig; das wissen wir alle. Auch Klarheit und Deutlichkeit sind wichtig. Klarheit und Deutlichkeit erwarte ich mir heute auch in dieser Debatte hinsichtlich der Perspektiven für unsere Landwirtschaft.
Dazu werden die nachfolgenden Redner wahrscheinlich
noch wesentlich beitragen. Ich erwarte eine klare Aussage vom Minister, wohin es weiter geht.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({12})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Cornelia Behm
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Agrarpolitische Bericht 2007 belegt erneut, dass bündnisgrüne Agrarpolitik für die Landwirtschaft in Deutschland gut war.
({0})
Die grüne Agrarwende zeigt Erfolge. Bio liegt im Trend,
und entsprechend hat sich die Ertragslage der Ökolandwirte verbessert. Die Bioenergien haben sich für viele
Landwirte zu einem zweiten Standbein entwickelt. Die
Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen sorgte in
vielen Bereichen für die überfällige Verbesserung der
Erzeugerpreise.
Durch falsche Entscheidungen gefährdet die Bundesregierung nun gerade diese positiven Entwicklungen.
Beispiel eins. Das Biokraftstoffquotengesetz führt
dazu, dass sich die Wertschöpfung aus der Biokraftstoffherstellung weg von den Unternehmen in den ländlichen
Räumen hin zu den Mineralölkonzernen verlagert. Die
Konzerne importieren ihren Beimischungskraftstoff aber
zu etwa 50 Prozent, sodass die einheimische mittelständische Biodiesel- und Pflanzenölproduktion aufgrund
von Absatzschwierigkeiten bereits um 30 bis 40 Prozent
eingebrochen ist. Der Verlust von Arbeitsplätzen ist die
Folge. Ich bin sehr gespannt, Peter Bleser, wie ihr das
wieder auffangen wollt.
({1})
Beispiel zwei. Infolge der massiven Reduzierung der
Mittel für die zweite Säule wurden auch die Mittel der
Ökolandbauförderung gekürzt. Trotz des boomenden
Marktes konnten nur wenige Betriebe in den letzten Monaten und Jahren ihre Produktion umstellen. Das Geschäft in Deutschland machen unsere europäischen
Nachbarn. An einer Lösung dieser Probleme scheinen
Sie, Herr Minister, nicht interessiert zu sein. Denn mit
Ihrer klaren Absage an die Erhöhung der obligatorischen
Modulation versagen Sie gerade den zukunftsfähigen
Betrieben, die bei ihrer Betriebsentwicklung auf Qualitätsproduktion sowie auf Umwelt- und Naturschutz gesetzt haben, Planungssicherheit. Von der ersten Säule
profitieren hingegen vor allem große Marktfruchtbetriebe mit geringem Arbeitskräftebedarf überproportional. Mit dieser Politik schwächen Sie die bäuerlichen
Betriebe, verschärfen Sie den Strukturwandel in der
Landwirtschaft und verschlechtern Sie die Arbeitsplatzsituation im ländlichen Raum.
({2})
Herr Minister, Ihr verbales Engagement für die Entwicklung der ländlichen Räume wird damit ad absurdum geführt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, korrigieren Sie diese Fehlentwicklungen in der
Agrarpolitik. Entwickeln Sie ein schlüssiges Konzept
für die Entwicklung des ländlichen Raums samt ausreichender Finanzausstattung für seine Förderung. Die
Ausweitung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ hin zu einer
Gemeinschaftsaufgabe für die ländlichen Räume, die wir
in unserem Antrag fordern, ist der richtige Weg.
({3})
Gewähren Sie auch den Betrieben Planungssicherheit,
die im Vertrauen auf die zweite Säule auf die Erzeugung
regionaler Qualitätsprodukte und auf Diversifizierung
gesetzt haben. Setzen Sie sich zu diesem Zweck im Rahmen des Gesundheitschecks der Gemeinsamen Agrarpolitik für eine Erhöhung der obligatorischen Modulation
auf 10 Prozent ein. Rücken Sie die globale Herausforderung des Klimawandels ins Zentrum der Gemeinsamen
Agrarpolitik. Sorgen Sie dafür, dass die landwirtschaftliche Krankenversicherung auch nach 2009 weiterhin an
den Bundesmitteln für versicherungsfremde Leistungen
beteiligt wird - all das ist noch offen -, und sorgen Sie
dafür, dass der Arbeitskräftebesatz eines Betriebes einen
großen Einfluss auf die Bemessung der Höhe der Agrarförderung bekommt.
Damit wir die Wirkungen Ihrer Agrarpolitik in regelmäßigen Abständen überprüfen können, sollten Sie auch
in Zukunft jedes Jahr einen Agrarbericht vorlegen.
({4})
Wer den Berichtszeitraum auf einmal pro Legislaturperiode verlängern will, der will die Fehler seiner Politik
verschleiern. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
das sollten Sie nicht tun.
({5})
Für die Bundesregierung erteile ich nun Herrn Bundesminister Horst Seehofer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für
mich als zuständigen Bundesminister ist es nicht leicht,
meine Rede zu halten, nachdem bereits der erste Redner
der Opposition ein so wahrhaftiges und ehrliches Bild
von der Lage der deutschen Landwirtschaft gezeichnet
hat, wie es der Kollege Goldmann gerade getan hat. Er
hat gesagt: Die Landwirtschaft boomt in einem Ausmaß,
das wir uns nicht erträumt hätten. - Eigentlich könnten
wir es in dieser Debatte bei dieser Aussage belassen.
({0})
Dieser Aufschwung hat viele Ursachen. Kollege
Priesmeier, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass die
notwendigen Reformen schon vor 15 Jahren eingeleitet
wurden; dabei handelt es sich um mehrere Reformen.
Ich stimme ebenfalls Peter Bleser zu, der darauf hingewiesen hat, dass dieser Aufschwung auch mit der aktuellen Politik zu tun hat.
({1})
Herr Goldmann, ich glaube, dass wir vor allem zwei
Hauptbotschaften in die Tat umgesetzt haben: Verlässlichkeit und Vereinfachung. Dadurch wiederum erhöhte sich die Motivation und verbesserte sich die Stimmung der Bauern. Die Bereitschaft zu Innovationen und
Investitionen ist groß. Am meisten freut mich, dass wieder mehr junge Menschen bereit sind, einen „grünen“
Beruf, also einen Beruf in der Agrar- und Ernährungswirtschaft, zu erlernen. Das bedeutet Zukunft.
({2})
Nachdem ich gerade erst vom letzten Agrarrat, der
drei Tage lang in Luxemburg stattgefunden hat, zurückgekehrt bin, kann ich Ihnen gegen Ende der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft berichten - das hätte ich im
Januar dieses Jahres nicht für möglich gehalten -, dass
wir alle 25 großen und bedeutsamen Vorhaben, die wir
auf den Gebieten des Tierschutzes, der Agrarwirtschaft
und des Verbraucherschutzes in Angriff genommen haben, mit Unterstützung aller EU-Mitgliedsländer realisiert haben. Wenn man hört: „25 neue Richtlinien bzw.
Verordnungen“, muss man zunächst befürchten, das bedeute neue Bürokratie.
({3})
Doch so ist es nicht. Wir haben die Grundausrichtung
der Verlässlichkeit und Vereinfachung fortgesetzt. Bis zu
diesem Wochenende hatten wir in der Europäischen
Union 21 Gemeinsame Marktordnungen. Jetzt haben wir
eine Marktordnung.
({4})
Aus 700 Paragrafen sind knapp 200 Paragrafen geworden, aus über 1 000 Seiten 250 Seiten und aus 20 Ausschüssen auf europäischer Ebene ein Ausschuss. Das ist
nicht übel.
({5})
Ich nenne nur drei Beispiele:
Erstens. Die Bauern werden sich besonders darüber
freuen, dass wir Wort gehalten haben, was die Vereinfachung der Kontrollen zur Einhaltung der Umwelt- und
Tierschutzstandards angeht; für Fachleute: CrossCompliance.
({6})
Das haben wir einstimmig beschlossen. Das ist noch
nicht das Ende der Vereinfachung auf diesem Feld. Aber
mit der Harmonisierung der Kontrollsätze - 1 Prozent
der Betriebe ({7})
haben wir den ersten Schritt getan. Wir haben den Bauern immer gesagt: Wenn die EU will, dass bei 1 Prozent
der Betriebe die Einhaltung der Umwelt- und Tierschutzstandards kontrolliert wird, dann soll es auch bei
1 Prozent bleiben und dann darf dieser Anteil durch nationale oder föderale Strukturen nicht plötzlich bei
5 Prozent landen. Die Kontrollen - das haben die Bauern
immer gefordert - müssen jetzt vorher angekündigt werden.
Zweitens. Es gibt jetzt eine Bagatellregelung, damit
geringfügige Verstöße nicht mit finanziellen Strafen beantwortet werden müssen. Hier ist die Dienstleistung des
Staates, nämlich die Beratung, gefragt. Ferner - das wird
die eigenständige Qualitätssicherung der Landwirtschaft
sehr unterstützen - werden künftig Betriebe, die freiwillig an Qualitätssicherungssystemen teilnehmen, nicht so
häufig staatlich geprüft wie diejenigen, die an so etwas
nicht teilnehmen.
({8})
Auch das ist eine gewaltige Vereinfachung, und sie
kommt in den Höfen an.
Mein drittes Beispiel aus diesen 25 bedeutsamen Vorhaben - ich werde dem zuständigen Ausschuss, dem
Agrarausschuss, noch vor der Sommerpause im Detail
darüber berichten - ist, dass wir die auch für Deutschland bedeutsame Marktreform bei Obst und Gemüse
durchgesetzt haben, und zwar ebenfalls einstimmig. Das
war nicht einfach. Wir runden die Agrarreformen der
letzten 15 Jahre, die zu Recht gelobt worden sind, jetzt
ab, indem wir schrittweise auch bei Obst und Gemüse
zur Betriebsprämienregelung übergehen. Auch das bedeutet eine deutliche Vereinfachung der Verwaltung.
({9})
Da mittlerweile fast hundert Prozent der Agrarentscheidungen, die für Deutschland bedeutsam sind, in
Brüssel und in Luxemburg fallen, möchte ich an dieser
Stelle dick unterstreichen, dass wir die Dinge ernst nehmen, wenn wir von Verlässlichkeit und Vereinfachung
reden.
({10})
Weil ich gerade den Kollegen Ortel sehe, möchte ich
hinzufügen, dass wir in dieser Woche in Luxemburg zum
ersten Mal seit vielen Jahren Ernst gemacht haben mit
dem Schutz der Fischbestände, sei es beim Aal, sei es
beim Dorsch, sei es beim Roten Thun, sei es bei der
Scholle, sei es bei der Seezunge. Es ging also nicht nur
um ökonomische Interessen, auch die Nachhaltigkeit,
auch der Schutz wichtiger Arten in Europa hat in Luxemburg in dieser Woche eine Rolle gespielt.
({11})
Ich bin gerade aufgefordert worden, etwas zur Milchquote zu sagen. Das tue ich gerne, und das möchte ich
beim Deutschen Bauerntag in Bamberg genauso tun wie
heute hier; da hat das Parlament das Vorrecht. Die Geltung der Milchquote läuft im März 2015 aus. Ich finde,
man sollte der Öffentlichkeit und den Bauern sagen, dass
es im Moment so aussieht, dass wohl nicht mit einer Verlängerung zu rechnen ist. Trotzdem müssen wir sehen,
dass wichtige Staaten der Europäischen Union sich im
Moment auf diesem Feld zu positionieren beginnen; ich
nenne die Franzosen.
({12})
- Nein. Sie reden gerade mit ihren Bauern darüber, wie
sie sich in dieser Frage positionieren. Ich weiß, dass
auch andere Mitgliedstaaten dies tun. Deshalb bin ich
dafür, ehrlich festzustellen: Die Geltung der Milchquote
läuft im März 2015 voraussichtlich aus. Ich möchte Bemühungen, die Geltung der Milchquote zu beenden, nur
dann unterstützen, wenn wir den Bauern sagen können,
wie wir sie bis 2015 begleiten und was nach 2015
kommt. Mit der einfachen Botschaft, dass die Milchquote ausläuft - dies müssen wir den Bauern bei der Beschreibung der Situation sagen -, dürfen wir die Bauern
nicht alleine lassen. Würden wir es alleine bei dieser
Botschaft belassen, dann könnte man die Milchquote bis
zum Jahre 2015 nicht mehr funktionsfähig gestalten.
Hier dürfen wir die Bauern unter keinen Umständen alleine lassen.
Nun kenne ich das europäische Konzert. Ich unterstütze eine solche Politik bis und nach dem Jahre 2015
nur, wenn die Europäische Kommission spätestens bis
zum Jahre 2008, also bis zum nächsten Jahr, klipp und
klar sagt, was für die Bauern geschieht, insbesondere für
jene, die bei einem Auslaufen der Milchquote keine Bewirtschaftungschance mehr hätten, zum Beispiel reine
Grünlandbewirtschaftungen, Berglandwirtschaften und
Betriebe mit alten Strukturen. Deshalb möchte ich das
klar daran binden. Ich gebe nicht das eine hin, ohne zu
wissen, welche politischen Entscheidungen für die Bauern, für die ich Verantwortung trage, auf der anderen
Seite getroffen werden.
({13})
Ich werde das Auslaufen der Quote niemals aktiv unterstützen, wenn die Kommission und die Mitgliedstaaten
kein sauberes Projekt für die Bauern als Antwort darauf
haben, wie dieser Markt, dieser Wettbewerb, aussehen
soll.
({14})
Herr Goldmann, ich sage das aus einem zweiten
Grund - ich komme damit zum Schluss -: Bei allem Erfolg und aller guten Stimmung in der Landwirtschaft stehen wir vor einigen Megathemen, durch die dieses zarte
Pflänzchen der Innovation und der Investition sehr
schnell wieder ausgetreten werden kann, wenn wir nicht
Obacht geben. Es geht um die WTO und die Liberalisierung des Welthandels, für die ich sehr bin. Diese muss
aber zu fairen Bedingungen für alle, insbesondere auch
für unsere deutschen Landwirte, erfolgen.
({15})
Wir haben gerade mit den Biodieselherstellern diskutiert, die sich bei uns darüber beschwert haben, dass sie
in Deutschland mit einer Besteuerung konfrontiert werden, während die Amerikaner - das werde ich nachprüfen - den Export ihres Biodiesels nach Europa in massiver Weise unterstützen. So stelle ich mir einen fairen
Welthandel nicht vor.
({16})
Wir führen eine riesige Debatte über die erste und
zweite Säule. Frau Kollegin Behm, ich möchte Ihnen sagen: Auch die erste Säule ist eine Umweltsäule, weil es
hierbei um die Direktzahlung für das Einhalten von Umwelt- und Tierschutzstandards geht.
({17})
Wir zahlen nicht mehr für die Produktion, sondern es
gibt eine Prämie für die Bewirtschaftung einer Fläche.
Ich weise darauf hin, dass wir die Folgen der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in die EU noch finanzieren müssen, was auf die Direktzahlungen Auswirkungen haben wird. Wir werden damit rechnen
müssen, dass wir in den nächsten sieben Jahren an den
Vorgaben der Agrarleitlinie vorbeischrammen, was zu
weiteren Senkungen der Direktzahlungen führen wird.
Ich darf Ihnen auch noch sagen, dass die osteuropäischen Staaten bei jeder Entscheidung in der EU Wert
darauf legen, dass sie schneller als ursprünglich beabsichtigt an das Förderniveau der alten EU herangeführt
werden.
({18})
Deshalb bin ich bei der Milch vorsichtig.
Wenn wir solche Megathemen vor uns haben - nicht
in der ferneren Zukunft, sondern in den nächsten Jahren -,
dann möchte ich genau wissen, was auf unsere Agrarund Ernährungswirtschaft - von der WTO bis hin zu Rumänien und Bulgarien - zukommt und was bei der Milch
selbst geschieht, bevor ich dem deutschen Parlament und
der deutschen Öffentlichkeit sage: Jawohl, die Milchquote läuft aus. Es könnte sonst nämlich zu einer Addition der Belastungen für die deutsche Agrarwirtschaft
kommen, die auch gute Betriebe nicht mehr aushalten.
Das möchte ich vermeiden.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Edmund Geisen.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich gilt es heute, eine Halbzeitbilanz hinsichtlich der Agrarpolitik zu ziehen. Da der
agrarpolitische Bericht der Bundesregierung allerdings
hinter unserem FDP-Antrag versteckt wird, darf man annehmen, dass die sogenannte Große Koalition an ihrer
eigenen Politik Zweifel hat.
({0})
Dazu hat sie auch allen Grund; denn diese Agrarpolitik
ist von sehr vielen Ankündigungen, wie Sie sie auch
eben wieder gehört haben, und auch von der Sprunghaftigkeit eines Ministers geprägt, der bei all seinen Äußerungen immer wieder mit einem Auge nach Bayern
schielt, zum Beispiel bei der Milchquote, bei der Grünen
Gentechnik, bei der landwirtschaftlichen Unfallversicherung usw. Auch die momentane Marktentwicklung ist
nicht der Erfolg des Ministers.
Verehrter Herr Minister, natürlich gibt es gute Ansätze. Aber vieles ist meiner Ansicht nach noch mageres
Stückwerk und ohne sichtbaren Erfolg. Hätten Sie auf
die FDP gehört, wären viele Probleme gelöst. Da fehlte
wohl der Mumm in den Knochen.
({1})
Die sogenannte Eckpunkteregelung für Saisonarbeitskräfte ist und bleibt ein Flop. Es ist doch ein
Witz, die Probleme des deutschen Arbeitsmarktes auf
den Spargelfeldern lösen zu wollen.
({2})
Die Minister Müntefering und Seehofer stehen hier vor
dem Scherbenhaufen ihrer Chaospolitik.
({3})
Während die FDP-Anträge zur Korrektur dieser verkorksten Regelung von CDU/CSU und SPD stets abgelehnt wurden, spielen immer mehr Vertreter dieser Parteien in Bund und Ländern Opposition und fordern eine
Korrektur dieser Lösung.
({4})
Das ist blanker Populismus. Die CDU/CSU kritisiert die
Missstände, die sie selbst geschaffen hat. Diese Doppelzüngigkeit dürfen sich die Landwirte nicht länger bieten
lassen. Schöne Worte bringen gar nichts; die praxisfremde und planwirtschaftliche Erntehelferregelung
muss endlich weg.
({5})
Ich fordere die Kritiker aus Ihren eigenen Reihen auf,
endlich Farbe zu bekennen und mit einer Bundesratsinitiative aktiv zu werden.
Bei der Gesundheitsreform haben Sie, Herr Minister
Seehofer, eine eklatante Ungleichbehandlung der landwirtschaftlichen Krankenkassen in Kauf genommen.
Der landwirtschaftliche Berufsstand wurde von den versicherungsfremden Leistungen abgekoppelt, und nun suchen Sie verkrampft nach Lösungen. Ich begrüße den
von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Antrag.
({6})
Die FDP teilt voll und ganz die darin zum Ausdruck gebrachte Sorge, dass die landwirtschaftlichen Krankenkassen trotz gegenteiliger Aussagen vieler meiner
schwarzen Kollegen nicht in den Genuss der Bundesmittel kommen werden.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit dieser
Regierung gibt es keine Planungssicherheit für die Landwirte. Deren Interessen werden beim parteipolitischen
Machtpoker leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Gleichzeitig
versucht man, die FDP-Vorschläge durch die Hintertür
als eigene Politik einzubringen. So sieht die Halbzeitbilanz für die schwarz-rote Agrarpolitik aus.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Sascha Raabe für die
SPD.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass in der Debatte gesagt wurde, die
Landwirtschaft in Deutschland boome. Der Agrarpolitische Bericht enthält viele Aussagen zur nationalen Situation. Mir als Entwicklungspolitiker sei aber erlaubt, dass
ich auch auf den internationalen Teil des Agrarpolitischen Berichts eingehe. Dort wird die FAO, die LandDr. Sascha Raabe
wirtschafts- und Ernährungsorganisation der Vereinten
Nationen, zitiert, wonach weltweit immer noch fast
1 Milliarde Menschen unter chronischem Hunger leiden;
fast 70 Prozent von ihnen leben im ländlichen Raum.
({0})
Fast 30 000 Menschen sterben täglich noch an den Folgen von Hunger und Armut. Dies zeigt uns, dass für
ganz viele Menschen auf der Welt die Landwirtschaft im
wahrsten Sinne des Wortes eine Frage des Überlebens
bedeutet.
Alles, was wir in Deutschland und in Europa auf diesem Gebiet tun, ist nicht ohne Auswirkungen auf diese
Menschen. An Positivem nenne ich, dass die FAO vom
BMELV unterstützt wird und aus dem Haushalt dieses
Ministeriums Geld für die Ernährungssicherung bereitgestellt wird, wie es auch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung tut. Wir
tun weltweit viel für die ländliche Entwicklung, um die
Menschen in die Lage zu versetzen, sich selbst zu helfen
und mit dem entsprechenden Know-how und der erforderlichen Technologie Landwirtschaft zu betreiben,
wozu sie allerdings auch bestimmte Handelsmöglichkeiten brauchen. Auch begrüße ich es, dass die Hungerbekämpfung und Ernährungssicherung in Afrika auf dem
G-8-Gipfel eine große Rolle gespielt haben und uns
künftig mehr Mittel zur Verfügung stehen werden, um
Menschen in Afrika und anderen Entwicklungsländern
zu helfen, Landwirtschaft zu betreiben.
Aber man muss sich dann auch fragen, ob es etwas
nützt, dass wir einem Kleinbauern in Afrika zeigen, wie
er mit Bewässerungssystemen Getreide anpflanzt oder
Geflügelzucht oder Milchwirtschaft betreibt, wenn
gleichzeitig durch Exportdumping und hochsubventionierte Überschussproduktion die dortigen Märkte immer noch so gestört werden, dass er seine Produkte nicht
verkaufen kann. Wir haben das Beispiel in Bezug auf
Geflügel aus Belgien und Holland gehört, das in Senegal
zu großen Problemen geführt hat. Wir wissen aber auch,
dass wir mit dem Export von Milchpulver aus der EU
ebenso Probleme verursachen. Allein nach Burkina Faso
wurden 1 150 Tonnen getrocknete Vollmilch exportiert;
das sind im Prinzip Peanuts, aber für die Menschen dort
bedeutet es eine katastrophale Situation, weil die dort
aus dem Milchpulver aufbereitete Milch 30 bis 60 Cent
pro Liter kostet, während der Milchbauer, der dort seine
eigene Kuh hat, sie melken und die Milch pasteurisieren
muss, 90 Cent dafür verlangen muss, sodass seine Existenz gefährdet wird.
({1})
Herr Minister, auch ich bin für faire Bedingungen in
der WTO. Ich bin ebenso der Letzte, der nicht die Meinung verträte, es wäre gut, wenn die deutsche Landwirtschaft Alternativen im internationalen Wettbewerb erhielte, die Bauern sich zum Beispiel zum Energiewirt
fortentwickeln könnten. Ich habe volle Sympathie dafür,
dass die Besteuerung von Biodiesel fair geregelt werden
muss. Ich habe aber kein Verständnis dafür, dass immer
noch 350 Milliarden Dollar Subventionen pro Jahr von
OECD-Ländern ausgegeben werden und auch der EUHaushalt immer noch knapp 43 Milliarden Euro, fast die
Hälfte des Haushalts, an Subventionen vorsieht, die trotz
der gemeinsamen Agrarreform immer noch handelsverzerrende Momente haben. Das Auslaufen der Agrarexportsubventionen 2013 ist sicherlich ein guter erster
Schritt, der übrigens ohne die WTO, Herr Minister, nie
zustande gekommen wäre.
Aber man muss dann auch Folgendes sehen: Wenn
wir es mit Afrika ernst meinen und jetzt darangehen,
über die Partnerschaftsabkommen zwischen der Europäischen Union und Afrika zu verhandeln, dann müssen wir
auch an den Stellen Marktzugang gewähren, an denen
es für die Länder wichtig ist. Bei Mangos ist es klar: Sie
bauen wir nicht an; daher können wir sie hereinlassen.
Wir müssen aber „Butter bei die Fische“ oder besser
gesagt: Zucker an den Kuchen geben; denn natürlich ist
Zucker ein wichtiger Faktor.
Als wir uns in den Koalitionsverhandlungen hinsichtlich der Zuckermarktreform strittig unterhalten haben,
hieß es immer, man wolle nicht, dass die „bösen“ Brasilianer die Märkte hier überschwemmten. Jetzt geht es
darum, dass schon wieder zu verhindern versucht wird,
dass die AKP-Staaten, die Afrikaner, möglichst schnell
einen quoten- und zollfreien Zugang bekommen. In Bezug darauf meine ich, dass wir den Ärmsten der Armen
den Marktzugang nach Europa unbedingt einräumen
müssen, denn sonst sind wir unglaubwürdig.
Wir müssen in dem Sinne gestalten, dass wir auch in
unserer Landwirtschaftspolitik Subventionsabbau betreiben und einen ehrlichen Marktzugang schaffen. Ebenso
sollten wir deutsche Landwirte nicht gegen afrikanische
ausspielen, denn letztlich profitieren bei uns vor allem
die großen Agrarmultis von den Subventionen. Die regionale Landwirtschaft, die auch Kulturlandschaftspflege betreibt, hat meiner Meinung nach genug Chancen. Wir haben gehört, die Landwirtschaft boomt.
Ich schließe mit einem afrikanischen Sprichwort: „Es
ist nicht notwendig, die Laterne des anderen auszublasen, damit deine eigene heller scheint.“ Das bedeutet,
wir können auch ein Miteinander einer guten, ökologischen, regionalen Landwirtschaft mit ein paar kleinbäuerlichen Betrieben für den regionalen Markt in Deutschland einerseits und existenzsichernde Landwirtschaft in
Entwicklungsländern andererseits haben. Niemand hat
etwas dagegen, wenn deutsche Bauern für Milch, die sie
in Deutschland produzieren und die in Deutschland verkauft wird, gute, faire Preise bekommen. Aber es darf
nicht geschehen, dass aufgrund von Milchpulver, das
von der EU nach Afrika exportiert wird, dort Menschen
verhungern.
In diesem Sinne glaube ich, dass Sie Verständnis für
meine Worte haben. Ich hoffe, dass mit dieser Zielrichtung sowohl die deutsche Landwirtschaft als auch die
Kleinbauern in Entwicklungsländern miteinander existieren können, sodass alle Menschen auf der Welt etwas
von der Landwirtschaft haben, die ihrer Ernährung dient.
Danke schön.
({2})
Nun hat Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Ausgerechnet in der derzeitigen Situation, da der gesamte Agrarbereich sowohl im Hinblick auf Ernährungssicherheit als auch hinsichtlich der Bedeutung für die
nachwachsenden Rohstoffe und die Energiefrage hohes
gesellschaftliches Gewicht erhält, schafft Minister
Seehofer tatsächlich seine eigene Leistungspräsentation
ab. Das muss nun wirklich zu denken geben. Meines Erachtens hält eine solche Darbietung der Überprüfung
letzten Endes nicht stand.
Zum Verbraucherinformationsgesetz: In der heute
Morgen durchgeführten Anhörung haben alle Experten
bis auf eine einzige Ausnahme das Gesetz verrissen.
({0})
- Dann waren es 97 Prozent. - Das ist ein Beispiel für
Ihre Doppelzüngigkeit.
({1})
Dieses Verbraucherinformationsgesetz bedeutet letztlich
eine Informationsverschlechterung gegenüber bestehenden Informationsfreiheitsgesetzen. Das muss man sich
auf der Zunge zergehen lassen.
({2})
Ich möchte kurz auf das Thema Milch eingehen. Ich
denke, auch hierbei ist nicht klar, was der Minister eigentlich will. Wir alle haben im Ausschuss erleben können, dass Sie sich eindeutig für die Abschaffung der
Milchmengenregulierung ausgesprochen haben. Jetzt
wiederum soll abgewartet werden, wie sich der Bauernverband dazu äußert. Wer macht eigentlich die Regierungsarbeit?
({3})
Ich halte es für wichtig, dass die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit die Milcherzeuger ihrer Arbeit nachgehen können.
({4})
Das ist aber definitiv nicht der Fall.
({5})
Ich will noch auf die Äußerungen von Herrn Seehofer
auf dem Kirchentag eingehen, die ich für eine falsche
Darstellung halte. Ich würde zwar nie einen Minister der
Lüge bezichtigen - erst recht nicht unter dem Dach der
Kirche -, aber vielleicht ist das, was in seinem Hause erarbeitet wurde, nicht ausreichend bekannt gemacht worden. Es ging um die Kürzungen der Mittel für ländliche Räume. Die Mittel für diesen Bereich wurden, wie
gesagt, noch nie so stark gekürzt wie unter dieser Bundesregierung. Man kann zwar angesichts der guten Konjunkturlage alles kaschieren; es nutzt aber nichts. Klar
ist, dass es eine Negativbilanz bei der GAK gab, sowohl
bei den jährlichen Zuweisungen als auch insbesondere
bei den Mitteln der Europäischen Union. Bei der Verteilung der Finanzmittel hatten zum Beispiel BadenWürttemberg ein Minus von 28 Prozent, Bayern von
25 Prozent, Hamburg von 41 Prozent, Hessen von
20 Prozent und Rheinland-Pfalz von 20 Prozent zu verzeichnen.
({6})
Die massive Verschlechterung in diesem Bereich ist klar
erkennbar.
Des Weiteren hat der Minister angekündigt, dass es
beim Schutz vor Agrogentechnik zu keinen Verschlechterungen kommt. Ich denke, dass wir ihn hinsichtlich
dieses Versprechens beim Wort nehmen sollten, was die
Schutzstandards angeht. Wir sind gespannt auf das, was
Sie uns noch vor der Sommerpause vorlegen werden,
und werden Sie daran messen, ob Verschlechterungen
wirklich unterbleiben.
Der Minister hat aber auch festgestellt, dass es unter
Renate Künast mehr Freisetzungen und Agrogentechnik
gegeben hat. Auch das stimmt nicht. Das zeigen die Zahlen. 2001 wurden 46, 2002 31, 2003 20, 2004 22, 2005
52, 2006 52 und 2007 78 Freisetzungsversuche durchgeführt. Insofern ist auch das definitiv eine Falschaussage.
Des Weiteren haben Sie festgestellt, als gute fachliche
Praxis hätten bei Renate Künast 20 Meter gegolten, und
bei Ihnen seien es jetzt 150 Meter, was im Übrigen viel
zu wenig ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es unter Renate Künast keinen kommerziellen Anbau gab. Mit MON 810 haben Sie erstmals den
kommerziellen Anbau ermöglicht, den Sie jetzt aufgrund
der von uns frühzeitig geäußerten Bedenken in ökologischer, gesundheitlicher und rechtlicher Hinsicht rückgängig machen mussten. Auch das ist also eine klare
Fehlinformation.
Ich denke, gerade auch der Agrarbereich verdient es,
dass wir zu einer jährlichen Bewertung dieser Regierung
kommen sollten.
Danke.
({7})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Marlene
Mortler für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wie Politik nicht funktioniert - damit wende ich
mich an den Kollegen Aydin -, hat das SED-Regime gezeigt. 1989 musste dieses Experiment nämlich beendet
werden.
({0})
Was die Ausführungen meiner Vorrednerin vom
Bündnis 90/Die Grünen angeht, verstehe ich jetzt, warum meine Bauern und Bäuerinnen in Bayern bis heute
das Stoßgebet „Lass diese grüne Landwirtschaftsministerin nie wieder ins Amt kommen!“ zum Himmel schicken.
({1})
Seit dem Regierungswechsel hat sich die Stimmung
bei den Bauern und Bäuerinnen - ich glaube, das ist sehr
deutlich geworden - massiv verändert.
({2})
Aber ich gebe gerne zu - ich will ehrlich sein -, dass die
positive Stimmung nicht überall im Geldbeutel ihren
Niederschlag gefunden hat. Das gilt vor allem für die
Milchbauern. Horst Seehofer hat die Wahrheit gesagt,
als er darauf hingewiesen hat. Wir müssen damit rechnen, dass die Regelungen betreffend die Milchquote auslaufen. Wenn sie auslaufen, müssen wir entsprechende
Begleitmaßnahmen beschließen, und zwar nicht erst in
acht Jahren, sondern möglichst rechtzeitig.
Ich sage aber an dieser Stelle ganz deutlich: Auch
Bauer und Bäuerin sind Unternehmer. Auch sie haben
Eigenverantwortung. Auch sie müssen ihre Hausaufgaben machen. Wenn bestimmte Kreise glauben, dass die
Politik den Preis verordnen kann und muss, dann sind sie
auf dem Holzweg.
({3})
Bauer und Bäuerin brauchen eine Politik, die sie auf Augenhöhe mit ihren jeweiligen Marktpartnern bringt; darauf müssen wir setzen. Bauer und Bäuerin arbeiten
gerne, gut und hart, weil sie Verantwortung für Mensch,
Tier und Umwelt haben, und das 365 Tage im Jahr. Sie haben natürlich auch Verantwortung für die eigene Familie.
Lieber Bundesminister, herzlichen Dank, dass Sie es
innerhalb kürzester Zeit geschafft haben, wieder in unserem Bewusstsein zu verankern, dass in Deutschland
Nahrungsmittel mit hervorragender Qualität produziert
werden, und dass Sie auf das Modell einer vielfältigen
und multifunktionalen Landwirtschaft setzen. Nebenbei
bemerkt: Es gibt keinen Wirtschaftszweig, der so nachhaltig im Sinne einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft
wirtschaftet wie unsere Landwirtschaft.
({4})
Mir ist natürlich bewusst, dass die Zahl der Betriebe
abnimmt. Aber die Bedeutung von Landwirtschaft und
Landbewirtschaftung wird zunehmen. Die Zukunft
kommt immer schneller und lässt sich immer weniger
vorhersagen. Aber eines wissen wir schon heute: Die
Weltbevölkerung wächst, während die Flächen, die der
Landwirtschaft zur Verfügung stehen, abnehmen. Die
Nachfrage nach Lebensmitteln und vor allem nach Energie und unseren landwirtschaftlichen Rohstoffen steigt.
Deshalb sind alle Bauern gefordert - weltweit, europaweit, deutschlandweit.
Lieber Kollege Raabe, es ist an dieser Stelle wichtig,
zu betonen, dass die EU ein besonders fairer Marktpartner ist, wenn es um die Entwicklungsländer geht.
({5})
Ich kann es daher nicht verstehen, wenn im Moment die
Landwirtschaft landauf, landab verdammt wird - das ist
sehr billig - und zum Sündenbock für Not und Armut
gemacht wird. 64 Prozent aller in die EU importierten
Agrarerzeugnisse kommen aus den Entwicklungsländern. 73 Prozent der Agrarexporte der ärmsten Entwicklungsländer gehen in die EU. Nur 10 Prozent gehen in
die USA. Das ist Fakt.
({6})
Mit dem Agrarhandel alleine können wir aber die
Probleme der Entwicklungsländer nicht lösen. Es geht
um mehr: den Zugang zu Boden, Kapital und Bildung.
Zudem muss man korrupte Regime in die Schranken
weisen.
Wir sind dafür da, Probleme zu lösen, und nicht, Probleme zu machen. Wir dürfen uns nicht an der letzten
Schraube austoben, während der Wettbewerb in der
Landwirtschaft weltweit zunimmt. Wir müssen jetzt die
richtigen Weichenstellungen vornehmen. Stichwort Bioenergie: Es geht hier um Chancen und Grenzen, aber
auch darum, Potenziale auszuloten und die Wertschöpfung bei uns zu lassen, und zwar auch im Sinne eines aktiven Klimaschutzes. Es geht außerdem um eine gleichwertige Entwicklung von Stadt und Land.
({7})
Lieber Horst Seehofer, ich begrüße Ihre Ankündigung, die GAK-Mittel aufzustocken. Aber wir werden
noch mehr Geld in die Hand nehmen müssen. Denn eine
entscheidende Frage lautet: Wird das Land in Zukunft
nicht abgehängt? Es geht in Zukunft nicht nur um Straßen, um Wasser und um Kanäle, sondern es geht immer
mehr um eine flächendeckende Breitbandversorgung.
Unser Ziel muss ein Anschluss für alle Haushalte sein.
Dafür darf nicht nur der Etat des Landwirtschaftsministeriums herhalten, sondern da sind auch andere Ressorts
gefordert.
({8})
Ich komme zum Schluss. Die Erbschaftsteuer ist angesprochen worden.
Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit hinweisen.
Landwirte brauchen ihre Flächen zum Produzieren,
nicht zum Spekulieren. Es kommt jetzt ganz entscheidend darauf an, wie diese Erbschaftsteuer ausgestaltet
wird.
({0})
Sie ist für viele eine Überlebensfrage.
Der Agrarbericht, über den wir heute unter anderem
gesprochen haben, ist zwar wichtig, aber noch wichtiger
ist, dass wir die Weichen für diese Zukunftsbranche richtig stellen.
Ich bedanke mich.
({1})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Früher war nicht alles gut, und heute ist nicht alles schlecht. Ich bin nun die letzte Rednerin in dieser Debatte. Die Zuschauerinnen und Zuschauer, die hier sind,
werden wohl die Aussage, dass die Regierung nur Chaos
verursacht, auf der anderen Seite aber die Landwirtschaft boomt, merkwürdig finden. Was sollen die Zuschauerinnen und Zuschauer eigentlich davon halten?
({0})
Deshalb fühle ich mich als Politikerin der SPD, die an
der alten Regierung beteiligt war und jetzt an der neuen
Regierung beteiligt ist, dazu aufgerufen, die Dinge richtigzustellen und einige Ergänzungen zu bringen.
({1})
Ganz eindeutig ist die Agrarreform von 2003 eine
wichtige Grundlage dafür, dass die Landwirtschaft da
steht, wo sie heute ist.
({2})
Diese Jahreszahl möchte ich ausdrücklich betonen. Weiterhin möchte ich das Erneuerbare-Energien-Gesetz
nennen, das zu einem Boom geführt hat, den niemand
für möglich gehalten hat. Auch das haben wir unter der
alten Regierung gemacht. Ich höre sehr gerne, dass Sie,
Herr Minister Seehofer, gesagt haben, der Boom habe
natürlich auch mit der aktuellen Politik zu tun.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen anderen
Bereich ansprechen, der auch sehr geboomt hat. Das ist
der Ökolandbau. Wir wissen alle, dass Bioprodukte in
den vergangenen Jahren ein solcher Renner geworden
sind, dass die deutsche Produktion schier nicht mehr
nachkommt und wir Produkte aus dem Ausland importieren müssen. Wir haben in der Vergangenheit den Ökolandbau gefördert. Diese Förderung ist etwas zurückgegangen. Ich wünsche mir, dass wir diesen Boom nicht
brechen, so wie es in der Bioenergiebranche im Moment
der Fall ist. Wir sollten den Weg weiter verfolgen und
dafür im neuen Haushalt etwas mehr Mittel bereitstellen.
({3})
- Andere verdienen auch, und auch die unterstützen wir.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Nein, ich komme sonst mit meiner Rede nicht durch.
Vielleicht später.
Zum Verbraucherinformationsgesetz möchte ich Ihnen, Frau Kollegin Höfken, ein Wort sagen: Der Entwurf, den wir eingebracht haben, ist mehr als das, was
wir unter Rot-Grün auf den Weg gebracht haben.
({0})
Heute hier von Doppelzüngigkeit zu reden, finde ich
nicht gerechtfertigt.
({1})
Ich möchte zu meiner eigentlichen Rede kommen.
Wir haben vorhin schon gehört, dass der Wert der Rohmilch im Mai auf die neue Rekordmarke von 38,39 Cent
gestiegen ist. Das sind 4 Cent über dem Wert des Vormonats und 13 Cent über dem Wert des Vormonats des letzten Jahres. Die große Nachfrage auf den Milchmärkten
hat sich mittlerweile in den Preisabschlüssen mit den
Molkereien niedergeschlagen. Ich hoffe und erwarte,
dass diese Preissteigerungen jetzt von den Molkereien an
die Landwirte weitergegeben werden.
({2})
Eine ähnlich positive Preisentwicklung sehen wir
auch auf anderen Märkten, etwa auf den Getreide- und
Ölsaatenmärkten. Für die Landwirtschaft bedeutet das
zwar einerseits einen fortschreitenden Strukturwandel;
auf der anderen Seite kann sie mit steigenden Einkommen rechnen. Geschätzt wird eine Zunahme von 5 bis
10 Prozent. Ökologisch wirtschaftende Betriebe erzielten sogar 30 Prozent mehr Gewinn als konventionell
wirtschaftende Betriebe. Das macht eines ganz deutlich:
Es zahlt sich für die Bauern aus, dass wir neue Märkte
und Einkommensalternativen fördern und erschließen.
Das gilt ganz besonders für die Nutzung der Biomasse.
Die steigende Bedeutung der Biomasse ist hier schon
mehrfach angesprochen worden. Damit verbunden ist
ein enormes ökonomisches Potenzial. Steigende Preise
für Futtermittel zeigen allerdings auch, dass es eine Konkurrenz zwischen Lebensmitteln und Futtermitteln auf
der einen Seite und energetischer Verwertung auf der anderen Seite gibt. Wir brauchen aber eine gleichgewichtige Entwicklung beider Märkte. Wir sollten uns zum
Beispiel im Zuge einer Novellierung des EEG - sie steht
irgendwann an - überlegen, wie man auf der einen Seite
den Maismarkt entlasten und auf der anderen Seite den
Kreislauf wieder schließen kann. Denkbar ist, den
NAWARO-Bonus im EEG auf Pressschnitzel aus Zuckerrüben und auf Schlempe aus Getreide und Kartoffeln auszudehnen, um den Maismarkt so zu entlasten.
({3})
Wir wollen das einfach einmal prüfen.
Waltraud Wolff ({4})
Die Besteuerung von Biokraftstoffen ist für die
Branche - das wissen wir alle hier - eine hohe Belastung. Spätestens mit dem Inkrafttreten der nächsten Erhöhung um 6 Cent je Liter ist die Wettbewerbsfähigkeit
nicht mehr gegeben. Wir müssen handeln.
({5})
Wir brauchen eine Lösung, die gerade denjenigen Betrieben zugute kommt, die über regionale Kreisläufe
Wertschöpfung im ländlichen Raum betreiben. Das werden wir anpacken. Wir wollen hier Perspektiven sichern.
Ich habe die Preisentwicklung bei der Milch bereits
angesprochen. Wir alle freuen uns über diese Entwicklung. Wie mehrere Kollegen in dieser Debatte schon gesagt haben, fordern die Landwirte von uns aber eine
klare Entscheidung über die Zukunft der Milchquote.
Diese Entscheidung brauchen wir rechtzeitig.
Herr Minister Seehofer, ich bin froh, dass Sie dieses
Thema angesprochen haben. Leider jedoch ist kein Weg
aufgezeigt worden. Ab Juli dieses Jahres wird es nur
noch ein Quotengebiet geben und wird sich die Milchproduktion bessere Standorte, etwa Grünlandstandorte,
suchen.
({6})
Das heißt, wir sollten nicht der Frage nachgehen, ob ein
Ausstieg aus der Quote sinnvoll ist oder nicht. Wir in
Deutschland müssen uns unabhängig von der EU-Entscheidung schon Gedanken darüber machen, wie wir damit umgehen. Ein Verweis auf Ausgleichsmaßnahmen
oder auf Agrarumweltprogramme reicht da nicht. Um
den Landwirten zu helfen, müssen wir exakte Alternativen deutlich machen.
({7})
Ich will einen letzten Punkt ansprechen. Ich freue
mich, dass die Grünen ihr Herz für die landwirtschaftliche Sozialversicherung wieder entdeckt haben. In der
Vergangenheit - ich brauche nur an die landwirtschaftliche Unfallversicherung zu denken - haben wir gegen
den Widerstand der SPD, insbesondere gegen meinen
persönlichen Widerstand, immer wieder eine Rückführung der Bundesmittel erleben müssen. Ich freue mich,
dass Sie in Bezug auf die Krankenversicherung hier
noch einmal die versicherungsfremden Leistungen angesprochen haben. Natürlich sind diese Leistungen bis
2009 zugesagt. Ich habe keinen Zweifel an der Regierung.
