Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:
30 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD eingebrach-
ten Entwurfs eines Unternehmensteuer-
reformgesetzes 2008
- Drucksache 16/4841 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Unternehmensteuerreformgesetzes 2008
- Drucksache 16/5377 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({0})
- Drucksachen 16/5452, 16/5491 Berichterstattung:
Abgeordente Peter Rzepka
Reinhard Schultz ({1})
Dr. Barbara Höll
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5454 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({3})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Scheel, Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Unternehmensteuerreform für Investitionen und Arbeitsplätze
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Scheel, Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verlässliche und aussagekräftige Datenbasis
für die Ermittlung der Unternehmenssteuern erfassen
- Drucksachen 16/5249, 16/4857, 16/4855,
16/4310, 16/5452, 16/5491 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Rzepka
Reinhard Schultz ({5})
Dr. Barbara Höll
Zu dem Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, über den wir später namentlich abstimmen
werden, liegt je ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen sowie der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Redetext
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Dass der Finanzminister in einer Debatte über
die Unternehmensteuerreform das Wort ergreift, war mir
klar, aber nicht, wann genau.
({0})
Vielen Unkenrufen zum Trotz ist der Koalition mit
dieser Unternehmensteuerreform inhaltlich ein großer
Wurf gelungen. Er zeugt auch von einer sehr guten handwerklichen Regierungsfähigkeit. Die letzten anderthalb
Jahre haben bewiesen, dass die Große Koalition handlungsfähig ist.
({1})
Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich bei all
denjenigen bedanken, die in der politischen Arbeitsgruppe mitgearbeitet haben; viele Abgeordnete der beiden Koalitionsfraktionen waren daran beteiligt. Ich
möchte meinem ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Koch, der technischen Arbeitsgruppe und den
mitwirkenden Parlamentariern danken.
({2})
- Aus meiner Sicht ehemaligem Ministerpräsidentenkollegen. Das war doch nicht misszuverstehen.
({3})
Wie vor anderthalb Jahren angekündigt, wird diese
Unternehmensteuerreform am 1. Januar 2008 in Kraft
treten. Wie zu erwarten ist, werden der Deutsche Bundestag und der Bundesrat diese Unternehmensteuerreform vor der Sommerpause verabschieden, sodass die
deutsche Wirtschaft und die deutschen Unternehmen ein
halbes Jahr lang Zeit haben, sich an den neuen steuerlichen Grundlagen zu orientieren, die für die Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland
gelten werden.
Nach einer Reihe von Reformen der Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder und der Großen Koalition,
die nicht populär gewesen sind und die teilweise noch
umstritten sind, gibt es nun einen konjunkturellen Aufschwung, wie es ihn in den letzten 15 Jahren nicht gegeben hat. An diesem Aufschwung haben 850 000 mehr
Menschen Teilhabe; das sind diejenigen, die nicht mehr
arbeitslos sind. Darunter befinden sich 550 000 Menschen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Es haben an diesem Aufschwung Millionen von Menschen Teilhabe, die jetzt sicherere
Arbeitsplätze haben als noch vor einem oder zwei Jahren. Es haben zunehmend mehr Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer Teilhabe an diesem Aufschwung über erkennbar bessere Tarifabschlüsse, die das größere Wachstum und die höhere Produktivität erlauben.
({4})
Die Unternehmensteuerreform wird diesen Aufschwung unterstützen. Sie wird dazu beitragen, dass dieser Aufschwung, diese konjunkturelle Entwicklung verstetigt wird. Wir werden es mit einer Verbesserung des
Investitionsklimas zu tun haben. Wir werden es auch damit zu tun haben, dass gleichzeitig die Steuerbasis in
Deutschland gesichert und damit die Finanzierung öffentlicher Aufgaben breiter abgesichert wird.
Keines der viel diskutierten Probleme in diesem Haus
- die Energieeffizienz, der Klimaschutz, Bildung, Familienförderung, Kinderbetreuung, demografiefestere soziale Sicherungssysteme, die Entschuldung - lösen wir
ohne eine solide Wachstumsbasis, ohne leistungsfähige
und wettbewerbsfähige Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, die sich im internationalen Wettbewerb auch von der Steuerseite einigermaßen bewegen
und bewähren können.
({5})
Wenn sich gelegentlich Teile dieses Hauses nicht nur
um die Verteilungsseite des Bruttosozialproduktes, sondern auch um die Entstehungsseite dieses Bruttosozialproduktes kümmern würden, dann müssten sie meine
Auffassung teilen, dass wir ein großes Interesse daran
haben, dass der Investitionsstandort Deutschland für
Unternehmen in Deutschland wie auch für ausländische
Investoren attraktiver gemacht wird. Dies gelingt mit
dieser Unternehmensteuerreform.
({6})
Diese Unternehmensteuerreform sorgt dafür, dass der Investitionsstandort Deutschland attraktiver wird für alle,
die hier investieren wollen, für alle, die hier in Deutschland Arbeitsplätze schaffen wollen, für alle, die ihre
Wertschöpfung in Deutschland versteuern und nicht
etwa ins Ausland verbringen wollen.
Die Steuerbelastung kommt wieder in das europäische Mittelfeld - nicht mehr und nicht weniger. Zumindest mit Blick auf die Besteuerung der Kapitalgesellschaften sind wir mit einer Definitivbesteuerung von
über 38 Prozent am unteren Ende gewesen. Die Vorgängerregierung hat mit Blick auf die Personengesellschaften bereits viel getan, um zu einer Entlastung der Personengesellschaften beizutragen. Aber im Zuge dieser
Unternehmensteuerreform sind wir noch einmal zu deutlichen Verbesserungen für den die deutsche Wirtschaft
im Wesentlichen tragenden deutschen Mittelstand entgegen allen Unkenrufen gekommen.
({7})
Eine Bruttoentlastung von 30 Milliarden Euro und
dann eine Gegenfinanzierung von 25 Milliarden Euro
sind aus mehreren Gründen erforderlich gewesen, vorBundesminister Peer Steinbrück
nehmlich aus Haushaltsgründen. Man kann nicht drei
Dinge auf einmal haben - einige in diesem Hause vertreten diesen Standpunkt -: gleichzeitig Steuern senken, Investitionen erhöhen und eine Entschuldung der öffentlichen Haushalte durchführen wollen. Dies funktioniert
nicht. Das ist einer der Gründe dafür, warum es erforderlich ist, sich über eine Refinanzierung einen Teil dieser
Bruttoentlastung wieder zu holen.
Eine weitere Zielsetzung bewegte die Mitglieder der
politischen Arbeitsgruppe und die Mitglieder der zuständigen Ausschüsse ebenfalls von vornherein in diesen Beratungen: Wir wollten Gestaltungsmöglichkeiten und
Umgehungstatbestände zulasten des Fiskus in
Deutschland eindämmen bzw. minimieren. Sie wissen,
dass ich in diesem Zusammenhang immer von Verschiebebahnhöfen rede. Es gibt viele Beispiele dafür, wie dies
im Einzelnen funktioniert. Ich erspare es mir aus Zeitgründen, dies darzustellen. Es gibt Annahmen darüber,
dass der deutsche Fiskus, also letztlich unser Gemeinwesen, pro Jahr hohe zweistellige Milliardenbeträge verliert, weil Gewinne, die in Deutschland erzielt werden,
ins Ausland transferiert werden, weil Verluste, die Tochterunternehmen im Ausland erzielen, in Deutschland
steuermindernd geltend gemacht werden. Wir verlieren
daher Steuereinnahmen, die wir brauchen, um öffentliche Aufgaben zu finanzieren.
Im Vorfeld dieser Unternehmensteuerreform hat es
viele Vorschläge gegeben, die von weitaus größeren Entlastungseffekten ausgegangen sind. Ich vermute, dass
zumindest die Kolleginnen und Kollegen der FDP der
Auffassung sind, man könne Steuerentlastungen in Höhe
von 10, 15 oder 20 Milliarden Euro in Kauf nehmen. Ich
sehe das anders, gerade vor dem Hintergrund des Konsenses, den wir, bezogen auf eine andere Zielsetzung,
gefunden haben, nämlich die Nettokreditaufnahme so
schnell wie möglich auf null zu führen und einen Einstieg in die Entschuldung zu finden, um auch unter dem
Gesichtspunkt der Generationsgerechtigkeit auf Dauer
nicht diesen riesigen Berg von 1,5 Billionen Euro Schulden auf nachfolgende Generationen zu wälzen.
Neben der Zielsetzung einer höheren internationalen
Wettbewerbsfähigkeit, einer größeren Europatauglichkeit unseres Unternehmensteuersystems, der Vermeidung allzu großer Steuerausfälle und der Eindämmung
von Gestaltungsmöglichkeiten und systematisch-strategisch erschlossener Vermeidungsstrategien sind es zwei
weitere Zielsetzungen, die mit dieser Unternehmensteuerreform erreicht werden:
Erstens. Es bleibt bei der Gewerbesteuer.
Zweitens. Die kommunale Einnahmebasis wird durch
eine ganze Reihe von Maßnahmen verstetigt.
({8})
Dies ist von einer erheblichen Bedeutung; denn der überwiegende Teil der öffentlichen Investitionen wird von
den Kommunen getätigt. 60 Prozent der öffentlichen Investitionen werden von den Kommunen getätigt. Das
heißt, eine solidere, verlässlichere und kalkulierbarere
Einnahmebasis für die Kommunen ist von einer erheblichen Bedeutung. Soweit ich die Stellungnahmen
der kommunalen Spitzenverbände verstanden habe, wird
dieses Element der Steuerreform von ihnen, insbesondere von den Kommunalpolitikern der beiden Koalitionsparteien, ausdrücklich begrüßt und gewürdigt.
({9})
Ich will noch einige Worte dazu verlieren, dass die
Mittelstandsfreundlichkeit der Reform in den Beratungen im Koalitionskreis bzw. zwischen den Koalitionsfraktionen noch einmal verstärkt worden ist; das Stichwort lautet „Investitionsabzugsbetrag“. Es gibt eine
ganze Reihe von Maßnahmen, die ich aus Zeitgründen
nur erwähne: Thesaurierungspräferenz, Ansparabschreibung - ich könnte diese Aufzählung fortsetzen -, die
dazu beitragen, dass der Mittelstand gefördert wird. Das
entscheidende Argument ist: Bei den Instrumenten zur
Refinanzierung dieser Steuerreform - um auf eine Gesamtentlastung von 5 Milliarden Euro zu kommen - ist
der Mittelstand weit unterproportional beteiligt. Der
überwiegende Anteil dieser Refinanzierung liegt auf den
Schultern der größeren Kapitalgesellschaften.
Ich will zum Abschluss auf zwei Folgearbeiten hinweisen, bei denen ich damit rechne, dass sie in den weiteren Beratungen heute eine Rolle spielen werden. Zum
einen werden wir die Unternehmensteuerreform noch in
diesem Jahr um eine Regelung für die steuerliche Behandlung von privatem Wagniskapital ergänzen. Sie wissen, dass es dazu einen ersten Eckpunkteentwurf gibt,
der weiter debattiert werden soll. Ein solches Wagniskapitalbeteiligungsgesetz soll zeitgleich mit der Unternehmensteuerreform zum 1. Januar des Jahres 2008 verabschiedet werden; das war seinerzeit die Verabredung
zwischen den Koalitionsfraktionen. Ich glaube, dass wir
gut beraten sind, gerade für technologieorientierte Unternehmen in diesem Zusammenhang etwas zu tun. Ich
füge allerdings hinzu: Diejenigen von Ihnen, die mit großem Interesse das zugrunde liegende Gutachten der
TU München gelesen haben, werden wissen, dass dieses
Gutachten auf Steuereinnahmeverluste in der Dimension
von 10 bis 20 Milliarden Euro hinausläuft. Sie werden
verstehen, dass der Bundesfinanzminister dem nicht aufgeschlossen gegenübersteht. Das sind Dimensionen, die
einfach nicht verkraftbar sind.
({10})
Zum anderen liegt Ihnen ein Entschließungsantrag
vor, der darauf hinweist, wie das weitere Verfahren im
Hinblick auf die Erbschaftsteuer sein soll. Sie wissen,
dass das Bundesverfassungsgericht uns verpflichtet hat,
bis spätestens 31. Dezember 2008 die Erbschaftsteuer
neu zu regeln. Es wird darauf ankommen, dass wir noch
in diesem Jahr, möglichst nach der Sommerpause, zu einem Ergebnis kommen, das auch einbezieht, was die
Bundesregierung bereits verabredet hat, nämlich die Erleichterung der Unternehmensnachfolge durch die Freistellung der Vererbung von betrieblichem Vermögen.
Ich will zum Schluss einige wenige Worte über die
Abgeltungsteuer verlieren. Ich weiß, dass diese Abgeltungsteuer von 25 Prozent verteilungspolitisch umstritten ist. Diese Kritik ist berechtigt.
({11})
Es ist nicht ohne Weiteres einzusehen, dass Kapitaleinkünfte - die nicht durch Leistung erzielt werden - einheitlich mit 25 Prozent besteuert werden sollen, während
diejenigen, die mit Kopf und Händen arbeiten, es mit
Grenzsteuersätzen und mit einer durchschnittlichen steuerlichen Belastung zu tun haben, die weit darüber liegt.
Dieser Einwand ist stimmig. Nur, man wird sich den Realitäten stellen müssen. Die Realitäten sehen so aus, dass
die Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr einen Kapitalabfluss in Milliardenhöhe zu beklagen hat. Das heißt,
dieses Kapital wird nicht in Deutschland angelegt, führt
demnach nicht zu Zinsen, Dividenden, Kapitaleinkünften jedweder Art, die hier in Deutschland besteuert würden, sondern es ist futsch.
({12})
Sie wissen, dass ich es vor diesem Hintergrund immer
für logisch gehalten habe, zu sagen: Es ist besser,
25 Prozent auf X zu haben statt 42 Prozent auf gar nix.
So simpel ist die Rechnung.
({13})
Dieses Argument springt einem, wenn man es pragmatisch sieht, so ins Auge, dass die berechtigten verteilungspolitischen Gesichtspunkte dahinter zurückzustellen sind. Deshalb bin ich ein Befürworter dieser
Abgeltungsteuer. Sie wissen, dass es am besten gewesen
wäre, wenn Hans Eichel seinerzeit die Steueramnestie
gleich mit einer Abgeltungsteuer kombiniert hätte.
({14})
Das wäre für den deutschen Fiskus viel besser gewesen.
Ich will noch darauf hinweisen - gerade an die
Adresse der FDP -, dass durch die Verbesserungen, die
die beiden Koalitionsfraktionen beschlossen haben, die
Bürokratiekosten noch einmal deutlich gesenkt worden
sind: Die Entlastung der deutschen Wirtschaft liegt bei
ungefähr 170 Millionen Euro.
({15})
- Diese Entlastung von 170 Millionen Euro denke ich
mir nicht aus.
Der Bundestag verabschiedet heute das Werk von anderthalb Jahren. Da ist von hervorragenden Fachleuten,
von Bund und Ländern, von kompetenten Parlamentariern und auch von den Ministeriumsspitzen der Länder
vieles abgewogen worden, vieles geprüft worden. Einiges ist verworfen worden, einiges ist aufgenommen worden. Diese Unternehmensteuerreform ist nicht leichtfertig zustande gekommen. Das sage ich auch all jenen
Kritikern, die teilweise sehr spezifische Interessenlagen
als Begründung für eine generelle Ablehnung dieser Unternehmensteuerreform liefern. Wir werden nicht allen
spezifischen Interessen hinsichtlich Begünstigungen und
Erleichterungen über diese Unternehmensteuerreform
entsprechen können. Wir wollten das übrigens auch
nicht. Die Bundesregierung und insbesondere die vorbereitende Arbeitsgruppe von Herrn Koch und mir haben
immer den Standpunkt vertreten, dass die überwiegende
Anzahl der deutschen Unternehmen durch diese Unternehmensteuerreform begünstigt werden soll. Einige,
nämlich diejenigen, die ihre Unternehmens- oder Konzernstruktur bisher an Steuervermeidungsstrategien ausgerichtet haben, werden allerdings möglicherweise nicht
begünstigt werden.
({16})
Dies ist Vorsatz. Das war von vornherein beabsichtigt.
Das sage ich diesen Kritikern.
({17})
Diese Unternehmensteuerreform ist - daran halte ich
fest - eine Investition in und für den Standort Deutschland. Ich bin mir sicher, dass die derzeitige Wachstumsentwicklung, die konjunkturelle Aufhellung, auch hierdurch eine deutliche Unterstützung erfährt.
Ich bedanke mich sehr für die Unterstützung in den
letzten anderthalb Jahren.
Vielen Dank.
({18})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzminister Steinbrück, dass viel Arbeitskraft investiert
wurde, bestreiten wir überhaupt nicht. Daran, dass das
Ergebnis ein Beitrag zur nächsten Weltausstellung dieses
Landes ist, haben wir Liberale aber erhebliche Zweifel.
({0})
Vor der letzten Bundestagswahl - das darf bei der
Union vielleicht noch einmal in Erinnerung gerufen werden - teilten nahezu alle Parteien die Einsicht, dass unser
Steuerrecht einer grundsätzlichen Überarbeitung bedürfe. Die Steuersätze sollten niedriger werden, und das
Steuerrecht sollte einfacher und gerechter werden.
Hierzu gab es genügend Reformvorschläge, nicht nur
der Parteien, nicht nur der FDP. Mit dieser Unternehmensteuerreform verzichtet die Große Koalition darauf,
die Steuersätze für alle Bürger und für alle Unternehmen
zu senken. Das ist ein Kardinalfehler, der dieser Steuerreform innewohnt.
({1})
Mit dieser Steuerreform wird das Steuerrecht komplizierter und ungerechter. Mit dieser Steuerreform wird
der Körperschaftsteuersatz von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Diese Maßnahme wird seitens der FDP begrüßt.
Wir haben ihr im Finanzausschuss zugestimmt.
Die sogenannte Gegenfinanzierung, die Schlechterstellung von Millionen von Steuerpflichtigen, erfolgt
aber nicht nur im Körperschaftsteuerrecht, sondern auch
im Einkommensteuerrecht. Das bedeutet, dass die Firmen, die als Einzelunternehmen oder Personengesellschaften am Wirtschaftsleben teilnehmen - das sind weit
über 80 Prozent der deutschen Unternehmen -, von der
Körperschaftsteuersenkung nicht profitieren, aber von
der Gegenfinanzierung voll erfasst und häufig schlechter
gestellt werden, als das derzeit der Fall ist.
({2})
Das ist der Grund, weshalb wir sagen - dabei bleiben
wir -: Dieses Gesetz ist mittelstandsfeindlich und ungerecht. Denn es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wer
die Entlastung und wer die Belastung erhält. Zudem
können wir feststellen, dass, seitdem Ihre Arbeitsgruppe
tätig ist - das ist aber keine Folge Ihrer Arbeitsgruppe -,
die Steuereinnahmen in unserem Land sprudeln wie
noch nie. Trotzdem gibt es im Saldo, nach der Gegenfinanzierung, keine Verbesserung für die Unternehmen in
unserem Lande. Das halten wir für falsch; denn Arbeitsplätze müssen geschaffen und Investitionen getätigt werden, und das können nur gesunde Unternehmen in unserem Land leisten.
({3})
Diese Reform ist bedauerlicherweise völlig unzusammenhängend. Sie ist ein Bündel von Einzelmaßnahmen,
die sich teilweise widersprechen. Sie ist unsystematisch,
ungerecht und an vielen Punkten verfassungsrechtlich
äußerst bedenklich. Ich möchte einige konkrete Punkte
vortragen.
Zu Beginn dieser Wahlperiode wurden die Abschreibungsbedingungen von der Großen Koalition erheblich
verbessert, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das sollte zu
Steuerausfällen für den Staat führen.
({4})
- Herr Kollege Schultz, ich glaube, das ist nicht der Fall
gewesen; die Steuerquellen sprudeln und sind nicht eingebrochen.
Wir erleben gerade, dass sich die Wirtschaft in
Deutschland besser entwickelt und mehr investiert wird.
Dies führt dazu, dass der Staat nicht weniger, sondern
mehr Steuereinnahmen hat, auch durch eine Verbesserung der Abschreibungsbedingungen. Aber mit diesem
Gesetzesentwurf werden die Abschreibungsbedingungen
wieder verschlechtert. Das heißt, Investitionen werden
erschwert. Gleichwohl soll der Staat bei weniger Investitionen mehr Steuereinnahmen bekommen. Das verstehe,
wer will. Wir verstehen das nicht. Wir halten das für den
falschen Weg.
({5})
Ein weiterer Punkt: Die zunehmende Besteuerung
von Kosten und damit die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zieht sich wie ein roter Faden durch die
komplette Steuerreform, und - das war der Punkt, auf
den Sie im Wesentlichen hinsichtlich der Gegenfinanzierung eingegangen sind, Herr Minister - Sie führen eine
Zinsschranke ein mit der Begründung, dass Steueraufkommen deshalb aus Deutschland abfließe, weil international operierende Konzerne das Steuersatzgefälle zwischen Deutschland und anderen Staaten ausnutzten.
Dabei muss man fragen, ob dieses Gemälde wirklich
den Tatsachen entspricht. Das in den letzten Jahren explosionsartig gestiegene Körperschaftsteueraufkommen
spricht doch dagegen. 2003 hatten wir Körperschaftsteuereinnahmen in Höhe von 8 Milliarden Euro, in diesem Jahr - das wurde gerade festgestellt - haben wir
dreimal so viel Körperschaftsteuereinnahmen, nämlich
24 Milliarden Euro. Wo ist da ein Schwund des Steuersubstrates?
({6})
Ferner muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass mehr als 90 Prozent der deutschen Unternehmen nicht mit Betrieben oder Teilen ihres Unternehmens
im Ausland tätig sind. Mit dieser Zinsschranke treffen
Sie in Deutschland tätige Unternehmen und somit Unternehmen, die Sie eigentlich nicht treffen wollen. Um mit
der Bibel zu sprechen: Um zehn Ungerechte zu treffen,
nehmen Sie in Kauf, dass tausend Gerechte getroffen
werden. Das ist absurd.
({7})
Ich nenne noch einen Punkt. Die negativen Auswirkungen haben Sie sehr wohl erkannt. Deshalb ist im
Finanzausschuss an einer Stelle des Gesetzentwurfes
noch etwas geändert worden, nämlich für die öffentliche
Hand. Für die öffentliche Hand, das heißt für Unternehmen der öffentlich-rechtlichen Körperschaften, soll diese
Zinsschranke nicht gelten. Aber wenn sie für die öffentliche Hand nicht gelten soll, dann frage ich mich, warum
sie für die normalen Betriebe in unserem Lande gelten
soll, die dadurch massiv belastet werden. Das ist überhaupt nicht einzusehen und zeigt eine gewisse Staatsnähe.
({8})
Das Ganze führt dazu, dass die gewinnschwachen, die
kapitalschwachen und die forschungsintensiven Unternehmen zusätzlich belastet werden, während die ertragsstarken, international tätigen Unternehmen entlastet werden. Das ist genau die falsche Lenkungswirkung.
({9})
- Ich bin jetzt etwas irritiert, Herr Lafontaine, aber wo
ich recht habe, habe ich recht. Es freut mich, dass dann
auch von Ihrer Seite Applaus kommt.
({10})
Nicht zu Unrecht hat die Bundeskanzlerin noch im
März dieses Jahres auf der Handwerksmesse in München erklärt, dass dieses Gesetz nicht dazu führen dürfe,
dass Forschung in Deutschland erschwert werde und abwandere. In diesem Bereich ist allerdings am Gesetzesentwurf nichts geändert worden, sodass die Einsichtsfähigkeit der Kanzlerin weder im Kabinett noch in der
Koalition Verbreitung fand. Das halten wir für bedauerlich.
({11})
Ein weiterer Punkt: Die Ausweitung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbesteuer durch die Zurechnung sämtlicher Zinsen und die Finanzierungsanteile aus Mieten, Pachten und Leasingraten ist
wirtschaftspolitisch unsinnig. Sie führt dazu, dass Unternehmen, wenn sie keine Erträge erwirtschaften, gleichwohl aus ihrer Substanz Steuern zahlen müssen, weil
Kosten zur Bemessungsgrundlage für Steuern erklärt
werden. Das ist absurd. Das ist der falsche Weg.
({12})
Ich gehe davon aus, dass das nicht der einzige Punkt ist,
an dem Sie im Laufe dieser Periode oder danach dieses
Gesetz noch fundamental werden verändern müssen,
weil es Käse ist.
Unter dem Deckmantel des Mantelkaufes - hier
spreche ich einen weiteren Punkt an - wird erschwert,
dass sanierungswürdige Unternehmen saniert werden
können. Denn wenn die Gesellschafter wechseln - das
ist erforderlich, wenn man einen neuen Investor benötigt, um den Betrieb weiterzuführen -, dann können die
entstandenen Verluste nicht mehr berücksichtigt werden.
Das führt dazu, dass weniger sanierungswürdige Betriebe saniert werden können. Ich verstehe nicht, dass die
SPD dem fröhlich die Hand reicht. Denn die Arbeitnehmer in diesen Betrieben haben ein Recht darauf, dass
ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben. Das machen Sie unmöglich. Das halte ich für absurd.
({13})
Bei den Veräußerungsgewinnen werden zukünftig
auch Spekulationsgewinne - so werden sie genannt steuerpflichtig. Das trifft aber auch die private Altersvorsorge. Wir alle wissen: Die Umlageverfahren allein
tragen nicht. Wir brauchen private Altersvorsorge. Der
Kapitalertrag, der über zehn, 20 oder 30 Jahre angespart
wurde, wird dann steuerpflichtig. Die Steuerpflicht umfasst auch die Inflationsgewinne, die zwischenzeitlich
einen Teil des Wertzuwachses aufgefressen haben. Dass
hierdurch Kapitalbildung für das Alter in unserem Lande
erschwert wird, ist eine fundamentale Schwäche dieses
Gesetzes.
({14})
Herr Kollege, jetzt muss ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.
Das Spannendste ist dann noch die Verknüpfung mit
der Erbschaftsteuer. Sie hat mit diesem Gesetz nichts
zu tun. Das ist ein reiner Befriedungsakt gegenüber den
Linken innerhalb der SPD, der auch von der Union mitgetragen wird. Das führt zu Wischiwaschi-Erklärungen
mit der Folge, dass Frau Nahles, die designierte stellvertretende Parteivorsitzende, bei dem Beschluss schon
heute erklären kann, dass die Erbschaftsteuer massiv erhöht werden soll. Mit Blick auf die sprudelnden Steuereinnahmen nur von Steuererhöhung zu reden, halten wir
für falsch. Wir brauchen auch in diesem Bereich Entlastung.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Mit dem Unternehmensteuerreformgesetz 2008 liegt uns
heute eine wesentliche Strukturreform in dieser Wahlperiode zur Abstimmung vor. Ich glaube, die Koalition
dokumentiert damit, dass unser Land und wir als Koalition zur Strukturreform fähig sind und die Kraft zu Veränderungen in diesem Land haben.
({0})
Ich will darauf hinweisen, dass man immer eine Gesamtbetrachtung anstellen sollte. Wir haben die Haushaltskonsolidierung auf den Weg gebracht. Wir haben
die Konjunktur aus dem Koma geholt, und wir sind jetzt
dabei, Wachstum und Beschäftigung nachhaltig auszugestalten, indem wir nicht nur konjunkturelle, sondern
auch strukturelle Veränderungen in unserem Land
vornehmen. Insofern ist diese Reform ein nachhaltiger
Beitrag für mehr Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland. Deshalb sind wir hier auf dem richtigen
Weg, Herr Kollege Thiele.
({1})
Ich will ferner feststellen, dass die Unternehmensteuerreform belegt, dass wir in Deutschland in dieser Koalition verlässliche und berechenbare Politik machen. Vertrauen und Planungssicherheit sind wichtige Aspekte
jenseits der Inhalte einer Reform, die Grundlage für Investitionsentscheidungen und damit letztendlich für
Wachstum und Beschäftigung sind.
Ich möchte an dieser Stelle all den Kollegen Dank sagen, die an der Vorbereitung dieser Reform mitgewirkt
haben: Herrn Koch, Herrn Steinbrück und den anderen,
die in der Kommission tätig waren. Denn ich glaube, es
ist gelungen, bei sehr weit auseinanderliegenden Positionen einen sach- und lösungsorientierten gemeinsamen
Vorschlag auf den Tisch zu legen.
Die Reform wird sechs Monate vor ihrem Inkrafttreten beschlossen. Wann hatten wir es bei großen Strukturreformen, dass sich Steuerpflichtige und Verwaltungen
so weit im Vorhinein auf die neue Lage einstellen konnten? Auch dies ist eine positive Leistung für unser Land.
({2})
Uns wird draußen vorgehalten, es werde eine Reform
für die Unternehmen gemacht. Ich will hier die These
aufstellen: Wir machen eine Reform für die Menschen.
Wir erhöhen die Chancen auf Arbeitsplätze. Wir erhöhen
die Chancen auf mehr Wirtschaftswachstum, auf mehr
Investitionen und damit letztendlich auf steigende Einkommen und mehr Wohlstand in diesem Land. Daran
werden alle teilhaben. Es werden diejenigen teilhaben,
die unternehmerisch tätig sind. Es werden die Beschäftigten der Unternehmen teilhaben und auch diejenigen,
wie etwa Rentner, deren Einkommensentwicklung an die
Entwicklung der Nettolöhne gekoppelt ist. Es ist eine
Reform für alle Menschen in diesem Land; wir sollten
das nicht falsch, sondern richtig darstellen. Deshalb
brauchen wir diese Reform.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn ich die Kritik der
Opposition höre, dann muss ich sagen: Es gibt da nicht
allzu viel Substanzielles.
({4})
An der einen oder anderen Stelle wird im Detail kritisiert. Erst wurde uns gesagt, es müsse schneller gehen.
Jetzt heißt es, es sei nicht ganz der richtige Wurf. Ja, was
wollen Sie denn? Ich vermisse Ihren Vorschlag, mit dem
Sie geschlossen darstellen, wie man angesichts der
Haushaltslage eine Strukturreform in einem solchen
Umfang überhaupt vornehmen kann.
({5})
Mehr Steuerentlastung fordern, was zu mehr Löchern
im Haushalt führt, ist einfach. Aber man muss das Ganze
auch in der politischen Darstellung zusammenbekommen. Da fehlt mir ein Vorschlag von Ihnen.
({6})
Meine Damen und Herren, die Große Koalition
nimmt das Parlament und den Rat von Experten ernst.
Wir haben von der ersten Lesung, die im März stattfand,
bis zum heutigen Tag über 40 Änderungen an diesem
Gesetz vorgenommen. Dies zeigt, dass wir nicht einfach
stur mit unserer Mehrheit durch die Wand gehen, sondern dass wir da, wo die Fachleute Veränderungen vorgeschlagen haben, diese ernsthaft geprüft und entsprechend eingearbeitet haben. Dafür möchte ich dem
Vorsitzenden des Finanzausschusses und allen beteiligten Kollegen Dank sagen. Ich glaube, auch daran wird
deutlich, dass wir dieses Thema von der Sache her betrachten und nicht allein mit Mehrheiten agieren.
({7})
Darüber hinaus machen wir den Standort Deutschland
wettbewerbsfähig. Wir führen einen Steuertarif ein, der
bei unter 30 Prozent liegt. Ich will ausdrücklich sagen:
Dieser Steuertarif gilt für alle Unternehmen, unabhängig
von ihrer Rechtsform. Wir machen also keine Reform
für Kapitalgesellschaften, sondern wir bieten allen Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform einen Steuersatz auf einbehaltene Gewinne von unter 30 Prozent.
Dass wir das in unserem Land schaffen, hätte man sich
vor zwei Jahren noch nicht vorstellen können. Aber hier
und heute beschließen wir diese Regelung. Das ist in
puncto Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unseres
Standortes für Unternehmensansiedlungen ein gewaltiger Schritt nach vorn.
Wir tun etwas für den Mittelstand; auch darauf
möchte ich hinweisen. Die Thesaurierungsoption habe
ich erwähnt. Wir werden außerdem eine Investitionsrücklage einführen. Das wird eine wesentliche Flexibilisierung zur Folge haben. Wir sorgen dafür, dass die Gewerbesteuer besser mit der Einkommensteuer verrechnet
werden kann. Vor diesem Hintergrund stelle ich die
These auf: Diese Reform ist auch im Interesse des Mittelstands, nicht nur im Interesse der großen Unternehmen in unserem Land. Dafür hat sich die Union nämlich
eingesetzt.
({8})
Ich möchte ganz deutlich sagen: In Deutschland finden wir eine andere Unternehmenskultur als in anderen
Ländern vor. Sie ist geprägt von Familienunternehmen
und mittelständischen Unternehmen. Das ist in anderen
Ländern nicht der Fall. Natürlich könnten wir unsere
Kultur aufgeben und uns vor allen Dingen um Kapitalgesellschaften kümmern. Aber das wollen wir nicht. Wir
wollen an der Kultur der Familienunternehmen festhalten. Deshalb haben wir uns bemüht, neue Lösungen zu
finden, um auch die Personengesellschaften mitzunehmen.
Es ist nicht nachzuvollziehen, warum Gewinne, die
am Standort Deutschland erwirtschaftet wurden, nicht
auch hier der Besteuerung unterzogen werden sollten.
Man kann sehr lange über die Frage diskutieren, mit
welchen Instrumenten man dieses Problem am besten in
den Griff bekommt. Selbstverständlich stellt eine Senkung der Steuertarife eine Motivation dar, um diesen
Effekt zu vermeiden. Aber wir alle mussten zur Kenntnis
nehmen: Das allein reicht nicht aus. Auch die bisherigen
Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung reichten nicht aus. Wir müssen dieses Problem auf innovative
und kreative Weise lösen.
Herr Kollege Poß, wir haben vereinbart, dass wir zeitnah evaluieren wollen, ob unsere Maßnahmen die richtigen Ergebnisse liefern. Wir müssen uns - im Kontext der
Entwicklung in den USA und in Frankreich - der Frage
stellen: Wie können wir dafür sorgen, dass Gewinne, die
im eigenen Land erwirtschaftet werden, auch im eigenen
Land besteuert werden? Es ist ein vernünftiger Gedanke,
davon auszugehen, dass dann, wenn wir etwas zur Verfügung stellen, auch hier Steuern zu zahlen sind.
Dadurch, dass wir zukünftig den Gewinn vor Abschreibungen betrachten und darauf die Zinsschranke
anwenden, ist eine wesentliche Entspannung und Verbesserung der Situation eingetreten. Auf diese Weise haben wir dafür gesorgt, dass diese Regelung auch aufseiten der Unternehmen als tragbare Lösung angesehen
wird.
({9})
Ich sage ganz offen: Der Beitrag, den diese Unternehmensteuerreform zum Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland leistet, ist aus meiner Sicht noch
nicht hinreichend. Aber im Rahmen der Unternehmensteuerreform werden wir an dieser Stelle nichts mehr ändern können.
Mittlerweile liegt uns allerdings ein im Bundesministerium der Finanzen erarbeitetes Eckpunktepapier vor
- dafür möchte ich Ihnen, Herr Finanzminister
Steinbrück, ausdrücklich danken -, in dem die Themen
Wagniskapital und Unternehmensbeteiligungen behandelt werden und in dem der Frage nachgegangen
wird, wie wir Unternehmen in Deutschland in der Gründungs- und Wachstumsphase besser fördern können. Ich
glaube, auf dieser Basis können wir uns in der Koalition
darüber unterhalten, wie wir dieses Problem lösen.
Ich glaube, wir müssen die gegenwärtigen Vorschläge
noch ein wenig optimieren. Im Mittelpunkt müssen folgende Fragen stehen: Wie können Verlustvorträge im
Rahmen von Finanzierungsrunden - das ist insbesondere
für den Innovationsstandort eine essenzielle Frage - besser mitgenommen werden? Wollen wir uns nur auf das
Gründungskapital konzentrieren oder auch die Wachstumsphasen, die Zweit- und Drittrundeneffekte, mitfinanzieren? An dieser Stelle besteht meiner Meinung
nach die Notwendigkeit, nachzubessern.
({10})
Ich möchte nicht nur bewundern können, was in Luxemburg oder in der Londoner City im Bereich Wagnisund Risikokapital geschieht.
({11})
Ich würde mich freuen, wenn solche Instrumente auch
am Finanzplatz Deutschland zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Wachstum und Beschäftigung gewinnbringend
eingesetzt würden.
({12})
An dieser Stelle müssen wir gemeinsam arbeiten und
Lösungen entwickeln.
({13})
- Da ich weiß, dass der Kollege Oswald ein fleißiger Arbeiter ist,
({14})
werden wir das gemeinsam schaffen.
Meine Damen und Herren, mit der Einführung einer
Abgeltungsteuer schaffen wir für den Finanzplatz
Deutschland attraktive Rahmenbedingungen. Ich teile
die Ausführungen, die der Finanzminister zum Thema
Steuerehrlichkeit gemacht hat. Ich möchte hinzufügen:
An dieser Stelle sorgen wir für eine wesentliche Vereinfachung. Durch die Einführung der Abgeltungsteuer
leisten wir einen maßgeblichen Beitrag zum Bürokratieabbau. Auch das sollte gelegentlich einmal festgehalten
werden.
Daneben brauchen wir in Deutschland keine so große
Kontrolldichte mehr. Die Zahl der Kontenabfragen kann
deutlich geringer ausfallen. Auch das ist hinsichtlich der
Wahrnehmung unseres Finanzplatzes ein Schritt nach
vorne.
({15})
Der Kollege Thiele hat auf die Altersvorsorge hingewiesen. Ich teile die Bedenken, dass wir außerhalb der
gesetzlichen Rente mehr für die Altersvorsorge tun müssen. Ich will aber auch einmal daran erinnern, dass wir in
der letzten Wahlperiode auf dieser Baustelle gemeinsam
etwas getan haben. Wir haben die nachgelagerte Besteuerung für die Altersvorsorge eingeführt. Man kann im
Detail darüber reden, welche Rahmenbedingungen gesetzt wurden, ein attraktives Angebot für die Altersvorsorge ist über die nachgelagerte Besteuerung aber gegeben. Deshalb bitte ich, in der Diskussion ehrlich zu
bleiben. Wer Kapitalanlagen betreibt, dessen Kapitalertrag wird besteuert, und wer Altersvorsorge betreibt,
dessen Altersvorsorge wird über die nachgelagerte Besteuerung besteuert. Beides ist attraktiv ausgestaltet. Ich
bitte um Ehrlichkeit, sodass wir hier nicht mit falschen
Etiketten hantieren; denn ansonsten gleitet die Diskussion auf ein Niveau ab, das hier eigentlich fehl am Platze
ist.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, nämlich die
Steuerausfälle. Ich bin zunächst einmal zufrieden, dass
die kommunale Ebene diese nicht mitfinanziert. Die
5 Milliarden Euro, über die wir reden, werden voll und
ganz vom Bund und von den Ländern aufgebracht. Ich
glaube, an dieser Stelle haben wir eine gute Vereinbarung getroffen.
Zu den 5 Milliarden Euro will ich auch sagen, dass sie
das Ergebnis einer statischen Betrachtung sind.
({16})
In dem Moment, in dem Wachstums- und Beschäftigungseffekte eintreten und die Unternehmen tatsächlich
aktiv werden, wird es nicht zu diesen Steuerausfällen
von 5 Milliarden Euro kommen, sondern der Haushaltsminister wird eine bessere Bilanz vorlegen können. Ich
glaube, dass wir deshalb durch diese Reform am Ende
der Zeitschiene kein Minus, sondern ein Plus zu verDr. Michael Meister
zeichnen haben werden. Deshalb können wir sie auch
guten Gewissens mittragen.
({17})
Der Kollege Thiele hat hier über das Körperschaftsteueraufkommen im Laufe der Zeit gesprochen. Weil
ich weiß, dass er fachkundig ist, hätte ich mir auch einen
Hinweis auf die Unternehmensteuerreform 2000 gewünscht. Deren wesentlicher Effekt war es nämlich, dass
sich das Körperschaftsteueraufkommen entsprechend
entwickelt hat. Dies in diesem Zusammenhang nicht anzusprechen, rückt die Argumentation an dieser Stelle natürlich in ein etwas diffuses Licht.
({18})
- Jawohl, Sie waren auch beteiligt, Frau Scheel, und haben dafür gesorgt, dass wir in Deutschland kein Körperschaftsteueraufkommen hatten und dass die Unternehmen nichts bezahlt haben. Dies geschah aber nicht, weil
Sie es wollten, sondern weil Sie als Vorsitzende des Finanzausschusses Fehler gemacht haben, die zu großen
Steuerausfällen geführt haben. Eigentlich hätte man an
dieser Stelle eine größere fachliche Kompetenz erwarten
können.
({19})
Meine Damen und Herren, nach der Reform ist vor
der Reform. Die Vereinfachung muss trotz der Priorisierung der Unternehmensteuerreform weitergeführt werden. Deshalb werden wir als Unionsfraktion an der Vereinfachung des Steuerrechts dranbleiben. Wir wollen
eine weitergehende Vereinfachung.
