Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Gestern Abend ist in Köln bei einer Trauerfeier des
Bundesministeriums der Verteidigung unter Beteiligung
von Mitgliedern des Bundestages der drei im afghanischen Kunduz getöteten deutschen Soldaten gedacht
worden. Sie wurden durch einen entsetzlichen Selbstmordanschlag aus dem Leben gerissen. Die Bombe des
Attentäters hat neben ihm selbst noch acht afghanische
Zivilisten getötet. Fünf weitere Soldaten der Bundeswehr und mehrere unbeteiligte Personen wurden zum
Teil schwer verletzt.
Die deutschen Soldaten waren im Zentrum von Kunduz auf einer Routinepatrouille unterwegs. Soweit es die
Sicherheitslage zulässt, suchen die Soldaten außerhalb
ihrer gepanzerten Fahrzeuge den direkten Kontakt zu
den Menschen. Diese demonstrativ offene Präsenz trägt
zur Vertrauensbildung in der Bevölkerung bei und soll
deutlich machen, dass der Auftrag unserer Soldaten
nicht Kriegsführung, sondern Schutz des gesellschaftlichen und staatlichen Aufbaus ist.
Beim Bundeswehreinsatz im Rahmen der internationalen ISAF-Friedensmission sind in den vergangenen
Jahren insgesamt 25 deutsche Soldaten ums Leben gekommen, einige von ihnen ebenfalls durch Anschläge.
Sie alle folgten einem Auftrag, den wir den Soldaten erteilt haben. Der Deutsche Bundestag trifft die Entscheidung über die Einsätze der Bundeswehr und die Bedingungen ihrer Einsätze. Wir tragen damit eine besondere
Verantwortung und werden ihr auch in Zukunft gerecht
werden müssen.
Mit ihrer Friedensmission im Auftrag der Vereinten
Nationen unterstützt die Bundeswehr die afghanische
Regierung dabei, die innere Sicherheit herzustellen und
zu wahren, Menschenrechte zu schützen, das Land mit
humanitären Hilfsgütern zu versorgen und die geregelte
Rückkehr von Flüchtlingen zu bewältigen. Dass Kinder,
vor allem Mädchen, in Afghanistan heute wieder Schulen besuchen, dass Frauen verstärkt ihre Rechte wahrnehmen und zunehmend am öffentlichen Leben teilhaben können, ist auch dem Engagement unserer Soldaten
und ihrer Kameraden aus anderen Staaten der internationalen Gemeinschaft zu verdanken.
Die getöteten Soldaten haben unter Einsatz ihres Lebens daran mitgewirkt, für die Menschen in Afghanistan
und mit ihnen nach über zwei Jahrzehnten Krieg und
Bürgerkrieg eine Zukunft in Frieden und Freiheit zu ermöglichen. Wir verneigen uns vor den Toten und bekunden den Hinterbliebenen, Angehörigen und Kameraden
der Opfer unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir eine schnelle und vollständige Genesung.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von
Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Beschäftigungspolitische Verantwortung der Bundesregierung bei der Deutschen Telekom AG
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank,
Dirk Fischer ({3}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Abgeordneten Annette Faße, Hans-Joachim Hacker,
Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Attraktivität des Wassertourismus und des Wassersports stärken
- Drucksache 16/5416 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volker
Wissing, Sibylle Laurischk, Frank Schäffler, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Freiheit wagen - Zivilgesellschaft stärken
- Drucksache 16/5410 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning,
Florian Toncar, Michael Link ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Todesstrafe weltweit abschaffen
- Drucksache 16/5411 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck
({7}), Marieluise Beck ({8}), Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schutz für irakische Flüchtlinge gewährleisten
- Drucksache 16/5414 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Die sogenannte Herdprämie als Hindernis für eine gute
vorschulische Förderung für alle Kinder
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({10}),
Marieluise Beck ({11}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Solidarität mit verfolgten Christen und anderen religiösen
Minderheiten durch Berücksichtigung der religiös Verfolgten beim Flüchtlingsschutz einlösen
- Drucksache 16/5419 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Bildungsberichterstattung in Deutschland und deren Weiterentwicklung
- Drucksache 16/5409 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({12})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Unterhaltsrechts
- Drucksache 16/1830 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({13})
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jörn Wunderlich
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({14}) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle
Laurischk, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial und ver-
antwortungsbewusst den gesellschaftlichen Rahmen-
bedingungen anpassen
- Drucksache 16/891 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jörn Wunderlich
Jerzy Montag
c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 16/1829 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15})
- Drucksache 16/5444 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Helga Lopez
Sibylle Laurischk
Jörn Wunderlich
- Bericht des Haushaltsausschusses ({16}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5446 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Dr. Frank Schmidt
Roland Claus
Anna Lührmann
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Der in der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf der Bundesregierung soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zur Mitberatung
überwiesen werden:
Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der
Durchsetzung von Rechten des geistigen
Eigentums
- Drucksache 16/5048 überwiesen:
Rechtsausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Der in der 94. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf der Bundesregierung soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden.
Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union
- Drucksache 16/5065
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der Tagesordnungspunkt 33 - dabei handelt es sich
um die Beratung von Vorlagen zum Familienbericht und
zur Kinderbetreuung - wird abgesetzt.
Bevor ich nun die Tagesordnung aufrufe, möchte ich
zwei Kollegen zum Geburtstag gratulieren: Der Kollege
Jörg-Otto Spiller feierte vor einigen Tagen seinen
65. Geburtstag und der Kollege Wolfgang Gunkel seinen 60. Im Namen des Hauses gratuliere ich dazu nachträglich und wünsche alles Gute.
({1})
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 f auf:
a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle-
rin
zum G8-Weltwirtschaftsgipfel vom 6. bis
8. Juni 2007 in Heiligendamm
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian
Ruck, Anette Hübinger, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gabriele Groneberg, Dr. Bärbel Kofler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Die deutsche G8- und EU-Präsidentschaft Neue Impulse für die Entwicklungspolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007
zur Reform der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Reformen für eine gerechte Globalisierung Deutsche G8-Präsidentschaft für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung nutzen
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission
EU-Entwicklungszusammenarbeit: Mehr,
besser und schneller helfen
KOM ({3}) 87 endg.; Ratsdok. 7067/06
- Drucksachen 16/4160, 16/2833, 16/4151,
16/1101 Nr. 2.16, 16/4880 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Hellmut Königshaus
Thilo Hoppe
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Hartwig Fischer ({5}), Eckart von
Klaeden, Anke Eymer ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin,
Gert Weisskirchen ({7}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine Politik der gleichberechtigten Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern
- Drucksachen 16/4414, 16/5311 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer ({8})
Brunhilde Irber
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({9})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Dr. Uschi
Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine Wiederbelebung des nuklearen Ab-
rüstungsprozesses im Rahmen der deutschen
EU- und G8-Präsidentschaft
- Drucksachen 16/3011, 16/4586 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Uta Zapf
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Uschi Eid, Margareta Wolf ({12}) und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Reformpartnerschaften mit Afrika intensivieren - Afrika muss auf die Tagesordnung des
G8-Gipfels in Deutschland 2007
- Drucksachen 16/2651, 16/5440 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer ({13})
Brunhilde Irber
Marina Schuster
Dr. Norman Paech
Dr. Uschi Eid
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Menschen statt Profite - Nein zu G8
- Drucksache 16/5408 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
anderthalb Stunden dauern. - Ich höre auch dazu keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({14})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, Sie haben Verständnis, dass ich diese Regierungserklärung nicht beginnen kann, ohne auch von meiner
Seite für die Bundesregierung der Opfer des Anschlags
vom vergangenen Samstag in Kunduz zu gedenken.
Drei deutsche Soldaten und mehrere afghanische Zivilisten verloren bei diesem feigen Anschlag ihr Leben.
Unsere Soldaten verloren ihr Leben bei der Unterstützung des Auftrages der internationalen Staatengemeinschaft, den Menschen im geschundenen Afghanistan
bessere Lebensbedingungen zu bieten und den Terrorismus einzudämmen. Im Namen der Bundesregierung
spreche ich in dieser schweren Stunde den Hinterbliebenen unser tiefes Mitgefühl aus. Den Verletzten wünsche
ich baldige Genesung.
Den Menschen in Afghanistan sage ich: Es wird den
Terroristen nicht gelingen, uns von unserem Einsatz für
Freiheit, Demokratie und die Achtung der Menschenrechte abzubringen. Deutschland steht an Ihrer Seite.
({0})
Die deutschen Soldaten in Afghanistan und all die zivilen Helfer von Nichtregierungsorganisationen leisten
Herausragendes. Sie verdienen unser aller Unterstützung
und unseren herzlichen Dank. Ihr Einsatz ist unverzichtbar.
Meine Damen und Herren, auf Einladung des deutschen Vorsitzes wird der diesjährige G-8-Gipfel Anfang
Juni in Heiligendamm stattfinden. Er bietet uns ein einmaliges Forum, um gemeinsam mit den Staats- und Regierungschefs der Gruppe der G 8 und der wichtigsten
Schwellenländer über die politischen Antworten auf
drängende globale Fragen unserer Zeit zu diskutieren.
Wie schon in Sankt Petersburg vor einem Jahr, so werden uns auch in Heiligendamm aktuelle außen- und
sicherheitspolitische Fragen beschäftigen, genauso wie
sie an diesem Wochenende die G-8-Außenminister beschäftigen werden.
Die blutigen Unruhen im Gazastreifen lassen uns
nicht ruhen. Der Raketenbeschuss aus den palästinensischen Gebieten auf Israel hat wieder zugenommen. Dieser Beschuss muss aufhören, er muss erneuten Versuchen zur Vertrauensbildung Platz machen. Gewalt führt
zu keiner Lösung der Probleme. Die Lösung liegt unverändert in der Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden: für das jüdische Volk in Israel und
für das palästinensische in Palästina. Die Region insgesamt muss zur Ruhe kommen. Deshalb dürfen die anhaltenden Versuche, die Regierung des Libanons zu schwächen, nicht zum Erfolg führen. Der Schlüssel dafür liegt
darin, dass auch Syrien zu einer konstruktiven Haltung
findet und den Libanon endlich diplomatisch anerkennt.
Auch die gemeinsame Sorge um das Atomprogramm des Iran wird in Heiligendamm Thema sein.
Für uns ist klar: Wenn die Führung des Landes ihren internationalen Verpflichtungen nachkommt, sind wir zu
einer weitreichenden Kooperation mit dem Iran bereit.
Wenn das nicht der Fall ist, wird der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen weiter entschlossen reagieren.
Die Erörterung außenpolitischer Fragen kam in den
80er-Jahren auf die Tagesordnung der Weltwirtschaftsgipfel, wohingegen in den ersten Jahren ausschließlich
Wirtschaftsthemen im Mittelpunkt der Beratungen
standen. Seit den 90er-Jahren schließlich werden auf den
G-8-Gipfeln regelmäßig auch umwelt- und entwicklungspolitische Themen beraten.
Beim ersten Weltwirtschaftsgipfel, 1975 auf dem
Schloss Rambouillet, sprach noch niemand von Globalisierung. Heute steht die Globalisierung im Mittelpunkt
unserer Beratungen. Wir wissen: Die Globalisierung bietet große Chancen, Chancen für Wachstum, für Beschäftigung, für Wohlstand und für Freiheit, und zwar für alle
Länder. Mehr noch: Sie bietet eindeutig mehr Chancen
als Risiken. Wir müssen diese Chancen allerdings erkennen, und wir müssen sie nutzen. Gerade Deutschland hat
als exportorientiertes Land in großem Maße von den
Freiheiten der Globalisierung profitiert. Über 8 Millionen Arbeitsplätze hängen heute vom Export ab. Das sind
immerhin 2,5 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Der
Exportanteil an unserem Bruttoinlandsprodukt hat sich
in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. In Deutschland beträgt er heute 45 Prozent.
Aber auch andere Länder, allen voran unsere mittelund osteuropäischen Nachbarn, verdanken ihren wachsenden Wohlstand den Freiheiten der Globalisierung.
Nicht zuletzt eröffnen Globalisierung und freier Welthandel auch und gerade den Entwicklungsländern große
Chancen. In vielen dieser Länder, nicht zuletzt in Afrika,
hat das Wachstum in den vergangenen Jahren deutlich
zugenommen.
Und doch weckt die fortschreitende Globalisierung
bei vielen Menschen in Deutschland wie in anderen Ländern erhebliche Ängste. Diese Ängste nimmt die Bundesregierung ernst. Viele Menschen stellen bohrende
Fragen: Kann die Globalisierung überhaupt noch politisch gestaltet werden? Gibt es Alternativen zur Globalisierung, so wie sie abläuft? Wird Europa seinen Wohlstand in diesem Wettbewerb bewahren können?
Diese Fragen wischen wir genauso wenig einfach
vom Tisch wie den öffentlichen Protest, der sich daran
anschließt. Natürlich muss sich dieser Protest an der Sache orientieren, und er muss friedlich sein. In der übergroßen Mehrheit ist er das auch. Denken wir an die
unzähligen Initiativen von Schulen, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, die zum G-8-Gipfel in ganz
Deutschland und ganz besonders in der Nähe des Austragungsortes geplant sind.
Ich sage ganz klar: Wer zu Gewalt greift, der macht
Dialog unmöglich. Diejenigen, die Sicherheitsmaßnahmen heute lautstark kritisieren, wären die ersten, die den
Sicherheitsbehörden mangelnde Vorsicht vorwerfen
würden, wenn Gewalt ausbrechen würde.
({1})
Wir sollten mit unseren Worten behutsam umgehen.
({2})
Umgekehrt gilt aber auch - ich sage das ganz unmissverständlich -: Wer friedlich demonstriert, dessen Anliegen ist nicht nur legitim, sondern der findet auch unser
Gehör.
({3})
Ich bin der Überzeugung, dass die Politik durch die
Globalisierung weder entbehrlich noch machtlos wird.
Ich schließe mich ausdrücklich nicht der weitverbreiteten Einschätzung an, dass die Politik keinen Einfluss auf
die Globalisierung nehmen kann und ihr daher nur hinterherläuft. Im Gegenteil: Wir können und wir müssen
Globalisierung nicht nur im jeweils eigenen Land, sondern auch auf internationaler Ebene politisch gestalten.
Hierfür ist die G 8 ein wertvolles Gremium. Das ist ganz
wesentlich und der Sinn dieser Treffen.
({4})
Es geht bei der G 8 nicht darum, spezifische Interessen der führenden Industrieländer gegen den Rest der
Welt durchzusetzen. Das wäre der völlig falsche Ansatz.
Es geht vielmehr darum, bei Fragen, die die ganze Welt
betreffen, gemeinsam zu Fortschritten zu kommen und
die Verantwortung der führenden Industrieländer hierbei
deutlich zu machen. Deshalb hat die Bundesregierung
die G-8-Präsidentschaft unter das Motto „Wachstum und
Verantwortung“ gestellt. Denn wir wollen, dass die G-8Länder ihre Verantwortung für die globalen Entwicklungen wirklich wahrnehmen.
Neu ist, dass wir dies wesentlich stärker als in der
Vergangenheit im Dialog mit wichtigen Schwellenländern anstreben. Daher werden wir schon beim G-8-Gipfel in Heiligendamm am 8. Juni mit den Staats- und Regierungschefs aus China, Indien, Brasilien, Mexiko und
Südafrika zusammenkommen. Wir wollen die G 8 nicht
zu einer G-13-Gruppe erweitern. Aber wir wissen: Ohne
die Schwellenländer sind Fortschritte etwa beim Klimaschutz, bei der Welthandelsrunde oder beim besseren
Schutz geistigen Eigentums heute nicht denkbar. Wir
wollen bei diesen Fragen ein gemeinsames Verständnis
entwickeln, das über den kleinsten gemeinsamen Nenner
ein großes Stück hinausgeht. Ziel dabei ist der Aufbau
einer neuen Kooperation der G 8 mit den großen
Schwellenländern in Form eines sachorientierten Dialogs, der über das Treffen in Heiligendamm hinaus fortgesetzt werden soll.
Sieben Themen stehen im Mittelpunkt des Gipfels.
Erstes Thema: der globale Aufschwung. Wir wollen
die Risiken für die Fortsetzung des Aufschwungs begrenzen. Oder andersherum: Wir wollen alles tun, um
den Aufschwung der weltweiten Wirtschaft zu verstetigen. Dass sich die Weltwirtschaft in guter Verfassung befindet, haben IWF und Weltbank bei den Frühjahrstagungen noch einmal deutlich gemacht. Die deutsche
Wirtschaft hat hieran maßgeblichen Anteil. In diesem
und im kommenden Jahr können wir mit einem Wachstum von deutlich mehr als 2 Prozent rechnen. Ich darf
hier sagen: Die Politik der Bundesregierung, der Dreiklang von Sanieren, Investieren und Reformieren, zeigt
Wirkung.
({5})
Lassen Sie es mich hier noch einmal sagen: Was
wurde uns nicht alles von der Opposition und von Sachverständigen vorhergesagt? Unsere Politik - so hieß es
das ganze letzte Jahr - werde den beginnenden Aufschwung zerstören. Keines dieser Untergangsszenarien
ist eingetreten.
({6})
Der Aufschwung ist stark. Das liegt wahrlich nicht allein, aber auch an der Festigkeit der Großen Koalition,
die sich nicht vom Kurs des Dreiklangs von Sanieren,
Reformieren und Investieren abbringen lässt.
({7})
Wir wissen: Die Finanzmärkte sind ein essenzieller
Bestandteil unserer globalen Wirtschaftsordnung. Ihre
Stabilität verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. In
den letzten Jahren haben sich mit den Hedgefonds neue
Finanzinstrumente entwickelt, die einerseits die Markteffizienz erhöhen, andererseits aber bisher keine ausreichende Transparenz bieten. Transparenz ist nach unserer
Auffassung dringend notwendig. Nur so lassen sich die
Risiken verringern, die von Hedgefonds für die Stabilität
der Weltwirtschaft und mittelbar für das Vertrauen in unsere Wirtschaftsordnung ausgehen. Daher halte ich eine
ernsthafte Diskussion über mehr Transparenz bei den
Hedgefonds für unverzichtbar. Diese Diskussion erfordert Geduld. Schnelle Ergebnisse können angesichts
auseinanderliegender Wahrnehmungen nicht erwartet
werden. Aber wir müssen diese Diskussion führen.
Ich bin sehr froh, dass es beim G-8-Finanzministertreffen am vergangenen Wochenende eine Annährung
gegeben hat. Die G-8-Finanzminister haben sich einstimmig auf Empfehlungen verständigt, die sich an Aufsichtsbehörden, Geschäftspartner und Investoren in
Hedgefonds sowie an die Hedgefondsbranche selber
richten. Wichtig ist dabei, dass die Empfehlungen darauf
abzielen, insbesondere Standards für das Risikomanagement zu entwickeln. Der Bundesregierung liegt sehr daran, diese Standards zu einem Code of Conduct fortzuentwickeln. Wir wollen diesen Dialog deshalb über das
G-8-Treffen in Heiligendamm hinaus fortsetzen. Denn
diese Probleme - davon bin ich zutiefst überzeugt müssen gelöst werden. Ansonsten sind wir nicht kalkulierbaren Risiken ausgesetzt.
({8})
Zweites Thema: Innovationen. Sie sind der Schlüssel
für Wachstum und Wohlstand. Einen besonderen Stellenwert haben dabei Maßnahmen zum wirksameren
Schutz des geistigen Eigentums. Produktfälschung und
Markenpiraterie sind insbesondere für die innovativen
Industrien in Deutschland einen Riesenproblem. Immerhin 30 Prozent der weltweiten Patentanmeldungen im
Maschinenbau stammen aus Deutschland. Der effektive
Schutz dieser Erfindungen liegt ganz klar in unserem Interesse. Wenn das nicht gelingt, werden wir auf den internationalen Märkten erhebliche Wettbewerbsnachteile
haben.
Dieses Thema gewinnt - das merken wir - auch in
den Schwellenländern an Bedeutung. Es gibt daher ein
zunehmend gleichgerichtetes Interesse daran, den
Schutz von geistigem Eigentum und von Innovationen
zu fördern. Vor diesem Hintergrund streben wir gemeinsame Strategien bei der Bekämpfung von Produkt- und
Markenpiraterie an. Darüber hinaus wollen wir den Dialog mit den Schwellenländern über die Umsetzungsschwierigkeiten und die Verbesserungsmöglichkeiten
des internationalen Systems zum Schutz des geistigen
Eigentums voranbringen.
Drittes Thema: grenzüberschreitende Investitionen.
Grenzüberschreitende Investitionen sind eine zentrale
Antriebskraft für Wachstum und mehr Beschäftigung.
Dabei gewinnen alle Beteiligten, und die Weltwirtschaft
hat stets davon profitiert, dass ausländische Direktinvestitionen in der Regel willkommen sind.
Aber wie wir sehen, gibt es mancherorts Anzeichen
dafür, dass ausländische Investoren auf neue protektionistische Hindernisse stoßen. Dies gilt zum einen für die
Industrieländer selbst - hier hat es in jüngster Zeit immer
wieder solche Anzeichen gegeben, auch in Europa -,
und dies gilt zum anderen für Schwellenländer, die das
Engagement ausländischer Unternehmen oft nur mit
starken Einschränkungen zulassen, etwa in Form von
Minderheitsbeteiligungen.
Deshalb streben wir in Heiligendamm ein Bekenntnis
der G 8 zur Offenheit unserer Märkte für ausländische
Investoren an. Dabei ist mir aber Folgendes wichtig: Das
Maß an Offenheit, das ausländische Investoren auf unseren Märkten vorfinden, erwarten wir grundsätzlich auch
von unseren Handelspartnern. Hier geht es um Gegenseitigkeit, um Reziprozität. Alles andere ist nicht akzeptabel.
({9})
Viertes Thema: die soziale Gestaltung der Globalisierung. Hier haben wir eine große Verantwortung. Offene Märkte brauchen soziale Teilhabe und politische
Akzeptanz. Ich danke Vizekanzler Franz Müntefering,
dass er sich insbesondere dieses Themas ganz intensiv
angenommen hat. Fortschritte auf diesem wichtigen Gebiet wird es nur geben, wenn die G 8 über ihren eigenen
Tellerrand schaut. Auch hier brauchen wir ganz dringend
den Dialog mit den Schwellenländern und mit den global
agierenden Unternehmen. Dieser Dialog ist unverzichtbar, und er ist im Vorfeld in vielfältiger Form geführt
worden.
Vom Gipfel in Heiligendamm soll ein starkes Signal
für die Beachtung und Verbreitung sozialer Standards
ausgehen: der ILO-Kernarbeitsnorm, der OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen und des UN Global
Compact für verantwortungsvolle Unternehmensführung.
({10})
Ich bin mir sicher: Ohne die Beachtung von sozialen
und - ich füge hinzu - ökologischen Mindeststandards
wird es keinen fairen Wettbewerb in der Weltwirtschaft
geben. Gerade wir, die wir in Deutschland so gute Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft gemacht haben,
haben jetzt, in der Phase der Globalisierung, die Aufgabe, diese Auffassung auch auf internationaler Ebene
mit Nachdruck zu vertreten und alles dafür zu tun, dies
auch umzusetzen.
({11})
Fünftes Thema: der Klimaschutz. Er ist ohne Zweifel
eine Herausforderung für die gesamte Menschheit; wir
haben oft darüber diskutiert. Dies haben uns die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse erneut und schonungslos vor Augen geführt. Wir müssen die Treibhausgasemissionen deutlich und zügig verringern, um die
Erderwärmung auf 2 Grad Celsius zu begrenzen.
Deutschland setzt sich deshalb mit aller Kraft für die
Weiterentwicklung der internationalen Klimaschutzpolitik für die Zeit nach 2012 ein. Beim Europäischen Rat
im Frühjahr unter unserer Präsidentschaft haben wir
hierfür auf europäischer Ebene ein ganz wichtiges Signal
gegeben. Sie wissen aber: Auf internationaler Ebene ist
die Interessenlage deutlich widersprüchlicher. Dies
wurde durch die Erörterung des Themas auf dem G-8Umweltministerrat und genauso auf dem EU-USA-Gipfel Ende April 2007 sehr deutlich gemacht. Wesentlich
ist deshalb zuerst, dass die G 8 ein gemeinsames Verständnis dafür entwickelt, wie der Klimawandel wirkungsvoll bekämpft werden kann und welche internatioBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
nalen Übereinkommen über 2012 hinaus abzuschließen
sind.