(Ulrike Höfken ({8})
- Das zieht ja schon jetzt. Natürlich bekommen sie versicherungsfremde Leistungen bis 2009.
Was die Zeit danach angeht, gibt es eine Absprache
mit dem Ministerium, dass selbstredend Lösungen gefunden werden, wenn es hier zu Verwerfungen kommt.
({9})
Ich habe keinen Grund, an der Aussage der Bundesregierung zu zweifeln.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum
Schluss. Ich freue mich, dass heute auch zur Reform der
Unfallversicherung noch einmal klare Worte gefallen
sind. Wir werden das Vorschaltgesetz und auch die Unfallversicherung noch in diesem Jahr reformieren. Ich
hoffe, Sie alle helfen mit und tragen dazu bei, dass wir
hier zu guten Lösungen kommen.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu einigen
Ausschussüberweisungen und Abstimmungen.
Tagesordnungspunkte 4 a) bis 4 g). Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 16/4185, 16/4289, 16/5421, 16/3217, 16/3218,
16/5427 und 16/5503 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/5599 zum Agrarpolitischen Bericht der
Bundesregierung soll an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz überwiesen wer-
den. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 4 h): Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit
dem Titel „Planungssicherheit für Landwirte und Milchwirtschaft durch definitiven Beschluss zum Auslaufen
der Milchquotenregelung schaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4595, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/3345 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Stimmt die Fraktion der FDP gegen die Beschlussempfehlung? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Haltung der Bundesregierung zur drohenden
Altersarmut in Deutschland aufgrund des zu
geringen Rentenniveaus
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der
Diskussion in der Aktuellen Stunde nicht teilnehmen
wollen, ihre Gespräche vor dem Plenarsaal oder anderswo fortzuführen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Volker Schneider für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Seit Wochen und Monaten feiert sich die
Bundesregierung wegen des Aufschwungs und ignoriert
dabei gnadenlos, dass dieser wenigen nützt und an vielen
schlicht vorbeigeht. Die DAX-Unternehmen erzielen bemerkenswerte Gewinnsteigerungen weit über dem
durchschnittlichen Wirtschaftswachstum und scheinen
dennoch ihre vornehmste Aufgabe darin zu sehen, ihre
Personalkosten noch weiter zu senken.
Aber das ist heute nicht unser Thema. Wie sieht es bei
der Rente aus? Wirtschaftswachstum im Jahre 2006:
2,7 Prozent. Rentenerhöhung: Fehlanzeige. Das bedeutet
unter Berücksichtigung der Inflationsrate real ein Minus
von 1,7 Prozent bei Rentnerinnen und Rentnern.
({0})
2007 wird Ihre Bilanz ähnlich „erfolgreich“ ausfallen.
Die Rentenerhöhung - man traut sich das Wort „Erhöhung“ in diesem Zusammenhang kaum in den Mund zu
nehmen - wird mit 0,54 Prozent wieder deutlich hinter
der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung zurückbleiben, und nach Abzug der Inflationsrate werden Rentnerinnen und Rentner wieder real weniger in den Taschen haben.
({1})
- Lieber Kollege Schaaf, wenn Sie es nicht einmal
schaffen, in dieser Phase des Aufschwungs die wirtschaftliche Lage dieser Menschen nicht zu verschlechtern, dann kann einem hinsichtlich der zyklisch zu erwartenden Einbrüche der Konjunktur nur noch angst und
bange werden.
({2})
Erfolgreich sind Sie vor allem darin, das Vertrauen
der Menschen in die gesetzliche Rentenversicherung zu
zerstören. Im Januar dieses Jahres ermittelte Allensbach,
dass 88 Prozent der Bevölkerung kein oder wenig Vertrauen in die Zukunft der gesetzlichen Rente haben. Das
ist ein absoluter Tiefpunkt.
({3})
Es ist leider nicht nur ein gefühlter Mangel an Vertrauen.
Es sind die harten Daten und Fakten, die dieses Misstrauen stützen.
Ende der 90er-Jahre erreichte ein Durchschnittsverdiener oder eine Durchschnittsverdienerin mit 28,6 Beitragsjahren das Niveau der Grundsicherung im Alter.
({4})
Nach Ihren Reformen wird dieses Niveau - das sind
übrigens 674 Euro - nach 36 Beitragsjahren erreicht.
Das gilt, wohlgemerkt, für Vollzeitbeschäftigte. Eine Beschäftigte mit 30 Stunden in der Woche, also mit einer
75-Prozent-Beschäftigung, benötigte 48,5 Jahre, um
überhaupt das Niveau an Rente zu erreichen, das sie
auch dann bekommen würde, wenn sie in ihrem Leben
überhaupt nicht gearbeitet hätte.
({5})
Woher soll da die Zustimmung zur Rente noch kommen?
({6})
Anders gesagt: Trotz lebenslangen Arbeitens erhält
man nicht mehr als das, was einem auch dann zustünde,
wenn man in seinem Leben nie gearbeitet hätte. Es ist
kaum notwendig, zu ergänzen, dass viele teilzeitbeschäftigte Frauen weder 30 Stunden in der Woche arbeiten
noch durchschnittlich verdienen.
Von dem Ziel, den Menschen im Alter ein Leben in
Würde zu ermöglichen, haben Sie sich verabschiedet.
Von der Zielsetzung einer Lebensstandardsicherung sollten wir besser überhaupt nicht mehr reden. Sie haben einen radikalen Systemwechsel vollzogen. Die Beiträge
orientieren sich nicht mehr an dem, was nach unserem
Grundgesetz in einem demokratischen und sozialen
Bundesstaat angemessen wäre; die Höhe der Leistungen
der Rentenversicherung wird an das angepasst, was von
vornherein gedeckelte Beitragssätze in der Rentenversicherung noch zulassen.
1992 ging man noch davon aus, dass Arbeitnehmern
wie Arbeitgebern 2040 ein Beitragssatz von 26 bis
28 Prozent zugemutet werden könne, um das damalige
Niveau der Rente aufrechtzuerhalten. Sie haben die Beitragssatzhöhe für diesen Zeitraum auf 22 Prozent festgeschrieben. Das sind nur 11 Prozent für die Arbeitgeber,
das sind aber 11 Prozent für die Arbeitnehmer plus
3 Prozent - nach Abzug der staatlichen Förderung - für
die Riesterrente. Wenn man dann noch die Wirkungen
der Rentenreform von 2003 - Ulla Schmidt! - ausgleichen wollte, wären das, so haben die Gewerkschaften errechnet, weitere 3 Prozent. Mit 17 Prozent für die Arbeitnehmer auf der einen Seite und 11 Prozent für die
Arbeitgeber auf der anderen Seite sind wir wieder bei
den genannten 28 Prozent. Geändert hat sich nichts; nur
die Parität in der gesetzlichen Rentenversicherung ist
gnadenlos außer Kraft gesetzt worden.
Nun erreichte uns in den letzten Tagen ein Bericht der
OECD, bei dem man sich verwundert die Augen reibt:
Deutschland an der Spitze der Tabelle der Bruttoersatzrate der Rente in der Einkommensgruppe bis 50 Prozent
des Durchschnittseinkommens. Die Bundesregierung
wird für ihre Rentenpolitik ausdrücklich gelobt.
({7})
- Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Weiß! Denn was
besagt diese Tabelle? Dort steht nichts anderes, als dass
ein Arbeitnehmer, der 2004 mit 20 Jahren zu arbeiten
beginnt, bei voller Erwerbstätigkeit bis zum gesetzlichen
Volker Schneider ({8})
Rentenalter mit konstant 50 Prozent des Durchschnittseinkommens 39,9 Prozent des Bruttoverdienstes erzielt.
Ich bitte die Damen und Herren auf den Tribünen, sich
einmal für einen Moment zu überlegen, was es heißt,
dass sie im Alter mit rund 40 Prozent auskommen müssen!
({9})
Das ist keine Einzelposition; das ist in allen Gruppierungen so.
Bei einer derart „erfolgreichen“ Rentenpolitik fürchten viele in diesem Land mit Recht, im Alter vor Armut
nicht ausreichend geschützt zu sein. Wir brauchen jetzt
eine radikale Kehrtwende in der Rentenpolitik: Aufhebung der Beitragssatzdeckelung, Wiederherstellung der
paritätischen Finanzierung, Wegfall aller Dämpfungsfaktoren und Wiedereinführung der Orientierung an der
Lebensstandardsicherung.
Danke schön.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die entscheidende Frage, die sich Rentnerinnen
und Rentner, aber auch junge Leute stellen, die künftig
in das Rentensystem einzahlen sollen, lautet: Funktioniert das System auch für die Zukunft? Dazu haben wir
in der vergangenen Woche von der OECD ein in der Tat
hervorragendes Urteil bekommen. Die Presseerklärung
der OECD beginnt mit dem Satz - ich zitiere -:
Deutschland hat in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den meisten OECD-Ländern umfassende
Strukturreformen im Rentensystem beschlossen
und so wichtige Fortschritte auf dem Weg zur
Nachhaltigkeit des Systems gemacht.
Eine OECD-Expertin setzt in einem Zeitungsinterview
noch eins drauf:
Lernen können die anderen Länder sicherlich von
der Nachhaltigkeit, die Deutschland bei der Rentenreform hinbekommen hat.
Ein hohes internationales Lob für die deutsche Rentenpolitik!
({0})
Die Linksfraktion redet hier so, als gebe es keine demografische Herausforderung in Deutschland. Die Linken wissen nicht, in was für einem Land sie leben.
({1})
Die entscheidenden Fragen sind doch: Wie reagiert unser Rentensystem auf die dramatischen Veränderungen
insofern, als die Zahl der Älteren deutlich zunimmt, auch
weil sie eine höhere Lebenserwartung haben, und die
Zahl der Jüngeren demgegenüber geringer ist? Und: Produzieren wir vor diesem Hintergrund in Deutschland
bewusst politisch einen Kampf der Generationen gegeneinander, oder schaffen wir Generationengerechtigkeit,
die einen Ausgleich zwischen den Generationen sucht?
Diese Fragen müssen wir beantworten.
({2})
Damit der Rentenversicherungsbeitrag für die Jungen
eben nicht in astronomische Höhen steigt, muss das Niveau der gesetzlichen Rente für die künftigen Rentnerinnen und Rentner sinken. Aber entscheidend ist die
Frage: Wie sorgen wir dafür, dass die Rentnerinnen und
Rentner auch in Zukunft ein auskömmliches Leben haben? Das funktioniert nur, wenn die gesetzliche Rente
um zwei Standbeine ergänzt wird, die wir in Deutschland konsequent ausbauen: die betriebliche Altersvorsorge und die private kapitalgedeckte Altersvorsorge.
Die Altersvorsorge der Zukunft ist dann stabil, wenn sie
nicht nur auf einem, sondern auf drei verlässlichen Beinen steht.
Auf die Frage, ob dieser neue Mix aus umlagefinanzierter gesetzlicher Rente und Kapitalversicherung als
Zukunftsmodell eine gute Entscheidung ist, sagen uns
die OECD-Experten - ich zitiere -:
Das ist eine sehr gute Entscheidung, das sollten
mehr OECD-Länder machen, weil so die Risiken
und Lasten im System viel besser verteilt werden.
Damit in Zukunft möglichst niemand in Altersarmut
abgleitet, stärkt die Große Koalition die zweite und die
dritte Säule der Alterssicherung zusätzlich. Ich erwähne
nur: Für Kinder wird es ab 2008 einen Staatszuschuss
von 300 Euro jährlich für die Riesterrente geben. Walter
Riester spricht ja gleich noch. Wir wollen das selbstgenutzte Wohneigentum riesterförderungsfähig machen.
Die Abgabenfreiheit der Entgeltumwandlung hat zu einem deutlichen Aufwuchs der Betriebsrenten in
Deutschland geführt. Wir wollen, dass dieser Aufwuchs
sich fortsetzt.
Der letzte Alterssicherungsbericht der Bundesregierung hat untersucht, ob die auf drei Säulen basierende
Alterssicherungspolitik die gewünschten Erfolge bringt.
Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass das Nettogesamtversorgungsniveau - bezogen auf das, was man im
Alter aufgrund der verschiedenen Säulen der Alterssicherung insgesamt zum Leben hat - für Durchschnittsverdiener nahezu unverändert bleibt und dass für Geringverdiener langfristig eher ein Anstieg zu erwarten
ist. Und weil das Thema der Familien mit Kindern oder
Frauen mit unterbrochener Erwerbsbiografie zu Recht
angesprochen wird: Gegenüber heute wird das Gesamtversorgungsniveau für Familien mit Kindern dank der
Peter Weiß ({3})
Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei der Rente
ebenfalls eher ansteigen.
Fazit: Im Gegensatz zu dem, was die Linksfraktion
mit jeder Aktuellen Stunde hier im Bundestag gebetsmühlenartig wiederholt, weil sie hofft, dass die Dummen
in diesem Land irgendwann auf diese Argumentation hereinfallen,
({4})
führt die Rentenpolitik nicht zu Altersarmut, sondern zu
Sicherheit im Alter, allerdings nur dann, wenn zusätzlich
zur gesetzlichen Rente die zweite und die dritte Säule
der Alterssicherung stetig weiter aufgebaut werden.
Dazu gibt der OECD-Bericht einen eindeutigen Rat,
den ich nur unterstreichen kann - ich zitiere -: Wichtig
ist,
dass Erwerbstätige bereits früh mit dem Sparen beginnen und auf regelmäßiger Basis Beiträge entrichten.
Richtig ist: Die gesetzliche Rente ist - darauf zielt die
Veränderung in der Rentenpolitik - nicht mehr alleine
für die Lebensstandardsicherung im Alter zuständig,
sondern wir brauchen eine zweite und eine dritte Säule.
Diese wollen wir gemeinsam mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Land auch in den
künftigen Jahren kräftig ausbauen, damit Altersarmut in
Deutschland ein Fremdwort bleibt.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde ist eine typische polemische Zuspitzung der Fraktion Die Linke, wie
wir sie in den letzten Wochen und Monaten schon öfter
erlebt haben.
Herr Kollege Schneider, ich denke - da stimme ich
dem Kollegen Weiß ausdrücklich zu -, dass die OECDStudie doch ein etwas differenzierteres Bild der Situation der Altersvorsorge in Deutschland liefert, als Sie
uns das weismachen wollen. Vor allen Dingen erkennt
die OECD den grundsätzlichen Ansatz des deutschen
Systems der Altersvorsorge - das finde ich wichtig -,
nämlich den Vorsorgemix aus umlagefinanzierter gesetzlicher Rentenversicherung und kapitalgedeckter betrieblicher und privater Vorsorge, ausdrücklich als richtig an.
Dass das Niveau der Vorsorge aus der gesetzlichen
Rentenversicherung als einen Teil dieses Mixes in den
nächsten Jahren zugegebenermaßen deutlich zurückgeht,
Herr Schneider, ist für sich genommen noch kein Grund
für Kassandrarufe. Erst wenn es nicht gelingt, die durch
die Absenkung des Nettorentenniveaus vor Steuern entstehenden Versorgungslücken durch den Ausbau der kapitalgedeckten Eigenvorsorge anderweitig zu schließen,
werden wir ein ernstes Problem hinsichtlich der Sicherung des Lebensstandards im Alter bekommen. Aber
diese Botschaft ist alles andere als neu, Herr Schneider.
Die gesetzliche Rente reduziert sich in ihrer Funktion
mehr und mehr auf eine Existenzsicherung. Wer mehr
als nur Existenzsicherung will, ist gut beraten, sich beizeiten darum zu kümmern.
({0})
In diesem Zusammenhang möchte ich mehrere Anmerkungen machen.
Zunächst einmal muss, wer die betriebliche oder private Eigenvorsorge aktivieren will, den Menschen die
ungeschminkte Wahrheit sagen. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher seit langem, dass die Renteninformation der gesetzlichen Rentenversicherung für ihre
Prognosen inflationsbereinigte Werte ausweist, um den
Versicherten einen realistischeren Wert ihrer künftigen
Rentenansprüche zu vermitteln. Bisher wird in den Informationsbriefen nur darauf hingewiesen, dass diese
Werte noch inflationsbereinigt werden müssen. Es ist aus
meiner Sicht zumindest zweifelhaft, ob alle Versicherten
den sich daraus ergebenden Handlungsbedarf in seiner
ganzen Brisanz erkennen.
Sodann ist die Politik aufgefordert, denen, die eine
Notwendigkeit für eine ergänzende Vorsorge für sich erkannt haben, die notwendige Förderung zukommen zu
lassen. An dieser Stelle sage ich sehr deutlich: Es wäre
vollkommen absurd, wenn das erfolgreichste Instrument
ergänzender Vorsorge, nämlich die abgabenfreie Entgeltumwandlung, 2008 beendet werden würde. Herr Weiß,
Sie haben diese Klippe ein wenig umschifft,
({1})
indem Sie sagen, Sie wollen, dass der Aufwuchs fortgesetzt wird. Wir hätten gerne von Ihnen heute klipp und
klar gehört, ob Sie auch die Förderung fortsetzen wollen.
Wir haben aber noch eine zweite Chance; denn der
Staatssekretär wird nach mir an das Rednerpult treten.
Herr Thönnes, ich fordere Sie auf, hier unmissverständlich zu erklären, dass die abgabenfreie Entgeltumwandlung auch nach 2008 in vollem Umfang fortgesetzt wird.
({2})
- Nein, das werde ich nicht für falsch erklären; denn es
ist richtig. Herr Brauksiepe, erfreulicherweise gibt es sozusagen einige Lockerungssignale aus den Reihen der
Koalition.
({3})
Wir würden es gerne sehen, wenn heute Ross und Reiter
genannt würden. Hic Rhodus, hic salta! Herr Staatssekretär, wir warten auf Ihre Ausführungen.
Beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand
brauchen wir ferner mehr Flexibilität. Altersarmut kann
auch und nicht zuletzt dadurch vermieden werden, dass
ältere Arbeitnehmer nicht mehr wie bisher regelrecht aus
dem Arbeitsleben verdrängt werden und bei Hartz IV
landen. Ihnen soll auf der Basis einer - das ist mir wichtig - freien Entscheidung eine möglichst lange Teilhabe
am Erwerbsleben ermöglicht werden.
Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher, dass Versicherte ab dem 60. Lebensjahr durch den Bezug einer
Voll- oder Teilrente auf erworbene Rentenanwartschaften auch zur Vermeidung von Altersarmut zurückgreifen
können und dass gleichzeitig die bisher bestehenden Zuverdienstgrenzen wegfallen. Das wäre aus unserer Sicht
ein entscheidender Schritt nach vorne, mit dem die individuelle Entscheidung eines jeden Einzelnen in den Vordergrund gestellt wird. Das ist besser als ein starres
gesetzliches Renteneintrittsalter von beispielsweise
67 Jahren, das unter den heutigen Rahmenbedingungen
auf dem Arbeitsmarkt viele nicht erreichen werden.
({4})
Schließlich sollte nicht vergessen werden - leider bin
ich am Ende meiner Redezeit -, dass wir zur Vermeidung von Altersarmut eine bedarfsgeprüfte Grundsicherung im Alter haben. Ich wünsche mir, dass nur wenige
Menschen in unserem Lande auf diese Grundsicherung
zurückgreifen müssen. Wir sollten gemeinsam die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass möglichst viele
durch eigene Erwerbstätigkeit in die Situation versetzt
werden, am Ende ihres Erwerbslebens in der Summe aus
gesetzlicher, privater und betrieblicher Vorsorge auf einen guten Betrag zurückgreifen zu können, der nicht nur
ihre Existenz, sondern auch ihren Lebensstandard sichert. Dazu sind wir alle aufgerufen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Bundesregierung erteile ich nun das Wort dem
Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eine Debatte über die Alterssicherungspolitik in
Deutschland sollte auf Fakten basieren und keine Ängste
schüren.
({0})
Deswegen wäre es gut, wenn wir uns in Fortsetzung der
einen oder anderen Rede gerade zuerst auf die Fakten
konzentrierten. Die OECD-Studie „Pensions at a
Glance“, die vergangene Woche vorgestellt worden ist,
enthält vier Kernbotschaften:
Erstens. Mit der Einführung der Rente ab 67 ist
Deutschland ein Vorreiter in der OECD im Hinblick darauf, die Rentensysteme auf die demografische Herausforderung auszurichten und einzustellen.
Zweitens. Die finanzielle Tragfähigkeit des deutschen
Rentensystems ist langfristig gesichert.
({1})
Drittens. Die zukünftige Lohnersatzrate liegt nach
dem Berechnungsmodus der OECD in Deutschland im
OECD-weiten Vergleich nur im unteren Drittel. Bei Geringverdienern belegt Deutschland den drittletzten Platz.
Viertens. Mithilfe der geförderten zusätzlichen Altersvorsorge ist sichergestellt, dass das Rentenniveau
nicht unter den Stand vor den Reformen sinkt.
Bevor ich nun auf die einzelnen Punkte zu sprechen
komme, ein korrigierender Hinweis gleich vorweg: Das
gesetzliche Sicherungsniveau wird infolge der im Bundestag beschlossenen Schritte zurückgehen. Darüber haben wir in den letzten Monaten ständig diskutiert. Wir
haben diesen Weg eingeschlagen, weil wir so die Leistungsfähigkeit des deutschen Alterssicherungssystems
langfristig sichern und gleichzeitig den zukünftigen Anstieg der öffentlichen Alterssicherungsausgaben begrenzen wollen.
Resultat einer statistischen Verzerrung ist hingegen,
dass die deutschen Geringverdiener im OECD-weiten
Vergleich so schlecht wegkommen. Das neue von der
OECD zugrunde gelegte Durchschnittslohnkonzept führt
zu einem sehr hohen Durchschnittslohn für Deutschland,
der demzufolge im Jahr 2004 bei gut 41 000 Euro lag.
Das ist ein sehr hoher Wert. Nur zum Vergleich: Das Statistische Bundesamt hat entsprechend der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für 2004 einen Durchschnittslohn von rund 29 000 Euro ausgewiesen. Nach
der OECD-Definition wird von Geringverdienern pauschal bei 50 Prozent des Durchschnittslohns gesprochen.
Konkret bedeutet dies für Deutschland 20 523 Euro. Bei
diesem Durchschnittslohn überrascht es dann natürlich
nicht, dass ein Geringverdiener nach dem OECD-Konzept eine Rente oberhalb der Grundsicherung bezieht.
Aufgabe der Grundsicherung für Ältere ist es - das
wurde gerade richtig gesagt -, vor Armut zu schützen.
Dies kommt aufgrund des angenommenen hohen Durchschnittlohnes in der OECD-Studie nicht zum Tragen. Ergebnis ist eine niedrige Lohnersatzrate, die aber - das ist
zu betonen - nicht an der tatsächlichen Lohnstruktur unseres Landes geeicht ist.
Was nun die Gesamtbewertung durch die OECD-Studie betrifft, wird ausdrücklich bestätigt: Deutschland ist
mit seinen Reformen im internationalen Vergleich auf
dem notwendigen und auch richtigen Weg. Die eingeleiteten Maßnahmen sind die richtigen Antworten auf die
demografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen. So bescheinigt die OECD der Bundesregierung, mit
diesen Reformen die langfristige Tragfähigkeit der Renten zu sichern, und unterstützt die Entscheidung, mittelfristig schrittweise die Rente ab 67 einzuführen.
Die Kernziele dieser Politik sind klar definiert: Wir
wollen die Balance zwischen den Generationen gerecht
gestalten und das System der beitragsgestützten Alterssicherung auf ein stabiles Fundament stellen. Es gilt,
dass der Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung bis
2020 nicht über 20 Prozent und bis 2030 nicht über
22 Prozent steigen soll. Ich glaube auch nicht, dass wir
damit erfolglos sind, wenn ich mir anschaue, wie mittlerweile die Arbeitsplatzentwicklung in Deutschland ist.
({2})
Wir haben über 700 000 Arbeitslose weniger, und es gibt
mehr als 600 000 neue sozialversicherungspflichtige
Jobs. Das kann sich sehen lassen. Das stimmt uns zwar
nicht zufrieden, da ist zwar noch mehr zu tun, aber die
Entwicklung ist gut.
({3})
Das Sicherungsniveau vor Steuern soll im Jahr 2020
mindestens 46 Prozent und im Jahr 2030 mindestens
43 Prozent des früheren Einkommens betragen. Das
heißt: Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt zwar
das Kernstück der Altersvorsorge, das Sicherungsniveau
wird aber abnehmen. Um das Wohlstandsniveau im Alter halten zu können, ist es zunehmend notwendig, neben
die gesetzliche Rente die betriebliche und die private Altersvorsorge zu stellen.
Die Ergebnisse der OECD-Studie zeigen, dass das der
richtige Weg ist. Sie beschreibt sehr gut, dass das Ziel
mit einer Kombination von gesetzlicher Rente und staatlich geförderter Altersvorsorge erreicht werden kann.
Der Kurs, den wir fahren, wird damit eindrucksvoll bestätigt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die guten Ansätze zusätzlicher Altersvorsorge, die es in Deutschland
gibt, zu systematisieren und weiter auszubauen; denn
wir wollen sie zu einer sicheren Einnahmequelle der
Menschen im Alter machen.
Wir sind damit erfolgreich. Die Erfolge werden von
der OECD ausdrücklich anerkannt. Über 8 Millionen
Menschen haben mittlerweile einen Riester-Vertrag abgeschlossen. Die Zahl ist gerade in den letzten Jahren erheblich angestiegen, was die Attraktivität der einzelnen
Förderinstrumente dieses Konzeptes unterstreicht.
Wir arbeiten daran, dass das noch attraktiver wird:
Zum 1. Januar 2008 wollen wir die Kinderzulage von
185 Euro auf 300 Euro pro Jahr erhöhen. Wir wollen den
jungen Menschen, die ins Arbeitsleben einsteigen, einen
Sonderbonus in Höhe von 100 Euro für die spätere Altersvorsorge anbieten. Damit bieten wir einen Anreiz,
sich auch privat für das Alter abzusichern. Auch das
selbst genutzte Wohneigentum soll in die geförderte
Riester-Altersvorsorge integriert werden.
({4})
Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass der Ausbau der zusätzlichen Altersvorsorge noch nicht abgeschlossen ist. Altersarmut muss nicht sein. Wir wollen
sie ausschließen. Deswegen geht es darum, dass auch
das zweite Standbein der Altersvorsorge, die betriebliche
Rente, selbstverständlich wird. Wir brauchen einfachere
Angebote.
({5})
Sie müssen sicher sein, und bei einem Unternehmenswechsel muss die Rente garantiert sein. Die betriebliche
Altersvorsorge gehört zum System. Sie bietet nämlich
insbesondere die Möglichkeit, die Tarifbeschäftigten, die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den unteren
Einkommensbereichen einzubeziehen. Auch hierfür kann
die Riester-Förderung in Anspruch genommen werden.
Über 17 Millionen Beschäftigte haben mittlerweile Ansprüche auf eine betriebliche Rente.
Zur Renaissance des Systems der betrieblichen Vorsorge hat das Recht auf Entgeltumwandlung, die Befreiung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen in limitierter Höhe, beigetragen. Das soll - das ist der
derzeitige Stand - bis 2008 so bleiben. Dann soll diese
Regelung auslaufen. Wir prüfen angesichts des Erfolgs,
ob die Fortsetzung der bisherigen Regelung oder eine
gleichwertige Regelung mit anderer Methode sinnvoller
ist.
({6})
Neben der direkten Förderung wollen wir mit flankierenden Maßnahmen wie dem Informationsangebot „Altersvorsorge macht Schule“ über die Notwendigkeit der
zusätzlichen Altersvorsorge aufklären und damit die
weitere Verbreitung fördern.
Ich glaube, dass man sagen kann, dass es noch nie
eine Generation Älterer gab, die so gut und so zuverlässig abgesichert war wie diese. Wir wollen, dass das im
Kern so bleibt. Leider gibt es Rentnerinnen und Rentner
in Deutschland mit einem sehr geringen Alterseinkommen. Das resultiert aber aus geringen Verdiensten oder
einer Lebensarbeitszeit von deutlich weniger als 45 Jahren. Für diese Menschen haben wir mit der Grundsicherung eine garantierte materielle Absicherung geschaffen.
Es kommt darauf an, gute Einkommen zu erzielen,
die Beschäftigung gut zu organisieren und ein hohes
Wirtschaftswachstum zu schaffen. Das wird dazu beitragen, dass das Einkommen im Alter ausreichend ist. Klar
ist auch: Wir tun das Mögliche, damit die Altersvorsorge
auch in Zukunft allen Menschen nicht nur ein würdiges
Leben im Alter, sondern auch ein Altern mit Lebensqualität gewährleistet.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Schlagzeile lautete in der letzten Woche: OECD
warnt vor steigender Altersarmut. Das scheint auf den
ersten Blick wie gemacht für eine pauschale Skandalisierung durch die Linken. In der Tat, meine Damen und
Herren von der Linken, Sie haben dieser Verlockung
nicht widerstehen können. Verstehen Sie mich nicht
falsch. Natürlich steht die Politik in der Verantwortung,
Fehlentwicklungen zu beobachten und zu beheben. Aber
ich finde es unverantwortlich, Katastrophen auszurufen,
weil man nur die Überschrift, aber nicht den Text der
Studie gelesen hat. Das ist zu einfach.
({0})
Die Studie bewertet die letzten Rentenreformen - das
wurde gerade schon gesagt - sehr differenziert. Sie bescheinigt sogar, dass durch wichtige Strukturreformen in
Deutschland im Unterschied zu vielen anderen Staaten
die Nachhaltigkeit des Rentensystems verbessert wurde.
Auch die Anpassung der Rentenhöhe und die Erhöhung
des Renteneintrittalters werden als notwendige Schritte
hin zu einer nachhaltigen Rentenpolitik qualifiziert.
Aber, meine Damen und Herren von der Linken, so weit
lesen Sie nicht, das wollen Sie nicht wahrhaben. Darum
verschweigen Sie auch, dass in der Studie nur die gesetzliche Rente bewertet wurde und dass inklusive der staatlich geförderten Riesterrente Deutschland im OECDMittelfeld liegt. Anstatt die Menschen pauschal mit dem
Horrorszenario der Altersarmut zu erschrecken, sollten
Sie lieber differenziert hinschauen. Aber das tun Sie
nicht.
({1})
Denn die Studie macht deutlich, dass wir gezielter auf
die Situation der Geringverdienenden achten müssen.
({2})
Wir müssen feststellen, dass es eine zunehmende Zahl
von Beschäftigten gibt, deren Löhne so niedrig sind,
dass sie trotz einer Vollzeitstelle ergänzendes Arbeitslosengeld II benötigen. Das sind mindestens 1 Million
Menschen. Diese Gruppe ist schon während der Erwerbsphase von Armut betroffen und wird es im Rentenalter
wieder sein. Aber die Ursache dieses Problems sind
nicht die Rentenpolitik oder das Rentenniveau, die Ursache sind die niedrigen Löhne. Dass meine Gewerkschaft
Verdi für das Sicherheitspersonal im Deutschen Bundestag einen Tarif von 5,50 Euro abschließt, empfinde ich
persönlich als ein Armutszeugnis.
Darum brauchen wir in Deutschland endlich Mindestlöhne. Es ist wirklich an der Zeit, dass das unwürdige
Gezerre in der Koalition beendet wird.
({3})
Es gibt hier im Hause eine Mehrheit für dieses Vorhaben. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD:
Bekennen Sie Farbe, stimmen Sie am Donnerstag ihrem
ehemaligen Antrag zu. Wir jedenfalls werden das tun.
({4})
Doch zurück zur Rente. Es gibt eine große Gruppe,
bei der die Gefahr der Altersarmut wirklich besteht. Das
sind die Langzeitarbeitslosen. Anfang des Jahres hat die
Große Koalition ihnen kurzerhand ihre Rentenansprüche
halbiert. Viele werden es noch gar nicht gemerkt haben.
Damit nicht genug: Die Regierung will Langzeitarbeitslose zwingen, mit 63 Jahren vorzeitig die Rente zu beantragen, obwohl das Renteneintrittsalter gerade auf 67
Jahre erhöht wurde. Der Nebeneffekt für die Menschen:
Ein Abschlag von 14 Prozent muss in Kauf genommen
werden. Das heißt, jemand, der bei einem Renteneintritt
mit 67 Jahren 800 Euro Rente pro Monat bekäme, bekommt dann 688 Euro Rente. Das ist eine massive Rentenkürzung für eine Gruppe, die meist ohnehin nicht
über hohe Renten verfügt. Das finde ich ziemlich schäbig. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
SPD, so diskreditiert man das notwendige Vorhaben
„Rente mit 67“.
({5})
Aber es gibt ja allenthalben - gerade in der SPD - Absetzbewegungen von der beschlossenen Reform. Jetzt
will es niemand so beschlossen haben, wie es im Gesetzblatt steht. Der Parteivorsitzende Beck treibt den Populismus auf die Spitze. Er ist in Ruanda, tauft dort Gorillas
und fordert von dort erneut, individuelle Ausstiegslösungen von der Rente mit 67 entlang von Berufen. Zu so viel
Opportunismus muss man schon stehen.
({6})
- Das mit den Buschtrommeln kann gut sein.
Mit verantwortungsvoller Politik hat das wenig zu
tun. Wir Grünen sehen eine Möglichkeit zur Vermeidung
von Altersarmut. Wir wollen mehr Arbeitsplätze besonders für Frauen und ältere Beschäftigte, und zwar mit
existenzsichernden Löhnen. Wir wollen die Rentenbeiträge von Menschen mit kleinen Einkommen aus Steuermitteln auf bis zu 80 Prozent einer Durchschnittsrente
höherwerten. Wir wollen die gesetzliche Rentenversicherung in eine Erwerbstätigenversicherung umbauen,
die auch Selbstständigen offensteht, die über keine andere Altersvorsorge verfügen.
({7})
- Ja, das betrifft auch die Abgeordneten.
Dies sind gezielte Schritte, um Armut im Alter zu vermeiden. Mit Populismus wird man dieser Aufgabe nicht
gerecht.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Walter Riester, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte mich mit dem Begriff „Rentenniveau“ auf einer Ebene beschäftigen, die für die Menschen, wie ich glaube, besser nachvollziehbar ist. Die
Menschen vergleichen - ich denke, zu Recht -, wie sich
die Höhe der Löhne und Gehälter und die Höhe der Renten entwickelt. In den letzten acht Jahren haben sich die
Löhne und Gehälter im Schnitt um 1,1 Prozent erhöht,
die Renten um 0,9 Prozent; das bedaure ich als Gewerkschafter und als Sozial- und Tarifpolitiker sehr. Wenn
man mitberücksichtigt, dass die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegenden Verdienste überproportional
gestiegen sind, ist festzustellen, dass bei Arbeitern, Angestellten und Rentnern in etwa die gleiche Entwicklung
stattgefunden hat, wenn auch zugegebenermaßen, was
mich berührt, auf niedrigem Niveau.
Es geht um die Frage: Wie gewährleistet die Regierung, dass nicht auf breiter Front Altersarmut entsteht?
In den letzten acht Jahren, in denen ich in Regierung und
Parlament Verantwortung hatte, wurden zu diesem
Zweck mehrere Schritte, teilweise auch von mir selbst,
eingeleitet.
Der erste Schritt: Vor dem Jahr 2002 gab es Millionen
Menschen, die Kleinstrenten bezogen und häufig Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe hatten. Viele empfanden es als erniedrigend, zum Sozialamt gehen und die
Lebensverhältnisse ihrer Kinder offenlegen zu müssen.
Das haben wir geändert. Im Jahre 2002 wurde die bedarfsorientierte Grundsicherung eingeführt. Leider hat
die PDS-Fraktion damals dagegengestimmt.
({0})
Der zweite Schritt - das hat mich immer sehr berührt -:
Bis zum Jahre 2004 gab es 2,95 Millionen Menschen,
die Sozialhilfe bezogen haben. Diese Menschen haben
keine Einzahlungen in die Rentenversicherung und im
Übrigen ganz überwiegend auch keine Einzahlungen in
die Krankenversicherung getätigt. Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt haben wir uns dieser Menschen angenommen. Jetzt werden
für jeden von ihnen - das wird in der Öffentlichkeit viel
zu wenig thematisiert - monatliche Einzahlungen in die
Rentenversicherung vorgenommen. Außerdem ist jetzt
auch jeder krankenversichert.
({1})
- Das ist richtig. Leider ist es nur noch die Hälfte. Aber
das ist immer noch wesentlich mehr als vorher. Jetzt
wird für diese Menschen in die Rentenversicherung eingezahlt. ({2})
Das waren sehr wichtige Schritte. Leider hat die PDS
aber schon damals dagegengestimmt.
In dieser Debatte wurde vonseiten der Linksfraktion
schon häufig die Frage gestellt: Wie soll sich jemand,
der wenig verdient, die Riesterrente leisten? Diese Argumentation, die ich gut nachvollziehen kann, wird von
verschiedenen Seiten vorgetragen. Auch dieses Thema
haben wir in unserem Gesetz aufgegriffen; das ist leider
noch viel zu wenig bekannt. Denn es gibt den sehr
schwierig erscheinenden und leider sehr häufig vorkommenden Fall, dass Menschen überhaupt nichts verdienen, sondern nur Lohnersatzleistungen nach Hartz IV
bekommen.
({3})
Wie stellt sich die Situation in einer Familie mit zwei
Kindern dar? In unserem Gesetz haben wir festgelegt,
dass ein Eigenbeitrag in Höhe von 60 Euro im Jahr - ich
betone: im Jahr -, also von 5 Euro im Monat, ausreicht,
um die gesamte Förderleistung zu bekommen. In diesem
Beispiel wären das für den Sparer und für den Ehegatten
jeweils 114 Euro, für die beiden Kinder jeweils 138 Euro,
insgesamt also 504 Euro pro Monat, und das bei einer
Eigenleistung von 60 Euro. Dieser Sockelbetrag von
60 Euro gilt auch für alleinerziehende Mütter mit ein,
zwei oder drei Kindern. Das war ein sehr wichtiger
Schritt.
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich würde gerne die Jobcenter und die Bundesagentur für Arbeit anweisen, dass
sie jedem Antragsteller folgende Alternative anbieten:
Entweder bekommst du jeden Monat deine 345 Euro
plus Mietkosten und Nebenkosten, oder du gibst uns ein
zweites Konto, ein Altersvorsorgekonto, an. Dann werden auf dein Girokonto monatlich nicht 345 Euro, sondern 340 Euro überwiesen, und einmal im Jahr 60 Euro
auf dein Altersvorsorgekonto zusätzlich. Im Fall der Familie mit zwei Kindern, den ich gerade erwähnt habe,
kämen 504 Euro als Zulage hinzu. Wenn bekannt wäre,
was wir getan haben, um insbesondere Geringstverdienern diese Möglichkeit zu eröffnen, dann wären wir, wie
ich glaube, schon ein großes Stück weiter.
({4})
- Was, wenn sie dann Arbeit bekommen? Diese Frage
kann ich Ihnen beantworten. In unserem Gesetz ist folgende Regelung vorgesehen: Wenn sie Arbeit bekommen, beträgt die Bezugsgröße trotz höherer Verdienste
für ein weiteres Jahr 60 Euro. Das muss man wissen
- das ist auch für uns Abgeordnete wichtig -, und davon
müssen wir die Menschen in Kenntnis setzen. Ich habe
zurzeit die Chance, viele Veranstaltungen zu besuchen,
und stelle das in den Mittelpunkt, weil wir das den Menschen sagen müssen. Ich kann die Menschen ja verstehen, und ich kann auch Ihre Zwischenrufe verstehen.
Aber wer das Gesetz kennt, sollte auf die Möglichkeiten
hinweisen; dann trägt er dazu bei, aufzuzeigen, was wir
politisch gegen Altersarmut gemacht haben. Wir dürfen
hier nicht populistisch sein.
Bei einem anderen Problem mache ich mir trotzdem
große Sorgen und sehe noch keine Lösung: Heute hat die
Generation der Rentner im Osten unseres Landes aufgrund der hohen Erwerbstätigkeit in der DDR glücklicherweise relativ hohe Renten. Das wird sich völlig umkehren bei den Menschen, die überproportional von
Arbeitslosigkeit betroffen sind und relativ gesehen weniger verdienen. Das werden die großen Problemstellungen sein. Es ist wichtig, sich darüber zu unterhalten. Ich
will aber auch sagen: Dieses Problem kann die Rentenversicherung nicht lösen. Sie haben völlig recht: Das
Problem liegt beim Arbeitsmarkt. Nach der Illusion, die
mein Vorgänger im Amt vertreten hat - die SozialversiWalter Riester
cherungsrente könne den Lebensstandard sichern -, ist
auch mit der Illusion aufzuräumen, die Rentenversicherung könne die Probleme des Arbeitsmarktes später ausgleichen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen,
bitte.
({0})
Ich bin am Schluss. - Es war mir wichtig, über diese
Punkte zu diskutieren und mit diesen Illusionen aufzuräumen.
Herzlichen Dank für die Verlängerung der Redezeit „Lebensarbeitszeit“ hätte ich fast gesagt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir könnten hier
einmal darüber reden, ob wir eine parlamentarische Lebensredezeit einführen und über deren Verteilung auf die
Sitzungen.
({0})
Ich erteile als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Aktuelle Stunde ist letztendlich ein Austausch
über die zukünftige Rentenpolitik, weniger über die
OECD-Studie. Die Linken versuchen natürlich, der Öffentlichkeit mit dieser OECD-Studie ein verzerrtes Bild
zu zeichnen,
({0})
nämlich dass unser Rentensystem unsozial sei, dass es
vor allen Dingen Geringverdienern nicht die nötige Unterstützung gebe, dass das Rentenniveau in Deutschland
nicht angemessen sei. Dies ist letztendlich der populistische Ansatz von WASG und PDS gemeinsam: die Menschen zu verunsichern. Das ist natürlich unangebracht.
Besonders im Hinblick auf die Menschen im Osten unseres Landes können wir feststellen, dass das deutsche
Rentensystem hervorragende Leistungen erbringt, nämlich eine großartige Alterssicherung, die sich die Menschen in der DDR nicht hätten erträumen können; das
muss man doch feststellen.
({1})
Meine Vorredner haben schon in vielfältiger Weise
dargelegt, dass wir in der Rentenpolitik ob der demografischen Herausforderungen und der damit einhergehenden finanziellen Untermauerung und Sicherstellung der
Leistungen für die Rentnerinnen und Rentner auf dem
richtigen Weg sind. Dies ist, glaube ich, eine der wichtigsten Botschaften: Die Rentnerinnen und Rentner können sich auf das deutsche Rentenversicherungssystem
verlassen - bei allen Schwierigkeiten und bei allen Herausforderungen, die die demografische Entwicklung
nach sich zieht.
Internationale Vergleiche haben ihre Krux: 30 unterschiedliche Altersversorgungssysteme lassen sich nie
auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Der Durchschnittsverdienst in Deutschland - der Herr Staatssekretär hat das bereits ausgeführt - ist in der OECD-Studie
mit knapp 41 000 Euro zu hoch angesetzt worden. Bei
einer Beschäftigungsquote von 50 Prozent wird somit
unterstellt, dass jeder durchschnittlich 20 000 Euro verdient; doch das ist nicht so. Ferner kommt - wie der frühere Arbeitsminister Riester bereits ausgeführt hat - die
Grundsicherung in dieser Studie nicht zum Tragen. So
kommt man natürlich auf einen niedrigen Versorgungsgrad. Das liegt in der Natur der Sache, wird der großartigen und guten Versorgung der Menschen letztendlich
aber in keiner Weise gerecht. Das muss man hier auch
verdeutlichen.