({20})
Für uns steht auch das Thema Gewinnermittlung unterhalb der Besteuerungsebene auf der Tagesordnung.
Herr Steinbrück, ich glaube, wir sind uns einig, dass wir
uns dieser wichtigen Aufgabe zuwenden und die Frage
beantworten müssen, wie es bei der Bilanzierung der
Unternehmen im Sinne von mehr Einfachheit, aber auch
mehr Klarheit zu einem Gewinn für den Standort kommen kann.
Es liegen schwierige Probleme vor uns. Wir zeigen,
dass die Große Koalition zu Strukturreformen fähig ist.
Sie ist damit aber nicht am Ende. Weitere große Projekte
liegen vor ihr. Ich habe sehr viel Vertrauen, dass wir das
gemeinsam schaffen. Ich wünsche mir dafür Ihre Zustimmung und Unterstützung.
Vielen Dank.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst ein Wort an Sie, Herr Kollege Kolb,
weil Sie so erschrocken waren, dass ich Ihnen Beifall gespendet habe.
({0})
Wenn Sie in der Sache recht haben, muss ich Ihnen natürlich Beifall spenden. Ich glaube, wir sollten uns
durchaus vorstellen können, dass man auch Kollegen
Beifall spenden kann, die normalerweise nicht die Auffassung vertreten, die man selbst vertritt. Zum Parlamentarismus gehört es, dass man dann Beifall spendet, wenn
man ein Argument für richtig hält. Das sollten wir auch
in Zukunft so halten.
({1})
Damit Sie nicht allzu sehr erschrecken: In Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik gibt es durchaus Überschneidungen zwischen meinen und vielleicht auch Ihren Überlegungen mit denen anderer. Wenn es um die
Kontrolle wirtschaftlicher Macht geht, stützen wir uns
beispielsweise auf Walter Eucken, der die Verhinderung
wirtschaftlicher Macht zum Kernanliegen einer Wettbewerbsordnung gemacht hat. Die Verhinderung wirtschaftlicher Macht ist ja kein Thema mehr. Die Kontrolle wirtschaftlicher Macht war noch ein Schwerpunkt
der SPD im Godesberger Programm. Aber auch davon
ist heute keine Rede mehr.
Wenn es um Ordnungspolitik geht - zum Beispiel bei
der Netzprivatisierung -, dann kommen wir nicht auf die
Idee, einen Zeitgenossen zu zitieren. Ich zitiere lieber
John Stuart Mill, der niemals auf die Idee gekommen
wäre, der Marktwirtschaft Bereiche zu unterwerfen, die
nicht marktwirtschaftlich zu organisieren sind.
({2})
Wenn wir über Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand reden - ich komme noch darauf zurück -, dann beziehe ich mich gerne auf Karl-Hermann Flach und
Werner Maihofer, die mit dem Freiburger Programm
Positionen vorgelegt haben, die ich heute noch unterschreiben könnte. So viel zu den Auflockerungsübungen, die Sie vielleicht überrascht haben.
({3})
Wenn es um die Erbschaftsteuer geht, erwähne ich
gerne große amerikanische Liberale wie Bill Gates oder
Warren Buffett, die eine andere Position als Sie vertreten
und der Auffassung sind, dass es Erben sehr wohl zuzumuten ist, sich durch eigene Leistung ein eigenes Vermögen aufzubauen, statt sich auf dem Vermögen der
Eltern auszuruhen.
({4})
Das macht deutlich, dass man mit unterschiedlicher
Sichtweise an bestimmte Fragen herangehen kann; man
sollte aber in seiner Denkweise einigermaßen konsequent sein.
Nun zu unserer Position:
({5})
Im Gegensatz zu den meisten Vorrednerinnen und Vorrednern bin ich nicht in der Position, der Regierung und
denjenigen, die an dem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, meinen Dank für die großartigen Leistungen auszusprechen; vielmehr stelle ich für unsere Fraktion fest:
Nach der verteilungspolitischen Entwicklung der letzten
Jahre und den vielen Unternehmensteuerreformen, die
wir schon beschlossen haben, ist ein weiterer Milliardensegen für die Großkonzerne unvertretbar. Das ist die
Position der Linken.
({6})
Problematisch ist auch, dass Sie es nicht bei diesem
Milliardensegen bewenden lassen wollen. Die nächsten
Milliardengeschenke für die Unternehmen werden bereits angekündigt. Mit Erschrecken habe ich festgestellt,
dass der Kollege Poß kürzlich öffentlich weitere Senkungen der Lohnnebenkosten angekündigt hat. Ich
hoffe, Sie sind richtig zitiert worden.
({7})
- Herr Kollege Poß, früher wussten Sie selber, dass eine
Senkung der Lohnnebenkosten immer auch ein Milliardengeschenk an die Unternehmen bedeutet.
({8})
Nachdem wir in dieser Legislaturperiode schon einmal
den Unternehmen durch die Senkung der Lohnnebenkosten ein Milliardengeschenk beschert haben, frage ich
mich, warum ein Sozialdemokrat angesichts der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer und Rentner
weitere Milliardengeschenke an die Unternehmen fordert. Sie sollten diese Position noch einmal überdenken.
({9})
Die CDU/CSU hat bereits angekündigt, dass in einem
Jahr die nächste Unternehmensteuerreform ansteht. Ich
bin sicher, dass es dazu kommt. Die nächste Unternehmensteuerreform wird die Unternehmen sicherlich nicht
nur um 130 Millionen Euro entlasten. Es ist jetzt schon
abzusehen, dass die Geschenke an die Unternehmen einen größeren Umfang haben werden. Ich bin bereit, mit
Ihnen Wetten abzuschließen, dass wir demnächst in diesem Hause wieder über ein solches Vorhaben diskutieren.
Es geht aber nicht nur um die Senkung der Lohnnebenkosten und um Ihre weiteren Vorhaben in einem
Jahr, sondern auch um die Erbschaftsteuerreform. Die
Erbschaftsteuer soll bei erfolgreicher Fortführung eines
Unternehmens über zehn Jahre vollständig erlassen werden. Auch das sind Milliardengeschenke an die Unternehmen, wie auch immer Sie es definieren.
Wenn es in diesem Lande darum geht, Unternehmen
zu bedienen, dann ist die große Mehrheit dieses Hauses
dabei. Das steht im krassen Widerspruch zur Einkommensverteilung in diesem Lande. Darauf wollen die
Linken aufmerksam machen.
({10})
Wenn in diesem Hause immer wieder solche Milliardensegen beschlossen werden, dann frage ich mich trotz
der freudigen Einlassung des Bundesfinanzministers,
was die Rentnerinnen und Rentner denken, die mit
einer Rentenerhöhung um 0,54 Prozent - welch großartige Leistung, Herr Bundesarbeitsminister! - rechnen
dürfen. Sie stellen sich die Frage, warum für die Unternehmen Milliarden zur Verfügung stehen, wenn sie
selbst nur ein paar Brotkrumen erhalten. Diese Einkommensentwicklung können wir nicht tolerieren.
({11})
Sie erwähnen immer wieder stolz die Entwicklung bei
den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Ich
frage mich, wie die Leiharbeiter darüber denken, die unter Tarif in den Betrieben beschäftigt werden und deren
Zahl immer weiter zunimmt.
({12})
Ich rate dazu, nicht alles durch eine rosarote Brille zu
betrachten. Es ist zwar erfreulich, wenn die Wirtschaft in
Bewegung kommt - das habe ich mehrfach ausgeführt -,
aber es ist unverständlich, dass Sie alles durch eine rosarote Brille betrachten. Was denken insbesondere die
50 000 Bediensteten der Telekom, die zum Teil 40 Prozent Ihres Einkommens einbüßen, wenn sie Ihre Lobeshymnen hören und von den Milliardengeschenken an
die Unternehmen erfahren? Diese Frage möchte ich in
den Raum stellen.
({13})
Ich möchte noch eine weitere Überschneidung ansprechen. Erschrecken Sie jetzt nicht, Herr Kollege
Kolb!
({14})
Jetzt wäre die Gelegenheit, die vielen kleinen Unternehmen im Einkommensteuertarif zu entlasten, die
zum Teil nicht mehr als 30 000 Euro bis 40 000 Euro
Jahresgewinn erzielen. Das wäre auch in ökonomischer
Hinsicht sehr viel sinnvoller als die Milliardengeschenke
an die Großkonzerne, mit denen Sie sich offensichtlich
so gut verstehen.
({15})
- Herr Kollege Thiele, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich nehme aber an, es war keine Beleidigung, Sie
mit dem Kollegen Kolb zu verwechseln. Das war keine
Absicht.
Es wäre jetzt viel sinnvoller, den Einkommensteuertarif zu korrigieren und den sogenannten Mittelstandsbauch zu entfernen. Dies wäre nicht nur sinnvoll für die
vielen Kleinbetriebe, die davon profitieren würden. Es
wäre ebenfalls sinnvoll für die Facharbeiter, die für uns
nach wie vor zu den Leistungsträgern dieser Gesellschaft
gehören - nicht nur die Großkonzerne!
({16})
Wenn man zu viel Geld hat, dann kann man das machen.
Wenn man schon dabei ist, Unebenheiten im Einkommensteuertarif auszugleichen, dann wäre es auch
sinnvoll, einen Inflationsausgleich in den Einkommensteuertarif einzubauen. Das ist in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Es gab Jahre, in denen die Bruttozuwächse der Arbeitnehmer unter der Inflationsrate
lagen, sodass die damit verbundenen leichten Steuerzuwächse ihr Einkommen noch einmal geschmälert haben. Es gibt in anderen Ländern Beispiele dafür. Ich
weiß, dass solche Überlegungen auch einmal in Ihrer
Fraktion angestellt worden sind. Neben der Entlastung
der Facharbeiter und Kleinstbetriebe wäre eine Korrektur des Einkommensteuertarifs erforderlich.
({17})
Ich habe das Freiburger Programm aus folgendem
Grund angesprochen: Wenn Sie schon meinen, bei der
Erbschaftsteuer hätten Sie weitere Gründe, Milliardengeschenke an die Unternehmen zu geben, dann wäre es
doch sinnvoll - wenn Sie ökonomische Gründe heranziehen wollen -, das Vermögen nach zehnjähriger Betriebsfortführung nicht beim Erben zu belassen, sondern Anteilsscheine an die Belegschaften auszugeben.
Das wäre wirklich einmal eine Innovation, und es wäre
dem Rechnung getragen, was Sie alle wollen, dass nämlich das Kapital im Unternehmen bleibt und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Zuwachs des Produktivkapitals beteiligt werden.
({18})
- Ihr Lachen, verehrter Herr Kollege - Ihren Namen
kenne ich leider nicht -, zeigt, dass Sie sehr jung sind.
Das war vor vielen Jahren Konsens in diesem Hause.
Das steht so im Freiburger Programm, wenn Sie das bitte
schön noch einmal nachlesen würden. Wenn Sie beispielsweise die Reden von Karl Schiller - ich wende
mich jetzt an die SPD-Fraktion in diesem Hause - noch
einmal nachlesen, dann werden Sie sehen, dass es ein
großes Problem ist, dass der Zuwachs des Produktivvermögens im Laufe einer langjährigen Betriebsführung allein den Anteilseignern zugute kommt, obwohl er doch
ebenfalls durch den Fleiß der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erarbeitet worden ist.
({19})
Warum denken Sie über solche Alternativen überhaupt
nicht mehr nach? Die Linke vertritt nach wie vor diese
Alternativen.
({20})
Nun komme ich zur wunderbaren Betrachtung des
Herrn Bundesfinanzministers zur Abgeltungsteuer. Er
hat kühn, wie das so seine Art ist, gesagt - wer wollte
ihm da widersprechen? -:
25 Prozent auf x sind besser als 42 Prozent auf gar
nix.
Das ist logisch; dagegen kann niemand etwas sagen. Nur
sind diejenigen, die Geld haben, genauso schlau wie Sie.
Die sagen sich, dass 0 Prozent auf x in Luxemburg besser sind als 25 Prozent in Deutschland. Sie sind genauso
schlau wie Sie. Wirklich!
({21})
- Doch, sie sind so. Sie rechnen so, Herr Steinbrück.
Deshalb geht diese wunderbare Rechnung nicht auf.
Im Übrigen ist es für mich wirklich ein Phänomen
- wie soll ich Sie anreden? -, verehrte Damen und Herren der Sozialdemokratie,
({22})
dass Sie einfach zustimmen, dass die - leistungslosen Erträge aus dem Geldvermögen steuerlich viel besser behandelt werden als die harte Arbeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({23})
Ich verstehe eine solche Fehlentwicklung nicht.
Als ich gerätselt habe, wie das wohl weitergehen wird
und wie die einzelnen Fraktionen wohl abstimmen werden, ist mir zufällig ein Bericht der „Welt Online“ in die
Hand gefallen, der mit dem Titel „Wirtschaft investiert
am liebsten in die CDU“ überschrieben war. Ich zitiere:
Im Wahljahr 2005 hat die CDU ihre Spendeneinnahmen fast verdoppelt. Wie aus dem Rechenschaftsbericht der Parteien hervorgeht, geben Wirtschaftsgrößen und Unternehmen am liebsten Geld
für die Union. Und die FDP …
({24})
Dann steht weiter in dem Artikel, dass die SPD und die
Grünen etwas weniger bekommen. Die Linke bekommt
natürlich nichts.
({25})
Ich habe das gelesen und mich mit der Frage geplagt,
wieso wir eigentlich nichts bekommen.
({26})
Wir dachten, dass die Wirtschaft irgendwie - 10372
Herr Kollege Lafontaine, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Künast?
Selbstverständlich. Bitte schön, Frau Kollegin
Künast.
Sehr geehrter Herr Kollege, bei dem Satz, Sie, die
Linke, bekämen nichts, ging mir ein historisches Licht
auf. Sind Sie eigentlich sicher, dass Sie alles, was Sie aus
SED-Zeiten illegal mitgenommen haben, zurückgegeben
haben?
({0})
Frau Kollegin Künast, ich kenne die Entwicklung etwas besser als jeder andere, weil ich damals im Zentrum
war. Deshalb wäre ich an Ihrer Stelle generell etwas vorsichtig und insbesondere hier noch vorsichtiger.
({0})
Sie haben keine Blockpartei geschluckt und insofern
auch kein Vermögen. Aber hier sind Parteien vertreten,
die ebenfalls eine Blockpartei oder sogar zwei Blockparteien geschluckt haben, die Vermögen hatten. Sie sollten
also Ihre Frage den Richtigen stellen.
({1})
Die Linkspartei wurde juristisch so verfolgt und gejagt,
dass sie unterschreiben musste, dass jeder Betrag, der
auftaucht, dreifach zurückgezahlt wird. Hören Sie also
mit diesen Verdächtigungen auf!
({2})
Ihr Ablenkungsversuch ist allzu durchsichtig, Frau
Kollegin Künast. Auch Ihre Partei ist in der erwähnten
wunderbaren Liste aufgeführt. Es ergibt sich ein merkwürdiger Zufall: Das Abstimmungsverhalten der betreffenden Parteien spiegelt in etwa die freundliche Gesinnung der Wirtschaft gegenüber diesen Parteien wider.
({3})
Das ist natürlich ein reiner Zufall. Aber ich werde weiter
darüber nachdenken.
({4})
Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser Therapiestunde sage ich besser nichts.
({0})
Ich möchte gerne auf das eingehen, was Herr Meister
gesagt hat. Er hat gesagt, die Große Koalition habe die
Konjunktur aus dem Keller geholt. Ich sage dazu: Trotz
dieser Großen Koalition ist die Konjunktur gut, weil die
Menschen in diesem Land arbeiten und weil vor allem
die Auftragslage der Unternehmen gut ist. Wohlgemerkt:
trotz dieser Koalition.
({1})
Herr Meister, ich bin froh, sieben Jahre Finanzausschussvorsitzende gewesen zu sein; denn in dieser Zeit
sind genau die Entscheidungen gefallen, mit denen die
Strukturen grundlegend verändert worden sind, sodass
wir heute vernünftige Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und im Steuerrecht vorfinden.
({2})
Ihre Behauptung, Sie hätten eine wesentliche Strukturreform durchgeführt, ist reine Augenwischerei. Der
vorliegende Gesetzentwurf ist Stückwerk. In Wirklichkeit stimmen Sie - sowohl aufseiten der Union als auch
aufseiten der SPD - diesem Gesetzentwurf in großen
Teilen nur mit zusammengebissenen Zähnen zu.
({3})
Denn wie wir alle wissen, herrscht ein sehr großes Unwohlsein angesichts der unkalkulierbaren Auswirkungen
dieser Reform auf die Unternehmen, aber auch auf die
Steuereinnahmen. Um diesen Risiken zu begegnen, haben Sie schon angekündigt, dass Sie eine Vielzahl von
Überprüfungen vornehmen werden. Deswegen ist es
völlig übertrieben, heute zu sagen: Wir haben eine supergroße Strukturreform durchgeführt. Das bedeutet, nach
der Reform ist vor der Reform. Ich behaupte, dass diese
Reform nicht lange Bestand haben wird. Es wird in zwei
bis drei Jahren substanzielle Korrekturen geben.
Wir Grüne haben immer darauf hingewiesen, dass
diese Reform enorme Mängel hat. Ich mache das einmal
an fünf Beispielen deutlich. Erstens. Die Finanzierung
ist nicht solide. Zweitens. Die Mittelstandslücke ist nicht
geschlossen worden. Drittens. Die Finanzierung ist unsystematisch und investitionsfeindlich. Viertens. Die
Vorzüge der Abgeltungsteuer wurden demontiert. Fünftens. Die Aktiensparer werden massiv zur Kasse gebeten.
({4})
Dann zu sagen, diese Reform sei gut, ist einfach
falsch.
({5})
Ich werde die einzelnen Punkte belegen. Die Reform
ist nicht solide finanziert. Das sagen die Kommunen und
die Länder; denn die müssen die Milliardenausfälle
verkraften. Ob Steuermehreinnahmen in Höhe von
4 Milliarden Euro in dieses Land kommen, weil Sie auf
die Rückverlagerung von Gewinnen aus dem Ausland
hoffen, ist zweifelhaft. Das ist das Prinzip Hoffnung.
Das hat mit der Realität sehr wenig zu tun.
({6})
Die Datenbasis ist schlecht. Das wissen wir. Sie setzen darauf - das, so finde ich, ist das Schwierige an der
Situation -, dass konjunkturbedingte Steuermehreinnahmen die Finanzlöcher dieser Reform verdecken werden.
So wird die SPD-Linke nämlich nie erfahren, was diese
Reform wirklich gekostet hat. Wenn die Konjunktur weiter anhält, wird das verwischt. Sie haben gesagt, dass Sie
auf den Bestand der Konjunktur hoffen. Damit geben Sie
zu, dass es Finanzrisiken auf allen Ebenen bei dieser Reform gibt.
({7})
Der zweite Mangel: Die Reform hat eine Mittelstandslücke. Sie behaupten immer, das stimme nicht.
Alle reden von der Entlastung der Kapitalgesellschaften.
Was ist denn eigentlich mit den kleinen und mittleren
Unternehmen, die eine andere Rechtsform haben und die
80 Prozent der Arbeitsplätze in diesem Land stellen und
70 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland schaffen? Ich weiß, das sind alles altbekannte Zahlen, aber sie
verdeutlichen eine Tatsache, die heißt: Eine Unternehmensteuerreform, mit der Wachstum und Beschäftigung
in der Zukunft geschaffen und erhalten werden sollen,
darf nicht an diesen kleinen und mittleren Unternehmen
vorbei gemacht werden.
({8})
Genau das tut diese Große Koalition, und sie geht noch
weiter; denn die Entlastung von international operierenden Unternehmen wird zu großen Teilen auch von den
kleinen Unternehmen in der Bundesrepublik bezahlt.
Das ist unfair, und das ist der Punkt, den wir hier an dieser Stelle massiv kritisieren.
({9})
Wir haben uns die Zahlen vom Zentralverband des
Deutschen Handwerks und vom Deutschen Industrieund Handelskammertag sehr genau angesehen und stellen fest, dass Ihre Aussage, die Sie hier getroffen haben,
nämlich dass diese Unternehmen etwas davon hätten, sie
thesaurieren und zum Beispiel den Investitionsabzugsbetrag in Anspruch nehmen könnten, genauer betrachtet
werden muss. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann
sieht man, dass maximal 12 Prozent aller Unternehmen
überhaupt von diesen Maßnahmen profitieren werden.
Aber die anderen 88 Prozent zahlen das mit. Das ist
nicht in Ordnung.
({10})
Die Finanzierung der Reform ist unsystematisch,
und sie ist investitionsfeindlich. Sie ist konzeptionslos,
und sie ist zusammengestoppelt. Die Finanzierungsmaßnahmen gefährden - diese Kritik haben wir schon in der
ersten Lesung vorgetragen - Forschung und Entwicklung hier am Standort. Sie machen das Steuerrecht komplizierter und bürokratischer. In Ihrem Gesetzentwurf
sind 23 neue Mitteilungspflichten vorgesehen. Das
spricht eine eigene Sprache. 23 neue Mitteilungspflichten bedeuten mehr Bürokratie für die Unternehmen.
Die radikale Kürzung der Sofortabschreibungen auf geringwertige Wirtschaftsgüter belastet 5 Millionen Unternehmen in diesem Land mit mehr Bürokratie. Das ist der
Punkt, an dem Anspruch und Wirklichkeit enorm auseinanderfallen.
({11})
Wir sehen auch, dass die neuen Regeln und die Entscheidungen, die jetzt im Zusammenhang mit den Änderungsanträgen im Finanzausschuss getroffen worden
sind, zahlreiche Fußangeln für die Steuerpflichtigen bereithalten. Zukünftig entscheidet noch stärker als die
Höhe des Einkommens die Qualität des Steuerberaters
oder der Steuerberaterin über die Höhe der Steuerlast.
Das kann doch nicht wahr sein angesichts der Tatsache,
dass Sie davon reden, mehr Transparenz und eine Vereinfachung im Steuerrecht schaffen zu wollen. Am Ende
weiß niemand wer, wie die tatsächliche Einkommenssituation ist. Sie aber stellen sich hin und behaupten, alles besser gemacht zu haben. Die Qualität des Steuerberaters wird darüber entscheiden, wie viele Steuern
bezahlt werden,
({12})
und das ist nicht in Ordnung für die Zukunft; vielmehr
sollte die Leistungsfähigkeit ausschlaggebend sein.
Diese Einschätzung hat in der Sachverständigenanhörung eine breite Mehrheit der Experten geteilt. Hier etwas anderes darzustellen, grenzt schon wirklich an
Realitätsverlust.
Sie haben auch die Vorzüge der Abgeltungsteuer benannt. Das vom Finanzminister hier formulierte Ansinnen, zu Vereinfachung, mehr Transparenz und Gleichbehandlung aller Kapitaleinkünfte zu kommen, ist richtig.
Aber was haben Sie daraus gemacht? Sie haben dafür
gesorgt, dass Gewinne durch die Veräußerung von Aktien einer Sonderbehandlung unterliegen. Diese Abgeltungsteuer hat beispielsweise haarsträubende Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung: Durch die
Ausgestaltung der Abgeltungsteuer werden Eigenkapitalfinanzierungen mit fast 50 Prozent doppelt so hoch
besteuert wie Fremdkapitalfinanzierungen, die mit
25 Prozent besteuert werden. Das ist eine massive steuerliche Benachteiligung. Es lohnt jetzt noch mehr, mit
Krediten als mit Eigenkapital zu finanzieren. Die Startups, die Wagniskapital dringend brauchen, werden zunehmend leer ausgehen. Das kommt hinzu.
({13})
Das heißt, Sie haben hier völlig unsystematische
Finanzierungsvorschläge gemacht, um die Wirkung Ihrer merkwürdigen Zinsschranke - dieses eigenartige
Produkt, das in Wirklichkeit kaum jemand versteht - zu
mildern. Auf der anderen Seite haben Sie eine Gegen10374
finanzierung vorgenommen, die wahrscheinlich Verwerfungen auf den Finanzmärkten auslösen wird, über die
Sie sich noch die Haare raufen werden.
Wir meinen außerdem, dass Schwarz-Rot gegen Personen, die langfristig Geld in Aktien anlegen, völlig
ungerechtfertigt vorgeht. Ihr erster Schritt war, den Sparerfreibetrag zu halbieren. Ihr zweiter Schritt war, den zu
versteuernden Anteil an Dividenden zu verdoppeln. Ihr
dritter Schritt war, festzulegen, dass beim Verkauf von
Aktien anfallende Veräußerungsgewinne - auch solche,
die langfristig erzielt worden sind - zu einem Viertel
besteuert werden. Auch das ist Ausdruck einer unkalkulierbaren Politik. Es schadet der Aktienkultur in
Deutschland. Wir befürchten, dass auch die private Altersvorsorge dadurch Schaden nehmen wird. Es kann
doch nicht sein, dass Sie die Bürger jahrelang auffordern, Altersvorsorge zu betreiben, um anschließend die
Steuerkeule zu schwingen. Das ist nicht in Ordnung, und
es ist unfair gegenüber den Menschen in diesem Land,
die in den letzten Jahren etwas für ihre Altersvorsorge
getan haben und dies fortsetzen möchten.
({14})
An die Adresse der SPD gerichtet, möchte ich sagen:
Sie irren, wenn Sie glauben, es gehe hier immer nur um
die Besserverdienenden. Vielmehr geht es auch um
Kleinsparer, um diejenigen, die vermögenswirksame
Leistungen beziehen, und um diejenigen, die - Herr
Beck hat das gesagt - Produktivkapital in Arbeitnehmerhand entstehen lassen wollen. Durch die von Ihnen hier
getroffenen Maßnahmen wird genau das Gegenteil dessen passieren, was gewollt ist.
Abschließend möchte ich noch eine Bemerkung machen. Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf gibt es einen
Entschließungsantrag zur Reform der Erbschaftsteuer.
Die SPD ist nur dann bereit, diesem Gesetzesentwurf
heute zuzustimmen, wenn dieser Entschließungsantrag
angenommen wird. Ich kann Ihnen nur sagen: Dieses Papier hätten Sie sich sparen können. Die Annahme dieses
Entschließungsantrags schafft keinerlei Rechtssicherheit. Ich finde, es ist eine politische Frechheit, in dieser
Situation - kleine und mittlere Unternehmen sollen an
Nachfolger übergeben werden und Erbschaftsfolgen stehen an - einen Entschließungsantrag vorzulegen, dessen
Annahme nichts als einen Placeboeffekt zur Folge hat.
Das zeigt im Prinzip nur, dass das Misstrauen in der Großen Koalition sehr groß ist. Dieser Entschließungsantrag
hilft denjenigen, die auf ein solches Gesetz warten und
die endlich Rechtssicherheit haben wollen, überhaupt
nicht.
Danke schön.
({15})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Joachim Poß, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Scheel, ich verstehe Ihre Aufregung gar
nicht. Sie müssten doch mit uns darin übereinstimmen,
dass es richtig ist, auch in Zukunft die Erbschaftsteuer
zur Finanzierung des Gemeinwesens in Deutschland
- zur Finanzierung von Bildung und Betreuung - einzusetzen. Angesichts dessen müssten Sie diesem Entschließungsantrag doch zustimmen.
({0})
Sie regen sich an der falschen Stelle auf. Ich verstehe das
gar nicht. Ich kann Ihnen auch nicht ersparen, zu sagen,
dass Sie die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit in sehr
kurzer Zeit offenbar vergessen haben. Wir haben doch
gemeinsam dafür gesorgt,
({1})
dass kleine und mittlere Unternehmen, die im Jahr 1998
noch eine effektive Steuerbelastung von 25,2 Prozent
hatten, im Jahr 2005 nur noch 19 Prozent Steuern gezahlt haben.
({2})
Es ist doch ein Erfolg gewesen, dass wir die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuerschuld realisiert haben. Ich verstehe gar nicht, wie Sie
hier agieren. Sie verleugnen das, was Sie an Positivem
bewirkt haben. Diese Arbeit und die Weichenstellungen,
die wir in der rot-grünen Koalition vorgenommen haben,
haben natürlich mit dem gegenwärtigen Aufschwung zu
tun.
({3})
Ebenso ist nicht zu leugnen, dass das „Binnenkonjunkturprogramm“, das wir in der Großen Koalition aufgelegt haben, sehr wohl die Binnenkonjunktur beflügelt
hat. Wenn man die Länderanteile mitrechnet, sind es
37 Milliarden Euro gewesen. Fragen Sie doch bei der
KfW und woanders! Natürlich hat die Politik den gegenwärtigen Wirtschaftsaufschwung befördert, und das ist
auch gut so. Dazu kann man stehen.
({4})
Ein Wort vielleicht zu Herrn Lafontaine. Es lohnt sich
nicht, glaube ich, mehr an ihn zu verschwenden. - Herr
Lafontaine, die SPD ist seit 143 Jahren der Aufklärung
verpflichtet, nicht der Täuschung. Bei Ihnen ist das umgekehrt.
({5})
- Bei Ihnen ist es aber Absicht; Sie sind ja nicht sachunkundig.
Was ist der eigentliche Skandal? Der Skandal ist, dass
Sie und andere von Milliardengeschenken sprechen, wo
es um ganz etwas anderes geht. Es geht darum - Sie kennen sicherlich die Studie des DIW -, dass auf der Grundlage des geltenden Rechts bis zu 100 Milliarden Euro an
Gewinnen, die bei uns in Deutschland erwirtschaftet
werden, im Ausland zur Versteuerung ankommen. Weil
es uns gemeinschaftlich nicht gelungen ist - das ist
schon seit Ihrer Zeit als Finanzminister so -, in Europa
einen Rahmen zu schaffen, der das verhindert. Das ist
die Realität, und diese Realität müssen wir verändern.
({6})
Selbst wenn Sie eine absolute Mehrheit in Bundestag
und Bundesrat hätten, müssten Sie den Status quo verändern, um die Gerechtigkeitslücke, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben, zu schließen.
Es wird DAX-Unternehmen geben - wir wollen da
keine Namen nennen -, die jetzt zum ersten Mal richtig
Steuern zahlen werden, die jetzt nämlich das Gemeinwesen nicht mitfinanzieren. Das ist auch der Kern dessen,
was wir in sehr konstruktiver Atmosphäre in der Großen
Koalition, in einer Arbeitsgruppe mit Roland Koch und
Peer Steinbrück an der Spitze, zustande gebracht haben.
Wir haben uns um die wirklichen Probleme gekümmert.
Wir haben auf ideologische Schaukämpfe verzichtet. In
diesem Geist lief es auch im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages. Es gab nur wenige substanzielle
Veränderungen - trotz lautstarker Forderungen verschiedenster Lobbygruppen nach weitaus größeren Eingriffen
in die geplante Reform.
Fakt ist, auch daran muss man erinnern: Die Gewinnsituation ist glänzend. Das führt Gott sei Dank dazu, dass
die Unternehmen derzeit - Herr Thiele, offenbar missfällt Ihnen das - so viel Steuern zur Finanzierung des
Gemeinwesens zahlen wie seit Jahren oder Jahrzehnten
nicht mehr. Und das ist auch gut so.
({7})
Das entspricht dem Maßstab der Besteuerung nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Daran gibt es
nichts zu kritisieren. Wer gut verdient, soll auch Steuern
zahlen. Das tun die Unternehmen Gott sei Dank. Allein
bei der Gewerbesteuer waren das im letzten Jahr
38 Milliarden Euro brutto.
Also: Es geht nicht um einen Milliardensegen für
Konzerne, sondern um die Schließung der Gerechtigkeitslücke, wie ich das beschrieben habe. Wir haben die
Länder im Vorfeld einbezogen. Das führt dazu, dass wir
auf Verhandlungen im Vermittlungsausschuss verzichten
können. Das hat auch Vorteile. Die Konstellation der
Großen Koalition war hilfreich, um die ideologischen
Beschränkungen und Polarisierungen zu überwinden,
die die steuerpolitische Debatte im Land in den vergangenen Jahren geprägt haben.
Diese Standortdebatte war irrational. Sie hat dem
Standort - das muss man eindeutig sagen - eher geschadet. Von all den Reformvorschlägen, die da gemacht
worden sind, galten nur diejenigen als mutig, die zu
möglichst großen Einnahmeausfällen für Bund, Länder
und Gemeinden geführt hätten. Ich will jetzt eigentlich
keine Beispiele nennen. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrats oder der Stiftung Marktwirtschaft hätten zu Ausfällen von bis zu 40 Milliarden Euro geführt.
Das ist für uns nicht darstellbar. Das ist weder für die
Länder noch für die Kommunen, noch für den Bund zu
verkraften. Deswegen haben wir ein Reformkonzept gezimmert, das wirklich an die Probleme herangeht und
nicht so viel kostet.
Die Diskussion über die 5 Milliarden Euro ist eine
Diskussion mit Scheingenauigkeit. Natürlich stimmt
das: Wir haben derzeit eine Dynamik in der wirtschaftlichen Entwicklung, die genau dazu führen wird, dass wir
bei der Gewerbesteuer schon im Jahr 2009 in absoluten
Zahlen ein höheres Aufkommen haben werden als im
Jahr 2007. Bei der Körperschaftsteuer spätestens 2010,
möglicherweise aber schon 2009. Deswegen trifft diese
Debatte, die auch in der SPD geführt wurde - man
braucht hier kein Schattenboxen zu veranstalten -, nicht
den Kern dessen, worum es hier geht. Es geht uns um die
Sicherung der deutschen Steuerbasis bei gleichzeitiger
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und bei gleichzeitiger Förderung von Investitionen in Deutschland, die
wiederum Arbeitsplätze sichern und helfen, neue zu
schaffen. Das ist der Kern der Reform, für die wir hier
stehen. Die Sozialdemokraten können stolz auf diese Reform sein.
({8})
Deshalb stehen wir auch zu dem, was wir mit dem
Koalitionspartner vereinbart haben. Es gibt keine zu
hohe effektive Belastung. Darüber brauchen wir gar
nicht zu reden. Es geht hier um nominale Steuersätze.
Das DIW und auch andere Institutionen sagen: Leute,
wenn ihr das verändern wollt, dann müsst ihr mit den
nominalen Steuersätzen runter, dann müsst ihr entsprechende Instrumente schaffen. Wie diese wirken werden,
wird man abwarten müssen. Ich bin hier vorsichtig. Es
ist die Frage, wie die Zinsschranke wirken wird. Wir machen die Gewerbesteuer mit den Hinzurechnungen stabiler. Das ist eine sozialdemokratische Vorstellung, für die
einige - unter anderem ich - seit drei Jahrzehnten kämpfen. Das, was bislang nicht durchzusetzen war, setzen
wir jetzt in der Großen Koalition durch. Nicht umsonst
äußert sich der Städtetag so positiv über das, was wir
hier erarbeitet haben.
({9})
Er weiß, dass die Kommunen jetzt aus der Gefahr
sind, in der sie sich seit Jahrzehnten befunden haben.
Diese Gefahr bestand darin, mit einer Gewerbesteuer leben zu müssen, die immer ertragsabhängiger und immer
konjunkturanfälliger wurde. Jetzt haben wir das Gegenteil erreicht. Das, was hier realisiert wurde, ist ein starkes Stück sozialdemokratischer Steuerpolitik.
({10})
- Daher Ihre Kritik. Ich will nicht sagen, ich bin stolz
darauf, denn das wäre das falsche Wort, aber als jemand,
der seit 27 Jahren genau das will, was wir heute
verabschieden, bin ich damit einverstanden. Das werden
Sie verstehen. Wir sind im Sinne der Programmatik vorangekommen, die im Jahre 2003 in unserer Partei beschlossen worden ist. Gemessen an diesen Maßstäben,
sind wir vorangekommen. Ich sage, das ist gut so. Wir
beseitigen eine Gerechtigkeitslücke.
Es gibt keine Mittelstandslücke. Darauf ist der Kollege Dr. Meister schon eingegangen. Mit der Gewerbesteuer haben wir jetzt die eigentliche Unternehmensteuer. Die Bedeutung der Körperschaftsteuer nimmt ab,
weil sie so gestaltungsanfällig ist und weil der Europäische Gerichtshof uns ein Urteil nach dem anderen beschert, die alle zu Steuerausfällen führen werden. Der
Europäische Gerichtshof nimmt überhaupt keine Rücksicht auf die Haushaltssituation. Das, was wir heute verabschieden, ist eine Selbstschutzmaßnahme für den
Standort Deutschland. Auch deshalb ist es neben all den
anderen Argumenten, auf die ich eingegangen bin und
die genannt worden sind, richtig, am heutigen Morgen Ja
zu sagen.
({11})
Es liegt ein Entschließungsantrag zur Erbschaftsteuer vor. Dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt.
Auch mit diesem sind wir sehr einverstanden. Der Antrag enthält alle Festlegungen, die wir 2003 auf dem
Bochumer Parteitag im Zusammenhang mit der Erbschaftsteuer beschlossen haben. Wir bekräftigen auch
bei der Erbschaftsteuer den Maßstab der Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
({12})
- Gibt es da etwas zu kritisieren, Frau Scheel? Wenn dieser Maßstab bekräftigt wird, dann ist das doch wohl richtig. Wir wollen doch das Gleiche wie Sie. Wir wollen
Regelungen, die den Betriebsübergang nicht erschweren.
Darauf wird man sich doch verständigen können. In einen Entschließungsantrag kann man kein Gesetz schreiben. Dort kann man nur Eckpunkte aufgreifen.
({13})
Über das Aufkommen waren wir im Dissens. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt. Das hängt von der
Ausgestaltung ab. Wir werden sehen, welche Bewertungen die Länder vornehmen.
({14})
Die Länder sind auf einem guten Weg. Ich glaube, es
gibt in diesen Tagen in Husum schon einen Zwischenbericht. Ich bin zuversichtlich, dass wir in der Großen Koalition auch das schaffen werden. Jedenfalls ist die Unsicherheit aus der öffentlichen Debatte genommen
worden. Durch den Entschließungsantrag wird die Unsicherheit noch weiter genommen.
Mein Fazit lautet also: Die Unternehmensteuerreform
ist kein Wunschkonzert für Lobbyisten geworden. Sie ist
kein Geschenk an Konzerne und reiche Anleger, sondern
ein solides Stück Arbeit der Großen Koalition. Wir sind
die wirklichen Probleme mit Entschlossenheit und
Augenmaß angegangen, wobei insbesondere den Bedürfnissen des Mittelstandes Rechnung getragen wurde.
Gleiches gilt für die weitere Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Das Ding kann sich sehen lassen.
({15})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst entschuldigen, dass ich zu spät gekommen bin. Das war verkehrsbedingt; in Berlin war die Autobahn gesperrt, und
ich saß im Stau.
Zu dieser Reform ist zu sagen: Der Name „Reform“
ist eine glatte Übertreibung. Es ist keine Reform, sondern ein Steueränderungsgesetz mit guten und schlechten Teilen. Der gute Teil ist einfach zusammengefasst:
Das ist die Tarifsenkung der Körperschaftsteuer um
10 Prozentpunkte auf 15 Prozent. Damit, Herr Finanzminister, geben Sie ausdrücklich zu, dass die Forderung
der FDP nach einer wettbewerbsfähigen Besteuerung in
Europa und in der globalisierten Welt richtig war, dass
wir die deutschen Unternehmen nicht höher besteuern
dürfen, als sie in den anderen Industriestaaten im Durchschnitt besteuert würden. Insofern ist das eine richtige
Entscheidung.
({0})
Aber jetzt kommt der andere Aspekt dieser Steuerreform, nämlich: Sie darf nichts kosten; die Steuersenkung
darf die Haushalte der öffentlichen Hand nicht belasten.
Das ist die Quadratur des Steuerkreises; das ist überhaupt nicht machbar. Weil das nicht machbar ist, kommt
so ein Murks heraus wie der, den Sie uns hier vorlegen.
({1})
Dieser Aspekt führt nämlich dazu, dass Sie, anstatt die
Bemessungsgrundlage zu verbreitern - da ist ja auch
nicht mehr sehr viel übriggeblieben, und an die Bestandteile, die noch da sind, trauen Sie sich nicht heran, beispielsweise die Steuerfreiheit der Sonntags-, Feiertagsund Nachtarbeitszuschläge -, neue Steuertatbestände erfinden. Sie gehen dazu über, systematisch Kostenelemente in die Besteuerungsgrundlage einzubauen, in der
Gewerbesteuer genauso wie in der Körperschaftsteuer
und der Einkommensteuer.
Das hat fatale Auswirkungen;
({2})
denn von der Steuerentlastung wird am Ende nichts
übrig bleiben. Bei den 5 Milliarden Euro, um die sich die
SPD gestritten hat, können Sie ganz ruhig bleiben:
({3})
Es wird ein Steuermehraufkommen geben, keine Steuerentlastung. Nur, das Verheerende an diesen Vorschlägen
ist, dass Sie damit in die Wirtschaftsstrukturen, die Unternehmensstrukturen, die Finanzierungsstrukturen der
Unternehmen eingreifen; Sie behandeln und belasten die
Unternehmen vollkommen unterschiedlich. Das führt
erstens dazu, dass die Unternehmen, die Wirtschaft ihre
Steuerentlastung selbst bezahlen müssen, und zweitens
dazu, dass ausgerechnet die Unternehmen belastet werden, die das auf keinen Fall vertragen können: Die kapitalschwachen, erwerbsschwachen, gewinnschwachen
Unternehmen, die forschungsintensiven Unternehmen,
die jungen Unternehmen, die noch kein Eigenkapital
aufbauen konnten, werden die Zeche bezahlen. Das werden Sie noch bitter bereuen; das sage ich Ihnen.