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich weiß heute noch nicht,
ob das in Heiligendamm gelingt. Für mich steht aber außer Frage: Die führenden Industrieländer müssen in dieser Frage voranschreiten. Ansonsten werden wir den
Klimawandel nicht bekämpfen können.
({12})
Nur wenn wir voranschreiten, können wir auch die wirtschaftlich fortgeschrittenen Schwellenländer überzeugen, sich zu angemessenen Maßnahmen zu verpflichten,
natürlich ohne dass ihr Anspruch auf weiteres Wirtschaftswachstum damit vernichtet wird.
Ich bin froh, dass sich der Geist der Diskussion verändert hat. Aus einem unversöhnlichen Gegensatz von
Ökonomie und Ökologie, der früher manchmal in den
Diskussionen hervortrat, ist heute eine Diskussion geworden, durch die klargemacht wird: Beide Seiten - Umwelt und Wirtschaft - können, wenn wir es richtig machen, davon profitieren.
Dabei spielt die Steigerung der Energieeffizienz eine
herausgehobene Rolle. Neue Technologien für Kraftwerke, energiesparende Gebäudetechniken, umweltfreundliche Kraftstoffe und Antriebe - durch dies alles
wird gleichermaßen ein Beitrag zu einer vernünftigen Sicherheit der Energieversorgung und zum Schutz des Klimas geleistet. Deshalb wollen wir mit den G-8-Ländern
darüber sprechen, wie wir hier konkrete Fortschritte erreichen können. Wir müssen das Treffen in Heiligendamm nutzen, um die technologische Zusammenarbeit
mit den Schwellenländern hinsichtlich der Energieeffizienz auszubauen, wo immer dies möglich ist.
Sechstes Thema: die Liberalisierung des Welthandels. Hier stehen wir vor wichtigen Weichenstellungen.
Deutschland hat sich von Anfang an mit allem Nachdruck für einen erfolgreichen Abschluss der Doha-Welthandelsrunde eingesetzt. Ich gehe trotz des inzwischen
sehr klein gewordenen Zeitrahmens nach wie vor davon
aus, dass bei den Verhandlungen ein Durchbruch möglich ist. Das heißt aber, dass alle Beteiligten ihre Verantwortung wahrnehmen müssen. Das tun sie, wenn sie
mehr Flexibilität zeigen und Kompromisse zum Abbau
von Handelshemmnissen und zum Wohle gerade auch
der ärmsten Länder auf dieser Welt eingehen.
Siebtes Thema: die Zukunft Afrikas. Sie wird neben
den weltwirtschaftlichen und klimaschutzpolitischen
Themen der große Schwerpunkt des Gipfels in Heiligendamm sein.
Wir wollen die Reformpartnerschaft mit Afrika fortsetzen und ausbauen. Die afrikanischen Staats- und Regierungschefs der fünf NEPAD-Gründerstaaten sowie
der Präsident der Afrikanischen Union, der ghanaische
Staatspräsident, werden am 8. Juni 2007 in Heiligendamm dabei sein. Wir wollen als G 8 die Unterstützung
für die Länder Afrikas betonen, die Verantwortung übernehmen und Reformen vorantreiben. Dies ist ein besonderes Anliegen der gesamten Bundesregierung und insbesondere auch unserer Entwicklungshilfeministerin.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten
Tagen beim Africa Partnership Forum wieder gespürt,
wie wichtig unser Engagement für unseren Nachbarkontinent ist. Wir sehen: Afrika ist in Bewegung. Es gibt beeindruckende Persönlichkeiten. Mehr und mehr Staaten
in Afrika werden demokratisch. Zahlreiche afrikanische
Staaten haben inzwischen ein stabiles Wirtschaftswachstum von über 5 Prozent, und die Zahl der bewaffneten
Konflikte in Afrika nimmt ab.
Auf der anderen Seite bleibt aber noch sehr viel zu
tun. Wie schwierig der Prozess der Demokratisierung
und hin zur Rechtsstaatlichkeit ist, wurde jüngst durch
die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Nigeria wieder gezeigt. Mit allergrößter Sorge verfolgen wir auch
die Situation in Simbabwe. Die massive Einschüchterung und Verfolgung politischer Gegner und die landesweite Zerstörung von Armenvierteln sind durch nichts
zu rechtfertigen.
({13})
Wir unterstützen natürlich die Vereinten Nationen und
die Afrikanische Union auch bei ihren Bemühungen um
ein tragfähiges Friedensabkommen für die Region Darfur. Die Menschen in der Region müssen endlich durch
eine gemeinsame Friedensmission von Afrikanischer
Union und UN geschützt werden. Es gibt zwar immer
wieder leichte Fortschritte, aber für die betroffenen Menschen geht dies alles viel zu langsam. Deshalb wird von
Heiligendamm ein ganz klares Signal ausgehen.
Die Millenniumsziele für Afrika sind festgelegt. Die
Phase der Zieldefinition in der internationalen Staatengemeinschaft ist vorbei. Jetzt geht es um die Umsetzung.
Es steht dabei viel politische Glaubwürdigkeit auf dem
Spiel. Unsere weitreichenden Zusagen, die wir in den
letzten Jahren zur Steigerung unserer öffentlichen Entwicklungsleistung gemacht haben, können Früchte tragen. Wir werden diese Zusagen einhalten.
({14})
Ich sage das ganz deutlich. Wir werden dazu auch neue
Wege gehen müssen, indem wir zum Beispiel innovative
Finanzinstrumente nutzen. Ich könnte mir vorstellen,
dass im Rahmen der parlamentarischen Beratungen zur
Versteigerung von CO2-Zertifikaten auch Projekte des
Klimaschutzes im Sinne der Entwicklungspolitik durchgesetzt werden könnten. Das wäre ein neuer Weg. Ich
würde das begrüßen.
({15})
Wir erwarten aber zugleich von unseren afrikanischen
Partnern, dass sie in ihren Reformbemühungen auch
energisch voranschreiten. Wir brauchen effiziente Institutionen und Strukturen. Ansonsten werden die Mittel,
die wir seitens der entwickelten Länder einsetzen, nicht
bei den Menschen ankommen. Das wäre fatal.
Wir streben den kontinuierlichen Aufbau funktionsfähiger Gesundheitssysteme in Afrika an. Im Kampf gegen
HIV/Aids unterstützen wir - so wie es vereinbart ist den universellen Zugang zu Prävention, Therapie und
Versorgung bis 2010. Hier müssen alle Beteiligten - internationale Organisationen, die afrikanischen Staaten
und die Pharmaindustrie - noch erhebliche Anstrengungen unternehmen.
Zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und
Malaria hat die Bundesregierung ihre bilateralen Fördermittel in 2007 bereits um 400 Millionen Euro erhöht.
Als G-8-Vorsitz streben wir für Ende September auch
eine zufriedenstellende Wiederauffüllung des Global
Funds an.
Meine Damen und Herren, ich glaube, uns allen ist
klar, dass es in unserem eigenen Interesse an einer stabilen Weltordnung liegt, dass der afrikanische Kontinent
wirtschaftlich und politisch nachhaltige Fortschritte
macht. Unsere Agenda für den G-8-Gipfel - die sieben
Themen zu den Schwerpunkten Weltwirtschaft, Klimaschutz und Zukunft Afrikas - zeigt insgesamt eines: Wir
wissen um Deutschlands Verantwortung in der Welt.
Gemeinsam mit den Staats- und Regierungschefs der
G-8-Länder und der wichtigsten Schwellenländer wollen
wir der Globalisierung ein menschliches Gesicht geben.
Dazu wollen wir die richtigen Rahmenbedingungen für
mehr Wachstum und Beschäftigung setzen, und wir wollen Lösungen für die großen gemeinsamen Herausforderungen der Menschheit wie den Klimaschutz und die Zukunft Afrikas finden.
Wachstum und Verantwortung: Das ist die große
Chance der deutschen G-8-Präsidentschaft. Wir danken
allen, die daran mitarbeiten, dass aus dieser Chance auch
eine Realität wird: den Organisationen, den Mitgliedern
dieses Parlaments und den vielen Bürgerinnen und Bürgern, die sich für eine zukunftsfähige, menschliche Welt
engagieren.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, zunächst einmal möchte ich
mich an Sie wenden: Wir, die liberale Opposition, wünschen Ihnen bei Ihrer Präsidentschaft bei dem G-8-Gipfel Erfolg im Interesse der Sache, Erfolg im Interesse unseres Landes. Es ist im überparteilichen Interesse, dass
der G-8-Gipfel hier in Deutschland, in Heiligendamm,
insgesamt ein Erfolg wird.
({0})
Das, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regierungserklärung als Ziele und als Arbeitsprogramm genannt haben, findet - wenn man von den innenpolitischen Ausflügen Ihrer Erklärung absieht - ausdrücklich
auch die Zustimmung und Unterstützung der liberalen
Fraktion in diesem Hause. Wir sind der Überzeugung,
dass es vor allen Dingen richtig ist, bei dem G-8-Gipfel
in Heiligendamm die Chancen der Globalisierung zu
nutzen und zu unterstreichen; denn wer immer nur über
die Risiken der Globalisierung redet, verpasst auch alle
Chancen.
({1})
Deswegen ist Zuversicht bei dieser Debatte notwendig.
Die Globalisierung ist nicht irgendetwas, was einige
Herren oder Damen Staatschefs in irgendwelchen Konferenzen oder Tagungen verabredet hätten. Die Globalisierung ist in Wahrheit eine Zwangsläufigkeit, eine Erscheinung unserer Zeit. Sie ist - wenn man so will - die
zwingende Begleiterscheinung des technologischen
Fortschritts.
Dass es einen internationalen Wettbewerb in der Wirtschaft und internationalen Handel gibt, ist ja nichts
Neues. In neuer Qualität hinzugekommen ist der Faktor
Zeit. Deswegen spricht man auch zu Recht von einer
Hochgeschwindigkeitsglobalisierung. Wir haben eben
nicht mehr die Zeit, die wir vielleicht noch vor einigen
Jahren hatten, um uns auf das Neue einzustellen. Das
liegt an den Informationstechnologien und auch an dem
rasant steigenden Wettbewerbsdruck aus anderen Ländern.
So wie es in den letzten 20 Jahren Staaten, die wir immer als klassische Entwicklungsländer betrachtet haben,
geschafft haben, zu Schwellenländern zu werden, so wie
es Schwellenländer geschafft haben, mehr und mehr zu
Ländern der Ersten Welt zu werden, so ist es auch keine
Selbstverständlichkeit, dass sich Länder, die heute in der
ersten Liga sind, auch in 20 Jahren noch dort befinden
werden. Mit anderen Worten: In Zeiten der Hochgeschwindigkeitsglobalisierung können 20 Jahre über den
Aufstieg oder den Fall einer Nation entscheiden.
Deswegen sind die derzeit in Deutschland zu vermeldenden guten Wirtschaftsdaten kein Grund zu selbstzufriedenem Zurücklehnen, sondern ein Grund, jetzt erst
recht die Strukturreformen anzupacken. Wenn wir die
Strukturreformen jetzt abermals vertagen, weil wir glauben, wir seien eigentlich aus dem Gröbsten heraus, dann
wird uns die nächste Konjunkturkrise doppelt so hart
treffen. Das ist keine verantwortliche Politik.
({2})
Viele sprechen ausschließlich von der wirtschaftlichen Komponente der Globalisierung. Ich glaube, dass
das zu kurz gegriffen ist. Bei der Globalisierung geht es
eben nicht nur - weder ausschließlich noch überwiegend um die Globalisierung der Wirtschaft. Es geht in weiten
Teilen auch um die Globalisierung von Wertevorstellungen. Es geht zum Beispiel darum, dass der Rechtsstaat global möglich wird. Es geht darum, dass Werte
- auch humanistische, menschliche Werte - im Rahmen
der Globalisierung weltweit Gehör finden.
Das, was wir einst in Zeiten der neuen Ostpolitik in
der damaligen sozialliberalen Koalition als Parole ausgegeben haben - „Wandel durch Handel“ -, ist etwas,
was in Zeiten der Globalisierung natürlich auch stattfinden wird. Nur wenn wir wirtschaftlich vernetzt sind, haben wir die Chance, dass auch unsere Ideale und Werte
in den Ländern Gehör finden, wo sie derzeit noch unterdrückt werden.
({3})
Die Globalisierung ist deswegen nicht das Schreckgespenst eines bösen Kapitalismus, sondern eröffnet die
Chance, dass Menschenrechte, Bürgerrechte und Werte
weltweit Geltung finden. Die Globalisierung bietet so
gesehen vor allen Dingen eine Chance für uns und das,
was wir in Deutschland als wichtig und wertvoll ansehen.
Die Entwicklungsländer haben - es ist gut, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie insbesondere auf die Afrikapolitik
hingewiesen haben - durch die Globalisierung vor allen
Dingen Chancen bekommen. Kolleginnen und Kollegen
von der politischen Linken in diesem Haus, Sie fordern
in Ihrem Antrag „Armutsbekämpfung statt Freihandelspolitik“. Genau das ist der Denkfehler in Ihrer Politik.
Wer den Welthandel fairer machen will, der muss ihn
eben freier machen.
({4})
Das gilt nicht nur für uns und unsere Exporte. Vielmehr
müssen wir uns als Europäer ein neues Denken aneignen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben recht, wenn Sie
sagen, auch andere Länder müssten sich für europäische
Produkte öffnen. Aber wir müssen fairerweise hinzufügen: Das gilt auch für Europa. Ich denke zum Beispiel an
die Agrarprodukte. Auch hier muss ein faires, wettbewerbliches Modell eingeführt werden, das es anderen
Ländern ermöglicht, ihre Produkte bei uns abzusetzen.
({5})
Die Industrieländer müssen sich also öffnen. Das sind
positive Seiten der Globalisierung, die nun möglich sind.
Entwicklungspolitik ist auch zukunftsorientierte Handelspolitik, die zu mehr Wohlstand, Bildung, Gesundheit
und Rechtssicherheit führt.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben einen Ausflug in die
Innenpolitik gemacht. Ich habe nicht die Absicht, der
Versuchung zu widerstehen, das zu beantworten. Wenn
Sie hier allen Ernstes den Eindruck erwecken, als wären
die derzeit guten Wirtschaftswachstumszahlen in
Deutschland teilweise oder sogar überwiegend das Ergebnis Ihrer Arbeit in der Regierung oder der Koalition,
dann schmücken Sie sich nicht nur mit fremden Federn,
sondern Sie ruhen sich sogar auf gestohlenen Kissen regelrecht aus.
({6})
Wenn Sie an dieser Stelle etwas nach vorne blickten,
dann müssten Sie meines Erachtens selbstkritisch feststellen: Wenn nach fünf Jahren weltwirtschaftlichen
Wachstums der Aufschwung endlich im ersten Jahr in
Deutschland wirklich ankommt, dann gibt das eher Anlass zur Sorge als zur Selbstzufriedenheit.
({7})
Deswegen ist es eine Posse, wenn die SPD ruft: „Das ist
der Schröder-Aufschwung“, und dann kommt von der
Union: „Nein, das ist der Merkel-Aufschwung.“ Der
Aufschwung hat mehr mit dem milden Winter zu tun als
mit dieser Regierung.
({8})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mit Geschick die
richtigen Thesen aufgestellt, was die Energiepolitik angeht. Sie haben vor allen Dingen Ihre Klimaschutzziele
genannt. Das, was wichtig wäre, haben Sie aber nicht gesagt, nämlich das, was streitig ist, und zwar nicht nur innerhalb der Regierung, sondern vor allen Dingen auch
unter den am G-8-Gipfel teilnehmenden Ländern. Wenn
wir in Deutschland ernsthaft der Überzeugung sind, dass
gegen den Klimawandel gearbeitet werden muss, dann
sollten Sie - anders als alle anderen Länder - beim G-8Gipfel nicht auf den Ausstieg aus der Kernenergie in
Deutschland bestehen. Wer den Klimawandel bekämpfen will, der darf nicht aus der Kerntechnologie in
Deutschland aussteigen; denn es ist eine Illusion, zu
glauben, wir könnten den Klimawandel mit einigen
Windgeneratoren aufhalten. Wir brauchen beides: regenerative Energien und - das sage ich ausdrücklich - die
Kerntechnologie. Beides gehört intelligenterweise zusammen.
({9})
Schließlich möchte ich eine Schlussbemerkung zu
den Protesten und den berechtigten Anliegen, die vorgetragen werden, machen. Es ist völlig selbstverständlich,
dass auch Staatschefs beim G-8-Gipfel es ertragen müssen, dass gegen sie demonstriert wird. Es ist völlig
selbstverständlich, dass das nicht mit dem vergleichbar
ist, was beispielsweise Präsident Putin in Samara gesagt
hat. Es soll übrigens ausdrücklich die Festigkeit anerkannt werden, mit der Sie dort russische Defizite benannt haben. Ich finde es gut, dass dies geschieht. Ich
habe gar kein Problem damit, das anzuerkennen.
({10})
Eines muss aber auch klar sein: Wer meint, er habe
ein Recht auf Widerstand, das auch Gewalt einschließt,
der setzt sich ins Unrecht. Wer meint, er könne bei der
Demonstration für noch so anerkannte Ziele Gewalt einsetzen, der wird ein Strafverfahren ernten; denn wenn
wir die Gewalt von links akzeptieren, dann wird es ein
Echo auf der rechten Seite geben. Gewalt ist kein Mittel
in der Politik. Wir müssen auch über die staatlichen
Maßnahmen reden, die wir ergreifen. Wenn man die
Bundeswehr und ihren Einsatz in Afghanistan in einen
Terrorismuszusammenhang stellt oder das Wirken der
deutschen rechtsstaatlichen Polizei mit der Stasi vergleicht, dann tun wir unserem demokratischen Rechtsstaat keinen Gefallen, sondern wir provozieren eine
Fehlentwicklung, die nicht gut ist.
({11})
Deswegen: Viel Erfolg für Sie bei dem Gipfel. Wir
hoffen allerdings sehr, dass Sie dort auch das ansprechen, was Sie hier im Hause verschweigen, weil Ihnen
der Frieden in der Koalition wichtiger ist. Manches kann
man verstehen, aber wenn die Interessen unseres Landes
nicht ausreichend verfolgt werden, dann stößt das auf
Unverständnis und Kritik. Ich jedenfalls hoffe sehr, dass
Deutschland bei diesem G-8-Gipfel ein guter und würdiger Gastgeber ist und Bilder des Friedens und nicht der
Gewalttaten in die Welt gesendet werden.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Ditmar Staffelt ist der nächste Redner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wegen der Bedeutung des G-8-Gipfels wollte
ich mich eigentlich innenpolitischer Polemik enthalten;
ich will aber doch auf die von Herrn Westerwelle aufgeworfene strittige Frage, wer nun für den Aufschwung
verantwortlich ist, wenigstens eine Antwort geben: Die
FDP ist es mit Sicherheit nicht gewesen. Deshalb sollten
Sie sich etwas zurückhalten.
({0})
Der G-8-Gipfel in Heiligendamm bietet eine hervorragende Möglichkeit, von Deutschland aus wichtige Impulse für die Zukunftsfragen unserer Welt zu setzen.
Jene, die in G 8 eine nicht legitimierte Weltregierung sehen, missverstehen G 8, so glaube ich, trefflich. Niemand
will G 8 etwa zu einem UNO-Ersatzinstrument entwickeln, wir Deutsche, die wir den Multilateralismus auf
unsere Fahnen gesetzt haben, schon gar nicht. Ich frage
also die Kritiker: Wie sollen wir Globalisierung gestalten,
die Klimakatastrophe abwenden, fairen Wettbewerb organisieren, menschenwürdige Arbeitsbedingungen entwickeln und den armen Ländern eine Perspektive geben,
wenn nicht die Industrieländer gemeinsame Strategien
entwickeln und Initiativen vorbereiten? Wichtig ist also
nicht die Form, sondern der Inhalt.
Ich finde, dass dieser G-8-Gipfel eine Agenda hat, die
sich sehen lassen kann, die alle wichtigen Themen, die
die Welt bewegen und ihre Zukunft in ganz wesentlichen
Fragen bestimmen werden, enthält. Ich finde auch, dass
sich die deutsche G-8-Präsidentschaft in dieser Frage
bisher hervorragend geschlagen hat.
({1})
Der immer wieder geäußerte Vorwurf, die G 8 bemühe sich nicht in ausreichender Weise um den Frieden
in der Welt und die Entmilitarisierung, ist doch nichts als
Populismus; das stimmt mit den Fakten doch in keiner
Weise überein. Die außenpolitische Agenda des G-8Gipfels ist voll von Vorschlägen für Lösungen von Konflikten in dieser Welt. Auch hier muss man sagen: Die
Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist ein wichtiger Mediator, ein wichtiger Impulsgeber für mehr Frieden auf dieser Welt. Ich finde, auch das ist aller Anerkennung wert.
({2})
In einer Welt, die die alte Nachkriegsordnung sichtbar
hinter sich gelassen hat, die sich multipolar entwickelt,
die neue starke wirtschaftliche Zentren herausbildet, ist
der enge Dialog mit den Schwellenländern unerlässlich.
Wir begrüßen deshalb, dass der Beginn eines strukturierten Dialogs zwischen G 8, China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika von Heiligendamm ausgehen wird.
Der Prozess der Einbindung der Schwellenländer in
globale Verantwortung muss eine der herausragenden
Zielsetzungen der G-8-Aktivitäten werden. Global Governance wird ohne Schwellenländer nicht denkbar und
vor allem nicht erfolgreich sein. Ohne ihre Einbindung
in ein System des effektiven Multilateralismus drohen
uns auf der Welt zusätzliche Instabilitäten, Konflikte und
Dauerturbulenzen. Vor allem würden wir an einem gehindert werden: die Schattenseiten der Globalisierung
- Armut, Ausbeutung und Umweltschäden - gemeinsam
zu bekämpfen. Wenn hier keine tragfähige Basis gefunden wird, dann wird es uns, glaube ich, sehr viel schwerer fallen, den Demokratie- und Wertedialog mit diesen Ländern zu führen. Frau Bundeskanzlerin, wir halten
es deshalb für wünschenswert - das sage ich ausdrücklich -, diese neue Form des Dialogs unbedingt fortzuführen und den G-8-Erweiterungsgedanken der britischen
Regierung nicht völlig zu verwerfen.
Viele Entwicklungen in der Welt werden aber auch
von der Reformfähigkeit der Industriestaaten selbst
abhängen. Mit Sorge sehen wir den fortschreitenden
Vertrauensverlust globaler Institutionen, die Zunahme
von Regionalismus und Protektionismus. Umso wichtiger ist es, dass auch von Deutschland weitere Impulse
für die Reform des IWF und der Weltbank ausgehen. Ihr
Auftrag muss konzentriert werden, und vor allem muss
durchgesetzt werden, dass die Schwellenländer ein stärkeres Mitspracherecht erhalten.
Es ist im Interesse des Ganzen, aber auch in unserem
Interesse: Wir brauchen Regeln und Standards in dieser
Welt. Die freien Weltmärkte sind wichtig und alternativlos. Aber ohne Regeln, ohne Standards werden sie einen
Schaden verursachen, den wir so nicht akzeptieren wollen und können.
({3})
Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass gerade mit
den Schwellenländern gemeinsam die uns bewegenden
Fragen einer Regelung zugeführt werden. Ich begrüße
ausdrücklich, dass es Finanzminister Steinbrück gelungen ist, mehr Transparenz in die globalen Finanzmärkte
einzuführen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Hedgefonds
Meldepflichten und aufsichtsrechtliche Vorschriften umgehen, denen alle anderen institutionellen Anleger unterworfen sind.
({4})
Ich glaube, dass hier keine schnellen Ergebnisse zu
erwarten sind. Aber es ist ein Anfang gemacht. Herr
Kollege Kuhn, ich muss Ihnen ganz offen sagen - Sie
wissen das genauso gut wie ich -: Da werden ganz dicke
Bretter gebohrt; aber wir sollten anerkennen, dass unsere
Bundesregierung einen Fuß in die Tür gesetzt und damit
einen ersten Schritt gemacht hat. Damit ist ein Weg vorgezeichnet, der zum Erfolg führen kann.