Ohne dem griechischen Rentenversicherungssystem
und den griechischen Menschen nahetreten zu wollen
- 95 Prozent ihres letzten Bruttoverdienstes sollen durch
die Rentenleistung angeblich gesichert sein -, glaube
ich, dass es sich als deutscher Rentner in Griechenland
besser lebt als als griechischer Rentner. Das möchte ich
hier auch zum Ausdruck bringen.
({2})
Wir müssen hier durchaus verdeutlichen, dass wir vor
allen Dingen die private Vorsorge stärken. Wie hier
vorhin auch schon ausgeführt worden ist, bedeutet die
Riesterrente eben, dass sich vor allen Dingen auch die
Geringverdiener in unserem Land eine zusätzliche kapitalgedeckte Vorsorge zu minimalen Beiträgen leisten
können. 5 Euro im Monat müssen auch für einen Empfänger von ALG II leistbar sein, um die Höchstversorgung bzw. die Höchstzuschüsse des Staates in Anspruch
nehmen zu können. Meines Erachtens muss man diese
Einteilung unter finanziellen Gesichtspunkten für sich
selbst vornehmen.
Jetzt werden sehr viele Riesterverträge abgeschlossen. Dies ist mit ein Beweis dafür, dass die Anfangsschwierigkeiten des Systems, das sicherlich auch etwas
verbürokratisiert war, überwunden worden sind. Dementsprechend kommen diese Verträge heute bei den
Menschen an.
Zur betrieblichen Altersversorgung und zur Entgeltumwandlung, die auch der Kollege Kolb angesprochen
hat:
({3})
Wir stehen natürlich zur Stärkung der betrieblichen Altersversorgung - vor allen Dingen über Tarifverträge.
Alle Tarifparteien sind aufgefordert, diese Systeme verstärkt mit auszubauen.
({4})
Darüber hinaus ist sicherlich auch darüber nachzudenken, wie man die Entgeltumwandlung zukünftig gestaltet. Die Steuerfreistellung der Beiträge ist aber sicher - ({5})
- Ich weiß schon, dass Sie auf die Sozialabgaben abzielen wollen. Dies ist aber eine Frage, die man auch unter
haushalterischen Gesichtspunkten und unter dem Gesichtspunkt der Finanzausstattung der Rentenversicherungssysteme bzw. der Sozialversicherungssysteme betrachten muss.
({6})
Wir werden diese Frage hier sehr eingehend prüfen.
Im Gesetz steht, dass es eine Anschubfinanzierung für
die Entgeltumwandlung gegeben hat. Dies ist meines Erachtens richtig und vortrefflich gelungen. Das bedeutet
eine Verbreiterung der Entgeltumwandlung in hohem
Maße, wodurch ein besonderer Vorteil hinsichtlich der
Kapitaldeckung erreicht wurde.
Wir werden diese Frage sehr sachgerecht prüfen und
dementsprechend auch eine sachgerechte Entscheidung
herbeiführen.
Damit besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Kollegin Dagmar Enkelmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
im Bundestag schon einmal einen Politiker erlebt, der
am Rednerpult stand - das war damals noch in Bonn und sagte: Die Rente ist sicher. - Er hat dann auch noch
Plakate geklebt.
({0})
Er sieht das heute ein bisschen anders. Ich denke, von
daher sind Zweifel durchaus angebracht.
({1})
Meine Damen und Herren, in dieser Debatte mogeln
Sie sich um eine Kernforderung in der jüngsten OECDStudie herum, nämlich um die Aufforderung an die Bundesrepublik, dass Deutschland der Rentenentwicklung
bei Geringverdienern besondere Aufmerksamkeit widmen soll.
({2})
Genau an dieser Stelle steht Deutschland auf dem letzten
Platz der 30 verglichenen Staaten.
({3})
Es war wenig davon zu hören, was Sie dagegen tun wollen.
Ich frage mich, wie blind man eigentlich sein muss,
um nicht zu sehen, was so offenkundig ist. Ich denke,
man braucht nicht erst die OECD-Studie, um zu wissen,
dass es in diesem reichen Land Altersarmut gibt, dass es
also längst Menschen gibt, die in Armut leben. Das ist in
einem so reichen Land wie der Bundesrepublik ein
Skandal.
({4})
Wer mit offenen Augen durch unser Land geht, der
sieht das auch. Die Lebensmitteltafeln berichten zum
Beispiel darüber, dass eben nicht nur die Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger und die Alleinerziehenden,
sondern zunehmend auch Ältere zu den Tafeln kommen
und um Hilfe bitten. Die Wohlfahrtsverbände machen
darauf aufmerksam, dass dieses Problem deutlich zunimmt. Als Politiker sind wir an dieser Stelle gefordert,
über die Ursachen der Zunahme von Altersarmut zu reden. Vor allen Dingen müssen wir schnellstens gegensteuern.
({5})
Eine Studie des „Mitteldeutschen Rundfunks“ hat vor
kurzem unter anderem die Alterseinkommen in Ost und
West verglichen und ist zu dem Ergebnis gekommen,
dass die Alterseinkommen im Osten etwa 20 Prozent unter denen im Westen liegen. So viel zur Legende vom
reichen Ostrentner!
({6})
Wo liegen die Gründe? Ganz offensichtlich funktioniert das traditionelle Rentenmodell vor allen Dingen im
Osten nicht. Zwei Säulen greifen nicht, die Betriebsrente
und die private Vorsorge. Eine private Vorsorge ist im
Osten kaum vorhanden. Auch sollten wir nicht vergessen, dass jemand, der arbeitslos wird und in Hartz IV
fällt, zuerst seine private Vorsorge aufzubrauchen hat,
bevor er überhaupt soziale Leistungen bekommen kann.
Außerdem führen zunehmende Rentenabschläge zu massiven Rentenkürzungen. Immerhin gehen inzwischen
vier von zehn Beschäftigten mit Einbußen vorzeitig in
Rente.
Das Problem Altersarmut ist nicht nur ein Problem
des Ostens; es ist zunehmend auch ein Problem im Westen. Auch im Westen ist eine dramatische Zunahme der
Altersarmut zu verzeichnen. Die Kollegin von den Grünen hat auf die dramatische Zunahme im Niedriglohnbereich, also bei den Mini- und Midijobs, aufmerksam gemacht. Das ist eine der Ursachen für die deutliche
Zunahme der Altersarmut. Auch im Westen sind die
Säulen Betriebsrente und private Vorsorge längst brüchig geworden. Nur noch etwa 40 Prozent der Beschäftigten sind überhaupt betrieblich rentenversichert. Vor
kurzem war zu lesen: Müntefering sägt an Betriebsrente.
Da ging es um die Pläne, die Sie angesprochen haben,
Herr Kolb.
({7})
Also auch die Säule Betriebsrente wird weiter abgetragen. Wo funktionieren denn diese drei Säulen am Ende
noch?
({8})
Ganz klar ist eines geworden: Die Bundesregierung
hat die Dramatik der Situation nicht erfasst. Nehmen wir
einmal die Rentenanpassung dieses Jahres, die 0,54 Prozent ausmacht: Die Rentner jubeln und verneigen sich
voller Dankbarkeit vor der Bundesregierung.
({9})
Diese 0,54 Prozent gleichen natürlich nicht die gestiegenen Lebenshaltungskosten aus. Sie sind auch kein Ausgleich für die gestiegenen Beiträge zur Krankenversicherung. Aber endlich, nach drei Nullrunden, gibt es den
lang ersehnten Zuschlag. 0,5 Prozent mehr zu haben
oder nicht zu haben ist schon eine ganze Menge; bei dem
einen oder anderen sind es sogar 2 Euro oder mehr.
({10})
Meine Damen und Herren, so ist der Altersarmut
nicht beizukommen. Es ist zutiefst ungerecht, wenn
Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, im Alter
beim Sozialamt betteln müssen.
({11})
Wir fordern von der Bundesregierung ein Konzept für
eine nachhaltige Verhinderung von Altersarmut und ein
Konzept für eine existenzsichernde Rente. Dies bedeutet
eben nicht nur, genug zu essen und zu trinken zu haben;
ein Leben in Würde im Alter bedeutet auch, an Kultur
teilhaben zu können, sich einmal ein gutes Buch leisten
zu können und an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Dazu gehört also schon ein bisschen mehr.
Wir wollen eine Erwerbstätigenversicherung, in die
alle einzahlen. Wir wollen eine Verbreiterung der Basis
für die Rentenversicherung. Wir wollen, dass künftig
Abgeordnete des Europaparlaments, des Bundestags und
von Landtagen in die gesetzliche Rentenversicherung
einzahlen.
({12})
Vor allen Dingen wollen wir den Ausbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Das ist eine wichtige Grundlage für die Rentenversicherung. Schließlich
verlangen wir von der Bundesregierung endlich einen
Fahrplan für die Angleichung der Renten im Osten an
die im Westen.
Danke.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Gregor Amann, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Schon der Titel dieser Aktuellen Stunde, „Drohende Altersarmut … aufgrund des zu geringen Rentenniveaus“ ist ein Zerrbild der Realität.
({0})
Dabei eignet sich dieses Thema nun gerade nicht zur Panikmache. Ja, es gibt die Studie und die Warnung der
OECD, die auf ein sinkendes Rentenniveau in Deutschland aufmerksam macht, und wir sollten sie auch ernst
nehmen. Aber gerade sozialdemokratische Regierungspolitik hat in den vergangenen Jahren viel dafür getan,
um Altersarmut auch zukünftig zu verhindern. Der Kollege Riester hat vorhin schon etwas dazu gesagt.
Bevor ich auf zukünftige Entwicklungen eingehe,
werde ich den Stand von heute darstellen: Die deutsche
Alterssicherungspolitik, beginnend mit der Rentenreform
von 1957, ist eine Erfolgsgeschichte. Die Überwindung
der Altersarmut ist eine der großen Errungenschaften unseres Sozialstaates. Nach einem Bericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2006 liegt das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen der über 65-Jährigen unter
Einbeziehung aller Einkommensquellen bei Ehepaaren
im Westen bei 2 209 Euro, im Osten bei 1 938 Euro. Bei
Alleinstehenden ist es niedriger, und das niedrigste Einkommen - das will ich hier nicht verschweigen - haben
geschiedene Frauen im Osten: 827 Euro im Monat.
Nach dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2005 ist das Armutsrisiko
älterer Menschen in Deutschland deutlich unterdurchschnittlich. Wenn wir über die Entwicklung der Alterssicherung in Deutschland sprechen, dann müssen wir
uns auch daran erinnern, dass das niedrigste Rentenniveau seinerzeit in der DDR bestand: 1989 betrug die
Durchschnittsrente 450 Mark.
({1})
Wenn also die Intention der Fraktion, die diese Aktuelle
Stunde beantragt hat, war, uns davor zu warnen, auf das
Rentenniveau der DDR abzusinken, dann bin ich ganz
bei ihr.
({2})
Jetzt aber zu den Warnungen der OECD-Studie: Ja,
das Rentenniveau wird in den nächsten Jahrzehnten absinken. Es wäre unredlich, dies nicht zu sagen. Aber die
OECD lobte auch ausdrücklich - das wurde schon wiederholt gesagt - die Anhebung des Rentenalters auf
67 Jahre. Was muss getan werden, um das Absinken des
Rentenniveaus abzubremsen und Altersarmut zu verhindern? Aus meiner Sicht sind dies die folgenden Punkte:
Erstens. Rentenniveau und Löhne sind aneinander
gekoppelt. Die Förderung von Wachstum und Beschäftigung ist also auch Rentenpolitik. Hierbei ist die Bundesregierung auf einem guten Weg. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt seit Monaten kontinuierlich, und die Zahl der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten steigt. An
dieser Stelle halte ich es auch für sehr wichtig, auf die
Einführung von Mindestlöhnen als Lohnschranke nach
unten hinzuweisen. Niedrige Löhne bedeuten immer
auch niedrige Renten.
({3})
An dieser Stelle wünsche ich den Kollegen von der
IG BAU viel Erfolg bei den laufenden Tarifverhandlungen.
({4})
Zweitens. Die größte Bedrohung unseres Rentensystems ist der demografische Wandel. Daher ist eine Familienpolitik notwendig, die es den Menschen erleichtert,
Kinder zu bekommen. Dazu haben wir im vergangenen
Jahr das Elterngeld eingeführt, und wir treiben den Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen massiv voran.
({5})
Drittens. Wir müssen die Beschäftigungsquote Älterer
anheben und die Frühverrentung zurückdrängen; ich erinnere an die Initiative „50 plus“ der Bundesregierung.
Viertens. Wir brauchen weiterhin eine Förderung der
privaten und der betrieblichen Altersvorsorge als Ergänzung und nicht anstelle der gesetzlichen Rente. Die
Riesterrente ist ein echtes Erfolgsmodell; das sieht übrigens auch die OECD-Studie so.
Fünftens. Wir werden zunehmend darüber nachdenken müssen, wie wir auch Menschen mit Brüchen in
der Erwerbsbiografie im Alter absichern können. Der
Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund,
Dr. Herbert Rische, regte unlängst an, darüber nachzudenken, ob und gegebenenfalls wie wir Selbstständige
mit niedrigem Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen können.
Sechstens. Die OECD kritisierte:
Deutschland sollte der Rentenentwicklung für Geringverdiener besondere Aufmerksamkeit schenken.
Staatssekretär Thönnes hat bereits etwas über die dazu
angewandten statistischen Methoden gesagt, aber ich
halte es dennoch für sinnvoll, über eine Beitragsformel
nachzudenken, die Geringverdiener berücksichtigt, indem für sie die lineare Kopplung der Renten an das Einkommen möglicherweise gelockert wird.
Meine Damen und Herren, Deutschland steht international bei dem Thema Altersarmut sehr gut da. Ich bin
überzeugt: Das muss sich auch in Zukunft nicht ändern,
wenn wir jetzt die richtigen Weichen stellen.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
den Bericht der OECD mit dem Titel „Pensions at a
Glance“ mitgebracht, über den wir heute debattieren. Er
hat über 200 Seiten und ist in Englisch geschrieben. Ich
bin des Englischen mächtig und weiß seit gestern, dass
es heute diese Aktuelle Stunde gibt; allerdings habe ich
es nicht geschafft, ihn ganz zu lesen.
Ehrlich gesagt finde ich, Frau Enkelmann, dass das
Thema nicht für eine Aktuelle Stunde geeignet ist. In der
Studie geht es darum, wie es am Ende einem heute 20-Jährigen ergehen wird, wenn er 45 Jahre in die Rentenkasse
eingezahlt hat. Das ist eine Langzeitprognose. Was das
mit einer Aktuellen Stunde zu tun hat, wie Sie sie ständig beantragen, verstehe ich nicht.
({0})
Da Sie uns in einer von Ihnen beantragten Aktuellen
Stunde nicht nur Zeit stehlen, sondern abgesehen von Ihren eigenen beiden Rednern die Debatte als Zuhörer verfolgen müssen, habe ich mich bereit erklärt, heute über
die blöden Vorschläge zu reden, die Sie ständig machen.
({1})
In der „Financial Times Deutschland“ vom 8. Juni
- so alt ist die Studie - ist ein Artikel mit dem Titel
„Junge müssen sich auf Altersarmut einstellen“ erschienen. Sie haben das Wort „Armut“ gelesen und sofort gedacht: Das ist ein Thema für uns; dazu müssen wir wieder etwas machen, weil wir schließlich im sozialen
Bereich Helden sind. Das können Sie aber in Wirklichkeit nie werden.
In dem Artikel ist weiter zu lesen: „Lob für Fortschritte bei Rente mit 67 und privater Vorsorge“. Sie haben versäumt, das in die Aktuelle Stunde mit einzubauen; denn Sie wollen nur bestimmte Elemente. Sie
wollen Woche für Woche mit Hau-drauf-Rhetorik als
linke Düstere-Wolken-Schieber im Parlament auftreten
und den Leuten klarmachen: Euch allen geht es schlecht,
und wir sind die Retter der Menschheit. Das glaubt Ihnen langsam kein Mensch mehr, weil alles, was Sie vorschlagen, vorne und hinten nicht mehr zusammenpasst
und auch nicht finanzierbar ist.
({2})
- Was die Wahlergebnisse angeht, weiß ich nur, dass Sie
nicht in ausreichender Stärke vertreten sind, um die Regierung stellen zu können. Ich glaube auch nicht, dass
sich das wesentlich ändern wird,
({3})
weil die Leute merken, dass Sie populistisch auftreten
und jede Chance wahrnehmen, um einen Unsinn zu verbreiten, den draußen allmählich niemand mehr glaubt.
({4})
- Herr Ernst, wir können gerne miteinander über Rhetorik reden. Ich weiß, dass auch Sie gut zuschlagen können. Jedenfalls haben die Mitarbeiter in meinem Büro
keine solchen Probleme wie die Mitarbeiter in Ihrem
Büro. Das Reden und Handeln geht bei Ihnen ein wenig
auseinander.
({5})
- Sie können jetzt nicht mehr antworten. Sie können
keine Zwischenfragen mehr stellen und keine Kurzintervention machen. Sie müssen jetzt zuhören oder können
sich allenfalls in Zwischenrufen äußern.
Können Sie sich noch erinnern, wie hoch die Renten
in der DDR waren?
({6})
Ich stelle die Frage deshalb, weil Sie die zweite oder
dritte Verwandlung vornehmen.
({7})
Vor der Linken, die sich jetzt bildet, gab es die PDS. Sie
kommen eindeutig aus der SED, Frau Enkelmann. Damals gab es ein System, zu dem Sie, fürchte ich, wieder
zurückkehren möchten. Das werden wir aber mit breiter
Mehrheit zu verhindern wissen.
({8})
Können Sie sich noch erinnern, was mit den Rentnerinnen und Rentnern der ehemaligen DDR passiert ist,
als es zur Wiedervereinigung kam? Wir haben sie so behandelt, als hätten sie in unser System eingezahlt. Wir
hatten damals für die Rentnerinnen und Rentner in den
neuen Bundesländern eine Situation geschaffen, die in
Westdeutschland zum Teil schwer vermittelbar war. Ich
hatte das als westdeutscher Politiker damals ständig zu
vertreten.
({9})
- Es geht nicht um Ihren Dank; es ist vielmehr eine Tatsache, die Sie nicht gerne hören. Ihr Rentenniveau hätte
die Leute nicht dorthin gebracht, wo sie heute sind. Auch
das ist eine Tatsache.
({10})
Wenn Sie über Altersarmut sprechen, Frau
Enkelmann, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass
zurzeit nur 2 Prozent der über 65-Jährigen zusätzliche
Unterstützung des Staates in Form von Sozialhilfe bekommen. Es gilt nach wie vor, dass die Rente im Alter
Sicherheit bieten muss. Wir sind uns alle außer Ihnen,
die das alles nicht verstehen - Sie haben mit Demografie
nichts zu tun und tun so, als gäbe es das alles nicht -, einig, dass wir auf Dauer gesehen einen Mix aus gesetzlicher und betrieblicher Rente und privater Vorsorge brauchen. Herr Kollege Riester, der mit seinem Namen ein
bisschen mehr Glück gehabt hat als der Kollege Hartz,
hat vorhin darauf hingewiesen.
({11})
Die Riesterrente entwickelt sich gut, weil die Menschen verstanden haben, dass sie zusätzliche private oder
betriebliche Vorsorge betreiben müssen, wenn sie für ihr
Alter vorsorgen wollen. Aus der Studie geht klar hervor,
dass wir Vorreiter in der privaten zusätzlichen Vorsorge
sind und dass wir auf einem guten Weg sind, was die
Rente mit 67 angeht.
Wir haben viel Zeit, um über all das zu reden, Frau
Enkelmann. Denn wir reden über die Entwicklung in den
nächsten 45 Jahren. Ich gehöre dann sicherlich nicht
mehr dem Parlament an. In der Zwischenzeit werden die
Kollegen weitere Probleme zu bewältigen haben. Sie
werden es nicht alleine schaffen.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Spanier,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wurde von Herrn Meckelburg schon angesprochen: Wir
reden über eine Studie, die offenbar viele - ich nehme
an, dass das nicht nur bei Herrn Meckelburg der Fall ist nicht gelesen haben. Sie wird im Grunde nur als Vorwand genommen, um hier über drohende Altersarmut zu
sprechen. Ich finde es bedauerlich, dass man sich mit
diesem Thema, das ich persönlich für sehr wichtig erachte, so schludrig befasst.
({0})
Es ist gar nicht notwendig, mit irgendwelchen Taschenspielertricks und Zahlentricks die Wirklichkeit zu
verzerren.
({1})
Nicht nur in den Berichten der Bundesregierung, sondern beispielsweise auch im jüngsten Sozialbericht des
Landes Nordrhein-Westfalen, ebenfalls ein Armuts- und
Reichtumsbericht, wird festgestellt, dass das Armutsrisiko bei den über 65-Jährigen unterdurchschnittlich ist
und in den letzten Jahren sogar abgenommen hat. Das ist
schlicht ein Fakt. Dennoch gibt es in unserem Land Armut, auch Altersarmut. Aber wir können froh und glücklich sein, dass die Entwicklung in dieser Altersgruppe
positiv ist.
({2})
Wir müssen - das haben Sie wie ein Taschenspieler
bewusst im Unklaren gelassen - zwischen den Leistungen und dem Alterseinkommen aus der gesetzlichen
Rentenversicherung einerseits und dem tatsächlichen Alterseinkommen andererseits unterscheiden. Hier gibt es
große Unterschiede. Zu diesem Schluss kommt man,
wenn man zum Beispiel die Renten in den neuen Bundesländern mit denen im Westen Deutschlands vergleicht.
({3})
- Eben. Dann dürfen Sie dies auch nicht tun. Sie haben
aber zwischen den Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung und dem Alterseinkommen - das ist
umfassender - nicht unterschieden.
({4})
Es geht um die tatsächliche Altersversorgung und um
die künftige Altersversorgung. Ich möchte Herrn Walter
Riester beipflichten: Sorgen muss man sich schon machen, insbesondere in den neuen Bundesländern; denn
dort gehen nun viele in Rente, die natürlich seit 1989
dauerhaft arbeitslos sind.
({5})
Dort ist künftig konsequenterweise mit deutlich niedrigeren Renten zu rechnen. Es ist richtig, dass die steigende Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie
das Anwachsen von Niedriglohnsektor und Langzeitarbeitslosigkeit - diese geht zwar glücklicherweise zurück, ist aber noch immer auf hohem Niveau - Auswirkungen haben werden. Deswegen ist die Sorge darüber,
wie die Altersversorgung in 20, 30 Jahren aussehen
wird, durchaus berechtigt. Walter Riester hat recht, dass
die Riesterrente auch den Beziehern kleiner Einkommen
zugutekommen kann. Diese müssen diese Form der Altersvorsorge auch nutzen. Wenn man aber sieht, wie viel
dabei für Geringverdiener im Alter herauskommt, muss
man zugeben, dass das nicht die Lösung des Problems
ist.
Da wir uns alle einig sind, künftig Altersarmut zu verhindern, halte ich es für entscheidend, dass wir die
Instrumente, die wir bereits anwenden, weiter ausbauen.
Es ist wichtig, die Beschäftigungsquote bei Frauen und
Älteren - ich möchte betonen: besonders die Beschäftigungsquote bei älteren Frauen - deutlich anzuheben;
denn eine kontinuierliche, langjährige sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist die wichtigste Grundlage für eine ordentliche Altersversorgung. Hier machen
wir Fortschritte.
({6})
Ich persönlich meine aber, dass neben der Rente mit 67
- diese wird in der OECD-Studie zu Recht gelobt - weitere flankierende Maßnahmen erfolgen müssen. Herr
Kolb hat vorhin Hinweise gegeben, die mich persönlich
durchaus angesprochen haben. Ein flexibler Übergang in
die Rente wäre sicherlich ein entscheidendes Mittel.
Lassen Sie mich zum Schluss zu einem Punkt kommen, von dem ich glaube, dass wir mit ihm einen kleinen
Beitrag leisten können, um die Alterssicherung auch bei
den Menschen zu stabilisieren, die über ein geringes Arbeitseinkommen verfügen: Das ist der gesetzliche Mindestlohn. Ich hoffe, dass wir in der Koalition eine gute
Lösung finden werden. Ich weiß, wie schwierig das ist.
Ich ärgere mich deswegen über das Mätzchen am Donnerstag. Ich bin ein überzeugter Vertreter des gesetzlichen Mindestlohns.
({7})
Dennoch werde ich mit gutem Gewissen gegenüber meinen Wählerinnen und Wählern am Donnerstag mit Nein
stimmen; denn die Sache ist mir viel zu wichtig, um damit politische Mätzchen im Deutschen Bundestag zu
machen. Das will ich Ihnen deutlich sagen.
({8})
Es sei mir noch gestattet, Herr Präsident, zum Schluss
einen kleinen Hinweis in Richtung CSU zu geben.
({9})
Ganz kurz.
Ich möchte Sie an die bayerische Verfassung erinnern.
In Art. 166 Abs. 2 heißt es:
Jedermann hat das Recht, sich durch Arbeit eine
auskömmliche Existenz zu schaffen.
In Art. 169 Abs. 1 steht, wie das zu erreichen sei. Zitat:
Für jeden Berufszweig können Mindestlöhne festgesetzt werden, die dem Arbeitnehmer eine den jeweiligen kulturellen Verhältnissen entsprechende
Mindestlebenshaltung für sich und seine Familie ermöglichen.
Also, werfen Sie noch einmal einen Blick in die bayerische Verfassung. Dann können wir gemeinsam hier den
Mindestlohn beschließen.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Franz Romer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Von einer drohenden Altersarmut in
Deutschland, wie die Linksfraktion dramatisiert, kann
keine Rede sein.
({0})
Wovon sprechen wir überhaupt? Was ist Altersarmut?
({1})
Man könnte sagen: Jeder neue Millionär steigert das
Durchschnittseinkommen, und schon ist die Anzahl der
Menschen, die per Definition in Armut leben, höher. Klar
ist - darauf wird von uns seit Jahren hingewiesen -, dass
wir eine stärkere private und betriebliche Altersvorsorge
brauchen. Nur wenn flächendeckend kapitalgedeckte
Anteile zur gesetzlichen Rentenversicherung hinzukommen, können wir langfristig das heutige Rentenniveau erhalten und sichergehen, dass es auch in Zukunft keine
Altersarmut geben wird. Das Versorgungsniveau wird
also langfristig nicht geringer werden. Die Anteile der
gesetzlichen, betrieblichen und privaten Rente werden
nur unterschiedlich sein. Altersarmut ist damit nicht vorprogrammiert.
Auch die Autoren des OECD-Berichts bestätigen uns,
dass die langfristige Anhebung des Rentenalters auf
67 Jahre notwendig und richtig war. Diese Maßnahme
verringert den Druck, später Anpassungen am Rentenniveau vorzunehmen. Hier muss man den Menschen noch
einmal deutlich sagen, dass es sich um eine langfristige,
langsame Steigerung des Renteneintrittsalters handelt. In
meinem Wahlkreis treffe ich häufig auf Menschen, die
aufgrund empörter Medienberichte oder populistischer
Beiträge anderer Parteien von einer sofortigen Anhebung des Renteneintrittsalters ausgehen. In den kommenden Jahren werden wir auf immer mehr Arbeitskräfte angewiesen sein. Es ist also wichtig, dass ältere
Arbeitnehmer länger am Erwerbsleben teilhaben. Wir
finden auch eine große Leistungsbereitschaft älterer Arbeitnehmer, die gerne ihre Erfahrungen weitergeben. Wir
werden weiterhin an Maßnahmen arbeiten, um gemeinsam mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern die Beschäftigungssituation für ältere Arbeitnehmer zu verbessern.
Die Linke möchte dies alles nicht wahrhaben und behauptet gebetsmühlenartig, dass wir keine Anhebung des
Renteneintrittsalters brauchen. Diese Behauptung ist
schlichtweg falsch.
({2})
Dies wird durch den OECD-Bericht bestätigt. Wir brauchen die Anhebung des Renteneintrittsalters zur Sicherung des Rentenniveaus.
Ich kann die Beschwerden der Linksfraktion nicht
nachvollziehen. Unsere Rente ist sicher, und wir tun alles, um sie auf einem ordentlichen Niveau zu halten. Ich
selbst habe mir Ende der 80er-Jahre persönlich ein Bild
vom Alltag in der damaligen DDR und der Lebenssituation der Rentner dort machen können. Der Lebensstandard der Rentner dort war viel geringer. Ich war in den
sogenannten Feierabendwohnheimen. Teilweise habe ich
eine katastrophale Wohnsituation von Rentnern vorgefunden.
Die heutige Situation ist anders. Rentner in unserem
Land haben in der Regel ein gutes Auskommen, und das
gilt für West- und Ostdeutsche. Wo die Regelaltersrente
einmal nicht reicht, springt die Grundsicherung ein.
Sie präsentieren sich als Anwalt der Rentnerinnen
und Rentner. Dabei ist es die Große Koalition, die für
eine vernünftige Weiterentwicklung der Rente und für
eine Zukunftssicherung unter Einbindung des demografischen Wandels sorgt. Ihre Forderungen und Vorschläge
sind populistisch und nicht finanzierbar. Vor allem verunsichern Sie die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner. Panikmache ist fehl am Platz. Vernünftige Vorsorge
ist der richtige Weg. Jeder Einzelne kann dafür sorgen,
dass es ihm auch im Alter gut geht.
Ich möchte schließen mit dem Slogan - ich weiß
nicht, ob er bekannt ist -: Walter fürs Alter.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rednerinnen und Redner der SPD-Bundestagsfraktion haben
sehr deutlich, aber auch seriös klargemacht, dass sie die
Frage, ob im Alter Armut droht, sehr ernst nehmen. Ich
hätte mir übrigens von allen, die hier geredet haben, gewünscht, dass sie diese Frage wirklich ernst nehmen und
dass man nicht versucht, die Ängste der Menschen zu
schüren, um sie anschließend für politische Zwecke selber zu nutzen.
({0})
Ich sage Ihnen einmal, wie diese Ängste geschürt
werden. Mich ärgert dieses Vorgehen wirklich; denn wir
reden über ein Thema, das viele Menschen beschäftigt
und schlichtweg verängstigt: ob man im Alter ein angemessenes Auskommen hat oder nicht. Sie sagen - ohne
den Unterschied wirklich klarzumachen -, die Menschen
im Osten bekämen im Alter weniger Geld. Frau
Enkelmann, das stimmt natürlich, was Alterseinkünfte
eingeht. Deswegen haben Sie diesen Begriff benutzt.
Aber was die Höhe der gesetzlichen Rente angeht,
stimmt es nämlich nicht. Das ist die Wahrheit.
({1})
Dass Sie nur von Alterseinkünften gesprochen haben,
hatte also einen ganz bestimmten Grund.
Männer im Westen bekommen seit dem 31. Dezember 2005 durchschnittlich 957 Euro aus der gesetzlichen
Rentenversicherung, Männer im Osten durchschnittlich
1 007 Euro. Es geht also um die Frage, wer wie viel
Rente bekommt. Es ist in der Tat so - die Zahlen belegen
es -, dass die Menschen im Osten - das hat mit Erwerbsbiografien und Rentenbeiträgen zu tun; das ist in unserem Land Gott sei Dank so - im Durchschnitt mehr
Rente als die Menschen im Westen erhalten. Das muss
man so sagen. Das hat mit der Höhe der Alterseinkünfte
insgesamt erst einmal nichts zu tun. Man sollte auch
nicht versuchen, die Menschen da irrezuführen. Aus
meiner Sicht ist das sehr eindeutig.
Ich komme auf die OECD-Studie zu sprechen. Es ist
wunderbar, wieder einmal zu erleben - das hat auch die
Zeitung mit den vier großen Buchstaben getan -, dass
man die OECD-Studie nur selektiv darstellt. Was die Geringverdiener in der Bundesrepublik angeht, besagt diese
Studie beispielsweise, dass ihnen Altersarmut droht,
wenn wir uns darum nicht kümmern. In dieser Studie
wird allerdings völlig außer Acht gelassen, dass Geringverdiener bei uns nicht ausschließlich im Rentensystem
abgesichert werden, sondern auch in einem anderen
Leistungssystem, nämlich durch eine steuerfinanzierte
Grundsicherung. Sie haben verschwiegen, dass die
OECD das auch gesagt hat.
Wo ich gerade den Kollegen Ernst sehe, würde mich
seine Haltung zu einem Punkt aus der OECD-Studie sehr
interessieren, den Sie auch nicht genannt haben. Die
OECD-Studie sagt nämlich auch, dass eines der künftigen zentralen Probleme im deutschen Rentenversicherungssystem auf der so ausgiebigen Frühverrentungssystematik in Deutschland beruht. Es wäre interessant, dazu
etwas zu hören.
({2})
Auch auf die Frage der Entgeltumwandlung, Herr
Kolb, bleibe ich selbstverständlich keine Antwort schuldig.
({3})
Würden wir die Beitragsfreiheit bei der Entgeltumwandlung beibehalten, entzögen wir den anderen sozialen Sicherungssystemen notwendiges Geld.
({4})
Das betrifft nicht vorrangig die Rentenversicherung, um
es ganz deutlich zu sagen, aber die anderen sozialen Sicherungssysteme wie zum Beispiel die Krankenversicherung würden massiv darunter leiden. Ich möchte
noch erwähnen, dass es sich um ein befristetes Gesetz
handelt. Es ist also nicht so, dass sich die Bundesregierung jetzt plötzlich überlegt hätte, damit aufzuhören. Ich
halte die Diskussion über die Frage, ob wir eine Förderung fortführen müssen, für berechtigt, sage allerdings:
aber bitte nicht zulasten der anderen sozialen Sicherungssysteme.
({5})
Wir müssen auch über eine andere Form von steuerlicher Förderung reden. Aber auch hier ist meine Bitte:
nicht zulasten der sozialen Sicherungssysteme. Grundsätzlich bin ich der festen Überzeugung, dass wir auch
da weiter fördern müssen.
Das Thema Teilrente will ich gerne noch ansprechen,
Herr Kolb. In der Tat ist das ein Instrument, das wir
schon haben. Ich nenne hier drei Punkte: Meines Erachtens müssen die Hinzuverdienstgrenzen zumindest erhöht werden, über eine Freigabe müsste man noch diskutieren. Zweitens müssen wir das vorhandene Instrument
flexibler gestalten. Dabei geht es aber nicht nur um die
Frage, ab wann man es nutzen kann, sondern beispielsweise auch darum, in welchen Stufen dieses System
funktioniert. Drittens muss man allerdings auch sagen:
Wer Teilrente in Anspruch nimmt und keinen Hinzuverdienst hat, darf dann nicht den sozialen Sicherungssystemen zur Last fallen.
({6})
Die Teilrente muss mindestens so hoch sein, dass nicht
anschließend noch Sozialhilfe oder ergänzende Leistungen gezahlt werden müssen. Es stellt sich allerdings die
Frage: Für wen ist diese Teilrente dann noch interessant?
({7})
Wir reden von einem Teilrentenbezug sieben Jahre vor
dem regulären Renteneintritt mit 25 Prozent Rentenabzug. Eine solche Teilrente ist nur für Menschen mit relativ hohen Ansprüchen interessant, also für diejenigen,
die in ihrem Leben relativ viel Geld verdient haben.
({8})
Aber es stellt sich in der Tat die Frage: Warum soll man
solche Möglichkeiten nicht nutzen? Ich denke, das ist
tatsächlich auch in dieser Koalition noch möglich.
Darüber hinaus ist es so: Die Ansprüche im Alter hat
man sich erarbeitet. Sie beruhen und beziehen sich auf
ein Erwerbsleben. Das war immer so, und man kann sich
aus meiner Sicht jetzt nicht hinstellen und darüber klagen, dass es so ist. Die Ursache für Armut im Alter liegt
im Wesentlichen in dem nicht ausreichenden oder nicht
stattgefundenen Erwerbsleben. Das ist die erste Baustelle, die wir abräumen müssen.
Darüber hinaus sage ich Ihnen: Armut droht den
Menschen, wenn wir die Betriebsrenten und die Riesterrente nicht weiter fördern und wenn wir keine vernünftige steuerfinanzierte Grundsicherung schaffen. Dann
droht den alten Menschen in der Tat Armut.
Aber Armut ist aus meiner Sicht gar nicht das
Schlimmste für die sozialen Sicherungssysteme. Die
größte Gefahr für die sozialen Sicherungssysteme entsteht durch das, was Sie gerade veranstalten. Sie reden
die sozialen Sicherungssysteme schlecht. Sie machen
den Menschen Angst.
({9})
Dadurch geht das Vertrauen in unsere Sozialstaatlichkeit
verloren. Sie schüren diese Ängste. Das ist die größte
Gefahr für die sozialen Sicherungssysteme.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft
- Drucksache 16/4764 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Laurenz Meyer ({0}), Veronika
Bellmann, Klaus Brähmig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie
den Abgeordneten Dr. Rainer Wend, Ludwig
Stiegler, Christian Lange ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse
insbesondere in der mittelständischen
Wirtschaft
- Drucksache 16/4391 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
({2})
- Drucksache 16/5522 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Martin Zeil, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Anreize beim Bürokratieabbau - Für eine
Kostenerstattung staatlicher Pflichtdienste
- Drucksachen 16/4605, 16/5522 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Fuchs
Zur dritten Beratung der Entwürfe eines Gesetzes
zum Abbau bürokratischer Hemmnisse liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile
ich dem Kollegen Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt,
wird endlich befriedigend; „gut“ will ich noch nicht sagen, aber befriedigend wird es schon.
Ich möchte mich hier an allererster Stelle bedanken
bei dem Bundeswirtschaftsministerium und besonders
bei dem Staatssekretär Schauerte und seinen Mitarbeitern, namentlich Herrn Hauck, die uns bei den Beratungen zu diesem Gesetz in erheblichem Maße unterstützt
haben. Ich möchte mich aber auch bei meinem Kollegen
Lange und bei meinem Kollegen Wend in neoliberaler
Weise dafür bedanken,
({0})
dass wir gemeinsam eine Reihe von Punkten aufgegriffen haben und gemeinsam zu einer Umsetzung gekommen sind. Wir hätten gern noch einiges mehr gemacht,
aber die Beharrungskräfte, die wir bei diesem Gesetz erleben durften, waren ziemlich stark. Wir haben uns deswegen auch vorgenommen, ein drittes MEG so schnell
wie möglich folgen zu lassen; ich komme darauf noch
zurück.
Wir sind auf einem guten Weg. Der Normenkontrollrat hat seine Arbeit aufgenommen. Er hat beispielsweise
bei dem Unternehmensteuerreformgesetz, das wir vor
kurzem verabschiedet haben, sehr gute Arbeit geleistet.
Hierbei ist es zum ersten Mal dazu gekommen, dass wir
eine ganze Menge von zusätzlicher Bürokratie - der
BMF hatte sie hineingeschrieben - wieder herausgenommen haben, und zwar aufgrund der Anregungen des Normenkontrollrats.
Das SKM ist ebenfalls auf einem guten Weg. Wie ich
höre, wird Mittsommer, Juli/August, die Pareto-Probe,
also 20 Prozent, fertig sein. Wir können dann unverzüglich in die Verhandlungen eintreten und werden sofort
Resultate sehen. Die Bundesregierung hat sich auf ein
Abbauziel von 25 Prozent festgelegt. Sie wird in dieser
Legislaturperiode noch einiges erreichen.
({1})
- Selbstverständlich, Herr Kollege, reden wir nur über
Nettoziele, nicht über Bruttoziele.
Mit dem zweiten MEG erreichen wir ein Einsparvolumen von über 100 Millionen Euro. Das ist sicherlich
noch viel zu wenig, aber wir sind auf einem guten Weg.
Vor allen Dingen ist es uns gelungen, die mittelständische Wirtschaft von zusätzlichen Belastungen zu befreien. Ich halte es einfach für außerordentlich wichtig,
dass ein junger Unternehmer sich in den ersten drei Jahren ausschließlich um das Einwerben von Aufträgen, um
die Rechnungen dafür, um das Marketing für sein Unternehmen, um die Unternehmensidee kümmern kann
({2})
und nicht abends noch drei Stunden lang Statistiken erstellen muss, die dann keiner liest.
Ich halte es auch für richtig und wichtig, dass Unternehmen, die maximal 50 Mitarbeiter haben, maximal
drei Statistiken erstellen müssen. Mir liegen Schreiben
von kleinen Mittelständlern vor, nach denen sie bis zu
16 Statistiken erstellen mussten. Das kann nicht sein.
Das bauen wir jetzt ab. Die Ämter sind gefordert, das in
technischer Hinsicht zu lösen. Es darf kein großes Problem sein, zu erreichen, dass solche Unternehmen maximal dreimal zu so etwas herangezogen werden.
({3})
Etwas anderes betrachten wir als Einstieg. Wir schaffen eine erste Doppelprüfung ab, nämlich die bei der
Beitragsüberwachung durch die Rentenversicherung und
die Berufsgenossenschaften. Diese Doppelprüfung wird
es nicht mehr geben. In Zukunft kommt nur noch einer,
der prüft. Das ist erst der Anfang. Herr Lange, wir beide
wissen, dass das vor allen Dingen ein Problem der Gewerbeaufsicht und der Berufsgenossenschaften ist. Hier
wird obendrein häufig auch noch nach unterschiedlichen
Kriterien geprüft, genauer gesagt: nicht nur nach unterschiedlichen Kriterien, sondern auch nach unterschiedlichen Maßstäben.
Meine Damen und Herren, obwohl es eigentlich traurig, aber auch lustig ist, will ich Ihnen dazu ein eigenes
Erlebnis erzählen: In meinem Betrieb - das war ein
Großhandel - hatten wir, wie sich das gehört, eine stattliche Anzahl von Feuerlöschern, so 130 bis 150 Stück. Da
kam die Berufsgenossenschaft und sagte: Alle diese Feuerlöscher hängen zu tief. Höher hängen! - Ein Mitarbeiter hat alle angehoben. Die mussten auf 1 Meter oder
1,10 Meter Höhe angebracht werden. Das haben wir gemacht, gebohrt, höher gehängt, wie sich das gehört. Vier
Wochen später kam die Gewerbeaufsicht und hat gesagt:
Alle Feuerlöscher hängen viel zu hoch. Die dürfen maximal auf 80 Zentimeter Höhe angebracht sein. - Da ist
mir, gelinde gesagt, der Kragen geplatzt. Ich habe gefragt: Was sollen wir jetzt machen? Sollen wir eine
Schiene an die Wand machen, damit wir die Feuerlöscher daran rauf- und runterschieben können, je nachdem, wer von euch gerade ins Haus kommt?
({4})
- Das wäre eine unbürokratische, aber relativ teure Lösung gewesen. - So einen Quatsch dürfen wir den Unternehmen heute nicht mehr zumuten. Wir müssen dafür
sorgen, dass auf Länderebene - hier ist ein erhebliches
Defizit beim Bürokratieabbau festzustellen - Lösungen
gefunden werden,
({5})
dass entweder die Gewerbeaufsicht oder die Berufsgenossenschaft nach gleichen Kriterien einen Betrieb überprüft und dass keine Doppelprüfung mehr stattfindet.
({6})
Von zentraler Bedeutung ist aber auch, dass wir Überzeugungsarbeit bei den Verbänden leisten. Hier gibt es
eine ganze Reihe von Fällen - die kennen auch Sie, Herr
Lange -, auf die wir während der Erarbeitung des MEG
gestoßen sind. Ich nenne ein Beispiel: Wir haben uns mit
dem Thema Bauabzugsteuer beschäftigt. Da waren wir
schon fast so weit, sie abzuschaffen. Aber auf einmal
kam ein Schreiben des ZDB, des Zentralverbands des
Deutschen Baugewerbes, mit der Bitte, diese wunderbare Bauabzugsteuer doch zu erhalten.