({4})
Seit wann weiß denn der Finanzminister besser, wie
ein Unternehmen optimal finanziert wird, als das Unternehmen selber? Das ist ein völlig neuer Ansatz. Sie greifen direkt in die Finanzierungsstrukturen der Unternehmen ein.
Ich will ein paar Beispiele nennen, bei denen die negativen Auswirkungen zum Tragen kommen:
Die Handelsunternehmen haben geklagt. Sie haben
im letzten Moment noch einmal geschrieben. Warum die
Klage? Weil die Immobilien der Handelsunternehmen
gemietet oder geleast sind. Nun werden die Miet- und
Leasingkosten Bestandteil der Besteuerungsgrundlage.
Das ist eine fundamentale Belastung für die Handelsunternehmen und wird sich ganz schädlich auch auf den
Ausbau und Erhalt der Innenstädte auswirken.
({5})
Die Leasinggesellschaften verlieren teilweise ihre Existenzgrundlage. Sie haben uns gesagt, sie werden ihren
Sitz ins Ausland verlagern müssen, wenn das umgesetzt
wird, was im Gesetzentwurf steht.
Große Personenunternehmen werden trotz der Thesaurierungsrücklage schlechter als Kapitalgesellschaften behandelt. Die Mittelstandslücke bleibt sehr wohl;
was Herr Meister gesagt hat, stimmt nicht. Der Bundeswirtschaftsminister hat recht, der das auf den Tisch gebracht hat. Natürlich bleibt eine Mittelstandslücke. Sie
wird durch die Veränderungen, die Sie jetzt vorgenommen haben, nur etwas kleiner. Überhaupt bestätigen Sie
durch Ihre Veränderungen, dass unsere Kritikpunkte berechtigt waren. Nur, wenn Sie negative Auswirkungen
reduzieren, bleibt das Ganze ja immer noch negativ; es
wird nichts Positives daraus. Deswegen sind diese Änderungsvorschläge in Ordnung, aber sie lösen das Problem
nicht.
Ich habe von der Mittelstandslücke gesprochen. Aber
die jungen Unternehmen oder Unternehmen in Existenznot, Sanierungsfälle, werden aufgrund der Mantelkaufentscheidungen nicht mehr saniert werden können. Dann
werden die Vermögensgegenstände herausgekauft, das
Unternehmen geht unter, und die Arbeitnehmer bleiben
auf der Strecke. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik.
({6})
Die Aktiensparer werden belastet. Das Investieren ins
Risiko wird nahezu doppelt so hoch besteuert wie das Investieren in risikoarme Zinsprodukte. Dadurch, dass Sie
das Halbeinkünfteverfahren abgeschafft haben, muss der
Aktionär die Dividende versteuern. Diese wird also erst
im Unternehmen mit 30 Prozent besteuert, dann bei der
Ausschüttung noch einmal mit 25 Prozent Abgeltungsteuer. Dann muss man noch den Soli und die Kirchensteuer hinzurechnen. Schon liegt man bei 50 Prozent. Ist
das etwa vernünftig? Mit Ihrer Reform bewirken Sie
eine totale Fehllenkung der Kapitalströme in Deutschland.
({7})
Schließlich bleibt auch der liberale Rechtsstaat auf
der Strecke, weil Sie Ihre Zusage, dass das Kontenabrufverfahren eingestellt wird, nicht einhalten werden. Sie
verschaffen dem Fiskus sogar Vorteile gegenüber anderen Gläubigern, was die Vollstreckung angeht. Denn der
Fiskus kann zugreifen, bevor die anderen Gläubiger informiert sind.
({8})
Abschließend möchte ich sagen: Wir haben der Steuerreform 2000, die unter Rot-Grün und Herrn Eichel auf
den Weg gebracht wurde, zugestimmt und ihr im Bundesrat sogar zur Mehrheit verholfen. Es ist also nicht so,
dass wir kategorisch alles ablehnen, was auf dem Tisch
liegt. Aber dieser Reform können wir nicht zustimmen.
Herr Kollege Meister, wir haben - es ist nicht so, dass
wir nichts vorgelegt haben - einen Entwurf für eine integrierte Reform der Unternehmensteuer sowie der Einkommen- und Lohnsteuer im Bundestag eingebracht; er
liegt nun im Finanzausschuss. Das ist eine echte Reform.
Aber dafür gibt es keine Mehrheit. Deswegen ergibt es
keinen Sinn, weiter darüber zu beraten.
Wir warten auf die nächste Wahl und die nächste Legislaturperiode. Ich sage Ihnen, dass es eine Beteiligung
der FDP an einer Regierung nur geben wird, wenn damit
eine echte Reform in Richtung eines einfachen und verständlichen Steuerrechts verbunden ist, durch die alle
Bürger und Unternehmen entlastet werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Ziel der heute zur Abstimmung vorliegenden Reform der Besteuerung von Unternehmen ab dem
1. Januar 2008 ist es, die Rahmenbedingungen für
Wachstum und Beschäftigung zu verbessern. Denn mit
der Reform wollen wir bestehende Arbeitsplätze sichern
und darüber hinaus neue Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen für Deutschland gewinnen.
Wir wollen die Attraktivität des Investitionsstandortes Deutschland im internationalen Wettbewerb verbessern. Das gelingt uns auch; denn mit der Senkung der
Gesamtsteuerbelastung für Unternehmen um 10 Prozentpunkte auf unter 30 Prozent - genauer gesagt: auf
29,83 Prozent - liegen wir im Vergleich mit den wichtigen Industriestandorten Europas endlich wieder im Mittelfeld:
({0})
Frankreich 33,1 Prozent, Italien 32,8 Prozent und die
Niederlande 31,2 Prozent. Deutschland liegt sogar noch
darunter.
({1})
Das ist das Signal. Unser Fazit lautet daher: Wir haben
das Ziel erreicht.
Bezogen auf die einbehaltenen Gewinne gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Kapitalgesellschaften
einerseits und Personengesellschaften andererseits.
Mit der heutigen Schlussabstimmung ist allerdings
die finanzpolitische Arbeit in Deutschland nicht beendet.
Die Unternehmensteuerreform stellt einen guten und
wichtigen Zwischenstand, aber eben nur einen Zwischenstand dar. Wir halten uns deshalb auch an die Ideen
und Initiativen des Bundeswirtschaftsministers Michael
Glos.
({2})
An dieser Stelle dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Das nächste Ziel in der Finanzpolitik
muss die Senkung der Einkommensteuerbelastung
sein.
({3})
Denn was für die Unternehmensteuerreform 2008
gilt, gilt natürlich auch als Argument für sinkende Einkommensteuern. Eine geringe Steuerlast erhöht erstens
die Investitionsbereitschaft im Mittelstand, der überwiegend im System der Einkommensteuer veranlagt wird,
und zweitens die Attraktivität des Standortes für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Angesichts der überdurchschnittlichen Wachstumsentwicklung und einer erfolgreich fortschreitender Konsolidierung des Bundeshaushaltes geht es an dieser
Stelle nicht um Populismus oder um den großzügigen
Spendieronkel, sondern es geht um die Tatsache, dass
eine Senkung der Einkommensteuerlast auch aus haushalterischen und aus ökonomischen Gesichtspunkten der
einzig richtige Weg ist.
({4})
Bezogen auf die Ihnen heute zur Abstimmung vorliegende Reform der Unternehmensbesteuerung standen
von Anfang an drei Eckpunkte fest:
Erstens. Wir wollten die Gesamtsteuerbelastung auf
unter 30 Prozent senken.
Zweitens. Im Entstehungsjahr waren uns angesichts
des Zieles der Haushaltskonsolidierung keine höheren
Ausfälle als 5 Milliarden Euro möglich, ohne dabei die
kommunale Ebene zu belasten.
Drittens. Wir wollten im Vergleich zu früheren Reformen von Steuersystematiken bereits mindestens ein halbes Jahr vor Inkrafttreten dieser Reform die gesetzgeberischen Arbeiten beendet haben, damit sich die
Wirtschaft und die steuerberatenden Berufe und alle anderen Beteiligten gut auf die neuen Systeme vorbereiten
können.
({5})
Alle diese drei Ziele haben wir erreicht. Wir haben
darüber hinaus im Verlauf der parlamentarischen Beratungen noch an der einen oder anderen Stelle Verbesserungen erzielen können. Mit dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf haben wir für den deutschen Mittelstand,
die landwirtschaftlichen Bereiche sowie investitionsoffensive Branchen wie Forschung und Entwicklung
noch einmal Verbesserungen durchsetzen können. Ich
bedanke mich an dieser Stelle bei allen Beteiligten für
die Arbeiten an den Details, die wir meines Erachtens
zur Zufriedenheit abschließen konnten.
Ich will auf nur wenige Punkte eingehen: Auf der
Seite der Gegenfinanzierung wird die Beschränkung des
Zinsabzugs auf 30 Prozent des Gewinns vor Steuern und
Zinsaufwendungen um die Rechenbasis Steuern, Zinsaufwendungen und Abschreibungen, EBITDA, erweitert. Das ist ein gutes und wichtiges Zeichen, weil wir
der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit Rechnung
tragen, dass Investitionen teilweise auch fremdfinanziert
werden müssen. Insbesondere wird durch diese Veränderung die Wirkung der Zinsschranke für wesentliche
Branchen, auf dem Finanzmarkt für die Leasingbranche,
im Norden für die Werften, aber auch für das Factoring
und Public-Private-Partnership-Projekte, deutlich.
({6})
Bei der Gewerbesteuer ging der Referentenentwurf
pauschal von einer Hinzurechnung von 25 Prozent aller
Zinsen, Skonti und Boni sowie der Finanzierungsanteile
aus Mieten, Pachten und Leasingraten aus. Bei dem pauschalen Satz auf Mobilien konnten wir uns auf einen
niedrigeren Satz, auf einen Satz von 20 Prozent, einigen.
Auch die Einbeziehung von Skonti und Boni ist hier
vom Tisch.
Der Gesetzentwurf sah ursprünglich zudem vor, dass
bilanzierende Betriebe mit einem Betriebsvermögen von
bis zu 210 000 Euro in den Genuss der neuen Investitionsabzugsregelung nach § 7 g EStG kommen. Hier
konnten wir gemeinsam das Größenmerkmal auf
235 000 Euro erhöhen und die Investitionsfrist auf drei
Jahre verlängern. Das ist ein wichtiges Zeichen für den
deutschen Mittelstand.
({7})
Für den Bereich der Landwirtschaft konnte durchgesetzt werden, dass die Betriebsgröße nicht mehr durch
den Wohnungswert des Landwirts beeinflusst wird. Damit wird der relevante Einheitswert in der Regel um
90 Prozent entlastet. Dies ist ebenfalls von nicht unerheblicher Bedeutung für die deutsche Landwirtschaft.
({8})
Trotz dieser guten Ergebnisse unserer Beratungen
bleibt natürlich eine Handvoll von Arbeitsfeldern offen,
Stichwort: Private Equity. Aus Sicht der CDU/CSUBundestagsfraktion sind die vom BMF vorgelegten Eckpunkte zwar ein erster Schritt. Aber die Vorschläge des
BMF markieren erst den Anfang der Debatte und nicht
den Schluss.
({9})
Im Hinblick auf die Stichworte „Verlustverrechnung“
und „Mantelkauf“ muss es aufgrund der zentralen betriebswirtschaftlichen Funktion der Verlustverrechnung
das Ziel sein, die Verluste mindestens in Höhe der vorhandenen stillen Reserve auch in Zukunft nutzbar zu machen, weil wir sonst den Unternehmen die Möglichkeit
zu wichtigen Entwicklungen verwehren. Das kann nicht
unser Ziel sein, wenn wir für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland sind.
({10})
Bezogen auf das Thema „Funktionsverlagerung“ haben wir selbstverständlich Verständnis für weltweit abgestimmte Verfahren. Aber wir haben in der Vergangenheit richtig gehandelt, wenn wir europäische Richtlinien
an keiner einzigen Stelle über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus umgesetzt haben. Deshalb werden wir in
Zukunft gemeinsam mit dem Bundesrat darauf achten, in
diesem Punkt keinen deutschen Sonderweg zuzulassen.
({11})
Stichwort Erbschaftsteuer. Die Ihnen vorliegende
Entschließung setzt den Rahmen für die weiteren Beratungen. Der Kollege Poß hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Länderfinanzminister auf ihrer Jahrestagung die Arbeiten abschließen werden. Aber eines ist für
die CSU/CDU-Bundestagsfraktion klar: Mehreinnahmen aus der Erbschaftsteuer haben wir nicht vereinbart;
der Text der Koalitionsvereinbarung lautet anders.
({12})
Last, but not least, bleibt - insbesondere, aber nicht
nur im Zusammenhang mit der Veränderung der Grenze
dafür, was geringwertige Wirtschaftsgüter sind - das
Thema Bürokratieabbau aktuell. Daran werden wir uns
heute nicht messen lassen können, weil wir eine Gegenfinanzierung brauchten. Aber die Frage des Abbaus von
Bürokratie im deutschen Steuersystem wird uns auch in
Zukunft beschäftigen.
({13})
Ich will zum Schluss nochmals betonen: Neben den
erfolgreichen Arbeiten an der Unternehmensbesteuerung
steht unserer Auffassung nach angesichts verbesserter
Konjunktur- und Haushaltslage eine Senkung der Einkommensteuer - entweder über die Anpassung der
Freibeträge oder über die Senkung des Eingangssteuersatzes - auf der Tagesordnung.
({14})
Gerade während der jetzigen, positiven konjunkturellen
Lage ist es nicht nur möglich, sondern auch nötig, beide
Ziele - die Konsolidierung des Staatshaushalts einerseits
und eine Entlastung der Bürger durch eine Senkung der
Einkommensteuer andererseits - weiter zu verfolgen.
Dies müssen wir zumindest beginnen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Vor dem
Hintergrund dessen, dass angesichts der Steuermehreinnahmen mittlerweile Wunschlisten kursieren, möchte ich
für die CSU-Landesgruppe festhalten: Wir sind eher daran interessiert, eine Diskussion über zukünftige Steuersätze zu führen
Herr Kollege!
- als eine Debatte über weitere Ausgabenerhöhungen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist sicherlich keine prägende Eigenschaft des Kollegen Fahrenschon, den ich als sachlichen und sachkundigen Mitkämpfer auf allen Steuergebieten, insbesondere
auf dem Gebiet der Unternehmensteuern, sehr schätze,
({0})
mit einer Friedenspalme herumzulaufen. Eher fordert er
uns zu neuen Auseinandersetzungen heraus. Deswegen
möchte ich zunächst einmal anmerken: Wir sollten froh
und glücklich sein, dass wir diese bedeutende Reform
der Großen Koalition - im Gegensatz zu manch anderen
Reformen - in dieser Legislaturperiode sachorientiert,
konstruktiv, still und leise und im Ergebnis gut über die
Bühne gebracht haben.
({1})
Reinhard Schultz ({2})
Natürlich, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Ich
werde keine Prognosen darüber abgeben, ob in der Mitte
des nächsten Jahrzehnts noch einmal über die Einkommensteuer geredet wird oder, gegebenenfalls früher, über
die Belastung von Arbeitnehmern durch Sozialversicherungsbeiträge. Was ich allerdings schon sagen kann, ist:
Im Zusammenhang mit Private Equity wird es mit
Sicherheit nicht dazu kommen, dass durch unternehmerische Entscheidungen initiierte große Verluste über das
Steuerrecht und somit durch die Gemeinschaft, durch
den Fiskus abgesichert werden. Das wird nicht passieren.
({3})
Das zur Abgrenzung des Terrains und der Claims.
Ich glaube, dass die Unternehmensteuerreform eine
steuerpolitische Antwort auf die Globalisierung ist,
ähnlich wie die Reform der Sozialversicherungssysteme
eine Antwort auf die Herausforderung des veränderten
Altersaufbaus ist. Erst durch die Globalisierung, durch
global aufgestellte Unternehmen und durch den Steuerwettbewerb einzelner Länder konnte es zu Verschiebebahnhöfen kommen, wurden die Unternehmen in die
Lage versetzt zu entscheiden, wo sie Steuern bezahlen
wollen. Wir wollen die Internationalisierung unserer
Wirtschaft, wir sind stolz auf ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Aber wir wollen auch, dass sich erfolgreiche deutsche
Konzerne an der Finanzierung der Staatsausgaben angemessen beteiligen.
({4})
Ich denke, das erreichen wir mit dieser Steuerreform.
Für die willkürliche Fremdfinanzierung schaffen wir
Grenzen und Regeln.
({5})
- Wenn sich Herr Scholz und Ihr Fraktionsvorsitzender
etwas zu erzählen haben, höre ich natürlich gerne zu.
({6})
- Es wird schon wichtig sein; das denke ich mir auch.
Durch die vernünftige Bewertung der in das Ausland
verbrachten Patente und Verfahren sowie durch eine
Nachbesteuerung von Nutzungsrechten und Lizenzgeschäften ziehen wir Grenzen ein. Wir erreichen dadurch,
dass alle, Bund, Städte und Gemeinden, von den wirtschaftlichen Früchten der Globalisierung profitieren und
nicht einige arm und nackt am Rande stehen, während
andere sich ausschließlich privat bereichern.
({7})
Wir wissen, dass es einen weltweiten Steuerwettbewerb zwischen den Wirtschaftsstandorten gibt. Deswegen stehen wir zur Unternehmensteuerreform und zur
Senkung des Steuersatzes auf unter 30 Prozent. Auch ich
glaube, dass wir mit einem Steuersatz von unter
30 Prozent auf einem guten Mittelfeldplatz liegen. Angesichts unserer Infrastruktur, der Qualifikation unserer
Arbeitskräfte und der Sicherheit in diesem Land ist
Deutschland insgesamt gesehen sehr attraktiv, und zwar
sowohl für deutsche Unternehmen als auch für ausländische Investoren.
Wir wissen, dass die Körperschaftsteuer gestaltungsanfällig ist und auch künftig unter Wettbewerbsdruck
stehen wird. Deswegen haben wir die Verhältnisse zwischen Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer umgekehrt. Wir haben die Gewerbesteuer aufgebohrt und zur
eigentlichen Unternehmensteuer gemacht. Das ist die
große strukturelle Veränderung, die wir mit der Unternehmensteuerreform vornehmen.
({8})
Durch maßvolle Hinzurechnung von Zinsen, Pachten,
Leasingraten und Lizenzgebühren haben wir die Gewerbesteuer weitgehend konjunkturunanfällig gemacht. Wir
haben stabile finanzwirtschaftliche Rahmenbedingungen
für unsere Städte und Gemeinden geschaffen.
({9})
Bedenken wir, dass sich im Jahr 2005, vor der Bundestagswahl, die großen politischen Lager gegenüberstanden, von denen eines die Gewerbesteuer vollständig
abschaffen wollte. Darüber kann man sich heute eigentlich nur noch die Augen reiben. Die Gewerbesteuer wird
so stark sein wie noch nie. Angesichts ihrer Bedeutung
für das Steueraufkommen insgesamt wird sie in den
nächsten Jahrzehnten nicht so schnell wieder zur Disposition gestellt werden können. Auch das ist ein ganz
wichtiges Ergebnis dieser Operation.
({10})
Die deutschen Unternehmen brauchen eine bessere
Eigenkapitalausstattung und mehr Investitionskraft.
Das gilt insbesondere für den Mittelstand, und zwar sowohl für die Körperschaften als auch für die Personenunternehmen. Das, was wir zustande gebracht haben, die
verbesserte Besteuerung thesaurierter Gewinne von Körperschaften und Personenunternehmen, ist eine Einladung zum Investieren. Durch den Investitionsabzugsbetrag haben wir ferner dafür gesorgt, dass nicht so
ertragsstarke Unternehmen leichter investieren können.
Auch das ist eine Strukturreform.
Personenunternehmen sind von der Gewerbesteuer
in Zukunft so gut wie überhaupt nicht mehr betroffen.
Sofern man Einkommensteuerzahler ist, wird sie vollständig neutralisiert. Auch das ist ein Ergebnis, das man
den Unternehmen einmal offen mitteilen sollte.
({11})
Der Mittelstand ist Gewinner der Unternehmensteuerreform. Er wird echt und dauerhaft entlastet. Manche,
insbesondere die FDP, sprechen von der sogenannten
„Mittelstandslücke“. Sie entpuppt sich bei näherer Betrachtung als demagogischer Flop.
({12})
Reinhard Schultz ({13})
Mit der Unternehmensteuerreform haben wir insgesamt 30 Milliarden Euro umgeschichtet. Wir haben
30 Milliarden Euro in die Steuersatzsenkung gesteckt.
25 Milliarden Euro haben wir aufwachsend in die Gegenfinanzierung gesteckt. Dabei mussten natürlich
Operationen vorgenommen werden, die sich für einige
Betroffene zunächst einmal unangenehm auswirken können. Ich sage aber ganz deutlich: In einer wachsenden,
stabilen Konjunktur, bei einem Aufschwung, wie wir ihn
zurzeit erleben, ist es angesichts sehr niedriger Steuersätze nicht zwingend erforderlich, Investitionen durch
die Aufrechterhaltung der degressiven Abschreibung zu
fördern. Bei einem solchen Aufschwung finanzieren sich
Investitionen selbst.
({14})
Das ist auch keine Aussage bis ans Ende aller Tage, aber
im Rahmen eines Aufschwungs - da bin ich ein alter
Keynesianer - ist es nicht zwingend erforderlich. Da ist
der niedrige Steuersatz die zentrale Einladung.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Ich denke: Starkes Wirtschaftswachstum, starke
Unternehmen, steigendes Eigenkapital, hohe Investitionen, mehr Beschäftigung und zugleich stabile öffentliche
Haushalte und gut ausgestattete Städte und Gemeinden das ist ein Bild von einer schönen Zukunft für unser
Land. Dazu trägt die Unternehmensteuerreform entscheidend bei.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt
noch einen Redner mit neun Minuten Redezeit. Im Saal
sind genügend Plätze für alle Kolleginnen und Kollegen
vorhanden. Diejenigen, die sich unterhalten wollen, mögen das bitte außerhalb des Saales tun.
Ich gebe dem letzten Redner, dem Kollegen Otto
Bernhardt, CDU/CSU, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir verabschieden heute eines der ganz großen
Reformvorhaben der Großen Koalition.
({0})
Ich habe in dieser Debatte in den Beiträgen der Redner
der drei Oppositionsfraktionen keine schlüssige Alternative zu unserem Reformprojekt gehört.
({1})
Es reicht nicht, Herr Kollege Solms, sich hierhin zu stellen und zu sagen: Die Senkung der Körperschaftsteuer
von 25 auf 15 Prozent tragen wir mit - Sie wissen, dass
das 20 Milliarden Euro kostet -, die Gegenfinanzierung
aber nicht. Das ist keine verantwortungsvolle Politik. Ich
bin von den Freien Demokraten tief enttäuscht.
({2})
Wir standen vor folgender schwierigen Frage: Sie
wissen, dass wir in Deutschland mit einer nominellen
Besteuerung von circa 39 Prozent die Spitzenposition in
Europa haben. Sie kennen die Veröffentlichungen des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die besagen, dass dieser Tatbestand dazu führt, dass Gewinne in
Höhe von etwa 100 Milliarden Euro in Deutschland entstehen, aber nicht in Deutschland versteuert werden. Vor
diesem Hintergrund war es notwendig - ich glaube, das
wird hier mit Ausnahme der Linken von niemandem bezweifelt -, die nominellen Steuersätze auf unter
30 Prozent zu senken.
Wir sind uns sicher einig, dass wir diese Vergünstigung auch auf die Personengesellschaften übertragen
müssen. Diese beiden Wohltaten - Kollege Poß hat darauf hingewiesen - kosten Steuerausfälle in Höhe von
30 Milliarden Euro. Das ist nicht finanzierbar. Wir haben
von Anfang an gesagt: Das Ziel „Sanierung der öffentlichen Finanzen“ hat eine hohe Bedeutung. Deshalb haben
wir uns in der Großen Koalition geeinigt, von diesen
30 Milliarden Euro 25 Milliarden Euro gegenzufinanzieren; so nennen es die Fachleute. Das war eine schwierige
Aufgabe. Ich finde, es ist eine tolle Leistung, dass es der
Großen Koalition gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen
und heute ein Reformwerk vorzulegen, das nur die vereinbarten Steuerverluste in Höhe von 5 Milliarden Euro
mit sich bringt.
({3})
Ich habe in der ersten Lesung von dieser Stelle aus für
meine Fraktion gesagt, dass wir bei fünf Punkten Diskussionsbedarf haben. Ich kann heute sagen, dass wir bei
all diesen fünf Punkten zu Veränderungen gekommen
sind, ohne die 5 Milliarden Euro infrage zu stellen. Die
entscheidende Veränderung bezog sich auf das Instrument der Zinsschranke. Es ist nicht so, dass es dieses
Instrument im Rest der Welt nicht gibt - ganz im Gegenteil -, aber die ursprüngliche Form brachte die Gefahr
mit sich, dass Firmen, die besonders viel investieren,
„bestraft“ werden. Deshalb haben wir in die Bemessungsgrundlage die Abschreibung mit einbezogen. Das
war der Wunsch der Fachwelt. Ich glaube, nun kann man
mit der Zinsschranke einigermaßen leben.
({4})
Zweiter Punkt. Wir alle waren entsetzt über die hohen
Bürokratiekosten, die im ursprünglichen Entwurf genannt worden sind. Ich kann heute die Aussage machen,
({5})
dass das neue Gesetz zu weniger Bürokratiekosten führt
als die jetzige Rechtslage. Das ist ein hervorragendes Ergebnis, auf das wir von der Großen Koalition stolz sind.
({6})
Dritter Punkt. Ich kann das Thema Mittelstandslücke
nicht mehr hören.
({7})
Es entspricht nicht den Tatsachen. Das wird auch durch
Wiederholungen nicht wahr. Das Europäische Zentrum
für Wirtschaftsforschung - nicht wir, nicht die Sozialdemokraten - hat ganz klar gesagt: Diese Steuerreform
kommt im Wesentlichen gerade dem Mittelstand zugute,
weil die Gegenfinanzierungsmaßnahmen den Mittelstand nicht treffen. Wir haben die Maßnahmen für den
Mittelstand weiter verbessert. Vor diesem Hintergrund
ist dies ein mittelstandsfreundliches Gesetz. Darauf legen wir Wert. Sonst hätten unsere Mittelständler nicht
zugestimmt.
({8})
Der vierte Punkt ist ein sehr schwieriger. Er betrifft
die Frage der Vernichtung von Verlustvorträgen. Hier
haben wir ein Spezialproblem. Das bezieht sich auf
Wagniskapital bei Existenzgründungen und Unternehmungen, die für Wagniskapital infrage kommen. Wir
werden im Private-Equity-Gesetz die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass in diesen Fällen die
Verlustvorträge erhalten bleiben, wie sie auch bei Sanierungen erhalten bleiben; auch das haben wir geregelt.
Letzter Punkt, die Funktionsverlagerung. Hierzu haben wir uns innerhalb der Großen Koalition darauf geeinigt - so steht es im Bericht des Finanzausschusses -,
dass sich die deutschen Maßstäbe für die Funktionsverlagerung am europäischen Standard zu orientieren haben. Ich glaube, auch damit kann man hervorragend
leben.
({9})
Meine Damen und Herren, ich glaube allerdings, dass
Frau Professor Hey Recht hat, wenn sie in einem Kommentar schreibt: Diese Steuersenkungen geben uns nur
einen Freiraum für einige Jahre. - Sie können jetzt schon
feststellen, dass andere europäische Länder folgen. Vor
diesem Hintergrund unterstützen wir das Bemühen des
Bundesfinanzministers, innerhalb der EU dafür zu sorgen, dass die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung
und möglichst auch die Steuersätze in einem bestimmten
Rahmen festgelegt werden. Auf Dauer können wir die
Sätze nicht weiter senken. Sonst werden wir mit dem
Ziel der Staatssanierung in Konflikt kommen.
({10})
Das ist ein sehr wichtiger Punkt für alle weiteren Überlegungen.
Zwei große Ziele haben wir mit diesem Gesetz erreicht, ein drittes nicht: Wir haben erstens erreicht, dass
die Steuersätze in Deutschland für Firmen jetzt im europäischen Standard liegen. Wir haben zweitens erreicht,
dass wir mit der Abgeltungsteuer ein modernes Instrument für die Besteuerung von Kapitalerträgen haben.
Ein drittes Ziel haben wir nicht erreicht, und da ist die
Kritik berechtigt. Wir wollten eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer und für die
Gewerbesteuer schaffen. Aber die Meinungen innerhalb
der Großen Koalition gingen zu weit auseinander, um zu
einer entsprechenden Lösung zu kommen; dies bedauern
wir. Aber ein Gesetz darf auch einen Schönheitsfehler
haben, wenn der Rest in Ordnung ist.
Ich stelle abschließend fest: Die Große Koalition legt
heute ein zukunftsweisendes Konzept zur Unternehmensbesteuerung vor. Dieses Konzept wird den Wirtschaftsstandort Deutschland weiter stärken. Es ist letztlich ein Beitrag zur Sicherung vorhandener und zur
Schaffung neuer Arbeitsplätze.
({11})
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD sowie von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwürfe eines Unterneh-
mensteuerreformgesetzes 2008. Zu dieser Abstimmung
liegt uns eine Vielzahl persönlicher Erklärungen nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/5452, die ge-
nannten Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD auf Drucksache 16/4841 sowie der Bundes-
regierung auf Drucksache 16/5377 zusammenzuführen
und als Entwurf eines Unternehmensteuerreformgeset-
zes 2008 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD verlangen namentliche Abstimmung. Ich
weise darauf hin, dass nach dieser namentlichen Abstim-
mung weitere Abstimmungen folgen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
1) Anlagen 4 bis 9
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze
einzunehmen, weil ich die Abstimmungen fortsetzen
möchte. - Das gilt auch für die Kolleginnen und Kolle-
gen vor der Bank der CDU/CSU.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5480? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/
CSU bei Gegenstimmen der FDP und einiger der Frak-
tion Die Linke sowie Enthaltung einiger der Fraktion
Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/5481? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung der FDP gegen die Stimmen des Rests
des Hauses abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 16/5452
fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/5452 die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/5249 mit dem Titel „Unternehmen leistungsge-
recht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stär-
ken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4857 mit dem Titel „Unternehmen leis-
tungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen
Hand stärken“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/4855 mit dem Titel „Unternehmensteuerreform
für Investitionen und Arbeitsplätze“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der
CDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die
Grünen und Enthaltung der FDP angenommen.
1) Ergebnis siehe Seite 10835 C
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5452 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/4310 mit dem Titel „Verlässliche und aussagekräftige Datenbasis für die Ermittlung der Unternehmensteuern erfassen“. - Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
„Demographischer Wandel und nachhaltige
Infrastrukturplanung“
- Drucksache 16/4900 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung ist dem Parlamentarischen Beirat
dafür dankbar, dass er sich dem wichtigen Thema „Demografischer Wandel“ zugewandt und dem Bundestag
einen Bericht vorgelegt hat.
Wenngleich sich der Bericht mit seinen Empfehlungen auf die nachhaltige Infrastrukturplanung - also
Stadt- und Raumentwicklung, Mobilität und technische,
leitungsgebundene Infrastruktur - konzentriert, so will
ich von Beginn an unterstreichen, dass eine erfolgreiche
Gestaltung des demografischen Wandels nur dann gelingt, wenn sie politik-, ressort- und ebenenübergreifend
erfolgt. Sie muss auf der Grundlage eines Gesamtkonzepts stattfinden.
({0})
Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Prognose der Bevölkerungsentwicklung bis 2050 sind besorgniserregend. Sie gehen davon aus, dass die Bevölkerung in ganz Deutschland bei Fortsetzung der aktuellen
demografischen Entwicklung von fast 82,5 Millionen
Einwohnern im Jahr 2005 auf bis zu knapp 69 Millionen
Einwohner im Jahr 2050 abnehmen wird. In den alten
Ländern wird eine Abnahme um 14 Prozent erwartet.
Ein besonders dramatischer Bevölkerungsrückgang ist in
den neuen Ländern abzusehen. Bis 2050 - so die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes - wird von einem weiteren Rückgang um fast ein Drittel ausgegangen. Ausgehend vom Zeitpunkt der Wiedervereinigung würde sich
damit die Bevölkerungszahl in den neuen Bundesländern
bis 2050 halbieren.
Der allgemeine Bevölkerungsrückgang geht mit einem deutlichen Rückgang der Zahl der Menschen im
erwerbsfähigen Alter einher. 2050 wird nach den Prognosen nur noch etwa jeder zweite Einwohner im erwerbsfähigen Alter sein. In Ostdeutschland werden dann
auf 100 Erwerbsfähige nicht mehr wie heute 35, sondern
80 Rentnerinnen und Rentner kommen.
Parallel zum Bevölkerungsrückgang und zur Alterung
werden weiterhin innerdeutsche Wanderungen zwischen den alten und den neuen Ländern sowie innerhalb
der einzelnen Länder mit einem Wanderungsgewinn zugunsten wachstumsstärkerer Regionen stattfinden. Dieser Trend wird die Problemlage in den peripheren Regionen zusätzlich verschärfen. Die Siedlungsdichte in den
ländlichen Regionen wird weiter abnehmen, was unmittelbare Konsequenzen für die Wirtschaftlichkeit, Tragfähigkeit und Erreichbarkeit der verkehrlichen, technischen und sozialen Infrastrukturen vor Ort hat.
Alle diese Fakten liegen vor. Wir haben also - und
zwar schon seit geraumer Zeit - kein Erkenntnisproblem
mehr. Dennoch werden sich diese langfristigen Entwicklungen auch durch eine noch so erfolgreiche Politik
kaum verhindern, sondern nur abmildern lassen. Erst in
einer sehr langfristigen Perspektive könnte erfolgreiche
Politik zu einer Trendwende hin zu einer höheren Geburtenrate und damit zu einem Sinken des Durchschnittsalters führen. Entscheidende Voraussetzung dafür bleibt
aber, dass die Menschen in unserem Land Zutrauen in
die Politik, in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft
und mithin auch in ihre eigene Lebensplanung haben.
Unsere Politik muss unter dem Primat des sozialen
und regionalen Zusammenhalts in unserer Gesellschaft
eine Doppelstrategie verfolgen: Einerseits müssen wir
uns damit beschäftigen, wie wir Strukturen der
Daseinsvorsorge bündeln und anpassen und dabei noch
kreativere, flexiblere und mobilere Lösungen einsetzen
können. Dazu werden wir unser raumordnerisches Prinzip der zentralen Orte fortentwickeln und mehr regionale
Kooperationen der Leistungserbringer in der Daseinsvorsorge vor Ort anregen. Mit dem Beschluss der Raumordnungsministerkonferenz im vergangenen Jahr zu den
neuen Leitbildern der Raumordnung haben wir einen
ersten Schritt in diese Richtung unternommen.
Darüber hinaus hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in den vergangenen Jahren bereits seine Programme und Modellprojekte auf
diese neue Zielsetzung ausgerichtet. Ich nenne zum Beispiel die Städtebauförderung und die Stärkung der Innenstädte, den Stadtumbau Ost und West mit der Fördermöglichkeit des Rückbaus technischer Infrastrukturen,
die Programme Soziale Stadt und Experimenteller Wohnungs- und Städtebau, bei denen es um kind-, alters- und
familiengerechte Städte geht, alternative ÖPNV- und
Mobilitätskonzepte und neue Anforderungen an die Verkehrssicherheit und Fahrzeugtechnik im Zuge der Alterung der Bevölkerung.
({1})
Im Sommer 2007 wird das BMVBS zudem mit zwei
von der demografischen Entwicklung besonders betroffenen Regionen in den neuen Ländern ein Projekt zur
Zukunftsgestaltung der Daseinsvorsorge in diesen Gebieten starten. Dieses Projekt findet bereits großen Zuspruch und soll Best-Practice-Ansätze für andere Regionen in den alten und den neuen Ländern liefern.
Ferner hält die Bundesregierung an ihrem Ziel fest,
dass 2008 bei 98 Prozent aller deutschen Haushalte
breitbandiger Internetzugang über Festnetz, Kabel oder
terrestrische Funktechnologie möglich sein soll. Trotz
einer bereits heute hohen Gesamtverfügbarkeit haben
immer noch über 1 Million Haushalte in Deutschland
keine kostengünstige Breitbandanschlussmöglichkeit.
Fast 700 Gemeinden sind nur über Satellit mit breitbandigem Internet versorgbar. Jetzt geht es um die ländlichen Regionen, die sogenannten weißen Flecken. Die
Bundesregierung wird zur weiteren Erschließung Unterstützung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel anbieten; ich denke zum Beispiel an die Strukturund Regionalfonds der EU. Denn Breitbandzugänge ermöglichen eine bessere Teilnahme aller Bürgerinnen und
Bürger an unserer Informations- und Wissensgesellschaft. Das wird immer wichtiger.
Ich habe von einer Doppelstrategie gesprochen. Deshalb will ich auch den zweiten Ansatz schildern. Wir
müssen mit unserer Infrastrukturpolitik aktive Standortpolitik im Interesse der Regionen und ihrer Zukunftsfähigkeit betreiben. Die Aufwertung der Städte und Regionen, die Stärkung der Wachstumszentren und die
Anbindung der sie umgebenden Regionen sind im globalen Wettbewerb wirtschafts- und gesellschaftspolitisch
von höchster Priorität.
Städte und Regionen sind Zentren der Innovation und
konzentrieren die Stärken Deutschlands im internationalen Wettbewerb. Ohne lebenswerte Städte und Regionen
mit einer attraktiven Infrastruktur werden wichtige Rahmenbedingungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung und für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in unserem Land nicht mehr erfüllt. Das gilt
für die Entwicklung ansässiger und die Gewinnung
neuer Unternehmen genauso wie für das Halten und das
Gewinnen von Fachkräften.
Die vielfältigen Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung sind vielerorts als Tatsachen anerkannt. Als
kontinuierlicher Prozess erfordert dies aber ständig neue
Antworten, die langfristig orientierte Strategien, Konzepte und Maßnahmen immer wieder auf den Prüfstand
stellen. Alle Politikfelder und -ebenen einschließlich ihrer Investitions- und Förderinstrumente müssen demografiefest gemacht werden. Die Überprüfung dieser
Instrumente muss in immer kürzeren Abständen stattfinden, weil sich immer schneller Trends entwickeln, die in
diese Prognosen eingearbeitet werden müssen; sonst gehen wir in die falsche Richtung. Anpassungen und Umbau müssen schrittweise, aber mit zunehmender Verbindlichkeit und fachlicher Integration angegangen
werden. Die Bündelung von Kräften, die Qualitätssicherung und die regionale Anpassung der Infrastruktur rücken dabei in den Mittelpunkt.
Die Bundesregierung hat bereits eine Vielzahl der
Empfehlungen des Parlamentarischen Beirats aufgegriffen und wird diese in Zukunft weiterhin aktiv bearbeiten.
Gerade die Infrastrukturpolitik wird im Interesse der
Nachhaltigkeit weiterhin ihren Beitrag sowohl für Anpassungs- wie auch für Präventionsstrategien leisten.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({2})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 30 a und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Entwurf des Unternehmensteuerreformgesetzes
2008 bekannt: Abgegebene Stimmen: 557. Mit Ja haben
gestimmt: 391. Mit Nein haben gestimmt: 149. Enthaltungen: 17. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 557;
davon
ja: 391
nein: 149
enthalten: 17
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Holger Haibach
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({9})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({10})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({11})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Hildegard Müller
Carsten Müller
({12})
Stefan Müller ({13})
Bernward Müller ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({15})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({16})
Hermann-Josef Scharf
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({17})
Andreas Schmidt ({18})
Ingo Schmitt ({19})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Max Straubinger
Thomas Strobl ({20})
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({21})
Gerald Weiß ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({23})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({24})
Volker Blumentritt
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({25})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({26})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({27})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({28})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({29})
Frank Hofmann ({30})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({31})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({32})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({33})
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({34})
Michael Müller ({35})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({36})
Maik Reichel
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Karin Roth ({37})
Michael Roth ({38})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({39})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({40})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt ({41})
Silvia Schmidt ({42})
Renate Schmidt ({43})
Heinz Schmitt ({44})
Carsten Schneider ({45})
Olaf Scholz
({46})
Swen Schulz ({47})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({48})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({49})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Nein
SPD
Ottmar Schreiner
Rüdiger Veit
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({50})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({51})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({52})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({53})
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Dirk Niebel
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Hans-Joachim Otto
({54})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Marina Schuster
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({55})
Martin Zeil
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Heike Hänsel
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({56})
Volker Schneider
({57})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({58})
Cornelia Behm
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({59})
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({60})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({61})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({62})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({63})
Fraktionslose Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Enthaltung
CDU/CSU
Dr. Peter Jahr
Friedrich Merz
SPD
Niels Annen
Willi Brase
Gabriele Groneberg
Reinhold Hemker
Gabriele Hiller-Ohm
Jürgen Kucharczyk
Helga Lopez
Gerold Reichenbach
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Andreas Steppuhn
Christoph Strässer
Dr. Wolfgang Wodarg
Damit kommen wir zurück zur Debatte. Ich erteile
das Wort dem Kollegen Patrick Döring für die FDPFraktion.