({5})
Ähnliches gilt doch auch für den Klimaschutz, der
Sie so bewegt. Selbstverständlich haben die G-8-Staaten
und auch die Schwellenländer äußerst unterschiedliche
Auffassungen über dieses Thema. Selbst wenn im Moment nicht zu erwarten ist, dass es unter der Bush-Regierung in den USA zu Verpflichtungen entsprechend dem
Kiotoprotokoll kommen wird, müssen wir doch sehen:
Der Prozess des Dialogs hat in den Vereinigten Staaten
von Amerika zu erheblicher Bewegung geführt. Diese
Bewegung müssen wir aufnehmen. Wir müssen sie kanalisieren. Hierbei kann Deutschland mit seinen Erfahrungen im Bereich des Umweltschutzes und des Klimaschutzes eine herausragende Rolle spielen.
({6})
Ich begrüße ganz ausdrücklich das Engagement der
Bundesregierung im Bereich der Arbeits- und Sozialstandards. Es hat viele Jahre eine gewisse Reserviertheit
gegeben, die ILO-Kernarbeitsnormen auf der internationalen Ebene in den entsprechenden Gremien überhaupt
zu erörtern. Wir haben jetzt eine klare Linie. ILO-Kernarbeitsnormen und anderes wie OECD-Leitlinien für
multinationale Unternehmen oder auch Global Compact
sind das, was wir brauchen, um zum einen unsere Arbeitsplätze zu schützen und zum anderen menschenwürdige Arbeitsverhältnisse in den Ländern der Dritten Welt
und in den Schwellenländern zu ermöglichen. Deshalb
müssen wir uns vorbehaltlos dazu bekennen.
({7})
Lassen Sie mich nur anmerken, Frau Bundeskanzlerin: Aus meiner Sicht ist es von Mindeststandards zu
Mindestlöhnen kein allzu weiter Weg. Vielleicht könnten Sie auch das in dem Zusammenhang noch einmal
überdenken.
({8})
WTO und Doharunde. Wir streiten gemeinsam dafür,
dass die Dohaentwicklungsrunde doch noch ein Erfolg
wird. Die Industrieländer, die USA, aber auch Europa,
müssen sich bewegen - das ist schon zu Recht gesagt
worden -, weil ansonsten die Entwicklungsländer in die
Defensive gedrängt werden und der Vorsprung der Industrieländer und der Schwellenländer weiter wächst.
Das kann nicht im Sinne einer vernünftigen Politik zur
Gestaltung einer menschenwürdigen Welt sein. Hier
muss es vonseiten der Industrieländer, vor allem der
USA, aber auch der Europäischen Union, noch ein Stück
mehr Bewegung geben. Darum bitten wir ganz ausdrücklich.
({9})
Dialog ist unbedingt erforderlich, weil es in diesem
Land beim Thema Globalisierung Defizite und Ängste
gibt. Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Wir
müssen - da gebe ich den Vorrednern recht - sehr viel
offensiver mit diesem Thema umgehen. Wir als Deutsche müssen bei diesem Thema sehr viel mehr Gestaltungsbereitschaft an den Tag legen. Wir haben eine hohe
Reputation in der Welt, die uns in die Lage versetzt, so
zu verfahren. Also: Der G-8-Gipfel in Heiligendamm
darf keine Eintagsfliege bleiben. Die Diskussion der
Themen dieses G-8-Gipfels muss fortgeführt werden,
auch hier im Hause, mit entsprechender parlamentarischer Begleitung.
Noch ein kurzes Wort zum Thema Demonstrationsrecht. Für uns Sozialdemokraten steht außer Frage: Der
Schutz der Gäste muss gewährleistet sein. Dennoch sagen wir unserem Verständnis entsprechend - wir gehen
davon aus, dass das im gesamten Haus so gesehen wird sehr deutlich: Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit darf
auf gar keinen Fall verletzt werden.
({10})
Es darf nicht aus jedem friedlichen Demonstranten ein
potenzieller Gewalttäter werden. Deshalb kommt es sehr
darauf an, den bewährten Sicherheitskräften auch politisch noch einmal diesen Rahmen klarzumachen, damit
am Ende in diesem Land und in der Welt über die Themen des G-8-Gipfels und nicht über Auseinandersetzungen vor Ort diskutiert wird. Es wäre um die Themen und
um den G-8-Gipfel sicherlich mehr als schade.
({11})
Meine Damen und Herren, ich bekenne mich ganz
ausdrücklich dazu, dass wir als Deutsche eine wichtige
Aufgabe bei den G 8 wahrnehmen. Ich sehe bei aller
Kritik und allen Defiziten, die es auf diesem Globus natürlich immer noch gibt, dass die Bundesregierung als
Präsidentschaft einen richtigen Pfad beschritten hat. Ich
wünsche dem Gipfel, Ihnen allen guten Erfolg.
Schönen Dank.
({12})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie wissen, ich versuche
immer, zu differenzieren.
({0})
- Warten sie doch ab. - G 8 ist immer noch besser als
G 1, denn G 1 hieße, dass die USA ganz allein, ohne sich
überhaupt mit jemandem zu unterhalten, alles entschieden, was auf der Welt passiert. Das wollen wir nun auf
gar keinen Fall.
({1})
Ich füge aber hinzu: G 8 ist nicht legitimiert. G 8 spielt
sich als Weltregierung auf. Es gibt keinen einzigen Beschluss der Organisation der Vereinten Nationen, der das
legitimiert.
({2})
Sie reden dort über Afrika; sie reden über Lateinamerika. Aber am G-8-Gipfel ist kein einziges afrikanisches
Land beteiligt; es ist kein einziges lateinamerikanisches
Land beteiligt. Große Teile der Welt sind ausgelassen.
So kann man nicht demokratisch legitimiert Weltpolitik
machen.
({3})
Das Ganze hat eine Struktur. Sie nennen sich Präsidentin des G-8-Gipfels. Ja, was ist denn das? Gibt es hier
ein Statut? Gibt es hier irgendetwas? Das ist einfach so
entstanden, um Weltpolitik zu machen, und zwar ohne
Beteiligung der UNO. Das ist nicht legitim. Hier ist der
Protest legitim, der sagt: Wir wollen eine demokratisch
reformierte UNO, die Weltpolitik macht.
({4})
Ich weiß, an einem Tag haben Sie die afrikanischen
Staatschefs vorgeladen. Das macht das Ganze nicht legitimer, das sage ich hier ganz deutlich.
({5})
Es stimmt, entscheidend ist der Inhalt. Darauf haben Sie
auch verwiesen. Worüber wird diskutiert? Es wird zum
Beispiel darüber diskutiert, dass China mehr exportiert
als importiert. Das stört die USA, das stört die EU, und
das stört Japan. Es ist interessant, dass dies auch
Deutschland stört. Wenn es ein Land gibt, das deutlich
mehr exportiert als importiert, dann ist das Deutschland.
Wieso erlauben wir das gerade den Chinesen nicht? Ich
kann das nicht begreifen.
({6})
- Ja, das ist das Problem. Sie aber haben viel größere
Probleme. Ihre Probleme möchte ich nicht haben. Dazu
sage ich noch etwas.
({7})
Sie wollen über Hedgefonds diskutieren. Hinsichtlich
der Hedgefonds haben Sie selbst gesagt, dass es nur ein
paar Empfehlungen gibt. Frau Bundeskanzlerin, ich bitte
Sie, wer einen Hedgefonds leitet, der kümmert sich nicht
um solche albernen Empfehlungen.
({8})
Entweder Sie greifen ein und verständigen sich auf Veränderungen in der Politik, die durchgreifen, oder Sie
können es bleiben lassen. Das muss ich ganz deutlich sagen. Die Hedgefonds agieren doch, wie sie wollen. Und
überhaupt: Wieso loben Sie die so? Sie haben einen
Stellvertreter, der diese Fonds einmal Heuschrecken genannt hat. Was ist nun die Wahrheit?
({9})
Nun bitten Sie die Hedgefonds um Transparenz. Dann
können Sie die auch gleich bitten, sich aufzulösen. Das
werden die aber nicht machen.
({10})
Dann soll es um Klimaschutz gehen. Da sind wir uns
einig, hier muss weltweit etwas passieren. Da haben Sie
recht, Frau Bundeskanzlerin. Ich weiß auch, dass Sie
sich diesbezüglich engagieren. Es wäre aber ehrlich,
wenn Sie hier sagten, die USA werden dem Kiotoabkommen auch nach diesem Gipfel nicht beitreten. Da sie
das nicht machen, kommen wir diesbezüglich nicht weiter. Präsident Bush wird Ihnen jovial auf die Schulter
klopfen. Das ist alles, was passiert. Das ist die Tragik.
Hier müssen Sie energischer werden, und zwar mit den
anderen zusammen. Weil wir das Klima und die
Menschheit retten wollen, können die USA nicht so weitermachen. Das gilt übrigens auch für China. Das muss
man genauso deutlich sagen.
({11})
Dann soll es um Afrika gehen. Schon im Jahr 2003
ist auf dem G-8-Gipfel beschlossen worden, die Entwicklungshilfe für Afrika deutlich aufzustocken. Wenn
man den Schuldenerlass für Nigeria abzieht, dann hat
sich die Entwicklungshilfe seit 2003 um 2 Prozent gesteigert. Das ist alles, was passiert ist. Nun gibt es den
Data-Report der Sänger Bono, Bob Geldof und Herbert
Grönemeyer. Sie haben festgestellt, dass nur Japan und
Großbritannien ihr Soll bezüglich der Entwicklungshilfe
erfüllt haben. Es werden auch die Länder aufgezählt, die
ihr Soll nicht erfüllt haben. Dazu gehören die USA,
Frankreich, Kanada und Deutschland. Sie spucken hier
große moralische Töne. Das Erste wäre doch wohl, dass
man seine Pflichten diesbezüglich erfüllt. Das haben wir
nicht gemacht.
({12})
Das Problem beim G-8-Gipfel ist, dass es nicht um
eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung geht. Ich nenne
Ihnen einmal zwei Beispiele - auch wenn wir andere
Auffassungen bezüglich des Freihandels haben als die
FDP -, wo das Gegenteil passiert:
Nehmen wir einmal das Beispiel Lebensmittel. Lebensmittel sind in Europa hoch subventioniert. Das kann
man in Europa hinnehmen; das hat etwas mit der Sicherheit von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft usw. zu
tun; das ist jetzt aber nicht mein Thema. Mein Thema ist:
Die subventionierten Lebensmittel nach Asien und
Afrika zu exportieren, ist eine Frechheit,
({13})
weil die Länder dort natürlich umgekehrt gar keine Möglichkeit zu solchen Subventionen haben. Das ist dann
auch kein freier Handel, sondern subventionierter Handel.
Das zweite Beispiel sind Textilien. Bei Textilien machen wir Folgendes: Auf Importe aus Asien und Afrika
erheben wir hohe Zölle. Dadurch haben die natürlich gar
keine Chance, ihre Textilien hier zu verkaufen. Wenn
afrikanische und asiatische Länder solche Zölle auf unsere Textilien erhöben, würde die Weltbank ihnen die
Kredite streichen. Das ist die Wahrheit; darüber können
Sie einmal diskutieren.
({14})
- Ich freue mich, dass Sie sich darüber aufregen. Wissen
Sie, wer das geistige Eigentum an diesen beiden Beispielen hat? Heiner Geißler, CDU; der hat das in der Zeitung
geschrieben.
({15})
Da sollten Sie ab und zu einmal nachlesen.
Worüber könnte man beim G-8-Gipfel zum Beispiel
sprechen? Ich meine, über die Tobin-Steuer. Wenn Sie
politischen Einfluss auf die Weltwirtschaft nehmen wollen, dann bedarf es einer Börsenumsatzsteuer. Sie müssen doch die Dinge lenken. Darf ich daran erinnern, Frau
Bundeskanzlerin, dass selbst Herr Bush nach den entsetzlichen Anschlägen von 2001 in New York und
Washington gesagt hat, dass man mehr Regulierung
braucht? Und wissen Sie auch, warum? Weil festgestellt
worden ist, dass die Hinterleute der Anschläge auch
noch reich geworden sind, weil sie wussten, wann die
Anschläge stattfinden, und rechtzeitig die richtigen
Aktien kaufen und verkaufen konnten. Nicht einmal dagegen ist bis heute irgendetwas unternommen worden.
Sie akzeptieren einfach das Primat der Wirtschaft über
die Politik, statt das Primat der Politik über die Wirtschaft wiederherzustellen.
({16})
Worüber sollten Sie reden? Sie könnten über die Beendigung der Kriege im Irak und in Afghanistan reden.
Was soll denn die Theorie, die diesbezüglich aufgestellt
worden ist, dass das ein wichtiger Krieg gegen den Terror sei? Die Zustände im Irak unter Hussein waren sicherlich furchtbar. Aber sie sind doch heute noch viel
furchtbarer! Der Krieg hat zu nichts anderem als zu einer
erhöhten Bereitschaft zum Terror geführt.
({17})
Krieg ist die Höchstform von Terror, und mit der
Höchstform von Terror kann man Terror niemals wirksam bekämpfen. Das beweisen Afghanistan und der Irak.
({18})
Diese Dinge sollte man beenden und zum Völkerrecht
zurückkehren. Ich sage das hier noch einmal ganz klar:
Der Krieg gegen Jugoslawien, der Krieg gegen Irak, die
Operation Enduring Freedom sind und waren völkerrechtswidrig.
({19})
Wenn die führenden Industriegesellschaften das Völkerrecht brechen, werden sie keine Chance mehr haben, bei
den übrigen über 180 Staaten durchzusetzen, dass diese
das Völkerrecht einhalten. Wir zerstören das Recht und
setzen an dessen Stelle kein neues. Das ist nicht hinnehmbar.
({20})
Sie könnten und sollten auch über Rüstung reden.
Jährlich wird für Rüstung auf der Erde ein Betrag von
1 Billion US-Dollar ausgegeben. 75 Prozent dieser Kosten tragen die acht Staaten, die sich zum Gipfel treffen.
Die übrigen über 180 Staaten geben von diesem Betrag
nur 25 Prozent aus. Was nutzt denn diese militärische
Überlegenheit? Sie bringt gar nichts. Der Ausweg derjenigen, die militärisch unterlegen sind, ist, dass sie zum
Terror greifen. Das ist das Ergebnis. Lassen Sie uns doch
einmal anders denken als in rein militärischen Kategorien!
({21})
Bush schreit immer sofort „Krieg!“, auch wenn der Iran
nicht so funktioniert. Das löst unsere Probleme nicht; es
verschärft sie nur weltweit. Wir brauchen endlich einen
anderen Ansatz, auch durch einen Beschluss der Mehrheit des Bundestages.
({22})
Dann, Frau Bundeskanzlerin, haben Sie gesagt, dass
das alles zum Aufschwung geführt habe, und Sie seien
stolz darauf, dass die ganzen furchtbaren Szenarios nicht
wahr geworden seien. Ich bitte Sie: Aufschwung für wen
eigentlich? Ich weiß, die Gewinne der Deutschen Bank
steigen, und Hedgefonds freuen sich. Aber fragen Sie
doch einmal die Arbeitslosen, die Rentnerinnen und
Rentner, diejenigen in Mini- und Midijobs oder in Leiharbeitsverhältnissen oder die Kranken, ob sie das Gefühl
haben, es gebe einen Aufschwung für sie.
({23})
Ich lese jeden Tag in der Zeitung, dass die Steuereinnahmen sprudeln. Aber gab es auch nur einen Satz von Ihnen dazu, dass es dann endlich auch den Rentnerinnen
und Rentnern, den Kranken und Arbeitslosen besser gehen müsse? Nicht einen Satz!
({24})
Herr Staffelt, ich hatte gehofft, Sie würden jetzt nichts
sagen. Sie haben vorhin vom gesetzlichen Mindestlohn
gesprochen. Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang
an zwei Punkte erinnern. Erstens. Sieben Jahre lang haben Sie die Regierung gestellt. Aber Sie sind nicht einen
Tag auf die Idee gekommen, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, obwohl Sie dazu, wie gesagt, sieben Jahre lang Zeit hatten.
({25})
Zweitens. Als wir im Wahlkampf für den gesetzlichen
Mindestlohn gestritten haben, da wurde mir auch von
der SPD immer erzählt, dies sei Unsinn. Heute tun Sie
so, als sei es Ihre Idee gewesen. Das ist nicht wahr. Aber
Sie haben in Kürze die Möglichkeit, im Bundestag darüber abzustimmen. Warten wir einmal ab, was dann
passiert.
({26})
Es geht bei diesem G-8-Gipfel leider um die Durchsetzung einseitiger wirtschaftlicher und politischer Interessen der Industriegesellschaften. Es ist deshalb legitim,
dagegen zu demonstrieren. Dieses Grundrecht ist im
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert.
({27})
Was ich nicht verstehe und was mir wirklich Sorgen
bereitet, ist die Art der Herangehensweise. Noch bevor
ein Auto gebrannt hat - das Anzünden von Autos verurteilen wir genauso wie Sie alle hier -, waren es die Sicherheitsbehörden, die meinten, mit Razzien eine solche
Stimmung erst einmal provozieren zu müssen.
({28})
Warum? Sie führen Razzien in der Hoffnung durch, eine
Gegenbewegung zu kriminalisieren.
({29})
Sie hoffen, dass viele sogenannte anständige Leute nicht
mehr zur Demonstration gehen. Aber diesmal passiert
das Gegenteil. Sie haben durch diese Maßnahme viele
aufgeweckt. Diese gehen jetzt zur Demonstration, obwohl sie das ursprünglich gar nicht vorhatten.
({30})
Ihr Bundesinnenminister spricht in diesem Zusammenhang von Vorbeugehaft. Ich kenne das geltende
Recht diesbezüglich, aber ich sage Ihnen: Ich halte das
für rechtsstaatlich unvertretbar und auch für grundgesetzwidrig.
({31})
- Wissen Sie eigentlich, was Vorbeugehaft bedeutet? Jemand wird in Haft genommen, obwohl ihm keine Straftat vorgeworfen werden kann. Sie nehmen ihm bis zu
14 Tagen die Freiheit für gar nichts, nur weil Sie sagen:
Der könnte ja vielleicht einmal eine Straftat begehen. Ich bitte Sie! Das ist überhaupt nicht hinnehmbar.
({32})
- Wenn Sie sich als Entschuldigung auf die DDR berufen, dann zeigt das, wie weit es mit Ihnen gekommen ist.
({33})
Herr Kollege Gysi.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich habe es heute leider zeitlich nicht mehr geschafft
- das macht aber nichts -, Ihnen vorzulesen, was in der
„Berliner Zeitung“ vom 19. Mai unter der Überschrift
„Wie ein Grundrecht verdampft“ geschrieben wurde. Ich
empfehle Ihnen, einmal nachzulesen, was da ein Mann,
der kein Linker ist, darüber schreibt, wie Sie mit den
Grundrechten auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit hier umgehen. Das ist nicht hinnehmbar.
Danke schön.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Matthias Wissmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin heute nicht auf Polemik eingestimmt. Aber wenn durch Ihre gesamte Rede,
lieber Herr Kollege Gysi, und auch durch die Linienführung der PDS immer wieder die große Skepsis gegenüber der Globalisierung durchscheint, dann muss ich
Ihnen ganz offen sagen: Globalisierung hat mehr Chancen als Risiken. Dort, wo Armut und Ungleichheit am
meisten wachsen, ist dies nicht eine Folge der Globalisierung, sondern eine Konsequenz abgeschotteter, geschlossener und verstaatlichter Gesellschaften, in denen
Korruption und Armut zwangsläufig gedeihen müssen.
({0})
Ich nenne als Beispiele: Nordkorea, Simbabwe, die
frühere DDR und die frühere UdSSR. Dort geschah das
Gegenteil von Globalisierung, das Gegenteil von Offenheit und das Gegenteil dessen, wofür wir auch bei dieMatthias Wissmann
sem G-8-Gipfel eintreten. Auf diesem Gipfel steht das
Thema Globalisierung zu Recht im Mittelpunkt.
Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte anschauen, dann
können wir sagen, dass wir Deutsche von der Globalisierung - 8 Millionen Arbeitsplätze sind vom Export abhängig - unglaublich profitiert haben. Unsere Nation ist
nach wie vor die Nummer eins in der Welt in Sachen Export. Wir kritisieren auch nicht die Chinesen, wenn sie
im Export erfolgreich sind. Wir kritisieren nur fragwürdige Methoden, die es gelegentlich bei Exporterfolgen
gibt. Ich nenne beispielsweise Dumpingpraktiken und
Produktpiraterie. Einen Exporterfolg, der auf faire Weise
errungen wurde, gönnen wir jedem, nicht nur uns selbst.
({1})
Wir dürfen nicht vergessen, dass durch die Globalisierung in den letzten Jahrzehnten große Teile der Erde,
große Teile Asiens die Chance hatten, Wohlstandsgewinne zu erzielen: Malaysia, Singapur, Thailand, Vietnam, Indien und China. Sie sind nicht überall vorbildlich, aber sie haben enorme Wohlstandsgewinne, und
dies verdanken wir dem freien Welthandel.
Richtig ist aber auch - das ist vorhin schon einmal gesagt worden -, dass wir die Fahne des freien Welthandels nur dann glaubwürdig tragen können, wenn wir
auch vor der eigenen Tür kehren. Unser Konzept, das
Konzept der Bundesregierung, ist nicht das einer Festung Europa, sondern das eines offenen Europas. Freier
Welthandel ist die beste Entwicklungshilfe; dies gilt
auch für die Länder Afrikas. Deswegen müssen wir unsere Grenzen für die Halb- und Fertigwaren aus Afrika
stärker öffnen; deswegen sind wir zentral daran interessiert, dass die Doharunde doch noch zu einem Erfolg
wird. Wir hoffen auf ein baldiges Signal für den Erfolg
der Doharunde. Die Reduzierung von Agrarexportsubventionen in Amerika, aber auch in Europa wäre dafür
ein geeignetes und notwendiges Signal. Die Subventionierung von Agrarexporten ist auf Dauer keine gute
Weltwirtschaftspolitik.
Uns allen ist klar - deswegen sind wir froh, dass die
Bundesregierung dies auf die Tagesordnung des G-8Treffens in Heiligendamm gesetzt und sie afrikanische
Länder dazu eingeladen hat -, dass Afrika das größte
Sorgenkind der Weltwirtschaft bleibt. Dort gibt es in vielen Gegenden Hoffnungslosigkeit; aber es gibt auch Beispiele des Aufbruchs, Hoffnungszeichen für eine wirtschaftliche und humanitäre Zukunft.
Ich nenne nur ein Land Afrikas, das dafür in besonderem Maße steht: Botsuana, ein Land von der Größe
Frankreichs. Es hat sich mit seinen nur 1,6 Millionen
Einwohnern zu einem der Musterstaaten des Kontinents
entwickelt. Zwischen 1965 und 1998 stieg das Prokopfeinkommen dort jährlich um durchschnittlich
7,7 Prozent. Auf der Entwicklungsskala des United Nations Development Programme gehört das Land mittlerweile zu den Spitzenreitern des Kontinents. Auf die
Frage nach dem Warum muss man registrieren, dass hier
- anders als etwa in den Nachbarstaaten Kongo, Sierra
Leone oder Angola - das reichhaltige Vorkommen von
Diamanten und anderen Rohstoffen nicht zu erbitterten
Verteilungskämpfen und grenzenloser Korruption geführt hat. Botsuana gibt seit vielen Jahren knapp ein
Drittel seines Haushalts für die Bildung seiner Bevölkerung aus, und dieser Prioritätensetzung ist es zu verdanken, dass heute rund 7 Prozent der jungen Generation einen Hochschulabschluss erreichen konnten.
Der ugandische Publizist Andrew Mwenda hat vor
wenigen Tagen in einer großen deutschen Zeitung geäußert: Das Problem Afrikas ist der Mangel an Good
Governance, ist der Mangel an sauberer und effizienter
Regierungsführung.
({2})
Deswegen sollten wir all denen helfen, die eine solche
Regierungsführung zu realisieren versuchen.
({3})
Weiter heißt es: Das Problem Afrikas ist der Mangel an
Offenheit auch untereinander. - Wir Europäer und die
Nordamerikaner und die anderen Industriegesellschaften, auch die Schwellenländer, müssen, wenn sie das
Prinzip vom freien Welthandel glaubwürdig im Munde
führen wollen, ihre Grenzen öffnen. Aber auch in Afrika
könnten erhebliche Wohlstandsgewinne erreicht werden,
wenn man untereinander den offenen Handel ermöglichen würde.
Weiter weist Andrew Mwenda zu Recht darauf hin,
dass ein großes Problem der Kampf gegen den Amtsmissbrauch, gegen den Nepotismus und gegen die Korruption ist. Good Governance in Afrika zu unterstützen
und zu ermutigen, trägt entscheidend zu einem hoffentlich künftigen Erfolg bei.
Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin im Zusammenhang mit diesem G-8-Meeting die Vertreter Nigerias,
Ägyptens, Südafrikas, Algeriens und des Senegal sowie
Ghanas, das aktuell den Vorsitz der Afrikanischen Union
hat, zu einem sogenannten Outreach eingeladen hat, also
zu einem Strategietreffen über die Frage: Wie können
wir gemeinsam erfolgreicher werden? Denn klar ist natürlich: Das Ringen um eine offene Weltwirtschaft - der
Kern des deutschen Erfolgs der letzten Jahrzehnte - wird
auch die kommenden Jahre bestimmen. Für diese offene
Weltwirtschaft lohnt sich der Einsatz.
Es ist gut, dass der Klimawandel bei diesem Treffen
in Heiligendamm ein weiteres großes Thema ist. Wir
wissen, dass die Beschlüsse der europäischen Ratspräsidentschaft, die Reduzierung der Treibhausgase, die Verbesserung des Energiemixes und die Förderung erneuerbarer Energien, ein Zeichen für die Welt sind. Es wäre
gut, wenn beim G-8-Treffen ein ähnliches Signal möglich würde. Ein Beispiel wäre eine gemeinsame Festlegung der G-8-Staaten auf eine Effizienzverbesserung des
Energieeinsatzes um 20 Prozent bis zum Jahre 2020.
Wünschenswert wäre auch die Konzeption eines CO2Markts, der sich global erstreckt, und in den der europäische Emissionshandel eingebettet werden könnte.
Wir müssen ein großes gemeinsames Interesse daran
haben, dass nicht nur Europa um engagierte Ziele zur
Bekämpfung der Erderwärmung ringt, kämpft und sich
darauf verpflichtet, sondern dass auch Nordamerika,
Asien und die ganze Welt sich diesen Anstrengungen anschließen. Denn nur gemeinsam können wir in diesem
Kampf erfolgreich sein.
Eines muss uns klar sein: Heute sind Europa und Nordamerika noch für 60 Prozent des Weltsozialproduktes
verantwortlich. Selbst wenn wir in Sachen Wachstum
und Abbau der Arbeitslosigkeit so erfolgreich bleiben,
wie wir es im Jahre 2007 sind: Die relative Größe Europas und Nordamerikas in der Weltwirtschaft wird in den
nächsten Jahrzehnten nicht zunehmen, sondern abnehmen. Deswegen werden wir in der Weltwirtschaft des
21. Jahrhunderts um das Konzept der sozialen Marktwirtschaft, das uns in Europa bei allen unterschiedlichen Parteirichtungen mehr verbindet als vieles andere,
kämpfen müssen.
Ich fand es gut, dass die Bundeskanzlerin auf dem europäisch-amerikanischen Gipfel zum ersten Mal eine
Verständigung darüber erreicht hat, dass sich Europa und
Nordamerika, also Europa, Kanada und die USA, in Sachen Regulierungs- oder Ordnungsrahmen in Zukunft
bemühen werden, mehr als bisher gemeinsame Standards festzulegen. Denn klar ist doch: Gemeinsame
Buchhaltungsregeln, gemeinsame Wettbewerbsregeln,
gemeinsame Transparenzregeln, gemeinsame Regeln gegen Produktpiraterie, gemeinsame Regeln gegen Korruption sind nicht nur für unsere eigenen Länder, für Europa und Nordamerika, notwendig. Wenn wir uns jetzt
darauf verständigen, dann setzen wir damit auch Standards für andere Teile der Welt. Dann setzen wir, wenn
wir es gut machen, Standards für die ethischen Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft, die weit über Europa
hinaus Erfolg haben könnten. Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, bin ich Ihnen dankbar, dass Sie diese Initiative
ergriffen haben. Jetzt kommt es natürlich darauf an, dass
wir daraus auch etwas machen.
Der G-8-Gipfel stellt die Themen der weltwirtschaftlichen Ordnung in den Mittelpunkt. Uns muss klar sein,
was unseren Erfolg in den letzten Jahrzehnten in
Deutschland ausgemacht hat: Export, Technologievorsprung, Innovationskraft, Fähigkeit zum Strukturwandel.
Ein Bewusstsein muss aber auch immer wieder dafür geschaffen werden, dass wir diesen Zielen allein mit nationaler Wirtschaftspolitik nicht zum Durchbruch verhelfen
können. Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, bin ich Ihnen
dankbar, dass Sie beim G-8-Gipfel zusammen mit der
Bundesregierung die richtigen Ziele in den Mittelpunkt
stellen. Wir wünschen Ihnen von Herzen Erfolg. Ich
wünsche mir für den Deutschen Bundestag, dass die Einsicht, dass freier Welthandel die beste Entwicklungshilfe
ist, in allen Reihen noch selbstverständlicher wird - eines Tages vielleicht sogar bei Ihnen, lieber Herr Gysi.
({4})
Einen kleinen Augenblick, Herr Kuhn. Ich wollte eine
Kurzintervention zulassen. Aber Sie können gerne hier
stehen bleiben; das erspart die unnötige Mühe einer
zweimaligen Anreise.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Hänsel für die Fraktion Die Linke.
Danke schön, Herr Präsident. - Ich finde es schon interessant, dass der Präsident des Verbandes der Autoindustrie hier über Klimaschutz spricht. Das zeigt sehr gut,
in welcher Form hier Politik gemacht wird: dass die
Lobbyisten die Themen für den G-8-Gipfel vorgeben.
({0})
Ich habe eine konkrete Frage an Sie, Herr Wissmann.
Sie haben gerade mehrmals wiederholt, Freihandel sei
die beste Entwicklungshilfe. Wissen Sie eigentlich, dass
die Länder des südlichen Afrikas für die Handelsliberalisierung in den letzten 20 Jahren 270 Milliarden Euro gezahlt haben und dass das für viele tödlich geendet hat,
weil es ihre Lebensgrundlagen bedroht oder zerstört hat?
Das ist die Realität von Freihandel.
Genau deswegen demonstrieren viele Menschen jetzt
bei dem G-8-Gipfel in Heiligendamm. Aus den afrikanischen Ländern werden viele Menschen kommen, um zu
sagen, was Freihandel für die Menschen in den Ländern
des Südens konkret bedeutet. Deswegen ist es ein Unding, dass sich Vertreter dieser G-8-Staaten abschotten,
hinter einem Zaun verstecken. Frau Merkel hat gesagt,
sie möchten diesen Protest hören. Doch so wird das nicht
möglich sein. Das ist diese Form der Undemokratie, gegen die wir alle demonstrieren. Es gab heute Morgen
eine Demonstration von jungen Globalisierungskritikerinnen und -kritikern. Die mussten gleich ihre Personalien angeben. Sie haben einige Botschaften mitgebracht.
({1})
Ihr Verhalten zeigt auch: Das ist Ihr Verständnis von Demokratie, das ist Ihr Verständnis von einem Austausch
mit der Zivilgesellschaft.
({2})
Das lehnen wir ab.
Sie behaupten immer, sich für eine lebendige Zivilgesellschaft einzusetzen, Herr Wissmann.
Ich frage mich: Wo ist Ihre Dialogbereitschaft, wenn
es um Ihre Behauptung geht, Freihandel sei die beste
Entwicklungshilfe?
({0})
Frau Kollegin Hänsel, ich finde es ein bisschen unangemessen,
({0})
die erwartete Großzügigkeit in der Geschäftsführung
durch den Präsidenten einmal mehr zur Inszenierung von
Mätzchen zu benutzen.
({1})
Das karikiert im Übrigen den Anspruch auf Ernsthaftigkeit, der in der Wortmeldung ausdrücklich erhoben wird.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Kuhn für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will dennoch an dieser Kurzintervention anknüpfen.
Denn die Antwort auf die Frage, die hier, auch bei Herrn
Wissmann und in der Regierungserklärung, eine Rolle
gespielt hat - bringt die Globalisierung Chancen für die
ganze Welt, nutzt der Freihandel wirklich allen? -, ist
doch davon abhängig, welche Regeln wir dieser Globalisierung heute geben: im Sozialen, im Ökologischen und
auch in den verschiedenen Gerechtigkeitspunkten.
({0})
Aus diesem Grund ist das, was in der Kurzintervention
anklingt, legitim, und es ist richtig, danach zu fragen.
Natürlich gibt es ein Legitimitätsproblem, Frau Merkel;
stellen sich viele Menschen in unserem Land und überall
auf der Welt die Frage: Wenn wir für die Globalisierung
gemeinsame Regeln brauchen, wie kann es dann sein,
dass die G 8, die nur 15 Prozent der Menschen auf dieser
Welt repräsentiert, aber über 60 Prozent des Bruttosozialproduktes dieser Welt - übrigens auch 64 Prozent
aller umweltschädlichen Klimagase -, auf ihren Treffen
alleine Entscheidungen oder Vorentscheidungen über die
Gestaltung der Globalisierung treffen soll? Da gibt es
ein Legitimitätsdefizit.
({1})
Frau Bundeskanzlerin, ich hätte mich gefreut, wenn
Sie sich diesem Legitimitätsdefizit gestellt hätten. Sie
haben die politische Frage nicht aufgeworfen, wie es mit
der G 8 weitergeht. Eine G 13 haben Sie abgelehnt; gut.
Sie haben aber nichts zur Reform der Vereinten Nationen
unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung der Regeln für
die Globalisierung gesagt.
({2})
Sie wundern sich, dass die Menschen Angst haben; denn
Sie sehen in den Kritikern nur Leute, die Angst haben.
Es sind aber auch Leute, die zu Recht fragen: Wie kann
es sein, dass eine kleine Minderheit auf der Welt die
ganze Entwicklung bestimmen will? Von einer Kanzlerin, die EU-Ratspräsidentin ist und den G-8-Gipfel führt,
hätte ich eigentlich mehr erwartet. Sie hätte hier etwas
zur Zukunft dieser Institution, die zunächst einmal nur
eine beratende Institution ist, sagen sollen.
({3})
Meine Fraktion ist der Meinung, dass das deutsche Interesse in diesem Zusammenhang zu thematisieren ist.
Deutschland hat nicht nur ein Interesse an der Exportweltmeisterei, sondern vor allem daran, dass alle Länder
dieser Erde in fairer und gleicher Weise von der Globalisierung profitieren können. Das Motto der G-8-Tagung
hätte nicht „Wachstum und Verantwortung“ lauten sollen, sondern „Wachstum durch mehr Verantwortung für
alle“; denn darum geht es bei dem anstehenden Treffen.
({4})
Verstärkt wird diese Legitimationsproblematik durch
die Unverhältnismäßigkeit der angewandten Mittel.
Das gilt sowohl für die Polizeirazzia als auch hinsichtlich des Umgangs mit der Versammlungsfreiheit. Das,
was da geschieht, ist nicht in Ordnung. Herr
Westerwelle, es erstaunt mich, dass Sie als Vertreter einer Partei des Rechtsstaatsliberalismus - das wollen Sie
so gerne sein - davon nichts mehr wissen wollen. Wir
finden, dass das Vorgehen unverhältnismäßig war, und
das wollen wir an dieser Stelle auch sagen.
({5})
Frau Bundeskanzlerin, ich möchte zum springenden
Punkt kommen: Sie haben zwar viele wichtige Themen
genannt, wir lassen Ihnen diese Orgie der Unverbindlichkeiten, die Ihre Regierungserklärung ausgezeichnet
hat, aber nicht durchgehen. Das funktioniert im
Jahr 2007 nicht mehr.
({6})
Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz. Es ist zwar
großartig, dass Sie auf dem Gipfel über Klimaschutz,
Energieeffizienz usw. reden wollen. Jetzt kommt es aber
darauf an, dass Sie als Präsidentin verbindliche Vereinbarungen und Anerkenntniserklärungen der G-8-Gemeinschaft zustande bringen. Bekennen sich alle acht
zum Zwei-Grad-Ziel? Bekennen sich alle acht zu den
Reduktionsverpflichtungen bis 2050 bzw. konkret bis
zum Jahr 2020? Werden Sie mit konkreten Ergebnissen,
etwa zu den Emissionszertifikaten, aus dem Heiligendamm-Gipfel herausgehen oder nicht? Da hilft ein
Schulterzucken - wenn ich das gerade richtig gesehen
habe - nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass Sie als Präsidentin in der Lage sind, gut zu koordinieren und Ergebnisse herbeizuführen.
({7})
Das gilt auch für die die Wirtschaft betreffenden Fragen WTO-Handelsrunde, Doha usw. Bei den Hedgefonds lassen wir uns nichts vormachen. Finanzminister
Steinbrück hat einen Vorschlag gemacht, und mit diesem
Vorschlag ist er bei den Amerikanern und Engländern
abgeblitzt. Eine freiwillige Vereinbarung, über die jetzt
nebulös diskutiert wird, ist nicht das, was man sich seitens der Bundesregierung ursprünglich vorgestellt hat.
Wir können doch Zeitung lesen; Sie brauchen keine
Märchenstunde mit uns abzuhalten.
({8})
Zur Doharunde. Frau Kanzlerin, das hat mich am
meisten enttäuscht. Wir alle wissen, dass die Doharunde noch keine Entwicklungsrunde ist. Ich habe es
satt, dass dazu überall Erklärungen abgegeben werden.
Alle sagen nur: Man müsste einmal! Gibt es ein substanzielles Angebot der G 8, von Ihnen vorgeschlagen,
das den Entwicklungsländern gegenüber ein richtiges
Entgegenkommen ist, sodass die Doharunde zu einer
Entwicklungsrunde werden kann, oder nicht? Schlagen
Sie vor, schrittweise auf die Agrarsubventionen zu
verzichten und den Weltmarktzugang für landwirtschaftliche Produkte aus den Entwicklungsländern zu
ermöglichen?
({9})
Ja oder Nein? Ein „Wir wollen einmal!“ hilft nicht weiter. Jetzt sind konkrete Vorschläge und am Schluss konkrete Ergebnisse gefragt.
({10})
Das gilt natürlich auch für Afrika. Im Jahr 2006 wurden die G-8-Entwicklungshilfegelder zum ersten Mal
seit dem Jahr 1997 gekürzt. Wenn Sie sagen, dass Sie
Ihre Verpflichtungen einhalten werden, dann bin ich gespannt, was „wir“ bedeutet. Meinen Sie Deutschland
oder die Zusage, die die G 8 auf dem Gipfel vor zwei
Jahren gemacht hat? Dafür sind Sie als Präsidentin dieses G-8-Gipfels verantwortlich.
({11})
Damit komme ich zum Schluss zu einem für mich
wichtigen Punkt. Frau Merkel, Sie werden am Ende der
G-8- und EU-Ratspräsidentschaft gefragt werden, ob Sie
nicht nur die richtigen Themen in netter Weise auf die
Agenda gesetzt haben, sondern diese wichtige Doppelrolle, die Sie innehaben, genutzt und Ergebnisse zustande gebracht haben, die man verifizieren kann. Was
ist - jenseits aller Lyrik - in den Bereichen Klimaschutz
und Afrikahilfe konkret passiert?
Für mich ist eines wichtig: Sie haben sich zu Beginn
Ihrer Regierungszeit gerühmt, dass Sie gegenüber den
Vereinigten Staaten, der Regierung Bush, einen neuen
Stil beabsichtigen. Unsere Frage nach anderthalb Jahren
lautet: Zahlt sich Ihr nettes Auftreten eigentlich aus? Hat
sich Bush beim Klimaschutz bewegt? Hat er sich hinsichtlich des Iraks oder des Nahen Ostens bewegt? Hat
er sich bezüglich der Reform der Vereinten Nationen bewegt? Hat er sich hinsichtlich der WTO bewegt? Das
sind die Fragen, an denen Sie gemessen werden. Meine
Fraktion wünscht Ihnen viel Erfolg bei diesen Themen.
({12})
Wir werden es aber nicht durchgehen lassen, wenn Sie
ohne Ergebnisse aus Heiligendamm zurückkehren. Da
müssen Sie schon mehr liefern als heute in Ihrer Regierungserklärung.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. DäublerGmelin für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Fragenkreise bestimmen die heutige Diskussion.
Der erste beinhaltet die Frage: Sind die Schwerpunkte
auf dem G-8-Gipfel so gesetzt, dass Chancen zu Fortschritten hinsichtlich einer gerechteren Ausgestaltung
unserer Welt - das ist es, was wir wollen - bestehen? Ich
denke, dass wir uns dieser Frage sehr viel ernsthafter zuwenden müssen, als dies bisher geschehen ist.
({0})
Der G-8-Gipfel kann nicht allein mit Dominanzstreben gleichgesetzt werden, Herr Gysi. Meiner Ansicht
nach ist es viel wichtiger, dass auf diesem Strategietreffen die Verantwortlichkeit gerade dieser Staaten im Rahmen der globalen Ordnung, auch im Rahmen der UN-Institutionen, betont werden muss. Ich denke, man sollte
mit Dankbarkeit anerkennen, dass die Bundesregierung
diese Verantwortlichkeit unterstreicht, und dies nicht herunterreden.
({1})
Die zweite Frage lautet: Ist der Gipfel in Heiligendamm so vorbereitet, dass Deutschland diese Diskussionen in der Tat als guter Gastgeber ermöglichen kann,
dass gleichzeitig aber auch die Personen, die gegen diesen Gipfel, seine Schwerpunkte oder die Politik sind,
ihre Forderungen nicht nur deutlich artikulieren, sondern
auch öffentlich demonstrieren können? Ich spreche nicht
von Gewalttätern. Aber Demonstranten müssen ihr
Grundrecht auf Meinungsfreiheit wahrnehmen können.
({2})
Alles, was zur Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gesagt wurde, ist richtig. Aber mein Rat lautet - verehrter Herr Kollege Gysi, ich richte ihn auch an Sie -:
Verbale Abrüstung ist auf allen Seiten notwendig, auch
aufseiten der Medien. Dazu kann auch dieses Haus einen
großen Beitrag leisten.
({3})
Ich möchte gerne zu einem der Schwerpunkte des
G-8-Gipfels Stellung nehmen, an dem deutlich wird, wie
wichtig dieses Strategietreffen ist, bei dem es auch darum geht, die Globalisierung im Sinne unserer gemeinsamen Zukunft verantwortlich zu gestalten: Es ist gut,
dass der partnerschaftliche Umgang mit Afrika einen
Schwerpunkt dieses Gipfels darstellt. Das ist übrigens
zum wiederholten Male der Fall; denn die Beziehungen
zu Afrika wurden auch auf den vergangenen Strategietreffen thematisiert, sowohl in Genua - an diesen Gipfel
erinnern wir uns nur ungern, aber aus ganz anderen
Gründen - als auch in Gleneagles. Von der Entwicklung
in Afrika hängt zu einem essenziellen Teil die Antwort
auf die Frage ab, ob es gelingt, unsere Welt ein bisschen
gerechter zu gestalten.
Unsere Verantwortlichkeit habe ich bereits betont. Ich
möchte hinzufügen: Ich finde es verständlich, dass man
die Regierung kritisiert, wenn man in der Opposition ist.
Aber indem man davon spricht, der Präsident der Afrikanischen Union, der nach Heiligendamm eingeladen ist,
werde „vorgeladen“, verbindet man diese Kritik mit einer Verächtlichmachung unserer afrikanischen Partner.
({4})
Ich will nicht sagen, dass Sie das wollten. Aber das, was
Sie gesagt haben, ist völlig unangemessen.
Heute stellt sich die Frage, ob der Umgang mit Afrika
im Rahmen der G 8 eigentlich ständig neue Pläne, Absichtsbekundungen und Aktionsschritte seitens der deutschen Politik und der europäischen Politik als Partner
erfordert. Ganz sicher nicht. Jetzt muss es darum gehen
- diesen Aspekt können wir gar nicht deutlich genug unterstreichen, und das tun wir in diesem Hause auch -,
den Worten Taten folgen zu lassen und dafür zu sorgen,
dass die Zusagen erfüllt werden. Frau Bundeskanzlerin,
Sie haben gesagt, dass die Regierung ihre Zusagen einhalten wird; das haben wir gehört. Auf diese deutliche
Aussage werden wir zurückkommen. Wir werden genau
überprüfen, welche Fortschritte in den unterschiedlichen
Bereichen erzielt werden.
Wir wissen, dass es zum Beispiel in Gleneagles, aber
auch anderswo finanzielle Absprachen gegeben hat.
Aber es geht nicht nur um Geld, sondern auch darum,
dass Deutschland, die Europäische Union, die G-8-Staaten und die Vereinten Nationen und ihre Institutionen mit
Afrika auf partnerschaftliche Weise umgehen. Das betrifft die Außenpolitik, die Sicherheitspolitik, die Wirtschaftspolitik und die Handelspolitik. Hier ist noch eine
Menge zu tun.
Es ist uns allen bekannt, dass es nach wie vor unendlich viele Defizite gibt. Die Schritte, die wir vom Gipfel
in Heiligendamm und von anderen Konferenzen erwarten dürfen, werden eher klein sein; aber sie sind notwendig. Immerhin wurden bereits einige Fortschritte erzielt,
indem Zusagen eingehalten und bestimmte Ziele erreicht
wurden; auch das muss deutlich gemacht werden. Wenn
das nicht der Fall wäre, würde die Aussage, dass wir mit
Afrika als Partner umgehen, nicht mehr zutreffen.
Ich möchte einige dieser Fortschritte beschreiben, die
allerdings nicht in erster Linie die Fachpolitik betreffen,
sondern eher die Methode. Die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen, die sich Gedanken über Afrika machen, die schon seit längerer Zeit eine partnerschaftliche
Beziehung zu Afrika aufbauen wollten und eine übergreifende Regierungspolitik anstreben, haben sich immer wieder darüber ärgern müssen, dass nur eine kleine
Minderheit dieses Randthema auf die Agenda des Hauses gebracht hat. Dann kam die große Unterstützung der
Entwicklungspolitik, insbesondere von Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul und von Uschi Eid, die in der
letzten Regierung Staatssekretärin war. Mittlerweile - und
das ist der Fortschritt - stellen wir fest, dass jetzt die gesamte Regierung die Partnerschaft mit Afrika zu ihrer
Politik macht. Dieses Thema wird nun als Politik der gesamten Regierung betrachtet. Das halte ich für außerordentlich wichtig. Wir wollen, dass das so bleibt.
({5})
Heute liegen uns zahlreiche Anträge vor. Darunter befindet sich ein Antrag von CDU/CSU und SPD, in dem
es auch um die besondere Verantwortung der Parlamente
geht. Wir haben ganz konkrete Punkte zur Verbesserung
der Zusammenarbeit, des Aufbaus und der Gestaltungsund Kontrollfähigkeit der Parlamente in Afrika. Durch
die Unterstützung selbstbewusster und unabhängiger
Vertreter, die von ihrer Bevölkerung gewählt werden,
können wir auch dabei helfen, dass entscheidende Elemente von Good Gouvernance wie die Einhaltung der
Menschenrechte, Bekämpfung von Korruption, mehr
Transparenz und mehr Demokratie gestärkt werden.
Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Ich finde es
sehr gut, dass wir dazu die Unterstützung des gesamten
Hauses haben; das hoffe ich jedenfalls. Ich freue mich,
dass viele auch persönlich mitmachen, und danke der
Bundesregierung, dass sie in dieser Frage klar hinter uns
steht.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrika als Partner
ist nicht der Drei-Katastrophen-Kontinent. Dort tut sich
eine ganze Menge.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.
Afrika wird in der globalen Politik eine Rolle spielen.
Die Frage ist nur, wann, wie und in welcher Weise. Wir
wissen, dass die Bevölkerung Afrikas enorm zunimmt.
In manchen Ländern ist die Bevölkerung beinahe zur
Hälfte jünger als 15 Jahre. Es bedarf nicht viel Fantasie,
um nicht nur die Herausforderungen, sondern auch das
Selbstbewusstsein und den Gestaltungsanspruch dieser
afrikanischen Länder zu sehen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Vielen Dank, Herr Präsident, ich bin gerade bei meinem letzten Satz. - Wenn wir es schaffen, die Zusage
einzuhalten, dass „Afrika als Partner“ Bestandteil der
Politik der gesamten Regierung ist, dann kommen wir
ein gutes Stück weiter. Das ist es, was wir wollen.
Ganz herzlichen Dank.
({0})
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich unterbreche immer ganz besonders ungern beim letzten Satz. Mein Problem ist aber regelmäßig, dass der letzte Satz wesentlich
früher hätte kommen müssen.