({7})
Warum geschieht so etwas? Das hat ganz simple Hintergründe: Aus den vorhandenen Statistiken wird irgendetwas generiert, was anschließend den Mitgliedern des
Verbandes als eigene Leistung verkauft wird.
({8})
Das halte ich für falsch. Wir müssen einmal darüber
nachdenken, wie wir eine derartige Verwendung der Statistiken verhindern können.
({9})
Es kann nicht sein, dass die Verbände sich der Statistiken
bedienen, das anschließend als eigene Leistung verkaufen, die Unternehmen das aber gar nicht haben wollen,
({10})
wir jedoch aufgrund des Einwandes der Verbände nicht
in der Lage sind, sie abzuschaffen.
Bundesminister Clement hat in der letzten Legislaturperiode gesagt, Bürokratieabbau sei Häuserkampf. Recht
hat er gehabt; das haben wir gemerkt. Aber wir haben
Bleiwesten an. Wir werden auf dem Sektor weitermachen.
({11})
Wir werden versuchen, das hinzubekommen. Wir werden gemeinsam ein drittes MEG erarbeiten. Wir sollten
zusammen im dem Sinn darangehen, die Wirtschaft zu
entlasten. Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Das
hat die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung gesagt, und das werden wir auch weiter verfolgen.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Martin Zeil, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man mit Bürgern oder auch Unternehmern über
das Thema Bürokratieabbau spricht, so begegnet einem
oft eine Mischung aus Ungläubigkeit, Wut und Resignation. Man hört dann Sätze wie: „Das haben wir schon so
oft gehört, aber es passiert ja doch nichts“, „Ihr könnt
euch doch eh nicht selbst infrage stellen“ oder „Mit einer
abgeschafften Regelung kommen doch zehn neue“.
In der Tat ist es vor allen Dingen immer noch der
Mittelstand, der sich von der Politik auch auf diesem
wichtigen Feld im Stich gelassen fühlt. Er erlebt, wie
zum Beispiel bei der Unternehmensteuerreform sich die
Diskussion eher auf die Großunternehmen konzentriert
und wie die Interessen gerade dieser Unternehmen die
Entscheidungen der Politik in ordnungs- und wettbewerbspolitischen Fragen oft sehr geschmeidig im Sinne
dieser Unternehmen bestimmen.
Diese stiefmütterliche Behandlung des Mittelstandes
und der kreativen Menschen in unserem Land ist völlig
unangemessen. Der Mittelstand ist unbestritten das tragende Fundament der deutschen Volkswirtschaft. Vor
diesem Hintergrund sind der Abbau und die Vermeidung
von Bürokratie nicht nur von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung oder nur ein Herzensanliegen
von Fachpolitikern. Dass der Bürokratieabbau endlich
spürbar gelingt, ist nach so vielen vergeblichen Versuchen und so vielen enttäuschten Erwartungen eine Frage
der Handlungsfähigkeit und der Glaubwürdigkeit der
Politik insgesamt.
({0})
Ebenso ist es eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit
in Zeiten der Globalisierung. Zum einen macht der Abbau von Bürokratielasten unseren Standort wieder attraktiver gegenüber Regionen, die nicht eine solche
Regelungsdichte haben. Zum anderen ist er auch ein
Beitrag, die jungen, kreativen Menschen in unserem
Land, die wir für unsere Zukunft so dringend brauchen,
zu ermutigen, hier in Deutschland zu bleiben, statt wegzugehen.
Unsere Kritik an Ihrem Mittelstandsentlastungsgesetz
- deswegen habe ich etwas grundsätzlicher begonnen setzt daher nicht an den Detailbemühungen an. Da geht
vieles in die richtige Richtung und schadet nicht, außer,
Herr Kollege Fuchs, im Falle gewisser Widersprüchlichkeiten: Ich denke dabei an das sogenannte Dienstleistungskonjunkturgesetz, das zusätzliche Belastungen
bringt. Aber das kennen wir ja bei dieser Regierung: eins
vor und zwei zurück - ganz wie in der Tanzstunde, nur
nicht so harmonisch.
({1})
Unsere Kritik richtet sich auf das Fehlen eines mutigen Gesamtkonzepts und eines echten Schritts nach
vorn. Denn was machen Sie? Sie stellen eine Vielzahl
seit langem nicht mehr angewandter oder überflüssig gewordener Vorschriften zusammen und feiern dies als
große Etappe auf dem Weg zum Bürokratieabbau. Weil
Sie viele Punkte, die auch wir in unserem Entschließungsantrag erneut genannt haben, aus Gründen der
ideologischen Blockade innerhalb der Koalition nicht
angehen können, muss das Abschneiden von dürren Ästen schon als reformerische Großtat begangen werden.
Aber es ist genau diese Art, nämlich fehlende Substanz durch Wortgeklingel zu ersetzen, die viele Menschen abstößt. So ist es kein Wunder, dass die Antwort
auf die bei meinen Betriebsbesuchen gestellte Frage
„Haben Sie schon etwas vom Bürokratieabbau bemerkt?“ regelmäßig lautet: Nein, im Gegenteil.
Solange Sie in diesem Tempo Politik betreiben, werden Sie bei allen Anstrengungen keine spürbaren Effekte
erzielen. Wenn ich Sie daran erinnern darf: Sie wollten
die Bürokratiekosten in Deutschland bis 2011 um insgesamt 25 Prozent reduzieren. Mit dem MEG II sind Sie
diesem Ziel nur ganze 0,4 Prozentpunkte näher gekommen. Herr Kollege Fuchs, wenn ich das angesichts des
kommenden Berlinmarathons einmal verbildlichen darf:
Statt dass der Wirtschaftsminister den bürokratiepolitischen Haile Gebrselassie gibt, geht ihm schon in der
zweiten Runde die Luft aus.
({2})
Mit diesem eher an gemütliches Spazierengehen erinnernden Tempo werden wir die Glaubwürdigkeitslücke
der Politik sicher nicht schließen. Glaubwürdig ist es
auch nicht gerade, wenn die CSU-Landesgruppe vor
Jahresfrist unter dem vielversprechenden Titel „Entschlossen entbürokratisieren“ den Kostenersatz für Betriebe bei der Erfüllung von Statistikpflichten fordert,
heute aber unseren Antrag, der in diese Richtung geht,
ablehnt.
Viele Bürger können einfach nicht mehr verstehen,
warum folgende Regelungen nach wie vor Bestand haben: Ich nenne beispielsweise die Doppelbeantragung
von Veranstaltungsgenehmigungen. Ein besonders plastisches Beispiel ist, dass ein Lkw, der am Reformationstag in Berlin losfährt, nicht bis Niedersachsen oder Hamburg kommt, weil in Brandenburg und Sachsen-Anhalt
ein Fahrverbot gilt. Das ist der reale Bürokratieirrsinn in
Deutschland.
({3})
Hier wird aber auch deutlich, dass wir auch die Länderebene - Herr Kollege Fuchs hat es angesprochen ebenso wie die europäische Ebene in eine umfassende
Strategie einbeziehen müssen. Aus der Sicht der Betroffenen macht es nämlich keinen Unterschied, wer letztlich für den bürokratischen Akt verantwortlich zeichnet.
Schließlich müssen wir auch an die Unternehmen und
an die Bürger selbst appellieren. Wer nach staatlicher
Regelung ruft, weil er glaubt, die Dinge nicht untereinander regeln zu können, wird Bürokratie ernten. Hinzu
kommt, dass nicht alles, was in den Betrieben als Bürokratie erscheint oder ausgegeben wird, auf gesetzlichen
Vorschriften beruht. Auch die vor allem im Zuge einer
controllergetriebenen Unternehmensführung geschaffenen innerbetrieblichen Regelungen bedürfen vielerorts
der Durchforstung und Verschlankung.
Bevor Sie ein drittes Entlastungsgesetz auf den Weg
bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sollten Sie vielleicht einmal etwas tiefer schürfen.
Wir sind Ihnen dabei gerne behilflich.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bürokratie abzubauen, ist in der Tat mühsam. Diese
Erfahrung haben wir alle gemacht. Aber wir lassen uns
nicht entmutigen. Wir haben heute einen Etappensieg
errungen - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ich wundere mich schon, verehrter Herr Zeil, dass
ausgerechnet die FDP heute ein Gesamtkonzept anmahnt. Man muss sich nämlich die Frage stellen: Welche
gesetzlichen Bürokratiebelastungen, welche Dokumentations- und Informationspflichten bauen wir heute eigentlich ab? In der Regel Gesetze, die verdammt alt
sind; in der Regel Gesetze, die - ohne der FDP den Rang
ablaufen zu wollen - in der Verantwortung von Liberalen im Wirtschaftsministerium des Bundes zustande kamen.
({0})
Deshalb halte ich es schon für dreist, dass Sie hier ein
Gesamtkonzept anmahnen. Ich halte es für dreist, Herr
Zeil, dass Sie noch nicht einmal den Mut haben, auf Ihren Antrag einzugehen, in dem Sie für Unternehmen
eine Bürokratiekostenerstattung ankündigen. Sie selbst
beziffern sie dann auch noch auf 46 Milliarden Euro und
behaupten, der Bund müsse ja nicht alles bezahlen.
({1})
Wollen Sie etwa den mühsamen Kampf gegen die Bürokratie auf dem Rücken der Steuerzahler austragen und
das Geld der Steuerzahler in die Unternehmen schießen?
({2})
Das ist das Konzept der FDP. Das ist weder ein Gesamtkonzept noch seriös. Es ist einfach Unsinn.
({3})
Lassen Sie uns zur Wirklichkeit und damit zum Normenkontrollrat zurückkehren. Wir alle wissen: Der
Normenkontrollrat ist eine Institution, die von manchen
in unseren Reihen hier im Parlament durchaus mit Skepsis betrachtet wird. Wir versprechen uns von ihm viel
Gutes, weil er sich auf die Informations- und Dokumentationspflichten konzentriert. Herr Fuchs hat zu Recht
auf viele dieser Pflichten hingewiesen, insbesondere auf
Doppelungen. Aber die Befürchtungen, dass es sich dabei um einen Übergesetzgeber handeln könnte, um einen
Gesetzgeber, der quasi über dem Deutschen Bundestag
steht und uns sagt, was wir materiell-rechtlich, also inhaltlich, zu regulieren und zu ändern haben, sind nicht
richtig. Wir sind froh - Herr Fuchs, gestatten Sie mir
diese Bemerkung -, dass der Normenkontrollrat handelt;
denn er garantiert uns zum Beispiel, dass der 1. Mai
auch weiterhin ein Feiertag bleiben wird.
({4})
Wir müssen sehen, dass die Informations- und Dokumentationspflichten immerhin 6 Prozent des Umsatzes
eines Unternehmens ausmachen. Das ist verdammt viel
Holz. Deshalb lohnt es sich, diesen mühsamen Weg zu
gehen.
In dem Zusammenhang mit dem Gesamtkonzept ist
die Frage zu stellen: Warum ist es denn in der Vergangenheit über Jahrzehnte nicht gelungen, auch nur ein bisschen Bürokratie abzubauen, warum also hat man noch
nicht einmal das geschafft, was wir mit dem zweiten
MEG erreicht haben? Weil man in den Schützengräben
verharrt ist. Weil die einen darunter den Abbau von Dokumentations- und Informationspflichten verstehen und
die anderen den Abbau von Arbeitnehmerrechten. Diese
Schützengräben haben es verhindert, dass wir Erleichterungen im Hinblick auf die Belastungen der Wirtschaft
bei Doppelungen und die Frage: „Ist das Ausfüllen so
vieler Formulare wirklich nötig?“ erreicht haben. Das
packen wir jetzt an. Allein diese Pflichten machen
6 Prozent des Umsatzes eines Unternehmens aus. Hier
sollten wir endlich Lösungen schaffen.
Die Antwort, die ich Ihnen auf die Frage nach dem
Gesamtkonzept zu geben habe, lautet: Das Gesamtkonzept der Bundesregierung, vieler europäischer Staaten,
Herr Zeil, und übrigens auch der Europäischen Union ist
der Abbau von Informations- und Dokumentationspflichten, die Beseitigung der Schützengräben.
({5})
Ich will Ihnen sagen, was wir mit dem Mittelstandsentlastungsgesetz geschafft haben: Zum Ersten werden
- um ein paar Beispiele zu nennen - die Existenzgründer
in den ersten drei Jahren von den statistischen Meldepflichten befreit. Zum Zweiten werden die statistischen
Erhebungen bei Kleinunternehmen mit weniger als
50 Beschäftigten auf drei Stichproben pro Jahr beschränkt. Zum Dritten wird die steuerliche Buchführungspflicht durch die Anhebung der Gewinnschwelle
von 30 000 auf 50 000 Euro dergestalt vereinfacht, dass
künftig mehr Steuerpflichtige als bisher anstelle von
Buchführung und Steuerbilanz eine Einnahmenüberschussrechnung erstellen können. Zum Vierten werden
in der Dienstleistungskonjunkturstatistik beispielsweise
bereits vorhandene Verwaltungsdaten verstärkt genutzt.
Sie merken, das alles ist Kleinvieh.
({6})
Aber ich sage Ihnen: Auch Kleinvieh macht Mist. Genau
das ist der richtige Ansatz.
Ich will aufgreifen, was Kollege Fuchs angesprochen
hat: Wir werden bei den bislang 17 festgelegten Maßnahmen nicht stehen bleiben. Der Kollege Dr. Wend und
ich haben heute ein Gespräch mit Vertretern des Bundesverbandes der Dienstleistungswirtschaft geführt. Daran
teilgenommen hat auch ein Vertreter des Bundesverbandes der Autovermieter Deutschlands. Er hat uns ein interessantes Beispiel hinsichtlich der Mietfahrzeuge in
Deutschland genannt. Ungefähr 300 000 Neufahrzeuge
setzt diese Branche pro Jahr um. Dort gibt es die Regelung, wonach die Haupt- und Abgasuntersuchungen bei
Christian Lange ({7})
einem Neufahrzeug nicht wie bei Otto Normalverbraucher nach drei Jahren, sondern nach einem Jahr durchgeführt werden müssen. Das ist eine uralte Regelung. Früher waren die Autos in dieser Branche länger in
Gebrauch. Heute werden sie aber in der Regel nach
sechs Monaten und längstens nach zwölf Monaten
ausgetauscht. Eine Untersuchung kostet 100 Euro. Bei
300 000 Fahrzeugen macht das jährlich 30 Millionen
Euro. Warum sollte man da keine Änderung anregen?
Ich weiß, dass es hierzu seitens des Bundesrates und der
Ministerien Bemühungen gibt. Die Situation hat sich geändert, Fahrzeuge werden heute schneller ausgetauscht.
Wir sind bereit, entsprechend zu handeln und zu sagen:
Eine solche Belastung ist angesichts der realen Verhältnisse, angesichts der Tatsache, dass Fahrzeuge heute
nicht mehr jahrelang in Betrieb sind, sondern in der Regel nur noch sechs bis zwölf Monate, nicht mehr angemessen. Wir sind bereit, den Mietwagen nicht mit einem
Malus zu belasten, sondern ihn mit Privatfahrzeugen
gleichzustellen. Sie sehen also: Kleinvieh macht auch
Mist. Auch Kleinigkeiten können Millionenbeträge ausmachen; das zeigt das Beispiel aus der Autovermietungsbranche.
Ich bin mir sicher, dass wir in dieser Runde über ein
drittes Mittelstandsentlastungsgesetz beraten werden.
Ich wünsche mir deshalb die Unterstützung aller hier im
Hause.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die große Kuschelkoalition
- Herr Fuchs, Herr Lange, Herr Dr. Wend - und der Mittelstand, das ist für mich eine unendliche Geschichte:
Das Erste Mittelstandsentlastungsgesetz ist bereits beschlossen, über das Zweite Mittelstandsentlastungsgesetz reden wir jetzt, und das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz ist schon in Vorbereitung.
Für Union und SPD heißt Mittelstandspolitik immer
Bürokratieabbau. Ich stelle fest: Mit dem Thema Bürokratieabbau wird viel Schindluder getrieben. Seriöse
Studien werden ignoriert, stattdessen wird politisch einseitig Stimmung gemacht. Leider haben sich auch die
Grünen und die FDP auf diesen Holzweg begeben. Herr
Zeil, beim Lesen Ihres Antrags ist mir zwar nicht
schlecht geworden, aber Kopfschmerzen hatte ich schon,
({0})
insbesondere wegen der Angriffe auf den Kündigungsschutz und das Betriebsverfassungsgesetz. Das sind wir
aber inzwischen gewohnt; das ist ja normal.
({1})
Die Union und die SPD veranstalten um den Bürokratieabbau viel Aufregung in diesem Land. Für den kleinen Mittelständler stehen aber ganz andere Fragen auf
der Tagesordnung: Was hat die Bundesregierung gegen
die schlechte Zahlungsmoral unternommen, die Tausende kleiner Unternehmen in die Pleite trieb? Nichts,
gar nichts. Was tut die Bundesregierung, um die schwache Binnennachfrage zu stärken, womit sie vielen kleinen Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen helfen
könnte? Viel zu wenig. Und was unternimmt die Bundesregierung gegen den Niedriglohnwettbewerb, der die
kleinen Betriebe besonders brutal trifft? Auf einen gesetzlichen Mindestlohn warten wir vergebens. Wir werden morgen sehen, wie die Kollegen der SPD abstimmen. Ich zweifle sehr daran, dass Sie morgen kuscheln
werden; ich glaube das nicht.
Die Regierung geht diese Fragen nicht an. Stattdessen
baut sie die Förderinstrumente für den Mittelstand, zum
Beispiel das ERP-Sondervermögen, ab. Im Zuge ihres
Bürokratieabbaus hat die Regierung gleich die monatliche Wirtschaftsstatistik für Kleinbetriebe bis 50 Beschäftigte abgeschafft; Herr Lange hat das gesagt. Daher
wissen wir heute nicht, ob der Aufschwung bei den kleinen Unternehmen überhaupt angekommen ist.
Die Probleme des schwarz-roten Bürokratieabbaus
liegen oft im Detail. Herr Lange, Sie sprachen die Existenzgründer an. Sie sollen in den ersten drei Jahren
nicht mehr auskunftspflichtig sein. Offensichtlich interessiert Sie die Situation der Existenzgründer überhaupt
nicht. Sie wissen gar nicht, dass manche auf Hartz-IVNiveau leben müssen. Sie verkaufen diese Maßnahme
zum Bürokratieabbau als Erfolg. Die Kosten für die Sozialversicherung sollen von der Wirtschaft zum Staat
verschoben werden, und im Verkehrsrecht wird die Bürgerbeteiligung beschnitten. Dieser Bürokratieabbau ist
ein Abbau sozialer Standards und Rechte. Dazu sagt die
Linke: Nein.
({2})
Ich fasse zusammen: Die Große Koalition sieht in gesetzlichen Regelungen eine Belastung für die Wirtschaft.
Die Linke sieht dagegen zuallererst die Schutzfunktion.
Deswegen kritisieren wir die Privatisierungen der letzten Jahre. Hier werden soziale Standards und Rechte
dem freien Markt geopfert. An dieser Stelle möchte ich
auf eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung
hinweisen. Ich gehe davon aus, Herr Lange und Herr
Dr. Wend, dass Sie sie gelesen haben. Es wurde danach
gefragt, ob Privatisierung öffentlicher Aufgaben zu weniger Gesetzen führt. Oftmals heißt es ja: Privatisierung
ist das beste Programm für Bürokratieabbau. Das
Gegenteil ist der Fall. Das zeigt das Beispiel der Privatisierung der Telekom. Seit der Privatisierung des Telekommunikationsbereichs hat sich der Umfang der
gesetzlichen Vorschriften für diesen Bereich fast vervierfacht. Warum? Ich zitiere die Antwort dieser Studie:
„Das Handeln der Privaten hat mehrfach Reaktionen des
Gesetzgebers notwendig gemacht“. Meine Damen und
Herren der Großen Koalition, wenn Sie weniger Regulierung wollen, dann bitte nicht durch den Abbau von sozialen Standards!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Kerstin Andreae, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Zimmermann, Ihr Beispiel bezüglich der
Telekom und der Liberalisierung des Telekommunikationsbereichs macht eines deutlich: Die Argumente für
Privatisierung lauten nicht, dass es ein Beitrag zum Abbau der Bürokratie ist. Die Argumente für Privatisierung
müssen vielmehr sein: Wir schaffen mehr Wettbewerb.
Aber Privatisierung braucht Regulierung. Dass Regulierung gesetzliche Verordnungen und Regelungen nach
sich zieht, liegt auf der Hand. Insofern kann ich dieses
Beispiel - wie auch manch anderes in Ihrem Redebeitrag nicht nachvollziehen.
({0})
Herr Fuchs, bezüglich Ihres Beispiels mit den
80 Zentimetern beim Feuerlöscher musste ich an die
Große Koalition denken. Auch dort geht es rauf und runter.
({1})
Vielleicht sollten auch Sie sich eine Schiene anschaffen,
damit Sie hier ein Stück weit weiterkommen.
({2})
Richtig ist: Bürokratie erzeugt Aufwand und Kosten
und bindet Ressourcen. Natürlich ist auch richtig: Bürokratie ist notwendig. Ein verantwortlicher Staat braucht
einen anspruchsvollen Ordnungsrahmen und Regelungen und Regulierungen. Herr Fuchs, Sie haben das Beispiel hinsichtlich der Bauabzugsteuer angeführt. Dieses
Phänomen gibt es immer wieder: Keiner will Bürokratie,
aber wenn es darauf ankommt, dann wird sie von der
Lobby eingeklagt. Sie hatten hier deutlich gemacht, wie
die Verhandlungen über das Mittelstandsentlastungsgesetz vonstatten gegangen sind.
Einzelne Maßnahmen in dem Gesetz sind sinnvoll,
aber sie reichen nicht aus. Unsere Kritik, dass es sich
hier um Nasenwasser handelt, wird Sie nicht wundern.
Ich hatte von Ihnen einmal die interessante Zahl von
17 Euro pro Unternehmen gehört; das heißt, die Maßnahmen bewirken für ein Unternehmen eine Entlastung
von 17 Euro bzw. eine Entlastung im Promillebereich.
Sie kündigen jetzt das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz an. Das ist sehr spannend.
Insgesamt haben Sie sich den Bürokratieabbau zum
Thema gemacht. Ich hatte Anfang der Woche die Gelegenheit, mit Herrn Dr. Beus darüber zu sprechen. Er ging
auf die Kritik ein, die wir anführen und die von der Opposition insgesamt gekommen ist, dass die Entlastungsziele - bis 2011 - weit gefasst sind und der Kostenabbau
um 25 Prozent erst 2011 erreicht sein soll. Er hat berichtet, dass Sie im Oktober vorlegen wollen, wie Sie sich
die einzelnen Schritte vorstellen. Da bin ich wirklich
sehr gespannt. Denn wenn Sie konkretisieren, wie Sie
die Kosten in den nächsten Jahren um 25 Prozent abbauen wollen, dann werden wir das durchaus wohlwollend begleiten. Denn die Kritik daran - das haben Sie,
Herr Wend, in der ersten Lesung durchaus auch angeführt - lautet, dass die Ziele sich gar nicht prüfen lassen.
2009, am Ende Ihrer Legislatur, ist hinsichtlich des Zieles, die Kosten bis 2011 um 25 Prozent zu reduzieren,
noch nichts greifbar. Insofern werden wir einmal sehen,
was Sie im Oktober vorschlagen. Dann haben wir etwas
Konkretes, das wir prüfen können.
Unsere Kritik greift aber auch an einer anderen Stelle.
Das wissen Sie. Dadurch, dass Sie immer wieder auf die
Informationspflichten fokussieren, lassen Sie einen ganz
entscheidenden Punkt weg: Das sind die Genehmigungsverfahren. Im Bereich der Genehmigungen müssen Sie ganz dringend Bürokratie abbauen. Denn das ist
ein ganz großes Hemmnis; das hören wir immer wieder
in den Diskussionen und Gesprächen. Da sollten Sie
dringend vorangehen.
Der Normenkontrollrat ist hinsichtlich dessen, was er
prüfen kann, eingeschränkt. Auch diese Kritik haben wir
immer wieder vorgetragen. Der Normenkontrollrat bekommt die Gesetze von der Bundesregierung vorgelegt.
Sie haben über Paralleleinbringungen die Möglichkeit,
dies zu umgehen; damit haben Sie sich ein riesengroßes
Scheunentor geschaffen. Wir haben keine Möglichkeiten, den Normenkontrollrat umfassender in Anspruch zu
nehmen.
Ich möchte noch den Entschließungsantrag der FDP
ansprechen, der uns heute vorgelegt wurde. Als ich angefangen habe, ihn zu lesen, habe ich mir überlegt, wie
ich meiner Fraktion beibringe, dass wir diesem Antrag
zustimmen. Bei Nr. 3 habe ich damit aufgehört. Natürlich teile auch ich Ihre Auffassung, dass die Befugnisse
des Normenkontrollrates ausgeweitet und die Bürokratiekosten nicht erst bis zum Jahr 2011 um 25 Prozent reduziert werden müssen, sondern eher. Aber das, was Sie
im Bereich des Arbeitsrechts vorschlagen, ist wirklich
happig. Unter Nr. 11 schlagen Sie vor, das Kündigungsschutzgesetz so zu ändern, dass es erst ab einer Betriebsgröße von mehr als 50 Mitarbeitern gilt und erst
vier Jahre nach Beginn des Arbeitsverhältnisses einsetzt.
Wenn ich richtig informiert bin, wollen Sie diesen Antrag auf Ihrem Parteitag am kommenden Sonntag verabschieden.
({3})
In diesem Punkt können wir Ihnen nicht folgen. Insofern
dürfte klar sein, dass wir Ihrem Entschließungsantrag
nicht zustimmen werden,
({4})
auch wenn es sich dabei um den am weitesten gehenden
Vorschlag handelt, über den wir derzeit diskutieren.
Da meine Redezeit gleich vorbei ist, möchte ich nur
noch auf einen Aspekt zu sprechen kommen. Ich bitte
Sie, die Diskussion über die Generalunternehmerhaftung noch einmal aufzunehmen. Wir glauben, dass die
Generalunternehmerhaftung ihre Prüfung nicht bestanden hat. Wir sollten sie abschaffen; denn sie ist das falsche Instrument.
({5})
- Nein. Wenn wir über das nächste Mittelstandsentlastungsgesetz und über andere Vorschläge, die weiter reichen, diskutieren, können wir das wohlwollend prüfen.
Dann würden wir Sie unterstützen. Aber dieses Mittelstandsentlastungsgesetz reicht uns nicht aus.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sowohl in der Bevölkerung als auch in den Unternehmen und der Wirtschaft insgesamt wird die Bürokratie als ein gewaltiges und ernstes Problem betrachtet. Ich
will mich mit den Ausführungen der Linken hier gar
nicht beschäftigen; denn die Linken verneinen, dass es
überhaupt ein Problem gibt.
({0})
Was soll dann eine Diskussion? Ich beschäftige mich lieber mit denjenigen, die darüber nachdenken, wie wir
schneller und effektiver werden können und ob wir mit
dem, was wir tun, zufrieden sein können.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, welche Situation
wir vorgefunden haben, als wir mit unserer Arbeit begannen.
Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass der Bürokratieabbau zum ersten Mal Thema einer Regierungserklärung war. Dieses Thema wurde im Kanzleramt angesiedelt; ihm wurde also hohe Priorität beigemessen.
Zweitens. Wir haben den Normenkontrollrat und das
Standardkostenmodell eingeführt. Dieses Modell ist
eine völlig neue Methode, die auf den Erfahrungen anderer europäischer Länder aufbaut. Wir werden durch die
Anwendung des Standardkostenmodells schneller sein
als die Länder in Europa, die uns bisher vorgemacht haben, wie es geht. Damit komme ich auf den Faktor Zeit
zu sprechen. Wenn wir es schaffen, die Bürokratiekosten
bis zum Jahre 2011 um 25 Prozent zu reduzieren, wäre
Deutschland schneller, als die Niederlande es waren.
Dort hat man ein Jahr länger gebraucht, um dieses Ziel
zu erreichen. Ich denke, hier befindet sich Deutschland
im europäischen Durchschnitt.
Wir haben bereits enorm viele Vorarbeiten geleistet,
die allerdings nicht wahrgenommen werden. Sie müssen
auch nicht wahrgenommen werden; denn das ist die ganz
normale Arbeit der Regierung und der Politik insgesamt.
Das braucht den Bürger gar nicht zu interessieren.
Zunächst einmal musste identifiziert werden, welche
Bürokratiekosten es gibt und welche abgebaut werden
können. Mehr als 11 000 Informationspflichten wurden dingfest gemacht. Wir haben ganze Heere durch die
Keller geschickt, um herauszufinden, welche Informationspflichten in den letzten 50 Jahren geschaffen worden
sind. Natürlich können wir nicht auf alle 11 000 Informationspflichten ohne Weiteres verzichten. Eine wichtige Informationspflicht besteht zum Beispiel darin, dass
man, wenn man eine Steuererklärung abgibt, zumindest
erklärt, wie viel Geld man eingenommen hat. Am Ende
des Prozesses werden wir vielleicht zu dem Ergebnis
kommen, dass die Hälfte oder zwei Drittel der Informationspflichten unvermeidlich und weiterhin notwendig
sind. Wir dürfen unseren Erfolg daher nicht blindlings
nach den Zahlen und dem Verhältnis zueinander beurteilen.
Der entscheidende systematische Unterschied zu allen
bisherigen Vorgehensweisen ist, dass wir messbar machen, welche Bürokratiekosten wir abbauen. Wir rechnen
sie aus. Man wird wirklich messen können, ob es uns gelungen ist, die Bürokratiekosten bis 2011 um 25 Prozent
netto zu reduzieren. Große Probleme werden wir dann
bekommen, wenn wir dieses Ziel nicht erreichen sollten.
Lassen Sie uns diesen Prozess gemeinsam gestalten, damit er gelingt; denn was das Ziel anbetrifft, sind wir
ideologisch nicht auseinander.
Da wir nicht warten wollten, bis die Arbeit des Normenkontrollrats Wirkung zeigt, haben wir angefangen,
zugunsten des Mittelstands sozusagen übergangsweise
sogenannte Mittelstandsentlastungsgesetze einzuführen. Mit dem Ersten Mittelstandsentlastungsgesetz haben wir 17 Maßnahmen beschlossen. Wir haben darüber
hinaus 37 mittel- und längerfristige Bürokratieabbaumaßnahmen beschlossen, von denen der Mittelstand profitiert; davon sind zwei Drittel abgearbeitet. Mit dem
Zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz wollen wir weitere 19 Maßnahmen beschließen.
Die FDP hat uns nun - einen Tag vor der dritten Lesung unseres Gesetzentwurfs - 29 Maßnahmen vorgeschlagen. Diese Maßnahmen haben zum Teil einen ähnlichen Charakter wie die 19 Maßnahmen, die in unserem
Gesetzentwurf enthalten sind. Einige sind klar inhaltlicher Art und betreffen zum Beispiel den Kündigungsschutz. Ich habe immer gesagt: Wer wie die Linke den
Bürokratieabbau mit der Binnenkonjunktur verwechselt,
({1})
wird ähnlich wie der, der unter Bürokratieabbau Veränderungen am Kündigungsschutz verstehen will, nicht
weiterkommen. Ich behaupte sogar, er diskreditiert das
Instrument des Bürokratieabbaus.
({2})
Wir müssen zuerst die Regelungen abbauen, auf die verzichtet werden kann. Wir dürfen nicht in Bereichen anfangen, über die inhaltlich gestritten wird. Sonst eröffnete man bei jedem Punkt zum Abbau von Bürokratie
die Debatte über ein politisch strittiges Thema.
({3})
Dann blieben wir stecken und kämen keinen Millimeter
voran. Das wäre schade. Ich bitte deshalb darum, solche
Debatten, wenn überhaupt, am Ende dieses Prozesses zu
führen; dann mag das etwas bringen.
({4})
Die FDP hat 29 Maßnahmen vorgeschlagen. Von denen werden wir eine ganze Menge ernsthaft daraufhin
prüfen, ob wir sie in das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz aufnehmen.
({5})
Wettbewerb ist gut. Wer etwas Gescheites weiß, wer
Vorschläge hat, was abgebaut werden kann, der soll sich
melden; er ist herzlich dazu eingeladen. Unser gemeinsames Ziel ist der Bürokratieabbau. Wer jedoch den Prozess insgesamt kritisiert, bewegt sich außerhalb europäischer Standards. Wir bewegen uns mit der Methodik, mit
der wir vorgehen, und auch mit unserer Geschwindigkeit
auf dem Niveau, das die Holländer und die Engländer erreicht haben und das man auch bei den Dänen sehen
kann. Insofern sind wir da gut aufgestellt. Wenn es
schneller geht, umso besser.
Wir haben im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft die europäische Ebene eingebunden; das ist
wichtig. Manche EU-Staaten weigern sich leider noch,
mitzuteilen, ob sie sich auch einer externen Normenkontrolle unterwerfen wollen. Daran müssen wir noch arbeiten.
Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen. Hier wird
immer gesagt, wir sollten das Verfahren dahin gehend
erweitern, dass auch die Gesetzentwürfe der Fraktionen
dem Normenkontrollverfahren unterworfen werden
können. Die Fraktionen sind herzlich eingeladen. Für die
CDU/CSU-Fraktion kann ich hier erklären: Von den Gesetzentwürfen unserer Fraktion, die in der Regel Gesetzentwürfe der Großen Koalition sein werden, werden wir
verlangen, dass sie dem Normenkontrollverfahren unterzogen werden. Es hindert Sie niemand daran, es mit Ihren genauso zu machen. Doch ich befürchte, dass sich
die eine oder andere Fraktion weigert, ihre Gesetzentwürfe prüfen zu lassen.
Es gibt allerdings ein objektives Problem: Wenn jeder
Gesetzentwurf jeder Fraktion, egal in welchem Realisierungsstadium er ist und egal ob er überhaupt die Chance
hat, jemals eine Mehrheit zu finden, ernsthaft geprüft
werden soll, wird der Normenkontrollrat in Arbeit ersaufen. Draufschauen und den Gedanken schärfen, das ist in
Ordnung. Aber wenn wir jeden Gesetzentwurf von vornherein dem Normenkontrollverfahren unterziehen lassen, dann werden wir nicht von der Stelle kommen. Es
gibt also einen limitierenden Faktor.
Für den Fall, dass eine Fraktion bürokratische Regelungen einführen will und meint, sie könne verhindern,
dabei erwischt zu werden, indem sie sich vor dem Normenkontrollverfahren drückt, habe ich die herzliche
Bitte, in diesem Hohen Haus die Debatte zu führen. Das
ist die souveräne Wahrnehmung der Rechte des Parlaments.
({6})
Wir können das gerne vertiefen; aber ich glaube, das ist
im Moment nicht nötig.
Wir werden in einer späteren Phase nicht bei der Abschaffung von Informationspflichten stehen bleiben können. Die Mittelstandsentlastungsgesetze beschränken
sich auch nicht darauf; in ihnen geht es kunterbunt durch
den Bereich der Bürokratie. Deshalb sage ich noch einmal: Machen Sie Vorschläge! Wir werden sie uns gerne
anschauen.
({7})
Ich betrachte dies als einen Prozess, den wir mit andauernder Kreativität gestalten müssen. Es gibt genügend Widerstände in den Beharrungselementen unserer
Gesellschaft, in den Beharrungselementen unserer Lobbyverbände, in den Beharrungselementen des Gewohnten. Darüber brauchen wir uns im Parlament eigentlich
nicht zu streiten. Wir sollten uns vielmehr schlaumachen, wie wir weiterkommen, wie wir das gemeinsam
angestrebte Ziel erreichen, den Mittelstand und die Bürger, aber auch die Verwaltungen von bürokratischen Belastungen zu befreien. Die Kosten der Bürokratie werden
auf zwischen 40 und 70 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Wir haben wahrlich genug Kosten in Deutschland, und der weltweite Wettbewerb ist hart genug.
Wenn wir da bestehen wollen, sind wir gut beraten, miteinander so schnell wie möglich möglichst viel unnötige
Bürokratie abzubauen, ohne gleich inhaltliche Debatten
über strittige Themen zu eröffnen. Ich lade Sie alle dazu
ein.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächster Rednerin erteile ich Kollegin Edelgard
Bulmahn, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der große Schriftsteller William Somerset
Maugham hat die Bürokratie mit der Sintflut verglichen.
Allerdings befürchtete er, dass die Menschen bei der
nächsten Sintflut nicht im Wasser, sondern im Papier ertrinken würden.
({0})
Das bleibt uns hoffentlich erspart; denn wir haben im
vergangenen Jahr begonnen, wichtige Schritte zum AbEdelgard Bulmahn
bau von Bürokratie zu unternehmen: zum Beispiel durch
die verpflichtende Bürokratiekostenmessung nach dem
Standardkostenmodell, durch die Einsetzung eines hochrangig besetzten Normenkontrollrates sowie durch das
Erste Mittelstandsentlastungsgesetz. Mit dem Zweiten
Mittelstandsentlastungsgesetz setzen wir diese Politik
konsequent fort.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, kritisieren, dass dieser Gesetzentwurf nicht der
große Wurf sei, mit dem man die gesamte überflüssige
Bürokratie sozusagen über Nacht wegfegen könne. Es ist
richtig; das gelingt uns nicht. Aber glauben Sie ernsthaft,
dass bürokratische Vorschriften und Regelungen, die in
den letzten 50 Jahren entstanden sind und hinsichtlich
derer sich jede der hier anwesenden Fraktionen an ihre
eigene Brust klopfen muss, über Nacht verschwinden
können? Ich fürchte, das ist leider nicht möglich.
({1})
Notwendig und wichtig ist, dass wir kontinuierlich jedes Gesetz, jede Verordnung und jede Regelung kritisch
überprüfen. Bei jedem Gesetz müssen wir Bürokratie
vermeiden bzw. dafür sorgen, dass Bürokratie abgebaut
wird. Das ist der richtige Weg, und auf diesem Weg sind
wir. Durch überbordende bürokratische Regelungen
werden die Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklung
gehemmt. Arbeitskräfte und Geld werden gebunden,
ohne produktiv zu sein. Zusätzlich kosten sie auch noch
Zeit. Deshalb ist es gerade für den Mittelstand, für die
kleinen und mittleren Unternehmen, so wichtig, dass wir
fortfahren, sie von überflüssiger Bürokratie zu entlasten.
Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen werden,
ist eine Bürokratiekostenentlastung in Höhe von mindestens 58,8 Millionen Euro für die Unternehmen und
mindestens 5 Millionen Euro für die Verwaltung verbunden. Das erscheint auf den ersten Blick vielleicht nicht
viel, aber wir müssen es zu dem addieren, was wir in der
Vergangenheit - im letzten Jahr - schon geschafft haben,
zum Beispiel über den Normenkontrollrat. Ich sage es
noch einmal ausdrücklich: Entscheidend ist, dass wir
diesen Weg konsequent weitergehen.
({2})
Durch dieses Mittelstandsentlastungsgesetz werden
Informations- und Erlaubnispflichten abgeschafft bzw.
vereinfacht. An die Adresse der FDP und der Linken
sage ich ausdrücklich: Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir schaffen Bürokratie ab, wir schaffen nicht Arbeitnehmerrechte ab.
({3})
Wir werden den Kündigungsschutz nicht abschaffen,
Herr Zeil, weil es falsch wäre.
({4})
Mit der faktischen Abschaffung des Kündigungsschutzes, wie in Ihrem Vorschlag vorgesehen, schaffen Sie
keinen einzigen neuen Arbeitsplatz.
({5})
Sie schaffen - im Gegenteil - Angst und Verunsicherung. Das führt gerade nicht zu Motivation, zu wirtschaftlichem Aufschwung und zur Stärkung des Binnenmarktes.
({6})
Gestatten Sie mir eine weitere Anmerkung. Frau
Zimmermann, der Aufschwung ist beim Mittelstand angekommen. 75 Prozent aller mittelständischen Unternehmen planen jetzt, ihre Investitionen gegenüber ihren
ursprünglichen Ansätzen zu erhöhen. Das ist doch ein
Erfolg.
({7})
Das zeigt, dass auch der Mittelstand am wirtschaftlichen
Aufschwung partizipiert.
({8})
Das müssen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
({9})
Sie können doch, genau wie ich, lesen.
({10})
Wir können davon ausgehen, dass in diesem Jahr rund
70 000 zusätzliche Arbeitsplätze allein durch den Mittelstand geschaffen werden. Mir ist jeder Arbeitslose wichtig, und es ist mir wert, dass wir alle Anstrengungen unternehmen, damit jeder Arbeitslose eine Chance auf
einen Arbeitsplatz hat.
({11})
Genau dies wollen wir damit doch erreichen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Letztendlich profitiert auch die
Binnenkonjunktur davon: die Baubranche, der gesamte
Hotel- und Gaststättenbereich und der Dienstleistungsbereich. Das sind doch gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Also sollten wir über die Probleme reden, die wir wirklich haben; von ihnen gibt es
noch genug. Wir sollten diese Probleme lösen und hier
nicht die Wolke sieben beschwören. Dies hilft uns überhaupt nicht weiter.
({12})
Lassen Sie mich noch auf ein ganz konkretes Beispiel
eingehen, weil wir davon überzeugt sind, dass wir nur
dann den Mittelstand erfolgreich von bürokratischen Anforderungen entlasten können, wenn wir es in einem engen Dialog mit dem Mittelstand tun. Dies haben wir getan, und deshalb haben wir bei den parlamentarischen
Beratungen einem Vorschlag von einigen Industrieund Handelskammern insofern Rechnung getragen, als
wir den Kammern einräumen, in ihrem Kammerbezirk
den Mitgliedern einen ermäßigten Grundbeitrag einzuräumen, wenn eine Muttergesellschaft und eine 100-pro10510
zentige Tochtergesellschaft mit ihren Hauptsitzen derselben Kammer angehören.
({13})
Damit zeigen wir, dass wir auf gute Vorschläge eingehen. Wir schaffen Ermessensregelungen und geben den
Kammern Gelegenheit, ihre Gegebenheiten zu berücksichtigen. Genau dies ist der richtige Weg, der vor allem
für gemischtgewerbliche Unternehmen, die gleichzeitig
in einer IHK und einer Handwerkskammer sind, von
praktischer Relevanz ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erringen heute
mit unserem Gesetzentwurf einen weiteren Etappensieg.
Ich rufe etwas in Erinnerung, was wir aus dem Fußball
und vielen anderen Sportarten kennen: Viele Etappensiege führen zur Meisterschaft. Genau das ist unser Ziel.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie von den Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes
zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in
der mittelständischen Wirtschaft. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5522,
die genannten Gesetzentwürfe der Bundesregierung sowie der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zusammenzuführen und das Gesetz zum Abbau bürokratischer
Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linken und
der Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
in der Abstimmung der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5598. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
FDP abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 16/5522 fort. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5522 die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4605 mit dem Titel
„Mehr Anreize beim Bürokratieabbau - Für eine Kostenerstattung staatlicher Pflichtdienste“. Wer stimmt dieser
Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Unterstützung der
Überwachungsmission AMIS der Afrikanischen Union ({0}) in der Region Darfur/Sudan
auf Grundlage der Resolutionen 1556 ({1})
und 1564 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 30. Juli 2004 und
18. September 2004
- Drucksache 16/5436 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Ursula Mogg, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die aktuell als Bundestagsdrucksachen vorliegenden Anträge und weiteren Papiere zum Thema
Afrika machen deutlich, dass der Vorwurf der Ignoranz
gegenüber diesem Nachbarkontinent heute - jedenfalls
in dieser Pauschalität - nicht erhoben werden kann. Dieses Haus hat Afrika auf seinem Schirm. Das belegt die
erfolgreiche EU-Mission des vergangenen Jahres im
Kongo, allen vorangegangen Befürchtungen und
schwierigen Diskussionen zum Trotz. Dies belegen deutsche Engagements im Rahmen von UNMEE für Äthiopien und Eritrea und von UNMIS zur Absicherung des
Friedens im Südsudan. Dazu haben auch die aktuellen
Debatten rund um den G-8-Gipfel der vergangenen Woche beigetragen, die mit konkreten Ergebnissen zu einem vorläufigen Abschluss gebracht werden konnten:
Zur Stärkung Afrikas und der Entwicklungszusammenarbeit wird Deutschland in den kommenden vier Jahren
3 Milliarden Euro bereitstellen.
Hoffnung keimt auch an einer anderen Stelle: Heute
berichteten mehrere deutsche Tageszeitungen darüber,
dass der Sudan nach monatelangen Verhandlungen endlich bereit ist, eine sogenannte Hybridmission der Afrikanischen Union und der UN in Darfur zu stationieren.