({64})
Frau Präsidentin, herzlichen Dank! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erneute Einrichtung und Vergrößerung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung zu Beginn dieser Legislaturperiode war
- wenn ich das richtig überblickt habe - nicht von Anfang an unumstritten. Ich denke aber, mit dem ersten Bericht über unsere Arbeit haben wir deutlich gemacht,
dass es bei einem solch wichtigen Thema über alle Fraktionsgrenzen hinweg - der Herr Staatssekretär hat das
angedeutet - tatsächlich zu gemeinsamen Positionen in
Bezug darauf kommen kann, wie wir zukünftig die demografische Entwicklung und die Planung und Umplanung unserer Infrastruktur in Deutschland aufeinander
abstimmen können. Ich glaube, das ist schon einmal ein
gutes Ergebnis.
({0})
Ich will nicht verschweigen, dass es bei der Ausgestaltung im Detail natürlich zwischen den Fraktionen
Unterschiede geben wird. Diese erste Debatte und die
weitere Debatte in den Fachausschüssen werden aber
deutlich machen, dass wir an vielem über die Fraktionsgrenzen hinweg weiter gemeinsam arbeiten werden.
Wir haben bisher die demografische Entwicklung
- der Staatssekretär hat gesagt, wir hätten an dieser
Stelle kein Erkenntnisproblem; darin stimme ich ihm
ausdrücklich zu - überwiegend unter sozialpolitischen
Aspekten betrachtet. Uns ist es besonders wichtig, dass
wir erkennen, dass wir die technische Infrastruktur
und die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland in den
langen Planungsräumen, in denen wir arbeiten, wahrscheinlich nicht an diese Entwicklung anpassen werden
können. Ich beginne mit dem Bundesverkehrswegeplan.
Es ist fraglich, ob dieses Instrument mit seinen langen
Planungszeiträumen noch geeignet ist, wirksam auf die
Anforderungen wachsender und schrumpfender Regionen, wachsender und schrumpfender Städte zu reagieren.
Ich fände es spannend, wenn wir auch darüber im Fachausschuss diskutierten.
({1})
Das Gleiche gilt für die Entwicklung in unseren Städten. Wir haben wachsende und schrumpfende Städte in
ganz unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Wir ha10388
ben besondere Probleme in den Ballungsräumen in
Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig gibt es sich entleerende ländliche Räume in einigen Regionen. Aus meiner früheren kommunalpolitischen Tätigkeit möchte ich
ein Beispiel nennen: Während wir in der Landeshauptstadt Hannover noch darüber diskutiert haben, ob
die U-Bahn alle vier oder alle fünf Minuten fahren soll,
gab es 20 Kilometer weiter gar keinen Nahverkehr mehr.
Diese Disparitäten, diese Zerklüftungen gilt es ebenfalls,
durch Politik zu überwinden.
Wir werden darauf achten müssen, dass die ländlichen Räume weiter angebunden und versorgt sind. Bei
aller Harmonie haben wir an dieser Stelle häufig kontrovers diskutiert. Der Kollege Scheuer, der einen ländlichen Wahlkreis hat, hat oft die Fahne des ländlichen
Raumes hochgehalten, wie wir meinen: zu Recht.
({2})
Denn wir kommen in die Situation, dass viele unserer
starren Verkehrssysteme insbesondere im öffentlichen
Personennahverkehr wahrscheinlich nicht mehr in allen
ländlichen Regionen kostengünstig aufrechterhalten
werden können. Wir müssen uns daher fragen - Stichwort „Regionalisierungsmittel“ -, ob man mit den dafür
verwendeten Mitteln nicht eine andere Art Verkehr im
ländlichen Raum organisieren kann. Auch das wird eine
Herausforderung in den nächsten Diskussionen in diesem Haus sein.
({3})
Kommen wir zur Entwicklung unserer Städte. Der
Herr Staatssekretär hat gestern darauf hingewiesen, dass
wir mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz gemeinsam
viel für die innere Entwicklung auf den Weg gebracht
haben. Der Trend zur Reurbanisierung in unserem
Land ist nur zu begrüßen. Wir stellen fest, dass inzwischen drei von fünf Europäern in Städten wohnen und
dass wir in Deutschland in den letzten Jahren vielleicht
beim Thema innerstädtische Entwicklung ein bisschen
hinterhergehinkt sind. Auch das macht der vorliegende
Bericht deutlich. Viele der laufenden Programme wurden bereits angesprochen. Die Sorge meiner Fraktion ist,
dass wir bei einigen dieser Programme zu sehr auf die
Kommunen und die kommunalen Unternehmen schauen
und zu wenig auf die eigentlich wichtigen Akteure in unseren Städten, auf Handel, Gewerbe sowie private Wohnungs- und Immobilienbesitzer.
({4})
Ich persönlich bin der Auffassung: Die drei Säulen
der Nachhaltigkeit - Ökonomie, Ökologie und Soziales sind in kaum einem anderen Wirtschaftszweig so eng
miteinander verzahnt wie in der Wohnungswirtschaft;
denn kein Mieter hat ein Interesse daran, in einem abgleitenden Stadtteil zu wohnen und zu bleiben. Deshalb
entwickeln sich gerade die Quartiere, die wir zurzeit mit
einem hohen staatlichen Anteil aufwerten wollen, eher
zu Bürgerquartieren. Ich weise aber in dieser politischen
Debatte darauf hin, dass das Miteinander von einzelnen,
kleinteilig agierenden Akteuren und Kommunalpolitik
vom Bund bestenfalls angestoßen und finanziell gefördert werden kann, dass aber das Leben von dieser
Kooperation vor Ort gestaltet werden muss.
({5})
Wenn wir es schaffen, die vorhandenen Programme
so umzubauen, dass wir mit ihnen die Ziele erreichen,
die wir in dem vorliegenden Bericht versucht haben zu
skizzieren, wenn wir anerkennen - das haben wir gestern
überwiegend einmütig besprochen -, dass Subsidiarität
und kommunale Eigenverantwortung gewahrt bleiben
müssen, wenn wir darauf achten, dass unsere Förderinstrumente nicht einseitig einen Akteur oder einen Verkehrsträger motivieren, sich zu entwickeln, sondern für
die Entwicklung neuer, flexibler Systeme insbesondere
für den ländlichen Raum in den Bereichen Schiene und
Straße sorgen, und wenn wir die Belange der Akteure in
den Städten, im Wohnungswesen sowie in Handel und
Gewerbe berücksichtigen, wird es uns gelingen, unsere
Infrastruktur nachhaltiger zu entwickeln. Das ist das
Ziel, und das ist das Ziel auch meiner Fraktion.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Scheuer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorneweg muss man für die Öffentlichkeit sagen:
Wir haben mit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ein Gremium, das manchmal außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit Arbeitsberichte
vorlegt. Man muss dazu sagen, dass es viele Gremien im
Deutschen Bundestag gibt, die über den nächsten Wahltag hinaus schauen. Die Stellungnahmen und Arbeitsberichte, die wir vorlegen, sind kein Selbstzweck. Wir sitzen auf diesen schönen Stühlen nicht unsere Zeit ab und
beschäftigen uns nicht mit uns selbst, sondern wir versuchen, für die Bürgerinnen und Bürger das Beste zu erreichen. Dazu gehört die demokratische Streitkultur. Der
Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist
aber ein Gremium, in dem fraktionsübergreifend versucht wird, Kompromisse zu schließen und gemeinsame
Arbeitsberichte vorzulegen.
({0})
- Frau Bulling-Schröter, wenn da ein „Aha“ von der
Linksfraktion kommt, dann muss ich sagen, dass es ausnahmsweise auch einmal Herr Heilmann geschafft hat,
konstruktiv zu sein.
({1})
Das, was ich festgestellt habe, betrifft alle Fraktionen.
Ich denke, wir haben einen guten Arbeitsbericht vorgelegt. Herr Staatssekretär, wir haben auch einen AnfordeDr. Andreas Scheuer
rungskatalog erstellt. Herr Kollege Döring, ich bedanke
mich für das Lob und kann dieses Lob als Koordinator
dieser Runde zurückgeben. Alle Berichterstatter der
Fraktionen haben bei dem Thema „Demografischer
Wandel und nachhaltige Infrastrukturplanung“ sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Das möchte ich an dieser
Stelle deutlich sagen, und ich möchte mich sehr herzlich
dafür bedanken.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregierung, lieber Herr Staatssekretär, wir haben Ihnen einen Aufgabenkatalog gegeben. Wir haben uns wirklich
viel Zeit genommen. In vielen Anhörungen - wir werden
noch einige Arbeitsberichte zu den Stichworten Generationenbilanz und Nachhaltigkeitsprüfung vorlegen - haben wir uns sehr dezidiert mit dem Thema Demografie
und Infrastruktur beschäftigt. Wir werden das in den federführenden Verkehrsausschuss eingeben.
Herr Kollege Goldmann, Sie haben völlig überraschend für mich Ihren Fraktionskollegen Döring mit einem Zwischenruf in Bezug auf die Kompetenzen von
Kommunen und Bund kritisiert. Ich denke, der Deutsche
Bundestag hat schon das Recht, sich einzumischen,
wenn es um interkommunale Zusammenarbeit geht
und wenn wir koordinieren und Anreizsysteme, nicht
Strafsysteme, für Kommunen und auch Bundesländer
schaffen, um wirkliche Strukturpolitik zu betreiben. Ich
komme aus dem Freistaat Bayern - man hört es nicht
wirklich - und bemühe mich, das immer deutlich zu machen.
({3})
- Danke, Frau Kollegin, ich stehe dazu, und ich bin stolz
darauf. - Wir haben in der Expertenanhörung mehrmals
gehört - auch der Herr Staatssekretär hat es in seiner
Rede gesagt -, dass gerade in den neuen Bundesländern besorgniserregende Wanderungsbewegungen
stattfinden. Wir müssen die Chancengerechtigkeit der
jungen Generation aufrechterhalten. Darüber müssen wir
offen diskutieren. Im Freistaat Bayern haben wir
Strukturpolitik betrieben. Der ländliche Raum hat eine
Chance. Der ländliche Raum hat Lebensqualität. Der
ländliche Raum bietet Investoren günstige Bedingungen.
({4})
- Herr Goldmann, die Fraktionen stimmen darin überein.
Vielleicht hat sich das nach Erscheinen des fraktionsübergreifenden Arbeitsberichts noch nicht herumgesprochen. Sie als erfahrener Kommunalpolitiker werden mir
sicherlich zustimmen, wenn ich behaupte, dass wir, der
Deutsche Bundestag, die Möglichkeit haben müssen, uns
mit kommunalen Zusammenhängen, mit Strukturpolitik
- Stichwort „ländlicher Raum und Stadtentwicklung“ zu beschäftigen. Ich verweise auf alle Anreizsysteme
- ich denke nicht an Strafsysteme -, die uns zur Verfügung stehen.
Gestern Abend wurde hier zu später Stunde - es war
nach 22 Uhr; das Fernsehen hat schon nicht mehr übertragen - über städtische Umweltpolitik diskutiert. Dazu
sage ich ganz eindeutig - Herr Kollege Goldmann, Sie
sind schon in Lauerstellung, um eine Zwischenfrage zu
stellen; Frau Präsidentin, ich lasse sie zu; lassen Sie
mich diesen Gedanken aber noch zu Ende führen -: Wir
dürfen uns von der Europäischen Union nicht aufoktroyieren lassen, eine Citymaut einzuführen oder bestimmte Themen zu behandeln. Darüber kann man in
Deutschland auf kommunaler Ebene, auf Länderebene
und hier im Deutschen Bundestag besser als irgendwo
anders entscheiden.
({5})
Herr Kollege Goldmann, Sie haben das Wort zu einer
Zwischenfrage.
Zunächst einmal möchte ich feststellen: Ich bin weder
in einer Lauerstellung, noch habe ich meinen Kollegen
Döring hier kritisiert.
Es geht mir um den Ansatz. Die Entwicklung des
ländlichen Raumes wird weitestgehend über Landesraumordnungsprogramme geregelt. Zu meinem großen
Bedauern wird die Entwicklung von Metropolregionen
dagegen sehr stark über Bundesaktivitäten geregelt. Ist
es nicht klüger, den Entwicklungen in den ländlichen
Räumen dadurch mehr Geltung zu verschaffen, dass
man aufhört, sie sozusagen von oben zu steuern? Halten
Sie das Prinzip „von oben nach unten“ für das bessere?
Ich stelle diese Frage auch vor dem Hintergrund, dass
wir eine substanzielle Föderalismusreform durchgeführt
haben, die unter anderem regelt, welche Aufgaben Länder und Kommunen haben.
Herr Kollege Goldmann, die FDP-Fraktion wird im
Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
durch die Kollegen Döring und Kauch repräsentiert. Ich
lade Sie im Namen aller Fraktionen ganz herzlich ein, an
einer Beiratssitzung oder an einer vom Beirat durchgeführten Anhörung einfach einmal teilzunehmen.
Was Ihre Frage angeht: Ich bin für das Prinzip der
Subsidiarität, der Stärkung der kleinen Einheiten und
der unteren Ebenen. Wir haben mit dem Parlamentarischen Beirat aber ein Gremium, dessen Arbeit darauf angelegt ist, über den nächsten Wahltag hinauszudenken.
Die Politik muss immer wieder den Vorwurf zur Kenntnis nehmen, dass sie nur bis zum nächsten Wahltermin
denkt. Das stimmt so nicht. Wir versuchen wirklich, fundamentale Entscheidungen zu treffen, durch die die Weichen für die nächsten zehn oder 15 Jahre richtig gestellt
werden. Wir machen uns Gedanken - auch im Deutschen Bundestag gibt es kein Denkverbot, was Kommunalpolitik betrifft - über strukturpolitische Entscheidungen, die keinerlei Bestrafung von Ländern und
Kommunen vorsehen. Wir wollen das Prinzip der Subsidiarität stärken.
Die Anhörung des Parlamentarischen Beirats zum
Thema „Demographie und Infrastruktur“ hat besorgniserregende Entwicklungen aufgezeigt; ich verweise auf
die Aussagen des Bundesamtes für Bauwesen und
Raumordnung. Jeder, der sich das Protokoll dieser Anhörung durchliest und erfährt, wie sich unser Land bis
2030 entwickelt, stellt fest: Dieses Thema muss uns alle
miteinander bewegen. Jeder von uns, der an dieser Anhörung teilgenommen hat, ist kreidebleich geworden
und hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich Landschaften in Deutschland in weiße Flecken verwandeln
werden. Im Zentrum unserer Diskussion steht, dass wir
uns dieser Themen annehmen und unsere Besorgtheit
zum Anlass nehmen, die richtigen Schlussfolgerungen
zu ziehen.
({0})
- Herr Kollege Hinsken, herzlichen Dank für den Applaus.
({1})
Abschließend möchte ich sehr deutlich sagen, Herr
Staatssekretär, dass wir uns Gedanken darüber machen
müssen, wie der im Kanzleramt angesiedelte Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung stärker in die Öffentlichkeit treten kann. Sie haben die Staatssekretärsebene
dadurch gestärkt, dass Sie das Thema Nachhaltigkeit ins
Zentrum der Betrachtungen gerückt haben. Der Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung nennt im Indikatorenbericht 21 Indikatoren. Meine Damen und Herren, liebe
Zuhörer, durch diesen Indikatorenbericht schafft es die
Politik, transparenter, nachprüfbarer und für den Bürger
verständlicher zu werden. Wir haben mit Schlüsselbegriffen zu übergeordneten Kapiteln erreicht, dass eine
Bundesregierung auch nach der Politik - nicht nur nach
Emotionen, sondern auch nach dem politischen
Handeln - bewertet wird. Das ist ein zentraler Punkt,
dessen sich auch der Nachhaltigkeitsbeirat des Deutschen Bundestages annehmen wird. Wir haben dazu
schon eine Referentenbesprechung gehabt.
Wir müssen im Deutschen Bundestag auch Gremien
haben, die versuchen, Themen mit Bedeutung über die
nächsten zehn Jahre hinaus aufzugreifen, mutig zu sein
und fraktionsübergreifend zu arbeiten. Ich weiß, dass
viele heilige Kühe der einzelnen Fraktionen für diesen
Arbeitsbericht geschlachtet werden mussten, weil es
eben ein Kompromiss ist. Ich sage für meine Fraktion: In
der zweiten Runde, wenn es in den federführenden Ausschuss geht, hat jede Fraktion die Möglichkeit, separat
Anträge zu stellen. Herr Heilmann, dann können Sie beweisen, ob Ihre Fraktion in ihrer Verteilungseuphorie im
Jetzt auch die Fähigkeit hat, den Nachhaltigkeitsbegriff
wirklich zu leben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Lutz Heilmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Ich danke meinem Kollegen Scheuer für
das Lob.
({0})
Ich werde mir das zu Herzen nehmen und trotzdem auch
ein paar kritische Bemerkungen zu dem Thema machen.
Der demografische Wandel ist eine ernsthafte Herausforderung für Deutschland. Ich sage bewusst „Herausforderung“ und nicht „Problem“, weil sich daraus auch
Chancen eröffnen.
Wir haben es neben der massiven Alterung der Bevölkerung mit einem Bevölkerungsrückgang zu tun. Ich
als Umweltpolitiker sehe in diesem Bevölkerungsrückgang auch eine Chance. Wenn Straßen zurückgebaut
werden, werden zerschnittene Lebensräume von Tieren
und Pflanzen wiederhergestellt. Der Natur wird wortwörtlich wieder mehr Raum gegeben. Dazu müssen wir
uns aber von den Konzepten der Vergangenheit verabschieden und innovative Lösungen vorantreiben.
Mir ist es wichtig, dass schrumpfende Regionen Entwicklungsmöglichkeiten erhalten. Es kann nicht angehen, dass wir ganze Dörfer und Kleinstädte aufgeben; im
Gegenteil: Wir müssen uns dem Wandel stellen und zugleich die Lebensqualität aufrechterhalten. Dazu will
der Bericht des Beirats einen Beitrag leisten.
Der Bericht beschränkt sich auf die technischen Infrastrukturen. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass
die sozialen Infrastrukturen weniger wichtig sind. Wir
brauchen natürlich soziale Einrichtungen wie Kitas oder
Schulen. Sie sind für lebenswerte Gemeinden genauso
von Bedeutung wie die technische Ausstattung. Für die
Menschen ist es wichtig - um nur ein Beispiel zu nennen -, dass ihre Kinder zu Fuß zur Schule kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen die Diskussion aus Ihren Wahlkreisen. Bei mir in Lübeck sind
die Schulwege ein wichtiges Thema für die Menschen.
Es geht ihnen darum, wie weit ihre Kinder zur Schule
laufen müssen.
Grundsätzlich können wir eines feststellen: Bei den
Bürgerinnen und Bürgern kommt die Veränderung der
Bevölkerungsstruktur mehr und mehr an. Leider wird
fast ausschließlich über die sozialen Sicherungssysteme
diskutiert. Ein Stichwort ist: Wer zahlt unsere Rente?
Vor den weiteren Folgen für die Gemeinden verschließen viele aber die Augen. Das ist nach Jahrzehnten des
Wachstums, vor allem im Westen, verständlich. Dennoch kann es so nicht weitergehen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen und begreifen, dass es nicht in allen Regionen Wachstum im herkömmlichen Sinne geben
kann und wird.
Fakt ist: Wir müssen uns den Herausforderungen stellen. Ich sage Ihnen: Der Westen kann dabei einiges vom
Osten lernen.
({1})
Dort ist der demografische Wandel, unterstützt durch
Ihre Politik und durch Ihre politischen Fehlentscheidungen im Zusammenhang mit dem Anschluss der DDR an
die Bundesrepublik, in vollem Gange. Im Westen findet
die gleiche Entwicklung zeitversetzt statt.
({2})
Die Vorhersagen für manche Regionen in meinem Bundesland Schleswig-Holstein sind nicht gerade rosig.
Ich habe gesagt, dass der Westen viel vom Osten lernen kann. Nehmen wir den schon angesprochenen
Stadtumbau Ost! Damit hat man ein gutes Beispiel gegeben. Viele der sogenannten Arbeiterschließfächer, im
Westen auch „Plattenbausiedlungen“ genannt,
({3})
wurden schon zu lebenswerten Orten umgebaut.
Ich nenne hier den Großen Dresch in Schwerin. Unsere Fraktion hat sich im letzten Sommer davon überzeugt. Was wurde gemacht? Ganz einfach: Es wurden
Stockwerke abgetragen und Wohnungen familienfreundlich zusammengelegt. Zusätzlich wurde eine vorbildliche energetische Sanierung vorgenommen. Das alles
geschah, ohne einen einzigen Acker zuzupflastern. Ich
nenne ein weiteres Beispiel: Bei der Abwasserentsorgung hat Mecklenburg-Vorpommern unter Rot-Rot Vorbildliches geleistet. Dort hat man neben zentralen Abwasseranlagen auch den Bau kleiner dezentraler
Anlagen vermehrt zugelassen und stärker gefördert. Das
spart Zeit und Geld.
Bei der Ausstattung mit Verkehrsinfrastrukturen
muss man sowohl im Osten als auch im Westen noch erheblich dazulernen. Nach wie vor sehen viele Städte und
Gemeinden in einem Autobahnanschluss einen Segen.
Es macht aber überhaupt keinen Sinn, Milliarden auszugeben, um schrumpfende Regionen an das Autobahnnetz
anzuschließen, wenn auf diesen Straßen am Ende keine
Autos fahren.
({4})
Es ist doch Unsinn, in der vagen Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Ein Paradebeispiel dafür ist die zusammenhängende
Planung der Autobahnen A 14 und A 39 in Brandenburg
und Niedersachsen. Maßgabe für die Politik kann nicht
sein, dass ein großes Loch auf der Autobahnkarte besteht. Diese Auffassung vertrat Herr Stolpe seinerzeit als
Verkehrsminister.
({5})
Infrastrukturen müssen vielmehr die demografische
Entwicklung berücksichtigen und an den tatsächlichen
Bedarf angepasst werden. Das empfiehlt auch der Beirat,
und das schreibt sogar die Bundesregierung in ihrem
„Wegweiser Nachhaltigkeit 2005“. Beim nächsten Bundesverkehrswegeplan muss dies, bitte schön, auch umgesetzt werden. Beim aktuellen Plan haben Sie genau das
Gegenteil gemacht. Die Bewertungsmethodik darin war
so ausgeklügelt, dass im Grunde jede Straße sinnvoll ist;
die eine, weil der Bedarf groß ist, und die andere, weil
kein Bedarf da ist. So kann es nicht weitergehen. Der aktuelle Plan bietet noch mehrere schöne Beispiele, die
zeigen, dass die Herausforderungen, die der demografische Wandel stellt, außer Acht gelassen wurden. Der
Herr Staatssekretär hat es angesprochen: Allen Prognosen zum Trotz wurden steigende Bevölkerungszahlen
und damit steigende Verkehrszahlen angenommen. Damit wurde letztlich ein höherer Bedarf an Straßen konstruiert. Als Begründung dafür musste eine nie eingeführte „Green Card Plus“-Regelung herhalten. So kann
man sich irren.
Was muss passieren? Der Bundesverkehrswegeplan
muss künftig einem Nachhaltigkeitscheck unterworfen
werden, und zwar nicht nur, um eine Anpassung von
Planungen an den demografischen Wandel zu erreichen,
sondern auch, um Nachhaltigkeit mit der gleichberechtigten Berücksichtigung sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Belange zu erzielen. Herr Kollege Scheuer,
die Unternehmensteuerreform, über die wir heute diskutiert haben, ist alles andere als ein Beispiel für nachhaltige Entwicklung oder nachhaltige Politik in diesem
Sinne.
({6})
Im Verkehrsbereich werden soziale Belange bislang
praktisch nicht berücksichtigt, denn der angebliche Verkehrsbedarf ist meist der einzige Bewertungsmaßstab.
Was nützt den Menschen, die gar kein eigenes Auto haben, eine neue Straße? Statt isoliert die einzelnen Verkehrsträger zu betrachten, brauchen wir einen integrierten Ansatz.
({7})
Wir müssen also vom Mobilitätsbedürfnis und nicht
vom Verkehrsbedarf ausgehen. Mobilität bedeutet für
mich mehr als Autofahren. Es bedeutet für mich die
Möglichkeit, am sozialen Leben teilzunehmen. Daraus
folgt: Wir brauchen mehr als nur Verkehrsinfrastruktur.
Wir brauchen neue und innovative Mobilitätsangebote
für alle. Hierzu hat der Beirat einige Vorschläge unterbreitet.
Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung diese Vorschläge zu Herzen nimmt. Inwieweit das geschieht, werden wir am Ende dieser Legislaturperiode prüfen. Ich
werde mich jedenfalls dafür einsetzen. Warum? Das
Leitbild nachhaltiger Entwicklung wirkt in der Gesellschaft, wenn es durch konkrete Maßnahmen in der Gesellschaft spürbar wird. Die Vorschläge des Beirats tragen dazu bei. Deshalb wäre es schade, wenn der Beirat
zu einem netten Gesprächskreis ohne Einfluss auf die
Politik verkäme und ein zahnloser Tiger würde. Herr
Kollege, hier sind wir uns einig.
Ein abschließender Gedanke: Vor zwei Wochen fand
die 15. Sitzung der UNO-Kommission für nachhaltige
Entwicklung in New York statt. Dort rief Frau
Brundtland, die das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung entscheidend geprägt hat, dazu auf, der Debatte
über nachhaltige Entwicklung endlich Taten folgen zu
lassen. Beginnen wir hier in der Bundesrepublik
Deutschland!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits in seinem ersten Arbeitsbericht in der 15. Legislaturperiode
hatte der Parlamentarische Beirat festgestellt, dass der
demografische Wandel im damaligen Fortschrittsbericht
der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie überwiegend unter dem Aspekt der sozialen Sicherung, der sozialen Auswirkungen auf die Infrastruktur
beleuchtet wurde, und deshalb schon damals angeregt,
dass in dieser Legislaturperiode eine Anhörung zum
Thema „Demografie und Infrastruktur“ stattfinden solle.
So viel zur Erläuterung, auch für die Gäste. Deshalb geht
es heute explizit nicht um die soziale Infrastruktur, die
natürlich ein wichtiger Aspekt der demografischen Entwicklung ist. Aber der Nachhaltigkeitsbeirat wollte das
Thema einmal auf die technische, bauliche und verkehrliche Infrastruktur für Deutschland fokussieren.
Den meisten von uns ist klar: Der demografische
Wandel ist längst Realität, und dieser Realität gilt es ins
Auge zu sehen, nüchtern und völlig ohne Alarmismus;
denn die Entwicklungen und Trends sind klar und eindeutig und nicht revidierbar. Sie sind allenfalls beeinflussbar und gestaltbar. Darin liegt eine Chance für Politik.
({0})
Die Bevölkerungszahl wird schrumpfen. Der Anteil
älterer Menschen wird stark ansteigen. Die Schichtung
der Bevölkerung, das heißt das Verhältnis von jungen
und alten Menschen zueinander, wird sich verändern. Es
wird sehr viele alte und sehr wenige junge Menschen in
Deutschland geben. Außerdem werden wir durch die
Migration in jedem Fall eine buntere Gesellschaft werden.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass nur
die Anerkennung dieser Trends dazu führen kann, dass
in der Politik wirklich über Chancen und Gestaltungswillen gesprochen wird, und zwar auf allen drei politischen Ebenen: der Bundesebene, der Landesebene und
der kommunalen Ebene; denn auch auf die kommunale
Ebene sind wir massiv angewiesen, wenn wir den demografischen Wandel gestalten wollen.
Bei der Gestaltung dieser tiefgreifenden Veränderungen ist eine vorausschauende Planung, die gleichzeitig
soziale, ökonomische, aber vor allen Dingen ökologische Folgen abwägen muss, dringend erforderlich. Wir
wissen, dass der demografische Wandel sich regional
völlig unterschiedlich darstellen wird. Er wird zu einem
Nebeneinander von Schrumpfungsregionen und Wachstumsregionen in Deutschland führen, und das nicht nur
in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland. Es
ist ganz wichtig, dass dieses Thema nicht als „Ostproblem“ wahrgenommen wird. Ich komme aus NRW; dort
sind zum Beispiel die Veränderungen im nördlichen
Ruhrgebiet dramatisch.
({1})
Sie liegen ganz klar auf der Hand und müssen durch eine
veränderte Politik gestaltet werden. Deshalb gehen wir
hier von einer gemeinsamen Betrachtung Ost- und Westdeutschlands aus.
({2})
So weit, so gut. Im Sinne einer nachhaltigen Infrastrukturpolitik für die Städte und den ländlichen Raum
ergeben sich differenzierte Lösungsansätze. Es nutzt
nichts, von Verlierer- und Gewinnerregionen zu sprechen. Man stelle sich nur einmal vor, man lebte selber in
einer solchen „Verliererregion“. Es ist ganz wichtig,
allen Regionen, im ländlichen wie im städtischen, prosperierenden Raum, deutlich zu machen, dass wir versuchen, die Situation vor Ort positiv zu gestalten, gemeinsam mit den Menschen, die dort leben. Auch das
Thema Bürgerbeteiligung wird angesichts der veränderten Bedingungen durch den demografischen Wandel
noch eine ganz andere Bedeutung bekommen. Denn in
einem solchen Prozess gilt es immer, die Bürgerinnen
und Bürger mitzunehmen, sie auf solche Entwicklungen
vorzubereiten und bei der Gestaltung einzubeziehen. Ich
glaube, das erfordert bei vielen von uns noch ein Umdenken und ein Einlassen darauf, was Partizipation und
Gestaltung vor Ort wirklich bedeuten.
({3})
Auch im Nachhaltigkeitsbeirat - Herr Scheuer hat es
vorhin angesprochen - bestand Einigkeit über die Frak-
tionsgrenzen hinweg, dem Parlament heute einen frak-
tionsübergreifenden Bericht vorzulegen. Ich will mich
an dieser Stelle für die Zusammenarbeit bedanken. Las-
sen Sie mich an der Stelle deutlich sagen: Wenn der Bei-
rat im Rahmen dieser Debatte zukünftig eine Rolle in
diesem Parlament spielen will, dann ist es wichtig, a) ei-
nen solchen Schritt zu tun und b) dafür Sorge zu tragen,
dass das, was wir diskutieren, auch in die Politik Eingang findet.
({4})
Ich persönlich habe kein Interesse daran, in einem sogenannten Alibigremium zu sitzen, in dem wir zwar
schöne Beschlüsse fassen, die aber keine nachhaltige
Wirkung zeigen.
Wir sind uns sehr einig, wenn wir über den demografischen Wandel allgemein reden und wenn wir die Dinge
beschreiben. Wir sind uns aber ganz schnell nicht mehr
einig - auch das muss man an dieser Stelle deutlich sagen -, wenn es um konkrete Politik geht.
Ich frage Sie, Herr Staatssekretär Großmann: Warum
geht man beispielsweise im Bundesverkehrswegeplan
- das gilt auch für andere Politikfelder - bei der Erstellung von Verkehrsprognosen noch immer von einem Bevölkerungswachstum aus?
({5})
Warum konzipiert man immer noch Autobahnprojekte
- ich nenne beispielsweise die A 14 und A 29 - in Gegenden, von denen wir wissen, dass es sich um Regionen
mit einer schrumpfenden Bevölkerungszahl handelt?
Warum werden in ungebremster Art und Weise Flächen
ausgewiesen, anstatt im Interesse einer nachhaltigen
Entwicklung den Flächenverbrauch durch entsprechende Programme der Bundesregierung zu stoppen?
Wir wissen doch, dass die Flächenversiegelung eines der
größten ökologischen Probleme ist.
In NRW zieht der Ministerpräsident durch die Lande
und beklagt, dass 1 000 Schulen geschlossen werden.
Trotzdem leistet man sich dort eine Debatte über das
dreigliedrige Schulsystem.
({6})
Das setzt sich in allen Politikfeldern fort: Wir sehen
die Notwendigkeit einer Veränderung. Allein es fehlt der
Wille - auch in der Bundesregierung, Herr Großmann zur Umsetzung von Maßnahmen gerade im ökologischen Bereich. Der sollte aber vorhanden sein, wenn wir
die Nachhaltigkeit ernst nehmen.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: weg vom
Leitbild des Wachstums der Zahl der Einwohnerinnen
und Einwohner, weg vom Leitbild einer größeren Infrastruktur und eines größeren Flächenverbrauchs hin zu
einem qualitativen Ansatz der Nachhaltigkeit. Hier brauchen die Kommunen unsere Unterstützung; denn sie sind
die zentralen Orte, an denen der demografische Wandel
zu spüren ist.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Eigentlich
klingt die Formel: „Wir werden weniger und damit verbrauchen wir weniger Ressourcen und Flächen“ doch
äußerst einleuchtend und verlockend. Was hindert die
Große Koalition und die Bundesregierung eigentlich daran, im Interesse der Nachhaltigkeit und einer wirklich
generationengerechten Politik endlich Konsequenzen für
konkretes politisches Handeln zu ziehen und nicht nur
Absichtserklärungen zu formulieren?
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Ernst Kranz für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Kollegen haben schon sehr viel zum Beirat gesagt. Wir stehen hier erst am Anfang einer Entwicklung;
den Beirat gibt es erst seit drei Jahren. Es ist wichtig,
dass wir uns heute zu Wort melden. Ich glaube, dass die
von mir genannte Entwicklung intensiver werden und
mehr Auswirkungen auf die Politik in diesem Land haben muss.
({0})
Statt nur Alternativen oder Kosten zu prüfen, wäre es
unserer Meinung nach sehr ratsam, zu untersuchen, ob
bei Gesetzen die aktuellen Prognosen zum demografischen Wandel beachtet wurden und ob die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben gewährleistet ist. Wir sollten
auch darüber nachdenken, welche Auswirkungen unsere
Entscheidungen für nachfolgende Generationen haben.
Wir müssen uns fragen, ob wir nicht über Maßnahmen
entscheiden, die uns zwar heute Kosten sparen, aber unseren nachfolgenden Generationen sehr hohe Kosten
aufbürden, weil sie die Folgen unseres Handelns rückgängig machen müssen. Der Klimawandel ist in der
aktuellen Diskussion. Ich glaube, daraus lässt sich die
Erkenntnis ableiten, was kurzfristiges Denken bewirkt.
Es geht um die Frage, ob die eingeschlagene Richtung
sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig ist oder
ob sie nicht in wenigen Jahren teuer korrigiert werden
muss. Das bedeutet also: Es muss nach Möglichkeiten
gesucht werden, wie das Denken im Voraus gefördert
werden kann. Bei allen Kollegen ist angeklungen, dass
das unsere gemeinsame Grundlage ist. Da wir mit der
Arbeit in unserem Beirat gerade am Anfang stehen, ist es
wichtig, dass wir mit einer Stimme sprechen und uns
nicht schon im Beirat auseinanderdividieren, sondern
erst einmal dazu beitragen, dass dieser Beirat in der Politik ein gewichtiges Wort bekommt und wahrgenommen
wird.
Natürlich ist es sehr schwierig - das ist angeklungen -,
gemeinsame Standpunkte über Fraktionen hinweg zu
formulieren. Aber wir haben gesehen: Es geht, ohne dass
wir uns dabei verbiegen, ohne dass wir das Endziel aus
dem Auge verlieren. Ich halte die Arbeit des Beirates gerade deshalb für bereichernd, weil sie außerhalb der gewohnten Pfade stattfindet und jeder Weg, der beschritten
wird, stets neue Fragen aufwirft und zu verblüffenden
neuen Antworten führt. Das ist die richtige Arbeitsweise.
Diese sollten wir beibehalten. Wir sollten versuchen, sie
zu intensivieren.
Frau Haßelmann hat es gesagt: Schon der letzte Beirat
hat begonnen, sich mit dem Thema „Infrastruktur und
Demografie“ zu beschäftigen. Wir haben das mit einer
Anhörung im Oktober fortgeführt. Zur Infrastruktur
zählen wir Verkehrswege und den ganz wichtigen Bereich der Raumordnung; er ist heute intensiv angesprochen worden. Ich möchte Ihnen dazu die Definition aus
„Wikipedia“ vorlesen: Darunter
ist die planmäßige Ordnung, Entwicklung und Sicherung von größeren Gebietseinheiten … zur Gewährleistung der bestmöglichen Nutzung des Lebensraumes zu verstehen.
Gerade diese Definition macht unser Anliegen deutlich.
Frau Haßelmann hat auch gesagt, wir hätten uns auf
die technische Infrastruktur beschränkt, weil wir in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis hätten kommen wollen.
Selbstverständlich ist die soziale Infrastruktur, Bildung,
Gesundheit, Kultur und Versorgung, zumindest ebenso
wichtig. Der Beirat sollte sich hiermit gesondert beschäftigen und intensiv darüber reden.
Der Begriff „demografischer Wandel“ braucht garantiert nicht noch einmal erläutert zu werden. Aber die
zwei wichtigsten Punkte, Abnahme der Zahl der
Bevölkerung und Alterung, sollte man noch einmal
deutlich hervorheben, weil das die Kernpunkte sind.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle darauf verweisen, dass wir
in der SPD-Fraktion am Montag eine Veranstaltung hatten, die sich damit beschäftigt hat, den demografischen
Wandel als Herausforderung für die Kommunen zu betrachten. Auch heute bestand, so glaube ich, Konsens
darüber, dass die Kommunen die Hauptbetroffenen des
demografischen Wandels sind, dass dort letztendlich die
Hauptgestaltungsebene liegen muss. Ich stimme mit
Herrn Döring in dem Sinne überein, dass ich sage: Wir
müssen den Kommunen diese Gestaltungschance auch
einräumen; das ist ganz wichtig. Aber an dieser Stelle
darf es kein Einbahnstraßendenken geben,
({2})
indem wir sagen: entweder von oben nach unten oder
von unten nach oben. Jede Ebene muss vielmehr die
Aufgabe, die sie hat, wahrnehmen
({3})
und den anderen Ebenen die Freiheiten, die sie haben,
lassen.
Ich habe gesagt: Ein Schwerpunkt in unserem Bericht
war und ist die Raumordnung, die Stadtentwicklung.
Ferner habe ich gesagt: Eine wichtige Auswirkung des
demografischen Wandels ist die Abnahme der Bevölkerungszahl und die Alterung. In der Praxis ergibt sich,
daraus resultierend, eine Abnahme der Siedlungsdichte.
Aber - jetzt kommt mein Aber - wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass das bei einer gleichzeitigen Zunahme der Siedlungsfläche geschieht.
({4})
Das ist schon ein Widerspruch in sich. Wir alle sollten
darüber nachdenken, wie wir diese Entwicklung stoppen
können. Das ist etwas ganz Wichtiges.
({5})
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Natürlich.
Ich möchte ganz kurz etwas zum Stadtumbau Ost sagen.
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
({0})
Schade. Dann komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin, und danke für Ihren Hinweis.
Ich möchte an dieser Stelle feststellen: Den demografischen Wandel dürfen wir nicht als Gefahr sehen. Damit
werden wir niemals die richtigen Lösungsansätze für unser Handeln finden. Der demografische Wandel muss
eine Chance und eine Aufgabe für uns sein.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Es ist gut, dass wir heute zu prominenter Stunde über das Thema „demografischer Wandel“
debattieren, und zwar nicht, wie in vielen anderen Debatten, mit dem Schwerpunkt Renten- und Pflegekasse,
sondern mit dem Schwerpunkt Infrastrukturplanung.
Denn es gibt kaum eine politische Entscheidung mit
langfristigeren Auswirkungen als Investitionen in unsere
Infrastruktur: Wir fahren heute zum Teil noch auf Straßen, deren Trassen aus der napoleonischen Zeit stammen. Wir sitzen in Zügen, die auf einen Schienennetz
unterwegs sind, das im Wesentlichen im 19. Jahrhundert
ausgelegt worden ist. Schulen stehen oft mehrere Jahrhunderte. Unsere Abwasserkanäle sollen etliche Jahrzehnte halten.
Diese langfristige Lebensdauer unserer Infrastruktur
verlangt eine langfristige Planung. Dies setzt voraus, den
Bedarf künftiger Generationen zu prognostizieren - so
gut das aus heutiger Sicht möglich ist - und die planerischen Weichenstellungen auf Grundlage dieser Prognosen vorzunehmen. Genau hier ist das Kernprinzip der
Nachhaltigkeit berührt: Künftige Generationen dürfen
nicht zu den Geiseln kurzsichtiger Entscheidungen von
heute werden. Wir müssen schon heute darauf Rücksicht
nehmen, wie sich Bevölkerung und Bedürfnisse in den
nächsten Jahrzehnten entwickeln. Das kann man nur unvollkommen tun, man kann nur abschätzen. Aber mit einem suboptimalen Radar unterwegs zu sein, ist allemal
besser, als ohne Radar ins Unbekannte zu fliegen.