({0})
- Sehr schön.
Nun erhält der Kollege Königshaus zu einer Kurzintervention das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Däubler-Gmelin,
Sie haben Afrika völlig zu Recht wieder in den Mittelpunkt gestellt und einige Kriterien benannt, die aus Ihrer
Sicht in diesem Zusammenhang beachtet werden sollten:
auf der einen Seite mehr Geld, auf der anderen Seite aber
Good Gouvernance, Strukturveränderungen und Ähnliches. Da gebe ich Ihnen recht. Die Reihenfolge stimmte
aber nicht. Das Problem ist, dass Sie es bereits als Erfolg
ansehen, wenn wir die ODA-Quote für Afrika verdoppeln und der Mittelabfluss gesichert ist. Darauf allein
kommt es aber nicht an. Quantität ist wichtig; es kommt
aber vor allem darauf an, dass wir die Qualität sicherstellen.
In Afrika - Sie selbst und viele andere vor Ihnen haben das bereits angesprochen - haben wir es teilweise
mit fragilen Staaten zu tun, mit korrupten Eliten und
Kleptokraten, die das Geld, das dort ankommt, versickern lassen. Das gilt übrigens auch für die Einnahmen
aus den Rohstoffverkäufen, die in die Schweiz, nach Luxemburg oder sonst wohin transferiert werden. Es kann
also nicht richtig sein, zufrieden zu sein, wenn man die
Mittel für diese Länder verdoppelt. Wir müssen stattdessen andersherum vorgehen. Wir müssen überlegen, wo
wir mehr Mittel brauchen, wo wir sie vernünftig einsetzen können und ob wir die Zahlung auch wirklich verantworten können. Das sind wir dem deutschen Steuerzahler schuldig.
Andernfalls geschieht Folgendes: Wir zahlen Geld an
ein Land, das überhaupt nicht absorptionsfähig ist, das
die Mittel gar nicht aufnehmen kann, und die Ministerin,
die Bundesregierung, die EU oder auch die Weltbank
flüchtet wieder zu dem fragwürdigen Instrument der
Budgethilfe. Dieses Geld geht dann irgendwohin; der
Weg ist nicht kontrollierbar. Zum Schluss erreichen wir
dieses: Anstatt Trinkwasser in den Brunnen der Dürregebiete fließt Champagner in der Bahnhofstraße in Zürich.
Das ist das Problem, das wir haben. Deshalb muss es genau andersherum sein: erst vernünftige Programme und
ordentliche Strukturen, dann der Einsatz der Mittel.
Danke.
({0})
Zur Beantwortung Frau Däubler-Gmelin.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Lieber Kollege
Königshaus, Sie haben gerade wieder die klassische Replik eines Kollegen bzw. eines Politikers vorgetragen,
der im Grunde genommen nicht viel Ahnung von Afrika
hat. Lassen Sie mich das noch einmal sehr deutlich sagen.
({0})
Ich habe gerade gesagt - das ist der einzige Punkt, in
dem ich Ihnen voll und ganz recht geben kann -, dass
Geld bzw. die Erhöhung der Mittel nicht das Entscheidende ist. Insofern stimmen wir völlig überein. Im Übrigen geht es aber nicht allein darum, was wir für richtig
halten und von anderen verlangen. Partnerschaft bedeutet vielmehr, dass man gemeinsam auf vereinbarte Ziele
hinarbeitet und dass diese partnerschaftliche Zusammenarbeit nicht nur zwischen Deutschland und den afrikanischen Staaten bilateral abgestimmt wird, sondern auch
zwischen Europa und Afrika insgesamt und im Rahmen
der UN-Institutionen.
Ich möchte vielmehr nochmals die Menschen, die uns
heute zuhören und die unglaublich stark für Afrika engagiert sind - sei es in der Aidshilfe, in der Entwicklungszusammenarbeit, in der Hilfe zugunsten der Kinder dort -,
auf die Aufbruchsbemühungen, Ansätze und Anstrengungen in Afrika selber aufmerksam machen. Diese Menschen wollen die Ziele, die Sie als unsere Ziele definiert
und als europäisch oder deutsch motiviert gesehen haben;
sie verfolgen sie schon längst; sie wollen auch weniger
Korruption. Sie wollen Projekte im Dienst ihrer eigenen
Bevölkerung. Sie wollen Good Governance, und sie wollen Menschenrechte. Es geht darum, diese Menschen darin partnerschaftlich zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der G-8Gipfel in Heiligendamm findet zu einem wichtigen und
hoffnungsvollen Zeitpunkt statt. Im Gegensatz zu früheren Gipfeln geht es diesmal nicht darum, die Weltkonjunktur zu stabilisieren; die Weltwirtschaft läuft auf
Hochtouren. Deutschland sitzt auch nicht mehr auf der
Anklagebank. Unter der neuen Regierung hat sich die
deutsche Wirtschaft von der Konjunkturbremse zur
Wachstumslokomotive entwickelt. Wem das zu schulden
ist, möchte ich jetzt nicht diskutieren, Herr Westerwelle.
Aber ich glaube, dass Ihre Ausführungen an der Wirklichkeit vorbeigehen.
({0})
Die Bundesregierung genießt unter Angela Merkel
wirtschaftspolitisch, innenpolitisch und auch außenpolitisch ein hohes Ansehen. Auch die bisherige EU-Ratspräsidentschaft hat gute Arbeit geleistet. Kanzleramt,
Kabinett und Koalitionäre haben sich hochkonzentriert
und engagiert auf den bevorstehenden Gipfel vorbereitet. Herr Kuhn, ich freue mich über das, was die Kanzlerin gesagt hat. Das war deutlich und zukunftsgerichtet
({1})
und wird zu der richtigen Weichenstellung auf dem G-8Gipfel beitragen. Dafür sind wir dankbar.
Es ist aber auch richtig - das haben die Bundeskanzlerin und viele meiner Vorredner deutlich gemacht -,
dass wir auf dem G-8-Gipfel dicke Bretter bohren müssen. Herr Kuhn, Sie haben fast mit Schaum vor dem
Mund so getan, als wären Sie noch nie bei solchen Vorbereitungen dabei gewesen. Drei Wochen vor dem Gipfel alle Wunder zu verkünden, die zum Heil der Welt in
Heiligendamm vollbracht werden müssten, ist unsinnig.
Es geht darum, dass wir optimal vorbereitet sind. Sie
müssten eigentlich selber wissen, dass es bei dem Gipfel
auf alle Beteiligten ankommt.
Die Schwerpunkte der Tagesordnung zeigen, dass die
Risiken ohne Tabus angesprochen werden können. Diese
Risiken liegen vor allem in der rasanten und ungleichgewichtigen weltweiten ökonomischen Entwicklung, die
ökonomisch und politisch gefährlich werden könnte, und
zwar in Zeiten der Globalisierung uns allen, auch uns
Deutschen und Europäern.
Ich bin auch dankbar, dass das erhebliche Ungleichgewicht auf den Devisen- und Kapitalmärkten angesprochen wurde. Dass die Problematik der Hedgefonds auf
dem G-8-Gipfel vielleicht nicht gelöst werden wird,
kann keinen überraschen, Herr Kuhn. Aber dass das
Thema angesprochen wird und es den Einstieg zu einer
Lösung geben kann, erscheint mir sehr wichtig. Das gilt
auch für die Devisenüberschüsse Chinas oder das Außenhandelsdefizit der Vereinigten Staaten. Es gilt, wie
wir alle hoffen, auch für die Diskussion über eine Reform der internationalen Finanzinstitutionen. Auch das
ist etwas, was international überfällig ist.
Ein zweites Ungleichgewicht wurde schon breit diskutiert, und zwar der verschärfte Wettbewerb um Ressourcen, der auch Afrika betrifft. Der phänomenale Aufstieg von Entwicklungsländern, zum Beispiel China, ist
im Grunde genommen positiv. Das war das Ziel der Entwicklungspolitik Deutschlands über all die Jahre hinweg. Im Verbund mit dem schwelenden Pulverfass im
Nahen und Mittleren Osten hat der Wettlauf um die
Gunst der Afrikaner aber nicht nur dazu geführt, dass
unser Nachbarkontinent prosperiert. Vielmehr hat er
auch zu einer gewissen Destabilisierung geführt.
Es gehört zur Wahrheit, dass das, was für manche
Länder der sogenannten Zweiten und Dritten Welt gilt,
auch für Afrika gilt: Die Rohstoffhausse und die Wachstumsraten haben in einigen Ländern nicht zur Verminderung der Armut geführt. Es gibt nach wie vor Hunderte
Millionen Menschen, die in einer gefährlichen Perspektivlosigkeit verharren. Deswegen - das haben meine
Vorredner Matthias Wissmann und Frau Däubler-Gmelin
angesprochen - war es unser Anliegen, dass nicht nur
Afrika als solches, also die Hilfe beim Aufbau von Gesundheitssystemen und bei der Aidsbekämpfung und die
Erhöhung der zur Verfügung gestellten Mittel, auf die
Tagesordnung gesetzt wird. Wir haben vielmehr darauf
gedrängt, dass auch die andere Seite der Medaille angesprochen wird, indem wir von den Afrikanern Good
Governance einfordern, also eine gute Regierungsführung, ein besseres Management ihrer eigenen Reichtümer und Rechts- und Investitionssicherheit für grenzüberschreitende Investitionen. Das sind Dinge, die vor
allem von den Afrikanern selbst kommen müssen.
({2})
Deswegen ist die Schwerpunktsetzung in doppelter Hinsicht richtig: Afrika ja, aber in einer Partnerschaft auf
Augenhöhe. Wir wollen auch etwas von den Afrikanern.
Sonst kommt Afrika nicht voran.
({3})
Ich freue mich, dass es gerade bei den NEPAD-Ländern hoffnungsvolle Anzeichen gibt und dass es in vielen afrikanischen Ländern Wachstum gibt, das breit angelegt ist und allen zugutekommt. Das ist der Weg, den
wir unterstützen sollten. Das gilt auch für die Korruptionsbekämpfung; denn bei der Korruption gibt es immer zwei Seiten: einen Geber und einen Empfänger.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Addicks?
Herr Addicks, was kann ich für Sie tun?
Herr Kollege Ruck, über Good Governance ist heute
schon viel gesprochen worden. Ich habe gestern die
Bundesregierung gefragt, ob und was sie dagegen zu tun
gedenkt, dass in Afrika Milliardenbeträge aus Geldern
der Entwicklungszusammenarbeit und den Ressourceneinnahmen „versickern“. - Das ist mittlerweile schon ein
Terminus technicus geworden. Würden Sie uns heute
vielleicht einmal berichten, was auf dem G-8-Gipfel
dazu gesagt werden soll?
Da Sie davon ausgehen, dass ich das Abschlusskommuniqué des G-8-Gipfels schon kenne - das ehrt mich
sehr, stimmt aber nicht ganz -,
({0})
darf ich Ihnen sagen, dass ich glaube, dass wir in der
Frage eines gemeinsamen Verhaltenskodexes für das
Verhalten der Geberländer und der wichtigsten Wirtschaftsnationen gegenüber Afrika einen Schritt vorankommen und dabei auch die Chinesen einbeziehen werden.
Nachdem ich jetzt durch Ihre Frage etwas Zeit gewonnen habe, kann ich Ihnen sagen, dass ich mich sehr
freue, dass der chinesische Präsident, Hu Jintao, kommen wird.
({1})
- Sie haben gefragt, was wir meiner Meinung nach auf
dem G-8-Gipfel erreichen werden. Ich sage es Ihnen
noch einmal: Die Frage, was man zu einem besseren
ökonomischen Management der Afrikaner beitragen
kann, richtet sich an die Schwellenländer. Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Auftreten Chinas
wurden schon genannt. Ich erwarte auch, dass es uns gelingt, die Volksrepublik China für ein anderes Verhalten zu gewinnen. Jedenfalls gibt es Signale aus Peking,
dass man in dieser Richtung auch mehr Verantwortung
übernehmen möchte. Diese positiven Signale sollten wir
nutzen.
Das vielleicht größte Ungleichgewicht, das wir haben, ist - das wurde schon angesprochen - die Schieflage beim Weltklima. Die Reaktionen der Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft auf diese
Megaherausforderung sind bisher unangemessen. Die
EU hat unter deutscher Ratspräsidentschaft ein Signal
gesetzt. Nun brauchen wir dringend ein Signal aus Heiligendamm. Es gibt sehr viele, die fragen, welche Legitimation der G-8-Gipfel hat. Allein der Umstand, dass
sich dort Vertreter von Ländern versammeln, die für
70 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich sind, ist
eine Legitimation für diesen Gipfel. Wir brauchen ein
Signal für mehr Energieeffizienz, eine bessere Energietechnologie und den Stopp der Waldzerstörung. Die
Zerstörung der Wälder trägt zum Anstieg der CO2-Emissionen weltweit wesentlich mehr bei als zum Beispiel
der Verkehrsbereich. Nirgendwo ist konkretes Handeln
erforderlicher als hier. Nirgendwo ist die Einbeziehung
der Schwellenländer nötiger als hier. Das gilt auch für
China.
({2})
Da die Vereinigten Staaten angesprochen wurden,
möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass
der G-8-Gipfel Anlass zu einer Vertiefung der transatlantischen Beziehungen bietet. Wir brauchen diese
Beziehungen zum Beispiel in wichtigen Welthandelsfragen und in der Politik gegenüber der islamischen Welt,
aber auch beim Umwelt- und Klimaschutz. Annäherung
darf natürlich keine Einbahnstraße sein. Ich hoffe daher,
dass die Vereinigten Staaten mit einer konstruktiven Haltung am G-8-Gipfel teilnehmen werden.
({3})
Man kann sich über China - berechtigt - ärgern. Aber
wir dürfen nicht vergessen, dass die Chinesen uns auch
unseren Reformbedarf vor Augen führen, zum Beispiel
in Bezug auf unseren bürokratischen Aufwand und die
Länge der Entscheidungswege. Dass die Volksrepublik
China wesentlich mehr jungen Menschen aus der ganzen
Welt, vor allem aus Afrika, ein Stipendium bietet, sollten
wir nicht den Chinesen vorwerfen. Vielmehr sollten wir
uns hier an die eigene Nase fassen.
({4})
Attac und andere Globalisierungsgegner haben erkannt, was vielleicht noch nicht allen bewusst ist, nämlich dass die Globalisierung und ihre Folgen uns alle betreffen. Aber die Folgerungen von Attac sind falsch. Ein
Rückzug aus dieser Welt ist weder möglich noch verantwortbar. Es geht vielmehr darum, die Globalisierung
mitzugestalten. Deutschland gehört nur dann zu den
Gewinnern der Globalisierung, wenn es uns gelingt, dass
keine Verlierer auf der Strecke bleiben. Deswegen sind
die Kernelemente unserer sozialen Marktwirtschaft national und international so aktuell wie nie zuvor: die
Freiheit der wirtschaftlichen und der politischen Betätigung des Einzelnen sowie gerechte und beste Startchancen für alle durch optimale Bildung und Ausbildung,
aber auch klare Spielregeln für alle - das gilt für den
Schutz des geistigen Eigentums genauso wie für Sozialund Umweltstandards - und die Rücksicht auf die
Schwächeren der Gesellschaft.
Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, Wachstum und
Verantwortung, genau das ist Ihr Leitmotiv. Beides gehört zusammen. Dafür wünschen wir Ihnen und Ihrem
Team in Heiligendamm den bestmöglichen Erfolg.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Roth,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich vor zwei Tagen in Heiligendamm an dem kilometerlangen, einbetonierten und mit Stacheldraht bewehrten Zaun stand, habe ich mich gefragt: Ist das ein
starker Staat, der sich so aufrüstet? Ist das ein starker
Staat, der Politik hinter einem solchen Zaun verbarrikadiert und sich vor den Bürgern, die die Konsequenzen
der Politik tragen, verstecken muss? Ich habe mich gefragt, wovon unsere Demokratie lebt und was der Unterschied unseres Rechtsstaats zu einer prügelnden, gelenkten Demokratie eines Wladimir Putin ist. Das sind doch
Transparenz, Partizipation und Einmischung. Eine starke
Demokratie lebt von Bewegung, von Protest, von Kritik,
von Widerstand, von Widerspruch, von Zivilcourage und
Claudia Roth ({0})
auch von zivilem Ungehorsam. Sie lebt davon, dass gerade in Gipfelzeiten Grundrechte nicht zur Disposition
gestellt werden und das Recht nicht entrechtet wird.
({1})
Selbstverständlich gehören zu einem G-8-Treffen berechtigte Sicherheitsmaßnahmen, damit die Teilnehmer
geschützt werden. Selbstverständlich rufen wir zu friedlichen Demonstrationen auf. Aber diese Sicherheit rechtfertigt nicht unverhältnismäßige, willkürliche Razzien,
sie rechtfertigt nicht die Kriminalisierung des gesamten
Protests mit der Keule des Terrorismusverdachts, sie
rechtfertigt nicht Einschüchterungen und Abschreckung,
sie rechtfertigt nicht Schnüffeleien und Geruchsproben,
die natürlich, Herr Westerwelle, an die Stasi erinnern
müssen, und sie rechtfertigt nicht, dass eine Bannmeile
um die Bannmeile errichtet wird.
({2})
Gestern hatte der Art. 8 des Grundgesetzes Geburtstag.
Das Demonstrationsrecht und die Versammlungsfreiheit
sind Grundnahrungsmittel in unserem Rechtsstaat. Diese
einzuschränken, macht aus dem starken Staat einen
schwachen Staat. Das wollen wir nicht.
({3})
Das Ansehen Deutschlands leidet doch nicht in den
nächsten Wochen darunter, dass es breiten Protest und
laute Kritik gibt. Es leidet, wenn Demonstrationen einen
Bogen um die G-8-Teilnehmer nach dem Motto machen
müssen: Demonstrieren ja, aber bitte so, dass man davon
nichts hört und nichts sieht. - Genau das ist die Entleerung des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit.
({4})
Wir wollen, dass Sie, Frau Merkel, und Ihre Gäste die
berechtigte Kritik an einer ungerechten Globalisierung
hören, wir wollen, dass Sie und Ihre Gäste das hören,
was so viele von den acht größten Klimasündern wollen,
die in Heiligendamm an einem Tisch sitzen. Lieber
Christian Ruck, wir wollen keine Wunder, sondern wir
wollen konkrete Beschlüsse, wir wollen verbindliche Ziele
und wir wollen konkrete Maßnahmen, wie das 2-Grad-Ziel
eingehalten werden kann. Wir wollen, dass niemand
Heiligendamm verlässt, ohne zugesagt zu haben, die
CO2-Emissionen um 30 Prozent zu senken. Wir wollen,
dass die Energiewende konkret angegangen wird. Wir
wollen nicht zulassen, dass solche konkreten Festlegungen von Bush verwässert werden; denn dann können wir
die Klimakatastrophe nicht verhindern. Frau Merkel, wir
wollen auch keine schönen Reden und keinen Sonntagssprech, wenn es um die Millenniumsziele geht. Sie sollten sie nicht nur beschreiben, sondern endlich konkret
umsetzen.
({5})
Ich nenne als Stichwörter Entwicklungsfinanzierungsinstrumente zur Bekämpfung der Armut, für die Bildung
und für die Gesundheit.
({6})
Sie könnten das doch beschließen. Machen Sie es doch!
({7})
Beschließen Sie die Devisenumsatzsteuer und die Abgabe auf Flugtickets, die Frankreich übrigens schon
lange hat, oder die Kerosinsteuer! Dann kommt wirklich
etwas dabei heraus, und zwar mehr als Sonntagssprech.
({8})
Liebe Frau Merkel, ich möchte Sie wirklich bitten,
dass Sie auf die Tagesordnung setzen und die Verantwortung dafür übernehmen, dass Abrüstung vorangebracht
wird. Es sitzen nicht nur die Klimasünder an einem
Tisch, es sitzen auch die an einem Tisch, die weltweit die
höchsten Militärausgaben, die größten Rüstungsarsenale und die größten Nuklear- und Rüstungsexporte zu
verantworten haben. Wir tragen Verantwortung dafür,
dass es zu mehr Abrüstung kommt und nicht zu einem
Raketenabwehrschirm, der nicht mehr, sondern weniger
Sicherheit bedeutet. Das muss auf die Tagesordnung,
liebe, verehrte Frau Merkel.
Wenn Sie von Wachstum und Aufschwung reden,
dann muss doch ein Signal von Heiligendamm ausgehen, dass dieses Wachstum endlich ökologisch, sozial
und kulturell bestimmt wird. Nur dann ist es nachhaltig,
und nur dann ist es die Voraussetzung für eine gerechte
Globalisierung. Wenn Sie von Wachstum reden, dann
müssen Sie auch sagen, dass dieses Wachstum ökologische und soziale Leitplanken beispielsweise im Welthandelssystem braucht. Dafür muss der G-8-Gipfel ein
Signal setzen. Wir brauchen klare, verbindliche Vereinbarungen, eine starke UNO, die genau diese Ziele erreichen kann, und ein Deeskalationsprinzip, durch das der
Protest in friedliche Bahnen gelenkt wird.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Sascha Raabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Roth, es ist immer
richtig, auf den Schrei der Demonstranten zu hören. Hier
im Parlament wird man auch dann gehört, wenn man in
einer normalen Tonlage redet.
({0})
Manchmal ist es vernünftig, laut in der Sache zu sein.
Wenn man aber wie Sie und auch Herr Kollege Gysi
Deutschlands angeblich zu geringe ODA-Quote kritisiert, sollte man angesichts der erheblichen Steigerungen
etwas leiser sein und würdigen, was wir in den letzten
zwei Jahren geschafft haben. 2004 - damals war Ihre
Partei mit an der Regierung - lag die ODA-Quote bei
0,28 Prozent; jetzt liegt die ODA-Quote bei 0,36 Prozent.
({1})
In der Tat geht es aber nicht nur um Geld. Wir reden
heute unter anderem über Afrika, über die Entwicklungsländer und damit auch über uns; denn wir leben in
einer Welt. Die Diskussion über den Klimawandel zeigt:
Unabhängig davon, wo CO2 verursacht wird, sind wir
alle von diesem Problem betroffen. Ebenso betreffen uns
alle die mit Sicherheit, Frieden, Flüchtlingen und Migration verbundenen Probleme. Jeder Cent, den wir in die
Vermeidung der Klimaerwärmung in anderen Ländern
oder in die Überwindung von Hunger und Armut investieren, ist wichtig für unsere eigene Zukunft.
Wie wollen wir - auch in unserem eigenen Interesse erreichen, dass diese Probleme gelöst werden? Wir wollen Instrumente wie „Fördern und Fordern“ einsetzen.
Genauso wie bei der in Deutschland praktizierten Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt
geht es darum, Menschen zu helfen, sich selbst zu helfen, und gleichzeitig von ihnen zu fordern, dass sie selbst
einen Beitrag leisten. Diese Elemente enthält der Antrag
der Großen Koalition. Wir treten dafür ein, dass zum
Zwecke des Förderns Finanzmittel bereitgestellt werden
- Stichwort „Steigerung der ODA-Quote“ -, dass gute
weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen
werden und dass auf der anderen Seite eine gute Regierungsführung eingefordert wird.
Ich bin dafür dankbar, dass sich unsere Bundeskanzlerin hier nochmals zur Steigerung der nationalen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der ODA-Quote bekannt hat. Mein Dank gilt natürlich auch unserer
Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul,
die für die Politik der Bundesregierung seit vielen Jahren
mitverantwortlich ist und im Jahr 2000 maßgeblich dazu
beigetragen hat, dass in der Europäischen Union ein entsprechender Beschluss gefasst worden ist.
({2})
Um unsere Ziele zu erreichen, werden wir innovative
Finanzierungsinstrumente brauchen. Ich fand interessant, dass unsere Bundeskanzlerin heute gesagt hat, sie
wolle die Einnahmen aus den Versteigerungen von
CO2-Zertifikaten dafür nehmen.
({3})
- Frau Künast, schenken Sie mir bitte Ihr Gehör.
({4})
Ich denke, der Vorschlag der Bundeskanzlerin ist gut.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Woche die
Besteuerung von Kerosin und eine Flugticketabgabe
als mögliche innovative Finanzierungsinstrumente ausdrücklich beschlossen. Ich glaube, dass wir auch mit
solch einem Instrument, wie es in Frankreich übrigens
bereits eingeführt wurde, mit relativ kleinen Beträgen,
die die Familien und den normalen Reisenden nicht belasten, der dann bei Interkontinentalflügen für ein Economyticket zusätzlich 5 oder 10 Euro zahlen muss, Mittel generieren können. Wir sind dafür, die Businessclass
stärker zu belasten. Über Mittel wie diese müssen wir
mit dem Koalitionspartner sicherlich noch reden. So
können wir einen Mix schaffen, der dadurch gekennzeichnet ist, dass wir unserer finanziellen Verantwortung
für die ärmsten Länder und somit auch für uns - das
Ganze geschieht auch in unserem eigenen Interesse - gerecht werden.