Das bedeutet: Jenseits der heutigen Entscheidung der
Mandatsverlängerung für AMIS wird uns der Sudan in
diesem Haus weiterhin beschäftigen.
Heute entscheiden wir über eine Mission, die wir erstmals im September 2004 auf den Weg gebracht und seitdem viermal verlängert haben. Wir unterstützen in dieser
Mission die Afrikanische Union bei ihren Bemühungen,
die Situation in der Region Darfur zu entspannen. Es
handelt sich um logistische Hilfe, die die AU selbst
nicht bereitstellen kann und für die ihr die finanziellen
Mittel fehlen. Wir folgen damit dem politischen Ansatz,
die Afrikanische Union selber in die Lage zu versetzen,
das zu tun, was sie für den afrikanischen Kontinent für
sinnvoll und notwendig hält. Mit Blick auf anstehende
Rotationen und den geplanten personellen Aufwuchs des
AMIS-Kontingents wird die AU weiterhin auf logistische Unterstützung durch Lufttransporte und die Bereitstellung finanzieller Mittel angewiesen sein. Wir sind
bereit, diese Hilfe fortzuführen.
({0})
Über die Mittel hinaus, die von der EU für AMIS bereitgestellt werden, leistet Deutschland seine eigenen nationalen Beiträge. Dabei vergessen wir selbstverständlich nicht, dass dies alles kein Selbstzweck ist, sondern
dass es darum geht, den Menschen in der Krisenregion
Darfur konkrete humanitäre Hilfe zu gewähren. Mit bisher 80 Millionen Euro ist Deutschland einer der größten
Geber humanitärer Hilfe in der Darfurkrise.
Nicht verschweigen wollen wir selbstverständlich,
dass uns dies alles nicht zufrieden oder gar selbstgefällig
machen darf. Die Lage ist und bleibt besorgniserregend.
Parallelen zu dem Völkermord in Ruanda vom Frühjahr
1994 und zur Rolle des Westens, aber auch der Vereinten
Nationen bzw. der internationalen Staatengemeinschaft
insgesamt werden gezogen.
({1})
Speziell in Darfur haben wir es mit Konflikten und
Verbrechen zu tun, deren Vielschichtigkeit und die
Schwierigkeit, sie geografisch zu verorten, eine Schlichtung sehr erschweren. Dies hat sich in den Verhandlungen und Gesprächen mit der sudanesischen Regierung
immer wieder gezeigt. Schon deswegen verdient das
Engagement der Afrikanischen Union in Darfur jede Unterstützung. Es ist bekannt und im Übrigen auch dem
vorliegenden Antrag zu entnehmen, dass diese Mission,
die von den Vereinten Nationen unterstützt wird, in gravierender Weise unterfinanziert ist. Es ist daher sehr zu
begrüßen, dass mit dem Konzept einer Hybridmission,
die die Missionen der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen zusammenführt, jetzt endlich eine Lösung in Sicht ist.
({2})
- Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten darüber zu diskutieren haben. Aber es ist ein guter Anfang
gemacht, Herr Kollege.
Wir können nicht einfach zusehen, wenn erneut ein
Massenmord in vollem Gang ist. Aus diesem Grunde ist
es richtig und wichtig, dass auch Deutschland weiter an
den Bemühungen mitwirkt, der Gewalt im Westen des
Sudan Einhalt zu gebieten,
({3})
bzw. diese Bemühungen unterstützt, wo immer sie vorhanden sind.
Es ist vor allem ein Engagement, mit dem wir, die
Bundesrepublik Deutschland und auch Europa, unsere
Verantwortung für unseren südlichen Nachbarkontinent
deutlich machen. Das Ende konkreter Gewalt, die Schaffung von Frieden und perspektivisch die Schaffung von
innerer und äußerer Sicherheit, die Etablierung eines
staatlichen Gewaltmonopols und wenigstens in Ansätzen
rechtsstaatliche Strukturen sind die Voraussetzungen dafür, dass aus Afrika der prosperierende Kontinent wird,
der er aufgrund seiner vielfältigen Potenziale sein
könnte.
Das humanitäre Bemühen um Millionen von Flüchtlingen ist in der aktuellen Situation von herausragender
Wichtigkeit. Aber wenn wir nicht wollen, dass alsbald
der nächste Konflikt in einem anderen Teil des Kontinents entsteht, der uns zum Eingreifen drängt, dann gilt
es grundsätzlich im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung, im Interesse von Frauen und Kindern, fragwürdigen Eliten, aber auch marodierenden Banden und kriminellen Netzwerken Einhalt zu gebieten.
AMIS ist eine wichtige und notwendige Mission, weil
sie zwar eine kleine, aber praktische und wirksame Hilfe
für die Afrikanische Union und die gepeinigten Menschen im Westsudan bedeutet. AMIS ist allerdings noch
mehr: Ich habe die Hoffnung, dass AMIS auch im afrikanischen Kontext zu mehr Verantwortung, mehr
Selbstbewusstsein und einem größeren Wertebewusstsein unter den afrikanischen Staaten führen wird. Für
Afrika eine Perspektive zu schaffen, kann nur gelingen,
wenn der internationalen Gemeinschaft die Initialzündung dafür gelingt, dass sich die Völker und Nationen
dieses Kontinents selbst von Korruption, Misswirtschaft,
Ausbeutung und Gewalt emanzipieren können. Ihnen
dabei jede mögliche Hilfestellung zu geben, sollte unser
vorrangiges Bemühen sein: im Sudan ebenso wie in einigen anderen Brennpunkten des Kontinents.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Marina Schuster, FDPFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unsere Fraktion wird der Verlängerung des Mandats zustimmen. Ich meine, dass uns die
Situation vor Ort, in Darfur dazu verpflichtet. Gleichwohl wissen wir, dass es die AMIS-Truppe nach wie vor
nicht schafft, für die Sicherheit der Menschen zu sorgen.
Das liegt zum einen am AU-Mandat selbst; zum anderen
mangelt es aber auch an der finanziellen, materiellen und
personellen Ausstattung der AMIS-Truppe. Was heißt
das für die Menschen in Darfur? Den Menschen dort ist
verwehrt, was in Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948 geschrieben steht: „Jeder hat
das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Das sollten wir uns hier, aber auch den Beteiligten
im Sudan ins Gedächtnis rufen.
Ich möchte an dieser Stelle an den interfraktionellen
Antrag zu Darfur von Ende April erinnern. Darin wird
die Bundesregierung aufgefordert, die Einrichtung eines
partiellen Flugverbots über Darfur zu prüfen und dem
Parlament bis zum 30. Juni darüber zu berichten. Ich
möchte anmerken, dass wir, das Parlament, diesen Bericht erwarten und wissen wollen, wie sich die Bundesregierung dazu verhält.
({0})
Wir dürfen dabei jedoch den politischen Prozess in
Darfur nicht vergessen; denn es kann einen dauerhaften
Frieden nur geben, wenn er von allen Gruppen in Darfur
getragen wird. Es gibt keine militärische Lösung des
Konflikts in Darfur, weil Friedenstruppen nur ein Teil einer politischen Lösung sein können.
({1})
Auch die Staats- und Regierungschefs haben in ihrer
Darfurerklärung auf dem G-8-Gipfel zu Recht darauf
verwiesen. Umso wichtiger ist es nun, als internationale
Gemeinschaft geschlossen zu agieren, um den diplomatischen Druck aufrechtzuerhalten; denn aus Khartoum
empfangen wir wieder widersprüchliche Signale. Meine
Vorrednerin hatte das schon angesprochen. In der vergangenen Woche hat der Sudan die Einladung zur
Pariser Darfurkonferenz abgelehnt.
({2})
Frankreich wird dort am 25. Juni unter anderem mit Vertretern der USA, Chinas und Ägyptens über den Einsatz
von Friedenstruppen beraten. Erst gestern und vorgestern lief aber über die Ticker, dass Bashir überraschend
seine Zustimmung zur Umsetzung des Drei-PhasenPlans gegeben hat. Die Einzelheiten sind offen. Ich
hoffe aber im Interesse der Menschen in Darfur, dass die
Erklärung Bashirs nun umgesetzt wird, dass die Verzögerungstaktik ein Ende hat. Ich bin gespannt, was die
Reise des UN-Sicherheitsrats bringen wird.
Eines ist uns allen klar: Wir dürfen nicht noch mehr
Zeit verlieren.
({3})
Das zeigt auch die Situation in den Nachbarländern. Dieser Tage erreichen uns Meldungen der „Ärzte ohne
Grenzen“, wonach sich die Situation auch im Tschad
dramatisch verschärft. Für die rund 150 000 Flüchtlinge
an der Grenze verschlimmert sich die Lage zunehmend.
Auch der Konfliktherd am Horn von Afrika ist nicht
weit entfernt. Das zeigt: Wir können das nur regional betrachten. Wir müssen immer die regionale Dimension im
Auge haben. Eine Lösung dieses Konflikts liegt im Interesse von ganz Ostafrika, aber auch in unserem Interesse.
({4})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die AU
zurückkommen. Die Bundeskanzlerin hat auf dem
Africa-Partnership-Forum am 22. Mai gesagt, dass es
ein Anliegen der Europäischen Union ist, „alles zu tun,
um Fähigkeiten, Möglichkeiten und Kräfte dieser Afrikanischen Union zu unterstützen und ihr auf dem weiteren Weg zu helfen“.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schmidbauer?
Ja, bitte.
Herzlichen Dank, liebe Frau Kollegin. - Ich entnehme Ihren Ausführungen von heute Morgen - darin
stimme ich Ihnen voll zu -, dass damit zu rechnen ist,
dass die Hybridmission in Darfur, sofern die Regierung
in Khartoum zustimmt, erst im nächsten Jahr erfolgt. Ich
finde, das ist nicht befriedigend.
({0})
Ich gebe Ihnen recht. Wir haben heute bereits im Ausschuss darüber gesprochen - Frau Herta Däubler-Gmelin
hat die Planungen erwähnt -, dass das wahrscheinlich
erst 2008 der Fall sein wird.
Ich komme auf das Zitat von Frau Kanzlerin Merkel
zurück; denn das ist, glaube ich, für die weitere Entwicklung sehr wichtig. Sie hat versprochen, „alles zu tun, um
Fähigkeiten, Möglichkeiten und Kräfte dieser Afrikanischen Union zu unterstützen und ihr auf dem weiteren
Weg zu helfen“. Frau Merkel, wir nehmen Sie beim
Wort. Ich bitte die anwesenden beiden Minister und den
Staatssekretär, das an die Frau Kanzlerin weiterzugeben,
was hier erörtert wird; denn es handelt sich um eine essenzielle Frage. Die Zusammenarbeit mit der AU, was
das Mandat betrifft, ist sicherlich wichtig. Aber wir meinen es grundsätzlich. Wir können die AU als Institution
noch viel stärker unterstützen, zum Beispiel beim Aufbau des Gerichtshofs und beim Dialog mit dem Panafrikanischen Parlament.
Ich appelliere daher an die Bundesregierung, ihren
Einfluss auch nach Heiligendamm geltend zu machen
und zusammen mit der internationalen Gemeinschaft geschlossen Druck auf das Regime in Khartoum auszuüben. Die Kanzlerin muss uns zeigen, dass sie ihr Wort
hält, auch wenn das Blitzlichtgewitter der Kameras verschwunden ist.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Hartwig Fischer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist natürlich auch so, dass sich manche solche Blitzlichtgewitter wünschen würden. Aber das ist nicht jedem
beschieden.
Wir reden heute über einen Antrag, den ich mit dem
Antrag der Bundesregierung, der am 3. Dezember 2004
zum selben Thema gestellt wurde, vergleichen möchte.
Damals wurde der Antrag der Bundesregierung mit
70 000 Toten, 1,8 Millionen Vertriebenen - davon
200 000 Vertriebene im Tschad - und einer Gefährdung
des Weltfriedens begründet. Fünfmal haben wir dieses
Mandat verlängert, und wir lesen jetzt in einem Report
der Europäischen Union und einer Entschließung des
Europäischen Parlaments, dass es in den vergangenen
dreieinhalb Jahren inzwischen 400 000 Tote, das heißt
monatlich über 10 000 Tote, und 2,5 Millionen Vertriebene gegeben hat.
Wenn wir uns heute die Bilder ansehen - Frau Präsidentin, ich habe heute nicht um Erlaubnis gefragt, weshalb ich die Bilder hier nicht hochhalte -, die wir im Internet sehen können, dann müssen Sie dazu wissen, dass
in Darfur inzwischen 1 195 Siedlungen, Dörfer und
Städte total zerstört und 411 Siedlungen, Dörfer und
Städte so beschädigt sind, dass sie nicht mehr bewohnt
werden können. Wir wissen, dass sich dieser Konflikt inzwischen auf den Tschad ausgeweitet hat. Wir haben
vorgestern die Nachricht bekommen, dass Elsa Serfass,
eine 27-jährige Logistikhelferin von „Ärzte ohne Grenzen“, im Grenzgebiet erschossen worden ist.
Ich sage ganz offen: Vor diesem Hintergrund lesen
wir den Antrag der Linken, eine reine zivile Komponente vorzusehen und die humanitäre Hilfe zu verstetigen und zu verstärken. Wir wollen die humanitäre Hilfe
verstärken, wir haben in solchen Krisengebieten aber
auch eine Verantwortung für die Helfer. Es muss auch
militärische Einsätze geben, ohne die Hilfe, auch humanitäre Hilfe, nicht möglich ist.
({0})
Die Kollegin Schuster hat eben den zeitlichen Ablauf
deutlich gemacht. Das Mandat AMIS ist am 30. November bis zum 30. Juni dieses Jahres verlängert worden. Sie
haben gesagt, die Mission sei unterfinanziert und kaum
noch einsatzfähig.
({1})
- Doch, das wird allgemein bestätigt und ist auch im
Ausschuss von Ihren Kollegen gesagt worden. Das ist
teilweise auch nicht falsch. Deshalb gehe ich gleich in
Bezug auf Heiligendamm darauf ein. - Wir haben weiterhin erlebt, dass das leichte Unterstützungspaket derzeit umgesetzt wird. Wir wissen, dass die Regierung des
Sudan gestern die Zustimmung zu einer Hybridmission
erteilt hat. Ich warte allerdings ab, wie die Gespräche am
Sonntag ausgehen werden, wenn der UN-Sicherheitsrat
extra in den Sudan reist. Man muss abwarten, was in der
Realität ausgehandelt wird; denn wir haben oft genug die
Halbwertzeit der Äußerungen von Herrn Baschir erlebt.
Ich war erschüttert, als ich vor einer halben Stunde oben
im Fraktionssitzungssaal der CDU/CSU bei den internationalen Begegnungen den persönlichen Berater des Präsidenten Baschir gehört habe, der erklärt hat, sie seien
auf einem guten Weg, sie hätten aus der Situation im
Südsudan gelernt, es müsse manche Verwerfungen geben, und es habe auch immer wieder Tote gegeben. Das
war vollkommen fernab jeder Realität dessen, was wir
dort erleben.
Das, was jetzt mit einer Hybridmission möglich ist,
verlangt auch den besonderen Einsatz dieser Bundesregierung. Wir haben jetzt Heiligendamm hinter uns. Wir
haben die Erklärung der G 8 zu Darfur/Sudan, die wir
im Parlament gefordert haben, eine Erklärung, die ganz
klar auch auf die zivile Komponente setzt, aber gleichzeitig auch den militärischen Druck erhöht. Gleichzeitig
haben wir einen Koalitionsvertrag, in dem klare Aussagen zum Aufwuchs in Bezug auf die Millenium Development Goals gemacht worden sind. Das bedeutet eine
besondere Verantwortung.
Jetzt will ich etwas zum Koalitionsklima sagen. Ich
sage das jedenfalls für den Bereich, in dem wir arbeiten.
Wir haben eine enge Zusammenarbeit in den AGs gehabt. Wir haben diesen Gipfel auch als AGs der Fraktionen hervorragend vorbereitet. Wir haben Anträge hier im
Parlament eingebracht. Wir haben nicht nur eine optimale Darstellung der Kanzlerin gehabt, sondern auch
eine gute Zusammenarbeit zwischen Frau WieczorekZeul, Herrn Steinbrück - es geht auch um finanzielle
Dinge -, der AG Finanzen, Herrn Steinmeier und Herrn
Jung; denn das alles muss zusammengeführt werden. Ich
finde, solch ein Klima soll man auch einmal nach außen
hin darstellen.
({2})
Ich habe leider den Eindruck, dass sehr vieles von außerhalb der Koalition zerredet wird. Es wird auch von denen gemäkelt und gemeckert, die teilweise selber lange
in der Verantwortung gewesen sind. Gerade was die Millennium Development Goals und die finanzielle Ausstattung angeht, sind sie nicht in der Lage gewesen, im
Haushalt entsprechende Zahlen zu präsentieren. Ich will
das angesichts der Äußerungen von Herrn Bütiköfer und
von Frau Roth noch einmal deutlich machen.
Eben hat Herr Beck „Was macht die Koalition?“ dazwischengerufen.
({3})
Ich nenne jetzt einmal ein paar Zahlen, die im Zusammenhang mit einer entsprechenden Mitfinanzierung von
AMIS stehen, Herr Beck. Im Haushalt des Jahres 1998
waren 4,05 Milliarden Euro veranschlagt. Dann kam der
Regierungswechsel; daraufhin waren im Haushalt
Hartwig Fischer ({4})
3,99 Milliarden Euro veranschlagt. Im letzten Jahr der
rot-grünen Regierung wurden 3,925 Milliarden Euro bereitgestellt. Das waren sieben Jahre nach Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl 125 Millionen Euro weniger. Der Haushalt im ersten Jahr dieser Regierung
enthielt einen Aufwuchs auf 4,17 Milliarden Euro, der
Haushalt im zweiten Jahr dieser Regierung einen Aufwuchs auf 4,493 Milliarden Euro. Da ich davon ausgehe,
dass wir in dieser Koalition gemeinsam die Zusagen von
Heiligendamm umsetzen, werden über 5 Milliarden
Euro zur Verfügung gestellt werden. Damit werden
Signale gesetzt, wie sie von keinem anderen Ministerium ausgehen.
({5})
Auch in Richtung der Koalition möchte ich sagen: Ich
habe den Eindruck - ich lese Zeitung -, dass das Klima
in der Koalition - jedenfalls in diesem Bereich - erheblich besser ist, als es draußen manchmal dargestellt wird.
({6})
- Natürlich geht es auch um die Finanzierung des Einsatzes in Darfur, Herr Königshaus. Dazu kann ich Ihnen nur
sagen: Rot-Grün hätte und hat sie so nicht zustande gebracht.
Ich stelle bezüglich der Koalition auch selbstkritisch
fest, Herr Königshaus: Es gibt den einen oder anderen,
über den man zweideutig-eindeutig „Beck to the Opposition“ sagen kann. Dergleichen muss man vermuten,
wenn man manche Darstellung der Koalition sieht.
In den vergangenen Jahren, in denen Rot-Grün in der
Verantwortung war, haben sie die AMIS-Beschlüsse mitgetragen
({7})
- ich habe gerade die Grünen gemeint -, haben sie die
Beschlüsse von Gleneagles mit gefasst, aber die entsprechenden haushaltsrechtlichen Voraussetzungen nicht geschaffen.
({8})
Das ist der Großen Koalition gelungen. Deshalb sind wir
jetzt in der Lage, AMIS als Hybridmission entsprechend
zu unterstützen. Damit wird deutlich gemacht, dass wir
nicht nur materiell und personell, sondern auch finanziell hinter diesem für die Menschen in Darfur und damit
im ganzen Sudan dringend notwendigen Einsatz stehen.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Hänsel von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Gäste! „Wir betonen, dass es für den Konflikt in Darfur
keine militärische Lösung gibt“, so steht es in der Abschlusserklärung des G-8-Gipfels der vergangenen Woche. Trotzdem ging von diesem Gipfeltreffen der G 8
keine echte Initiative für einen politischen Weg aus der
Krise aus. Auch von der Bundesregierung wurde im
Rahmen der G-8- und der EU-Präsidentschaft bisher
keine eigenständige politische Initiative zur Beendigung
der menschlichen Katastrophe in Darfur ergriffen.
({0})
Die Bundesregierung konzentriert sich stattdessen darauf, die Hybrid-AMIS/UN-Militär-Mission durchzusetzen. Diese stützt sich aber - das ist das Hauptproblem auf ein brüchiges Friedensabkommen, das nicht einmal
von allen Konfliktparteien getragen wird. Das ist in unseren Augen überhaupt keine Grundlage für das Ergreifen irgendwelcher weiterer Schritte.
({1})
Das betrifft übrigens auch die Entsendung von Soldaten, Herr Schmidbauer. Wie soll man überhaupt Soldaten
in eine Region schicken, wenn es kein belastbares Friedensabkommen gibt? Was sollen sie machen? Was sollen
sie umsetzen? In vielen Krisenregionen dieser Erde
- Kosovo, Afghanistan - zeigt sich: Wenn es an politischen Konzepten fehlt, dann braucht man dorthin überhaupt keine Soldaten zu schicken.
Herr Fischer, Ihnen muss ich auch sagen: Sie wissen
ganz genau - hören Sie mir bitte zu -, dass humanitäre
Hilfe eine zweischneidige Sache ist. Entwicklungshelfer
werden durch Militär nicht nur beschützt. Viele Entwicklungshelfer distanzieren sich von militärischem Schutz,
weil sie sich gefährdet fühlen, und gehen auf Distanz.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren Sie schon einmal dort?
- Natürlich. Fragen Sie die Hilfsorganisationen! Die haben gesagt, wenn Soldaten kommen, gehen sie raus, weil
sie gefährdet sind.
({2})
Das ist Realität. In Afghanistan ist es genauso.
({3})
- Es gibt die Deutsche Welthungerhilfe, die sich aus
Afghanistan zurückgezogen hat, weil die Mitarbeiter so
gefährdet sind. Zahlreiche Organisationen, sagen, dass
sie nicht weiterarbeiten können, wenn es dort eine Militärpräsenz gibt. Das wissen Sie ganz genau.
({4})
Wir betonen deshalb in unserem Entschließungsantrag: Wir brauchen eine politische Initiative. Das ist
kein Ersatz für militärische Lösungen. Für uns ist dabei
ganz entscheidend - das hat bisher gefehlt, und das ist
eine zentrale Forderung unsererseits -, dass wir möglichst viele Akteure an einen Tisch bekommen müssen.
({5})
Das betrifft die sudanesische Regierung und die aufgesplitterten Rebellengruppen, die Milizenführer. Ganz
wichtig ist - das hat bisher auch gefehlt -, die Zivilgesellschaft umfassend in solche Friedensverhandlungen
einzubeziehen. Wir haben dort lokale Politikerinnen und
Politiker.
({6})
Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schuster zu?
Ja.
Frau Kollegin Hänsel, ich habe eine kurze Zwischenfrage: Ist das, was in Darfur passiert, nach Ihrer Meinung
ein Völkermord oder nicht?
In meinen Augen gibt es dort ein Massaker an Menschen, aber ob es ein Völkermord ist, kann ich nicht entscheiden.
({0})
Nach UN-Recht muss es eine systematische Intention
der sudanesischen Regierung geben, dass sie eine Volksgruppe vernichten will. Sie wissen ganz genau, wie die
Definition von Völkermord ist.
({1})
- Sind 2 Millionen Flüchtlinge ein Völkermord? Wir haben keine 2 Millionen Toten. Entschuldigen Sie!
({2})
- Er hat gerade von 2 Millionen Toten gesprochen.
({3})
- Aber das ist kein Völkermord.
({4})
Wir haben unterschiedliche Zahlen. Sie, Herr Fischer,
haben heute im Ausschuss gefragt: Wieso steht plötzlich
die Zahl von 400 000 im europäischen Dokument, wenn
in anderen Dokumenten von 200 000 Menschen die
Rede ist? Das haben Sie heute im Ausschuss gefragt.
Und was war Ihre Antwort?
({5})
- Sie hat mich gefragt, ob es um einen Völkermord geht.
Jeder einzelne tote Mensch ist ein Toter zu viel. Das wissen Sie doch ganz genau.
({6})
- Die Frage ist, ob es um Völkermord geht, und da gibt
es eine konkrete Definition der Vereinten Nationen. Das
wissen Sie doch auch.
({7})
- Nein. Entschuldigen Sie. Im Irak sterben sehr viele
Menschen. Ist das für Sie ein Völkermord oder nicht? Nein, Frau Schuster.
({8}): Wir reden von Darfur! -
Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir sollten
uns hier nicht die Redezeit klauen lassen! -
Iris Gleicke [SPD]: Die Redezeit ist längst ab-
gelaufen! - Bernd Schmidbauer [CDU/CSU]:
Fangen Sie noch einmal von vorne an, aber or-
dentlich!)
- Die Redezeit ist gar nicht zu Ende, weil ich gerade die
Frage beantwortet habe.
({9})
Entschuldigung, Frau Kollegin. Ich habe genau aufgepasst und weiß, wann Sie mit der Antwort auf die
Frage der Kollegin aufgehört und sich Herrn Beck zugewandt haben. In dem Moment ging es nicht mehr um die
Beantwortung der Frage, und ich habe die Uhr weiterlaufen lassen. Deswegen ist Ihre Redezeit jetzt abgelaufen.
Danke schön. Das ist ja ein Quatsch.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Meine Damen und Herren! Ich finde die Diskussionslage und gerade den letzten Beitrag hier im Hohen Hause
der Sache nicht angemessen.
({0})
Ich glaube - die Fraktion Die Linke ist wahrscheinlich
nur das extremste Beispiel -, wir scheuen uns, die Wahrheit so deutlich auszusprechen, wie sie auszusprechen
ist. Im Sudan, in Darfur findet ein Völkermord statt.
({1})
Hunderttausende von Menschen haben ihr Leben verloren. Es gibt 2 Millionen Menschen in den IDP-Camps.
Sie können mir nicht erzählen, die Hilfsorganisationen
würden gerne auf militärischen Schutz verzichten. Ich
war mit Ihrem Kollegen Leutert, mit Herrn Strässer und
Herrn Fischer zusammen im Sudan, in El Fasher. Seit
unserem Besuch ist die Lage schlechter geworden. Seitdem ist überhaupt nur noch eine Hilfsorganisation aus El
Fasher herausgefahren, um Lebensmitteltransporte
durchzuführen. Die anderen hatten Weisung - aus gutem
Grund, nämlich zum Schutz ihrer Mitarbeiter -, El Fasher nicht mehr zu verlassen, weil es zu gefährlich ist.
Was nützen Lebensmittelberge in der Hauptstadt einer
Region, wenn die Lebensmittel die Menschen in einem
Gebiet, das so groß ist wie Frankreich, nicht mehr erreichen? Was Sie hier erzählt haben, ist einfach zynisch.
({2})
Herr Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Paech?
Aber gern. Wenn es der Wahrheitsfindung dient und
die PDS etwas dazulernt, bin ich gern bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen.
Die Intention ist, der Wahrheitsfindung auf den Weg
zu helfen.
Herr Kollege Beck, ist Ihnen bekannt, dass in der Antivölkermordkonvention die einzige Definition dafür
enthalten ist, was ein Völkermord ist? Sie verlangt, dass
aus rassischen, politischen oder anderen Gründen die Intention da sein muss, ein Volk auszulöschen. Das werden
Sie hier doch wohl nicht unterstellen.
({0})
Doch, in der Tat, das unterstelle ich. Es hängt nicht
davon ab, ob die Regierung in Khartoum offiziell zum
Programm erklärt, dass sie diesen Teil der Bevölkerung
auslöschen will, sondern es hängt von den Taten ab. Die
sudanesische Regierung unterstützt systematisch die arabischen Reitermilizen, die Siedlung um Siedlung, Dorf
um Dorf überfallen, unterstützt sie sogar militärisch und
nimmt hin, dass Hunderttausende von Menschen der eigenen Bevölkerung abgeschlachtet werden.
({0})
Sie verstößt damit auch gegen die UN-Resolution zur
„obligation to protect“. Eine Regierung hat die Aufgabe,
die eigene Bevölkerung vor systematischen Ermordungen zu schützen. Dieser Aufgabe kommt die Regierung
dort nicht nach, sondern sie ist Helfershelfer der Truppen, die die Menschen in Darfur umbringen.
({1})
Reden Sie sich die Situation nicht schön! Wenn Sie
mit ihrer antimilitaristischen Folklorepolitik keine Antwort auf diese Situation haben, dann bekennen Sie sich
dazu! Es ist keine Schande, dass man einmal ratlos ist.
Aber zu behaupten, das sei alles irgendwie ganz wunderbar, und es seien vielleicht 10 000 Menschen weniger
gestorben, ist ein zu hoher Preis für eine ideologische
Politik. Das ist einfach unangemessen.
({2})
Herr Kollege Beck gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Hänsel?
Aber gerne doch.
Herr Beck, dass die sudanesische Regierung eine
grausame Regierung ist, ist unbestritten. Egal welchen
Politikwissenschaftler oder Analysten Sie bezüglich des
Konflikts fragen:
({0})
Dort sind sehr viele Rebellengruppen, und die sind
auch noch aufgesplittet. Sie wollen doch nicht sagen,
dass es nur Morde durch die Regierung gibt. Sehr viele
Milizen, Rebellengruppen morden doch auch. Das ist bekannt.
({1})
Es ist ein komplizierter Konflikt in Darfur. Deswegen
hatte ich versucht, darzulegen - ich wurde leider gehindert, meine Ausführungen zu beenden -, dass wir ohne
eine politische Lösung des Konflikts gar nicht zu einer
Lösung kommen werden. Sie können nicht einseitig sagen: „Es ist nur die sudanesische Regierung“; es gibt
dort viele unterschiedliche Rebellengruppen, und das
wissen Sie ganz genau. Die sind aufgesplittet.
({2})
Sie haben nicht einmal alle in dem Friedensabkommen.
Deswegen ist es auch unpolitisch, zu sagen: „Wir schicken Militär dorthin“, und sonst überhaupt keine politische Diskussion zu führen.
Bleiben Sie bitte stehen! Das gebietet -
Einen Moment bitte, Herr Kollege Beck.
Frau Kollegin Hänsel, erstens habe ich Sie nicht daran
gehindert, Ihre Rede zu Ende zu führen, sondern Sie haben sich selber daran gehindert. Das ist Kritik an der
Präsidentin. Sie wissen, dass das unangemessen ist.
Zum Zweiten. Bitte bleiben Sie bei der Beantwortung
der Frage stehen.
({0})
Frau Kollegin, niemand redet hier gegen eine politische Lösung, aber eine politische Lösung ohne das
Schaffen von Sicherheit in dieser Region wird es nicht
geben.
({0})
Wenn Sie sich angeschaut hätten, was die sudanesische
Regierung seit 2003 mit der Weltöffentlichkeit treibt
- sie hintergeht sie, sie führt sie hinters Licht, sie macht
Zusagen, nimmt Zusagen zurück, setzt Zusagen nicht
um -, dann wüssten Sie, dass es ohne eine entsprechende
Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft und ohne
die Truppen von AMIS - die müssen wir verstärken,
weil die AU gesagt hat: allein bekommen wir die Sicherheit für die Menschen dort nicht hin - keine Durchsetzung einer politischen Lösung geben wird. Sie können
mit denen hunderttausend Vereinbarungen treffen,
({1})
Sie können Ihre PDS-Gesprächstherapien dort anbieten,
aber Sie werden die Implementierung irgendeines Friedensplans nicht hinbekommen, ohne dass es eine
Sicherheitskomponente gibt. Da das Gebiet ziemlich
groß ist, muss diese Sicherheitskomponente dem vom
Ausmaß und vom Umfang her entsprechen. Was die
Afrikanische Union gegenwärtig versucht hat, war dafür
nicht ausreichend. Das muss man nach dieser jahrelangen Tragödie endlich einmal zur Kenntnis nehmen können.
({2})
Ich bestreite nicht, dass dort zersplitterte politische
Gruppierungen sind. Der Friedensvertrag, den es dort
gab, ist geplatzt. Deshalb ist die Situation so, wie sie ist.
Aber wenn man glaubt, man könne die Situation allein
mit Reden bewältigen und brauche den Hilfsorganisationen nur zu sagen, sie sollen ihr Leben riskieren, indem
sie in die Gebiete hineinfahren, um die Menschen mit
Lebensmitteln zu versorgen, dann ist das naiv und der
Sache nicht angemessen.
({3})
Ich muss Ihnen leider sagen, dass auch ich die Debattenlage vorhin zum Teil nicht angemessen fand. Ich
finde, dies ist kein Anlass, darüber zu reden, wie viel
Euro wir im Entwicklungshilfehaushalt haben; denn das
ist nicht die Lösung des Problems. Wir müssen dafür
sorgen, dass die Hybridmission nicht erst Ende 2008,
wie das jetzt in den Dokumenten steht, sondern unverzüglich implementiert wird. Ansonsten geht das Sterben
im Sudan bis 2008 weiter. Dort sterben jeden Tag mehr
Menschen als im Irak, wo jeder sorgenvoll hinschaut
und sich darüber aufregt. Aber weil es im Sudan zu gefährlich ist, als dass Fernsehteams sich dort aufhalten
könnten, sehen wir die Situation nicht und haben den
Eindruck, sie sei nicht so schlimm. Sie ist aber leider
viel, viel schlimmer.
Ich finde, es gibt keinen Grund für uns als Bundestag
und für die internationale Völkergemeinschaft, sich bei
diesem Thema in Geduld zu fassen.
({4})
Ich würde mir auch von der Bundesregierung mehr politische Initiative wünschen. Herr Erler, Herr Jung, Sie
sitzen auf der Regierungsbank. Wir reden über den Einsatzbeschluss - dem wir natürlich zustimmen werden -:
200 Soldaten auf dem Papier, von denen keiner im Sudan ist. Wir müssen im Zusammenhang mit der Hybridmission auch deutlich machen, dass die Bundesrepublik
Deutschland bereit ist, deutlich mehr für die Implementierung der Vorgaben zu tun, und den Mut haben, unser
Herz entsprechend über die Hürde zu werfen. Ich weiß,
dass das in unserem Land nicht populär ist. Aber es kann
doch nicht sein, dass uns das Leben der Menschen in
Schwarzafrika weniger wert ist als in Jugoslawien oder
in anderen Regionen dieser Welt, wo wir uns selbstverständlich und zu Recht engagieren, wenngleich wir feststellen müssen, dass wir auch in Jugoslawien viel zu spät
erkannt haben, dass ein Völkermord stattgefunden hat,
und dass wir auch in Ruanda weggeschaut haben.
({5})
Aber deshalb dürfen wir uns die Situation im Sudan
nicht schönreden.
Ich wünschte mir, dass die Bundesregierung etwas
deutlicher Druck auf das Regime in Khartoum macht.
Die Kanzlerin hatte noch im März beim EU-Gipfel
mögliche EU-Sanktionen angekündigt, doch dieser Ankündigung sind keine Taten gefolgt. Wir haben als Bun10518
Volker Beck ({6})
destag auf Initiative unserer Fraktion kürzlich interfraktionell den Sudanbeschluss gefasst: Flugverbot - Sie
haben es angesprochen - und EU-Sanktionen, wenn
nichts geschieht. Bislang ist aber real nichts geschehen.
Jetzt hat ein stellvertretender Staatssekretär bei einer
Verhandlung gesagt: Vielleicht stimmen wir dem zu. Wir werden sehen, wie viel dabei herauskommt.
Wir müssen, wenn sich die Lage jetzt nicht unverzüglich ändert, den Mut zu weiteren Schritten haben. Diese
Regierung versteht nur eine Sprache: klare Reaktionen.
({7})
Man kann nicht sagen, UN-Sanktionen seien besser,
wenn China und Russland jederzeit ein Veto einlegen
können. Wenn die UN-Sanktionen nicht zustande kommen, müssen wir einseitig mit EU-Sanktionen vorangehen, damit der Prozess vorankommt.
({8})
Das ist der Wille des Hohen Hauses, und ich erwarte,
dass meine Bundesregierung den einheitlichen Willen
des Hohen Hauses an diesem Punkt umsetzt.
({9})
Herr Kollege, das wäre ein guter Schlusssatz gewesen.
Das ist ein sehr guter Schlusssatz gewesen, deshalb
nur noch ein letzter Hinweis. Frankreich hat mit Bernard
Kouchner jetzt einen Außenminister, der sich in dieser
Frage besonders engagiert. Es mag sein, dass der Vorschlag, den er gemacht hat, international nicht ganz abgestimmt ist. Aber ich meine, es ist ein guter Anfang, um
mit einer deutsch-französischen Achse dafür zu sorgen,
dass die Europäische Union in dieser Frage die Führung
übernimmt und dass Schluss ist mit dem Schönreden der
Situation. Wir müssen uns die Situation ehrlich und offen anschauen und der Sache und der Lage entsprechend
reagieren.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5436 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Anerkennung und Wiedergutmachung der
deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen
Deutsch-Südwestafrika
- Drucksache 16/4649 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hüseyin-Kenan Aydin, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sprechen wir es klar und unmissverständlich aus: Die deutschen Kolonialtruppen
haben zwischen 1904 und 1908 in Deutsch-Südwestafrika einen Völkermord begangen. Etwa 80 Prozent der
Herero und 50 Prozent der Nama fielen einem erbarmungslosen Vernichtungsfeldzug zum Opfer. Ich verneige mich vor den Toten und ihren Nachfahren.
Ich begrüße den namibischen Botschafter und Chief
Riruako als Repräsentanten der Herero, die unsere Debatte im Bundestag verfolgen.
({0})
Es geht heute darum, das offizielle Schweigen zu
durchbrechen. Bis heute hat keine Bundesregierung die
Existenz dieses Völkermordes anerkannt. Das nenne ich
eine Schande.
Die historischen Fakten sind unbestritten. 1904, nach
der Schlacht am Waterberg, trieben die Truppen des Kaisers die Herero in die Wüste, um sie qualvoll verdursten
zu lassen. Der dafür verantwortliche General von Trotha
hat einen regelrechten Vernichtungsbefehl erlassen - ich
zitiere -:
Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero
mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh
erschossen …
Kinder und Frauen waren darin eingeschlossen. Der damalige deutsche Generalstabschef von Schlieffen billigte
diesen Krieg und nannte ihn einen Rassenkampf.
Nach den Herero wurden die Nama mit denselben
Methoden bekämpft. Die Überlebenden kamen in Lager,
die schon damals Konzentrationslager hießen. Dort kam
es zu Massenvergewaltigungen. Gefangene wurden von
deutschen Unternehmen als Zwangsarbeiter zum Eisenbahnbau missbraucht. Das kann jeder Abgeordnete in
der Parlamentsbibliothek nachlesen. Und doch haben
diese barbarischen Verbrechen bis heute keinerlei offizielle Konsequenzen.
Sie alle fuhren nach Namibia und
taten so, als habe es nie einen Völkermord gegeben.
Diese historische Ignoranz ist unerträglich.
({0})
Die Linke sagt: Völkermord verjährt nicht, weder moralisch noch juristisch.
({1})
Die Herero und Nama haben ein Recht auf Wiedergutmachung.
Immer wieder begegne ich dem Argument, die Verbrechen würden schon Generationen zurückliegen; nun
seien sie Geschichte geworden. Das stimmt. Doch das
sagt nichts anderes aus, als dass eine nach der anderen
Regierung die vergangenen Verbrechen an den Herero
und Nama ignoriert hat. So sind die Jahre ins Land gegangen. Man kann nicht erst auf Zeit spielen und dann
sagen: Es ist zu viel Zeit vergangen. Das ist unehrlich
und auch zynisch.
Richtig ist: Im Jahr 2004 hat der Bundestag einen
Antrag zur historischen Verantwortung gegenüber Namibia verabschiedet. Doch der Antrag vermied jede Klarstellung zu den historischen Sachverhalten. Er leugnet
die Existenz eines Vernichtungsbefehls; er leugnet den
Völkermord. Die Bundestagsresolution von 2004 ist
kein Dokument der Versöhnung, sondern ein Affront gegenüber den Opfern des deutschen Kolonialismus.
Die Mehrheit der Deutschen war gegen den Kolonialismus. August Bebel sprach ihnen aus dem Herzen, als
er im März 1904 vor den Abgeordneten des Reichstages
den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika verurteilte.
Er nannte den Widerstand der Herero einen gerechtfertigten Befreiungskampf.
Vor drei Jahren nahm Ministerin Wieczorek-Zeul
diesen Faden auf. In Namibia nannte sie die Gräueltaten
öffentlich beim Namen. Sie sprach wie ich heute von einem Völkermord, von einem Vernichtungskrieg gegen
die Herero und Nama. Diese mutige Rede hat in Namibia viele Hoffnungen geweckt. Doch leider hat die Bundesregierung diese Hoffnungen in der Folge enttäuscht.
Das Mindeste, was man hätte erwarten können, wäre das
Angebot auf einen offenen und fairen Dialog gewesen.
({2})
Doch bis heute gibt es keinerlei Angebot in dieser Richtung.
Man kann nicht nach Namibia fahren, öffentlich einen
Völkermord anerkennen und dann zur Tagesordnung
übergehen.
1990 versprach das Auswärtige Amt: Wenn die namibische Regierung den Wunsch nach Wiedergutmachung
stelle, dann werde dieser geprüft werden. Dieser Zeitpunkt ist gekommen. Seit Oktober letzten Jahres gibt es
einen einstimmigen Beschluss des namibischen Parlaments, in dem Verhandlungen mit Deutschland über eine
Wiedergutmachung gefordert werden. Der namibische
Premierminister Nahas Angula hat sich öffentlich hinter
diese Initiative gestellt.
Wir von der Linken werden jeden Schritt unterstützen, den die Bundesregierung nun auf die namibische
Regierung zugeht. Die Aussöhnung mit den Völkern Namibias lässt keinen Raum für parteipolitischen Streit. Ich
appelliere an Sie alle: Lassen Sie uns gemeinsam einen
Weg finden, die Wunden der Vergangenheit in Würde zu
heilen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Anke Eymer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der vorliegende Antrag legt wieder
einmal den Fokus auf ein Thema, das in diesem Hause
schon öfter debattiert worden ist. Es ist die Frage der
deutschen Verantwortung im heutigen Namibia. Noch
konkreter: Es sind die Geschehnisse in den drei Jahren
von 1904 bis 1907. Wir reden also über das Vorgehen
des deutschen Kaiserreiches gegen die Herero, die
Nama und die Damara vor über 100 Jahren. Seitdem
hat sich manches bewegt und verändert. Es scheint notwendig, an dieser Stelle hieran zu erinnern. Nur dann
wird das Bild der jüngsten Geschichte zwischen Namibia und Deutschland etwas ausgewogener, als es auf dem
Papier steht.
Wir sollten nicht vergessen, dass wir bei allem auf der
Grundlage einer gemeinsamen Entschließung des
Deutschen Bundestages von 1989 zur bevorstehenden
Unabhängigkeit Namibias reden. Zu der Zeit, meine Damen und Herren von der Linken, waren Sie ja noch nicht
im Deutschen Bundestag vertreten.
({0})
Aber schon zu diesem Zeitpunkt, im Jahre 1989, hat
Deutschland die Bereitschaft zu einem besonderen Engagement deutlich gemacht. Das entsprach und entspricht der historischen Verbindung beider Länder. Es
entspricht auch der ausgezeichneten bilateralen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die wir pflegen.