({0})
Die neuen Länder - das klang bereits mehrfach an befinden sich bereits mitten im demografischen Umbruch. Seit 1990 sind etwa 2 Millionen Menschen aus
den neuen Bundesländern weggezogen. MecklenburgVorpommern zum Beispiel war 1990, zum Zeitpunkt der
deutschen Einheit, im Bevölkerungsschnitt das jüngste
deutsche Bundesland, heute ist es wohl das älteste - das
alles in gerade einmal 17 Jahren. Es gibt Regionen, in
denen künftig - da dürfen wir uns nichts vormachen die Abrissbirne regieren wird, es wird Infrastruktur geben, die kaum ausgelastet ist. Dadurch werden ProKopf-Kosten entstehen, die schwer zu bezahlen sind.
Aber auch im Westen findet dieser Bevölkerungswandel statt, auch hier werden wir weniger Menschen und
ältere Menschen haben. Insofern können wir vom Osten
lernen, der diese Entwicklung früher durchläuft. Im
Westen wird es vor allem strukturschwache und ländliche Regionen treffen. Es wird aber auch Metropolregionen geben, in denen die Bevölkerung im Schnitt jünger
ist und ihre Zahl sogar noch wachsen wird. Beide Phänomene - sowohl „Boomtown“ als auch „Schrumpfhausen“ - sind deutsche Realitäten im 21. Jahrhundert.
Ich habe persönlich die Sorge, dass der demografische Wandel in den Städten und Gemeinden, in denen
klar ist, dass die Bevölkerungszahl abnimmt, zwar abstrakt zur Kenntnis genommen wird, aber, wenn es um
konkrete Entscheidungen geht, jeder Bürgermeister das
letzte Neubaugebiet in der Region ausweisen möchte,
damit seine Gemeinde gegen den Trend noch etwas
wächst.
({1})
Tatsächlich brauchen wir heute in weiten Bereichen unseres Landes mehr den Umbau, weniger den Neubau;
das ist das Gebot der Stunde. Wir wollen im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung gemeinsam
das Bewusstsein hierfür schaffen. Im Bericht des Beirats
wird daher vorgeschlagen, dass die Kommunen mehr
kooperieren, anstatt den verzweifelten Versuch zu machen, sich auf Kosten des Nachbarn zu entwickeln, und
dass sie für die Daseinsvorsorge gemeinsam nach intelligenten Antworten auf den demografischen Wandel suchen.
Aus meiner Sicht gehört es zu den glücklichsten Entwicklungen der jüngeren deutschen Geschichte, dass seit
1990 alle Deutschen wieder die freie Wahl haben, an
welchem Ort unseres schönen Landes sie leben möchten.
Zur politischen Ehrlichkeit gehört es, den Menschen zu
sagen, dass sich die Idee gleicher Lebensbedingungen
in Deutschland angesichts der Bevölkerungsentwicklung noch weniger verwirklichen lässt als bisher. Es gibt
da Unterschiede, und es wird weiterhin Unterschiede geben.
({2})
Es gehört zu den unangenehmen Wahrheiten, dass angesichts der Bevölkerungsentwicklung „gleichwertige Lebensverhältnisse“ nicht „gleiche Lebensverhältnisse“
sind. Öffentliche Daseinsvorsorge kann in ländlichen
und bevölkerungsschwachen Gebieten nicht auf dem absolut gleichen Niveau wie in Städten angeboten werden.
Dafür genießt man dort andere wichtige Vorteile, zum
Beispiel hinsichtlich Freizeitgestaltung und Lebensqualität.
Wenn nur noch ein oder zwei Fahrgäste im Linienbus
sitzen, ist das nicht mehr bezahlbar und auch ökologisch
nicht verantwortbar. Die Alternative heißt aber nicht:
kein öffentlicher Nahverkehr. Wir sind vielmehr aufgefordert, kreative, vernünftige Lösungen zu finden. Zur
Beruhigung will ich deutlich sagen: Die Bandbreite der
Unterschiede wird in Deutschland wahrscheinlich auch
in Zukunft geringer sein als in jedem anderen Flächenstaat der Erde. Ich habe dabei volles Vertrauen in den
deutschen Hang zur Nivellierung, zur Herstellung von
Gleichheit. Wir werden daher aufpassen, dass Mindeststandards eingehalten werden. Auch hinsichtlich der Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge dürfen Mindeststandards nicht unterschritten werden.
Fehler dürfen wir auf keinen Fall machen: Wir dürfen
nicht vor Angst erstarren und versuchen, an allen bestehenden Einrichtungen krampfhaft, ohne jede Änderung,
festzuhalten. Wir müssen vielmehr auf Zusammenarbeit
setzen.
Bevölkerungsentwicklungen und Bevölkerungsbewegungen hat es in Deutschland - das zu sagen, gehört
ebenfalls zur Ehrlichkeit - immer wieder gegeben. Es
gab Regionen mit Abwanderungen und Regionen mit
Zuwanderungen. Ich will nicht von Verlierer- und Gewinnerregionen sprechen; denn auch in einer Abwanderungsregion können Gewinner leben, Menschen, die gut
mit den Veränderungen umgehen können, und können
öffentliche Einrichtungen gut weiterentwickelt werden.
Richtig ist auch: Hätte die Politik vor 100 Jahren versucht, jegliche Bevölkerungswanderung von den ländlichen Regionen in die aufstrebenden Industriegebiete zu
unterbinden, würden wir noch heute in einem Agrarstaat
leben und hätten ein wahrscheinlich nicht einmal halb so
hohes Bruttosozialprodukt wie jetzt. Es geht nicht darum, Dämme zu errichten, sondern darum, Kanäle zu
bauen, sinnvoll zu steuern und zu gestalten.
Wir müssen - das ist der letzte Gedanke, den ich ansprechen möchte - die Chancen des demografischen
Wandels beachten: Der Landschaftsverbrauch kann begrenzt werden, Flächen können entsiegelt werden, neue
Entfaltungs- und Erholungsräume können geschaffen
werden.
Ich bedanke mich bei allen Fraktionen für die gute
Zusammenarbeit bei diesem ersten großen Projekt des
Nachhaltigkeitsbeirates. Ich hoffe und erwarte, dass unsere Vorschläge bei der Bundesregierung Gehör finden,
und zwar sowohl bei der Entwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie 2008 als auch bei konkreten politischen
Entscheidungen; denn darauf kommt es letztlich an. Von
den Kommunen und Ländern erhoffe und erbitte ich,
dass sie diese Themen ernst nehmen und zur Grundlage
eigener politischer Entscheidungen machen. Wir wollen
ihnen nichts aufoktroyieren, sondern ihnen dabei helfen,
im Interesse ihrer Bürger und in ihrem eigenen Interesse
vernünftige Schritte in die Zukunft zu unternehmen.
Vielen Dank.
({3})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Miersch,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat eine wichtige Aufgabe erfüllt. Der Beirat beschäftigt sich mit einer Aufgabe - das kommt schon im
Titel zum Ausdruck -, die heutzutage aus meiner Sicht
auf allen Ebenen inflationär verwendet wird. Alle arbeiten inzwischen nachhaltig. In jeder Hochglanzbroschüre
ist der Begriff „Nachhaltigkeit“ enthalten. In fast jeder
Rede, die in diesem Haus gehalten wird, wird der Begriff
mindestens einmal verwendet.
Die Frage lautet also: Was ist nachhaltige Entwicklung? Bei den heutigen Redebeiträgen haben wir zur
Kenntnis nehmen können: Spannend wird es erst, wenn
es konkret wird. Die nachhaltige Entwicklung ist für
mich die Schlüsselfrage und das Leitbild jeglichen politischen Handelns.
({0})
Die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen
hat bereits Anfang der 90er-Jahre festgestellt: Nachhaltige Entwicklung bedeutet, die Bedürfnisse der heutigen
Generation mit den Bedürfnissen der künftigen Generationen zu vereinen. Dass das ganz viele Lebensbereiche
betrifft, ökologische, ökonomische und soziale, ist klar.
Wenn wir das reale politische Handeln betrachten, stellen wir aber sehr schnell fest, dass wir von diesem Anspruch an der einen oder anderen Stelle noch sehr weit
entfernt sind.
Das Thema „Demografie und Infrastruktur“ betrifft
die nachhaltige Entwicklung im Kern. Es ist gut, dass es
dem Parlamentarischen Beirat gelungen ist, dieses
Thema auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen.
Wir müssen jetzt zu Recht anmahnen, dass es weitergeht
und wir bei unserem politischen Handeln Konsequenzen
aus dem Bericht ziehen.
Wir haben hier die Chance, das Thema interdisziplinär anzugehen, es nicht nur aus der sozialen, der verkehrlichen oder der wirtschaftlichen Perspektive zu betrachten, sondern als Ganzes. Insofern müssen sich
verschiedene Gremien des Hohen Hauses mit diesem
Thema beschäftigen, wenn am Ende gute und weitreichende Beschlüsse stehen sollen.
Auf einige Aspekte, die mir wesentlich zu sein scheinen, möchte ich hier eingehen. Herr Staatssekretär, Sie
haben recht: Wir haben kein Erkenntnisproblem. Aber
wir haben ein Bewusstseinsproblem. Das Thema „Demografie und Infrastruktur“, die demografische Entwicklung überhaupt ist noch nicht auf allen Ebenen und
bei allen Entscheidungsträgern angekommen. Wir brauchen ein Bewusstsein auf Bundesebene, auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Ich glaube, wir müssen überall, auch in allen Fraktionen, für dieses Thema
werben.
({1})
Ein zweiter Aspekt zu dem Thema „Demografie und
Infrastruktur“ ist, dass es um Kooperation und nicht primär um Konkurrenz geht. Das ist natürlich ein hervorragendes Schlagwort. Spannend wird es, wenn es konkret
wird. Hier sind wir gerade auf bundespolitischer Ebene
gefordert, die richtigen Weichen zu stellen.
({2})
Ich bin nach wie vor Mitglied eines Rates einer Stadt mit
40 000 Einwohnern und weiß deshalb, wie schwierig es
aus rechtlichen Gründen ist, interkommunal zusammenzuarbeiten. Wir müssen darauf achten, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen so sind, dass dies nicht an
wettbewerbsrechtlichen Problemen scheitert. Wir sind
als Bundesgesetzgeber, aber auch als Lobbyisten auf
europäischer Ebene gefordert, den Kommunen bessere
Möglichkeiten zu bieten.
({3})
Bei meinem dritten Aspekt werden Sie wahrscheinlich nicht mehr klatschen, Herr Goldmann; Herr Döring,
ich glaube, da unterscheiden wir uns elementar. Wenn
wir über Demografie und Infrastruktur reden, stellen wir
sehr schnell fest, dass es um Bereiche der Daseinsvorsorge geht, die dem Wettbewerb entzogen sind, weil wir
diese Bereiche nicht dem Markt überlassen können.
({4})
Es wird sehr spannend, wenn wir über öffentlichen Personennahverkehr, über Bildung, über Gesundheitssysteme und deren Ausgestaltung reden. Ich glaube, dass
wir uns in einigen Fragen einig sind, dass sich aber hinsichtlich der einen oder anderen Frage sehr schnell zeiDr. Matthias Miersch
gen wird, welches Staatsverständnis wir haben. Das wird
ein Ringen um den besten Weg.
Wir haben am vergangenen Montag in der SPD-Fraktion eine Expertenanhörung durchgeführt und uns über
30 Beispiele aus der Praxis angesehen. Dabei haben wir
festgestellt, dass das Thema „Demografische Entwicklung und Infrastruktur“ vom 500 000 Kilometer umfassenden Rohrleitungssystem in Deutschland bis hin zu
Qualifizierungsmaßnahmen von älteren Mitbürgerinnen
und Mitbürgern reicht. Wir müssen diese Projekte aufzeigen und voneinander lernen. Dann gewinnt diese Debatte an Fahrt und macht Sinn.
Bevor wir ein Fazit unserer Beratung ziehen, sind wir
gefordert, in den Gremien dafür zu sorgen, dass wir im
Hinblick auf die Gesetzgebung - das betrifft die Baugesetzgebung, die Umweltgesetzgebung und die Raumordnungsgesetzgebung - folgende Frage beantworten:
Wie schaffen wir es, die Gesetze so anzupassen, dass ein
Rahmen für die Förderung von Nachhaltigkeit und Daseinsvorsorge entsteht und Förderprogramme daran ausgerichtet werden können? Wenn wir dies schaffen, hat
sich die Arbeit gelohnt. Wir freuen uns, dass die Arbeit
jetzt in den Gremien des Deutschen Bundestages beginnt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich darf die Debatte, die heute zu einer prominenten Zeit, zur Kernzeit, stattfindet, beschließen. Sie
haben gemerkt, die Debatte ist nicht, wie man es sonst
gewohnt ist, sehr kontrovers zwischen Opposition und
Koalitionsfraktionen geführt worden, und es ist hier
nicht zu großen Zusammenstößen gekommen.
Grund dafür ist das, was einige der Vorredner schon
herausgestellt haben, nämlich dass wir in der Zielbeschreibung, aber auch in der Wahrnehmung und Analyse
sehr nahe beieinander liegen. Das ist schon ein sehr großer Wert; das muss sicherlich festgehalten werden. Aber
dann, wenn es konkret wird, wenn es um einzelne Anträge oder Gesetze in den unterschiedlichen Ausschüssen geht, geht das Gefühl, das wir uns im Nachhaltigkeitsbeirat - auch dank unseres Vorsitzenden, Herrn
Günter Krings ({0})
erarbeitet haben, nämlich das Gefühl des Zusammenarbeitens auch über die Fraktionsgrenzen hinweg im
Sinne der nachfolgenden Generationen, leider allzu
schnell verloren, weil die Tagespolitik, das Tagesgeschäft den Blickwinkel dann doch wieder verengt.
Eine Chance in unserem Nachhaltigkeitsbeirat besteht in
der Weitung des Blickes, weg von den tagespolitischen
Auseinandersetzungen hin zu dem, was die nachfolgenden Generationen anlangt.
Mir ist aufgefallen - Ihnen sicherlich auch -, dass das
Wort Nachhaltigkeit sehr oft gebraucht wird. Die Nachhaltigkeit hat einen immensen Aufschwung genommen,
zumindest verbal. Nachhaltigkeit kommt übrigens aus
der Landwirtschaft.
({1})
- Forstwirtschaft; danke schön, Herr Kollege Goldmann.
Ich wollte einmal testen, ob Sie dabei sind.
({2})
Der Begriff kommt aus der Forst- und Landwirtschaft.
Der Begriff der Nachhaltigkeit hat sich geweitet: Politik soll nachhaltig sein. Unternehmen sollen nachhaltig
handeln. Versicherungen bieten nachhaltige Verträge an.
Literatur, Kunst und Architektur, alles ist auf einmal
nachhaltig. Wenn man ins Internet geht und den Begriff
„Nachhaltigkeit“ in eine Suchmaschine eingibt, also
klassisch googelt, dann erhält man innerhalb von wenigen Sekunden 2,5 Millionen Treffer. - Im Jahre 2000
wussten gerade einmal 13 Prozent der Bürgerinnen und
Bürger überhaupt etwas mit dem Begriff der Nachhaltigkeit anzufangen. Das sieht heute anders aus. Zumindest
wird der Begriff sehr oft verwendet.
Die inflationäre Verwendung des Begriffs der Nachhaltigkeit sollte jedoch nicht unser Ziel sein. Wir sollten
das Erreichte nicht an der Quantität messen, also daran,
wie oft „Nachhaltigkeit“ letztlich als Modewort verwendet wird.
({3})
Es geht um die Qualität, also um das, was die Einstufung als nachhaltig auch wirklich verdient.
({4})
Deshalb ein mahnendes Wort an uns alle: Wir dürfen in
unserem Engagement um die Nachhaltigkeit diese nicht
zu einem inhaltsleeren Schlagwort verkommen lassen.
Das haben wir uns als Nachhaltigkeitsbeirat auf die
Fahnen geschrieben. Nachhaltigkeit ist für uns das Denken an morgen, aber auch das Handeln für morgen. Für
uns ist der integrative, aber auch der globale Politikansatz sehr wichtig. Was zum Beispiel eine Erbschaft für
den Einzelnen bedeutet, kann, denke ich, fast jeder nachempfinden. Schwieriger aber gestaltet es sich, mit kollektiven Erblasten oder Erbschaften umzugehen bzw.
sich da hineinzuversetzen und auf dieser Grundlage vorausschauend die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Deshalb darf sich die Idee der Nachhaltigkeit
nicht auf das Hier und Jetzt beschränken; das wäre fatal.
Wir müssen uns im Hier und Jetzt Gedanken machen.
Aber selbstgenügsam zu sein und heute nach dieser
Debatte festzuhalten: „Irgendwie sind wir uns doch alle
einig“, wäre sicherlich viel zu wenig.
({5})
Gerade für uns als Junge Gruppe - ich spreche heute
nicht nur als Mitglied des Beirates, sondern auch als
Mitglied der Jungen Gruppe unserer Fraktion - ist die
Generationengerechtigkeit integrativer Bestandteil der
Nachhaltigkeit.
({6})
Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass die im Hier und
Jetzt bestehenden Bedürfnisse befriedigt werden; wir
möchten keinen Generationenkonflikt. Aber die Bedürfnisse, die jeder Mensch hat und die natürlich immer zu
toppen sind, müssen auf eine Art befriedigt werden, dass
auch die nachkommenden Generationen noch Ressourcen vorfinden. Wir müssen über den Tag hinaus denken.
Für mich als Vertreterin einer christlich-demokratischen
Partei hat das auch etwas mit dem christlichen Menschenbild und mit der Bewahrung der Schöpfung zu tun.
({7})
Sie ist nicht unser Eigentum; es darf nicht darum gehen,
dass sie uns im Hier und Heute zugutekommt.
Natürlich führt das immer zu Debatten. Das merken
wir, wenn wir uns in ganz konkreten Fragen einigen
müssen, zum Beispiel bei der Steuergesetzgebung, beim
Schuldenabbau und im Hinblick auf das Rentensystem
und die Pflegeversicherung. Wir sollten uns daher eindeutig für die Einführung von Generationenbilanzen
aussprechen, durch die die Verteilung der Lasten zwischen den Generationen transparent gemacht werden
könnte. Es darf nicht alle fünf Jahre darüber geredet werden, wie hoch die Verschuldung ist, die jedes neugeborene Kind quasi als „Begrüßungsgeschenk“ bekommt.
Mit einer transparenten und jährlich aufzustellenden Generationenbilanz schaffen wir es, die Themen Ökonomie, Ökologie und Soziales langfristig miteinander zu
verbinden.
Zudem würde sich dadurch auch die große Chance einer Gesetzesfolgenabschätzung bieten. Das haben wir,
die Junge Gruppe in der CDU/CSU-Fraktion, gefordert.
Wir hoffen, dass es die Regierung schaffen wird, ihren
Politikansatz nicht ressortisoliert, sondern ministerienübergreifend zu gestalten.
({8})
Das ist unser Wunsch an die Regierung. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Ziel gemeinsam mit den jungen
Abgeordneten, die im Parlament vertreten sind, und mit
den vernünftigen älteren Abgeordneten erreichen werden. Das macht unser Land lebenswert.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4900 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klimawandel ernst nehmen - Kernenergielaufzeiten verlängern
- Drucksache 16/3138 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst
Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Internationale und europäische Klimaschutzoffensive 2007
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dr. Dagmar Enkelmann, Hans-Kurt
Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Nationales Sofortprogramm und verbindliche Ziele für den Klimaschutz festlegen
- Drucksachen 16/4610, 16/5129, 16/5439 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({2})
Frank Schwabe
Eva Bulling-Schröter
Dr. Reinhard Loske
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat in seine Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5439 den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/4610 mit dem Titel „Internationale
und europäische Klimaschutzoffensive 2007“ einbezogen. Über diese Vorlage soll ebenfalls abschließend beraten werden. Ich gehe davon aus, dass Sie auch damit
einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann wird so verfahren.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Es
gibt sehr ehrgeizige Klimaschutzziele, die richtig sind,
sich aber in ihrer tatsächlichen Umsetzung bewahrheiten
müssen. So möchte ich darauf hinweisen, dass die Bundesregierung das Ziel der Minderung des CO2-Ausstoßes
um 40 Prozent gegenüber 1990 für realistisch hält. Für
Kohlekraftwerke wird dabei CO2-Neutralität ab dem
Jahre 2012 unterstellt. Hier wird ein sehr ehrgeiziges
Ziel formuliert, das im Vorgriff auf die nächsten 20 Jahre
zum Teil auf einer bestimmten Technologie basiert. Das
ist sehr unsicher.
({0})
Wir müssen erkennen, dass wir hinsichtlich der Minderung der CO2-Emissionen gerade in den letzten beiden
Jahren immer weiter zurückgefallen sind. Die Aufgaben
werden schwieriger: Im Jahre 2005 betrugen unsere
CO2-Emissionen 872 Millionen Tonnen. Die Franzosen,
die 78 Prozent ihrer Stromproduktion mit kerntechnologischen Anlagen abdecken, hatten im Vergleich dazu nur
353 Millionen Tonnen. - Ich bin davon überzeugt - und
mit mir meine Fraktion -, dass wir das Klimaschutzziel
nicht erreichen können, wenn wir im Zeitraum bis 2020
auf die Kernenergie verzichten.
Ein Verzicht auf die Kernenergie könnte schiefgehen; denn wir müssen bedenken, dass ein Drittel der
deutschen Stromproduktion durch die 17 noch existierenden Kernkraftwerke erfolgt, die auf eine mögliche
Laufzeitverlängerung hoffen. Das heißt, 50 Prozent der
Grundlast basieren auf der Kerntechnologie, auf die wir
zumindest kurz- und mittelfristig schlecht verzichten
können.
({1})
Diese 50 Prozent können nicht allein durch erneuerbare
Energien ersetzt werden; denn nicht alle sind grundlastfähig. Das ist das Problem.
({2})
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir auf neue
Kraftwerke setzen müssen, auf Kraftwerke, die fossile
Brennstoffe wie Kohle, Öl oder Gas nutzen. Das führt jedoch wieder zu mehr CO2-Emissionen und damit zu höheren Kosten. Es führt auch zu weniger Sicherheit bei
der Versorgung, weil eine größere Abhängigkeit von Importen entsteht. Das macht unsere Energielage in
Deutschland insgesamt kritischer. Die Erreichung unserer ehrgeizigen Klimaschutzziele, die wir unterstreichen,
wird dadurch immer weniger wahrscheinlich.
Ich muss schließen. Ich hoffe darauf, dass auch Sie,
die Herren und Damen der Koalitionsfraktionen, einsehen,
({3})
dass aufgrund Ihrer Ideologie die Energie teurer wird
und es der Umwelt schlechter geht. Versuchen Sie, das
zu verhindern, und sagen Sie Ja zu einer Verlängerung
der Laufzeiten der Kernkraftwerke.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir können in diesen Tagen nicht über den Klimaschutz
diskutieren, ohne einen Blick nach Heiligendamm zu
werfen;
({0})
wir wissen, dass viele Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt dies
ebenfalls tun. Der Zwischenruf seitens der Linkspartei
zeigt, dass manche Menschen dies auch mit einer gewissen Sorge tun, nämlich der Sorge, ob es dort wirklich gelingt, einen Durchbruch zu erzielen. Genau das hat sich
die Bundeskanzlerin zum Ziel gesetzt. Die Bundesregierung hat dies von Anfang an in den Mittelpunkt der Vorbereitungen gestellt: Wir wollen auf diesem G-8-Gipfel
die Vorarbeiten dafür leisten, dass Ende dieses Jahres auf
Bali der Durchbruch für ein internationales Klimaschutzregime für die Zeit nach 2012 erreicht werden
kann. Wir wissen, wenn dieser Durchbruch nicht gelingt,
dann wird es unglaublich schwer werden.
({1})
Ich glaube, von uns allen als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands, als gesamtes Haus, sollte
von dieser Stelle aus ein Signal an die Bundesregierung
ausgehen, dass wir diese Initiative unterstützen. Wenn in
Heiligendamm demonstriert wird, dann doch mit dem
Ziel, die Bundesregierung zu unterstützen; denn wir wissen, dass die G-8-Staaten, die dort vertreten sind, für den
Großteil der CO2-Emissionen in der Welt - nur acht
Staaten verursachen fast 50 Prozent - verantwortlich
sind. Damit haben diejenigen, die dort versammelt sind,
den Schlüssel in der Hand.
Es ist daher richtig, dass die Bundeskanzlerin auch
deutliche Worte gegenüber dem amerikanischen Präsidenten findet und die USA immer wieder drängt, ermahnt und auffordert, sich in den Klimaschutzprozess
einzubringen. Nach meiner Überzeugung müssen wir
immer wieder deutlich machen, dass wir ohne die USA
nichts erreichen können, weil ihnen als weltweit größter
Emittent eine Schlüsselrolle zukommt.
({2})
Andreas Jung ({3})
Solange die USA nicht mitmachen, können sich viel zu
viele Länder darauf berufen und sich ebenfalls untätig
zurücklehnen.
Insofern bitte ich alle, zu demonstrieren. Sie sollten
aber nicht gegen etwas demonstrieren, sondern für etwas, nämlich für die Ziele, die die Bundesregierung in
Heiligendamm erreichen will.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Ich finde es
ausgesprochen gut, dass nicht nur geredet wird, sondern
dass auch durch Handeln dokumentiert wird, dass sich in
Heiligendamm kein Club einiger reicher und mächtiger
Industriestaaten trifft - es ist kein „Closed Shop“, in dem
man unter sich bleibt -, sondern dass dort auch Gespräche mit den Regierungschefs der Schwellenländer geführt werden. Die Bundeskanzlerin hat in der gestrigen
Debatte darauf hingewiesen, dass wir ohne die Schwellenländer viele Ziele nicht erreichen können. Sie hat in
diesem Zusammenhang ausdrücklich den Klimaschutz
erwähnt. Es ist richtig: Wir brauchen dafür auch die
USA. Wir haben hier als Industriestaaten eine besondere
Verantwortung. Es wird aber nicht ohne die Länder gehen, die derzeit wirtschaftlich aufholen - manche von ihnen, wie China, sind auf dem Weg, sogar die USA zu
überholen - und dadurch verstärkt zu den CO2-Emissionen beitragen. Insofern ist es gut, dass China, Indien,
Brasilien und Mexiko beteiligt sind, damit gemeinsam
beraten werden kann, wie wir vorankommen können.
Es ist auch richtig, dass Afrika im Fokus dieses Gipfels steht. Darauf hat die Bundeskanzlerin gestern sehr
dezidiert hingewiesen.
({4})
Sie hat auch das mit dem Klimaschutz verknüpft. Wir
müssen uns fragen, wie wir den Belangen der Entwicklungsländer gerecht werden können, die zu Recht beklagen, dass sie die Hauptlast der negativen Folgen der
CO2-Emissionen tragen, obwohl sie nur einen verschwindend geringen Anteil daran haben. Weil sie wissen, dass wir über neue Technologien verfügen und erneuerbare Energien nutzen, treten diese Länder mit der
Forderung an uns heran, auch ihnen Zugang zu diesen
Möglichkeiten zu verschaffen. Wir stehen unsererseits
vor der Problematik, dass diese Technologien nicht in
staatlicher Hand sind; sie sind in privatem Besitz, und
das geistige Eigentum ist durch Patente geschützt.
Es ist deshalb aber umso wichtiger, dass wir uns darum bemühen, die im Kiotoprotokoll vorgesehenen Instrumente, zum Beispiel den CDM, zu nutzen, sodass sie
nicht nur auf dem Papier fortbestehen. Wir haben uns als
Große Koalition dafür ausgesprochen, den Anteil solcher Entwicklungshilfeprojekte am nationalen Budget
im Emissionshandelssystem auf 20 Prozent zu erhöhen.
Ich halte das für richtig. Wir denken in der Union sogar
darüber nach, ob man nicht noch mehr machen kann.
Es ist aber auch danach zu fragen, wie die praktische
Umsetzbarkeit verbessert werden kann; denn es ist festzustellen, dass vielleicht in China manche Projekte umgesetzt werden, aber gerade in Afrika noch viel zu wenig
in diesem Bereich geschieht.
({5})
Insofern meine ich - das war auch Gegenstand der Anhörung zum Klimaschutz, die diese Woche im Bundestag stattgefunden hat -, dass die Europäische Union alles
tun muss, um die Voraussetzungen zu verbessern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den G-8-Gipfel
unter das Motto „Wachstum und Verantwortung“ gestellt. Ich bin der Überzeugung, dass darin der Schlüssel
für die Diskussion in der internationalen Klimaschutzpolitik liegt. Wir sollten vorleben, dass Wachstum und
Verantwortung keine Gegensätze sind; denn derjenige,
der Verantwortung für das Weltklima und den Klimaschutz übernimmt, muss nicht auf Wachstum verzichten.
Ein erhöhter CO2-Ausstoß ist keine Voraussetzung für
ein erhöhtes Wirtschaftswachstum. Unsere Verantwortung besteht darin, im eigenen Land zu beweisen, dass
beides möglich ist: Unsere Wirtschaft wächst, obwohl
wir ehrgeizige Maßnahmen zugunsten des Klimaschutzes durchführen.
Energieeffizienz - in Gebäuden, aber auch im Privathaushalt - ist eines der wichtigsten Themen dieser Großen Koalition.
({6})
Bei Haushaltsgeräten treten wir für das Top-Runner-Programm ein, mit dem das beste Gerät zum Standard werden soll. So entsteht in der Wirtschaft Handlungsdruck,
dem „besten“ Hersteller zu folgen und nicht hinter seinem Niveau zurückzubleiben. Effizienz ist auch im Verkehrsbereich ein wichtiges Gebot. Alle Maßnahmen, die
wir bereits umgesetzt haben oder vorhaben - wie die
Umstellung der Kfz-Steuer auf den CO2-Verbrauch, die
Klimaschutzvorgaben bei den Personenkraftwagen oder
die Einbeziehung des Flugverkehrs in den CO2-Emissionshandel -, zielen doch darauf ab, mit möglichst wenig Energie möglichst viel zu erreichen und bei möglichst wenig CO2-Ausstoß möglichst viel Mobilität und
Wirtschaftswachstum zu haben und diesbezüglich nicht
in irgendeiner Weise zurückstecken zu müssen. - Wir
müssen in all diesen Bereichen effizienter werden.
Das gilt selbstverständlich auch für die Energieerzeugung. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir
mit neuen, umweltfreundlichen Energien unsere Energieversorgung sicherstellen können. Deshalb ist es überhaupt keine Frage, dass die Große Koalition erneuerbare
Energien und nachwachsende Rohstoffe fördert. Wir
wollen immer mehr und möglichst viel unseres Energiebedarfs damit abdecken.
({7})
Deshalb ist es auch wichtig, dass wir das Ziel der Energieeffizienz im Rahmen des Emissionshandelsplans verfolgen. Wir haben ein Cap vorgelegt, mit dem wir unsere
Kiotoverpflichtung, die Reduktion des CO2-Ausstoßes
um 21 Prozent bis zum Jahre 2012, erreichen werden.
Es ist schon gesagt worden, dass wir noch ehrgeizigere Ziele haben. Wir als Deutscher Bundestag haben
das Ziel formuliert, unsere CO2-Emissionen bis zum
Andreas Jung ({8})
Jahr 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Minister Gabriel
hat in seiner Regierungserklärung ein Acht-Punkte-Programm vorgelegt, mit dem das seiner Meinung nach erreicht werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
FDP, Sie sagen jetzt, dass wir unser Ziel ohne die Nutzung der Kernenergie nicht erreichen können
({9})
und stellen einen Antrag auf Laufzeitverlängerung. Sie
kennen doch unsere Koalitionsvereinbarung. Sie wissen,
dass wir diesem Antrag nicht zustimmen werden.
Ich finde richtig, dass wir, wie Sie in Ihrem Antrag
schreiben, dieses Thema ideologiefrei diskutieren müssen. Wenn man das tut, stehen sich zwei Dinge gegenüber: auf der einen Seite die Risiken, die sich aus dem
Umgang mit radioaktivem Material ergeben, auf der anderen die Möglichkeit einer weitgehend CO2-freien
Energieproduktion. Diese Diskussion wird man beizeiten führen müssen.
({10})
Man wird fragen müssen, wann das Risiko größer ist:
wenn man die Laufzeit sicherer, bestehender Kraftwerke
um einige Zeit verlängert oder wenn man neue Kohlekraftwerke baut und damit die Energieerzeugung auf Basis des Kohlenstoffdioxidausstoßes fortsetzt, die ja gerade für den Klimawandel verantwortlich ist? Diese
Diskussion müssen wir führen, sobald sich diese Frage
stellt. Ich freue mich darauf, dies mit Ihnen allen in den
kommenden Monaten und darüber hinaus zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva BullingSchröter, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe gestern einem Wettlauf von Vertretern der G-8Staaten gegen einen Eisbären beigewohnt. Leider ist in
diesem Szenario der Eisbär gefallen. Damit das nicht
Wirklichkeit wird, werden wir darüber nachdenken und
etwas dafür tun müssen, damit das Klima gerettet werden kann. Die Aktion fand gestern in der Frühe in der
Nähe des Bundestages statt. Sie wurde von G-8-GipfelGegnern veranstaltet, die sich große Sorgen machen,
dass das Klima den Mächtigen dieser Welt geopfert
wird. Das wollen wir nicht.
({0})
Der jüngste IPCC-Bericht spricht für sich; am Dienstag hat uns Herr Pachauri noch einmal sehr eindrucksvoll die Probleme dargelegt. Am Mittwoch hatten wir
eine Anhörung zum Thema Klimawandel. Es gibt wirklich Handlungsbedarf. Jetzt gibt es auch noch den alarmierenden Hinweis, dass die CO2-Emissionen seit der
Jahrhundertwende weltweit dreimal schneller ansteigen
als in den 90er-Jahren. Wir müssen aufpassen, dass sie
nicht weiter ansteigen.
Auch hierzulande steckt der Klimaschutz in einer
Sackgasse. In Deutschland ist der CO2-Ausstoß heute
höher als 1990. Wenn wir nicht aufpassen, steigt er weiter. Jetzt wird der Bau neuer Kohlekraftwerke geplant,
40 an der Zahl. Vonseiten der SPD wird immer wieder
gesagt, sie würden gar nicht gebaut werden. Deshalb
mein Appell: Tun Sie endlich etwas dafür, dass wir in
diesem Land einen ökologischen Energiemix erhalten
und dass die Kohlekraftwerke nicht gebaut werden! Setzen Sie sich dafür beim nächsten Energiegipfel ein! Tun
Sie etwas! Ein CO2-freies Kohlekraftwerk gibt es nicht.
Das ist eine Lüge. Diese Mär sollte öffentlich so nicht
stehen bleiben.
({1})
Die FDP meint in ihrem Antrag, der Bundesregierung
fehle eine schlüssige Strategie. Wir, Die Linke, meinen,
dass ihr der Wille fehlt, sich mit den Konzernen anzulegen. Die Liberalen wollen die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern. Herr Jung hat sich dazu seltsamerweise gar nicht geäußert. Haben Sie vergessen, dass es
Tschernobyl gab? Von Ihnen war doch im letzten Jahr
jemand dabei, als es um den 20. Jahrestag der damaligen
Katastrophe ging. Oder was ist mit Forsmark? Hat das
nicht existiert? Auch dass Kernbrennstoffe in einem halben Jahrhundert aufgebraucht sein werden, blendet die
liberale Fraktion aus. Um ein paar Großkonzerne ein
paar Jahre länger zu bedienen und ihnen Profite zu ermöglichen, wollen die Liberalen den strahlenden Abfallberg weiter vergrößern. Es gibt Zahlen darüber, welche
Profite ein abgeschriebenes Atomkraftwerk pro Jahr erwirtschaftet.
Es gibt den Vorschlag von Herrn Glos - Sie haben
darüber leider nicht gesprochen -, diese Gewinne abzuschöpfen und anschließend in regenerative Energien zu
investieren; darüber werden wir noch sprechen. Aber ist
das glaubhaft? Sie schaffen es bislang noch nicht einmal,
die Sonderprofite abzuschöpfen. Und dann wollen Sie
einen neuen Vertrag schließen, der wahrscheinlich wieder nicht eingehalten wird? Ihre Glaubwürdigkeit ist
gleich null. Dieser Vorschlag verhindert eine nachhaltige
Energiewende. Wir brauchen keine zentralisierte Energieinfrastruktur, sondern regenerative Energien.
Dass der Atomstrom wirtschaftlicher ist, wie Sie es
uns immer weismachen wollen, stimmt nicht, Frau
Kopp. Gehen Sie einmal zur Strombörse in Leipzig und
schauen Sie sich an, wie sich der Börsenpreis zusammensetzt. Abgeschriebene Atomkraftwerke erwirtschaften dort Milliardenprofite, weil Steinkohle oder Gas
den Grenzpreis bilden. Kein Cent wird an die Kunden
weitergegeben. Im Übrigen ist es merkwürdig, dass ausgerechnet Sie die ideologiefreien Klimaretter sein wollen. Ich kann mich noch an die letzten Legislaturperioden erinnern. Damals saßen Sie auf dem Schoß von
RWE und Vattenfall.
All das wollen wir nicht. Der von uns eingebrachte
Antrag, über den heute abgestimmt wird, sieht ein
Sofortprogramm vor. Wir wollen eine Reduktion der
Treibhausgase um 40 Prozent bis zum Jahr 2020, egal ob
andere Industrieländer ebenfalls reduzieren. Wir halten
es auf jeden Fall für dringend notwendig. Bis 2050 muss
die Reduktion bei 80 Prozent liegen.
Das Top-Runner-Programm wurde bereits angesprochen. Bitte legen Sie ein solches Programm auf. Wir
werden das unterstützen.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie müssen sie
nur annehmen.
Danke.
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Pries für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal
in dieser Wahlperiode über die Zukunft der deutschen
Atomkraftwerke. Niemand von uns wird von der heutigen Aussprache ernsthaft neue Erkenntnisse erwarten.
Stellt sich die Frage, warum wir trotzdem ständig darüber diskutieren. Die Ursache ist eine geradezu rührende Besorgnis zweier Oppositionsfraktionen um die
Position der SPD. Da sind zunächst die Grünen. Sie können einfach nicht glauben, dass wir beim Atomausstieg
nicht wackeln. Da ist die FDP. Sie will einfach nicht
glauben, dass wir beim Atomausstieg nicht wackeln. Um
es kurz zu machen: Die SPD wird beim Atomausstieg
nicht wackeln.
({0})
Für uns ist die Atomenergie keine Zukunftstechnologie.
Für uns ist die Atomtechnologie keine Übergangstechnologie. Für uns ist die Atomenergie ein Auslaufmodell.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die
Atomenergie leistet keinen nennenswerten Beitrag zum
Klimaschutz. Dies belegen mehrere aktuelle Szenarien
unabhängig voneinander. Frau Kopp, ich hoffe, dass
Sie sie auch einmal lesen. Sie machen deutlich, dass
das 40-Prozent-Ziel bei der Reduktion der Treibhausgase und der Atomausstieg bis 2020 zu vertretbaren
Kosten realisiert werden können. Ein Beispiel: Das ÖkoInstitut hat die Klimabilanzen der Strombereitstellung
aus nuklearen, fossilen und erneuerbaren Energien für
den gesamten Lebenszyklus verglichen. Das Ergebnis:
Mit Biogas betriebene Blockheizkraftwerke, erneuerbare
Energien und Maßnahmen zur Energieeffizienz haben
eine günstigere Bilanz als Atomstrom. Blockheizkraftwerke auf Erdgasbasis liegen bei den CO2-Emissionen
nahezu gleichauf mit Atomkraftwerken; denn Atomkraftwerke erzeugen nur Strom, aber keine Wärmeenergie. Die Berechnungen des Öko-Instituts lassen zudem
die zusätzlichen Emissionen der Endlagerung für radioaktive Abfälle unberücksichtigt. Es bleibt also festzuhalten: Die CO2-Freiheit der Atomenergie ist eine Mär, die
auch durch permanente Wiederholung nicht wahr wird.
({2})
Mehr noch: Die Klimabilanz der Atomenergie wird
sich in den kommenden Jahren weiter verschlechtern,
Frau Kopp. Warum? Für die Befriedigung des weltweiten Uranbedarfs müssen zukünftig immer schlechtere
Erzqualitäten ausgebeutet werden. Der höhere Aufwand führt zu einer Steigerung der CO2-Emissionen.