Wir haben vom Fördern geredet. Wir brauchen in der
Tat auch Weltwirtschaftsbedingungen, durch die das
nicht wieder kaputtgemacht wird, was wir mit den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit aufbauen. Die
Agrarsubventionen sind hier schon zu Recht genannt
worden. Die Industrienationen geben weltweit pro Jahr
fast 300 Milliarden Dollar für Agrarsubventionen und
nur einen wesentlich kleineren Teil für Entwicklungszusammenarbeit aus. An dieser Stelle ist schon zu hinterfragen, was es bringt, wenn wir einem Landwirt in Afrika zeigen, wie er sein Feld bestellen kann, wenn wir
ihm das Know-how vermitteln, wie man Getreide
pflanzt, Hühner züchtet oder Baumwolle anbaut, und
dann aufgrund von Subventionen aus den USA oder aus
Europa Hühnerfleisch zu Dumpingpreisen auf den Markt
kommt. Der mit falscher Nahrungsmittelhilfe oder zum
Beispiel mit exportsubventioniertem Milchpulver konfrontierte Landwirt in Afrika kann seine Produkte auf
den lokalen Märkten dann nicht verkaufen. Es ist wichtig, dass wir zu einem Ende der Agrarexportsubventionen kommen. Da muss sich die Bundesregierung in
Europa halt durchsetzen. Leider ist das mit den Franzosen manchmal ein bisschen schwierig. Wir werden weiter dafür kämpfen; auch unsere Ministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul hat das bei den WTO-Verhandlungen
immer deutlich gemacht. Das werden wir als Fraktion
und als Koalition weiterverfolgen.
({5})
An diese Stelle gehört natürlich auch das, was vorhin
schon angesprochen wurde: die soziale Gestaltung der
Globalisierung, die Frage von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards sowie - wenn ich das einmal so sagen
darf, Herr Kollege Westerwelle - die Frage von Werten.
Herr Westerwelle, Sie haben vorhin zum Ausdruck gebracht, Globalisierung sei aus Ihrer Sicht nicht rein ökonomisch, es gebe auch eine Globalisierung der Werte, es
gebe Wandel durch Handel, man könne Werte transportieren. Aber das geht nicht nur mit moralischen Appellen. Dann müssen Sie und Ihre Partei schon über ihren
Schatten springen. Immer dann, wenn wir die Werte, die
auch Sie einfordern, in konkreten Vereinbarungen umsetzen wollen, sei es in der WTO, in der Welthandelsorganisation, oder sei es in Deutschland, zum Beispiel
beim Thema Mindestlöhne, wenn wir also nicht nur moralische Appelle aussprechen wollen,
({6})
dann ist der Wert, den Sie transportieren wollen: Freie
Fahrt für freie Wirtschaft. - Das wollen wir nicht. Wir
wollen das konkret in der WTO verankern.
({7})
Unser Arbeitsminister hat dazu schon viele gute
Worte gefunden. Auch die Kanzlerin hat neulich auf einer Konferenz gesagt, dass sie diese Standards in der
WTO eingebunden sehen möchte.
Wenn wir Länder entschulden, werden wir nicht umhinkommen, darauf zu achten, dass die freiwerdenden
Mittel auch richtig verwendet werden. Herr Kollege
Gysi, Sie haben vorhin in Bezug auf unsere Verpflichtungen, die Mittel für Entwicklungsfinanzierung, die
ODA-Quote, zu steigern, gesagt, das sei alles nichts
wert, weil wir Länder nur entschuldet hätten. Den Effekt
dieser Entschuldung haben Sie kleingeredet. Dazu will
ich Ihnen einmal sagen: Durch die Entschuldung von
Ländern in Afrika können 20 Millionen Kinder mehr in
die Schule gehen. Deswegen finde ich es nicht fair, wenn
Sie sagen, das sei kein guter Beitrag gewesen. Für die
Länder ist es egal, ob sie frisches Geld bekommen oder
ob sie, weil sie den Schuldendienst nicht mehr bezahlen
müssen, Haushaltsmittel für Bildung und Gesundheit
verwenden können. 20 Millionen Kindern in Afrika geht
es durch die Entschuldung besser.
Herr Gysi, Sie haben vorhin auch gesagt, dass es in
Deutschland durch den Aufschwung niemandem besser
geht. Doch, 1 Million Menschen weniger ist arbeitslos,
und diesen Menschen geht es besser. Ich bitte Sie, das
einmal anzuerkennen. Wenn man die richtigen Dinge
macht, kann man vielen Menschen helfen.
({8})
Daran werden wir weiter arbeiten und in diesem
Sinne auch den G-8-Gipfel zu einem für die Entwicklungsländer und für die ärmsten Menschen auf der Welt
erfolgreichen Abschluss führen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Erich Fritz für CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte eine Bemerkung machen, bevor ich mit meiner eigentlichen Rede beginne. Die Kollegin von der
Linken hat in ihrer Kurzintervention gezeigt, dass sie
sich wirklich für keinen Gag zu schade ist. Herrn
Wissmann hier als Vertreter der Automobilwirtschaft
darzustellen
({0})
- Moment, lassen Sie mich doch wenigstens einen Satz
aussprechen -, das ist wirklich zu billig. Dieser Mann
hat 30 Jahre im Parlament eine klare ordnungspolitische
Linie verfolgt, die er heute noch einmal deutlich dargestellt hat. Warum er heute gesprochen hat, wird auch Ihnen nicht entgangen sein. Seien Sie doch froh, dass es in
Deutschland die Möglichkeit gibt, zwischen Politik und
Wirtschaft zu wechseln.
({1})
Herr Kuhn musste sich sehr anstrengen, so zu sprechen, wie er es getan hat. Frau Roth hatte einen richtigen
Adrenalinfrühling. Sie konnte endlich wieder so sprechen wie vor 30 Jahren.
({2})
Das war doch sehr unterschiedlich zwischen den beiden.
Herr Gysi hat eine Rede gehalten, die nichts anderes
darstellt als den Versuch, die Ängste der Menschen auszubeuten. Er hat sich auch nicht gescheut, an vielen Stellen nur die halbe Wahrheit zu sagen.
({3})
Die halbe Wahrheit - das muss man wissen - ist eben
auch eine halbe Lüge, Herr Dr. Gysi.
Wenn Sie von den Agrarexporten und -importen
sprechen, dann müssen Sie zumindest wissen, dass die
Europäische Union mit Vorgaben bereit ist, die Exporte
auf Null zu reduzieren. Das ist noch nicht abgeschlossen.
Wir sind hier also auf einem guten Weg. Sie können
nicht die Quellen von vorgestern zitieren. Das Welttextilabkommen ist ausgelaufen. Ist Ihnen das entgangen? Die
Beispiele waren einfach nur falsch. Wir haben nicht
reagiert, weil Sie den falschen Menschen zitiert haben,
sondern weil Sie falsche Aussagen gemacht haben.
Mir kommt es in der Debatte manchmal so vor, dass
diejenigen, die in der Vergangenheit am deutlichsten gesagt haben, wir müssen den armen Ländern helfen, jetzt
nicht damit fertig werden, dass sich diese Länder zu einem guten und immer größeren Teil im Wettbewerb ihren Anteil nehmen und uns zu Veränderungen zwingen,
zu denen wir innerlich gar nicht bereit sind.
({4})
In dieser Auseinandersetzung gibt es natürlich viel zu regeln. Hier gibt es viele Missverhältnisse, über die wir reden müssen. Das ist aber der Kern der Geschichte.
({5})
Sie können draußen nicht fordern, dass die Entwicklungsländer ihren Anteil bekommen, und den Menschen
gleichzeitig signalisieren, es dürfe sich im Vergleich zu
früher nichts ändern.
({6})
Natürlich wird sich vieles ändern. Natürlich ist das eine
Herausforderung für die Industrieländer. Natürlich ist
das auch eine Herausforderung an unseren Lebensstil,
unseren Ressourcenverbrauch sowie alle Kriterien, die
man anlegen muss.
Nun zur Frage der Legitimation der G 8, die hier verschiedentlich eine Rolle gespielt hat. Herr Kuhn, allerdings geschah dies zum Teil etwas verquer. Man kann
nicht auf der einen Seite sagen, es gebe keine Legitimation für diese Einrichtung, und auf der anderen Seite sagen: Liebe Frau Kanzlerin, komm ja nicht ohne konkrete
Beschlüsse nach Hause. Man kann nur das eine oder das
andere sagen, nicht aber beides gleichzeitig.
({7})
Die G 8 sind ein wichtiger Impulsgeber und ein wichtiges Dialogforum. Es braucht keine zusätzliche Legitimation. Wenn jemand Verantwortung übernimmt und
sich mit anderen zusammensetzt, um Lösungen zu finden und vorzubereiten, dann muss er dafür nicht zusätzlich legitimiert sein. Es handelt sich immerhin um Regierungen, die - wenn die Schwellenländer dabei sind mehr als die Hälfte der Menschheit vertreten. Das sind
mindestens 3,5 Milliarden Menschen.
({8})
Zum größten Teil sind das Regierungen, die demokratisch legitimiert sind. Die brauchen keinen internationalen Vertrag, um sich zusammenzusetzen und um sich
möglichst gute Gedanken zu machen. Diese Staaten haben die größte Wirtschaftsmacht. Sie haben die größten
Wachstumsreserven. Zusammengenommen verfügen sie
über die größten technologischen Möglichkeiten, um mit
den Herausforderungen klarzukommen. Sie verfügen innerhalb der Vereinten Nationen über die größten Lösungskompetenzen. Sie haben in dieser Zusammensetzung auch Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass
international anerkannte und durchsetzungsfähige Standards für den Handel, für die Ökologie, für das Soziale
und für die Entwicklung zustande kommen und auch
eingehalten werden. Wer denn sonst, wenn nicht diese
Gruppierung, nämlich die Mitglieder der G 8 und die
großen Schwellenländer, soll diese Verantwortung übernehmen? Wenn die Bundeskanzlerin diejenige ist, die
durch ihre Rolle jetzt die Übernahme von weltweiter
Verantwortung organisieren kann, dann muss sie unterstützt werden. Das täuscht freilich nicht darüber hinweg,
dass die Ausgangslage für die Diskussionen in Heiligendamm alles andere als komfortabel ist. Herr Kuhn, hier
geht es darum, dass man in der Frage der Bereitschaft,
sich auf Themen einzulassen, möglichst weit kommt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lötzer?
Sofort.
Es wäre schön, wenn es in diesem Kreis die Möglichkeit gäbe, zu sagen, wir reden über die Ausprägungen
des Klimaschutzes und über die Ausgestaltung der Sozialstandards. Das ist aber nicht der Fall. Bei diesen Themen geht es erst einmal darum, eine Gesprächsbasis herzustellen. Wenn das gelingt, dann ist schon sehr viel
geschafft.
Frau Kollegin Lötzer, bitte.
Vielen Dank. - Kollege Fritz, ist Ihnen bekannt, dass
zum Beispiel Investitionsfreiheit durchzusetzen, was zu
den Zielen des G-8-Gipfels gehört, gegen die „Charta
über die wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten“ der Vereinten Nationen verstößt, in der es ausdrücklich heißt, dass alle Staaten berechtigt sind, soziale und
ökologische Auflagen gegenüber Konzernen zu machen? Ist das nicht gerade eine Schwächung von sozialen
und ökologischen Standards, die der hier heute vielzitierten Pflicht, ökologische und soziale Standards zu
entwickeln, entgegensteht?
Zweitens. Ist in diesem Zusammenhang nicht der Appell zum Beitritt zum Global Compact und zu der Verpflichtung zur Wahrung des Code of Conduct als freiwillige Verhaltenskodices etwas, was inzwischen seit
Jahrzehnten nicht funktioniert, sondern zu mehr Menschenrechtsverletzungen geführt hat, zu mehr Verstößen
gegen gewerkschaftliche Rechte? Bedeutet nicht die
Wiederholung der Appelle beim G-8-Gipfel die Schwächung der sozialen und ökologischen Verpflichtung von
Konzernen im Rahmen der Globalisierung statt die Stärkung einer Politik für eine soziale und ökologische
Dimension?
Liebe Frau Kollegin, die Frage der Investitionsfreiheit
- oder besser: die zukünftige Regelung der Investitionstätigkeit zwischen den Ländern - ist ein wichtiger
Teil einer zukünftigen globalen Ordnung. Sie muss natürlich so ausgestaltet werden, dass jedes Land, das sich
einer solchen Regelung unterwirft, nicht gezwungen ist,
unbillig eigene Nachteile in Kauf zu nehmen. Aber Sie
wissen selbst, dass im multilateralen Bereich ein anderes
Abkommen gar nicht zustande kommen wird. Die afrikanischen Länder erklären in der WTO seit Jahren ganz
eindeutig, dass es mit ihnen ein solches Abkommen
nicht geben wird, wenn nicht genau dieses Erfordernis
erfüllt ist. Woher kommt also die Angst?
Auf der anderen Seite haben wir gesehen, dass
Schwellenländer, die gut oder annähernd gut regiert worden sind und Systeme hatten, in denen in die Menschen
investiert worden ist, in Bildung, Ausbildung, Gesundheit, schließlich in der Lage waren, einen Weg zu gehen,
der allen etwas gebracht hat. Das müssen wir zur Voraussetzung machen. Diese Länder waren klug genug,
nach einer bestimmten Zeit die Grenzen zu öffnen und
sich dem Wettbewerb zu stellen. Erst dadurch, dass sie
wettbewerbsfähig geworden sind und auch Investitionen
im eigenen Land ermöglicht haben, haben sie für immer
größere Teile ihrer Bevölkerung Wohlstand erzielen
können.
Deshalb bleibt die Regelung der Investitionstätigkeit
eine wichtige Frage. Aber sie kann so gestaltet werden,
dass die negativen Effekte nicht eintreten.
Zu dem zweiten Thema, liebe Frau Kollegin, muss
ich eigentlich nichts sagen. Der Tenor der Debatte beantwortet diese Frage für meine Begriffe eigentlich ganz
von alleine. Einverstanden?
({0})
Meine Damen und Herren, mit Blick auf den G-8Gipfel in Heiligendamm kann von dieser Debatte nur der
Appell ausgehen, dass all diejenigen, denen globale Entwicklung, Entwicklungspolitik, die Frage der Gestaltung
offener Märkte und internationaler Regeln ein echtes
Anliegen sind, sich hinter diese Bundesregierung und
die Bundeskanzlerin stellen, deren Bemühen es ist, auf
dem Gipfel wesentliche Aspekte einer internationalen
sozialen Marktwirtschaft zu diskutieren. Unsere Erfahrungen müssen dazu beitragen, dass deutlich wird, dass
man nachhaltige Politik, eine Politik einer sozialen und
ökologischen Entwicklung innerhalb der Weltwirtschaft
nur gestalten kann, wenn man alle drei Säulen entwickelt. Da ist die Welt nun einmal sehr unterschiedlich
aufgestellt. Im Bereich des Handels gibt es die WTO; sie
hat immerhin Sanktionsmöglichkeiten. Der Umweltbereich ist sehr zersplittert; es gibt auf jeden Fall keine Organisation als adäquaten Verhandlungspartner der anderen Seite. Im sozialen Bereich gibt es zwar eine
altehrwürdige Tradition, die auch Gestaltungskraft bewiesen hat, indem sie aus der Vielzahl der Konventionen, die in 50 Jahren entstanden sind, für das Wichtigste
Kernstandards entwickelt hat; aber sie hat keine wirkliche Durchsetzungskraft.
Deshalb wird es darauf ankommen, in einem multilateralen Prozess, in dem alle die gleichen Chancen der
Mitgestaltung haben, dafür zu sorgen, dass diese drei
Säulen der Nachhaltigkeit gleichgewichtig entwickelt
werden. Man darf aber nicht so tun, als wolle man mit
dieser Regelung den freien Handel ausschalten. Denn
man wird Instrumente zur Verbesserung des Wohlstandes der Menschen nur auf Grundlage des freien Handels
entwickeln können. Im Übrigen werden die meisten
Länder das dafür benötigte Geld nur aufbringen können,
wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sind und Wachstum
haben.
Die Bundesregierung organisiert auf dem G-8-Gipfel
internationale Verantwortung. Es ist in dieser Zeit unerlässlich, dass die Schwellenländer einbezogen werden.
Sie selbst wollen übrigens nicht Mitglied der G 8 werden. Aber nicht nur innerhalb der G 20, sondern auch an
vielen anderen Stellen beweisen sie, dass sie bereit sind,
vielfältige Verantwortung zu übernehmen. Wir sollten es
positiv aufnehmen, dass sie in Heiligendamm mit am
Tisch sitzen, und sollten dieser Veranstaltung keine unlautere Absicht unterstellen. Wir sollten vielmehr diesen
Diskussionsprozess stärken; denn weder in der UNO
noch in der WTO noch in anderen Organisationen, in denen wir auf eine funktionierende Zusammenarbeit angewiesen sind, können Lösungen gefunden werden, wenn
nicht Vertrauen und Gesprächsbereitschaft vorhanden
sind und wenn nicht die Basis der Gemeinsamkeiten
wächst.
Ich wünsche der Bundeskanzlerin für den Gipfel viel
Erfolg, alles Gute und einen guten Verlauf.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Im
Jahr 2007 ist der internationale Klimaschutz eines der
zentralen Themen. Im Dezember findet in Indonesien
die Weltklimakonferenz statt. Wir brauchen den Auftrag,
ein Kiotonachfolgeabkommen auszuhandeln, für den
Beginn der Verhandlungen.
In Nairobi ist deutlich geworden, dass die Konferenzen, die jetzt stattfinden, allein nicht reichen. Der Klimaschutz muss auf höchster Ebene behandelt werden. Deswegen ist der G-8-Gipfel in Heiligendamm so wichtig.
Es muss deutlich werden, dass die Industrieländer bereit
sind, Führerschaft zu übernehmen. Deutschland baut
seine Führungsrolle aus; andere machen mit. Es gibt sehr
positive Signale aus Japan und aus anderen Ländern.
Es ist im Übrigen notwendig - auch das will ich an
dieser Stelle sagen -, dass wir unsere eigenen Maßnahmen erfolgreich umsetzen. Es ist daher richtig, dass sich
die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag ambitionierte Ziele gesetzt haben. Diese müssen jetzt allerdings durch Maßnahmen unterfüttert werden. Die SPDFraktion wird die Bundesregierung und auch die CDU/
CSU-Fraktion daran messen, ob wir in diesem Jahr noch
zu substanziellen Ergebnissen kommen. Insbesondere
der Bundeswirtschaftsminister muss für den Bereich der
Kraft-Wärme-Kopplung, der erneuerbaren Energien und
des Top-Runner-Programms Gesetze vorlegen und auf
europäischer Ebene aktiv werden.
({0})
Es geht also in Heiligendamm darum, dass die Industrieländer, die für den größten Teil der weltweiten CO2Emissionen verantwortlich sind, Führerschaft übernehmen. Man muss in diesem Zusammenhang immer wieder an die Zahlen über den CO2-Ausstoß pro Kopf erinnern: In den USA beträgt er 20 Tonnen, in Deutschland
10 Tonnen und in den afrikanischen Ländern nur
0,2 Tonnen. An diese Tatsache hat gestern Klaus Töpfer
in einer Anhörung des Deutschen Bundestages zum Klimawandel richtigerweise erinnert. Es ist daher wichtig,
dass die Zivilgesellschaft den Finger auf die Wunde legt.
Deswegen ist der - hoffentlich friedliche - Protest in
Heiligendamm nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig. Es ist auch notwendig, dass dieser Protest für
diejenigen sichtbar ist, die in Heiligendamm zusammenkommen.
({1})
Die zentrale Frage in Heiligendamm, was den Klimawandel angeht, wird allerdings sein - darauf ist heute
schon hingewiesen worden -, ob man es schafft, die
USA mit ins Boot zu holen. Bei aller Skepsis sage ich:
Es ist notwendig, dass der Druck im Kessel bleibt. Was
in den letzten Tagen durch Aussagen der US-Unterhändler an Streichorgien bekannt geworden ist, stimmt nicht
sehr hoffnungsfroh; es ist inakzeptabel. Daher muss der
Druck bestehen bleiben. Wir brauchen in Heiligendamm
substanzielle Ziele; ohne Verbindlichkeiten funktioniert
internationaler Klimaschutz nicht. Deswegen muss es
bei aller gebotenen Diplomatie harte Auseinandersetzungen geben, auch mit George W. Bush. Es geht nämlich
um die Glaubwürdigkeit unserer eigenen, um die Glaubwürdigkeit der internationalen Klimaschutzpolitik, aber
auch um die Debatte in den USA. Es ist heute schon darauf hingewiesen worden, dass diese Debatte geführt
wird. Es ist nicht nur Al Gore, es sind nicht nur die Bürgermeister von 400 Städten, es sind nicht nur zehn Bundesstaaten, sondern auch sehr viele Mitglieder des USKongresses, die sich mittlerweile sehr intensiv für einen
umfassenden Klimaschutz einsetzen.
({2})
Ich weise darauf hin, dass am 3. und 4. Juni hier in
Berlin im Vorfeld von Heiligendamm eine G-8-plus-5Parlamentarierkonferenz stattfinden wird, bei der auch
viele Mitglieder des US-Kongresses anwesend sein werden. Auch für sie ist es wichtig, die Art der Auseinandersetzungen zu sehen, sodass der Druck auf die jetzige USRegierung international entsprechend erhöht wird.
Ich will heute hier keine Messlatte für Erfolg oder
Misserfolg auflegen. Man muss sich anschließend die
Dokumente ansehen. Das Ergebnis müssen diejenigen
verantworten, die die Verhandlungen führen werden. Allerdings unterstütze ich ausdrücklich das, was Bundesminister Gabriel in den letzten Tagen gesagt hat: Ein bedrucktes Stück Papier oder auch mehrere Seiten sind
kein Wert an sich; manchmal kann es auch notwendig
sein, am Ende zu sagen: Wir haben kein Ergebnis. Auch
das kann gelegentlich ein Ergebnis sein. Insofern ist
heute in der Debatte deutlich geworden: Es gibt viel Rückenwind im Deutschen Bundestag gerade für gute Verhandlungserfolge im Bereich des Klimaschutzes. Es gibt
hier aber ebenso einen hohen gemeinsamen Erwartungsdruck. Deshalb wünsche ich der Bundeskanzlerin viel
Erfolg und gutes Geschick in Heiligendamm.
({3})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 4 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel
„Die deutsche G8- und EU-Präsidentschaft - Neue Impulse für die Entwicklungspolitik“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4880, den genannten Antrag auf Drucksache 16/4160 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2833 mit dem Titel
„Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007 zur Reform
der Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen
Union nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Darf ich fragen, wie die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hinsichtlich dieser Beschlussempfehlung gestimmt hat?
({0})
- Sie haben zugestimmt. Somit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4151 mit dem Titel „Reformen für eine gerechte Globalisierung - Deutsche G-8-Präsidentschaft
für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung nutzen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4880, in
Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung ab.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Hat sich die FDP enthalten?
({1})
- Sie haben zugestimmt. Somit ist die Beschlussempfeh-
lung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenom-
men.1)
1) Anlage 2
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Tagesordnungspunkt 4 c. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Für eine
Politik der gleichberechtigten Partnerschaft mit den afrikanischen Ländern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5311, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/4414 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist damit mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 d. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine
Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses im
Rahmen der deutschen EU- und G8-Präsidentschaft“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/4586, den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3011 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Gegenstimmen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion
der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 e. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Reformpartnerschaften mit Afrika intensivieren - Afrika muss
auf die Tagesordnung des G8-Gipfels in Deutschland
2007“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5440, den Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/2651 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 f. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5408 mit
dem Titel „Menschen statt Profite - Nein zu G8“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen und der Fraktion der FDP abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgitt
Bender, Volker Beck ({2}), Markus Kurth,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen ({3})
- Drucksache 16/3233 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der
weiteren Aussprache und Debatte nicht folgen wollen,
ihre Gespräche bitte einstellen bzw. sie außerhalb des
Plenarsaals fortsetzen, wäre ich dankbar.