Dies für die Zukunft zu festigen und auszubauen,
diente der Deutschlandbesuch 2005 von Präsident
Pohamba. Er wies ausdrücklich auf das besondere Verhältnis, das durch den Deutschen Bundestag 1989 einstimmig beschlossen wurde und 2004 erneut bekräftigt
worden ist, hin. Auch zum 100-jährigen Gedenken an
die Schlacht beim Waterberg und ihre dunklen Folgen
gab es 2004 eine Befassung hier in diesem Hause. Im
Sommer 2004 gab es eine deutliche und klare Aussage
der damaligen und heutigen Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei ihrem
Namibiabesuch. Darin wurden die deutsche Verantwor10520
Anke Eymer ({1})
tung und das Bedauern über die damaligen Geschehnisse
deutlich zum Ausdruck gebracht.
Wenn nun auf namibischer Seite vereinzelt an der
Ernsthaftigkeit der deutschen Erklärung gezweifelt
wurde, entspricht das nicht der allgemeinen Sicht in Namibia.
({2})
Es entspricht auch nicht den partnerschaftlichen und
freundschaftlichen bilateralen Beziehungen. Vor allem
entbehrt dieser Vorwurf jeglicher realen Grundlage. Die
Linke war zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht in Fraktionsstärke hier im Hause vertreten. Vielleicht ist da einfach einiges an Ihnen vorbeigegangen. Oder sollte man
Ihnen heute vielleicht dafür danken, dass Sie mit einigen
Jahren Verspätung dieses Thema in Erinnerung bringen?
Wer die letzte Debatte von 2004 noch einmal gründlich liest, wird eine ausführliche Argumentation finden.
Er wird auch einen ausgewogenen Bezug zur kolonialen
Geschichte Afrikas und Namibias finden. In dem vorliegenden bemüht fleißigen Antrag ist die notwendige Ausgewogenheit leider zu vermissen. Wirklich sinnvolle
neue Impulse zu diesem Thema gibt es darin nicht.
Um noch einmal die Erinnerung zu bemühen: Im
Herbst 2006 war eine Delegation dieses Hauses zu Gesprächen in Namibia. Mein Kollege Hartwig Fischer
kann das bestätigen. Bei dem Treffen mit Präsident
Pohamba ist auch die Forderung nach Reparationszahlungen zur Sprache gekommen. Mit Präsident Pohamba
bestand dahin gehend beste Einigkeit, dass mit der Verstärkung der bilateralen Kooperation und unserer Entwicklungszusammenarbeit der einzig richtige Weg beschritten wird.
({3})
Nachzulesen ist dies - das empfehle ich Ihnen sehr - in
der „Namibischen Presse“ vom 16. Oktober des vergangenen Jahres.
({4})
Tatsache ist, dass die heutige Gestalt Afrikas und
Afrikas Probleme nicht zuletzt dem schweren Erbe seiner kolonialen Vergangenheit geschuldet sind. Bis auf
Äthiopien standen alle afrikanischen Länder für eine
mehr oder minder lange Zeit unter der Kolonialherrschaft eines europäischen Staates. Den größten Einflussbereich beanspruchten England und Frankreich für sich.
Über zwei Dutzend Länder und Landstriche gehörten
zum britischen Einflussbereich, halb so viele zum französischen Kolonialreich. Aber auch die Niederlande,
Portugal, Spanien, Italien, Belgien und Deutschland hatten einzelne Kolonien, Krongüter, Besitzungen oder
Handelsniederlassungen in Afrika.
Der Kolonialismus, über den wir heute reden, hat
seine Gestalt im Wesentlichen im 19. Jahrhundert herausgebildet. Egal wer herrschte, es war für die Afrikaner eine Zeit der Entmündigung, der Ausbeutung und
nicht selten eines grausamen diktatorischen Regimes mit
leider vielen Millionen Toten.
Die Bewältigung dieses Erbes ist immer noch die
Grundlage für viele aktuelle Probleme in den meisten
afrikanischen Ländern. Bei einem Besuch der Afrikanischen Union während der Afrikareise des Bundeskanzlers im Jahr 2004, an der ich teilgenommen habe, ist das
Thema der Herero zur Sprache gekommen. In der Antwort, die der Präsident der Afrikanischen Union gegeben
hat, wurde eine grundsätzliche Überzeugung der afrikanischen Partner deutlich. Zusammengefasst sagte er: Für
einen gleichberechtigten Dialog und für ein erstarkendes
afrikanisches Selbstbewusstsein ist das offene Eingeständnis von Fehlern und grausamen Verbrechen, die in
der gemeinsamen Geschichte auf europäischer Seite begangen wurden, weit mehr von Bedeutung als manch
eine materielle Überlegung.
({5})
Ich habe nur das zusammengefasst, was der Präsident
der Afrikanischen Union gesagt hat.
In der „Allgemeinen Zeitung“ mit Sitz in Windhoek
heißt es am 2. Dezember 2005 - ich zitiere -: „Dass sich
die deutsche Bundesregierung nicht auf Verhandlungen
auf exklusiv ethnischer Ebene einlässt, liegt im Rahmen
der gesamten deutsch-namibischen Beziehungen auf der
Hand. Die einseitige Erfüllung von Sonderwünschen
und eng ethnisch abgegrenzte Leistungen welcher Art
auch immer müssten die deutsch-namibischen Beziehungen“ belasten.
Der vorliegende Antrag versucht, in diese Kerbe zu
schlagen. Die vorgelegten Forderungen nehmen aufgrund einer zu einseitigen und ideologischen Neigung
eine Position ein, die nicht dem bestehenden Status der
partnerschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen unserer Länder entspricht.
Den Opfern unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus der oft blutigen und menschenverachtenden
afrikanischen Kolonialzeit, die die deutsche Geschichte
mit zu verantworten hat, gilt auch heute unser Gedenken
und unsere Trauer. Dieses bewusste Erinnern an die Geschichte ist aber nur dann verantwortungsvoll, wenn es
sinnvoll in eine Politik von heute einbezogen ist. Das
heißt: Erstens setzen wir uns weiterhin dafür ein, dass
Afrika deutlicher in die europäische und deutsche Politik
eingebunden wird; zweitens setzen wir uns dafür ein,
dass das Afrika des 21. Jahrhunderts zu einem Produkt
der Afrikaner wird. Dies muss aber abseits von unkritischer und ideologischer Schönfärberei oder politischen
Schnellschüssen geschehen. Nur so wird ein kritischer,
konstruktiver Dialog mit unseren afrikanischen Partnern
möglich bleiben. Daher ist diesem Antrag nicht zuzustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich gebe das Wort der Kollegin Marina Schuster,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
deutsche Geschichte ist eng mit der Geschichte Namibias verknüpft. Alles begann mit einem der düstersten
Kapitel deutscher Kolonialgeschichte. Wer die Berichte von damals liest, ist auch heute noch tief erschüttert und tief betroffen über die Menschenverachtung, mit
der die deutschen Kolonialtruppen gegen Teile der Bevölkerung, insbesondere gegen Herero und Nama, vorgingen. Die Erinnerung an diese Ereignisse darf nicht
verblassen.
In Namibia wirkt die damalige Zeit bis heute in die
gesellschaftliche Realität. Dass es dennoch gelungen ist,
von diesem Ausgangspunkt aus eine Freundschaft zu
entwickeln, ist eine der ganz großen kulturellen und politischen Leistungen unserer beiden Nationen und der jeweiligen Regierungen.
({0})
Die Bundesrepublik Deutschland ist sich ihrer besonderen Verantwortung für Namibia immer bewusst gewesen. Deutschland gehörte 1978 der Kontaktgruppe
nach der Sicherheitsratsresolution 435 an, die zur Unabhängigkeit Namibias führte. Maßgeblich bei dieser Resolution und dem die folgenden elf Jahre andauernden
Verhandlungsprozess war der damalige Außenminister
Hans-Dietrich Genscher. Noch während des Prozesses
der Implementierung dieser Resolution, nämlich im
Jahre 1989, verabschiedete dieses Haus einen Antrag, in
dem die damalige Bundesregierung aufgefordert wurde,
„wegen ihrer besonderen Verantwortung für Namibia …
einen Schwerpunkt deutscher Entwicklungszusammenarbeit zu setzen und dieses Land zu einem besonderen
Modellfall deutscher Entwicklungshilfe zu machen“.
Dies wurde gleich nach der Unabhängigkeit Namibias
implementiert und ist heute wesentlich für unsere Politik
gegenüber Namibia.
1990 wurde Namibia unabhängig. Deutschland gab
finanzielle Starthilfe und begleitet Namibia seitdem sowohl beratend als auch als größtes Geberland der bilateralen EZ. Mit inzwischen ungefähr 650 Millionen Euro
erhält Namibia pro Kopf den größten Teil deutscher Entwicklungshilfe. 1991 trat das deutsch-namibische Kulturabkommen in Kraft. Hochrangige gegenseitige Besuche sind heute politische Normalität.
Wie gut sich die Beziehungen entwickelt haben, zeigt
sich auch daran, dass politische Meinungsverschiedenheiten heute offen angesprochen und ausdiskutiert werden können. Das gilt zum Beispiel für die Landreform
und die damit verbundenen Enteignungen.
Heute ist Namibia mehr denn je auf Hilfe angewiesen.
Eine HIV-Infektionsrate von fast 20 Prozent droht alle
entwicklungspolitischen Erfolge der letzten 17 Jahre zunichte zu machen. Die Lebenserwartung ist von ehemals
60 Jahre auf knapp 38 Jahre gesunken. Die damit verbundenen Zukunftsrisiken sind für viele von uns kaum
vorstellbar. Ich denke, die Bundesregierung sollte ihre
Verantwortung gerade in diesem Bereich überprüfen und
sich fragen, ob sie die richtigen Schwerpunkte setzt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, dieses
Haus ist nicht geschichtsvergessen. Das zeigen die kontinuierlichen Befassungen in den letzten Jahrzehnten;
meine Kollegin Anke Eymer hat das ausgeführt. In der
Zusammenarbeit mit Namibia gibt es viel zu tun. Wir
werden eines Tages daran gemessen werden, ob wir die
Herausforderungen des Jetzt und Heute angenommen
haben.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte eine Bitte äußern: Ich fände es gut, wenn wir
an die Opfer dieses schrecklichen Verbrechens erinnern
- ich möchte die hier anwesenden Vertreter der Herero
ganz besonders ansprechen -, wenn wir daran erinnern,
was in deutschem Namen geschehen ist, welche Verbrechen an ihnen vollzogen worden sind. Ich möchte uns
alle herzlich darum bitten, diese Leidensgeschichte nicht
zu instrumentalisieren.
({0})
- Wenn Sie so reden, ist das genau das, was ich meine.
Ich bitte Sie und uns alle, diese Leidensgeschichte nicht
zu instrumentalisieren.
({1})
Das hat etwas mit der Würde der Opfer zu tun.
({2})
Aus diesem Grunde bitte ich Sie darum, das in den
Mittelpunkt zu stellen, was am 12. Januar 1904 geschehen ist: Die Völker der Herero und Nama begehren auf.
Sie wollen das Kolonialregime des deutschen Kaiserreichs abschütteln. Weiß war die Farbe des Schreckens,
der Gewalt und der Vernichtung. Generalleutnant von
Trotha hat am 4. November 1904 Folgendes zur Kriegsführung gesagt - ich zitiere ihn -:
Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen
sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der
Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben war
und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut …
Gert Weisskirchen ({3})
Heidemarie Wieczorek-Zeul sagte in einer Rede in
Namibia:
Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historischpolitischen, moralisch-ethischen Verantwortung
und zu der Schuld, die Deutsche damals auf sich
geladen haben …
- Beide Reden sind Teil der deutschen Geschichte: Die
eine ist die Vergangenheit, die andere die Gegenwart. Sie fügte hinzu:
Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen „Vater unser“ um Vergebung unserer Schuld. Ohne bewusste
Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es keine Versöhnung geben.
Wer sich nicht erinnert, wird blind für die Gegenwart.
Deshalb denke ich, wir sollten an die Zehntausenden von
Ermordeten erinnern. 80 000 Herero wurden vor dem
Krieg, bevor sie aus ihrem Lande vertrieben wurden, gezählt, danach lebten noch 15 000. Von den ehemals
20 000 Nama, die vor dem Krieg lebten, gab es am Ende
des Krieges noch 9 000.
Von diesem Platz aus hat sich August Bebel, der ehemalige Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands, gegen diesen Unterdrückungskrieg gewandt und gewehrt. Er stellte sich unerschrocken gegen
das, was heute Völkermord genannt würde. Er hat sich
an die rechte Seite dieses Hauses gerichtet und gesagt:
… was bedeutet in Wahrheit diese ganze sogenannte christliche Zivilisation in Afrika? Äußerlich
Christenthum, innerlich und in Wahrheit Prügelstrafe, Weibermißhandlung, Schnapspest, Niedermetzelung mit Feuer und Schwert, mit Säbel und
Flinte. Das ist
- das sagte er an die Rechte gerichtet Ihre Kultur. Es handelt sich um ganz gemeine materielle Interessen, ums Geschäftemachen und um
nichts weiter!
So August Bebel.
({4})
Im Dezember 1906 hatten das Zentrum und die SPD
die Kraft, zusammen mit der polnischen Fraktion im
Deutschen Reichstag eine Mehrheit gegen die Budgetentscheidung der Regierung des Kaiserreiches zustande
zu bringen, also dagegen, dass weitere militärische Mittel in Südwestafrika eingesetzt werden. Sofort wurden
Neuwahlen ausgerufen, die am 25. Januar des folgenden
Jahres, des Jahres 1907, stattfanden. Es kam zu einem
furchtbaren, chauvinistischen Wahlkampf gegen die
SPD und das Zentrum. „Vaterlandsverräter“ wurden die
Sozialdemokraten genannt. Es gab eine Hetzjagd sondergleichen. Die SPD verlor gegenüber den vorigen
Wahlen knapp 3 Prozent der Stimmen. Ich sage das mit
allem Selbstbewusstsein: Zu jener Zeit war August
Bebel derjenige, der die Achtung vor dem anderen
Deutschland - vor dem Deutschland der Freiheit, vor
dem Deutschland der Gleichheit, vor dem Deutschland
der Gerechtigkeit - gerettet hat.
({5})
Ich würde herzlich darum bitten, das, was Vergangenheit
ist, in dieser Ernsthaftigkeit zu betrachten und die Verantwortung gegenüber dem, was damals geschehen ist,
nicht in billige Polemik umzumünzen.
({6})
Nach den USA hat nämlich Deutschland - schauen
Sie sich die Zahlen an! -, seitdem Namibia 1990 unabhängig geworden ist, mit 650 Millionen Euro die meisten Mittel für die Entwicklung Namibias zur Verfügung gestellt. Sie haben völlig zu Recht die
entscheidende Rolle hervorgehoben, die Hans-Dietrich
Genscher dabei gespielt hat, dass Namibia frei und unabhängig und selbstständig hat werden können. Ich will damit nicht sagen, wir wollten diese Summe gegen die Toten aufrechnen.
({7})
- Nein. - Aber das zeigt, dass der Deutsche Bundestag
in zwei gemeinsamen Entschließungen, 1989 und in einer späteren noch einmal, ausgedrückt hat: Wir sind da,
wir tragen Verantwortung; wir wollen helfen, dass Namibia die Chance bekommt, sich zu entwickeln.
Liebe Freunde aus Namibia, der Deutsche Bundestag
nimmt die Entscheidung Ihres Parlamentes ernst. Wir
werden, wenn die Vertreter Ihrer Regierung im Juli hier
in Berlin Beratungen und Verhandlungen führen werden,
versuchen, so es nötig ist, dafür zu sorgen, dass ein Antrag im Deutschen Bundestag - über alle Fraktionen hinweg - formuliert und beschlossen wird, um zu helfen,
dass die Versöhnungsinitiative, die von Heidemarie
Wieczorek-Zeul in Gang gesetzt worden ist, die materielle und finanzielle Unterstützung findet, die nötig ist,
damit die Entwicklung Namibias den Menschen Perspektiven bietet, zu eigener Freiheit und zu eigener Gerechtigkeit zu kommen, damit Namibia die Chance für
eine gute Zukunft hat.
({8})
Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama war der
wohl erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.
({0})
Um dieses Eingeständnis hat man sich in Deutschland
lange gedrückt. Aber es stimmt nicht, dass man sich
heute zum ersten Mal mit diesem Thema beschäftigt.
Bereits 1989 hat der Bundestag eine Resolution verabschiedet, und 1995 hat es bei einem Besuch einer Delegation des Bundestages in Namibia unter der Leitung der
Kollegin Eid eine Entschuldigung für diesen Völkermord gegeben, auch wenn sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl damit schwergetan hat.
Im August 2004 hat Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul in einer beeindruckenden Rede bei den
Nachkommen derer, die diesen Völkermord überlebt haben, stellvertretend für die Bundesregierung um Entschuldigung gebeten. Das Ergebnis ist eine Versöhnungsinitiative gewesen, in deren Rahmen zusätzlich zu
den großen Entwicklungshilfeanstrengungen, die es zugunsten Namibias gegeben hat, Mittel zur Verfügung gestellt worden sind. Wir alle wissen allerdings, dass diese
Mittel nicht in dem Umfang, wie man sich das gewünscht hätte, abgeflossen sind. Also, es hätte dieses
Antrages in dieser Form nicht bedurft.
Der namibische Botschafter hat heute auf einer Pressekonferenz, die er zusammen mit Ihrer Fraktion durchgeführt hat, übrigens gesagt - ich zitiere ihn nach der
Pressemitteilung -:
Allerdings wäre es aufgrund der Wichtigkeit des
Themas
- so Herr Professor Peter Katjavivi vielleicht der Sache zuträglicher gewesen, wenn
dieser Antrag als ein interfraktioneller im Bundestag eingebracht worden wäre.
Ich finde, der namibische Botschafter hat recht.
({1})
Die andere Seite ist: Es hat sich eine Veränderung der
Situation ergeben. Lange Zeit hat sich Namibia auch aus
Gründen der inneren sozialen und politischen Balance
gegenüber individuellen Entschädigungsforderungen
sehr zurückhaltend verhalten. Mit der Entscheidung des
Parlaments vom Oktober und auch aufgrund der veränderten Auffassung der Regierung hat sich eine andere
Sachlage ergeben. Ich finde, wir täten gut daran, uns gemeinsam auf diese veränderte Sachlage einzulassen. Es
geht an dieser Stelle nicht um Entschädigung, sondern
darum, auch materiell das Leid anzuerkennen, das unsere Vorfahren den Menschen in Namibia und ihren Vorfahren zugefügt haben.
({2})
Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?
Gerne, Herr Gehrcke.
Lieber Herr Kollege Trittin, stimmen Sie mir zu oder
können Sie es zumindest akzeptieren, dass es aufrichtiger gewesen wäre, auch zu sagen, dass sich meine Kollegen um einen interfraktionellen Antrag bemüht haben,
weil auch wir der Meinung sind, dass es gut wäre, wenn
man zu diesem Thema einen interfraktionellen Antrag
eingebracht hätte, dass andere Fraktionen im Hause aber
leider noch nicht einmal eine gemeinsame Uhrzeit mit
uns vereinbaren und dass daran der interfraktionelle Antrag gescheitert ist?
({0})
Der Vorwurf darf also nicht uns treffen, sondern er muss
die treffen, die so kleinkariert sind.
({1})
Lieber Herr Kollege Gehrcke, Sie wissen so gut wie
ich selbst, dass ich hierfür die falsche Adresse bin. Wir
entscheiden, wenn es um die Frage geht, mit wem wir
Anträge zur Sache einbringen, entlang der Sache und der
dabei vertretenen Positionen und nicht anhand von vorgefertigten Linien und Gruppierungen. Ich würde mir im
Interesse der Angelegenheit, die heute zur Diskussion
steht, sehr wünschen, dass wir an dieser Stelle zu einer
gemeinsamen und über alle Grenzen hinwegreichenden
gemeinsamen Haltung kommen.
({0})
Ich will deswegen auch noch etwas zur Sache sagen.
Herr Kollege Trittin, ich muss Sie trotzdem vorher
fragen, ob Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Aydin zulassen.
Bitte.
({0})
Lieber Kollege Trittin, Sie haben auf die Frage meines Kollegen Gehrcke geantwortet, dass man Ihnen eine
vorgefertigte Position vorgelegt hat. Nehmen Sie bitte
zur Kenntnis, dass die Fraktion Die Linke am
29. November 2006 über ihre parlamentarische Geschäftsführung allen parlamentarischen Geschäftsführern ein Schreiben mit der Bitte zukommen ließ, eine interfraktionelle Initiative zu starten und darüber zunächst
einmal ein gemeinsames Gespräch zu führen. Auf diese
Bitte hat keine Fraktion im Hause reagiert. Nehmen Sie
das bitte zur Kenntnis.
({0})
Lieber Herr Kollege, die Feststellung, die Sie zu treffen versucht haben, bedarf wahrscheinlich wiederum
keiner Antwort - auch nicht von meiner Seite. Ich
glaube, ich habe Ihnen in aller Deutlichkeit gesagt: Wir
als Grüne gehen bei der Entscheidung darüber, welche
Position wir hinsichtlich gemeinsamer Anträge mit anderen Fraktionen einnehmen, ausschließlich von der
Sache und den von diesen Fraktionen vertretenen Positionen aus. Nur das und nicht irgendwelche Abgrenzungsbeschlüsse oder Ähnliches bestimmt unsere Haltung. Den Gefallen, dass Sie sich von uns in die Ecke der
Ausgegrenzten gedrängt fühlen können, anstatt sich über
konkrete Positionen zu unterhalten, werden wir Ihnen
nachdrücklich nicht tun.
({0})
Letzte Bemerkung: Gerade vor dem Hintergrund dieser Geschichte sollten wir uns nicht im Klein-Klein bewegen.
({1})
Der interessante Ansatz, der von der namibischen Seite
jetzt angesprochen worden ist, lautet, einen neuen Weg
zu suchen, damit den Gemeinschaften, deren Vorfahren
Opfer des Völkermords geworden sind, gezielt geholfen
wird. Das ist ein anderer Weg als der der individuellen
Entschädigung. Er stärkt den Zusammenhalt innerhalb
Namibias. Hier sollten sich der Deutsche Bundestag und
das namibische Parlament gemeinsam engagieren, um
eine gemeinsame Lösung zu finden. Wir brauchen eine
Lösung zusammen mit den Menschen in Namibia.
Um ein letztes Mal den Botschafter zu zitieren:
Unsere koloniale Geschichte hat Auswirkungen auf
alle Menschen gehabt und betrifft alle Namibier.
In diesem Sinne eine gemeinsame Lösung zu finden, die
der schrecklichen deutschen Verantwortung für diese
Geschichte gerecht wird, sollte unsere gemeinsame Herausforderung sein.
({2})
Ich schließe die Aussprache. - Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/4649 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport
- Drucksache 16/5526 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Joachim Günther ({1}), Miriam Gruß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bekämpfung des Dopings im Sport vorantreiben und Optimierungsmöglichkeiten ausschöpfen
- Drucksache 16/4738 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte. Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
jüngsten Skandalmeldungen aus dem Bereich des Radsports wie der sportmedizinischen Betreuung haben erneut unterstrichen, wie dringlich der Kampf gegen Doping ist. Man muss es ganz klar sagen: Dieser
Missbrauch gefährdet zunehmend das Vertrauen in die
Glaubwürdigkeit des Leistungssports insgesamt. Der autonome Sport muss diese Seuche um seiner selbst willen
mit aller Entschiedenheit bekämpfen, und Staat und Gesellschaft müssen dabei helfen. In diesem Sinne war und
ist der Kampf gegen Doping ein Kernelement der Sportpolitik der Bundesregierung, da wir für die Förderung
des Leistungssports auf nationaler Ebene zuständig sind.
Im September vergangenen Jahres hat die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket gegen Doping beschlossen, das auch Empfehlungen der Rechtskommission des
DOSB umgesetzt hat. Der Gesetzentwurf, den wir heute
in erster Lesung behandeln, ist ein wichtiger Eckpunkt
dieses Pakets.
({0})
Er hat übrigens - angesichts mancher Interviews muss
man dies sagen - ganz überwiegend die Zustimmung des
Bundesrats erfahren: bei der Übertragung von Ermittlungsbefugnissen auf das Bundeskriminalamt, bei der
Strafverschärfung für banden- oder gewerbsmäßige Dopingstraftaten, bei der Einführung des erweiterten Verfalls in diesen Fällen - unter anderem im Hinblick auf
eine Gewinnabschöpfung von Vermögensvorteilen - sowie bei der Verpflichtung zur Aufnahme von Warnhinweisen für Arzneimittel, die für Doping geeignet sind.
Auch die vorgesehene Strafbarkeit des Besitzes von Dopingsubstanzen in nicht geringer Menge wird vom Bundesrat unterstützt, genauso die Aufnahme der besonders
schweren Fälle des banden- bzw. gewerbsmäßigen Inverkehrbringens, Verschreibens oder Anwendens von
Dopingsubstanzen als Anlasstaten für eine TelekommuBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
nikationsüberwachung nach § 100 a Strafprozessordnung. Die Bundesregierung hat, wie Sie wissen, am
18. April dazu einen gesonderten Gesetzentwurf, der die
TKÜ insgesamt regelt, beschlossen.
Der Bundesrat hat darüber hinaus empfohlen, die Einfuhr von Arzneimitteln zu Dopingzwecken unter Strafe
zu stellen und eine Kronzeugenregelung einzuführen.
Wir haben zugesagt, das Erstere im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen. Die geforderte Kronzeugenregelung ist im Wesentlichen bereits in einem von der
Bundesregierung am 16. Mai beschlossenen Gesetzentwurf enthalten.
Mit unserer Gegenäußerung zur Stellungnahme des
Bundesrats haben wir den Entwurf um die noch fehlende
Stoffliste zu Art. 2 ergänzt. Die Festlegung der nicht geringen Mengen soll zeitnah durch Rechtsverordnung des
Gesundheitsministeriums in Abstimmung mit dem Innenministerium erfolgen.
Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiges Element zur
Bekämpfung des Dopings. Aber ich sage klar: Gesetze
allein reichen dazu nicht aus. Wir alle, auch die Bundesregierung, werden und müssen international wie national
das uns Mögliche tun. Weil Spitzensport international
ist, brauchen wir ein gemeinsames internationales Verständnis für Dopingbekämpfung. Wir haben die Ratifizierungsurkunde für das UNESCO-Übereinkommen
hinterlegt und werden dem Abkommen am 1. Juli, also
in wenigen Wochen, beitreten. Auch zum Zusatzprotokoll zu dem Europaratsübereinkommen soll die Ratifizierungsurkunde zeitnah hinterlegt werden. Mit beiden
Abkommen wird die Basis für die gegenseitige Anerkennung von Dopingkontrollen und für eine internationale
Vereinheitlichung der Standards der Dopingbekämpfung gelegt, sodass zum ersten Mal ein weltweit einheitliches Instrumentarium zur Verfügung steht.
Der Antidopingcode der WADA ist eines der wichtigsten internationalen Instrumente. Wir wollen eine
starke WADA; wir unterstützen sie finanziell und arbeiten an präzisen internationalen Vorschriften mit. Wir fordern auch die Verantwortung der WADA für einen weltweit sauberen Sport ein, nicht zuletzt und gerade auch
mit Blick auf die Olympischen Spiele im kommenden
Jahr.
({1})
Zur Verbesserung der Zusammenarbeit innerhalb der
Europäischen Union haben wir unter unserer Präsidentschaft ein Kommunikationsnetzwerk der nationalen Antidopingorganisationen auf den Weg gebracht. Die internationalen Sportverbände müssen ihrer Verantwortung
ebenfalls ohne Wenn und Aber gerecht werden. Wir verfolgen mit durchaus besorgter Aufmerksamkeit die Vorbereitungen zur internationalen Straßenradweltmeisterschaft Ende September in Stuttgart. Ich sage es ruhig,
aber klar: Eine finanzielle Förderung dieser Veranstaltung wird nur verantwortbar bleiben, wenn die Veranstalter, das heißt der Bund Deutscher Radfahrer und die
Internationale Radsportunion, UCI, alles in ihrer Macht
Stehende getan haben, um zu gewährleisten, dass nur
saubere Radfahrer an den Start gehen. Dies findet nämlich bereits im September statt.
({2})
Ich sehe derzeit vier Hauptaufgaben im nationalen
Bereich: Erstens. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass
die Anwendung von Dopingsubstanzen überhaupt nachgewiesen werden kann; da gibt es immer einen Wettlauf.
Deswegen sind manche Geständnisse wohl in sorgfältiger Erwägung von Verjährungsvorschriften und Ähnlichem formuliert worden. Die wissenschaftliche Forschung muss immer wieder neue Nachweismethoden
und Validierungen entwickeln. Mit den bisher bereitgestellten Geldern sind diese Aufgaben nicht zu bewältigen, weswegen wir anstreben, die Mittel für den Forschungsbereich anzuheben.
({3})
Bundesregierung und Deutscher Olympischer Sportbund
werden in der zweiten Jahreshälfte 2007 einen gemeinsamen „Runden Tisch zum Gendoping“ durchführen, damit wir bei dieser Entwicklung nicht auch überrollt werden.
Zweitens. Wir werden das Dopingkontrollsystem
stärken müssen. In diesem Rahmen sind zum einen von
der NADA gemeinsam mit den Verbänden klare, eindeutige und praktikable Kontrollverfahren zu entwickeln,
was derzeit auch geschieht. Aber die NADA muss auch
finanziell in die Lage versetzt werden, ihren umfangreichen und gewachsenen Aufgaben nachzukommen. Es
hat inzwischen so viele Versprechungen gegeben, von
denen die wenigsten eingelöst wurden. Der Bund
wünschte schon, dass die anderen auch ihren Teil tragen.
Die Bundesländer, die Verbände, die Wirtschaft und
nicht zuletzt die Sponsoren sind aufgerufen, dem Beispiel des Bundes, der zusätzlich 2 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt hat, zu folgen und die finanzielle Basis der NADA zu konsolidieren. Vielleicht erheben wir
eine Abgabe auf Interviews, in denen Versäumnisse in
der Dopingbekämpfungspolitik kritisiert werden, und
verwenden sie zugunsten der NADA, damit ein bisschen
mehr zusammenkommt.
({4})
- Na ja, für wen auch immer.
({5})
- Der wird freiwillig spenden.
Drittens. Wir werden strikt darauf achten, dass die
Verbände Fördermittel des Bundes bei Doping zurückzahlen, und sehr genau prüfen, ob solche Verbände künftig überhaupt noch aus Steuermitteln gefördert werden
können. Auch bisher stand die Zuweisung von Fördergeldern unter dem Vorbehalt, dass die Verbände Doping
aktiv bekämpfen und den NADA-Code in ihre Satzun10526
gen übernehmen. Aber wir müssen doch noch einmal
prüfen, ob das wirklich in allen Details stimmt.
Im Übrigen wollen wir auch in der Zukunft eine weitergehende bedingte Zuweisung von Bundesmitteln im
Sinne einer zwingenden Kopplung der Zuweisungen an
eine noch festzulegende Zahl von Dopingkontrollen pro
Verband verpflichtend machen. Wir haben erste Gespräche geführt und erarbeiten zusammen mit der NADA
und den Verbänden ein Konzept, damit wir die historisch
gewachsene, sehr uneinheitliche Anzahl von Kontrollen
je Verband zu einem Ende bringen.
Wir werden noch sehr sorgfältig prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Bundesmittel direkt oder
indirekt Sportlern, Trainern oder betreuenden Ärzten zugeflossen sind, die gedopt oder die NADA-Regeln nicht
eingehalten haben. Wir haben zu diesem Zweck eine
Taskforce eingesetzt, die aufklären soll, damit wir gegebenenfalls entsprechende Konsequenzen ziehen können.
Viertens sollten wir die Strafverfolgung weiter stärken. Doping wird mehr und mehr international arbeitsteilig und hochabgeschottet durchgeführt und ist vielfach
der organisierten Kriminalität zuzurechnen oder weist
Verbindungen zu OK-Bereichen auf. Umso wichtiger ist
es, dass der Staat seine Bekämpfungsstrukturen gleichermaßen professionalisiert und Kompetenzen bündelt.
({6})
Wir tun das mit diesem Gesetzentwurf durch die Kompetenzzuweisung an das Bundeskriminalamt.
Wünschenswert ist aus meiner Sicht, dass auch auf
der justiziellen Seite endlich der Forderung nach Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften Rechnung getragen wird, die von den Justizministern der
Länder bisher nicht umgesetzt worden ist.
({7})
Die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften für
die Dopingverfolgung wäre eine gute Parallele zur Kompetenzzuweisung an das Bundeskriminalamt. Ich appelliere in diesem Sinne erneut an die Landesjustizminister.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf den ebenfalls zur Debatte stehenden Antrag der FDP-Fraktion
eingehen. Sie haben in diesem Antrag viele Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt, die die Bundesregierung
mit dem vorgelegten Entwurf und den von mir skizzierten Maßnahmen ebenfalls angeht. Dies macht deutlich,
dass die Zielrichtung der Dopingbekämpfung in weiten
Teilen fraktionsübergreifend verfolgt werden kann. In
diesem Sinne werbe ich für eine zügige Beratung und
Verabschiedung des Gesetzentwurfs.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
Ihnen Presseauszüge aus den letzen Wochen zum Thema
Doping mitgebracht. Es sind zig Seiten, die die öffentliche Bedeutung dieses Themas belegen. Wir aber beraten
das Thema um diese Zeit quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem halbstündigen Schnelldurchgang.
Das ist kein Ruhmesblatt für dieses Parlament.
Offensichtlich hat die Große Koalition Grund, sich
davor zu drücken, manche Kompromissformel des Gesetzentwurfs
({0})
wie etwa die Scheinregelung der Besitzstrafbarkeit, die
nichts weiter als eine Mogelpackung ist, in aller Öffentlichkeit erneut präsentieren zu müssen.
({1})
Aber selbst eine lupenreine Besitzstrafbarkeit führt
- wie ein Blick über unsere Grenzen, auch nach Übersee
zeigt - zu nichts anderem als zu einem Anwaltsspektakel
bzw. einem Etappenrennen, bei dem jedermanns Ausdauer getestet und, wenn überhaupt, viel zu langsam
Recht gesprochen wird. Heute, vier Jahre nach der Tat,
ist ein Leipziger Fußballgewalttäter verurteilt worden.
({2})
Österreich hat mit dem jüngsten Gesetz in Europa auch
auf die strafrechtliche Verfolgung des einzelnen Sportlers verzichtet und setzt wie wir auf die Sportgerichtsbarkeit.
Die Diskussion trug in den letzten Wochen seltsame
Züge. Da sollte Jan Ullrich vor den Sportausschuss zitiert werden.
({3})
Da wird - von Juristen, wohlgemerkt - eine Amnestie
geständiger Sportler gefordert, über die noch gar kein
Urteil gesprochen ist. Da wird der Tatbestand des Sportbetrugs wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt, der
von nahezu allen Sachverständigen abgelehnt wurde. Da
werden Fernsehanstalten zu einem Übertragungsboykott
aufgerufen, statt dem kritischen Journalismus eine
Chance zu geben. Da wird ein Generalangriff auf angeblich tatenlose Fachverbände gestartet. Mir liegt zum Beispiel ein Positionspapier des Deutschen Skiverbandes
vom 7. August 2006 vor, in dem die Absenkung der
Leistungsnormen für die Teilnahme an Olympischen
Spielen vorgesehen ist.
Das Verhältnis der Politik zum Sport hat mit solchen
populistischen Aktionen Schaden genommen. Der im
Kampf gegen Doping erforderliche Schulterschluss von
Sport und Staat gerät mit solch vorlauten und unausgegorenen Bemerkungen aus den Reihen des Parlaments
unnötig in Gefahr.
Die FDP stimmt der Bundesregierung ausdrücklich
zu, dass weitere Maßnahmen von Politik, Sport, Justiz,
Wirtschaft und Gesellschaft für eine effektive Bekämpfung des Dopings notwendig sind, und zwar auf nationaler Ebene, aber als neue Grundlage für fairen Wettbewerb vor allem auch auf internationaler Ebene. Erst vor
wenigen Tagen hat Deutschland das UNESCO-Abkommen gegen Doping unterzeichnet, das erste weltweite Instrument zur Bekämpfung des Dopings im Sport.
Die Einbeziehung der Möglichkeiten des Bundeskriminalamtes sind ein weiterer wichtiger Schritt in diese
Richtung; Stichwort Interpol. Damit werden zu Recht
beklagte Vollzugsdefizite abgebaut. Strafverschärfungen für banden- oder gewerbsmäßige Dopingstraftaten
gehören zu den längst überfälligen Maßnahmen, die wir
schon von der rot-grünen Bundesregierung jahrelang erwartet haben. SPD und Grüne blieben in diesem Bereich
jahrelang merkwürdig saft- und kraftlos. Daran sollten
sich manche Akteure dieses Hauses nicht nur gelegentlich erinnern.
Die Länder sind jetzt aufgefordert, sich auf die Einrichtung von Abteilungen zur Dopingbekämpfung, angedockt an bestehende Schwerpunktstaatsanwaltschaften etwa gegen Wirtschaftskriminalität, zu verständigen.
Die NADA muss nun nach den festgestellten Kontrollunzulänglichkeiten aus dem Tal des Schweigens heraus und neue Konzeptionen vorstellen, auch als Anreiz
für dringend notwendige zusätzliche finanzielle Unterstützung, die von den Sponsoren und vielleicht von den
Medien erwartet werden können. Manches Komoderatorenhonorar etwa an Jan Ullrich wäre bei der NADA besser aufgehoben gewesen.
Aber alle Bemühungen um die Stärkung der NADA
bleiben ein Muster ohne Wert, wenn es uns nicht gelingt,
das gegenwärtige Hase-und-Igel-Spiel zwischen Sportbetrügern und Aufklärern zu beenden. Die Dopinganalytik und die Forschung insbesondere auf den Gebieten
des Blut- und des Gendopings müssen deutlich verstärkt
werden. Ich hoffe sehr, Herr Minister, dass Ihre heutige
Ankündigung, die Mittel aufzustocken, im Haushalt
2008 ihren Niederschlag findet.
Bei den Präventionsbemühungen darf die Kennzeichnung dopingrelevanter Substanzen nicht auf den
Beipackzettel beschränkt bleiben; den lesen ohnehin nur
wenige. Ein Piktogramm wie in Italien üblich - das ist
dort Bestandteil des Gesetzes - ist ein wirksamerer Hinweis, der Ausreden und Unwissenheit nicht mehr zulässt. Ein elektronischer Athletenpass dient dem langfristigen Nachweis einer kontinuierlichen körperlichen
Entwicklung der Leistungssportler und der Wirkung medizinischer Maßnahmen im Verlauf ihrer Karriere und
sollte für alle Fachverbände weltweit Spiel- und Startvoraussetzung sein.
Wir sind uns einig: Das Dopingproblem gefährdet international das Ansehen des Sports.
({4})
Es gehört deshalb auch auf die Tagesordnung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Mit der Debatte über den
Gesetzentwurf der Bundesregierung starten wir heute
erst den Versuch, auf der Grundlage fast täglich neuer
Erkenntnisse die Dopingbekämpfung ernsthafter zum
Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Arbeit zu
machen. Mit dem Gesetzentwurf wird Vergangenes aufgearbeitet und werden lange überfällige Konsequenzen
gezogen. Unser Antrag weist ein bisschen weiter nach
vorne.
({5})
In den nun folgenden Beratungen sollten wir versuchen, unsere Vorstellungen unter einen Hut zu bringen.
Auf diese Beratungen im Fachausschuss freue ich mich
sehr, Kollege Hermann.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({6})
Ich gebe das Wort der Kollegin Dagmar Freitag, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kaum ein Tag, kaum eine Woche, in der das Thema Doping nicht die Schlagzeilen beherrscht. Nicht etwa sauber erzielte Erfolge, sondern der mittlerweile tägliche
Blick in die Abgründe des unerträglichen Dopingsumpfs
hat dafür gesorgt, dass das Thema zum unrühmlichen
Renner auf den Titelseiten der Printmedien und Aufmacher in den TV-Nachrichten geworden ist. Der Sport
steht - das gilt nicht nur für den Radsport - vor einem
Scherbenhaufen. Umso wichtiger ist es, dass sich die für
den Sport in Deutschland Verantwortlichen ihrer Verantwortung endlich stellen.
Bundesregierung und Koalition tun dies mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Andere beschränken sich vorzugsweise darauf, Forderungen aufzustellen, und zwar
an Dritte, versteht sich. So hat der Deutsche Olympische
Sportbund in seinem Hamburger Zehnpunkteprogramm
zur Abwechslung nicht die Bundesregierung, sondern
die Bundesländer und die Sponsoren aufgefordert, sich
an der Finanzierung der NADA zu beteiligen.
({0})
- Hören Sie einfach zu, Herr Kollege Parr! Es lohnt sich.
Das ist eine gute Idee, aber es reicht nicht aus, immer
nur die anderen zu meinen.
({1})
In Hamburg hat der Sport die große Chance vertan, einen eigenen, wahrnehmbaren Beitrag zu leisten.
Zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung gibt es nicht nur den FDP-Antrag, sondern auch einige kritische Anmerkungen. Das ist legitim. Ich verhehle an dieser Stelle auch nicht, dass meine Fraktion
weitergehende Regelungen, insbesondere in einem eigenständigen Antidopinggesetz, bevorzugt hätte. Dennoch, auch der heute vorliegende Gesetzentwurf bringt
entscheidende Verbesserungen in der Dopingbekämpfung.
Auf die kann man allerdings verzichten, wenn man es
mit den Linken hält. Sie nämlich halten die Diskussion
für völlig überflüssig,
({2})
wie der Abgeordnete Nešković am 27. Mai in der „Welt“
kundtat. Er empfiehlt dort die völlige Freigabe, solange
- dankenswerterweise - Minderjährige nicht gedopt
werden. Zitat: „Soll doch jeder Sportler nehmen, was er
will.“ Ich sage Ihnen: Diese Haltung ist dumm und an
Zynismus nicht zu überbieten.
({3})
Nun zum FDP-Antrag. Lieber Kollege Parr, dort und
in vielen Pressemitteilungen ist von Dopingprävention
und deren großer Bedeutung die Rede. Deshalb eine
ganz ernst gemeinte Bitte an Sie persönlich: Bringen Sie
Ihren Parteifreund Wolf, Sportminister in NordrheinWestfalen, dazu, eine wegweisende Präventionskampagne zu initiieren. Die wird dann die Handschrift der FDP
tragen, und Nordrhein-Westfalen, Sportland Nummer
eins, kann die Vorreiterrolle unter den Bundesländern sichern.
({4})
Das, Herr Kollege Parr, wäre ein hervorragendes Signal
und würde Ihrem Antrag die Glaubwürdigkeit verleihen,
die momentan einfach nicht zu erkennen ist. Ansonsten
gibt der Antrag der FDP wenig Anlass zu einer intensiven Auseinandersetzung: viele Belanglosigkeiten, nichts
Neues.
Anders an dieser Stelle der Gesetzentwurf der Bundesregierung. Die überlegenen staatlichen Aufklärungsmethoden werden entsprechende Ermittlungen nach sich
ziehen. An deren Ende wird klar sein, ob sich ein Beschuldigter wegen des Besitzes einer nicht geringen
Menge genau definierter Substanzen strafbar gemacht
hat oder nicht.
({5})
Auch die Sportgerichtsbarkeit wird von diesen Ermittlungsergebnissen profitieren, wenn sie es denn will.