Gleichzeitig verschlechtert sich die Energiebilanz der
Atomkraft. Das heißt, der Energiebedarf zur Urangewinnung nimmt im Vergleich zur neu erzeugten Energiemenge der Atomkraftwerke zu. Im Endstadium wird die
Atomenergie mehr Energie verbrauchen, als sie produziert. Das ist eine Feststellung, die im übertragenen
Sinne bereits für die heutige Debatte gilt. Wir erhitzen
seit Jahren unsere Gemüter in der Diskussion über eine
Energieform, die gerade einmal 3 Prozent des weltweiten Verbrauchs deckt. Eine Marginalie, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kopp?
Ja, gerne.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass
nach seriösen und neuesten Studien während des gesamten Lebenszyklus von Uran - von der Gewinnung bis hin
zur Endlagerung - zwischen einem und drei Hundertstel
der CO2-Emissionen entstehen, die bei einem Braunkohlekraftwerk anfallen? Die Vergleiche kann man für alle
anderen Kraftwerke fortsetzen. Ihr Parteivorsitzender,
Herr Beck, hat schon einmal eine Aussage zu diesem
Thema getroffen. Ich denke, diese Informationen sollten
inzwischen bei allen Mitgliedern der SPD-Fraktion angekommen sein.
Meine liebe Frau Kopp, ich habe es gerade ausgeführt: Die Qualität des Uranerzes wird immer schlechter
werden, sodass die Energiebilanz insgesamt schlechter
wird. Man kann eines sagen: Je mehr Atomkraftwerke
gebaut werden, desto problematischer wird diese ganze
Angelegenheit. Wir müssen sehen, dass wir auch dem
Klimaschutz zuliebe so schnell wie möglich bis zum
Jahre 2020 aus dieser Energieform aussteigen.
({0})
Wenn wir den Anteil an Atomenergie signifikant steigern wollten, wäre ein gigantisches Ausbauprogramm
erforderlich. Das ist finanziell utopisch und sicherheitspolitisch und sicherheitstechnisch unverantwortlich. Was
wir brauchen, sind nicht mehr Megawatt in der Produktion, sondern weniger Megawatt im Verbrauch. Wir
brauchen eine höhere Energieproduktivität und mehr erneuerbare Energien. Dezentrale, effiziente und flexible
Versorgungsstrukturen sind die Lösung, nicht längere
Laufzeiten für Uraltreaktoren. Lassen Sie uns deshalb
gemeinsam auf der Basis des Atomkonsenses an einer
zukunftsfähigen und klimaverträglichen Energieversorgung arbeiten. Die SPD-Fraktion ist dazu bereit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ein Vergnügen
teilen wir bei diesen Debatten, nämlich den Spaß an der
Uneinigkeit in der Großen Koalition über dieses Thema.
({0})
- Ja, damit ist unsere Einigkeit natürlich ausgeschöpft,
nicht aber die Uneinigkeit der Koalition.
Ein besonders drastisches Beispiel für diese Uneinigkeit erleben wir gerade wieder: Minister Gabriel lehnt
- ganz auf dem Boden des Atomgesetzes - den Hauptantrag von RWE zur Verlängerung der Laufzeit von
Biblis A ab.
({1})
Es handelt sich um einen Reaktor, der als Vertreter der
„unverzichtbaren Atomenergie“ seit einem halben Jahr
- übrigens völlig unbemerkt - wegen seiner fehlenden
Dübel stillsteht, und keiner merkt irgendetwas in Bezug
auf den Strombedarf. Gleichzeitig unterstützt Minister
Glos das Vertragsangebot von EnBW-Chef Claassen, der
vorgeschlagen hat, den Atomausstieg im Grundgesetz
festzuschreiben, gegen Verlängerung der Laufzeiten
über die im Ausstiegsgesetz festgelegten Fristen. Wahrlich ein großzügiges Angebot!
Hatten wir nicht schon einmal Verhandlungen? Hatten wir nicht schon einmal einen Vertrag? Ist dieser Vertrag nicht unterschrieben worden? Welche Botschaft
geht von diesem neuen Verhandlungsangebot aus? Vielleicht die, dass die Unterschrift von Chefs von Energiekonzernen erst dann gültig ist, wenn sie im Grundgesetz
verankert ist? Die Lehre daraus kann nur sein: Hände
weg von Verträgen mit Atomkonzernen! Bitte, keine
Neuauflage davon!
({2})
Wie ist es denn nun mit dem Argument des Klimaschutzes? Die Konzerne machen sich Sorgen um das
Klima und um den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Beides ist neu, beides ist unglaubwürdig. Denn was tun
sie gerade? Bauen sie Biomassekraftwerke? Bauen sie
Solarparks? Ja, in homöopathischen Dosen. In großer
Zahl beantragen und planen sie Genehmigungen für
Kohlekraftwerke. Würden all die geplanten Kohlekraftwerke ans Netz gehen, dann läge der CO2-Ausstoß
bei 170 Millionen Tonnen im Jahr. So viel zum Anspruch der Chefs der Energiekonzerne, Klimaschützer zu
sein.
Ökonomisch gedacht, ist das Ganze angesichts der
Angebote, die Ihr Minister den Energiekonzernen zum
Bau neuer Kohlekraftwerke macht - Stichwort „Emissionshandel“ -, übrigens wenig verwunderlich. Ich sage
Ihnen: Wer der Argumentation Ihres Ministers - wer die
Kohle nicht will, wird Atom bekommen - folgt, der wird
am Ende beides haben. Die Argumentation ist nämlich
diese: die Atomkraft als Brücke zur CCS-Technologie,
und die CCS-Technologie als Brücke zu den erneuerbaren Energien. So viel Übergangstechnologie hin zu
einer Energieform, die - ganz im Gegensatz zur CCSTechnologie - bereits heute da ist!
({3})
Wie sah es denn im Januar 2007 aus? Hören Sie sich
die Zahlen gut an: 9 483 Gigawatt Strom aus erneuerbaren Energien wurden ins Netz eingespeist, und das bei
einer Gesamtmenge von 44 136 Gigawatt. Das heißt, es
gab fast 10 000 Gigawatt Strom aus erneuerbaren Energien. Das Vergnügen, sich den Prozentsatz auszurechnen, überlasse ich Ihnen gerne selbst. Die VDN-Prognose für 2007 von 15,84 Prozent werden wir
wahrscheinlich deutlich übertreffen. Der WBGU
schließt daraus, dass wir im Jahr 2025 global zwei Drittel des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien herstellen können.
Schauen wir zurück. Atomstrom hat im Jahr 2006
einen Anteil von 26,3 Prozent gehabt. Der Anteil der erneuerbaren Energien lag in diesem Jahr bereits bei
12 Prozent. Ich sehe nicht, inwiefern diese Zahlen beweisen, dass wir das eine unverzichtbar brauchen, weil
das andere so schwach ist.
({4})
Die Konzerne werden die erneuerbaren Energien
nicht voranbringen. Dezentrale Energiestrukturen brauchen keine Konzerne. Erneuerbare Energien brauchen
keine Großkraftwerke, und Effizienz und Großkraftwerke passen nicht zusammen. Das Zauberwort für die
klimaschützende Nutzung von Biomasse, Gas und Kohle
- solange wir sie noch brauchen - heißt aber KraftWärme-Kopplung. Sie funktioniert weder in AKWs
noch mit der CCS-Technologie. Sie funktioniert dezentral, und sie funktioniert in einem zukunftsfähigen
Klimaschutzkonzept. Deshalb, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der FDP: Besinnen Sie sich auf Ihre Mittelstandspolitik, die Sie immer so gern vor sich her getragen haben, und helfen Sie uns, die Regierung dazu zu
bringen, die innovationsverhindernden und effizienzarmen Großkraftwerke abzuschaffen!
Zum Schluss an diejenigen, die das vergessen haben:
Das Risiko der Atomkraft, das die Begründung für den
in Deutschland beschlossenen Atomausstieg ist, relativiert sich auch angesichts des Klimawandels nicht.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Marco Bülow für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Antrag ist betitelt „Klimawandel ernst nehmen“. Jawohl, das ist ein guter Titel. Allerdings frage ich mich,
wie eine Fraktion einen solchen Titel wählen kann, obwohl sie alle Klimaschutzmaßnahmen unter Rot-Grün
und auch unter Schwarz-Rot abgelehnt hat. Ihre einzige
Klimaschutzmaßnahme besteht darin, zu fordern, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen.
({0})
Das ist Etikettenschwindel höchsten Grades. So etwas
muss man dann auch auseinandernehmen.
Die erneuerbaren Energien wurden von der FDP vehement bekämpft; ich denke da an die Diskussion über
die Einführung bzw. Novellierung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes.
({1})
Jetzt, wo man sie nicht mehr bekämpfen kann, fördert
man sie aber auch nicht. Man denkt: Na ja, unter Umständen kann man die erneuerbaren Energien fördern,
aber nur im breiten Energiemix; wenn der Energiemix
das nicht trägt, setzen wir vor allem auf die anderen
Energieträger.
Wenn die FDP mit der gleichen Verve, mit der sie
Atomkraftwerke voranbringen möchte, Biogaskraftwerke mit KWK voranbringen würde, dann könnten wir
eine vernünftige Diskussion führen, und die wäre dann
ideologiefrei.
({2})
Was Sie machen, ist Ideologie und nichts anderes. Das
einzige Argument für Atomkraft ist „mehr Geld“, und
zwar nicht mehr Geld für die Bürgerinnen und Bürger,
sondern für die großen Konzerne.
Schauen wir uns die Stromrechnungen in BadenWürttemberg oder in Bayern, wo der Atomanteil am
höchsten ist, doch einmal an! Sind die Stromrechnungen
da günstiger?
({3})
Nein, sie sind es nicht. Schauen wir uns die Strombörsen, die EEX-Börse an! Frankreich hat, was Strom angeht, den gleichen Level an Kosten wie Deutschland. In
Frankreich gibt es aber viel mehr Atomkraftwerke. Ich
frage Sie: Warum ist der Strom dort nicht billiger? Ich
kann es sagen: weil der Preis nicht umgelegt wird. Der
Preis wird vom Handel bestimmt und richtet sich nicht
nach den einzelnen Sorten.
({4})
Ich freue mich schon auf den Hitzesommer, der den
von 2003 übertreffen wird. Schon damals mussten viele
Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Wenn die Franzosen die Deutschen nicht gehabt hätten, die nämlich
Strom zu zivilen Preisen geliefert haben, dann wäre das
Netz zusammengebrochen. Es konnte nur aufrechterhalten werden, weil wir Gott sei Dank nicht nur Atomkraftwerke haben.
({5})
Wie wollen Sie das weltweit überhaupt hinbekommen? Herr Kauch wird noch reden; er kann es dann vielleicht erläutern. Der Gesamtenergieverbrauch weltweit
wird zu 3 Prozent durch Atomkraft gedeckt, mit ungefähr 435 Atomkraftwerken. Sollten die Atomkraftwerke
einen kleinen Beitrag mehr leisten, müsste die Zahl verdreifacht oder vervierfacht werden. Das würde einen Zubau von 1 500 Atomkraftwerken bedeuten. Ich brauche
nicht zu sagen, wie lange dann das Uran noch reicht. Das
heißt, wir wären dann ganz schnell in der Plutoniumwirtschaft. Dann muss mir auch einmal erklärt werden,
wo diese Atomkraftwerke gebaut werden sollen, wer sie
finanzieren soll und wo sie angeschlossen werden sollen.
Dann können wir uns weiter unterhalten und auch darüber nachdenken, ob sie tatsächlich einen Beitrag zum
Klimaschutz leisten.
({6})
Ich bin eindeutig der Meinung: Wer auf Atomkraftwerke setzt, verhindert neue Investitionen. Es ist schön,
dass die FDP mittlerweile sagt, es sei eine Übergangstechnologie. Da hat sich etwas geändert. Nur: Eine Übergangstechnologie könnte man relativ schnell durch
Zukunftstechnologien ersetzen, und das sind die erneuerbaren Energien. Aber da kommen, gerade von der
Seite der FDP, immer noch Querschüsse, um die erneuerbaren Energien einzuschränken.
Ich will nur zwei Beispiele nennen, die für die Diskussion, die wir über erneuerbare Energien führen, signifikant sind. Mittlerweile kommt niemand mehr darum
herum, zu sagen: Ja, auch ich bin für erneuerbare Energien. - Das gilt selbst für die, die vor zehn oder 20 Jahren das alles noch ins Reich der Utopie verwiesen haben.
Heute ist eher der Weg der, öffentlich zu sagen: „Ja, ich
bin für erneuerbare Energien“, aber im Hintergrund doch
dagegen anzukämpfen.
Es gibt also zwei signifikante Beispiele. Nehmen wir
das schöne Land Baden-Württemberg mit dem schönen
Schwarzwald! Auch ich bin nicht dafür, in jedes Naturschutzgebiet Windkraftanlagen zu stellen. Aber ich muss
doch sagen: Auf der einen Seite wird darauf hingewiesen, dass auf dem Feldberg keine Windkraftanlagen gebaut werden dürfen, weil dieser so schön und so wichtig
ist, aber auf der anderen Seite wird dort mittlerweile die
27. Skipiste gebaut, obwohl man weiß, dass durch den
Klimawandel dort wahrscheinlich leider kein Schnee
mehr fallen wird.
({7})
Zu sagen, da dürfe keine Windkraftanlage hin, aber dann
auch noch die 28. Skipiste bauen zu wollen, das ist eine
Vorgehensweise, die man nicht akzeptieren kann.
({8})
In Baden-Württemberg beträgt der Anteil der Windkraft 0,5 Prozent. Dort steht kaum eine Windkraftanlage.
({9})
Das kann eigentlich nicht sein, weil es in diesem Gebiet
mehrere windhöffige Bereiche gibt. Das darf einfach
nicht Stand der Dinge bleiben; ansonsten werden wir
Klimaschutz nicht erreichen.
({10})
- 0,5 Prozent! Das ist überall nachlesbar.
Ich frage mich, warum sich Leute für Innovationen
einsetzen und die Technik voranbringen - das macht die
Windkraftbranche -, wenn andererseits eine Höhenbegrenzung eingezogen wird. Wenn man will, dass der
Preis sinkt und dass die Windkrafträder wirtschaftlicher
sind, muss man die Höhenbegrenzung aufheben. Dann
bekommen wir einen Riesenbeitrag zum Klimaschutz,
und dann könnten wir die Atomenergie allemal substituieren und hätten eine ganze andere Diskussion.
({11})
Ein letzter Satz: Man darf den Teufel nicht mit dem
Beelzebub austreiben, erst recht nicht, wenn man einen
Erzengel zur Hand hat. Ich glaube, wir sollten die erneuerbaren Energien und die Energieeffizienz wählen. Dann
können wir auf die Atomenergie verzichten.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Ich freue mich immer,
wenn aus meinem Wahlkreis heraus in diesem Haus
Stimmung gemacht wird. Deshalb habe ich mich über
die Rede von Marco Bülow gefreut. Inhaltlich war das
natürlich blanker Populismus.
({0})
Das war in keiner Weise etwas, was in unseren Anträgen
steht.
Wir haben heute zwei Anträge zu beraten. Einer davon macht explizit Aussagen darüber, wie wir erneuerbare Energien in der Welt fördern wollen. Die Sozialdemokratische Partei und die Christlich Demokratische
Union sollten sich mit Blick auf das Wärmegesetz überlegen, ob sie diejenigen sind, die der Opposition erklären
müssen, dass diese keine Vorschläge zu den erneuerbaren Energien hat. Die Koalition hat keine Vorschläge.
({1})
Mit mehr Energieeffizienz, mit erneuerbaren Energien und mit CO2-armer Kohleverstromung können wir
ambitionierte Klimaschutzziele erreichen. Die Kernenergie kann uns als Übergangstechnologie dafür Zeit geben.
Lieber Marco Bülow, die Entscheidung über ihren Einsatz liegt in der Tat bei jedem einzelnen Land. Wir machen hier keine Politik, die vorgibt, wie jedes Land das
zu regeln hat. Das hat nicht der Deutsche Bundestag zu
entscheiden. Wir entscheiden hier für Deutschland. Alle
anderen Entscheidungen sind nationale Entscheidungen
der anderen Staaten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Worte zum
Thema CO2-Abscheidung bei Kohle- und bei Gaskraftwerken sagen. Die SPD ist hier zögerlich. Die Grünen
sind skeptisch, und die Linke ist ablehnend. Ich hätte
mich darüber gefreut, wenn die Kollegin BullingSchröter sich aus der Anhörung, die wir am Mittwoch im
Umwelt- und Forschungsausschuss hatten, nicht nur die
Dinge herausgepickt hätte, die ihr passen, sondern auch
die, die ihr vielleicht nicht so gefallen haben. Wenn Herr
Töpfer, der in diesem Haus als ehemaliger Chef des UNUmweltprogramms insgesamt eine große Zustimmung
genießt, sagt, es sei blanke Augenwischerei, dass man
ohne die Kohle und ohne die CO2-Abscheidung die Klimaschutzziele und die Energieversorgung im globalen
Maßstab erreichen kann, dann sollte Sie das zum Nachdenken bringen, Frau Kollegin Bulling-Schröter.
Aus Sicht der FDP ist die Technologie der CO2-Einsparung in der Tat eine Brückentechnologie. Sie ist aber
eine Brücktechnologie, die notwendig ist, um unsere
Klimaschutzziele perspektivisch bis 2050 zu erreichen.
Alle Energieszenarien zeigen, dass wir danach in die
verstärkte Nutzung der erneuerbaren Energien kommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bulling-Schröter?
Sehr gern.
Herr Kauch, wir haben uns schon des Öfteren über
CCS unterhalten. Geben Sie mir recht, dass die Forschungen zu CCS noch einen weiten Weg vor sich haben
und dass diese Technologie erst im Zeitraum von 2015
bis 2030 eingesetzt werden kann? Geben Sie mir weiter
recht, dass es jetzt darum geht, bis zum Jahr 2020 auch
in Deutschland 40 Prozent der CO2-Emissionen einzusparen?
Hier gibt es also Differenzen im Zeithorizont. Hinzu
kommt, dass ein Kohlekraftwerk, das später über diese
Technologie verfügen wird, einen um 10 bis 15 Prozent
verminderten Wirkungsgrad haben wird. Wir waren gemeinsam bei der Parlamentarierkonferenz in Washington. Der Chef der dortigen größten Kohlekraftwerke hat
all dies bestätigt. Sie müssen verstehen, dass es daher
unsererseits große Skepsis gibt. Sie sind diejenige Partei,
die keine staatlichen Subventionen will.
Frau Kollegin, ich denke, die Frage wurde verstanden.
Genau diese Forschung soll vom Staat aber entsprechend bezahlt werden.
Frau Bulling-Schröter, die Analyse, ab wann diese
Technologie im großtechnischen Maßstab zur Verfügung
stehen wird, ist ja richtig. Wir reden in der Tat über einen
Zeitraum ab ungefähr 2020, vielleicht 2015, vielleicht
2025; das wird die Zeit zeigen. Aber es ist natürlich richtig, dass sie uns heute noch nicht unmittelbar zur Verfügung steht. Deshalb ist das, was die Kollegin Kopp gesagt hat, richtig, nämlich dass wir mit Blick auf die
Klimaschutzziele bis 2020 durchaus noch die Kernenergie brauchen.
({0})
Wir müssen aber mit Blick auf das Klima für die
kommenden Generationen auch die Perspektive bis 2050
und bis 2100 im Auge behalten. Bis 2050 - das zeigen
die Technologieszenarien - hat die CCS-Technologie,
die CO2-Abscheidung, eine zentrale Bedeutung. Erst danach werden die erneuerbaren Energien weltweit ihren
großen Siegeszug antreten können.
Um diesen Siegeszug voranzutreiben, will die FDP in
den nächsten Jahren den Export deutscher Solartechnik
und anderer erneuerbarer Energien forcieren. Wir wollen
ausgewählte Partnerländer zu Modellregionen für den
Einsatz von Solartechnik machen. Denn wir müssen
Leuchttürme schaffen, damit andere Länder sagen: Wir
wollen es genauso machen wie die Länder, die vorangegangen sind.
Die Frage ist: Wie bekommen wir das nötige Geld?
Da sind die flexiblen Mechanismen des Kiotoprotokolls
entscheidend. Notwendig sind eine konsequente Nutzung der Aufforstungsprojekte und bessere Anrechnungsmöglichkeiten für Klimaschutzprojekte der Industrieländer in den Entwicklungsländern. Das müssen wir
ohne Begrenzung machen, ohne ideologische Scheuklappen. Leider hat die Koalition, aber auch die Grüne
Fraktion dazu bisher nicht den Mut. Ich würde mich
freuen, wenn Sie einige Punkte aufgriffen, die in unserem Antrag zur Klimaschutzoffensive 2007 stehen. Das
sind Punkte, bei denen wir über die ideologischen Gräben hinweg gemeinsam Lösungen finden können.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen, zunächst
zum Tagesordnungspunkt 32 a. Hier wird interfraktionell
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3138 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen soll.
Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. -
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 32 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Internationale und europäische Klimaschutzoffen-
sive 2007“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5439, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4610 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-
Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5129 mit dem Titel „Na-
tionales Sofortprogramm und verbindliche Ziele für den
Klimaschutz festlegen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? -
Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich nun den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
mit, dass die Fraktionen sich darauf verständigt haben,
die Zusatzpunkte 6 a bis 6 c - dabei geht es um Vorlagen
zum Unterhaltsrecht - von der Tagesordnung abzuset-
zen. Ich gehe davon aus, dass Sie mit dieser Vereinba-
rung einverstanden sind.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Damit rufe ich die Tagesordnungspunkt 34 a bis 34 c
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Schutz vor den Gefahren des Passivrauchens
- Drucksache 16/5049 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 16/5492 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ilja Seifert
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr ({2}), Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Nichtraucherschutz praktikabel und mit Au-
genmaß umsetzen
- Drucksachen 16/5118, 16/5492 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ilja Seifert
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrates
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Rauchverbot im Deutschen Bundestag umsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Bärbel Höhn, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schutz vor Passivrauchen im Deutschen
Bundestag direkt umsetzen
- Drucksachen 16/4400, 16/4957, 16/5493 Berichterstattung:
Präsident Dr. Norbert Lammert
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die Bundesregierung der Frau Parlamentarischen Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein guter Tag für den Nichtraucherschutz in
Deutschland. Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung des vorliegenden Gesetzes ist der Weg frei für
einen wirksamen Nichtraucherschutz in den Einrichtungen des Bundes. Niemand - ob Mitarbeiterin, Mitarbeiter oder Besucher - muss sich dort mehr den gefährlichen Schadstoffen aufgrund des Passivrauchens
aussetzen. Nach einer langen Diskussion ist dies, wie gesagt, ein guter Tag für den Nichtraucherschutz. Ich
möchte noch hinzufügen, dass wir uns durch die Teilnahme des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck an
dieser Debatte besonders geehrt fühlen.
({0})
Die vorliegenden Regelungen gelten nicht nur für den
Bereich der Ministerien, sondern auch für über
500 Einrichtungen bis hin zur Bundesagentur für Arbeit.
Dazu gehören aber auch die Deutsche Welle und die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
({1})
Auch das Personal und die Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel sind nicht mehr den Schadstoffen ausgesetzt. Die Bahn wird in Zukunft komplett rauchfrei sein.
Dies ist ein großer Erfolg angesichts der Tatsache - das
können Vielreisende bestätigen -, dass man in der Vergangenheit am Wochenende häufig nur noch eine Sitzplatzreservierung für ein Raucherabteil ergattern konnte.
Tabakkonsum ist weltweit die zweithäufigste Todesursache. Die WHO hat dazu jüngst neue Zahlen vorgelegt. Wir wissen, dass in Deutschland rund 40 000 Todesfälle - verursacht durch Lungenkrebs - mittelbar
bzw. unmittelbar mit dem Rauchen zusammenhängen.
Aber auch das Problem Passivrauchen wurde über Jahre
gesundheitspolitisch unterschätzt. Die Schätzungen des
Deutschen Krebsforschungszentrums belegen, dass wir
fast 4 000 Todesfälle pro Jahr haben, die auf das Passivrauchen zurückzuführen sind. Ich will an dieser Stelle
betonen: Beim Thema Passivrauchen geht es nicht um
die Freiheit in der Lebensführung. Es geht vielmehr darum, dass man mit seinem Verhalten andere nicht schädigen darf.
({2})
Ich glaube, die wichtige Botschaft ist, dass vor allem
diejenigen von dem Gesetz profitieren, die schon lange
durch das Passivrauchen in ihrer Gesundheit beeinträchtigt wurden.
Ich bin sehr froh, dass die Fraktionen entschieden haben, dass für den Deutschen Bundestag - auch für die
Abgeordneten - genau das gelten soll, was für die Bundeseinrichtungen gilt. Damit zeigen wir als Abgeordnete, dass es keine Ausnahmen geben soll und dass uns
der Nichtraucherschutz überall gleich viel Wert ist.
Ein besonderer Dank gilt den anderen Verfassungsorganen Bundespräsident, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, die auf ihren ausdrücklichen Wunsch in
den Geltungsbereich des Gesetzes einbezogen werden.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird außerdem der
Jugendschutz bei der Abgabe von Zigaretten weiter
verbessert, indem das Abgabealter auf 18 Jahre angehoben wird. Unsere Bemühungen, immer mehr Jugendliche vom Rauchen abzubringen, waren in den letzten
Jahren erfolgreich. Die Raucherquote unter den Jugendlichen ist von 28 Prozent auf 20 Prozent gesunken. Aber
leider liegt das Einstiegsalter immer noch bei 13 Jahren.
Das zeigt uns, dass wir noch mehr tun und die Präventionsanstrengungen verstärken müssen. Wir geben mit
diesem Gesetz die klare Botschaft, dass das Nichtrauchen in Deutschland der Normalfall ist und dass es uns
mit dem Jugendschutz ernst ist.
({3})
Für uns ist besonders wichtig, dass dieses Gesetz
noch unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft verabschiedet wird. Im europäischen Vergleich haben wir
bislang keine besondere Rolle gespielt. Ich bin froh, dass
wir endlich mit anderen europäischen Ländern wie Italien, Irland und Schweden auf gleicher Augenhöhe sind.
In diesen Ländern gibt es Nichtraucherschutzregelungen
schon seit 2004.
Ich appelliere an dieser Stelle an die Bundesländer
- sie sind jetzt an der Reihe, nachdem der Bund für seinen Bereich Regelungen vorgelegt hat -, nun das Gleiche für ihren Bereich zu tun. Es gibt hierzu eine Verabredung. Ich bin sehr froh, dass erste Bundesländer bereits
Gesetzentwürfe eingebracht haben oder diese in der Ressortabstimmung sind. Ich gehe davon aus, dass in der
Bundesrepublik Deutschland bis zum Ende dieses Jahres
ein hohes Schutzniveau verwirklicht sein wird und dass
wir mit anderen europäischen Ländern auf gleicher
Augenhöhe sein werden.
Am Ende möchte ich mich bei vielen Kolleginnen
und Kollegen aus der Mitte fast aller Fraktionen - bis
auf die FDP-Fraktion - sehr herzlich bedanken, die dieses Thema über lange Jahre begleitet
({4})
und mit fraktionsübergreifenden Initiativen und Anträgen wichtige Vorarbeiten geleistet haben. Ich glaube, es
ist am Schluss ein sehr gutes Gesetz geworden. Ein besonderer Dank gilt den Mitgliedern der Arbeitsgruppe
der beiden Koalitionsfraktionen und den Kollegen vom
Bundesverbraucherschutzministerium.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Goethe
führt uns heute hier zusammen:
Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch
endlich Taten sehen.
({0})
Eine Großtat ist das, Frau Staatssekretärin, Frau Ministerin, worüber wir heute abstimmen, aber nicht, eher eine
Alibireaktion auf den geschickt gesteuerten öffentlichen
und veröffentlichten Druck, dem Sie sich irgendwie beugen mussten.
Die Fronten sind und bleiben verhärtet. Eigentlich
gibt es nichts Neues zu debattieren. Wäre da nicht die
Anhörung gewesen! Danach ist mir deutlich geworden:
Gesundheitspolitik wird für manche mehr und mehr
missionarisch-eifernd zur Religion. Glaubensbekenntnisse sollen wohl Argumente ersetzen. Radikalität
scheint an die Stelle von Sachlichkeit zu treten.
({1})
Dabei muss es beim Nichtraucherschutz um Augenmaß und Praktikabilität gehen. Natürlich müssen wir
Kinder und Jugendliche besser schützen. Natürlich müssen Menschen an Orten, an denen sie sich aufhalten, vor
dem Passivrauchen geschützt werden. Natürlich müsste
es aber auch Orte geben, an denen es den Bürgern freigestellt ist, zu rauchen oder eben nicht zu rauchen.
({2})
Insofern begrüßen wir, dass nach dem Gesetzentwurf
gesonderte und entsprechend gekennzeichnete Räume
vorgehalten werden können. Wir begrüßen, dass die
Bundesregierung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
wahren und zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ausnahmeregelungen zulassen will. Wir begrüßen, dass sie neue technische und wirksame Entwicklungen im Hinblick auf Be- und Entlüftungsmaßnahmen
im Auge behalten will - ganz im Gegensatz zum Deutschen Krebsforschungszentrum, das nicht einmal in Gespräche mit den Herstellern eintreten will.
Mit dem Großteil Ihres Gesetzentwurfes rennen Sie
offene Türen ein. In unzähligen Behörden und Dienststellen sind Rauchverbote bereits über das Hausrecht erlassen. In S- und U-Bahnen, in Straßenbahnen und Bussen darf schon lange nicht mehr geraucht werden. Flüge
sind rauchfrei, und über die Arbeitsstättenverordnung ist
das Rauchen am Arbeitsplatz bereits sehr stark eingeschränkt.
({3})
Trotz dieser und anderer Übereinstimmungen wird
die FDP dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können.
Wir haben immer den notwendigen Schutz von Kindern und Jugendlichen besonders betont. Durch Ihre
Verbotspolitik erreichen Sie aber das genaue Gegenteil.
({4})
Die neuesten Daten des Umweltbundesamtes im „Kinder-Umwelt-Survey“ zeigen, dass durch Reglementierung des Nikotinkonsums die Belastung für Kinder zu
Hause in letzter Zeit dramatische Ausmaße angenommen hat.
({5})
Grund für die zunehmende Qualmbelastung der Kinder
ist: Viele Eltern rauchen mehr am heimischen Herd als in
der Öffentlichkeit. Vor diesen Folgen der Verbotspolitik
haben wir immer gewarnt. Sie haben das zu verantworten.
Sie beharren in einem weiteren Bereich auf einem Irrglauben, auf dem Irrglauben, dass die Anhebung der Altersgrenzen das Verhalten der Jugendlichen ändert. Aus
der Schweiz hören wir, dass der Bundesrat zwar ein Verbot des Tabakverkaufs an Minderjährige befürwortet.
Ein generelles Konsumverbot für Jugendliche unter
18 Jahren lehnt er jedoch ab. Eine solche Maßnahme sei
in der Praxis kaum umsetzbar und ihre präventive Wirkung wissenschaftlich nicht belegt, heißt es aus dem
Nachbarland.
Verzichten Sie, meine Damen und Herren von Union
und SPD, Frau Ministerin, Frau Staatssekretärin, auf solche Pseudomaßnahmen! Dann brauchten die soeben auf
verbesserten Jugendschutz hin weiterentwickelten Zigarettenautomaten nicht erneut umgestellt zu werden, und
die Frist zur Umstellung brauchte nicht willkürlich verkürzt zu werden, wie Sie es in einem Änderungsantrag
fordern.
Zu den weiteren Missgriffen der Bundesregierung gehört, den Bundestag zunächst mit den obersten Bundesbehörden gleichzusetzen und ihn später mit den übrigen
Verfassungsorganen in das Gesetz einzuarbeiten. Die
Absichtserklärungen aller Fraktionen, das Gesetz über
unser Hausrecht eins zu eins auch hier umzusetzen, sollten doch reichen. Von welchem Selbstverständnis sind
die Kolleginnen und Kollegen, die hier zustimmen und
die Bundesregierung ermächtigen, in dieses Hohe Haus
hineinzuregieren, eigentlich geprägt?
({6})
Welche skurrilen Folgen solch gesetzgeberischer
Übereifer haben kann, hat die Anhörung gezeigt: Da
finden sich - in Anführungszeichen - Visionen von verbunkerten Raucherräumen, von Atemmasken tragenden
Reinigungskräften, von Verboten der Ausstrahlung von
Filmen mit rauchenden Schauspielern, vom Verzicht auf
Lüftungsanlagen als Klimaschutzmaßnahme, von überdachten Haltestellen, die als hochgefährdend eingestuft
werden, und von einem Bußgeldsystem von 100 Euro
über 1 000 Euro bis zu einem Vielfachen der Mindestsätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so etwas führt in
eine Gängelungsgesellschaft. Statt des Aktionismus
schwarzer Sheriffs, roter Regulierer und grüner Gouvernanten brauchen wir mehr Freiräume für persönliche
Freiheit und Verantwortung. Das dokumentiert auch dieser „Rauchfrei“-Würfel, den ich in einem Dresdner
Restaurant erhielt. Er trägt die Aufschrift:
Lieber Gast, mit der Aktion „Sie haben die Wahl“
wollen wir, dass sich jeder Gast bei uns wohlfühlt.
Unterstützen auch Sie ein tolerantes Miteinander
von Rauchern und Nichtrauchern. Vielen Dank.
({7})
Ist das nicht eine sympathischere Gesellschaft, für die es
sich zu streiten lohnt? Sie dagegen treten für eine verkniffene Verbotsrepublik ein.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({8})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Gerd Müller.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Raucherinnen und Raucher, hätte ich fast gesagt! Wir
freuen uns, nach einer langen Wegstrecke der Diskussion
- auch im Parlament; wenn man zurückblickt, stellt man
fest, es sind über zehn Jahre; vielleicht muss man aber
auch die vorigen Jahrhunderte dazuzählen - sagen zu
können: Heute ist der Tag der Nichtraucher.
Herr Kollege, es geht, wie meine Kollegin Staatssekretärin Caspers-Merk dargelegt hat, um den Nichtraucherschutz, es geht nicht um eine Diskriminierung der
Raucher. Wir sind in einem freien Land, wir haben Kultur im Umgang. Deshalb - davon sind wir überzeugt brauchen wir keine Raucherpolizei, die durch Restaurants und Abgeordnetenräume patroulliert. Diese Regelung wird zur Kultur werden, sie wird sich durchsetzen,
sie wird ein Erfolg.
Wir wollten zunächst eine einheitliche Regelung für
Bund und Länder. Wir haben dann den Ländern Möglichkeiten gelassen, möchten aber, dass in den
16 Bundesländern möglichst gleichwertige Regelungen
gelten. Ab 1. September wird das Rauchen in Einrichtungen des Bundes verboten. Wir haben dabei - das
möchte ich klarstellen - den Verfassungsorganen überlassen, ob sie sich dem anschließen. Sie übernehmen
diese Regelungen. Es ist selbstverständlich, dass der
Bundestag diese Regelungen in seinen Räumen umsetzt.
Wir sagen: Der Nichtraucher muss geschützt sein;
aber dort, wo es ausgewiesene Raucherräume gibt, soll
Rauchen erlaubt sein. Diese Regelung muss der Bundestag für sich umsetzen. Ich bin sicher, das wird vernünftig
und tolerant im Umgang miteinander passieren.
({0})
Wir sind überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Es
gibt keine Diskriminierung oder Ausgrenzung. Klar ist
allerdings: Der Weg der Freiwilligkeit, für den auch wir
plädiert haben, hat nicht zum Erfolg geführt, weder in
den öffentlichen Einrichtungen noch an den Arbeitsstätten noch in den Gaststätten. Wir haben mit dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband eine Freiwilligkeitsvereinbarung auf den Weg gebracht. Doch diese hat
nicht dazu geführt,
({1})
dass die entsprechenden Regelungen umgesetzt wurden.
Deshalb werden die Bundesländer für diesen Bereich
jetzt verbindliche Regelungen treffen. Ich glaube, das ist
der richtige Weg.
Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen
im Deutschen Bundestag, die dieses Thema über Jahre
hinweg bearbeiten haben, bedanken. Frau Kollegin
Eichhorn und Herr Binding, mit Ihnen ist diese Initiative
ganz massiv verbunden. Es war Zeit für diese Regelung.
Es wurde darauf hingewiesen, dass an den Folgen des
Passivrauchens in Deutschland jährlich 3 300 Menschen
sterben. Rauchen und Passivrauchen sind tödlich. Das
brauche ich nicht noch einmal zu betonen.
Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal deutlich
machen, dass eine möglichst einheitliche Regelung für
Deutschland das Ziel sein muss. Ich appelliere an die
Bundesländer, jetzt nicht 16 verschiedene Regelungen
herbeizuführen, sodass quasi Rauchergrenzpfähle die einzelnen Bundesländer voneinander abgrenzen. Wir wollen
möglichst einheitliche, durchgehende und nachvollziehbare Regelungen. Die gedankliche Grundvorgabe lautet:
Rauchen ist in öffentlichen Räumen, möglichst auch in
Gaststätten, verboten. Unser ursprünglicher Vorschlag an
die Länder lautete: Dort, wo gegessen wird, in Speiserestaurants, ist das Rauchen verboten; Ausnahmen nur in
geschlossenen, dafür ausgewiesenen Räumen. Ansonsten
gilt selbstverständlich: Raucher an die frische Luft.
Wir wollen, dass Bund und Länder diese einheitliche
Regelung nach Möglichkeit bis zum 1. September gemeinsam auf den Weg bringen. Wie es ausschaut, brauchen die Länder aber noch etwas mehr Zeit für die Diskussion. Wir hoffen aber, dass wir bis zum Jahresende
eine gemeinsame Regelung haben.
Neben den Verboten brauchen wir natürlich auch einen Bewusstseinswandel bei den Menschen; das ist das
Entscheidende. Das Verhalten der jungen Menschen
muss verändert werden. Die Entscheidung, ob man für
oder gegen seinen Körper, für oder gegen seine Gesundheit handelt, muss aber jeder für sich treffen, auch für
seine Familie, seine Kinder.
Wir wollen - das möchte ich klar sagen - ein Signal
setzen. Wir wollen und können aber keinen Eingriff in
die Privatsphäre vornehmen. Die Gefahren des Rauchens gelten natürlich auch für das Zuhause; das ist klar.
Jeder muss sich in der Familie mit diesen Fragen auseinandersetzen.
({2})
Hier wurde gesagt, das Gesetz treibe die Pfeifenraucher nach Hause, an den Herd. Das gilt sicherlich nicht
für den Fraktionsvorsitzenden der SPD, Herrn Struck,
und auch nicht für den Fraktionsvorsitzenden der CDU/
CSU, Herrn Kauder. Beide sind zwar Raucher, sie sind
aber tolerant und wissen, was sich zu Hause gehört. Die
Pfeife hat auch vor dem Fernseher zu Hause aus zu sein.
Das ist aber eine persönliche Entscheidung. Das müssen
sie mit ihren Frauen und Kindern ausmachen. Es wäre
vernünftig, andere, insbesondere Kinder, auch in der
Wohnung und im Auto zu schützen.
({3})
Das liegt aber in der individuellen Verantwortung.
({4})
Das Signal eines starken Nichtraucherschutzes in den
Einrichtungen des Bundes ist klar: Raucher müssen in
Zukunft an die frische Luft. Bei der Umsetzung setzen
wir aber auf Vernunft und Einsicht der Betroffenen. Wir
sind überzeugt, dass wir bei der Umsetzung keine Polizei brauchen. Das wird sich nämlich als Kultur unseres
Landes durchsetzen. Rauchfrei ist in Zukunft in.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren auf den
Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir unternehmen heute zwar nur einen kleinen Schritt, dafür aber
in die richtige Richtung, und deswegen geht die Linke
mit.
Erlauben Sie mir trotzdem, ein paar kritische Anmerkungen zu machen.
Hier ist bereits ausführlich erörtert worden, worum es
in diesem Gesetz geht. Wir haben uns in der Debatte
aber ziemlich lächerlich gemacht. Ursprünglich hieß es
- das war der Sinn der ganzen Sache -: Wir wollen die
Nichtraucherinnen und Nichtraucher schützen. Uns ist
dann eine Diskussion aufgezwängt worden, bei der man
den Eindruck gewinnen konnte, dass es um ein Rauchverbot geht. Die ganze Zeit wurde in diesem Sinne debattiert. Niemand hier sprach von einem Rauchverbot.
Aber in der öffentlichen Debatte wurde so getan, als ob
wir den Rauchern das Rauchen verbieten wollten. Dabei
wurde ganz und gar vergessen, dass es eigentlich darum
ging, vor allem Kinder, aber auch Erwachsene vor dem
Passivrauchen zu schützen.
({0})
Als das alles nichts genutzt hat, zwang uns die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung ein noch alberneres
Argument auf. Wir mussten plötzlich in aller Breite darüber diskutieren, ob der Bundestag eine oberste Bundesbehörde ist. Wer sind wir, dass wir uns solch eine Diskussion aufzwingen lassen? Ich fand das mehr als peinlich.