Dann können wir mit der Aussprache beginnen. Ich
eröffne sie und erteile das Wort als erstem Redner dem
Kollegen Volker Beck von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Gendiagnostik eröffnet für Patientinnen und Patienten,
Forscherinnen und Forscher sowie Medizinerinnen und
Mediziner viele neue Chancen auf Behandlung, Heilung
und die Stellung einer Diagnose. Aber diese Gendiagnostik ist auch mit erheblichen gesellschaftlichen
Risiken verbunden. Wenn wir das Potenzial der Gendiagnostik wirklich voll zum Wohle der Gesundheit nutzen und Erfolge bei der Forschung nutzen wollen, dann
müssen wir für alle Beteiligten Rechtssicherheit schaffen. Diese Rechtssicherheit will der von uns vorgelegte
Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der genetischen
Untersuchungen beim Menschen erreichen.
Auch in anderen Ländern gibt es entsprechende Diskussionen. Die Schweiz hat gerade ein solches Gesetz,
das unserem Gesetzentwurf ähnlich ist, verabschiedet.
Auch der amerikanische Präsident Bush hat inzwischen
erkannt, dass die Forschung in diesem Bereich keine
Chance hat, wenn die Rechte der Bürgerinnen und Bürger an ihren Daten und Proben nicht nachhaltig geschützt werden. So hat der Leiter des National Human
Genome Research Institute, Herr Collins, dargelegt,
ohne Schutz vor Diskriminierung werde die Bevölkerung nicht bereit sein, ihr Erbgut der Forschung zur Verfügung zu stellen oder es im Rahmen medizinischer Untersuchungen sequenzieren zu lassen. Deshalb wird im
amerikanischen Senat gerade über einen Genetic Information Nondiscrimination Act gesprochen. Inzwischen
hat Bush signalisiert, dass dieses Gesetz kommen soll.
Auch in Deutschland sollte ein solches Gendiagnostikgesetz zu einem wichtigen Projekt dieser Wahlperiode werden.
({0})
Da spöttelt die „Ärztezeitung“ heute zu Recht:
Seit Dienstantritt der großen Koalition liegt …
ein … Referentenentwurf in den Schubladen des
Bundesgesundheitsministeriums. „Momentan hat die
Reform der Pflegeversicherung Vorrang“, berichtet
eine Ministeriumssprecherin auf Anfrage. Im vergangenen Jahr hatte die Gesundheitsreform Priorität.
Volker Beck ({1})
Unabhängig von Ihren sonstigen Prioritäten wird es Zeit,
dass Sie diese Materie anpacken. Wenn Sie keine eigenen Ideen haben oder noch an den Details häkeln, dann
nehmen Sie unseren Gesetzentwurf! Er ist eine gute
Grundlage, um diese Fragen zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger und zum Wohle der Forschung zu regeln.
({2})
Ein großes Problem ist die genetische Diskriminierung. Die Menschen wollen davor geschützt sein. Sie
wollen, dass ihnen, wenn sie zum Arzt gehen und eine
genetische Untersuchung machen lassen, daraus keine
Nachteile erwachsen können. Dass dies keine hypothetischen Fragen sind, sieht man, wenn man in der Presse
ein bisschen recherchiert. So berichtet eine Frau aus den
USA, man habe ihr die Einstellung verweigert, weil sie
Trägerin eines Allels für Sichelzellenanämie sei. Auch in
Deutschland gibt es solche Fälle, selbst im öffentlichen
Dienst. So erzählen uns Mitarbeiter von Selbsthilfeorganisationen der Menschen, die an Morbus Huntington leiden, dass einer Lehrerin, die im Rahmen der Einstellungsuntersuchung davon berichtete, die Einstellung
verweigert wurde. Sie hat zwar später vor Gericht recht
bekommen; doch dieses Beispiel zeigt: Wir brauchen
hier klare rechtliche Regelungen, damit die Menschen
vor entsprechenden Benachteiligungen geschützt werden.
({3})
Wir sind der Meinung: Im Arbeitsleben, bei der Einstellung, bei der Beförderung darf der Arbeitgeber nicht
nach genetischen Untersuchungen fragen. Solche Untersuchungen dürfen in bestimmten Fällen nachrangig angeboten werden, etwa im Bereich des Arbeitsschutzes.
Doch wenn jemand diese Untersuchungen nicht machen
lassen will oder seine Untersuchung positiv ausfällt, darf
er daraufhin nicht den Arbeitsplatz verlieren. Er muss
den gleichen Rechtsschutz des Arbeitsrechts genießen
und muss seine Sicherheit behalten.
Das Gleiche gilt für die Versicherungswirtschaft.
Wir dürfen nicht zulassen, dass es bei einem privat organisierten Versicherungswesen - wir fordern die Menschen ja auf, in immer mehr Bereichen privat vorzusorgen - eine genetische Auslese gibt mit dem Ergebnis,
dass bestimmte Menschen aufgrund ihrer Genanlagen
ihre Lebensrisiken nicht mehr zu den gleichen Bedingungen wie andere finanziell absichern können. Deshalb
reicht das gegenwärtige Moratorium der Versicherungswirtschaft nicht aus. Wir wollen hier eine gesetzliche
Grenze ziehen: Die genetischen Dispositionen dürfen
nicht über den Abschluss und den Tarif von Versicherungsverträgen entscheiden.
Die Frage, an der dieses Projekt in der letzten Wahlperiode gescheitert ist, war: Was passiert mit den Forschungsdaten? Ich glaube, diese Frage müssen wir hier
im Parlament sehr sorgfältig und ernsthaft diskutieren.
({4})
Ich meine, die Diskussion über die Verwendung der
Mautdaten muss doch bösgläubig machen. Da hat der
Gesetzgeber gesagt: Diese Daten werden zur Erhebung
der Maut und nur dazu erhoben. - Jetzt gibt es eine Diskussion, angestoßen unter anderem von Herrn
Westerwelle, diese Daten auch zum Zwecke der Kriminalitätsbekämpfung zu verwenden. Die Bürger müssen
sich auf gesetzgeberische Zusagen verlassen können.
Wenn ich Daten freiwillig abgebe, dürfen sie nicht durch
einen anderen gesetzgeberischen Akt zweckentfremdet
werden; denn sonst würden wir das Vertrauen in die Forschung zerstören. Deshalb sagen wir: Die Daten, die von
Forschungsdatenbanken benötigt und erhoben werden,
dürfen nur nach Einwilligung des Patienten bzw. des
Probanden verwendet werden, und zwar nur für Forschungszwecke. Wenn wir das nicht garantieren, wird es
in Deutschland keine Forschung mit diesen Daten geben.
Damit würden wir die Chance auf Heilungs- und Forschungsfortschritte verschenken. Beides wäre unverantwortlich, weil es um das Wohl und die Gesundheit der
Menschen, um die Forschung und den Standort Deutschland geht.
({5})
Ich hoffe, dass das Innenministerium definitiv erklärt
- vielleicht nicht heute, sondern bei anderer Gelegenheit
im Ausschuss -, dass man solche Pläne in Zukunft nicht
verfolgen wird. Ansonsten können wir die Bürgerinnen
und Bürger nämlich nicht zur Beteiligung an entsprechenden Forschungsvorhaben aufrufen, auch wenn man
dadurch die Möglichkeit hätte - indem man bestimmte
Anlagen, Kohärenzen und Interdependenzen erkennt -,
bestimmte Krebsarten besser zu verstehen und zu behandeln. Das wäre wirklich bedauerlich und schade.
Wir haben vorhin über die G 8 diskutiert. Ich glaube,
dass die Stärke eines Rechtsstaats auch darin zum Ausdruck kommt, dass er die Grundrechte seiner Bürger garantiert und respektiert. Die Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung müssen hier auch
ihre eindeutige Grenze finden.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Wir haben diese Grenzen eindeutig aufgezeigt. Ich
glaube, das ist eine gute Grundlage für die weitere Debatte.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette WidmannMauz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Jahr 2000 wurde in den Medien verkündet, dass
das menschliche Erbgut vollständig sequenziert sei. Das
so gewonnene Wissen über die Erbanlagen des MenAnnette Widmann-Mauz
schen soll unter anderem der verbesserten Krankheitsdiagnostik dienen.
Welche Krankheiten kann man schon heute, welche
wird man künftig mithilfe der Gentechnik diagnostizieren können? Wie unterscheiden sich diese neuen von den
bisherigen Diagnosemöglichkeiten? Kann man die diagnostizierten Krankheiten behandeln, vielleicht sogar
mithilfe der Gentherapie? Was bedeuten die erweiterten
Diagnosemöglichkeiten für die Betroffenen, zum Beispiel für Eltern, die ein Kind erwarten? Wie kann man
die Potenziale der Gendiagnostik nutzen, und wo sollten
die Grenzen gesetzt werden? All das sind Fragen, die
sich uns stellen. Es sind keine einfachen Fragen, weil sie
von prinzipieller Natur sind.
Der Fortschritt bei der humangenetischen Forschung lässt eine Fülle neuer diagnostischer und vielleicht auch therapeutischer Möglichkeiten erwarten. In
den letzten Jahren ist sowohl bei der Zahl der Anbieter
als auch bei der Inanspruchnahme genetischer Diagnoseleistungen eine Zunahme zu verzeichnen. Im Internet
wird mittlerweile eine Vielzahl von Gentests angeboten.
Das reicht von A wie Tests auf Alkoholverträglichkeit
oder Alzheimererkrankungen bis zu W wie Wechseljahre der Frau.
Im Koalitionsvertrag hat die Große Koalition vereinbart - ich zitiere -:
Genetische Untersuchungen bei Menschen werden
in den Bereichen gesetzlich geregelt, die angesichts
der Erkenntnismöglichkeiten der Humangenetik einen besonderen Schutzstandard erfordern, um die
Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen und Bürger
zu schützen. Durch diese gesetzliche Regelung soll
zugleich die Qualität der genetischen Diagnostik
gewährleistet werden.
Genau das wollen und werden wir jetzt tun. Nachdem
wir in nur eineinhalb Jahren mit der großen Gesundheitsreform, mit dem Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung, mit den
Vorbereitungen zur Pflegereform, mit dem Gewebegesetz und dem Gesetz zum Schutz vor Passivrauchen
wichtige gesundheitspolitische Weichen gestellt haben,
({0})
werden wir jetzt mit gleicher Sorgfalt ein Eckpunktepapier zur Vorbereitung eines Gendiagnostikgesetzes ausarbeiten.
Die Grünen haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt. Herr Beck, da wollte man in der Opposition die Zeit
nutzen und einmal schneller sein.
({1})
Doch es täuscht. Denn der grüne Text basiert auf einem
alten Text, der noch aus rot-grüner Zeit stammt und den
man sage und schreibe sieben Jahren lang hat einbringen
wollen, es aber nicht konnte - woran auch immer es gelegen haben mag.
({2})
Aber darum soll es mir jetzt nicht gehen. Wichtige
Punkte für ein Gendiagnostikgesetz werden dort genannt: Arztvorbehalt, die Aufklärung, kein Marktzugang
für ungeprüfte Gentests, die Zulassung von DNA-Chips,
Bewilligungen zur Durchführung zytogenetischer und
molekulargenetischer Tests, die Einrichtung einer Zentralen Gendiagnostik-Kommission und Regelungen zur
Verwendung von prädiktiven Testergebnissen in der Arbeitswelt oder im Versicherungswesen. Das alles sind
wichtige Punkte. Allerdings sind sie dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion aus dem Jahr 2003 entnommen, in
dem wir als die damalige Oppositionspartei bereits die
elementaren Inhalte eines Gesetzes bestimmt haben.
Dieser Antrag wurde damals mit den Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Lieber Herr Beck,
das verwundert dann doch.
({3})
Oder zeigt es nicht vielmehr: Koalitionen sind beratungsintensive Institutionen,
({4})
und die Gendiagnostik ist kein einfaches Thema. Hier ist
eine differenzierte Betrachtung unbedingt erforderlich.
({5})
Entscheiden unsere Gene, ob wir gesund bleiben oder
krank werden? Wie verlässlich ist eigentlich eine gendiagnostische Vorhersage von Krankheitsrisiken? Auch
in unserem Land sind Gendiagnostik und Gentherapie
bereits auf einem enorm hohen wissenschaftlichen Standard etabliert und in rasanter Weiterentwicklung begriffen. Wir wissen, dass die meisten Krankheiten durch ein
Zusammenspiel mehrerer Gene mit Umweltfaktoren entstehen. Dabei ist der genetische Faktor selten allein ausschlaggebend. Aber wer eine genetische Veranlagung
kennt, kann sich vorbereiten und zum Beispiel durch gezielte Verhaltens- und Ernährungsregeln die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Krankheit reduzieren.
Aber macht eine genetische Untersuchung auf Risikofaktoren überhaupt Sinn, wenn es gar keine entsprechende Therapie oder Präventionsmaßnahme gibt? Wir
müssen also die Chancen und die Risiken in der Gendiagnostik sehen. Die Durchführung eines prädiktiven
genetischen Tests, also einer Untersuchung einer Person,
die zum Zeitpunkt der Untersuchung keine Symptome
einer Erkrankung zeigt, kann unter Umständen sehr hilfreich sein, beispielsweise wenn auf diesem Weg die Disposition für eine therapierbare Krankheit frühzeitig erkannt werden kann.
Damit befasst sich zum Beispiel der erste Gentestgroßversuch in Deutschland. Die Medizinische Hochschule Hannover hat mit der Kaufmännischen Kranken10156
kasse einen Modellversuch zum genetischen Screening
durchgeführt. Es geht um die Eisenspeicherkrankheit,
die Hämochromatose. Das ist eine der häufigsten vererbbaren Stoffwechselerkrankungen. Bei den Betroffenen
kann es durch eine erhöhte Aufnahme von Eisen aus der
Nahrung mit zunehmendem Lebensalter zu Eisenablagerungen in verschiedenen Geweben, wie zum Beispiel der
Leber oder dem Herzen, kommen. Unbehandelt kann es
zu starken, lebensverkürzenden Organschäden kommen.
Wird die Krankheit frühzeitig diagnostiziert, kann man
durch eine relativ einfache Therapie, zum Beispiel durch
regelmäßige Aderlässe, die Symptomatik der Erkrankung vollständig verhindern.
Die Erkennung der genetischen Disposition bei völlig
gesunden Personen ermöglicht also eine vollständige
Prophylaxe. Aber es erkranken nur 1 bis 2 Prozent derjenigen Personen, bei denen die Disposition für die Eisenspeicherkrankheit diagnostiziert wurde, im Laufe ihres
Lebens tatsächlich. Das heißt, die überwiegende Mehrheit derjenigen, die mit dem entsprechenden Gen identifiziert werden, bleibt gesund und muss mit dem Wissen,
eventuell zu erkranken, umgehen. Es gibt also Chancen
und Risiken.
Schauen wir uns die pharmakogenetischen Tests an.
Sie eröffnen vielfache Chancen. Wird zum Beispiel die
genetisch bedingte Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Arzneimittelwirkstoffen identifiziert, so ist eine individuell abgestimmte Medikamentendosierung und -auswahl
möglich. Es gibt beispielsweise ein phamakogenetisches
Testsystem, das bestimmte Genvarianten bei Patienten
abklärt, die die Verstoffwechselung vieler Arzneimittel
beeinflussen. Damit kann das Ansprechen eines Patienten besonders auf weitverbreitete Medikamente zur Therapie bei Schmerzen und von psychiatrischen oder kardiovaskulären Erkrankungen überprüft werden.
Meine Damen, meine Herren, außer Frage steht: Die
Gendiagnostik bietet große Chancen, die wir nutzen
wollen. Aber wir können und dürfen auch die Risiken
nicht übersehen. Hier müssen wir sehr sorgfältig vorgehen. Die Schwierigkeit, zu bestimmen, welches Vorgehen nach dem positiven Ergebnis eines genetischen Tests
angemessen ist, lässt sich am erblichen Brustkrebs verdeutlichen. Es ist weiterhin umstritten, ob die Diagnose
einer Veranlagung, also die hohe Wahrscheinlichkeit, an
Brustkrebs zu erkranken, Anlass zu einer vorbeugenden
Brustamputation, der sogenannten prophylaktischen
Mastektomie, gibt. In einigen Studien heißt es zwar, dass
es sich dabei um eine effektive Präventionsmaßnahme
handelt. Eine verlässliche empirische Basis scheint es
dafür aber nicht zu geben.
Dies zeigt die Notwendigkeit umfassender Aufklärung. Kompetente Beratung ist aus unserer Sicht sowohl vor der Durchführung eines Tests als auch bei der
Interpretation der Testergebnisse erforderlich. Fehlt sie,
dann kann ein Test für den Getesteten effektiv mehr
Schaden als Nutzen haben. Denn es ist nicht dasselbe,
die Wahrheit über sich zu wissen oder sie von anderen
hören zu müssen. Mit dem Wissen nehmen nämlich auch
die Zweifel, die Ungewissheit und die Sorgen zu. Es gibt
ein Recht auf Wissen, aber es gibt auch das Recht auf
Nichtwissen. Es gibt im Leben Situationen, in denen es
nicht genug ist, etwas zu wissen. Man muss es auch anwenden können. Dann ist es nicht genug, nur zu wollen.
Man muss es auch tun können.
Neben der Betrachtung der Chancen und Risiken ist
bei der Erarbeitung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Gendiagnostik ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen:
die gesellschaftliche Diskussion bzw. die Akzeptanz in
der Bevölkerung. Unstrittig ist, dass solche Untersuchungen bestimmte Qualitätsstandards zu erfüllen haben. Dazu gehören auch die Aufklärung und Beratung
der zu untersuchenden Personen. Die Entscheidung für
oder gegen einen Test unterliegt vielen Einflussfaktoren,
so auch - Kollege Beck hat darauf hingewiesen - der
Einstellung gegenüber genetischen Tests insgesamt.
Eine Studie aus dem Jahr 2001 macht deutlich, dass
die Akzeptanz in der Bevölkerung sehr groß ist. Zwei
Drittel aller Bürger akzeptieren solche Tests. Bei erkrankten Personen ist die Akzeptanz noch größer. So
sprechen sich zum Beispiel 98 Prozent der befragten Patienten, die an koronarer Herzerkrankung leiden, dafür
aus, dass ein in Zukunft eventuell zur Verfügung stehender Test zur Disposition für Koronarsklerose angeboten
werden sollte. Von der Bevölkerung werden aber auch
die möglichen Nachteile, zum Beispiel Schwangerschaftsabbrüche, Diskriminierung oder Missbrauch von
Daten, zur Kenntnis genommen und artikuliert.
Die angeführten Beispiele verdeutlichen, dass an die
Gendiagnostik hohe Anforderungen zu stellen sind und
wir diese erfüllen müssen. In juristischen, psychologischen, aber auch in ethischen Fragen müssen wir Antworten geben.
Neben der Aufklärung gibt es weitere Anforderungen,
die an ein Gendiagnostikgesetz zu stellen sind. Genetische Reihenuntersuchungen sind im Unterschied zu
individuellen Tests von weitreichender Bedeutung. Sie
müssen in jedem Fall gesetzlich geregelt werden. Hier
spielt die Freiwilligkeit für uns eine sehr große Rolle.
Darüber hinaus muss mit dem Test ein klar erkennbarer
Nutzen für die getestete Person verbunden sein, indem
auch präventive oder therapeutische Optionen vorhanden sind. Ungeprüfte Tests dürfen aus unserer Sicht
nicht auf den Markt kommen. Über die grundlegenden
Anforderungen an In-vitro-Diagnostika, wie Sicherheit
und Qualität, hinaus muss beispielsweise auch der Nachweis erbracht werden, dass der Test zuverlässige und
klar interpretierbare Ergebnisse liefert.
Im Internet wird derzeit zum Beispiel ein Gentest zur
Erkennung von erblichem Dickdarmkrebs angeboten.
Bei dieser Erkrankung sind mehrere betroffene Gene bekannt, diagnostiziert werden mit einem solchen Test aber
lediglich zwei Gene. Das darf es nicht geben, genauso
wenig wie ein Test nicht mehr Daten offenbaren darf als
versprochen.
Wir brauchen Regelungen zur Zulassung von DNAChips. Wir müssen das Recht auf Nichtwissen beachten
und ihm auch in Gesetzen Geltung verschaffen. Wir
müssen eine Zentrale Gendiagnostik-Kommission einrichten. Denn wir brauchen verbindliche Standards für
die Gestaltung der Angebote und die Durchführung von
Gentests. Wir müssen klare Regelungen dazu treffen, in
welcher Weise die aus Gentests gewonnenen Ergebnisse
und Erkenntnisse im Versicherungswesen angewandt
werden dürfen. Die Durchführung von Gentests darf
nicht zur Voraussetzung eines Vertragsabschlusses gemacht werden. Hier dürfen solche Tests nicht zur Anwendung kommen, es sei denn in ganz spezifischen Ausnahmesituationen, wenn es zum Beispiel bei
Lebensversicherungen um extrem hohe Abschlusssummen geht.
Lassen Sie mich zum Schluss deutlich machen: Eine
Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen. Wir dürfen aber nicht vergessen: Die Wissenschaft
hat keine moralische Dimension. Sie ist wie ein Messer,
das man zum Guten wie zum Bösen einsetzen kann.
Letztendlich steht der Umgang mit solch grundsätzlichen Fragen wie „Was ist gesund?“, „Was ist vollkommen?“ und „Wer ist vollkommen?“ dahinter.
Es darf aus unserer Sicht nicht sein, dass der Mensch
auf mathematische Wahrscheinlichkeiten reduziert wird
und als „gesunder Kranker“ ein Mensch zweiter Klasse
wird. Der Mensch ist aus so krummem Holz geschnitzt,
dass auch die modernste Technik und Medizin nichts daran ändern können. Wir sind und bleiben eben Geschöpfe Gottes. Das soll auch in Zukunft so bleiben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Konrad Schily,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich eine Vorbemerkung machen: Der Gegenstand
des Gesetzes ist offenbar schon längere Zeit hier im Hohen Hause im Gespräch.
({0})
Verehrte Frau Widmann-Mauz, ich hoffe, dass bei diesem Gesetz etwas Besseres herauskommt als bei dem
Wettbewerbsstärkungsgesetz
({1})
und dass wir es hier auch gründlicher und einträchtiger
behandeln.
({2})
Es ist sehr zu begrüßen, dass dieses Gesetz eingebracht worden ist; denn die Wissenschaft tastet sich ja
immer näher an den Menschen heran. Das hat Frau
Widmann-Mauz schon erwähnt. Die Wissenschaft sagt
sozusagen: „Wir kennen dein Schicksal!“ Je häufiger sie
das tut und je mehr wir das marktfähig machen wollen,
desto gefährlicher wird es natürlich.
Deswegen vorneweg: Genanalytische Daten und
Gencodes dürfen nicht in die Hände von Versicherungen gelangen.
({3})
Man muss den Versicherungen auch sagen: Die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens ist bei einer orakelhaften
Voraussage - so muss man das ja noch nennen - geringer
als bei der bisherigen versicherungsmathematischen
Vorhersage, wonach in einem Kollektiv unter soundso
vielen Tausend Menschen ein bestimmter Prozentsatz
zum Beispiel an Chorea Huntington, also an dem Veitstanz erkrankt.
Im ganz sicheren Bereich, dem monogenetischen
Bereich, ist nur ein Gen führend. Es ist also kein Parallelgen - das sogenannte Allel - vorhanden. Wir wissen, dass Patienten, die Chorea Huntington haben, diese
monogenetische Struktur aufweisen. Wir können zwar
jemanden untersuchen lassen - zum Beispiel ein Kind,
das in einer erbbelasteten Familie geboren worden ist -,
aufgrund der gentechnischen Untersuchung können wir
aber nicht vorhersagen, zu welchem Zeitpunkt und mit
welcher Schwere diese Krankheit auftreten wird.
Weil sich die Wissenschaft so nahe an den Menschen
herantastet, sie also sozusagen eine Art Persönlichkeitsprofil bzw. Schicksalsprofil entwerfen will, bedarf
es ganz besonders des Schutzes durch den Gesetzgeber.
({4})
Es ist schon angesprochen worden: Auf der anderen
Seite ist das auch eine große Herausforderung. Es darf
nicht sein, dass wir die Wissenschaft behindern. Wir
müssen sie aber in die Schranken weisen, die für den
Einzelnen verträglich sind. Es geht um den Schutz des
Einzelnen gegenüber der Wissenschaft und in der Gesellschaft, damit er nicht ausselektiert wird - egal aus
welchen Gründen. Das gilt auch für alle Arbeitgeber.