Wir sprechen viel von Eliteschulen, dualer Karriereplanung und anderen verantwortungsvollen Elementen
der Nachwuchs- und Spitzensportförderung. Und
dann das: Da meldet die „FAZ“ von heute, dass der baden-württembergische Kultusminister Rau ankündigt,
das pädagogische Konzept der Eliteschulen des Sports
um das Thema Doping zu erweitern. Der geneigte Leser
ist nur noch fassungslos. Kann es wirklich wahr sein,
dass Sport und Ministerium es bislang offensichtlich
nicht für nötig gehalten haben, eines der brisantesten
sportpolitischen Themen auf den Stundenplan unserer
hoffnungsvollen Nachwuchsathleten zu setzen?
({6})
- Sehr geehrter Herr Parr, wissen Sie nicht, dass für
Schulpolitik immer noch die Bundesländer zuständig
sind? - Bei so viel Ignoranz der Bundesländer muss man
sich nicht wundern, welche Behandlung dem durchaus
bemerkenswerten Antidopinggesetzentwurf des Freistaates Bayern im Bundesrat zuteil wurde. Was muss eigentlich in diesem Land noch passieren, damit wir wissen, dass wir es mit kriminellen Elementen zu tun haben,
dass der Sportler nicht das schwächste Glied in der Kette
ist, wie die FDP meint?
({7})
- Ich zeige Ihnen nachher sofort Ihre Pressemitteilung,
Herr Kollege Parr; ich weiß nicht, wer Sie Ihnen geschrieben hat. ({8})
Was muss noch herauskommen, damit die Zuschauer
den ach so reuigen Dopern nicht zwei Tage später wieder
am Straßenrand zujubeln?
Wir müssen Doping wirksam bekämpfen. Wir müssen, wenn nötig, weitere Schritte gehen. Dies gilt auch
für den Gesetzgeber. Ich sage Ihnen: Das kann im Zweifel ganz schnell gehen.
Vielen Dank.
({9})
Die Kollegin Katrin Kunert, Fraktion Die Linke, hat
ihre Rede zu Protokoll gegeben.1)
({0})
Deshalb gebe ich dem Kollegen Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich vermute, meine Kollegin Kunert konnte ihre Rede nicht halten, weil es peinlich gewesen wäre, hier auszusprechen,
was es an Dissens in ihrer Fraktion gibt.
({0})
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ih-
nen in den letzten Tagen und Wochen gegangen ist. Ich
jedenfalls habe früher gedacht: Beim Doping wird mich
1) Anlage 15
nichts mehr überraschen, und mich wird auch nichts
mehr wirklich erschüttern, egal was da herauskommt.
Und doch hat mich das überrascht und auch erschüttert
- das muss ich sagen -, was in den letzten Wochen bekannt wurde: diese Art von flächendeckendem Doping,
die Selbstverständlichkeit, mit der man in einer bestimmten Sportart Dopingmittel genommen hat, die
Selbstverständlichkeit, mit der Masseure, Ärzte, Trainer,
alle mitgemacht haben.
Ich sage ganz offen: Am meisten hat mich die Tatsache verwundert und auch entsetzt, dass es in diesem
Bereich eigentlich nicht einmal mehr ein Unrechtsbewusstsein gibt. Man hat mit der größten Selbstverständlichkeit gesagt: Das haben wir genommen, weil es
alle genommen haben; das haben wir getan, weil wir sicher waren, dass es nicht herauskommt. Ich wiederhole:
Es gab keinerlei Unrechtsbewusstsein. Das ist entsetzlich; denn das heißt, dass es für Sportler keine Regeln
mehr gibt, an die sie sich zu halten bereit sind. Regeln
des Sports, Regeln der Fairness sind ihnen also wurscht
und spielen keine Rolle mehr, wenn es um den Preis, um
den Sieg, um das Geld geht. Ich glaube, das ist ein Tiefpunkt des Sports.
Es ist deutlich geworden - das wird auch hier im
Hause niemand bestreiten -, dass wir im Sport einen umfassenden Neuanfang brauchen, eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Dopings im Sport. Dafür verantwortlich ist der Sport selbst, aber auch die Politik.
Herr Minister, Sie haben sich zu dieser Seuche - so
nennen Sie es; ich halte es nicht für eine Seuche, weil es
keine Krankheit ist, sondern etwas Menschengemachtes,
etwas Menschenverantwortetes - hier sehr deutlich geäußert. Angesichts dessen hätte ich schon einen größeren
Wurf, eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung des Dopings erwartet. Was haben Sie vorgelegt? Ein kleines
Gesetz auf minimalistischer Basis, die Novellierung des
Arzneimittelgesetzes, aber kein wirklich umfassendes
modernes Gesetz zur Bekämpfung des Dopings im
Sport.
({1})
- Nein, dieser Gesetzentwurf enthält nicht viel.
Einigen Punkten kann man sicherlich ohne Weiteres
zustimmen, zum Beispiel der Kennzeichnung von Arzneimitteln, dem Einsatz des Bundeskriminalamts dort,
wo organisierte internationale Kriminalität stattfindet.
Natürlich ist es gut, dass der Handel mit und der Vertrieb
von Dopingmitteln verschärft bestraft werden sollen. All
das ist gebongt; all dem stimmen wir zu.
({2})
Von Kollegen von der SPD höre ich aber immer wieder: Der Kern dieses Projektes ist die Strafbarkeit des
Besitzes einer nicht geringen Menge.
({3})
Dazu kann ich nur sagen: Das ist weiße Salbe. Der Handel mit und der Vertrieb von Dopingmitteln sind nämlich
schon heute strafbar.
Nun sagen Sie natürlich: Ihr Grünen habt euch in dieser Frage auch nicht verständigt. Dieses Problem habe
ich immer wieder offen angesprochen. Ich werde diese
Debatte heute nicht noch einmal führen.
({4})
Ich will auch nicht so tun, als wäre die Haltung meiner
Fraktion eindeutig. Aber der Formelkompromiss, den
Sie gefunden haben, bringt uns auch nicht weiter.
Um einen anderen Punkt haben Sie nur drum herumgeredet; da haben Sie nichts gemacht. Gerade im Radsport sind Lug und Betrug offenkundig an der Tagesordnung, Kollege Danckert. Die Wettbewerber werden um
Geld und um Prämien betrogen. Die Sponsoren werden
betrogen, und die Öffentlichkeit wird betrogen. Der
Straftatbestand des Betrugs ist im Bereich des kommerzialisierten Sports deutlich sichtbar. Sie hätten Maßnahmen ergreifen können, die genau diesem Zustand
Rechnung tragen; doch Sie haben es nicht gemacht.
({5})
Wir haben dafür gekämpft. Viele Experten werden Sie
bei der Anhörung nächste Woche auf dieses Defizit hinweisen.
Auch der Sportler selber trägt in diesem System Verantwortung. Verantwortung tragen nicht nur die Hintermänner - jawohl, auch sie sind verantwortlich -, sondern
auch der dopende Sportler, der seine sportlichen Konkurrenten betrügt. Dagegen haben Sie keine entsprechenden Maßnahmen ergriffen.
Wir hätten erwartet, dass Sie ein Gesamtkonzept vorlegen und nicht nur ein einfaches Gesetz. Das ist nicht
geschehen. So kann man keine wirklich glaubhafte Antidopingpolitik betreiben.
Ein letztes Wort.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss. - Der Herr Minister hat gesagt: Wir müssen mehr für Forschung und für Prävention tun. Dann tun Sie etwas! Sie haben die schon bescheidenen Mittel für den Präventionsbereich in diesem
Jahr noch einmal gekürzt, und zwar von 400 000 Euro
auf 300 000 Euro. Ich erwarte wirklich, dass in großem
Umfang zusätzliche Mittel zur Dopingbekämpfung, zu
Forschungszwecken und natürlich auch zur Prävention
und zur Aufklärung bereitgestellt werden.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Danckert, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Vorweg, einfach um dem Kollegen Parr und seinem
Kurzzeitgedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen: In
einer Pressemitteilung des Kollegen Parr vom 22. Mai
- das ist noch nicht so lange her, lieber Detlef Parr heißt es: „Die Sportler sind das schwächste Glied in der
Dopingkette.“ Was soll ich denn davon halten?
({0})
-„Ich habe das gar nicht gesagt“, behauptet er. Es steht
in deiner eigenen Presseerklärung. Du kannst sie nachher bekommen.
({1})
Zum Thema: Ich möchte an dieser Stelle bei der ersten Lesung noch einmal deutlich machen, dass ich den
Kolleginnen und Kollegen in der Union, allen voran
Klaus Riegert und Peter Rauen, aber auch den anderen,
die hier sitzen, sehr dankbar dafür bin, dass wir uns verständigt haben. Das war ein mühevoller Prozess. Wir haben fast das ganze Jahr 2006 damit verbracht.
({2})
Es gab auch Enttäuschungen, Herr Abgeordneter
Schäuble. Ich hätte Sie als Minister angesprochen, aber
da Sie im Plenum sitzen, sind Sie jetzt offensichtlich in
der Rolle des Abgeordneten. Wahrscheinlich wollen Sie
mir noch eine Zwischenfrage stellen.
({3})
Herr Abgeordneter Schäuble, es gab auch Enttäuschungen, aber die sind jetzt vergessen. Wir haben einen gemeinsamen Entwurf vorgelegt. Ich sage an dieser Stelle:
Dieser Entwurf ist viel besser, als es sich die Kollegen
von der Opposition vorstellen können.
({4})
Die Opposition muss natürlich remonstrieren, weil die
eine Fraktion gar keinen Entwurf zustande gebracht und
die andere immer nur darüber geredet hat.
({5})
Von daher ist unser Gesetzentwurf ein sehr guter Schritt.
Er ist sicherlich bei weitem nicht ausreichend, um im
Kampf gegen Doping zu bestehen, aber wenn wir dieses
Instrumentarium nicht bekommen, ist es noch hoffnungsloser. Wir haben ja gesehen, was sich in den letzten Wochen und Monaten ereignet hat. Bis zu diesem
Zeitpunkt war der organisierte Sport zuständig, weil
das Gesetz ja noch nicht verabschiedet ist. Was hat er zustande gebracht? Fast gar nichts. Alles, was mit dem
Radsport zu tun hat, wurde nie aufgedeckt. Der Sport
hatte alle Möglichkeiten der Welt. Wir haben einfach
nicht das nötige Instrumentarium. Ich will nicht sagen,
der Sport habe versagt, aber er ist in der Nähe einer totalen Niederlage.
({6})
Was werden wir in Zukunft machen? Wir haben das
Gesetz verabschiedet. Jeder von uns weiß, dass das Gesetz nicht ausreichend ist. Wir müssen - das hat Herr Minister Schäuble dankenswerterweise in seiner Rede gesagt - die NADA mit zusätzlichen Mitteln ausstatten. Es
gibt schon eine ganze Reihe von Angeboten. Inzwischen
haben sich einige Sponsoren wie Telekom und Nordmilch gemeldet und ganz stattliche Beiträge geleistet.
Die Telekom zahlt in diesem Jahr insgesamt
460 000 Euro, Milram/Nordmilch 150 000 Euro.
({7})
Aber was macht eigentlich der organisierte Sport? Die
Sportverbände - wir haben es in Hamburg gehört - haben Zahlungen schlicht abgelehnt.
({8})
Wir müssen an dieser Stelle mehr Mittel zur Verfügung
stellen und damit die Prävention als wichtigen Teil des
Kampfes gegen Doping stärken.
({9})
Wir müssen intelligentere Trainingskontrollen einrichten, und wir müssen sicherlich auch die Dopinganalytik
verstärken und verbessern, damit wir nicht immer hinterherlaufen. An dieser Stelle ist eine ganze Menge zu tun.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gienger?
Der Kollege Gienger ist Experte.
({0})
Das höre ich gern.
({1})
Kollege Peter Danckert, ist dir bekannt, dass der
Deutsche Olympische Sportbund in diesem Jahr an die
NADA zusätzlich 260 000 Euro überweist?
Wenn das die einzige Frage ist, kann ich dazu sagen:
Ja, das ist mir bekannt.
({0})
Der DFB hat aufgrund der guten Einnahmesituation
3 Millionen Euro an den Deutschen Olympischen Sportbund überwiesen, und von diesem Betrag hat der DOSB
sehr großzügig 260 000 Euro an die NADA überwiesen.
Ich hoffe nur, lieber Kollege Eberhard Gienger, dass
das auch im nächsten Jahr so sein wird, dass das keine
Eintagsfliege ist. Mit einer einmaligen Zahlung aus der
Sonderzuweisung des DFB ist uns nämlich gar nicht geholfen. Mir wäre es lieber, die Spitzenverbände in Hamburg unter Führung des geschätzten Präsidenten - ich
lasse ihn grüßen ({1})
hätten sich verständigt und gesagt: Wir wollen selber,
wie Clemens Prokop es gefordert hat, einen effektiven
Beitrag zur Bekämpfung der Dopingszene leisten und
der NADA regelmäßig 500 000 Euro oder 1 Million
Euro oder 1,5 Millionen Euro überweisen. - Das wäre
ein Zeichen. Aber was haben sie gemacht? Sie haben
nicht mal 1 Prozent gegeben, und das ist, finde ich, bemerkenswert. Deshalb ist auch immer wieder meine Vermutung: Der organisierte Sport will es nicht wirklich,
sondern redet nur davon.
({2})
Man könnte das nämlich durch konkrete Dinge belegen,
indem man etwa sagt: Wir sind bereit, 5 Prozent oder,
von mir aus, 2,5 Prozent zu geben. - Das alles tut man
nicht. Von daher ist das, was sozusagen aus dieser Kulisse kommt, nicht sehr bemerkenswert.
Das zu der Frage, ob ich wüsste, dass der DOSB
260 000 Euro gibt.
({3})
Für so doof, dass ich das nicht weiß, darf man mich nicht
halten. Ich weiß das aber auch einzuordnen, und das ist
der Unterschied zwischen uns beiden an dieser Stelle.
({4})
Ich glaube, dass wir mit der heutigen ersten Lesung
auf einem sehr guten Weg sind.
({5})
Wir werden in einer Ausschusssitzung am kommenden
Mittwoch die Dinge eingehend erörtern. Wir haben sehr
viele Fachleute eingeladen. Ich glaube, dass sie uns in
unserem gemeinsamen Kampf ganz überwiegend bestärken werden. Ich sage aber noch einmal: Das Gesetz, das
wir am 4./5. Juli verabschieden werden, ist nur ein Baustein. Es muss noch sehr viel mehr dazukommen, unter
anderem eine wirklich effektive Unterstützung der
NADA, damit sie als Zentrum des Kampfes gegen das
Doping auch die nötigen Mittel hat; sonst wird es auf
Dauer nicht funktionieren.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5526 und 16/4738 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel
in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF
und OEF beenden
- Drucksache 16/5587 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({3}), Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in Af-
ghanistan beenden
- Drucksachen 16/4674, 16/5309 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Dr. Werner Hoyer
Jürgen Trittin
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer ({5}),
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Das Mandat für die Operation Enduring Freedom beenden - Einsätze des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan einstellen
- Drucksachen 16/121, 16/5314 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Dr. Werner Hoyer
Jürgen Trittin
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({6})
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD zu der zweiten Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({7}), 1413
({8}), 1444 ({9}), 1510 ({10}), 1563
({11}), 1623 ({12}) und 1707 ({13}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Birgit Homburger,
Hellmut Königshaus, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP zu der Beratung des
Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({14}), 1413
({15}), 1444 ({16}), 1510 ({17}), 1563
({18}), 1623 ({19}) und 1707 ({20}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksachen 16/4298, 16/4571, 16/4620,
16/4621, 16/5636 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Dr. Wolfgang Gerhardt
Jürgen Trittin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
8. Mai hat das afghanische Oberhaus einen bemerkenswerten Beschluss gefasst. Es hat nämlich dazu aufgefordert, alle offensiven Militäraktionen ausländischer Truppen in Afghanistan einzustellen und Aktionen nur noch
zusammen mit der Armee und der Polizei durchzuführen. Nun fasst dieses Parlament, das Oberhaus, gelegentlich etwas angreifbare Beschlüsse, aber in dem Fall
drückt es einen breiten Konsens in Afghanistan aus, den
Präsident Karzai in anderer Weise formuliert hat. Er hat
nämlich gesagt: Die Zivilopfer und die willkürlichen
Entscheidungen, die Häuser der Leute zu durchsuchen,
haben ein inakzeptables Niveau erreicht, und die Afghanen können das nicht länger hinnehmen. - Eine internationale Mission, die sich der Unterstützung Afghanistans
verschrieben hat, kann über solche Feststellungen, finde
ich, nicht einfach achselzuckend hinweggehen.
Der Hintergrund, wie es zu diesem Beschluss und zu
dieser Äußerung gekommen ist, ist ein außerordentlich
ernster, ein Zwischenfall - einer von vielen, muss man
an dieser Stelle sagen - in der Woche zuvor. In der Provinz Shindand fand eine OEF-Operation statt - ohne
Wissen von ISAF. Sie verstrickte sich in einen Hinterhalt und konnte sich nicht wieder zurückziehen. Was tat
sie? Sie bat um Hilfe - bei ISAF. ISAF gewährte die
selbstverständlich, schickte einen italienischen Hubschrauber mit Wasser und Munition. Das half nicht. Die
Kämpfe gingen weiter. Ein weiterer Hilferuf der dort bedrohten OEF-Soldaten - und ein holländisches Kampfflugzeug, eine F 16, bombardierte von diesen Truppen
markierte Häuser. Damit war der Kampf vorüber.
136 Tote, darunter allerdings 50 Frauen und Kinder, zum
Teil ertrunken auf der Flucht vor den Bomben in einem
Fluss, der leider in diesen Tagen Hochwasser führte.
Meine Damen und Herren, dass wir uns nicht missverstehen: Dies ist nicht die Darstellung der afghanischen Seite oder der anderen Kriegsteilnehmer, sondern
die Darstellung, die der Kollege Nachtwei, die Kollegin
Künast und ich vom ISAF-Hauptquartier von diesem
Vorfall bekommen haben. Dort war der Vorfall sehr gut
bekannt, weil die gesamten Kampfhandlungen an dieser
Stelle von einer Drohne überwacht worden sind.
Der Bundesverteidigungsminister hat hier bei der
letzten OEF-Mandatsverlängerung gesagt, OEF sei notwendig, um ISAF zu schützen. Wir haben feststellen
müssen, dass es in Wirklichkeit umgekehrt war: ISAF
musste OEF aus einer ausweglosen Situation heraushauen. Ich füge hinzu: Es ist heute leider wahrscheinlich
so, dass OEF - das bestätigen Ihnen auch Soldaten in
Afghanistan - eine Gefährdung für den Erfolg von ISAF
darstellt, weil es die Legitimität des gesamten internationalen Engagements zu untergraben droht. Ich drücke
mich da sehr gewählt aus.
Ich finde das auch aus einem anderen Grund bedauerlich: weil nämlich diese Zwischenfälle - der letzte hat
vor zwei Tagen stattgefunden; sieben Polizisten einer afghanischen Polizeistation fielen ihm zum Opfer - hier
wahrgenommen werden. Sie stellen die wirklichen Verhältnisse in Afghanistan auf den Kopf. Es gibt dort nur
eine Seite, die vorsätzlich, nachdrücklich, in kriegsverbrecherischer Absicht Anschläge auf Zivilisten ausübt,
und zwar die sogenannten oppositionellen Militanten,
wie immer Sie sie bezeichnen wollen. Aber gerade angesichts der Opfer solcher Aktionen - allein in diesem Jahr
380 Menschen; wir rechnen, wenn das so weitergeht, mit
über 1 000 zivilen Opfern aufgrund terroristischer Aktionen dieser Aufständischen - ist und bleibt es unsere
Hauptaufgabe, in diesem Prozess für Friedensstabilisierung zu sorgen. Es geht heute nicht mehr um einen sogenannten War on Terror - nur zu einem kleineren Teil
handelt es sich um Aufstandsbekämpfung -, sondern wir
müssen dafür Sorge tragen, dass die afghanische Seite in
die Lage versetzt wird, hier angemessen zu reagieren.
({0})
Dazu gehört, dass wir sehr genau hinschauen müssen.
OEF hatte seine Berechtigung, als es um den Sturz des
Talibanregimes ging. Es hatte seine Berechtigung zu einem Zeitpunkt, als es außerhalb von Kabul kaum eine
Möglichkeit anderer Legalität gab. Davon distanziere
ich mich nicht. Aber mit der Wahl der afghanischen Regierung und mit der Ausweitung des Mandates von ISAF
auf ganz Afghanistan gibt es keine - übrigens auch keine
rechtliche - Begründung mehr für eine Operation außerhalb von ISAF. Sagen Sie mir nicht, das alles sei zwingend und unabweisbar. Das stimmt nicht. Von den
10 000 Soldaten im Rahmen von OEF sind 6 000 damit
beschäftigt, afghanische Soldaten auszubilden. Das sollen sie weiter tun, und das können und sollen sie unter
dem Kommando von ISAF tun. Lediglich 1 000 sind in
die Aktionen eingebunden. Was spricht dagegen, diese
1 000 auf den, wie Sie es genannt haben, Comprehensive
Approach der NATO zu verpflichten und entsprechend
einzubinden? Deutsche Truppen sind seit fast zwei Jahren nicht mehr im Rahmen von OEF in Afghanistan tätig.
Es gibt einen einfachen militärischen Grundsatz, der
lautet: In einem Gebiet kann nur eine militärische Operation geführt werden. Kehren Sie zu diesem militärischen
Grundwissen zurück! Sorgen Sie innerhalb der NATO
dafür, dass die Störmanöver gegen die NATO-Mission
ISAF endlich beendet werden!
({1})
Letzte Bemerkung. Der Militärwissenschaftler
Anthony Cordesman schrieb vor wenigen Tagen: Die
USA, die NATO und die afghanische Regierung haben
immer noch Erfolgsaussichten, aber nur, wenn sie ihr
Engagement als, wie er es genannt hat, eine Hauptaufgabe im bewaffneten Nation-Building sehen und nicht
in erster Linie in einem Krieg gegen den Terrorismus.
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie eine Stabilisierung
Afghanistans wollen und der Mission zur Unterstützung
der afghanischen Regierung zum Erfolg verhelfen wollen, dann muss OEF beendet werden, und dann darf es
nur noch eine Operation in Afghanistan geben. Das ist
die UN-mandatierte internationale Unterstützungsaktion
für Afghanistan, auf Englisch abgekürzt ISAF.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Bernd Schmidbauer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Trittin, ich
glaube, wir sind nicht weit auseinander. Wenn wir uns
darauf verständigen, keine Schlagworte wie opting-out
und Exit-Strategien zu verwenden, müssen wir uns überlegen, wie ein ganzheitlicher Ansatz aussehen soll, was
sowohl die Entwicklungshilfe und die Militärhilfe als
auch die Strukturen von ISAF und OEF angeht. Ich
komme darauf noch zurück.
Ich möchte zunächst einmal feststellen: Wir sind uns
alle einig, dass es nach wie vor das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft sein muss, dafür zu sorgen, dass
von Afghanistan nicht erneut eine terroristische Bedrohung ausgeht. Wir sind uns im Klaren darüber, dass es
die Anschläge von New York und Washington nicht gegeben hätte, wenn sich Afghanistan nicht zu einem Trainings-, Ruhe- und Rückzugsraum für Terroristen entwickelt hätte.
Wir müssen dazu beitragen - wir befinden uns momentan in einer schwierigen Phase -, dass die Stabilität
in Afghanistan hergestellt wird und dass eine politische
Entwicklung vorangetrieben wird, die den Menschen des
Landes Sicherheit und Frieden bringt und einen Rückfall in den früheren Zustand verhindert.
Wir waren von Anfang an in erheblichem Maße engagiert. Das gilt nicht nur für den Einsatz der Bundeswehr
und der Hilfsorganisationen, sondern auch für die finanziellen Leistungen. Deutschland steht an vierter Stelle
der Geberländer.
Ich sprach vorhin von einem ganzheitlichen Ansatz,
der viele Arten von Unterstützungsleistungen umfasst.
Ich denke, dies ist der grundsätzlich richtige Weg. Die
Londoner Konferenz hat gezeigt, dass wir alle diesen
Weg verfolgen.
Zurzeit liegen die Hauptprobleme beim Wiederaufbau. Es muss die Frage gestellt werden, wie diese Probleme gelöst werden können. Mehr als fünf Jahre nach
Beginn der Wiederaufbaubemühungen stehen fünf
Hauptprobleme einem Erfolg der internationalen Staatengemeinschaft beim Wiederaufbau des Landes im
Wege: erstens die Schwäche und sinkende Legitimation
des Staates - darüber wurde vorhin ebenfalls gesprochen -,
zweitens die Zunahme des Drogenanbaus und des Drogenhandels, drittens die Situation im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, viertens die die gesamte Gesellschaft durchziehende Korruption und fünftens das
Fehlen belastbarer afghanischer Sicherheitsstrukturen.
Die sich verschärfende Sicherheitslage in Afghanistan seit dem Frühjahr 2006 ist vor allen Dingen auf ungelöste Probleme in diesen Bereichen zurückzuführen.
Dies wiederum behindert den zivilen Wiederaufbau insbesondere in den Regionen, wo zivile Hilfe am meisten
gebraucht wird.
Zum ersten Hauptproblem. Große Teile der afghanischen Bevölkerung - nicht nur im Süden und Südosten sehen keine oder nur geringfügige Verbesserungen ihrer
Lebensumstände. Ihr Vertrauen in die Regierung
Karzai sinkt. Die Präsenz des Staates ist in weiten Teilen
des Landes nicht sichtbar. Der Mangel an Sicherheit
stellt die größte Hürde für den Wiederaufbau Afghanistans dar. Die Enttäuschung über das Unvermögen und
die Machtlosigkeit der staatlichen Institutionen findet
Ausdruck in einer weit verbreiteten Akzeptanzkrise
dieser Institutionen und damit der Regierung Karzai.
Zum zweiten Hauptproblem. Während im Jahre 2005
einige Erfolge bei der Drogenbekämpfung erzielt werden konnten - sowohl Anbaufläche als auch Produktion
konnten reduziert werden -, hat sich dieser Trend im
Jahre 2006 wieder umgekehrt. Schwerpunktmäßig
nimmt der Drogenanbau insbesondere in den südlichen
Provinzen des Landes zu. Allein in der Provinz Helmand
befinden sich über 40 Prozent der landesweiten Drogenanbauflächen. Aber auch in den nördlichen Provinzen, für die Deutschland die regionale militärische Verantwortung übernommen hat, befinden sich weiterhin
wichtige Zentren des Drogenanbaus.
Die Vereinten Nationen weisen seit Jahren zu Recht
darauf hin, dass die Stabilisierung des Landes entscheidend von der Lösung der Drogenproblematik abhängt.
Es gibt keine Patentrezepte; das ist völlig klar. Eine mittel- und langfristige Strategie zur Drogenbekämpfung
muss auf allen Ebenen, bei der Produktion, dem Handel
und den Konsumenten, ansetzen. Es ist eine wesentliche
Herausforderung, Alternativprodukte zu finden, die
eine angemessene Einkommensperspektive bieten. Ich
denke, dass die Zusammenarbeit der Nachbarn Afghanistans sicher mit dazu beitragen kann, hier Fortschritte
zu erzielen.
Es ist aber sicher kein Fortschritt, wenn derzeit mit
schwierigen Methoden versucht wird, Felder abzubrennen, und damit die Bevölkerung in die Situation gerät,
sich zu wehren, wie wir das in den letzten Tagen und
Wochen gesehen haben. Das ist keine Alternative. Eine
wirkliche Alternative wird nur zusammen mit der Bevölkerung zu finden sein; ansonsten entsteht das Problem
der fehlenden Akzeptanz unserer Soldatinnen und Soldaten in diesem Raum. Das ist schwierig; aber man sollte
es nicht totschweigen.
({0})
Zum dritten Hauptproblem. Ich halte das afghanischpakistanische Grenzgebiet für ein ganz zentrales Problem im Rahmen der Auseinandersetzungen. Die Tribal
Areas, die sogenannten FATA im nordwestlichen Grenzgebiet Pakistans zu Afghanistan, entziehen sich weitgehend staatlicher Kontrolle und sind unter anderem Rückzugs- und Operationsbasis für die Taliban. Wir sollten
eine Stabilisierung dieser Region erreichen. Daher müssen die pakistanische und die afghanische Regierung mit
Unterstützung der internationalen Gemeinschaft die
Rückführung möglichst vieler der derzeit noch in Pakistan lebenden Flüchtlinge in ihre Heimat ermöglichen.
Ich denke, dass den rund 3,5 Millionen Einwohnern
in den FATA wie auch den Bewohnern der angrenzenden
Provinz Belutschistan dringend Bildungsangebote außerhalb der bestehenden Koranschulen gemacht und legale Einkommensperspektiven aufgezeigt werden müssen. Allein in Belutschistan fehlen mehrere Tausend
reguläre Schulen. Das ist die negative Seite. Man kann
natürlich auch erwähnen, dass in Pakistan Hunderte von
Schulen aufgebaut wurden und Tausende von Schülern
in diese neuen Schulen gehen. Aber es ist wichtig, dass
auch in anderen Gebieten solche Schulen entstehen und
dass wir eine wirkliche Kontrolle über diese Gebiete gewinnen. Daher muss die internationale Gemeinschaft die
pakistanischen Sicherheitsbehörden unterstützen. In diesem Zusammenhang ist es sehr zu begrüßen, dass die
EU beabsichtigt, ihre materielle Unterstützung für
Pakistan erheblich auszuweiten. Ich finde, es ist wichtig, dass wir auch diesen Bereich mit in unsere Handlungsmöglichkeiten einbeziehen.
Zum vierten Hauptproblem. Alle bisherigen Vereinbarungen der internationalen Staatengemeinschaft bauen
auf der Idee einer nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionierenden afghanischen Zentralregierung auf. In der
Realität zeigt sich jedoch, dass die grassierende Korruption der Wirksamkeit der afghanischen Staatsstrukturen Grenzen setzt. Auch dies muss offen angesprochen werden. Wir erhalten den Rückhalt in der
Bevölkerung nur dann, wenn dies offensiv angegangen
und offensiv angeprangert wird; sonst wird es zu keiner
Befriedung in diesem Land, in diesen Regionen kommen.
({1})
Zum fünften Hauptproblem. Ein besonderes Problem
ist der schleppende Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. Afghan Ownership ist ohne belastbare afghanische Sicherheitsstrukturen nicht zu erreichen. Daher sind sowohl der Aufbau als auch das Training und
die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte als auch
der Aufbau der afghanischen Polizei notwendig. Ich
habe in einer meiner letzten Reden die Polizeiausbildung
gelobt; das gilt nach wie vor. Nur, diese ist ein Tropfen
auf den heißen Stein. Wir brauchen eine mehrfache
Struktur, die es ermöglicht, in kürzerer Zeit belastbare
Polizeistrukturen aufzubauen. Es muss dafür gesorgt
werden, dass es eine angemessene Ausstattung der Polizei gibt. Dies gilt auch für die Streitkräfte.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die europäische Seite
jetzt einen Durchbruch erreicht hat. Vielleicht können
wir in den nächsten Monaten feststellen, dass wir in diesen Bereichen etwas erzielt haben, was wir schon seit
vielen Monaten fordern.
Ein weiterer Aspekt ist die Koordination der Arbeit
der internationalen Geldgeber. Wir koordinieren die Arbeit im internationalen Bereich besser. Herr Trittin, das
gilt auch für den militärischen Bereich. Auch im nationalen Bereich wird die militärische Hilfe besser mit der
zivilen koordiniert.
({2})
Nur Träumer gehen davon aus - das kam in den vorangegangenen Beiträgen zum Ausdruck -, dass man
ohne militärische Absicherung zivile Hilfe leisten kann.
Wenn sich das nur endlich einmal herumsprechen
würde! Wenn die Leute endlich nicht nur eine Seite betrachten würden! Sie fordern eine humanitäre Leistung,
wissen aber nicht, dass die nicht erbracht werden kann,
wenn nicht gleichzeitig militärisch abgesichert wird.
Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Ein letzter Satz: Sie sollten sich einmal die Entwicklung der letzten Tage ansehen. Die Hilfsorganisationen
suchen inzwischen den Schutz der militärischen Seite
und ziehen in die Camps ein, weil es nicht mehr möglich
ist, eine humanitäre Leistung zu erbringen. Das macht
ganz deutlich, dass wir beides brauchen. Wir brauchen
die militärische und die zivile Seite. Man darf nicht eine
Seite allein verdammen. Nicht jeder kann sich die Verdienste an den Hut heften.
Herr Kollege, Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihres
nachfolgenden Kollegen.
Jetzt nicht mehr, Frau Präsidentin.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu Beginn meiner Rede möchte ich ein paar grundsätzliche Dinge festhalten: Alle zivilen und militärischen
Anstrengungen dienen der Unterstützung der afghanischen Regierung. Wir sind nicht als Besatzer in Afghanistan, sondern als Partner der Menschen in Afghanistan.
({0})
Der Deutsche Bundestag hat für Afghanistan drei
Mandate vergeben: ISAF-Mandat, Operation „Enduring
Freedom“ und das Mandat für die Tornados. Ziel aller
Einsätze in Afghanistan ist es, den Aufbau stabiler staatlicher Strukturen zu befördern, dafür zu sorgen, dass die
afghanische Regierung auf Dauer in die Lage versetzt
wird, selbst für Sicherheit und Ordnung in diesem Land
zu sorgen und das Land beim Aufbau zu unterstützen,
um den Menschen in diesem Land eine Perspektive zu
bieten.
Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass es jetzt
gelingt, die auf dem NATO-Gipfel in Riga angestoßene
Strategieänderung aller Partner in Afghanistan umzusetzen.
({1})
Im Kern muss es gelingen, den Wiederaufbau und die
zivil-militärische Zusammenarbeit gegenüber militärischen Aktionen in den Vordergrund zu rücken.
Ich glaube, es ist gut, dass es den Fraktionen von
CDU/CSU, SPD und FDP in den letzten Tagen gelungen
ist, eine gemeinsame Position, einen ganzheitlichen Ansatz zu finden. Ich finde es schade - das will ich ganz
deutlich sagen -, dass über diesen Antrag heute Abend
nicht debattiert werden kann.
({2})
So beschäftigen wir uns heute mit zwei Anträgen der
Linken und einem Antrag der Grünen, in deren Mittelpunkt militärische Fragen stehen. Das ist zwar wichtig,
es ist aber genauso wichtig, deutlich zu machen, dass die
Diskussionen, die derzeit in den Ausschüssen sowie zwischen Parlament und Bundesregierung geführt werden,
weit darüber hinausgehen und darauf abzielen, politische
Initiativen voranzubringen.
Mit einer vorrangig militärischen Strategie lassen sich
die vielfältigen Herausforderungen, vor denen die afghanische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft
in Afghanistan stehen, nicht lösen. Das hat die Anhörung
der FDP-Bundestagsfraktion am Montag dieser Woche
noch einmal sehr deutlich gezeigt.
({3})
Die Probleme, vor denen wir stehen - sie sind von den
Vorrednern schon angesprochen worden -, sind komplex
und stark miteinander verwoben: fehlende funktionierende staatliche Strukturen, die Korruption, der Mohnanbau, die Flüchtlinge in dem pakistanisch-afghanischen
Grenzgebiet, die sich verschärfende Sicherheitslage.
Deshalb ist es wichtig, einen Gesamtansatz zu haben und
nicht allein über militärische Fragen zu diskutieren.
({4})
Vom NATO-Gipfel in Riga und dem Treffen der
NATO-Verteidigungsminister im Februar dieses Jahres
gingen mit der Aufstockung der Mittel für zivile Maßnahmen in Afghanistan ermutigende Signale in die richtige Richtung aus. Allerdings will ich auch sehr deutlich
sagen: Das reicht nicht aus. Es ist auch nicht immer nur
eine Frage des Geldes. Bei vielen Gesprächen, die wir
führen, stellen wir fest, dass es einer besseren Koordination der zivilen Hilfsprojekte beim Wiederaufbau
bedarf. Ich denke, auch hier sind erhebliche Anstrengungen nötig.
({5})
In beiden Anträgen der Linken wird dasselbe gefordert. Sie wollen die Beendigung des KSK-Einsatzes in
Afghanistan und die komplette Beendigung des Mandats
für die Operation „Enduring Freedom“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rate dringend an, sich einmal mit
der Lage zu beschäftigen. KSK-Soldaten sind in Afghanistan seit längerem nicht mehr im Einsatz.
Als Zweites möchte ich hier sehr deutlich sagen: Wir
haben ein Parlamentsbeteiligungsgesetz. In § 8 ist ein
Rückholrecht des Bundestages verankert. Das bedeutet:
Die Zustimmung zu einem Mandat für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte kann jederzeit widerrufen werden.
Deshalb sage ich Ihnen sehr deutlich: Es hätte Ihrer Anträge überhaupt nicht bedurft. Sie sind reine Rhetorik.
Das Parlament hat ein gesetzlich verankertes Recht, das
es jederzeit wahrnehmen kann. Wenn eine Mehrheit in
diesem Hause dieser Ansicht wäre, würde man das auch
tun.
({6})
Ich möchte einige Bemerkungen zum Antrag der Grünen machen. Ich glaube, wir sind uns in vielen Punkten
einig; wir sind in vielen Fragen nicht weit voneinander
entfernt. Ich finde es im Übrigen gut, dass wir als Deutscher Bundestag in den letzten Monaten mehrfach gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegenüber der
internationalen Gemeinschaft deutlich gemacht haben,
dass wir gemeinsam hinter einem politischen Konzept
und einer bestimmten Strategie stehen. Deswegen sind
wir mit Ihnen einig, wenn Sie sagen: Es muss bei allen
Einsätzen darauf geachtet werden - egal ob afghanische
Polizei, afghanisches Militär oder internationale Gemeinschaft -, dass es keine zivilen Opfer gibt. Ich
glaube, Sie werden keinen in diesem Hause finden, der
das nicht fordert.
Wir sind einig, wenn Sie die Forderung aufstellen,
dass man mit Respekt und Zurückhaltung gegenüber der
afghanischen Bevölkerung auftreten soll. Nicht ohne
Grund haben wir in den letzten Debatten hier darüber gesprochen, dass wir nicht nur Einsatzregeln brauchen,
sondern dass wir für das Militär, das dort im Einsatz ist,
einen Verhaltenskodex brauchen, um sicherzustellen,
dass dessen Auftreten nicht dazu führt, dass man sich gegen uns wendet, dass die Menschen vielmehr merken,
dass wir für sie arbeiten und dass wir für die Menschen
in diesem Land da sind.
({7})
Wir sind auch einig, wenn es um die stärkeren Anstrengungen bei dem Aufbau und der Ausbildung von
Militär und Polizei geht. Hier gibt es gerade einen Fortschritt. Hinsichtlich der Ausbildung und des Aufbaus der
Polizei in Afghanistan beginnt demnächst eine europäische Mission, bei der wir als Bundesrepublik Deutschland eine Führungsfunktion übernehmen. In diesem Zusammenhang wird die Polizeiausbildung aufgestockt.
Auch hierbei gibt es breite Einigkeit in diesem Hause.
Wir hatten heute im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages den Innenminister zu Gast. Wir haben mit ihm sehr nachdrücklich darüber gesprochen,
dass mit diesen Anstrengungen nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist, sondern in diesem Punkt noch
mehr getan werden muss.
({8})
Ich möchte zum Schluss auf den Punkt kommen, bei
dem wir vielleicht Diskussionsbedarf haben. Über das
Verhältnis von ISAF und der Operation „Enduring
Freedom“ muss man natürlich reden, und zwar im Rahmen der Debatte über die Mandatsverlängerung, die wir
im Herbst dieses Jahres führen werden. Dies geschieht
vor dem Hintergrund, dass wir das ISAF-Mandat seit
Oktober letzten Jahres auf ganz Afghanistan ausgedehnt
haben. Das heißt, es gibt Gründe, darüber zu sprechen,
wie es zukünftig organisiert wird und wie das Verhältnis
der beiden Mandate zueinander ist.
Sie fordern, die deutsche Beteiligung an OEF in Afghanistan zu beenden. Das geht aber nicht einseitig, sondern nur in Kooperation und im Gespräch mit unseren
Partnern. Wenn Sie die deutsche Beteiligung an OEF beenden wollen, müssen Sie die Fragen beantworten: Was
passiert mit der Mission am Horn von Afrika? Was passiert mit der Operation „Active Endeavour“?
({9})
Wenn Sie fordern, das Nebeneinander von ISAF und
OEF zu beenden, dann müssen Sie die Frage beantworten, wer die Aufgabe der Terrorismusbekämpfung, die
im Augenblick von der Operation „Enduring Freedom“
übernommen wird, dann wahrnehmen soll.
({10})
Auch die Antwort auf diese Frage bleiben Sie schuldig.
- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Diese
Fragen bedürfen einer intensiven Erörterung. Das werden wir im Rahmen der kommenden Debatte zu leisten
haben.
Herr Trittin, Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als seien, wenn man die Beteiligung an OEF beendet, auch alle Probleme verschwunden. Das ist zu einfach.
({11})
Deswegen sage ich sehr deutlich: Die Probleme sind klar
umrissen. Sie sind auch heute benannt worden. Sie werden bleiben. Wir werden sie lösen müssen, so oder so.
Ich denke, das deutsche Parlament sollte den Versuch
unternehmen,
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihr Versprechen erinnern?
- dazu eine gemeinsame Position gegenüber der Regierung zu entwickeln.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Kramer, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Homburger, den Antrag, dessen Beratung Sie angemahnt
haben, beraten wir im Augenblick. Vielleicht ist das an
Ihnen vorbeigegangen, weil Sie wie ich bis eben im Untersuchungsausschuss gesessen haben.
Die umfassende Bekämpfung des internationalen
Terrorismus mit politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen, gesetzgeberischen und - wenn es im Einzelfall
notwendig ist - militärischen Maßnahmen bleibt - ich
denke, hier spreche ich im Namen der großen Mehrheit
dieses Hauses - auch fast sechs Jahre nach den Ereignissen des 11. September 2001 eine der zentralen Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft.
Dabei ist Deutschland keinesfalls eine Insel der
Glückseligen. Die direkte Bedrohung durch Terroranschläge ist auch in Deutschland real. Die gescheiterten
Anschläge von Köln haben dies im vergangenen Jahr mit
Nachdruck bewiesen. Die internationalen Strukturen des
Terrors der al-Qaida sind noch nicht zerschlagen. Daran
haben auch die Erfolge beim Wiederaufbau der staatlichen Strukturen in Afghanistan und bei der Stabilisierung der Region um das Horn von Afrika überhaupt
nichts verändert. Die internationale Gemeinschaft ist
weiterhin gefordert, dem internationalen Terrorismus
seine gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Basis
zu entziehen. Dazu gehört der ganzheitliche Ansatz, den
die Bundesregierung in der internationalen Diskussion
entschieden vertritt.
Zu diesem Ansatz gehörte und gehört auch der Einsatz militärischer Mittel. Dieser ist noch unverzichtbar leider, möchte man sagen. Dies erfordert von der Bundesrepublik die Bereitstellung ausgewählter militärischer Fähigkeiten in einer multinationalen Koalition,
und zwar mit Zustimmung des Bundestages: sei es im
Rahmen von ISAF die Bereitstellung von Aufklärungsmitteln wie den Recce-Tornados, sei es im Rahmen von
OEF die Bereitstellung von Marineeinheiten zur Überwachung und Kontrolle der Seewege rund um das Horn
von Afrika. Ein nach dem Mandat möglicher Einsatz
von KSK-Kräften in Afghanistan ist seit langem nicht
mehr nachgefragt worden und findet demzufolge auch
nicht mehr statt. Auch der Antrag auf Rückzug von nicht
vorhandenen Truppen geht somit ins Leere.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Grundlage
des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der Operation
„Enduring Freedom“ - des ersten Einsatzes, den der
Deutsche Bundestag im November 2001 angesichts der
Ereignisse in New York und Washington und auf Bitten
der internationalen Staatengemeinschaft beschlossen hat sind unter anderem die Resolutionen 1368 und 1373 des
UN-Sicherheitsrates, in denen die Anschläge vom
11. September 2001 noch im selben Jahr verurteilt wurden und die Staatengemeinschaft zum aktiven Kampf
gegen den Terrorismus aufgefordert wurde.