({1})
Wir haben nicht das getan, was wir eigentlich hätten
tun müssen, nämlich breite Aufklärung darüber zu betreiben, was Nichtraucherschutz eigentlich bedeutet und
was es bedeutet, die Droge Tabak zu ächten. Das wäre
gut für die Sache gewesen. Stattdessen haben wir uns
solche lächerlichen Debatten aufzwingen lassen. Wir
müssten uns überall in der Öffentlichkeit dafür rechtfertigen, dass wir keine oberste Bundesbehörde sind, sondern ein Verfassungsorgan. Was lassen wir uns denn alles gefallen?
Dann kam als Nächstes: Die Altersgrenze für die Abgabe von Tabakwaren und das Rauchen in der Öffentlichkeit wird auf 18 Jahre angehoben, aber erst in anderthalb Jahren. Man bekommt gesagt, es sei ein toller
Erfolg, dass die Zigarettenindustrie das Ganze schon in
anderthalb Jahren umsetzt und nicht erst in zwei Jahren,
weil die Automatenindustrie nicht in der Lage sei, das
schneller zu machen. Wir lassen uns wieder einmal wie
der Bär am Ring durch den Zirkus ziehen. Wenn die Automatenindustrie aufgefordert wird, Fahrkartenautomaten umzustellen, weil die Fahrpreise bei den öffentlichen
Verkehrsmitteln erhöht werden, wird das in zwei Tagen
umgesetzt. Sie hat gar keine Probleme damit; das geht
sofort. Bei Zigarettenautomaten ist die gleiche Technik
anzuwenden. Dafür braucht sie angeblich anderthalb
Jahre, und wir müssen sie noch dazu zwingen. Kann
denn das sein?
Entweder sind wir ein Organ, das etwas zu sagen hat,
nämlich der Gesetzgeber. Dann teilen wir der Automaten- und der Zigarettenindustrie mit, was sie zu tun haben. Oder wir lassen uns von den Lobbyisten vorführen
und bitten sie, das Gesetz, das wir hier beschließen, umzusetzen. Entweder meinen wir es ernst, wenn wir sagen,
dass wir die Nichtraucherinnen und Nichtraucher, insbesondere die Kinder, schützen wollen, und tun es richtig,
oder wir sagen gleich: Die Industrie macht, was sie will.
Das ist aber nicht Sinn und Zweck von demokratischen
Entscheidungsorganen. Dann können wir uns gleich abschaffen. Ich finde, die Gesundheit geht vor. Unsere Gesetzgebungskompetenz sollten wir nicht aus der Hand
geben. Also lassen Sie nicht zu, dass wir wie der Bär am
Ring durch den Zirkus gezogen werden, sondern sagen
wir, wo es langgehen soll.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin
Birgitt Bender von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die schönen Worte der Regierungsvertreter können nicht darüber
hinwegtäuschen, dass dieser Gesetzentwurf, der angeblich den Nichtraucherschutz gewährleisten soll, halbherzig und hasenfüßig ist. Er ist nur dann ein großer Schritt,
wenn man bedenkt, wie weit er sich angesichts des
Widerstandes in den eigenen Reihen vorwagt. Aber das
kann nicht der Maßstab sein.
Nach einer neuen Umfrage sind 88 Prozent der EUBürger für umfassende Rauchverbote auch am Arbeitsplatz. In Deutschland gibt es ähnliche Mehrheiten.
Die Regierung hat einfach nicht den Mut, dem zu folgen
und für einen konsequenten Nichtraucherschutz in
Deutschland zu sorgen.
({0})
Sie drücken sich davor, im Arbeitsschutzrecht Rauchverbote zu verankern und dafür zu sorgen, dass Beschäftigte
umfassend geschützt sind. Das wäre im Übrigen für die
Gaststätten schon die halbe Miete. Nicht umsonst haben
die Bundesratsausschüsse für Arbeit und für Gesundheit
Entsprechendes angeregt.
Es fehlt Ihnen der politische Wille für einen umfassenden Nichtraucherschutz. Deswegen wird Deutschland, wenn dieses Gesetz Wirklichkeit wird, weiterhin
hinter den Standards in der EU zurückbleiben. Unser
Schutzstandard wird Schlusslicht sein.
({1})
Meine Damen und Herren, vielleicht sollte man sich
darüber auch nicht wirklich wundern. Wenn ich mir die
Anzeige ansehe,
({2})
die dieser Tage im SPD-Parteiblatt „Vorwärts“ erschienen ist, dann muss ich sagen: Der SPD ist offenbar nicht
bekannt, dass in der EU, inzwischen auch in Deutschland, ein Tabakwerbeverbot gilt.
({3})
18 000 Euro waren offenbar doch zu verlockend. Daran
kann man sehen, wie es um das Engagement für den
Nichtraucherschutz bestellt ist.
({4})
In der Anzeige geht es außer um die Werbung für das
Rauchen auch um Technik. Gegen Technik muss man
nichts haben. Gescheite Entlüftungssysteme wären genau das, was Sie für die Raucherräume hätten vorschreiben sollen, damit wir nicht das erleben, was noch heute
in vielen Zügen der Fall ist, nämlich dass die Schwaden
aus den Raucherräumen durch den gesamten Zug ziehen.
Das kann bei Ihrer Regelung auch in öffentlichen Gebäuden der Fall sein.
({5})
Daher müsste man hier konsequent sein und sagen: Ein
Raucherraum muss gewissen Standards genügen. Da gehört der technische Schutz dann auch hin, damit die
Rauchschwaden aus den Raucherräumen eben nicht
überall hinziehen.
Wir stellen heute Anträge für einen umfassenden
Nichtraucherschutz. Wir geben Ihnen damit Gelegenheit
- weil viele von Ihnen im persönlichen Gespräch immer
wieder versichern, dass wir eigentlich Recht haben, ich
schaue jetzt niemanden direkt scharf an -, sich anders zu
entscheiden. Vielleicht tun Sie das ja noch; dann könnte
es ein wirklich guter Tag für den Nichtraucherschutz in
Deutschland werden.
({6})
Frau Kollegin Bender, erlauben Sie, bevor Sie abtreten, noch eine Frage des Kollegen Daniel Bahr?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Bender, Sie haben dargestellt, warum
die Grünen ein so umfassendes Rauchverbot und einen
so umfassenden Schutz vor dem Konsum der Droge Tabak wollen. In ihrem Grundsatzprogramm sowohl 2002
als auch 2005 und nach der Beschlusslage der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen treten sie für eine Legalisierung von Cannabis ein, obwohl wir gerade in dieser
Woche in der Sitzung des Gesundheitsausschusses erfahren haben, wie gesundheitsschädlich auch der Cannabiskonsum ist. Gehe ich deshalb richtig in der Annahme,
dass die Grünen zunächst den Cannabiskonsum legalisieren wollen, um dann den konkreten Konsum wiederum so umfassend zu verbieten, dass man lediglich
noch an Baggerseen kiffen darf?
({0})
Lieber Kollege Bahr, Sie können sicher sein: Wir
zwingen niemanden zum Mitkiffen, auch Sie nicht.
({0})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat die Kollegin Sabine Bätzing von der SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 31. Mai ist Weltnichtrauchertag. Das
Motto in diesem Jahr lautet: „Smoke-free inside: Create
and enjoy“, oder auf Deutsch: „Rauchfrei genießen“.
Selten hat das Motto des Weltnichtrauchertages so gut
gepasst wie in diesem Jahr; denn genau das machen wir:
Wir schaffen für den Bereich des Bundes und die öffentlichen Verkehrsmittel rauchfreie Räume. Die Deutsche
Bahn hat ein deutliches Signal gesetzt, indem sie ihre
Verkehrsmittel komplett für rauchfrei erklärt hat. Wir
können diese rauchfreien Räume, liebe Kolleginnen und
Kollegen, auch im Deutschen Bundestag zukünftig gemeinsam mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
genießen.
({0})
Liebe Kollegin Bender, ich bin zuversichtlich, dass
durch die Gänge des Deutschen Bundestages keine
Rauchschwaden wabern werden; denn bei den Raucherräumen handelt es sich um abgetrennte Räumlichkeiten.
Das ist ganz klar definiert. Wir werden ab 1. September
2007 hier die Rauchfreiheit genießen.
({1})
Deswegen bin ich froh, dass wir dieses Gesetz, dieses
Nichtraucherschutzgesetz - man kann es nur immer wieder betonen -, heute passend zum Weltnichtrauchertag
verabschieden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 1988 wird der
Weltnichtrauchertag international begangen. Jahrelang
war Deutschland in Sachen Nichtraucherschutz im internationalen Vergleich eher auf den hinteren Plätzen zu
finden. Viele unserer europäischen Nachbarn - das müssen wir uns eingestehen - sind an uns vorbeigezogen,
auch Länder wie Italien, Frankreich oder Irland, von denen wir das nie erwartet hätten. Aber in Deutschland
sind Fortschritte zu verzeichnen. Dazu zählen sowohl
gesetzliche Regelungen als auch breitangelegte Maßnahmen der Tabakprävention. Der Stimmungswechsel, der
sich in Deutschland manifestiert, ist förmlich spürbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Maßnahmen sowohl gesetzlicher als auch präventiver Art zeigen Wirkung, und zwar beim Gesundheitsschutz.
({2})
Wurden im Jahr 1996 durchschnittlich 372 Millionen Zigaretten konsumiert, waren es im Jahr 2005 nur noch
263 Millionen. Auch die Quote der jugendlichen Raucher ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Rauchen gilt für viele Jugendliche nicht länger als cool. Mit
dem heutigen Tag sind wir auch in Sachen Schutz vor
Passivrauch nicht mehr das Schlusslicht in Europa.
Wir haben mehrfach gehört: Rauchen ist das größte
vermeidbare Gesundheitsrisiko. Wir haben die Gefahren durch das Passivrauchen jahrelang unterschätzt. Jetzt
müssen wir zu dem Schluss kommen, dass ein Schutz
vor dem Passivrauchen erforderlich ist. Da durch das
Rauchen nicht nur die Gesundheit der Rauchenden, sondern auch die Gesundheit von Nichtrauchern stark gefährdet wird, sind klare und einheitliche Regelungen
zum Schutz von Unbeteiligten erforderlich. Das Nichtraucherschutzgesetz hat auch präventiven Charakter.
Das zeigen uns die Erfahrungen anderer Länder, in denen solche Gesetze auch einen gewissen Präventionscharakter entfaltet haben.
Zwar konnte der Bund aufgrund seiner begrenzten
Kompetenzen nur in einem bestimmten Bereich tätig
werden. Aber hier haben wir Maßstäbe gesetzt, an denen
sich nun auch die Bundesländer orientieren sollten. Unsere Linie ist klar: Grundsätzlich gilt das Rauchverbot.
Ausnahmen sind, wenn gewollt, nur in abgeschlossenen
Raucherräumen möglich. Ich verweise an dieser Stelle
darauf, dass im Bundesministerium für Gesundheit
Rauchfreiheit eingeführt wurde. Wir haben uns gegen
Raucherräume entschieden. Ich kann nur empfehlen,
dieses Vorgehen nachzuahmen.
({3})
Wenn dieses Beispiel Schule macht - in den Ländern, in
den Kommunalbehörden, in Krankenhäusern, in Schulen
und vor allem in Gaststätten -, dann hat Deutschland
gute Chancen, beim Nichtraucherschutz bald einen der
vorderen Plätze in Europa zu belegen.
Kollegin Bender hat darauf aufmerksam gemacht,
dass die Bevölkerung dieses Konzept unterstützt. In
Deutschland wünschen sich 90 Prozent der Bürgerinnen
und Bürger eine rauchfreie Umgebung und rauchfreie
Räume. Wir haben diesen Wunsch aufgegriffen. An dieser Stelle danke ich ganz ausdrücklich den Kolleginnen
und Kollegen aller Fraktionen, die sich an dieser Initiative beteiligt haben.
Abschließend appelliere ich noch einmal an die Bundesländer, selbst entsprechende gesetzliche Regelungen
zu verabschieden, damit wir geschützt vor den Gefahren
des Passivrauchens in das Jahr 2008 starten können. Der
Ball liegt jetzt bei ihnen. Politik und Gesellschaft müssen ihre Verantwortung gemeinsam wahrnehmen und
klare Signale setzen, damit wir in Zukunft überall
rauchfrei genießen können, ganz nach dem Motto des
Weltnichtrauchertages „Smoke-free inside: Create and
enjoy“.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be-
kannt, dass von einigen Kolleginnen und Kollegen der
FDP-Fraktion eine persönliche Erklärung zum Abstim-
mungsverhalten gemäß § 31 der Geschäftsordnung vor-
liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Bundesregierung zum Schutz vor den
Gefahren des Passivrauchens. Der Ausschuss für Ge-
sundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/5492, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/5049 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst ab-
stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/5502? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
1) Anlage 10
Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung
der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel
„Nichtraucherschutz praktikabel und mit Augenmaß umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5492, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5118 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ältestenrats zu dem Antrag
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Rauchverbot im Deutschen Bundestag“ umsetzen.
Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5493, den Antrag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4400 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ältestenrat, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4957 mit dem Titel „Schutz vor Passivrauchen im Deutschen Bundestag
direkt umsetzen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Lothar Bisky, Dr. Gregor
Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der
LINKEN
Einkommensteuertarif gerecht gestalten Steuerentlastung für geringe und mittlere Einkommen umsetzen
- Drucksache 16/5277 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Debatte im Bundestag begann mit der Diskussion zur Unternehmensteuerreform. Es ist beschlossene
Sache, dass die großen Konzerne massive Steuergeschenke bekommen: 6,6 Milliarden Euro im nächsten
Jahr.
Herr Fahrenschon von der CSU bemerkte innerhalb
dieser Debatte zu Recht, dass im Bereich der Einkommensteuer etwas geschehen muss und dass die Bürgerinnen und Bürger endlich etwas vom Aufschwung merken
müssen. Ich kann ihm da nur zustimmen. Allerdings haben wir damit nicht bis heute gewartet, sondern wir haben unseren Vorschlag dazu schon ins Parlament eingebracht. Wir schlagen Ihnen vor, die Einkommensteuer zu
senken, indem der Tarif geändert wird, den Mittelstandsbauch abzubauen und den Spitzensteuersatz anzuheben.
({0})
Auch Herr Glos bemerkte zum Beispiel am
20. Mai 2007:
Als Erstes senken wir die Unternehmensteuern, um
mehr Jobs zu schaffen. Niedrigere Steuern im Bereich Lohn und Einkommen sind der nächste
Schritt.
Ich sage ganz klar: Die Linke hat diese Unternehmensteuerreform, die Geschenke an die großen Konzerne,
abgelehnt, und das werden wir auch weiter tun. Wir sehen ein massives Gerechtigkeitsproblem; denn im Gegensatz zu den großen Konzernen werden die Bezieher
von kleinen und mittleren Einkommen massiv belastet.
Im vergangenen Jahr hatten die Lohnabhängigen effektiv weniger Geld zur Verfügung als im Jahr davor.
Was aber tut die schwarz-rote Regierung? Sie verschlechtert die Situation der Betroffenen weiter. Durch
Änderungen bei der Kilometerpauschale und die Defacto-Streichung der steuerlichen Absetzbarkeit häuslicher Arbeitszimmer hat sich die steuerliche Belastung
massiv erhöht. Ihre Politik belastet die Bezieher von
kleinen und mittleren Einkommen in abhängiger Beschäftigung. Das machen wir nicht mit.
({1})
Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wenn
Sie unseren Vorschlag wohlwollend prüfen - das kann
ich zumindest von den Vertretern der CSU annehmen -,
dann werden Sie merken, dass dadurch zum Beispiel bei
einem zu versteuernden Jahreseinkommen von
30 000 Euro - das entspricht in etwa dem Jahreseinkommen von Facharbeiterinnen und Facharbeitern, aber auch
dem Jahresgewinn vieler kleiner Unternehmer - eine
Entlastung von 960 Euro pro Jahr erzielt werden kann.
Es ist ein großer Unterschied, ob man im Monat 80 Euro
mehr oder weniger im Portemonnaie hat.
Die Voraussetzungen für die Umsetzung unseres Vorschlages sind günstig wie noch nie. Wir erwarten in diesem und im nächsten Jahr beträchtliche steuerliche
Mehreinnahmen, die zu einem guten Teil aus den Portemonnaies der kleinen Leute gespeist werden. Denn diese
Mehreinnahmen sind nicht nur der guten Konjunkturentwicklung und den Exporterlösen, sondern auch den gestiegenen Einahmen aus der Lohnsteuer und vor allem
der Mehrwertsteuererhöhung zu verdanken, mit der Sie
der Bevölkerung tief in die Tasche greifen. Insofern stellen wir fest: Wir haben die Möglichkeit und stehen vor
der Notwendigkeit, das Gerechtigkeitsproblem zu lösen
und eine dauerhafte Entlastung vorzunehmen.
({2})
Es ist bezeichnend für die Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten: Wenn die CSU Änderungen im Tarifverlauf - das heißt tatsächlich bei der steuerlichen Belastung - in Erwägung zieht, reagieren Sie mit der Anregung, die Sozialabgaben zu senken. Die Senkung der
Sozialabgaben stellt aber keine dauerhafte Entlastung
dar, weil Sie in einem nächsten Schritt wieder Erhöhungen beschließen würden, wenn die Sozialkassen zu wenig Geld haben.
({3})
Hinzu kommt, dass jede Senkung der Sozialabgaben
nur zur Hälfte den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute kommt. Von der anderen Hälfte profitieren
die Unternehmer und Unternehmerinnen. Was Sie als
Entlastung verkaufen wollen, würde nur zur Hälfte bei
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ankommen.
Das machen wir nicht mit.
Unser Vorschlag ist sehr gut umsetzbar. Wir schlagen
vor, den Einkommensteuertarif zu senken. Damit gehen
wir darauf ein, dass die Unternehmensteuerreform in
vielen Fällen zu einer Belastung von kleinen und mittelständischen Unternehmen führt. In diesem Bereich muss
eine Entlastung erfolgen. Mit einem linear-progressiven
Tarif muss der sogenannte Mittelstandsbauch abgetragen
werden.
Ich hoffe auf die wohlwollende Unterstützung zumindest vonseiten der CSU. Dann können wir in einer der
nächsten Debatten vielleicht feststellen, dass Sie nach
vielem Drängen wieder in der Lage sind, etwas für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Kleinunternehmer und Kleinunternehmerinnen zu tun.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Olav Gutting von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Einkommensteuer ist neben der Umsatzsteuer die ertragsreichste Steuer in diesem Land. Sie berücksichtigt
neben der objektiven auch die subjektive Leistungsfähigkeit des einzelnen Steuerpflichtigen und wahrt damit
das Leistungsfähigkeitsprinzip.
Als direkte und damit für jeden Bürger auch direkt
spürbare Steuer eignet sich die Einkommensteuer - wie
der Antrag der Linken zeigt - sehr gut dazu, eine sogenannte Reform auf den Weg zu bringen und damit Aufmerksamkeit zu erhaschen. Die Forderung nach einem
gerechteren Steuersystem ist nicht neu. In Deutschland
haben sich schon einige daran versucht.
Leider ist bisher ein durchschlagender Erfolg versagt
geblieben. Eine Ursache dafür waren in der Vergangenheit immer wieder der Bund-Länder-Finanzausgleich,
die Finanzverflechtungen zwischen Bund und Ländern.
Diesbezüglich gibt es jetzt aktuelle Verhandlungen im
Rahmen der Föderalismusreform II. Bei diesen Verhandlungen könnte die Grundlage geschaffen werden für einen neuen Anlauf zu einer durchgreifenden Reform der
Einkommensteuer.
Das wäre dringend notwendig. Insbesondere das Einkommensteuerrecht in diesem Land ist mittlerweile zu
einem Steuerdschungel verkommen. Kein noch so gewiefter Steuerexperte kann heute für sich in Anspruch
nehmen, den Wust von Steuergesetzen, Verordnungen,
unzähligen Paragrafen, rund 100 000 Verwaltungsvorschriften und nahezu ebenso vielen Finanzgerichtsentscheidungen zu durchschauen.
({0})
Wo Steuerberater, Finanzbeamte und Fachpolitiker den
Überblick verlieren, da hat auch der einfache Bürger und
Steuerzahler keinen Durchblick mehr.
Aber es ist nicht allein die Schuld der Politik, dass wir
heute einen Steuerdschungel haben. Es hat sich in den
letzten Jahrzehnten eine Art Schaukel entwickelt: Auf
der einen Seite werden immer neue Abschreibungsmodelle und Steuersparmodelle von Abschreibungsspezialisten ausgetüftelt werden, die in der Regel legal, aber
trotzdem äußerst grenzwertig sind. Auf der anderen
Seite stehen die Politik und die Finanzverwaltung, die
entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Das
Ganze schaukelt sich so seit Jahren hoch und verursacht
eine immer höhere Komplexität, gerade auch bei der
Einkommensteuer.
Jetzt versucht Die Linke mit der wiederholten Forderung nach noch mehr Umverteilung, eine erneute Neidkampagne zu entfachen.
({1})
Den Linken geht es dabei in erster Linie darum, mit
populistischen Forderungen auf sich aufmerksam zu machen.
({2})
Ihr angeblicher Kampf für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft ist im Grunde nichts anderes als die Fortsetzung des sozialistischen Klassenkampfs.
({3})
Hierzu ist Ihnen wirklich jedes Mittel recht. Sie schrecken, wie gewohnt, auch nicht vor falschen Behauptungen zurück.
Ich will ein Beispiel nennen und zitiere dazu aus Ihrem Antrag die Begründung am Ende des zweiten Absatzes:
Dies führt in der Konsequenz dazu, dass auf
12 700 Euro bereits 23,5 Prozent Steuern gezahlt
werden müssen.
Sie setzen damit auf die steuerpolitische Unbedarftheit
Ihrer Klientel. Das, was Sie in der Begründung Ihres Antrags als Gesamtsteuerabgabe etikettieren, ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Grenzsteuerbelastung.
Das bedeutet, dass bei einem Einkommen von
12 700 Euro nur der zwölftausendsiebenhundertste Euro
- dieser eine Euro! - mit 23,5 Prozent zu versteuern ist
und nicht, wie Sie es weismachen wollen, der gesamte
Betrag von 12 700 Euro.
({4})
Sie schrecken vor keiner noch so platten Tatsachenverdrehung zurück. Sie muss nur geeignet sein, Stimmungen zu schüren. Hauptsache ist, dass es irgendwie in
Ihre sozialistischen Planspiele passt. Die Wahrheit ist,
dass der Durchschnittssteuersatz bei dem Betrag von
12 700 Euro lediglich 7,7 Prozent beträgt.
Lassen Sie mich noch auf eine weitere populistische
Attitüde in Ihrem Antrag aufmerksam machen. Sie kritisieren, dass Steuerpflichtige mit einem Jahreseinkommen von lediglich 20 000 Euro durch die letzte Einkommensteuerreform von Rot-Grün nur um 1 170 Euro
entlastet wurden, während Steuerpflichtige mit einem
Einkommen von 500 000 Euro um über 40 000 Euro entlastet wurden. Sie sollten wissen, dass es bei einem
linear-progressiven Steuersystem mathematisch nahezu zwingend ist, dass Steuerentlastungen konsequenterweise zu einer nominal höheren Entlastung bei höheren Einkommen führen.
({5})
Wenn jemand nur 1 000 Euro an Steuern zahlt, kann man
ihm eben keine 2 000 Euro an Steuern erlassen. Das ist
nicht möglich.
({6})
Im Übrigen gibt es durch den progressiven Verlauf
der Einkommensteuerkurve eine Besteuerung nach dem
Leistungsfähigkeitsprinzip. Dieses Leistungsfähigkeitsprinzip ist keine Einbahnstraße. Das gilt für beide Richtungen.
({7})
Lassen Sie mich noch einmal darauf aufmerksam machen, dass in Deutschland die Einkommen von über
57 000 Euro jährlich - obwohl sie nur 15 Prozent aller
Einkommen ausmachen - 65 Prozent zu der insgesamt
vereinnahmten Einkommensteuer beitragen. Das
heißt, die Hälfte aller Einkommensteuerzahler trägt zu
über 90 Prozent zu der vereinnahmten Einkommensteuer
und die andere Hälfte, die eher gering verdienenden
Schichten, trägt weniger als 10 Prozent zu den Einkommensteuereinnahmen bei. Die starken Schultern in diesem Land, die Leistungsträger wie der Facharbeiter und
der Schichtarbeiter, tragen also bereits heute in unserem
Land fast die gesamte Steuerlast bei der Einkommensteuer. Wer ihnen noch mehr aufbürden will - das wollen
Sie mit Ihrem Antrag erreichen -, der zerstört letztendlich die Grundlage des Wohlstandes in diesem Land.
Nehmen Sie den Leistungsträgern die Motivation, sich
anzustrengen, und Sie haben bald gar nichts mehr zum
Umverteilen!
({8})
Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Linke erst
dann zufrieden ist, wenn in diesem Land alle arm sind.
({9})
Die Forderung nach mehr Steuergerechtigkeit ist für
sich genommen ein ehrenwertes und erstrebenswertes
Ziel. Wie Sie wissen, haben auch wir von der Union uns
dieser Zielsetzung verschrieben. Ich darf auf die Konzepte von Uldall, Merz und zuletzt von Kirchhof hinweisen. Leider ist die Umsetzung dieser Konzepte im
Moment in dieser Koalition nicht möglich. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich bin der Meinung, dass
wir zukünftig primär über einen Weg zur Steuervereinfachung nachdenken sollten; denn nur ein einfaches und
verständliches Einkommensteuerrecht ist auch ein gerechtes Steuerrecht.
({10})
Der vorhandene Steuerdschungel führt dazu, dass die
Steuergerechtigkeit auf der Strecke bleibt. Auch das
Wirtschaftswachstum bleibt gehemmt. Der Wohlstand
der Gesellschaft insgesamt wird dadurch beeinträchtigt.
Die Arbeit der Großen Koalition ist durch die Anstrengungen geprägt, die Staatsfinanzen zu sanieren und
das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Es gelingt. Beides wurde mit Erfolg auf den Weg gebracht. Ich will hier
nur an das 25-Milliarden-Euro-Impulsprogramm aus
dem Jahr 2006 erinnern. In den nächsten Jahren werden
wir uns verstärkt um die Eindämmung der Paragrafenflut
kümmern. Eine Vereinfachung gerade beim Einkommensteuerrecht führt automatisch zu mehr Steuergerechtigkeit. Das gilt gleichermaßen für große und kleine
Steuerzahler. Geeignete Konzepte hierzu liegen zur Genüge vor. Das Konzept von der Linken zur Umverteilung
und Zerstörung von Leistungsanreizen
({11})
gehört jedoch nicht dazu und muss deswegen abgelehnt
werden.
({12})
Ich erteile der Kollegin Dr. Barbara Höll zu einer kurzen Kurzintervention das Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Gutting, da Sie uns vorgeworfen haben, die Zahlen in unserem Antrag seien nicht
richtig, erlaube ich mir, Sie darauf hinzuweisen, dass in
unserem Antrag eindeutig vom Grenzsteuersatz die Rede
ist und davon, dass der Eingangssteuersatz bei
15 Prozent liegt. Dass wir nicht innerhalb eines Satzes
vom Grenzsteuersatz zur Durchschnittsteuerbelastung
wechseln, liegt auf der Hand. Das versteht man auch.
Des Weiteren möchte ich anmerken, dass Sie fälschlicherweise dargelegt haben, dass es zu einer Belastung
von Facharbeiterinnen und Facharbeitern durch den von
uns vorgeschlagenen linear-progressiven Tarif komme.
Das stimmt nicht. Wenn Sie das nachrechnen, stellen Sie
fest, dass es durch unseren Tarif zu einer Absenkung der
durchschnittlichen Steuerbelastung bis zu einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von etwa 55 000 Euro
kommt. Das ist auf alle Fälle die Grenze, unter die die
Mehrheit der abhängig Beschäftigten fällt. Es geht um
eine Mehrbelastung der wirklichen Spitzenverdiener.
Danke.
({0})
Herr Kollege Gutting, wollen Sie erwidern? - Bitte.
Nur ganz kurz.
Frau Kollegin Dr. Höll, die Begründung Ihres Antrages ist so zu verstehen, wie ich es eben vorgetragen
habe. Anderenfalls hätten Sie es deutlicher machen müssen. Sie beziehen sich nicht exakt auf den Grenzsteuerwert. Vielmehr soll die Gesamtsteuerbelastung für den
genannten Betrag bei 23,5 Prozent liegen.
Ich weiß nicht, wie es in Ihrer Heimat aussieht. Ich
komme aus Baden-Württemberg.
({0})
Bei uns verdienen die Facharbeiter und die Schichtarbeiter - Gott sei Dank - sehr gutes Geld; das haben sie verdient. Sie sind die Leistungsträger in unserem Land. Mit
der von Ihnen vorgeschlagenen Reform würde dieser
Personenkreis zusätzlich belastet.
({1})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele
von der FDP-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gutting, Sie
haben vom Steuerdschungel und davon gesprochen, dass
in den nächsten Jahren eine Eindämmung der Paragrafenflut erfolgen soll. Es wäre gut gewesen, wenn die
heute Morgen stattgefunden hätte und nicht das Gegenteil dessen heute vom Deutschen Bundestag beschlossen
worden wäre.
({0})
- Herr Kollege Bernhardt, die Einkommensteuer ist
durch Gegenfinanzierungselemente in dem Gesetz, welches heute Vormittag verabschiedet worden ist, reichlich
tangiert worden. Insofern ging es auch heute Morgen
schon um die Einkommensteuer.
Im letzten Jahr haben Union und SPD die größte
Steuererhöhung unseres Landes beschlossen, nämlich
eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte. Dieser Steuererhöhung hat auch die SPD zugestimmt, die
noch im Bundestagswahlkampf strikt gegen eine Steuererhöhung war und erklärt hatte: „Keine Merkel-Steuer
mit der SPD.“
({1})
Die Große Koalition hat ferner die Reichensteuer eingeführt - wir sind in dieser Debatte beim Einkommensteuertarif -, und der Spitzensteuersatz ist von 42 Prozent
auf 45 Prozent erhöht worden. Auch diese Erhöhung erfolgte mit Zustimmung der Union.
({2})
Am 11. März haben die Steuerschätzer festgestellt,
dass in diesem Jahr fast 10 Prozent mehr Steuern als im
vergangenen Jahr eingenommen werden. Der Staat
nimmt also mit 535 Milliarden Euro etwa 50 Milliarden
Euro mehr ein als im Vorjahr. Deshalb können wir, so
glaube ich, hier gemeinsam feststellen: Noch nie gab es
so große Steuererhöhungen, und noch nie sprudelten die
Steuerquellen so ergiebig wie heute.
Genau zu diesem Zeitpunkt reicht die PDS-Fraktion
diesen Antrag ein, mit dem der Spitzensteuersatz sogar
auf 50 Prozent steigen soll. Wir erleben also trotz der
sprudelnden Steuerquellen weiter reflexhafte Forderungen der Linken im Parlament - sowohl von Teilen der
SPD als auch von der Linkspartei -: Der Staat braucht
weitere Steuererhöhungen, der Staat braucht eine stärkere Belastung der Bürger, und der Staat weiß besser mit
dem Geld der Bürger umzugehen als der Bürger selbst.
({3})
Die von der Linken behauptete Gerechtigkeitslücke
- das hat Herr Kollege Gutting gerade dargestellt - kann
angeblich nur dadurch geschlossen werden, dass die leistungsfähigen Bürger in unserem Land, der Mittelstand
und die hart arbeitende Bevölkerung, weiter belastet
werden. Deshalb lassen Sie uns einmal die Fakten betrachten und schauen, ob die Gerechtigkeitslücke, die
immer kritisiert wird, in der Form überhaupt besteht.
Das Finanzministerium mit einem SPD-Finanzminister an der Spitze hat eine Datensammlung zum Steueraufkommen des Jahres 2005 vorgelegt. Diese Daten sollten auch die versammelten Linken im Parlament zur
Kenntnis nehmen. Die oberen 10 Prozent der Steuerpflichtigen zahlen mehr als 50 Prozent der Einkommensteuer, und die oberen 50 Prozent der Steuerpflichtigen
zahlen mehr als 93 Prozent der Einkommensteuer. Die
unteren 50 Prozent der Steuerpflichtigen zahlen keine
7 Prozent der Einkommensteuer. Diese Zahlen zeigen:
Eine Gerechtigkeitslücke besteht nicht.
({4})
Wer finanziell leistungsfähiger ist, wird auch stärker zur
Finanzierung des Gemeinwohls herangezogen. Dies
sollten auch die vereinten Linken in diesem Haus endlich zur Kenntnis nehmen.
Für die FDP sage ich Ihnen: Bei den sprudelnden
Steuerquellen ist es geboten, den Bürgern einen Teil der
Steuermehreinnahmen zu ihrer finanziellen Entlastung,
für Investitionen und für Konsum zurückzugeben.
({5})
Dies sage ich für die gesamte Fraktion, auch für die
Haushälter in unserer Fraktion; denn wir brauchen beides, eine Rückführung der Neuverschuldung und eine
Entlastung der Bürger. Deshalb fordert die FDP eine
grundsätzliche Steuerreform mit einer deutlichen Nettoentlastung für alle Bürger. Zusätzlich braucht unser Land
gerade nach der Verwüstung des Steuerrechts von heute
Vormittag durch die Große Koalition im Bereich der
Steuerpolitik eine grundsätzliche Reform für ein niedrigeres, einfacheres und gerechteres Steuersystem.
({6})
Die FDP wird sich weiter hierfür und für die steuerliche
Entlastung der Bürger einsetzen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Thiele, ich glaube, niemand gibt so
schnell wie unser Staat Steuereinnahmen an die Bürgerinnen und Bürger zurück. Warum sollte der Staat die
Steuern behalten? Wohin fließen seine Steuereinnahmen
denn? Das Gegenstück zu Steuern sind Investitionen,
zum Beispiel in Bildung, in Krankenhäuser, in Straßen,
und Ausgaben für soziale Leistungen wie BAföG,
Arbeitslosengeld II usw. Der Staat behält also keinen
einzigen Cent seiner Steuereinnahmen; vielmehr gibt er
sie den Bürgerinnen und Bürgern zurück.
Unsere Steuereinnahmen sind zurzeit Gott sei Dank
gut; sie sind höher, als wir es erwartet haben. Das ist deswegen so, weil wir ein Investitionsprogramm aufgelegt
haben, das die Binnenkonjunktur massiv angekurbelt
hat. Die Steuermehreinnahmen sind nicht durch die zuletzt beschlossenen Steuererhöhungen zustande gekommen, sondern überwiegend durch die bessere konjunkturelle Situation.
({0})
- Frau Höll, schauen Sie sich einmal die Gewerbesteuerund die Körperschaftsteuereinnahmen an: Sowohl das
Netto- als auch das Bruttoaufkommen haben in den letzten zehn Jahren einen deutlichen Zuwachs erfahren. Die
Gewerbesteuer- und die Körperschaftsteuereinnahmen
waren in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie so
hoch wie in diesem Jahr.
({1})
Man kann Fakten nicht einfach immer wieder ignorieren, nur weil sie einem nicht passen.
Jetzt komme ich auf Ihre Propaganda zu sprechen.
Herr Kollege Gutting hatte recht. Ich lese einfach einmal
einen Absatz Ihres Antrags vor:
Schuld daran ist die Gestaltung des Tarifverlaufs
bei der Einkommensteuer. Hier hebt die Bundesregierung zwar gern die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent hervor.
Jetzt kommt es:
Allerdings steigt der Steuersatz bis zu einem jährlichen Einkommen in Höhe von 12 700 Euro deutlich stärker als bei einem Einkommen von mehr als
12 700 Euro. Dazu kommt ein zu geringes steuerfreies Existenzminimum.
Dann folgt der entscheidende Satz - er ruft bei jedem
Menschen eine falsche Vorstellung hervor -:
({2})
- Rufen Sie nicht dazwischen! Hören Sie zu, oder lesen
Sie mit, was ich aus Ihrem Antrag zitiere! Dies führt in der Konsequenz dazu, dass auf
12 700 Euro bereits 23,5 Prozent Steuern gezahlt
werden müssen.
({3})
Damit führen Sie Menschen in die Irre.
Der Kollege Gutting hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die durchschnittliche Steuerbelastung bei
7,7 Prozent liegt. Richtig ist: Ab dem 12 700. Euro - erst
ab diesem Wert - gilt der Grenzsteuersatz von 23,5 Prozent, und das steht nicht in Ihrem Antrag. Ich wiederhole: Sie versuchen, die Menschen in die Irre zu führen.
Sie beziehen sich in Ihrem Antrag nicht auf eine Familie mit einem Jahreslohn von 30 000 Euro, sondern auf
eine Familie mit einem Jahreslohn von rund 24 700 Euro.
Ich beziehe mich einmal auf eine Familie mit einem Jahreslohn von 30 000 Euro, die Sie in Ihrer Rede angeführt
haben. Ein Vergleich zwischen 1998 und 2005 unter Einbeziehung der Erhöhung des Kindergeldes zeigt: Eine Familie mit zwei Kindern war im Jahr 2005 um jährlich
2 350 Euro - das entspricht etwa 4 600 DM - entlastet.
Mit anderen Worten: Diese Familie hatte mehr Geld im
Geldbeutel.
({4})
- Ich danke für den Zwischenruf. Ich bin in meiner
Rechnung davon ausgegangen, dass die Löhne gleich
geblieben sind. Ihr Zwischenruf hilft mir, zu dem überzuleiten, worauf ich zu sprechen kommen wollte.
In der Zeit, über die wir reden, sind die Löhne leider
kaum gestiegen. Aufgrund der unter Rot-Grün durchgeführten Steuerentlastungen sind die Reallohneinkommen
fast mehr gestiegen als durch die Tariferhöhungen, die es
in diesem Zeitraum gab. Sie selber schreiben in Ihrem
Antrag, dass die primäre Einkommensverteilung entscheidend für die Frage der Umverteilung ist. Leider
wird dies nur in einem einzigen Satz zum Ausdruck gebracht. Anschließend erwecken Sie den Eindruck, als
könne der Staat alles, was durch die primäre Einkommensverteilung nicht gelingt, über eine entsprechende
Steuerpolitik korrigieren, Stichwort „Umverteilung“.
Das geht nicht.
Zur Frage der Ungleichbehandlung. Schauen wir uns
an, was das effektiv bedeutet. Ich beziehe mich wieder auf
die Familie mit 30 000 Euro Einkommen, die Sie als Beispiel angesprochen haben! Bei einer Familie mit 30 000
Euro Einkommen beträgt die Entlastung unter Berücksichtigung des Abzugs von Steuern und Sozialabgaben
8,2 Prozentpunkte, bei einer Familie mit 100 000 Euro
Einkommen 3,6 Prozentpunkte, also deutlich weniger.
Jetzt können Sie wieder auf die absoluten Beträge verweisen, und dann wird es wieder so aussehen, als würden diejenigen, die in der Gesellschaft oben sind, mehr entlastet.
Von der prozentualen Entlastung her ist es genau andersherum.
Auch ich stelle die Frage danach: Wie kann ein gerechter Steuertarif aussehen? Natürlich könnte man
über den Tarif, den Sie aufgezeichnet haben, diskutieren.
({5})
- Ja, aber dann muss man auch darüber diskutieren, wie
man den finanziert. Dann muss man diskutieren - unter
Rot-Grün sind wir dafür gescholten worden -, welche
Gegenfinanzierung für die Steuerentlastungen angeboten
werden kann. Es wird immer nur beklagt - ({6})
Herr Pronold, Sie haben das Wort.
Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie selbst im
„Neuen Deutschland“ schreiben.
Wir haben das heute diskutiert. Fakt ist: Nach dem
DIW gibt es in Deutschland jedes Jahr 100 Milliarden
Euro, die hier steuerpflichtig wären, hier aber nicht versteuert werden.
({0})
Wenn wir das durch die Unternehmensteuerreform zukünftig auch nur zu einem Teil zurückbekommen - das
ist in das Finanztableau kaum eingerechnet -, dann erzielen wir mehr Steuereinnahmen, und zwar auch von
den Richtigen, nämlich denen, die bisher Gestaltungsmöglichkeiten nutzen. Das ist Sinn und Zweck dieser
Steuerreform. Ich kann ein Gerechtigkeitsverständnis
nicht akzeptieren, das sich der Realität verweigert und
dies eben nicht in den Blick nimmt.
({1})
Wie sieht es denn mit dem Spitzensteuersatz aus?
Wie der Kollege Thiele richtig festgestellt hat, haben wir
unter der Großen Koalition das wieder ein Stück weit behoben, was der SPD eh nicht gepasst hat, nämlich dass
der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent gesenkt worden ist.
Wir haben die 45 Prozent zurückerkämpft.
({2})
- Entschuldigung! Die SPD-Position in den damaligen
Verhandlungen im Vermittlungsausschuss war nicht ein
Satz von 42 Prozent, sondern ein Satz von 45 Prozent.
Sonst hätten wir das auch nicht ins Wahlprogramm aufgenommen. Wir brauchten damals eine Mehrheit im
Bundesrat. Dadurch kam es zu den 42 Prozent. Jetzt haben wir das zurückerkämpft. Deswegen sind wir da auf
dem richtigen Weg.