Der Auftrag des Mandats im Rahmen von OEF ist es,
Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen
zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten
abzuhalten. Dieser Auftrag umfasst ausdrücklich auch
Leistungen zum Zwecke humanitärer Hilfe. Dieser Auftrag ist trotz aller Bemühungen zur Stabilisierung der Situation in Afghanistan im Rahmen von ISAF noch nicht
erfüllt. Die Bundesrepublik bleibt im Rahmen ihrer
Bündnisverpflichtungen gefordert, in Abhängigkeit
von der jeweiligen Lage und mit Zustimmung des Bundestages militärische Fähigkeiten bereitzustellen.
Aber OEF greift über Afghanistan hinaus. Gemeinsam mit den NATO-Einsätzen im Rahmen der Operation
„Active Endeavour“ sollen am Horn von Afrika und im
Mittelmeer Terroristen der Waffennachschub abgeschnitten und die Seewege vor Anschlägen gesichert werden.
Seit Beginn dieser Mission sind die internationalen
Schifffahrtsrouten viel sicherer geworden - ein Erfolg,
der sich auch daran ablesen lässt, dass der weltgrößte
Versicherer von Reedereien, Lloyd’s in London, erstmals
seit Jahren die Höhe der Versicherungsprämien gesenkt
hat.
Ein zunehmendes Problem stellt die Abgrenzung der
beiden Mandate OEF und ISAF in Afghanistan dar.
Auf Bitten der afghanischen Regierung haben die UN im
Herbst 2003 das bis dahin auf Kabul und Umgebung begrenzte Engagement von ISAF auf ganz Afghanistan
ausgeweitet. Die NATO beschloss im Herbst 2004, diese
Ausweitung schrittweise vorzunehmen. Nicht nur Afghanen, sondern auch Militärs und Entwicklungshelfer
können kaum noch zwischen ISAF und OEF unterscheiden. Nur zwischen den einzelnen Nationen machen viele
Afghanen noch einen Unterschied. Das wurde beispielsweise daran deutlich, dass nach dem Anschlag vor drei
Wochen in Kunduz große Teile der Bevölkerung für den
Verbleib der Bundeswehr demonstriert haben.
Die Frage ist jedoch - sie wird im Antrag der Grünen
gestellt -, ob dieses Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Mandaten auf Dauer zweckmäßig ist. Lassen Sie uns die Frage, ob bzw. wie die inhaltliche Ausgestaltung des Mandats und der Umfang der von der
Bundesrepublik bereitzustellenden Fähigkeiten verändert bzw. angepasst werden, nicht ad hoc, sondern im
Rahmen der im Herbst anstehenden Beratungen über
eine Verlängerung des OEF-Mandats beraten.
({0})
- Vielen Dank. Wenn Sie eine Langzeitwirkung wollen,
haben wir möglicherweise Erfolg.
Sie wissen alle, dass innerhalb der Regierungskoalition
seit Ende vergangenen Jahres besondere Arbeitsgruppen
etabliert worden sind, in deren Zusammensetzung sich der
ganzheitliche Ansatz unseres Afghanistanengagements
widerspiegelt. In meiner Fraktion hat die sogenannte
Taskforce Afghanistan den Auftrag, das Engagement
Deutschlands intensiv politisch zu begleiten und eigene
Vorschläge zu entwickeln. Erste Ergebnisse dieser Beratungen - zumindest ist es bei der SPD so - werden der
Fraktion noch vor der Sommerpause vorgestellt werden.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind die vorliegenden Anträge der Fraktion Die Linke, wie im Bericht des federführenden Auswärtigen Ausschusses vorgesehen, abzulehnen. Ein sofortiger Ausstieg aus dem OEF-Mandat
würde weder für die Bevölkerung in Afghanistan noch
für die ISAF-Truppen ein Mehr an Sicherheit bedeuten.
Damit wäre auch der Ansatz, durch Stabilisierung und
Wiederaufbau staatlicher wie gesellschaftlicher Strukturen in dieser Region dem Terrorismus den Boden zu
entziehen, gefährdet.
Uns allen ist klar, dass der Wiederaufbau nur mit Beharrlichkeit und mit Geduld gelingen kann. Auf schnelle
Erfolge werden wir nicht hoffen können. Eine Einschränkung des deutschen Engagements in Afghanistan
würde niemandem helfen. Im Gegenteil, wir würden die
afghanische Bevölkerung, die auf uns setzt, im Stich lassen. Der afghanische Außenminister hat Deutschland
erst kürzlich bei dem Außenministertreffen der G 8 in
Potsdam eindringlich um die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes zur Stabilisierung seines Landes gebeten.
Diese Bitte sollte bei unseren Entscheidungen über die
Fortsetzung unseres Engagements Berücksichtigung finden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da mehrfach gesagt worden ist, man läge in der Beurteilung nicht weit auseinander, und ich keinen Irrtum aufkommen lassen will, lege ich Wert darauf, zu sagen: Das
trifft für die Fraktion Die Linke nicht zu. Die Fraktion
Die Linke liegt mit den anderen Fraktionen des Bundestages weit auseinander, und darüber muss man debattieren.
({0})
Meiner Fraktion und mir geht es um einen grundsätzlichen Richtungswechsel in der Afghanistanpolitik.
Ein solcher Richtungswechsel ist nicht ohne Abzug der
Truppen aus Afghanistan glaubhaft zu vermitteln.
({1})
Kollege Schmidbauer, es ist ja nicht so, dass man sich
nicht die Frage stellt und dass man nicht hin und her
überlegt, was richtig und was möglicherweise falsch ist.
Ich höre immer das Argument: Wenn wir die Truppen
zurückziehen, bricht das Chaos aus. - Es tut mir leid:
Jetzt herrscht das Chaos in Afghanistan, was Sie ja selber zugeben müssen und auch wissen,
({2})
da deutsche Bundestagsabgeordnete nicht nach Afghanistan reisen dürfen, weil ihre Sicherheit nicht gewährleistet ist. Was ist das anderes als Chaos und Gefährdung?
Als zweites Argument wird gesagt - das halte ich für
ein großes Problem, weil auch ich es nicht will -, dass
dann die Taliban zurückkommen. Ich habe nichts mit
den Taliban am Hut, ganz im Gegenteil. Ich frage mich
aber natürlich, was denn die Taliban nach sechs, sieben
Jahren Krieg so stark gemacht hat, dass sie heute wieder
die Sicherheit gefährden können. Ich sage: Das war der
Krieg selbst.
Natürlich begrüße auch ich gerne die mühseligen
Fortschritte, die es in der Bildung und für die Frauen
gibt. Bezüglich der Fortschritte für die Frauen müssen
wir vorsichtig sein, schließlich ist eine Abgeordnete des
Parlaments aus dem Parlament herausgeprügelt worden.
Auch das ist ja der heutige Zustand. Aber: Das, was eingetreten ist, ist mir nicht unwichtig.
Ich verkneife mir auch das Argument, dass ich den
jetzigen Zustand sehr intensiv mit dem Zustand verglichen habe, der in Afghanistan herrschte, als es dort vor
den Taliban linke Regierungen und Regime gab. Damals
gab es noch mehr Bildung und noch mehr Befreiung der
Frauen. Das werden Sie ja nicht leugnen können.
({3})
Den Wunsch von Jürgen Trittin, dass eine Friedensstabilisierung eintritt, halte ich für sehr vernünftig. Ich
sage Ihnen aber: Es wird keine Friedensstabilisierung
geben, solange die Menschen in Afghanistan den Eindruck haben, dass das Land besetzt ist, und solange die
Menschen gegen die Besetzung kämpfen.
({4})
Das sind die Tatsachen, um die man nicht herumkommt.
Wenn man zu der Einschätzung gelangt, dass man
sich in einer Sackgasse befindet und dass die Afghanistanpolitik der Regierungen gescheitert ist - das trifft auf
die vorangegangene rot-grüne und auch auf die jetzige
schwarz-rote Regierung zu -, dann muss man nach politischen Alternativen suchen und Signale setzen, durch
die solche politischen Alternativen sichtbar werden.
Ich war schon immer der Auffassung, dass Deutschland nicht am Hindukusch verteidigt wird. Ich glaube,
dass deutsche Soldaten und deutsche Tornados am Hindukusch unser Land zum Teil eines Krieges gemacht haWolfgang Gehrcke
ben und dass auch wir in Afghanistan als Besatzer wahrgenommen werden. Das ist die heutige Situation.
({5})
Wir alle wissen das, aber man muss es immer wieder
betonen: Krieg bringt Not, Leid, Elend, Tote und Verletzte - das, was mit dem üblen Wort Kollateralschaden
immer abgetan wird. Ich möchte, dass weder Zivilisten
in Afghanistan - diese trifft es vor allen Dingen; das hat
auch Jürgen Trittin richtig beschrieben - noch Soldaten,
die sich in Afghanistan befinden, zu Schaden kommen.
Ich habe immer gesagt, dass wir unsere Differenzen
mit der Bundesregierung nicht auf den Rücken von Soldatinnen und Soldaten austragen werden, weil sie dort
eingesetzt sind. Ich möchte diese Soldatinnen und Soldaten vor unsinnigen Aufträgen der Bundesregierung und
des Parlaments verteidigen.
({6})
Deswegen denke ich, dass es ein erster Schritt wäre, das
Mandat für die Operation „Enduring Freedom“ - OEF vom Horn von Afrika bis Afghanistan aufzukündigen
und auch das Mandat für das KSK in diesem Zuge zu beenden.
Ich will mich jetzt noch mit einem Argument auseinandersetzen, um einfach nachzuweisen, dass hier nicht
korrekt argumentiert wird. Ich dürfte Ihnen gar nicht das
sagen, was Verschiedene hier gesagt haben, dass das
KSK nämlich gar nicht in Afghanistan ist. Das ist nämlich geheim.
({7})
- Das steht in der Zeitung, aber als Abgeordnete dürften
wir das nicht sagen, weil das alles geheim ist. - Unterstellen wir aber einmal, dass es so ist und dass es zwei
Jahre lang nicht da war: Sie hätte aber das Mandat, jederzeit dort wieder eingesetzt zu werden. Das ist das Argument.
({8})
Deswegen muss man das Mandat aufheben, damit niemand auf den Gedanken kommen kann, das KSK wieder
als Kampftruppe nach Afghanistan zu schicken. Das ist
der Kern des Arguments.
Genauso wenig möchte ich, dass die Tornados dort
bleiben; darüber werden wir im September zu diskutieren haben. Ich füge hinzu: Ich möchte Tornados weder
am Hindukusch noch über Heiligendamm. Ich halte es
für eine große Zumutung, dass dort Tornados eingesetzt
worden sind.
({9})
Jetzt wollte ich mich eigentlich ganz direkt an die
Kollegen Niels Annen und Jürgen Trittin wenden. Ich
habe mir die Fernsehsendung „Sabine Christiansen“ sehr
genau angeschaut, in der ihr mit Oskar Lafontaine debattiert hattet. Jürgen Trittin und Niels Annen, der jetzt
nicht anwesend ist, haben in dieser Sendung übereinstimmend gesagt, sie wollten dafür eintreten, dass OEF
beendet werde. Die Grünen haben einen Antrag vorgelegt, in dem Entsprechendes steht. Wenn man zu einer
solchen Beurteilung kommt, sollte man allerdings keine
Verknüpfung von OEF und ISAF vorschlagen, sondern
verlangen, das Mandat für OEF komplett zu beenden.
Ich möchte auch das ISAF-Mandat beenden; das wissen
Sie. Im Regierungsantrag jedoch steht kein einziges
Wort von dem, wofür Niels Annen eintreten wollte. Es
ist Ihre Glaubwürdigkeit, die Sie aufs Spiel setzen.
({10})
Wir haben hier einen klaren Antrag gestellt, dem man
zustimmen kann. Dann muss man sich entscheiden, ob
man dies will oder nicht.
Die letzten Sekunden meiner Redezeit verwende ich
auf eine Frage, die Sie vielleicht als nicht zum Thema
gehörend empfinden werden. Sie gehört aber zu diesem
Thema. In dieser Woche ist veröffentlicht worden, dass
der internationale Waffenhandel seit 2002 um
50 Prozent angestiegen ist und Deutschland sich auf den
dritten Platz geschoben hat. Ein Klima des Krieges gegen den Terror ist ein Klima, in dem der internationale
Waffenhandel boomt. Deswegen muss man eine andere
Politik einleiten. Dazu ist die Bundesregierung leider
nicht in der Lage.
({11})
Der Antrag der Koalitionsfraktionen hat einen vernünftigen Feststellungsteil, in dem die Probleme richtig
beschrieben sind.
Ich komme zum Schluss. - Der Teil aber, in dem
steht, was der Bundestag entscheiden soll, weist überhaupt keinen einzigen neuen Gedanken auf und reicht
heute nicht mehr aus.
Danke sehr.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Schmidbauer.
Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege Vorredner, Sie
haben mich angesprochen. Ich will nur zu Ihren Bemerkungen betreffend das Chaos und die Situation vor der
heutigen Situation, in der wir uns engagieren, etwas sagen. Wenn Sie dieses geschundene Land, das jahrzehntelang mit Krieg überzogen worden ist und dessen Regime
in einem Fußballstadion und anderswo Menschen zu
Tausenden umgebracht hat, mit dem heutigen Afghanistan vergleichen und dann in Bezug auf die Gegenwart
von Chaos reden und sich nach der, wie Sie sagen, sei10540
nerzeitigen freiheitlichen Ordnung in diesem Land zurücksehnen, dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihnen in
den letzten Jahren einiges entgangen ist.
({0})
Ich kann vielerlei Argumentationen verstehen. Aber
der jetzt eingeleitete Prozess - Parlamentswahl, Wahl
des Präsidenten, also die Legitimation einer Regierung,
und der Versuch, Mindeststandards in diesem Land zu
erreichen - widerspricht Ihrer Aussage völlig. Sie haben
heute Morgen doch auch gehört, was Frau Kollegin
Wieczorek-Zeul über den Ausbau von Schulen und andere Fortschritte gesagt hat. Dies ist ganz bestimmt nicht
der Himmel auf Erden. Aber im Vergleich dazu, dass
Menschen früher von ihrem Regime mitten in der Stadt
umgebracht wurden, ist einiges erreicht worden. Daher
sollten Sie einmal objektiver an diese Situation herangehen.
Die Situation ist schwierig; das ist wahr. Wir haben
keinen Kurzsprint, sondern einen Marathonlauf zu absolvieren. Aber eines müssen wir begreifen: Ohne die
Verdienste unserer Soldatinnen und Soldaten wäre man
in Afghanistan zu keiner Form von Befriedung gekommen. Wir dürfen nicht schlapp machen und aus lauter
Angst die Verantwortung abgeben. Es ist ja so einfach
und populistisch, davon zu sprechen, dass man aufhören
und eine Exit-Strategie entwickeln wolle. Inzwischen sehen wir, dass die Tornados die Lage eher stabilisieren als
destabilisieren. Hier müssen also zwei Seiten einer Medaille betrachtet werden. Deshalb ist mir unser Engagement auch im Interesse der Menschen in diesem Land
lieber.
({1})
Sie dürfen antworten, Herr Kollege Gehrcke.
Kollege Schmidbauer, es gibt Menschen, die für sich
gern die Eigenschaft der Unerschrockenheit in Anspruch
nehmen. Ich nähme für mich lieber Erschrockenheit und
außerdem ein Stückchen Nachdenklichkeit in Anspruch.
Da ich die Substanz Ihrer Argumentation kenne, unterstelle ich, dass Sie mich falsch verstanden haben. Ich
habe das Talibanregime - die Taliban sind eine Erfindung der CIA; das muss man einmal hinzusetzen, weil es
einfach wahr ist ({0})
immer politisch bekämpft.
({1})
Ich hielt es für ein unmenschliches, brutales Regime. Es
war ein Mörderregime, mit dem man keinerlei Sympathie empfinden kann und empfinden darf. Das ist eine
völlig klare Position.
({2})
Ich sage: Ohne einen Rückzug entsteht zumindest bei
weiten Teilen der Bevölkerung in Afghanistan der Eindruck, sie wären ein besetztes Land, was sie nicht wollten. Das mussten schon die Engländer lernen, das haben
die Sowjets lernen müssen, das werden auch die USA lernen müssen, und wir werden es mit ihnen lernen müssen.
Ich habe den Eindruck, dass all das, was man zur
Friedensstabilisierung macht, ohne einen Rückzug, ohne
ein Zeichen, dass dies beendet wird, nicht greift. Deswegen ist der Abzug nicht gefährlich, ist er nicht die Auslösung eines Chaos - Chaos ist, wenn Krieg geführt
wird -, sondern ist der Abzug der Weg, um überhaupt
eine friedliche Lösung möglich zu machen und in diesem Lande zu implementieren.
Das ist meine Antwort. Wir sollten uns da nicht falsch
verstehen. Solche Mörderregime wie die Taliban und andere: mit mir nicht.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans Raidel, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zuallererst möchte ich mich bei unseren Soldaten bedanken, die in Afghanistan keinen leichten Dienst
tun. Das hat heute hier noch keiner getan. Ich bin sicher,
ich darf das für Sie alle hier nachholen.
({0})
Liebe Freunde, wir können natürlich mit allem, was
wir hier sagen, die Stammtische bedienen.
({1})
Das versuchen Sie im Grunde genommen auch, aber
meiner Auffassung nach nehmen Sie damit keine verantwortungsvolle Position ein. Wenn Sie den Kollegen
Trittin aus der Sendung von Christiansen zitieren, dann
zitieren Sie doch bitte auch Ihren Kollegen Lafontaine,
der in derselben Sendung gesagt hat, Soldaten seien Terroristen. Das weise ich mit Entschiedenheit zurück.
({2})
- Das hat er gesagt; ich habe es gehört, und ich weise es
mit Entschiedenheit zurück, im Sinne der Glaubwürdigkeit unserer Soldaten.
({3})
Ich höre eigentlich immer nur Hilferufe aus Afghanistan. Die afghanische Bevölkerung sagt: Lasst uns
nicht im Stich, bleibt bei uns, setzt alle diese Aufgaben
fort, die hier bereits beschrieben worden sind.
({4})
- Karzai ist immerhin der demokratisch gewählte Vertreter.
({5})
- Und Sie wissen da ganz genau Bescheid, Herr Kollege? Sie können das beurteilen?
({6})
- Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich so umfassend
können, wie Sie es behaupten.
Ich glaube, dass es zu unserem Einsatz in Afghanistan
tatsächlich keine Alternative gibt, dass unsere Hilfe weiter gebraucht wird. Das gilt auch für die anderen Staaten,
die sich gemeinsam dem Aufbau und dem Antiterrorismuskampf verschrieben haben. Wir haben die ISAF für
Hilfe zum Aufbau des Landes, und wir haben insbesondere OEF zur Terrorismusbekämpfung.
Wer nun fordert, OEF müsse das Mandat auslaufen
lassen, wer sagt, die Beteiligung sei aufzukündigen, der
muss nach meiner Auffassung natürlich auch den Leuten
bei uns an irgendeiner Stelle die Wahrheit sagen; denn
mit einer solchen Entscheidung würde die Terrorgefahr
in Deutschland und Europa nicht verringert. Vielmehr
legten die Terroristen einen Rückzug als Schwäche aus
und fassten ihn als Aufmunterung auf. Man sollte diese
Dinge dann bitte ganz bis zu Ende denken. Außerdem
würden die Aufgaben von OEF sich nicht erledigen. Irgendjemand, also möglicherweise ISAF, müsste genau
diese Aufgaben weiterhin wahrnehmen. Darüber hinaus
sind ISAF und OEF bereits miteinander verzahnt. Das
heißt, ISAF geht nicht ohne OEF und umgekehrt.
Außerdem möchte ich einer verbreiteten Auffassung
widersprechen. Es ist nicht so, dass ISAF die gute und
OEF die schlechte Mission ist. Eine solche Bewertung
ist meiner Ansicht nach unangemessen und entspricht
nicht der Realität.
({7})
Diejenigen, die fordern, das Nebeneinander von
ISAF und OEF in Afghanistan zu beenden, sollten bedenken, was das bedeutet. Das bedeutet die Ausweitung
der ISAF-Mission auf Gesamtafghanistan und damit den
Einsatz der Bundeswehr im ganzen Land. Das kann
nicht in unserem Interesse liegen.
Vorhin wurde darauf hingewiesen, dass im Herbst die
Verlängerung des Mandates ansteht. Was bedeutet das?
Wie Sie wissen, wollen unsere Partner bei der ISAFMission einen anderen Zuschnitt des Mandats. Wir sollten derzeit nichts tun, was anderen Konstellationen als
dem Einsatz Deutschlands im Norden Vorschub leistet.
Das sollten wir uns verkneifen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Trittin?
Gerne.
Herr Kollege, ich wollte nicht den Eindruck von guten und bösen Militärmissionen entstehen lassen. Vielmehr möchte ich Sie fragen: Sehen Sie es nicht auch als
ein Problem - übrigens nicht nur als politisches, sondern
auch als rechtliches Problem - an, dass es für das Vorgehen der OEF in Afghanistan keine Vereinbarung zum
Beispiel mit der afghanischen Regierung gibt? Anders
als bei ISAF gibt es keine solche Vereinbarung.
Sehen Sie es nicht auch als ein Problem an, dass im
Operationsgebiet von ISAF militärische Operationen
stattfinden, von denen die Verantwortlichen bei ISAF
nichts wissen, sondern nur wie in dem aktuellen Fall
- das ist aber kein Ausnahmefall - im Nachhinein erfahren, wenn etwas schief geht? Sehen Sie nicht in dem Nebeneinander von zwei völlig unterschiedlichen Konzepten - einem zivil-militärischen Konzept wie ISAF und
einem Konzept der Terrorismusbekämpfung ohne jede
Abstimmung - ein Problem und auch eine Gefährdung
unserer Soldaten?
Sie haben festgestellt, dass Sie beide Missionen anfangs für richtig und notwendig gehalten haben. Das ist
die Basis. Im Laufe einer Entwicklung hat man dann ein
Schrittfolgekonzept entwickelt, das selbstverständlich
immer wieder zu überprüfen und neu zu justieren ist. In
einem Teil ist vielleicht etwas herauszunehmen und in
einem anderen etwas zu ergänzen. Das ist das übliche
Handling. Insoweit stimmen wir überein, dass die ganzen Konzepte unter Berücksichtigung aller Fragen, die
Sie zum Teil bereits angesprochen haben, neu justiert
werden müssen.
Aber dass Wiederaufbau und Terrorismusbekämpfung mit den dafür benötigten Instrumenten weiterhin erforderlich sind, wird sicherlich niemand ernsthaft bestreiten. Auch Sie haben das im Grunde genommen nicht
getan.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das nicht nur als
Überschrift in den Raum stellten. Erarbeiten Sie uns
doch eine kleine Vorlage - das können Sie schließlich
gut -, aus der hervorgeht, was Sie in technischer Hinsicht im Einzelnen damit meinen, damit wir nachvollziehen können, worum es Ihnen geht.
({0})
- Herzlichen Dank für Ihren Hinweis.
Es geht jetzt um Folgendes: Erstens liegt die Stabilisierung Afghanistans im internationalen Interesse wie
auch im deutschen Sicherheitsinteresse. Das wird sicherlich niemand in diesem Hause bestreiten. Falls doch, sagen Sie es bitte.
({1})
Zweitens werden wir diese Missionen noch über
Jahre hinaus bestreiten müssen - auch das ist sicherlich
unbestreitbar -, wenn die Hilfe im dargestellten Sinne
wirken soll. Auch dass wir einen Mix von zivilen und
militärischen Maßnahmen brauchen, dürfte unbestritten
sein. Dass bei der Implementierung die zivilen Kräfte
eine größere Rolle spielen müssen als die militärischen,
haben wir klarzustellen versucht. Das Militär kann den
Rahmen setzen und mithelfen, damit die zivilen Instrumente greifen und wirken können.
({2})
Wir haben einen guten Ansatz, Stichwort „vernetzte
Sicherheit“. Im Verteidigungsausschuss sind wir uns
alle einig, dass wir versuchen müssen, diesen guten Ansatz mit festem Rahmen umzusetzen, und dass die afghanische Bevölkerung diesen Ansatz als vertrauensbildende Maßnahme weitestgehend akzeptiert hat.
Herr Kollege, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich weiß. Ich bitte noch um eine halbe Minute.
Nein, ich gebe keine halbe Minute mehr. Sonst ziehe
ich das Ihrem Kollegen von der Redezeit ab, Herr Kollege Raidel.
Letzter Satz. Wir lehnen die Anträge von den Linken
ab, weil sie konzeptionslos sind, uns eher schaden, den
Afghanen nicht wirklich helfen sowie unsere Positionen
in der NATO, der EU und der UNO eher schwächen.
Herr Kollege, Sie haben auch die halbe Minute überschritten. Ich bitte Sie, jetzt zum Ende zu kommen.
Wir lehnen daher Ihren Antrag, meine Damen und
Herren von der Linken, ab, weil er nicht konsequent und
logisch zu Ende gedacht ist.
Vielen Dank für Ihre Geduld, Frau Präsidentin. Danke
herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich beginne mit einem Zitat aus einem Schreiben des militärischen Beraters der Bundesregierung in Kabul, das
in der letzten „Monitor“-Sendung verlesen wurde:
Ich gerate zunehmend in Widerspruch zu dem, wie
die eigenen westlichen Truppen in Afghanistan
agieren … Es ist unerträglich, dass unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile
der Zivilbevölkerung und damit erhoffte Keime der
Zivilgesellschaft bekämpfen. Die Paschtunen müssen dies als Terror empfinden.
In diesem an den Bundesaußenminister gerichteten Brief
bestätigt der Offizier genau unsere Warnungen, dass sich
der völkerrechtswidrige Krieg im Rahmen von OEF und
die Stabilisierungsmission ISAF, die wir für politisch
falsch halten, zunehmend angleichen und vermischen,
und zwar besonders seit dem Tornadoeinsatz. Dass die
Bevölkerung vor Ort das so wahrnimmt, kann gar nicht
anders sein. Der gesamte Afghanistaneinsatz ist zum
Scheitern verurteilt. Das sagen viele Fachleute von den
Hilfsorganisationen, auch der Experte Peter SchollLatour.
({0})
- Es ist unbestreitbar, dass er ein Experte ist. - Was tut
die Bundesregierung? Sie redet die Lage schön.
Weiter schreibt dieser militärische Berater mit Sitz in
der Deutschen Botschaft in Kabul:
Ich stelle dabei zunehmend fest, dass die militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt wird.
Auch deutsche Generäle beschönigen oder verschweigen eigene Probleme.
Hinzu kommt: Die Bundesregierung vernachlässigt
gröblich ihre Fürsorgepflicht. Den KSK-Soldaten wurde
2001 unter anderem der Auftrag erteilt, „Terroristen gefangen zu nehmen“, vergleiche Drucksache 14/7296.
Vor kurzem kam endlich ein Befehl von Staatssekretär
Dr. Wichert, und zwar am 26. April 2007. Also fast
sechs Jahre nach Beginn dieses Auslandseinsatzes wird
den Bundeswehrsoldaten Rechtssicherheit gegeben. Der
Befehl untersagt, Gefangene an Drittstaaten zu übergeben, die keine menschenrechtlichen Mindeststandards
einhalten. Wir können nur ahnen, was in der Zwischenzeit war.
Noch einmal der Offizier aus Kabul:
Es gibt keine Entschuldigung für das durch unsere
westlichen Militärs erzeugte Leid unter den unbeteiligten und unschuldigen Menschen.
Ich sage: Daran dürfen wir uns nicht länger beteiligen.
Wenn Sie sich wirklich um Afghanistan verdient machen
wollen, gibt es nur einen Weg: Richten Sie eine zweite
Petersbergkonferenz ein! Bringen Sie alle Konfliktparteien an einen Tisch, auch die afghanischen Taliban, genauso wie es der evangelische Kirchentagspräsident
Reinhard Höppner und das afghanische Parlament fordern! Unterstützen Sie die Regierung Karzai, die dieses
Bestreben nach einem runden Tisch ebenfalls hat! Beenden Sie den Militäreinsatz!
Vielen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist nicht das erste Mal, dass wir hier im Plenum über
Afghanistan diskutieren, aber manchmal habe ich den
Eindruck, dass es unwahrscheinlich schwer ist, zu einem
Austausch von Argumenten zu kommen. Wenn ich nach
links schaue, dann muss ich wohl die Hoffnung aufgeben. Kollege Schmidbauer hat schon auf die Aussage
über das Chaos geantwortet. Herr Gehrcke, Ihre Interpretation und Ihr Versuch, die Okkupationen der Engländer und der Sowjets mit dem zu vergleichen, was seit
2001/2002 in Afghanistan durch die internationale Gemeinschaft wahrgenommen wird, sind schon gespenstig.
({0})
Aber noch gespenstiger wird es, wenn Sie vermitteln
wollen, dass Sie das absolute Wissen haben, und wenn
Sie all jenen, die sich letztendlich aus humanitären
Gründen für eine Militäraktion ausgesprochen haben,
diese Motivation absprechen, andererseits aber sagen
- ich habe mir das notiert -, dass Sie mit einem Mörderregime wie den Taliban nichts am Hut haben. Nun frage
ich Sie: Wie gehen Sie eigentlich gegen Mörder vor?
Wie wollen Sie verhindern, dass weiter gemordet wird?
Ich habe das an anderer Stelle im Zusammenhang mit
dem Staudamm gesagt. Das Technische Hilfswerk allein
wird das nicht regeln können. Wenn Sie sich hier hinstellen und erklären, Sie wollten mit Mördern nichts zu tun
haben, dann müssen Sie wenigstens den Versuch unternehmen, eine entsprechende Antwort zu geben. Es ist
aus meiner Sicht wenig glaubwürdig, wenn Sie sagen,
das Militär solle abgezogen werden.
Ich bin sehr dankbar, dass wir heute Abend nicht nur
die Anträge der Linksfraktion und der Grünen diskutieren, sondern dass auch der Entschließungsantrag Ihrer
Fraktion, Frau Kollegin Homburger, auf die Tagesordnung gesetzt wurde und dass wir unsere Gemeinsamkeit
in dieser wichtigen Grundsatzfrage unterstreichen können.
({1})
- Lieber Kollege Nachtwei, mit Ihnen und über Ihren
Antrag kann man durchaus diskutieren. Nur, mein Eindruck ist, dass allein der Flaggenwechsel, der beabsichtigt ist, das Problem, das Sie angesprochen haben, nicht
lösen wird.
({2})
- Lieber Herr Trittin, eines der Probleme ist doch, dass
wir bestimmte Schwierigkeiten nicht tatsächlich benennen. Wir wissen alle, wo wir Schwierigkeiten haben,
nämlich dass es bisher nicht - ich sage das ganz vorsichtig - optimal gelungen ist, im Bündnis das gemeinsame
Vorgehen so abzustimmen, dass Verwerfungen vermieden werden können. Allein die Umformulierung oder
der Rückzug aus der OEF lösen das eigentliche Problem
nicht. Wir müssen fairerweise feststellen, dass es in
Afghanistan Regionen gibt, in denen unterschiedlich
vorgegangen werden muss bzw. in denen unterschiedliche Herausforderungen zu meistern sind - auch im militärischen Sinne -, und dass wir unterschiedliche Antworten brauchen. Auch wenn wir jetzt nur das ISAFMandat hätten, würden wir eine Antwort auf die Bedrohung geben müssen, die im Süden anders aussieht als im
Norden. Ich warne davor, Entscheidungen zu treffen, bevor man die Konsequenzen durchdacht hat. Das wird
man weiter diskutieren müssen. Ich bin im Augenblick
nicht in der Lage, eine wirklich abgesicherte Antwort zu
geben.
({3})
- Ja, ich habe das schon gelesen.
Aber wenn man sich das alles betrachtet, dann wird
man wieder sehr schnell bei der Grundaussage sein, die
Herr Schmidbauer anhand unseres Entschließungsantrags hier schon formuliert hat, nämlich dass der Einsatz in Afghanistan nicht unter militärischen Gesichtspunkten zu sehen ist, sondern unter politischen und
entwicklungspolitischen Gesichtspunkten,
({4})
und dass wir sehen müssen, wie wir diese Herausforderung meistern und wie wir erfolgreicher werden können.
Im Entschließungsantrag sind die problematischen
Punkte benannt; auch Herr Schmidbauer hat sie aufgezählt.
Kolleginnen und Kollegen, wir müssten uns doch viel
mehr Zeit nehmen, um uns mit den eigentlichen Problemen, etwa mit Korruption, zu beschäftigen. Es wurden
Institutionen wie ein Parlament geschaffen. Auch gibt
es eine Regierung. Wenn wir ehrlich sind, dann müssen
wir doch zugeben, dass wir über Entscheidungen, die
vom Parlament getroffen werden, zutiefst betroffen sind.
Ich denke zum Beispiel an das Amnestiegesetz und an
das Mediengesetz.
({5})
Das große Dilemma ist für mich Folgendes - darüber
müssen wir miteinander offen diskutieren -: Einerseits
sagen wir, dass wir Afghan-Ownership, also die Eigenverantwortlichkeit Afghanistans, unterstützen wollen,
und andererseits sehen wir, dass diese Eigenverantwortlichkeit so wahrgenommen wird, dass die Vereinbarungen, die im Afghanistan Compact in London getroffen
worden sind, nicht eingehalten werden. Wir wollen sicherstellen, dass Menschenrechte eingehalten werden
und dass sich eine Demokratie entwickelt.
Ich wage sehr zu bezweifeln, dass zum Beispiel das
Verbot der Pressefreiheit mit den getroffenen Vereinbarungen im Einklang steht. Also sind doch wir, die internationale Gemeinschaft, gefordert, den Dialog zu suchen. Wenn wir diesen Dialog möglicherweise zum Tabu
erklären, dann werden wir an dieser Stelle Probleme bekommen, die aus meiner Sicht größer sein werden als
- ich will dieses Problem nicht verniedlichen - die per10544
manente Diskussion über militärische Fragen. Dieser
Dialog ist die eigentliche Herausforderung.
In der heutigen Ausschusssitzung ist die Frage der
Sicherheit in Kunduz, in Masar-i-Scharif und in Faizabad diskutiert worden. Ich habe inzwischen versucht,
mich ein Stückchen sachkundiger zu machen. Wir erleben im Augenblick - all das muss man im Zusammenhang mit dem Prozess nach dem Zusammenbrechen Afghanistans sehen - heftige Auseinandersetzungen
innerhalb von Gruppierungen Afghanistans. Im Norden,
in der Dostomregion, findet im Augenblick offensichtlich eine Auseinandersetzung statt, und es ist unklar, wer
dort die Oberhand behalten wird.
Auch hier stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten
wir, die internationale Gemeinschaft, haben, diese Auseinandersetzung nicht nur zusehend zu begleiten. Wie
geht man zum Beispiel damit um, dass ein Generalstaatsanwalt, der Korruption bekämpfen will, sofort auf
die Liste derjenigen gesetzt wird, die nicht mehr zu den
geachteten Personen in Afghanistan zählen? Wie schaffen wir es, dafür zu sorgen, dass rechtsstaatliche Strukturen entstehen, sodass Verlässlichkeit und Bekämpfung
von Korruption an der Tagesordnung sind? Auch das
Parlament sollte sich an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, der Pressefreiheit und der Humanität orientieren. Dazu gehört all das, was mit Sicherheit, zum Beispiel mit Polizeiausbildung, zu tun hat.
Mich würde viel mehr interessieren - ich habe das
auch heute im Ausschuss gesagt -, einmal eine Diskussion darüber zu führen, wie der Bildungsplan des Bildungsministers Atmar umgesetzt werden kann. Dieser
Bildungsminister hat wirklich aus eigener Verantwortung - da ist Afghan-Ownership praktiziert worden deutlich gemacht, dass 140 000 Lehrerinnen und Lehrer
gebraucht werden. Sicherlich müssen wir schauen, wie
die entsprechenden Millionen- oder Milliardenbeträge
aufgebracht werden können.
Mein Problem ist nur - das sollte unser Problem sein -,
dass ständig davon gesprochen wird, dass vonseiten der
USA noch einmal 2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden und dass die Europäische Union noch einmal eine dreistellige Millionensumme bereitstellt. All
das steht auch in den afghanischen Zeitungen. Die Bürgerinnen und Bürger fragen allerdings: Wohin fließt dieses Geld eigentlich?
({6})
- Ja, ja.
Es gibt also im Grunde ein Vakuum. Wir müssen den
Finger in diese Wunde legen, und wir müssen schauen,
dass es zu einer größeren Effektivität kommt, zu einer
größeren Sichtbarkeit der Ergebnisse internationalen
Tuns und zu einer Situation, die die Menschen in Afghanistan tatsächlich als Erfolg wahrnehmen.
({7})
Dadurch entsteht Vertrauen, und dadurch schaffen wir
es, einen Prozess in Gang zu setzen, der Rechtsstaatlichkeit und auch Chancen zur persönlichen Entwicklung sichert, was im Augenblick von vielen Menschen nicht gesehen wird.
Meine herzliche Bitte lautet, dass wir uns verstärkt
und intensiv um den zivilen Aufbau, um den Dialog mit
Parlament und Regierung bemühen. Wir haben natürlich
ein starkes Interesse daran, dass unsere Vorstellungen
von Humanität, von Menschlichkeit und von rechtsstaatlicher Verlässlichkeit im Grundsatz umgesetzt werden.
Das heißt nicht, dass unser System eins zu eins übernommen wird; aber es heißt schon, dass die Menschenwürde anerkannt und beachtet wird. In diesem Sinne
hoffe ich auf Gemeinsamkeit.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Wolf Bauer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten in unserer Fraktion vereinbart, auch den Entwicklungspolitikern hier
einen entsprechenden Spielraum zu geben, um die Bedeutung der Entwicklungspolitik auch speziell für Afghanistan herauszustellen.
({0})
Ich hoffe nur, dass das Zusammenschrumpfen der Redezeit auf zwei oder drei Minuten diese Bedeutung nicht in
irgendeiner Weise negativ beeinflusst.
Wir sind davon überzeugt, dass eine Stabilisierung
und Befriedung Afghanistans ohne zügigen Wiederaufbau und ohne eine nachhaltige Entwicklung des Landes
einfach nicht denkbar ist. Auch die Ermordung der beiden Schulmädchen gestern hat gezeigt, dass Sicherheit
und Entwicklung zwei Seiten einer Medaille sind. Nur
wenn Sicherheit und Entwicklung zusammen gewährleistet sind, können wir erfolgreich sein in unseren Anstrengungen, zu einem vernünftigen und guten Afghanistan zu kommen.
Schule und Sicherheit sind eigentlich zwei typische
Beispiele. Es hat wenig Sinn, Schulen zu bauen, wenn es
auf der anderen Seite zum Beispiel keine Gewähr dafür
gibt, dass gemischte Klassen unterrichtet werden können
und insofern Vernünftiges für den Aufbau des Landes
getan werden kann.
Ich hätte an dieser Stelle gern von den Erfahrungen
erzählt, die ich gemeinsam mit Herrn Dr. Neudeck und
unserem Kollegen Arnold Vaatz im vorigen Jahr bei der
Einweihung einer Schule gemacht habe. Es ist eine Stiftung unserer CDU/CSU-Fraktion, und wir haben sie natürlich „Konrad-Adenauer-Schule“ genannt.
({1})
Wir hatten fantastische Erlebnisse im vorigen Jahr, und
ich war begeistert von diesem Land und von diesen
Menschen. Wir hatten für dieses Jahr eine weitere Reise
geplant - das wurde vorhin schon angesprochen -, um
uns die Fortschritte anzusehen, aber leider war das wegen des hohen Sicherheitsrisikos nicht möglich. Ich
hoffe sehr, dass wir diese Reise bald nachholen können;
denn ich bin davon überzeugt, dass wir gerade wegen
dieser Risiken jetzt noch mehr Anstrengungen unternehmen müssen, um den Afghanen zu helfen.
Wir müssen vor allem mit Partnern vor Ort Projekte
erarbeiten, die direkt der Bevölkerung zugutekommen,
und wir müssen sie dann auch kurzfristig durchführen.
Wir müssen besonders im ländlichen Raum noch mehr
in den Aufbau mittelständischer Strukturen investieren,
nicht zuletzt auch, um Arbeitsplätze zu schaffen. Wir
müssen helfen, die gesamte Infrastruktur zu verbessern,
um der Bevölkerung das Gefühl zu geben, dass sie nicht
allein gelassen wird. Im Ergebnis müssen wir erreichen,
dass die afghanische Bevölkerung wirklich spürt, dass
sie ein besseres Leben erwarten kann, als es unter den
Taliban möglich war.
Dass unsere Bemühungen auf fruchtbaren Boden gefallen sind, haben wir im Norden Afghanistans erlebt.
Ich hatte mir natürlich auch ein Lob und Anerkennung
für unsere Entwicklungshelfer und für unsere Soldaten
aufgeschrieben, auch für deren Familien, die hier zu
Hause das Ganze mittragen müssen.
Bei allen Erfolgen, trotz der Erhöhung unserer
Finanzmittel für Afghanistan um 20 Millionen Euro und
trotz des lobenswerten Engagements unserer Aufbauhelfer und Soldaten vor Ort, gibt es nach wie vor zahlreiche
Probleme und Gefahren, die kurzfristig nicht gelöst werden können. Der Drogenanbau ist genannt worden, aber
auch religiös-fundamentalistisch motivierte Gewalt oder
Korruption behindern und sabotieren unsere Wiederaufbaubemühungen.
Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, müssen wir auch von der afghanischen Regierung und von
den afghanischen Behörden mehr Engagement einfordern. Wir können sie unterstützen bei der Ausbildung
der Polizei und bei ähnlichen Dingen, aber sie müssen
auch von sich aus deutlicher zeigen, dass sie die Lage in
den Griff bekommen wollen. Wir können ihnen helfen,
staatliche Autorität aufzubauen, aber sie müssen sie
letztendlich selbst umsetzen.
Meine Damen und Herren, zu dem aufgezeigten Weg,
so schwierig er ist, gibt es keine Alternative; denn nur so
können wir Erfolg haben und den Menschen in Afghanistan helfen auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/5587 mit dem jetzt lautenden
Titel „Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in
Afghanistan - Nebeneinander von ISAF und OEF beenden“ an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 9 b. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Einsatz des Kommandos
Spezialkräfte in Afghanistan beenden“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5309, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4674 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 c. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Das
Mandat für die Operation Enduring Freedom beenden Einsätze des Kommandos Spezialkräfte in Afghanistan
einstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5314, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/121 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 2. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
zu der Beratung des Antrags der Bundesregierung
- Drucksachen 16/4298 und 16/4571 - zur Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer
Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung der NATO. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5636, den Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4620 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP
bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5636, den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4621 zu dem genannten Antrag der Bundesregierung für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investmentgesetzes und zur
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Anpassung anderer Vorschriften ({0})
- Drucksache 16/5576 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Die Kollegen Leo Dautzenberg, Frank Schäffler,
Dr. Gerhard Schick, die Kolleginnen Nina Hauer und
Dr. Barbara Höll sowie die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Dr. Barbara Hendricks haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5576 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Gudrun Kopp, Jens Ackermann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutsche Unternehmen vor chinesischer Pro-
duktpiraterie und Diskriminierung schützen
- Drucksache 16/4207 -
1) Anlage 16
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Die Kollegen Erich G. Fritz, Dr. Ditmar Staffelt,
Harald Leibrecht, Jürgen Trittin sowie die Kollegin Ulla
Lötzer haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4207 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unser heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 14. Juni 2007,
9 Uhr, ein.
Allen Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, aber auch unseren Besucherinnen und
Besuchern auf der Tribüne wünsche ich noch einen
schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.