Es handelt sich um eine wirkliche Entlastung vor allem für die unteren und mittleren Einkommen, übrigens
auch für den Mittelstand. Noch nie in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland ist der Mittelstand so stark
entlastet worden wie unter der rot-grünen Steuerpolitik.
Die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer und die Absenkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer haben dies bewirkt. Wir
haben die echten Leistungsträger in der Gesellschaft mit
unserer Steuerpolitik bessergestellt, damit auch Gerechtigkeit in die Einkommensverteilung gebracht und dazu
beigetragen, dass die Entwicklung bei den Reallöhnen
- Erhöhungen konnten nicht erkämpft werden; die Reallöhne sind sogar zurückgegangen; das stellt man fest,
wenn man sich anschaut, was den Beschäftigen in der
Zeit an Urlaubs- und Weihnachtsgeld gestrichen worden
ist - durch Steuerentlastungen ein Stück weit kompensiert worden ist. Das Problem ist, dass die Leute das
nicht gespürt haben, weil nämlich weniger im Geldbeutel war,
({3})
aber nicht wegen der Politik, sondern wegen der Realität
der Einkommensverteilung in der Gesellschaft, die zwischen den Tarifparteien ausgehandelt worden ist.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat als letzte Rednerin die Kollegin Christine
Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ein bisschen schade, Frau Dr. Höll, dass Sie sich in
Ihrem Antrag nur auf den Tarif konzentriert haben und
auf das, was die Menschen in diesem Land umtreibt,
nämlich dass unser Steuersystem zu kompliziert ist, dass
alles zu bürokratisch ist, dass es zu wenig transparent ist,
mit keinem Wort eingegangen sind. Das ist im Prinzip
unser Hauptproblem. Danach kann man über den Tarif
und über die Ausgestaltung des Tarifs reden.
({0})
Richtig an dem Vorschlag ist, dass die Steuerbelastungen der Beschäftigten infolge von nominellen Einkommenssteigerungen von Jahr zu Jahr steigen. Das ist das
Interessante. Florian Pronold hat einen Vergleich über
die Jahre 1998 bis heute angestellt. Das Kindergeld ist in
diesen Jahren angehoben worden. Wir haben unter der
rot-grünen Regierung wirklich viel in diesem Bereich
gemacht. Hier ist es zu einer Entlastungswirkung gekommen. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass
wir bei dem progressiven Einkommensteuertarif, den
wir in Deutschland haben, nicht den Inflationsindex berücksichtigen. Das heißt, dass wir in der Bundesrepublik
jedes Jahr heimliche Steuererhöhungen haben.
({1})
Das Lohnsteueraufkommen nimmt bei gleicher Beschäftigungssituation zum Beispiel um 1,6 Milliarden
Euro im Jahr zu, wenn die Löhne, was realistisch ist, um
1,5 Prozent steigen. Das sind Mehreinnahmen des Staates. Wenn die Löhne um 2,5 Prozent steigen würden,
hätte der Staat im Lohnsteuerbereich mehrere Milliarden
Euro mehr.
({2})
Das sind Zahlen, die man nicht wegdiskutieren kann.
Der Effekt kann in der jetzigen konjunkturellen Lage mit
relativ guten Lohnabschlüssen natürlich noch viel höher
ausfallen. Wir Grünen halten es für richtig, dass wir uns
im Einkommensteuertarif im Hinblick auf die Lohnentwicklung im Prinzip eine Anpassung überlegen müssen.
({3})
Deshalb ist die Aussage richtig, dass die Steuerentlastungen im Laufe der nächsten Jahre im Zeitablauf aufgefressen werden. Es gibt Untersuchungen darüber, dass
die Steuerlasten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in etwa drei Jahren aufgrund der kalten Progressionswirkung wieder so hoch sein werden wie zum Ende
der Regierungszeit von Helmut Kohl. Das ist richtig.
Hier gebe ich Ihnen recht. Sie ziehen aber die falsche
Schlussfolgerung.
({4})
Sie sagen, dass das Existenzminimum angehoben
werden soll. Ich denke, es gibt niemanden hier im Raum,
der sagen würde, das wäre falsch. Das Existenzminimum
auf 8 000 Euro anzuheben, ist eine gute Überlegung. Es
ist völlig klar, dass man das finanzieren muss, aber es ist
eine gute Überlegung. Wenn Sie aber sagen, wir erhöhen
den Spitzensteuersatz auf 50 Prozent, dann kann ich nur
sagen: Sie vergessen die Gesamtbelastung der Menschen
in diesem Land, deren Einkommen in diesem Bereich liegen. Hier geht es nicht nur um die Steuern. Hier geht es
auch um die Abgabenwirkungen in den sozialen Sicherungssystemen - bei den Rentenversicherungen und bei
anderen Versicherungen -, sodass Arbeitnehmerinnen
oder Arbeitnehmer eine Belastung haben, die einschließlich der Abgaben 60 Prozent erreicht. Bei denjenigen, die
bei einer Anhebung im Bereich des Spitzensteuersatzes
wären, würde von jedem Euro, der zusätzlich verdient
wird, nicht mal ein Drittel im Geldbeutel der Menschen
bleiben. Ich glaube nicht, dass sich das bei den Selbstständigen und bei den abhängig Beschäftigten in der
Bundesrepublik Deutschland positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirken würde.
({5})
Eine kurze Bemerkung: Sie machen es sich verdammt
leicht. Sie nehmen die Realität nicht an. Sie müssen einmal gucken, wer von den Steuerpflichtigen zum Steueraufkommen beiträgt.
({6})
Einige Kollegen haben bereits darauf hingewiesen.
8 Prozent aller Steuerpflichtigen - das sind diejenigen
mit hohen Einkommen - zahlen 44 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens. 8 Prozent zahlen
44 Prozent.
({7})
Schauen wir uns an, was das für den unteren Bereich
bedeutet. Wir von Rot-Grün haben sehr viel gemacht.
Sehr viele Menschen sind völlig aus der Steuerschuld
herausgefallen. Durch die rot-grüne Reform von damals
zahlt über 1 Million Menschen weniger Steuern. Man
sieht, dass im unteren Bereich viel passiert ist.
Eine letzte Bemerkung - wir haben heute bereits darüber debattiert -: Sie unterschlagen völlig, was mit den
Personenunternehmen und den Selbstständigen geschieht.
Sie zahlen dann plötzlich auch 50 Prozent Steuern. Wir
haben heute Morgen von der Koalition eine Beschlussvorlage erhalten, in der es hieß, dass die Körperschaftsteuer 25 Prozent betragen solle.
({8})
Sie ignorieren völlig, dass die Personenunternehmen und
die Selbstständigen in der Spitze bei einem Steuersatz
von 50 Prozent liegen. Hinzu kommt - neben anderen
Effekten - noch der Soli. Das ist zutiefst ungerecht.
({9})
Sie bestrafen die Selbstständigen und die Handwerker in
ihrer wirtschaftlichen Situation. Das machen wir nicht
mit.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5277 an den Finanzausschuss vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf:
36 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den 17.05. als offiziellen Tag gegen Homophobie begehen
- Drucksache 16/5291 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({3}), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Lesben und Schwule in ganz Europa durchsetzen
- Drucksachen 16/1667, 16/5442 Berichterstattung:
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Volker Beck von Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider
gibt es allen Grund, heute über dieses Thema, über die
Frage der Grundrechte von Lesben und Schwulen in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Europarats, zu sprechen.
In Riga wurde das Verbot des Christopher-StreetDays gerade von einem Verwaltungsgericht aufgehoben;
dort gibt es eine funktionierende Justiz.
({0})
Aber in Vilnius wurde gerade ein CSD-Verbot rechtsgültig ausgesprochen. In Chişinău in Moldawien wurde vor
einigen Wochen der CSD verboten. Gestern erreichte
auch die Organisation des Moskauer Gay-Pride 2007 ein
Verbot der Moskauer Stadtregierung für den Gay-Pride
in diesem Jahr.
Alle diese Länder sind Signatarstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer es noch nicht
wusste, kann es seit neuestem beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nachlesen, der Anfang
Mai dieses Jahres der Republik Polen ins Stammbuch
geschrieben hat, dass man auch Demonstrationen von
Lesben und Schwulen dulden muss. Auch wenn die
Mehrheit der Bevölkerung sich nicht mit ihnen identifizieren mag, wenn die politische Klasse und die Personen, die die Versammlungsbehörde anführen, das ekelhaft finden, sind die Grundrechte zu wahren, die
Demonstrationen zuzulassen; friedliche Demonstranten
sind vor Gewalt zu schützen, und der Rechtsweg gegen
ungerechtfertigte Beschränkung der Versammlungsfreiheit ist so auszugestalten, dass man vor der Veranstaltung eine Chance hat, vor Gericht Recht zu bekommen.
({1})
Leider müssen wir feststellen: In vielen Ländern
- man sieht es zurzeit am Beispiel Moskaus - schert sich
keiner darum. Deshalb sollten wir heute als Deutscher
Bundestag ein deutliches Signal über alle Fraktionsgrenzen hinweg aussenden, dass wir diese Verletzung der
Versammlungs- und Meinungsfreiheit nicht akzeptieren.
Es ist traurig, festzustellen, dass es in Moskau faktisch keine Politikerinnen und Politiker gibt, die die
Rechte von Lesben und Schwulen unterstützen, unabhängig davon, wie sie zu den Forderungen stehen. Diese
Forderungen zu äußern, dafür auf die Straße zu gehen,
sich friedlich zu versammeln, das ist ein Anliegen, das
der Staat zu gewährleisten hat. Gegen Faschisten, die auf
der Straße mit Prügeln auf die Demonstranten warten,
muss eine Sicherheitspolitik friedliche Demonstranten
auf jeden Fall schützen.
({2})
In Moskau ist leider das Gegenteil der Fall.
Herr Luschkow, der Bürgermeister, spricht von Satanismus auf der Straße, hetzt gegen Schwule und Lesben,
und niemand wehrt sich dagegen, dass schon heute zu
Gewalttaten bei eventuellen Aktionen am Sonntag auf
Moskaus Straßen aufgerufen wird. Nicht die Gewalttäter
werden verhaftet, sondern Leute, die dafür bekannt sind,
dass sie friedlich für Demokratie und Menschenrechte
auf die Straße gehen. Das ist ein Skandal. Dem stellen
wir uns als demokratisches Parlament der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam entgegen.
({3})
Ich finde es sehr bedauerlich, dass bislang nur ein einziger Duma-Abgeordneter, nämlich der stellvertretende
Vorsitzende der Verfassungskommission, Herr Alexej
Mitrofanow, gesagt hat, das Versammlungsrecht sei zu
respektieren. Herr Mitrofanow ist leider eine sehr schillernde Person. Er gehört zur Schirinowskij-Partei und
hat fürchterliche Dinge zu Frauenrechten, Minderheiten,
ethnischen Minderheiten, Ausländern und zum Verhältnis zu den Nachbarstaaten Russlands gesagt.
Es ist zwar gut, dass er sich zu einem Grundrecht im
demokratischen Sinne äußert. Das allein macht aus ihm
aber noch keinen Demokraten. Wir werden genau beobachten, ob er Mitglied in der demokratischen Familie
werden kann. Zuvor muss er sich von seinen früheren
Äußerungen zur Ausländerpolitik, zur Frauenpolitik und
zur Außenpolitik rückhaltlos distanzieren. Nur eine richtige Erkenntnis reicht für politische Gemeinsamkeiten
zwischen ihm und uns demokratischen Politikern nicht
aus.
Das werde ich Herrn Mitrofanow bei meinem Besuch
in Moskau persönlich sagen. Ich fahre nämlich nach dieser Debatte zusammen mit Europaabgeordneten und mit
einer Kollegin aus dem italienischen Parlament dorthin.
Wir wollen an der Seite der Menschenrechtsverteidiger
in Russland zum Ausdruck bringen, dass wir als demokratische Politiker sie nicht alleine lassen. Wir haben
großen Respekt vor ihrem Kampf in dieser schwierigen
Situation. Unsere Parlamente stehen hinter uns, auch
wenn nicht aus allen Parlamenten Vertreter nach Moskau
fahren können.
Das klare Signal ist: Menschenrechtsverteidiger können sich auf demokratische Politiker aus unserem Land
verlassen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Einer aktuellen Umfrage der Gesellschaft GfK
Polonia zufolge betrachten 53 Prozent der Polen Homosexualität als Sünde. 57 Prozent denken, Homosexuelle
sollten sich nicht öffentlich zu erkennen geben.
45 Prozent der Polen denken, Homosexuelle sollten versuchen, sich zu ändern. 58 Prozent der Befragten erklärten, Homosexuelle sollten nicht die Möglichkeit zur öffentlichen Kundgebung haben.
Ich glaube, dass dies ausgesprochen besorgniserregende Zahlen sind. Sie zeigen, dass das Problem, über
das wir heute sprechen, sich nicht allein in den Köpfen
von Politikern abspielt, sondern dass dieses Problem auf
Mentalitäten von Menschen zurückgeht. Außerhalb des
Bereiches des Europarates und der Europäischen Union
können wir sehen - darauf möchte ich später noch zurückkommen -, dass das noch in einer ganz anderen Art
und Weise eine Rolle spielt.
Wir haben vor zwei Wochen im Deutschen Bundestag
über die Situation in Russland im Rahmen einer Aktuellen Stunde gesprochen. Es ging um das Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit im Allgemeinen. Wir waren uns über die Parteigrenzen hinweg einig, dass wir
das Vorgehen russischer Behörden nicht tolerieren können. Demonstranten, die friedlich für ihre Rechte eintraten, wurde nicht nur die Möglichkeit dazu verweigert,
sondern sie wurden darüber hinaus noch verhaftet und
müssen nun Repressalien fürchten.
Ein Bericht der Heinrich-Böll-Stiftung über die Demonstration, die im letzten Jahr stattgefunden hat und an
der der Kollege Beck, wie wir uns alle erinnern können,
teilgenommen hat - er wird daran wahrscheinlich
schmerzhafte Erinnerungen haben -, fasst die Situation
sehr gut zusammen. Es geht nicht nur um die Rechte von
Homosexuellen, sondern auch um die Rechte all derer,
die für Demokratie und Menschenrechte eintreten.
Der Bericht hat die Überschrift „Anders ist gefährlich“ und enthält Äußerungen der Vertreter der drei großen Weltreligionen, die in Russland ansässig sind, zu
diesem Thema:
Der Leiter des kirchlichen Außenamtes Metropolit
Kyrill entwickelte gleich eine ganz neue Theorie
der Menschenrechte, in der Wert und Würde eines
Menschen getrennt betrachtet werden. Alle Menschen seien gleichviel wert, so Kyrill, aber Würde
hätten einige mehr als andere. Homosexuellen
spricht der Metropolit die Würde ab. Einer der
wichtigsten russischen Muftis machte es sich einfacher. Er rief alle gläubigen Muslims auf, Schwule,
derer sie habhaft würden, gut durchzuprügeln. Der
Oberrabbiner bekundete sein „Mitleid“ mit den armen, vom rechten Weg Abgeirrten.
Das ist eine Geisteshaltung, die wir auf keinen Fall tolerieren können.
({0})
Auch wenn vielleicht Unterschiede darüber bestehen,
wie wir am Ende des Tages mit der Frage der Rechte für
Homosexuelle - nicht was das Ziel, sondern was den
Weg betrifft - umgehen, will ich für meine Fraktion
deutlich machen, dass wir Versammlungsfreiheit und
Meinungsfreiheit für absolut wichtige Rechte halten.
Wie gesagt, es gibt auch außerhalb von Europa sehr viele
Orte, an denen Menschen, die „anders“ sind - ich sage
das sehr bewusst -, sehr viele Repressalien zu fürchten
haben.
Der Menschenrechtsausschuss hat sich im letzten Jahr
und speziell in diesem Jahr mit Usbekistan und Turkmenistan auseinandergesetzt. Wir sind dort gewesen,
der Kollege Beck und ich sogar zweimal. Usbekistan
und Turkmenistan sind die einzigen Länder der ehemaligen Sowjetunion, die in ihrem Strafgesetzbuch noch einen Paragrafen haben, der freiwillige sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellt.
Wenn man sich anschaut, wie im arabischen Raum
über Homosexuelle gedacht wird, dann stellt man sehr
schnell fest, dass dort sehr viele von vornherein sagen:
Das ist etwas, was in unserer Gesellschaft keinen Platz
hat, was wir nicht tolerieren können. - Die meisten derjenigen, die dort homosexuell sind, bekennen sich nicht
dazu, weil sie einfach zu viel Angst davor haben.
Dies ist also insgesamt ein Problem, das uns immer
noch - auch über die Grenzen von Europa hinaus - beschäftigen muss. Ich glaube, das ist sehr wichtig, auch
wenn sich der vorliegende Antrag im Speziellen mit dem
Thema der Meinungs- und Versammlungsfreiheit für
Lesben und Schwule in Europa beschäftigt.
Wir haben es heute noch mit einem zweiten Antrag zu
tun. Darin geht es darum, den 17. Mai zum internationalen Tag gegen Homophobie auszurufen. Dazu sage
ich: Wir sind uns in dem Ziel einig. Ob aber die Ausrufung eines internationalen Tages das richtige Mittel ist,
ist eine Frage, über die man noch einmal intensiv nachdenken muss. Es gibt vom Wissenschaftlichen Dienst
des Deutschen Bundestages eine sehr schöne Ausarbeitung aus dem Jahr 2005 über wiederkehrende
Gedenk- und Feiertage. In diesem Bericht werden
136 Gedenktage nur von internationalen Organisationen,
also nicht länderspezifisch, genannt. Das reicht vom Internationalen Frauentag bis hin zum Tag gegen das Stottern. Wenn man sich das einmal bei „Wikipedia“ anschaut, stellt man fest, dass allein am heutigen Tag
- heute ist der 25. Mai - der Afrikatag, der Tag der vermissten Kinder und der Towel Day - das ist der Handtuchtag - ist und dass am heutigen Tag die Woche der
Solidarität mit den Völkern der Gebiete ohne Selbstregierung beginnt. Ohne das ins Lächerliche ziehen zu
wollen: Man sollte sich wirklich überlegen, ob eine
Inflation von Gedenktagen wirklich die Wirkung hat,
die wir von einem Gedenktag erwarten würden. Deswegen ist an dieser Stelle durchaus Vorsicht geboten.
Wir werden weiterhin über die Anträge diskutieren.
Wir haben sie im Menschenrechtsausschuss schon das
eine oder andere Mal angesprochen. Es ist sicherlich
richtig, dass gerade wir als Mitglieder des Menschenrechtsausschusses diesem Thema die notwendige Aufmerksamkeit beimessen. Deswegen halte ich diese Debatte für richtig.
Nichtsdestoweniger würde ich gerne zum Schluss
ganz kurz auf die Debatte eingehen, die wir gestern zum
Thema Religionsfreiheit geführt haben. Denn ich halte
es schon für bemerkenswert, dass der Kollege Beck dort
an uns etwas kritisiert hat, was er heute für sich in Anspruch nimmt. Er hat gesagt - ich zitiere aus dem Plenarprotokoll -:
Ich finde, die Diskussionslage, die in dieser Debatte
herrscht, ist ein Ärgernis ... Wir dürfen nicht nur
Solidarität mit Christen üben, wie Sie es in Ihrem
Antrag fordern, meine Damen und Herren von der
Großen Koalition.
Etwas weiter heißt es:
Sie führen diese Debatte kulturalistisch und verlogen.
Dazu will ich Ihnen eines sagen, Herr Beck: Wenn ich
so bösartig wäre, wie manche Leute glauben, dass ich es
bin, würde ich Ihnen sagen, lieber Herr Beck: Warum
fordern Sie Demonstrationsfreiheit nur für Lesben und
Schwule, nur für Homosexuelle? Ich muss sagen: Ich
kann nicht ohne Weiteres erkennen, wo da der große Unterschied besteht. Wenn ich als Christenmensch sage:
„Ich setze mich für die Religionsfreiheit aller ein“ - das
ist übrigens meine Auffassung davon, wie man als Christ
zu handeln hat -, dann muss ich bitte sehr auch das
Recht haben, mich für die Religionsfreiheit von Christen, von meinen verfolgten Glaubensbrüdern einzusetzen.
({1})
Herr Kollege Haibach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?
Mit allergrößtem Vergnügen.
Bitte schön.
Wenn Sie so böse wären, wie es nach Ihrer Meinung
manche Menschen von Ihnen glauben könnten, wie würden Sie dann die Frage beantworten, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns in unserer Menschenrechtspolitik gegenüber Russland selbstverständlich allgemein für die Demonstrationsfreiheit von Oppositionellen und allen anderen Gruppen einsetzen? Denn
wir erleben gegenwärtig, dass sich in mehreren osteuropäischen Staaten Probleme bei der Demonstrationsfreiheit für Lesben und Schwule abzeichnen. Das
hat aktuell zu einem einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geführt. Man hat
sich mit der Frage, ob man Schwulen und Lesben dieses
Recht gesondert absprechen kann, auseinandergesetzt
und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dies nicht sein
darf.
Herr Kollege Beck, ich bin ausgesprochen gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Mein Einwand hat sich
weniger auf die Praxis in diesen Ländern bezogen und
auch nicht darauf, dass - worauf Sie zu Recht hinweisen das für diese Gruppen ein spezielles Problem ist. Mein
Einwand hat sich darauf bezogen, dass, wenn ich feststelle, dass Christen in speziellem Maße Schwierigkeiten haben - und von solchen Ländern gibt es mehr als
genug; das wissen Sie genauso gut wie ich -, ich verpflichtet bin, darauf hinzuweisen, gerade weil die Diskussion über so etwas in Deutschland selten geführt
wird.
({0})
Nein, wir wollen jetzt kein Frage-und-Antwort-Spiel
machen. Es ist Freitagnachmittag, wir müssen zum
Schluss kommen.
Herr Haibach, ich bitte Sie, Ihre Rede fortzusetzen.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
gerne zum Schluss kommen, auch im Hinblick auf die
Mahnung des Präsidenten, dass es Freitagnachmittag ist.
Ich glaube, dass wir über ein wichtiges Thema diskutieren. Ich meine nur, wir sollten darüber mit Augenmaß
diskutieren
({0})
und uns genau überlegen, was die richtigen Maßnahmen
sind. Das Thema verdient es.
Danke sehr.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir
- zwei Kolleginnen und Kollegen von der SPD, zwei
von den Grünen und ich für die Liberalen - waren am
letzten Wochenende in Polen, in Warschau. Es war sehr
positiv, dass zumindest am Vortag auch ein Kollege von
der Union aus dem Abgeordnetenhaus von Berlin dort
war. Es war schade, dass niemand von der Union mit zur
Demonstration gegangen ist. So etwas wäre gerade in
diesen Ländern sehr wichtig. Ich habe deshalb die Bitte
an die Konservativen in diesem Haus, aber auch im
Europäischen Parlament, in diesen Ländern deutlich zu
machen, dass das Eintreten für Schwule und Lesben
nicht die Sache von Linken oder Liberalen ist, sondern
dass unser ganzes Haus für die Demonstrationsfreiheit
eintritt. Deshalb würde ich mich über mehr Präsenz an
solcher Stelle freuen.
({0})
Trotz der Angriffe vonseiten der rechtspopulistischen
Regierung, denen Schwule und Lesben in Polen ausgesetzt sind, haben wir eine machtvolle Demonstration erlebt, haben wir erlebt, wie sich eine Bürgermeisterin
dahintergestellt hat, wie Polizei und Gerichte die Demonstrationsfreiheit in Warschau durchgesetzt haben.
Bei aller Kritik, die wir im letzten Jahr geäußert haben,
sollten wir auch das Positive einmal erwähnen.
({1})
Insbesondere Russland sollte sich an den positiven
Entwicklungen in unserem Nachbarland ein Beispiel
nehmen. Wenn Herr Putin zum G-8-Gipfel kommt, sollte
man ihn vielleicht nicht nur auf die Rolle Russlands in
der Welt ansprechen oder auf Russlands Energieressourcen, sondern einmal nach dem Demonstrationsverbot,
nach der inneren Verfassung dieses G-8-Landes fragen,
das ein großer Spieler auf diesem Planeten sein will.
Dazu gehört die Haltung gegenüber Schwulen und Lesben.
Das Gleiche gilt für einige Länder, die der Europäischen Union angehören. Es ist ein Skandal, dass in
einem EU-Land wie Litauen ein Demonstrationszug verboten wird. Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft; daran sollten wir hier im Haus immer wieder erinnern.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort die Kollegin Angelika Graf von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut
der Demokratie. Diese Freiheit muss für alle Menschen
gelten - ob uns die Meinung im Einzelfall passt oder
nicht. Nur demjenigen, der verfassungsfeindliche Ziele
verfolgt und der offen zu Gewalt aufruft, kann das
Recht, seine Meinung öffentlich zu sagen, zu demonstrieren, versagt werden. Wenn Meinungs- und Versammlungsfreiheit nur für diejenigen gelten, die eine
regierungskonforme Weltanschauung oder Lebensweise
haben, dann ist das keine Freiheit mehr.
({0})
Das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit
kann auch nicht der Religion untergeordnet sein, insbesondere nicht in säkularen Systemen.
({1})
Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und damit
auch die Demokratie leben davon, dass Kritik und Widerworte zugelassen und ertragen werden.
Die Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit erleben trotz einer Vielzahl von europäischen Diskriminierungsverboten leider viele Lesben und
Schwule. Sie müssen auch in Europa damit rechnen,
dass Demonstrationen, auf denen sie zum Beispiel auf
Ungleichbehandlung oder systematische Unterdrückung
aufmerksam machen wollen, nicht genehmigt werden.
Wenn Demonstrationen doch genehmigt werden, ist es
oft so, dass die Polizei und damit der Staat die Teilnehmer vor Anfeindungen und Gewalt während dieser Demonstrationen nicht schützt.
Heuer habe ich auf der einen Seite erfahren, dass die
Demonstration in Warschau relativ positiv verlaufen ist.
Darüber kann man sich nur freuen. Auf der anderen
Seite haben wir aber erfahren, dass sich die Polizei und
damit der Staat sowohl in Polen als auch in Russland
mit dem pöbelnden, gewaltbereiten Mob verbündet hat,
sich eher gegen die Demonstranten gestellt hat und den
Mob damit quasi zur Gewalt angestiftet hat. Ähnliche
Situationen gibt es in Litauen, in Lettland, in Estland
und in Serbien. All das wurde schon vorgetragen.
Ein Übriges leisten meiner Ansicht nach öffentlichmediale Hasstiraden. Zum Teil handelt es sich um wenig
versteckte Aufrufe zu Gewalt gegen die Demonstranten.
Auch Politiker und Vertreter christlicher Kirchen sind
davor nicht gefeit.
Ich meine, als Menschenrechtspolitiker in Deutschland und in Europa dürfen wir die Augen davor nicht
verschließen; denn wenn wir nicht den Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Homosexuelle fordern, dann können wir genau diese Freiheit auch nicht
glaubwürdig für Oppositionelle oder religiöse Minderheiten einklagen. Das sollte uns allen sehr wohl bewusst
sein.
Die Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention haben die Aufgabe, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit für alle Bürgerinnen
und Bürger - Lesben und Schwule sind davon nicht ausgenommen - zu sichern. In der Praxis haben wir leider
erlebt, dass die geschriebenen Worte auf den Straßen
Moskaus und Warschaus nicht viel wert sind. Umso
wichtiger ist es, dass wir es nicht einfach dabei belassen,
sondern klarstellen, dass Deutschland auf die Einhaltung
der Europäischen Menschenrechtskonvention pocht.
Ich begrüße daher ausdrücklich die Entschließung des
Europäischen Parlaments gegen Homophobie, die von
Angelika Graf ({2})
der Sozialdemokratischen Partei Europas sehr stark unterstützt worden ist. Uns muss bewusst sein, dass Homophobie, also die auf Vorurteilen basierende irrationale
Furcht vor oder Abneigung gegen Homosexuelle,
Bisexuelle oder Transsexuelle, der Nährboden für viele
Menschenrechtsverletzungen ist. Wenn wir uns gegen
Homophobie einsetzen, setzen wir uns also für die Menschenrechte ein.
({3})
Das Ausmaß der Homophobie in Europa ist teilweise
wirklich erschütternd. Ein Beispiel dafür ist der Weltkongress der Familien, der vor kurzem fast parallel zu
der Demonstration, wo viele von Ihnen waren, mit internationalen Referenten und über 2 000 Teilnehmern
ebenfalls in Warschau stattgefunden hat. Das Ausspielen
der - ich sage das in Anführungszeichen - „natürlichen
Familie“ gegen Schwule und Lesben sowie eine Atmosphäre aggressiver Homophobie haben sich offensichtlich wie ein roter Faden durch die gesamte Veranstaltung
gezogen. Dass alle Lesben und Schwule Eltern, Großeltern, meist auch Geschwister, manchmal eigene Kinder
und in der Regel auch einen Partner oder eine Partnerin
haben, wird schlichtweg ignoriert.
Diese künstliche Frontenbildung - hier die „natürliche Familie“ und dort Lesben und Schwule als angebliche Feinde der Familie - wird leider sowohl von der
Politik als auch von der Kirche, und zwar nicht nur in
Polen, vorgebracht.
So manche Regierung macht Lesben und Schwule zu
Sündenböcken, zum Beispiel für sinkende Geburtenraten, und lenkt damit von eigenen Versäumnissen ab.
Menschenrechte unterliegen keiner Rangordnung von
schützenswert bis weniger schützenswert. Menschenrechtspolitik nach Rangordnungen ist zum Scheitern
verurteilt; denn sie wird dann nur als punktuelle Lobbypolitik wahrgenommen, nicht als genuine Menschenrechtspolitik. Nur Menschenrechtspolitik aus einem
Guss hat eine Chance, ernst genommen zu werden; denn
sie legt sich unmissverständlich fest. Eine Diskriminierung, zum Beispiel aufgrund des christlichen Glaubens,
zu beklagen - wir hatten gestern eine Diskussion über
das Thema Religionsfreiheit -, sie aber aufgrund sexueller Orientierung zu akzeptieren bzw. nicht ausdrücklich
zu bekämpfen, wäre eine völlig kontraproduktive Klassenschaffung innerhalb der Menschenrechtspolitik.
({4})
Das wäre ein Senden von sehr widersprüchlichen Signalen an die Staaten, an die sich der Protest wendet, und
würde den Protest konterkarieren.
Viele Staaten in Ost- und Südosteuropa befinden
sich noch im Transformationsprozess und entdecken erst
Schritt für Schritt die Demokratie. Die Stärkung der Demokratie in diesen Staaten erreichen wir nur durch klare
Standpunkte. Ein solcher klarer Standpunkt dabei muss
sein, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit für
alle Bürgerinnen und Bürger gilt und nicht nur für bestimmte Gruppen.
({5})
Wenn wir in Deutschland keinen klaren Standpunkt in
der Menschenrechtspolitik vertreten, können wir auch
von anderen Staaten nicht verlangen, dass sie es tun.
({6})
Die Forderung nach Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Lesben und Schwule ist daher auch eine Forderung nach Demokratie in diesen Staaten, eine Forderung,
sich in demokratischen Strukturen einzurichten.
Ich hoffe sehr, dass wir in der Großen Koalition doch
noch zu einem gemeinsamen Antrag finden. Herr
Haibach, die Zahlen und Fakten, die Sie vorgelegt haben, sprechen eine ganz deutliche Sprache. So weit liegen wir dabei nicht auseinander. Ich würde mich sehr
freuen, wenn uns ein gemeinsamer Antrag gelingen
würde. Ich lade Sie und Ihre Kollegen noch einmal herzlich dazu ein, mit uns in diese Diskussion einzutreten.
({7})
Wenn wir nicht für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit von Lesben und Schwulen kämpfen, dann
verabschieden wir uns vom Kampf um die Meinungsund Versammlungsfreiheit insgesamt. Wir verlieren
dann unsere Glaubwürdigkeit und senden die falschen
Signale an die zahlreichen Gegnerinnen und Gegner der
Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Lassen Sie uns
daher für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und
für die Demokratie in Europa gemeinsam klar und deutlich Stellung beziehen. Ich würde mich freuen, wenn uns
das gelingen würde.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin
Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ - so lautet der Titel eines uns allen sicher bekannten Films von Rosa von Praunheim, den er
1970 drehte. 20 Jahre später, am 17. Mai, strich die
WHO Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankungen. Trotzdem ist und bleibt es ein Thema für
uns, solange wir hier in Europa noch immer Menschenrechte für nicht ausschließlich heterosexuelle Menschen
einklagen müssen, solange Meinungs- und Versammlungsfreiheit noch nicht für alle Menschen gewährleistet
ist, solange in Afghanistan und in Teilen Nigerias Menschen gefoltert und getötet werden, weil sie Menschen
des gleichen Geschlechts lieben, solange hier in
Deutschland häufig noch suggeriert wird, dass die Familie aus Mama, Papa und Kind bestehen muss, und homosexuellen Paaren das Adoptionsrecht verwehrt wird, solange „schwul“ an unseren Schulen immer noch ein
beliebtes Schimpfwort ist und junge Menschen psychisch erkranken und suizidgefährdet sind, wenn sie bei
ihrem Coming-out alleingelassen werden.
Junge Menschen in unserer aufgeklärten Gesellschaft
halten Homosexualität nicht selten noch immer für eine
Krankheit oder Extravaganz. Allzu oft begegnet uns in
deutschen Medien das Klischee vom geschminkten,
strassgeschmückten schwulen Mann und der unattraktiven vermännlichten Lesbe, und das völlig ungestraft.
Menschen aus Afrika und Asien, die aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt werden und bei uns Schutz suchen,
können ausgewiesen werden, weil gleichgeschlechtliche
Liebe kein anerkannter Asylgrund ist. Verpartnerte Paare
sind im Einkommen- und Erbschaftsteuerrecht und auch
im Beamtenrecht immer noch nicht gleichgestellt.
Diese Liste ließe sich sicher fortführen. Aber ich
glaube, dies spricht eine deutliche Sprache und zeigt,
warum ein Gedenktag, ein Tag zum Gedenken darüber,
dass Homophobie nicht einer demokratischen Gesellschaft entspricht, wichtig und notwendig ist.
({0})
Solange die Vielfalt menschlichen Liebens und Lebens keine politische, juristische und gesellschaftliche
Gleichstellung erfährt, so lange sind politische Auseinandersetzungen zum Thema Homophobie und Menschenrechte notwendig. Homophobie beschreibt das
feindselige, diskriminierende Verhalten von Einzelpersonen und ganzen Gesellschaften gegenüber nicht heterosexuellen Menschen.
Ich glaube, es ist aber auch wichtig, in dieser Debatte
festzustellen, dass besonders diejenigen Menschen und
Gesellschaften anfällig sind für Homophobie, die sich
selbst ihrer nicht sicher sind, Menschen, die Angst um
ihre Existenz, um ihre Zukunft haben. Sie zeigen nicht
nur eine höhere Neigung zu homophobem Verhalten,
sondern auch zu rassistischem und sexistischem Verhalten.
Die erschreckende Unwissenheit, gerade bei jungen
Leuten, zu diesem Thema treffen wir nicht nur in Polen
und Bulgarien an, sondern auch hier mitten unter uns.
Dies zeigen repräsentative Umfragen, in denen nachzulesen ist, dass sich das Verständnis gerade der 14- bis
18-Jährigen gegenüber den nicht Heterosexuellen nicht
verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Unwissenheit und Aversion sind verbreitet. Oftmals sind auch unter der Jugend nicht nur hinzunehmender Gleichmut und
interessierende Neugier, sondern Abneigung und Hass
festzustellen.
Es ist sicher unstrittig, dass sich das allgemeine Klima
und die Lebensumstände für Homosexuelle in der Bundesrepublik sehr verbessert haben. Trotz allem ist das,
was wir erreicht haben, noch nicht ausreichend. Deshalb
schließen wir uns den Forderungen an, die in den beiden
Anträgen erhoben werden, nämlich dass wir im Rahmen
der EU-Ratspräsidentschaft noch aktiver gegen Homophobie eintreten und dass der 17. Mai tatsächlich entsprechend anerkannt wird. Wir glauben, es ist richtig
und wichtig, dass wir uns diesem Thema immer wieder
widmen, so lange, bis weltweit wirklich erkennbare Verbesserungen zu verzeichnen sind.
Ich danke Ihnen.
({1})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Burkhardt Müller-Sönksen von
der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Europäische Parlament wies vor fast genau vier Wochen
in einer Entschließung - ich zitiere mit Nachdruck darauf hin, dass die Europäische
Union zuallererst eine Wertegemeinschaft ist, in der
die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, der
Gleichstellung und der Nichtdiskriminierung zu
den Werten gehört, denen die größte Wertschätzung
entgegengebracht wird.
Intoleranz gegenüber Lesben und Schwulen und Diskriminierung von Homosexuellen haben in Europa keinen Platz. Das ist aber nichts Neues. Wie schon vor zwei
Jahren anlässlich der Auflösung einer Demonstration in
Posen, die dem Internationalen Tag für Toleranz der Vereinten Nationen galt, fordern wir Liberale alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, sich zur Wertegemeinschaft Europa zu bekennen. Europa ist ein
gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts.
({0})
Die Würde des Menschen ist in der Europäischen
Union ein zentraler Wert. Daher sollten sich alle Mitglieder der europäischen Wertegemeinschaft aufgefordert
fühlen, sich eindeutig zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu bekennen. Das gilt auch für die Mitglieder der katholischen Kirche in Europa; damit meine ich
nicht nur die in Polen, wie im vorliegenden Antrag aufgeführt, sondern auch die in Belgien, Irland und Italien.
Es kann nicht sein, dass in Europa das Recht zu demonstrieren, gerichtlich erstritten werden muss. Herr
Kollege Beck, es ist schon ein Skandal, dass sich die
Verwaltungen nicht an Recht und Gesetz halten. Der
Rechtsweg ist das letzte Mittel. An dieser Stelle stimmen
wir Ihnen ausdrücklich zu. An die Adresse der Verwaltungen sage ich: Auch sie müssen das Recht einhalten.
({1})
Es kann nicht sein, dass in Europa LGBT-Organisationen, also Organisationen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen, verbalen Angriffen in
Form von Drohungen und Hasstiraden nicht nur von reliBurkhardt Müller-Sönksen
giösen Oberhäuptern, sondern auch von führenden Politikern sowie von Vorfeldorganisationen von Regierungsparteien ausgesetzt sind.
Es kann nicht sein, dass in Europa Teilnehmer und
Organisatoren von Gleichstellungs- und Homosexuellenveranstaltungen von körperlicher Gewalt bedroht sind trotz ihrer Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und
Vereinigungsfreiheit.
Es kann nicht sein, dass LGBTs in Europa durch fadenscheinige Überprüfungen ihrer Finanzierung kriminalisiert werden.
Es kann nicht sein, dass die Polizei in Europa bei gewalttätigem Vorgehen gegen Teilnehmer von Veranstaltungen der LGBTs wegschaut.
Es kann nicht sein, dass in Europa homosexuellen
Lehrern die Entlassung droht, wenn sie sich outen.
({2})
Herr Beck, die Frage, die sich manch ein Bürger stellen wird, wenn er Ihren Antrag liest, ist, wie die Toleranz
gegenüber Lesben und Schwulen in Europa durch einen
Antrag, der in den Deutschen Bundestag eingebracht
wird, gestärkt werden soll. Toleranz und Miteinander
müssen in den Köpfen der Menschen stattfinden, nicht
auf der Ebene eines abstrakten Beschlusses im Parlament. Daher halte ich die Signalwirkung Ihres Antrags
für relativ gering.
Um auf den Kollegen Haibach zurückzukommen,
sage ich: Ich finde den Antrag der Grünen, einen Internationalen Tag gegen Homophobie auszurufen, zustimmungspflichtig und -würdig. Da Sie allerdings gesagt
haben, es gebe zu viele Anträge dieser Art, schlage ich
vor, den Handtuchtag zu streichen und ihn durch den Internationalen Tag gegen Homophobie zu ersetzen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen frohe Pfingsten.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5291 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Hans-Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Kein Börsengang der Ruhrkohle AG - Bei der
Zukunft des Steinkohlenbergbaus soziale und
ökologische Aspekte berücksichtigen
- Drucksache 16/3695 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf
Drucksache 16/3586 zum Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1672 mit dem
Titel „Deutsche Steinkohle AG muss zügig belastbares
Datenmaterial vorlegen“ zu erweitern und sie als
Zusatzpunkt 7 mit diesem Tagesordnungspunkt zu beraten. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Dr. Thea Dückert,
Margareta Wolf ({2}), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Deutsche Steinkohle AG muss zügig belastba-
res Datenmaterial vorlegen
- Drucksachen 16/1672, 16/3586 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen,
aber es sollen alle Reden zu Protokoll genommen wer-
den.1) Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Laurenz Meyer ({3}), CDU/CSU, Rainer Wend,
SPD, Paul Friedhoff, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, und
Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Zusatzpunkt 7: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie zum Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutsche
Steinkohle AG muss zügig belastbares Datenmaterial
vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3586, den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1672 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die
Grünen angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Juni 2007, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.