Davon nehme ich den öffentlichen Dienst ausdrücklich
nicht aus.
({5})
Wenn es um rein naturwissenschaftliche Feststellungen zu einem Patienten geht, dann ist das eigentlich
keine Beratung mehr, sondern eine wissenschaftliche
Untersuchung. Deswegen hat die Ärztekammer bereits
völlig zu Recht Richtlinien für die Beratung ausgearbeitet und erlassen. In der Regel muss der Aspekt der Hilfeleistung mit der Beratung verbunden sein. Wenn beispielsweise mehrere Schwangerschaften durch eine
Fehlgeburt beendet wurden, ist zu klären, welche Strukturen gegeben sind, welche Möglichkeiten das Elternpaar hat und ob eine weitere Schwangerschaft sinnvoll
ist.
Frau Widmann-Mauz hat bereits auf die Sequenzierung des Gencodes hingewiesen. Aber es gibt nach wie
vor sozusagen eine große Masse von Buchstaben. Wir
wissen zwar, dass es Buchstaben sein müssen, aber wir
kennen die einzelne Bedeutung der Buchstaben nicht.
Wir können sie allenfalls statistisch zuordnen. Wir kennen die Worte, also die größeren zusammenfassenden
Einheiten nicht. Wir wissen zum Beispiel nicht, wer einem menschlichen Gen sagt, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt das Wachstum einstellen soll. Das heißt,
wir kennen die übergeordneten Strukturen noch nicht.
Wir wissen schon gar nicht, unter welchen inneren
- psychischen - und äußeren Bedingungen - zum Beispiel Umwelteinflüssen oder sozialen Faktoren - eine
Krankheit ausbricht. Das gilt auch für den bereits erwähnten Brustkrebs.
Ich denke, wir müssen diesen Gesetzentwurf sorgfältig erarbeiten. Man kann sicherlich darüber streiten, ob
von vornherein 5 Millionen Euro jährlich für die Unterrichtung der Bevölkerung vorgesehen werden sollen. Ich
denke, das ist mit den ärztlichen Standesorganisationen
zu besprechen. Der Gesetzgeber muss aber meines Erachtens den klaren und eindeutigen Schutz der individuellen Rechte jedes Bürgers und jeder Bürgerin, und
zwar auch in der Wissenschaft, sicherstellen.
Heute Abend wird im Bundestag noch einmal das unselige Erbgesundheitsgesetz beraten. Man sollte dabei
berücksichtigen, was mit einem solchen Instrument der
Gendiagnostik geschehen könnte, wenn es in die falschen Hände kommt. Das muss verhindert werden.
({6})
Ich möchte zusammenfassen: Wir brauchen einen
größtmöglichen Schutz vor unzulässiger Verwendung.
Unzulässig ist die Auskunft an den Arbeitgeber und an
Versicherungen. Wir brauchen eindeutige gesetzliche
Qualifikations- und Qualitätsmaßstäbe für Untersuchung
und Beratung. Dies muss - auch das ist schon angesprochen worden - so klug gestaltet werden, dass die Forschung nicht verhindert wird.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Carola Reimann
für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In den letzten Jahren wurden große Fortschritte auf dem Gebiet der Humangenomforschung verzeichnet. Das menschliche Genom - das wurde bereits
angesprochen - ist sequenziert. Mithilfe und auf Basis
dieser Erkenntnisse wird es in zunehmendem Maße gelingen, diejenigen Erbgutveränderungen ausfindig zu
machen, die mit der Entstehung von Krankheiten verbunden sind.
Gleichzeitig ist das Verfahren der genetischen
Diagnostik längst nicht mehr nur auf den medizinischen
Bereich begrenzt und beschränkt. Die Bandbreite reicht
von Testverfahren zur Feststellung der Identität - Stichwort Forensik - über die Klärung historisch relevanter
Verwandtschaftsbeziehungen - ob in Königshäusern
oder anderswo - bis hin zu Abstammungstests, den sogenannten - und nicht ganz unumstrittenen - Vaterschaftstests.
Das größte Potenzial wird der Gendiagnostik aber
wohl in der Medizin zukommen, einem Bereich, der juristisch noch weitgehend ungeregelt ist. Deshalb ist in
unserem Koalitionsvertrag die Schaffung einer gesetzlichen Regelung in all den Bereichen vorgesehen - ich zitiere -,
die angesichts der Erkenntnismöglichkeiten der Humangenetik einen besonderen Schutzstandard erfordern, um die Persönlichkeitsrechte der Bürgerinnen
und Bürger zu schützen.
Sie soll zugleich die Qualität der Gendiagnostik sichern.
Hinter dem Begriff Gendiagnostik verbirgt sich eine
ganze Reihe von verschiedenen Testarten mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen. Diagnostische Tests
möchte ich deshalb von prädiktiven Tests unterscheiden
und abheben.
Diagnostische Tests unterscheiden sich grundsätzlich
nicht von anderen klinischen Untersuchungsbefunden.
Sie dienen der Diagnoseabsicherung bei der Abklärung
einer bereits klinisch manifesten Erkrankung. Die Qualität der Information ist somit auch keine andere als die
eines biochemischen oder phänotypischen Tests.
Prädiktive Tests dagegen zielen darauf ab, genetische Veränderungen zu entdecken, die später mit erhöhter oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu
einer Erkrankung führen werden. Sie zielen zurzeit - das
ist auch gesagt worden - in erster Linie auf monogene
Erkrankungen ab. Das sind Erkrankungen, die auf den
Defekt eines einzigen Gens zurückzuführen sind; sie
sind aber relativ selten. Insgesamt lassen sich etwa
2 Prozent bis 3 Prozent aller Erkrankungen auf solche
monogenetischen Veränderungen zurückführen.
Zurzeit gibt es nur einen einzigen mir bekannten prädiktiven Test mit einer hohen Vorhersagekraft, nämlich
den auf Chorea Huntington; das ist der erbliche Veitstanz. Dieser Test ist mit einer sehr hohen Vorhersagewahrscheinlichkeit und Vorhersagekraft ausgestattet.
Einige Forscher erwarten, dass bis zum Jahre 2010
für ein Dutzend Krankheiten vorhersagekräftige und in
die Zukunft blickende Tests existieren werden. Dabei
wird nach wie vor bei allen Tests ein großer Interpretationsspielraum bleiben, der eine fachliche Beratung unerlässlich macht.
In diesem Zusammenhang will ich auch auf Risiken
und Probleme bei der Durchführung prädiktiver Tests
hinweisen. Es lassen sich durchaus Genveränderungen
identifizieren, die mit Krankheiten assoziiert sind. Jedoch kann nicht sicher vorausgesagt werden, ob, wann
und in welcher Ausprägung eine Erkrankung später aufDr. Carola Reimann
tritt. Diese Problematik gewinnt an Brisanz, je größer
der Unterschied zwischen wachsendem Wissen auf der
einen Seite und den aktuell verfügbaren medizinischen
Handlungsoptionen auf der anderen Seite ist. Soll heißen: Die Möglichkeit der Diagnostik bedeutet nicht auch
immer die Möglichkeit der Behandlung. So stehen wir
vor dem ethisch-moralischen Problem, dass viele Krankheiten, die jetzt oder in naher Zukunft erkannt und vorhergesagt werden können, in absehbarer Zeit nicht behandelt und schon gar nicht geheilt werden können.
Genetische Informationen sind besondere und sensible Daten. Ihre Besonderheiten liegen darin, dass die
Vorhersagekraft über sehr lange Zeit besteht, dass sie
Implikationen für Familienangehörige haben können,
dass sie auch von Bedeutung für die Familien- und
Lebensplanung einzelner Menschen sind und zu ganz erheblichen psychischen Belastungen und Verunsicherungen führen können. Aufgrund dieser speziellen Eigenschaften werden sie immer auch Risiken sozialer,
ethnischer und eugenischer Diskriminierung darstellen.
Diese besonderen Eigenschaften und ihr Potenzial erfordern ein sehr hohes Schutzniveau gegen möglichen
Missbrauch.
({0})
Deshalb ist den möglichen Gefahren, die mit der genetischen Untersuchung des Menschen für den Schutz
und die Achtung der Menschenwürde, für seine Gesundheit und für seine informationelle Selbstbestimmung
verbunden sind, angemessen zu begegnen. Dieses
Schutzniveau muss aber - das sage ich gleichzeitig - die
Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen für
den Einzelnen wahren.
Diese Thematik ist in den vergangenen Jahren im
Bundestag intensiv bearbeitet worden, unter anderem
auch von der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“, der ich - neben vielen Kollegen,
die an der Debatte teilnehmen - auch angehören durfte.
Viele Aspekte des Berichts der Enquete-Kommission
finden sich im vorliegenden Gesetzentwurf der Grünen
wieder.
Eine Konsequenz aus dem beschriebenen Spannungsfeld war die Forderung der Enquete-Kommission, dass
genetische Tests nur freiwillig, begleitet von qualifizierter
fachlicher und psychosozialer Beratung, und von entsprechend qualifizierten Medizinern durchgeführt werden
dürfen. Das Recht des Einzelnen auf informationelle
Selbstbestimmung muss sichergestellt sein. Dazu gehören sowohl das Recht, die eigenen Befunde zu kennen,
also das Recht auf Wissen, als auch das Recht, es abzulehnen und die Befunde nicht zu kennen, also das Recht
auf Nichtwissen. Die Patienten müssen informiert sein,
damit sie ihre Entscheidung für oder gegen einen Test
auf der Basis von Wissen fällen können. So etwas ist nur
mit einem differenzierten Beratungssystem realisierbar.
Gleichzeitig dürfen wir aber nicht die Chancen und
die Potenziale genetischer Untersuchungen verkennen.
Die Gendiagnostik kann helfen, neue Wege zur Heilung
oder Linderung von Krankheiten aufzuzeigen. Es gibt
bereits genetische Tests, bei denen sich Menschen - Frau
Widmann-Mauz hat das bereits angesprochen - beispielsweise auf die Eisenspeicherkrankheit testen lassen
können. So startete im Jahr 2001 eine deutsche Krankenkasse ein Modellprojekt mit einem Gentest zur Früherkennung dieser erblichen Erkrankung. Der Modellversuch ermöglicht es, noch vor Ausbruch der
Eisenspeicherkrankheit gezielte Maßnahmen zu Frühdiagnose, Prävention und Behandlung einzuleiten - in
diesem Fall gelingt das schon mit einfachen Maßnahmen
wie einer regelmäßigen Blutspende -, sodass sich
schwerwiegende Spätschäden wie Herzschwäche, Diabetes und Leberkrebs verhindern lassen.
Auch in anderen Bereichen können Gentests helfen,
gezielt die richtige Therapie für die einzelne Patientin
und den einzelnen Patienten zu finden. Ein Beispiel ist
der Brustkrebs-DNA-Chip. Hier kann pharmakogenetische Diagnostik wesentlich dazu beitragen, dass die Therapie insgesamt sicherer, verträglicher und effizienter
wird, wenn vorab mit molekulargenetischer Diagnostik
geklärt werden kann, ob ein Therapieerfolg erreichbar erscheint. Ein Beispiel hierfür ist das Krebsmedikament
Herceptin, mit dem man vorab klären kann, ob die Frau
das Target, also die Zielstruktur, für das Medikament besitzt.
Diese Beispiele zeigen, dass die Forschung im Bereich der genetischen Untersuchung im Interesse des
Einzelnen Fortschritte gemacht hat und in Zukunft fortgesetzt werden muss. Aber auch hier gilt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten oder Probanden. Der
Betroffene muss selbst über Weitergabe und Weiterverwendung der persönlichen Daten bestimmen, die durch
genetische Untersuchungen gewonnen wurden. Gleiches
gilt natürlich auch für Aufbewahrung und Vernichtung
genetischer Proben.
Damit die notwendige Forschung und das hohe
Schutzniveau in Einklang zu bringen sind, ist darauf zu
achten, dass die aus genetischen Untersuchungen gewonnenen Daten nur unter strengen wie klaren Bedingungen für Forschungszwecke genutzt werden. Hierzu
zählt als Voraussetzung unter anderem die Einwilligung
des Betroffenen zur Nutzung der Daten. Die sensiblen
Daten müssen, wann immer es geht, anonymisiert werden und, falls nicht möglich, zumindest pseudonymisiert
werden, um Rückschlüsse auf die untersuchte Person zu
verhindern. Die enge Bindung der Forschung an diese
Voraussetzungen soll möglichen Missbrauch verhindern.
Gleichzeitig glaube ich, dass sich eine klare rechtliche
Rahmensetzung für die Forschung positiv auf die Akzeptanz der Forschungstätigkeit in diesen Bereichen auswirken wird. Kollege Schily, ich würde aber lieber von
Schutz in der Wissenschaft statt von Schutz vor der Wissenschaft
({1})
im Interesse der Probanden sprechen. Ich denke, sonst
sind wir uns einig.
({2})
Die genetische Diagnostik, speziell die prädiktiven
Tests zeigen aber auch Auswirkungen in anderen Lebensbereichen; das ist hier angeklungen. So gibt es immer wieder Vorschläge und Versuche, die gewonnenen
genetischen Daten in der Arbeitswelt und im Versicherungswesen zu verwenden. Das nährt Befürchtungen.
Befürchtet wird, dass aufgrund vorliegender genetischer
Untersuchungsdaten ein vollständiger oder teilweiser
Ausschluss vom Versicherungsschutz erfolgt oder
Schwierigkeiten bei der Arbeitsfindung und im Arbeitsverhältnis entstehen. Deshalb steht für uns fest: Wir
wollen keine Verwertung von Daten aus prädiktiven
Gentests bei Abschlüssen von Arbeits- und Versicherungsverträgen.
({3})
Hier sind allenfalls Ausnahmen unter sehr strengen Auflagen denkbar, wenn es um die Gefährdung Dritter geht,
zum Beispiel bei Piloten.
Ich denke, es ist uns allen deutlich geworden, dass der
Bereich der genetischen Diagnostik gesetzlicher Rahmenbedingungen bedarf. Wir müssen die berechtigten
Sorgen der Betroffenen und auch die berechtigten Interessen an besseren Diagnose- und Heilungsmöglichkeiten bzw. die Chancen, die diese bieten, sowie die
Möglichkeiten für die Forschung angemessen und ausgewogen berücksichtigen. Ich plädiere für eine gesetzliche Regelung mit Augenmaß, die ein hohes Schutzniveau der sensiblen Daten mit den Interessen der
Forschung - vor allem im Sinne der Betroffenen - an
neuen Optionen verbindet. Wir brauchen einen Gleichklang von verlässlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen - mit der Betonung auf dem Recht der informationellen Selbstbestimmung - und einer umfassenden
Aufklärung der Betroffenen über Potenziale wie Risiken
der genetischen Diagnostik. Auch diese Aspekte sind im
vorliegenden Gesetzentwurf enthalten, was ich durchaus
begrüße.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit dem heute zur Debatte
stehenden Entwurf eines Gendiagnostikgesetzes soll vor
allem der Missbrauch von Daten verhindert werden, die
durch genetische Untersuchungen beim Menschen gewonnen werden können, und es soll zusätzlich eine Qualitätssicherung erreicht werden. Es gibt viele Aspekte,
die in den Redebeiträgen hier schon zum Ausdruck gebracht wurden.
Ich glaube - das hat die bisherige Debatte recht deutlich gezeigt -, dieses Gesetz ist erforderlich und längst
überfällig. Ich habe nach diesen Debattenbeiträgen den
Eindruck, dass wir auch bei Unterschieden in einzelnen
Positionen und in Nuancen weitgehend in Übereinstimmung sind. Ich hoffe, dass die unendliche Geschichte in
dieser Legislaturperiode von uns gemeinsam zu Ende
gebracht und mehr Sicherheit für die Betroffenen geschaffen werden kann; denn das wird schon sehr lange
debattiert.
({0})
Unter Gendiagnostik versteht man die Untersuchung
von menschlichen Erbgutveränderungen mit Schlussfolgerungen für die Veranlagung für Krankheiten. Erkenntnisse aus solchen Tests werden - das wurde schon dargestellt - bereits heute sowohl in der Forschung als auch in
der Diagnostik und der medizinischen Behandlung zahlreich eingesetzt. Mit dem technischen Fortschritt sind
auf diesem Feld rapide Ausweitungen zu erwarten; die
„genetische Landkarte“ des Menschen wird immer detaillierter entschlüsselt - mit allen Folgen.
So werden große Erwartungen bei vielen Menschen
geweckt. Es besteht die Hoffnung, dass man mit der sich
ständig weiterentwickelnden Gentechnik nicht mehr
schicksalhaft an Erbleiden erkranken muss und dass
viele Krankheiten schon entdeckt werden können, bevor
sie überhaupt zum Ausbruch kommen. Durch den Einsatz von Gentests kann zum Beispiel die vererbbare,
schon mehrfach erwähnte Eisenspeicherkrankheit
Hämochromatose frühzeitig erkannt werden, die - das
hat Frau Widmann-Mauz schon gesagt - Leber, Bauchspeicheldrüse und Herz unter anderem schwer schädigen
kann. Mit einer rechtzeitig einsetzenden Behandlung
lässt sich der Erkrankungsverlauf positiv beeinflussen.
Doch bei den allermeisten anderen Gentests ist ein solcher gesundheitlicher Nutzen - auch das wurde schon
angesprochen - für die Betroffenen derzeit nicht zu erkennen, da es dazu kaum entsprechende Therapien gibt.
Gentests sollten daher nach meiner Auffassung dann
verwendet werden, wenn sie einen gesundheitlichen
Nutzen bringen.
({1})
Zusätzlich müssen sie zuverlässig und aussagefähig sein
und auf Freiwilligkeit beruhen. Damit die getesteten
Menschen durch die Testergebnisse nicht in Ängste gestürzt werden, müssen umfassende Aufklärung, Beratung und bei Bedarf auch psychosoziale Betreuung gewährleistet sein.
({2})
Der im Gesetzentwurf enthaltene Vorschlag, dass darüber eine Kommission befinden soll, ist nach unserer
Auffassung der richtige Ansatz.
Ein weiteres Problem: Eine genetische Untersuchung
informiert nicht nur über die getestete Person, sondern
sie gibt auch Hinweise über Krankheitsveranlagungen
von Eltern, von Geschwistern, von Kindern und von
weiteren Angehörigen, zum Beispiel über die Wahrscheinlichkeit, an Parkinson zu erkranken. Ich gehe davon aus, dass nicht jeder ohne vorherige Beratung seine
Zustimmung gibt, Informationen über seine möglichen
Erbgutveränderungen zu erhalten. Diese Informationen
können unter Umständen psychisch sehr belastend sein
und erhebliche Auswirkungen auf die Lebensplanung
des Einzelnen haben. Jeder Mensch besitzt - Frau
Widmann-Mauz hat dies richtigerweise gesagt - ein
Recht auf Nichtwissen. Das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung wurde vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich verankert und könnte durch bestimmte Entwicklungen ausgehebelt werden, wenn gesetzliche Regelungen dem nicht entgegenstehen.
Ich möchte auf eine weitere Gefahr hinweisen: Arbeitgeber könnten genetische Tests einfordern und eine
mögliche Einstellung, Weiterbeschäftigung oder Arbeitsvertragslaufzeiten davon abhängig machen. Wer
erblich belastet ist und öfter oder schwer erkranken
könnte, erleidet dann unter Umständen berufliche
Nachteile. Auch dies wurde schon angesprochen.
Beispielsweise wurde der Fall einer Lehrerin in Hessen bekannt, die erst über ein Gerichtsverfahren im
Jahre 2004 ihre Verbeamtung durchsetzen konnte. Ihr
wurde die Verbeamtung zunächst verweigert, weil ihr
Vater an der Nervenkrankheit Chorea Huntington litt, die
mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit vom Vater auf die
Tochter vererbt werden kann. Die Lehrerin wollte sich
keinem Gentest unterziehen und auch nicht wissen, ob
sie in einigen Jahren an dieser nicht behandelbaren Erkrankung leiden wird, und sie bekam vor Gericht recht.
({3})
Auch private Krankenversicherungen und Lebensversicherungen haben ein großes Interesse an der Gendiagnostik. Ich nehme an, dass alle Abgeordneten, die heute
hier und später in den Ausschüssen zu diesem Thema reden, genauso wie ich von den entsprechenden Lobbyisten auf das heute zu beratende Gesetz angesprochen
wurden.
({4})
Es darf nicht rechtens sein, dass Versicherungen höhere Prämien kassieren können, wenn in der Familie einer Frau gehäuft Brustkrebs auftritt. Solche Erkenntnisse
über die Erbanlagen von Menschen, die nicht direkt über
genetische Testverfahren gewonnen wurden, müssen
ebenfalls diskriminierungsfrei bleiben und dürfen nicht
zu höheren Tarifen führen.
({5})
Wir brauchen also, erstens, ein Gesetz, das in klarer
Weise die Benachteiligung bzw. die Ausgrenzung von
Menschen unterbindet, die eine vererbte Veranlagung zu
Krankheiten haben.
Zweitens brauchen wir weitergehende Regelungen
zum Schutz vor Diskriminierung für diejenigen Menschen, über die auch ohne Gentests entsprechende medizinische Informationen - dies ist etwa bei Frauen mit
Brustkrebshäufung in der Familie der Fall - vorliegen.
Drittens müssen wir den Schutz bereits Erkrankter
oder Behinderter vor Benachteiligung ausbauen und
stärken. Die Linke sagt: Dieses Gesetz muss verhindern,
dass Menschen ausgegrenzt und diskriminiert werden.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
wurde schon gesagt: Die Untersuchung des menschlichen Genoms bietet Chancen und Risiken. Ich will darauf hinweisen, dass man zum Beispiel durch die Kenntnis bestimmter Genvarianten über die Dosierung von
blutverdünnenden Mitteln entscheiden kann; so etwas ist
wichtig. Die Eisenspeicherkrankheit - ich verweise auf
die Ambivalenz des Wissens, das man darüber gewinnt wurde bereits erwähnt.
Angesichts der Chancen, aber auch der Risiken ist zu
sehen, dass genetische Daten hochsensible Daten sind.
Warum? Weil sie zum Teil Aussagen über die Zukunft
liefern, weil sich aus ihnen häufig statistische Wahrscheinlichkeiten ableiten lassen - was fängt ein Mensch
zum Beispiel mit der Aussage an, dass er mit einer
Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent an Darmkrebs erkranken wird? - und weil sie Aussagen auch über Angehörige des Betroffenen ermöglichen. Deswegen ist es
wichtig, dass Gentests nicht über das Internet vertrieben
werden; gendiagnostische Methoden dürfen vielmehr
nur von einem Arzt oder einer Ärztin angewendet werden. Es muss genaue Regelungen der Information und
Aufklärung der Betroffenen geben, damit eine informierte Entscheidung möglich ist. Das müssen wir regeln.
In der Praxis ist das bisher nicht selbstverständlich.
({0})
Es gibt aber auch Bedarf für gesellschaftliche Grenzziehung. Ein Beispiel: Was würde man mit der Aussage
anfangen, dass man im Laufe des Lebens mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten von etwa 100 Krankheiten betroffen sein kann? So etwas wäre möglich,
wenn ein Genchip nach Art eines Rasenmähers alles untersuchen könnte, was einem so einfällt. Wir sind uns
wohl einig darüber, dass das auszuschließen ist.
Ein anderes Beispiel. Neulich lautete eine Titelzeile:
Embryo-Screening auf Brustkrebsgen. - Worum geht es?
In Großbritannien wurde ein Antrag gestellt, nach dem
es möglich sein soll, Embryonen im Reagenzglas zu untersuchen mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass ein Mensch weiblichen Geschlechts später
an Brustkrebs erkranken könnte. Dazu kann man nur sagen: Es ist gut und richtig, dass wir in Deutschland das
Verbot solcher Methoden kennen. Es sollte beim Verbot
der Untersuchung von Embryonen im Reagenzglas
auf genetische Defekte bleiben.
({1})
Gentests zur Geschlechtsbestimmung werden bereits im Internet angeboten. Auf deutschen Internetseiten
wird immerhin noch auf Ärzte verwiesen und darauf,
dass sie das Ergebnis erst nach der zwölften Schwangerschaftswoche mitteilen dürfen. Woanders ist das schon
wieder anders. Es muss klar sein: Solche gendiagnostischen Methoden dürfen nur medizinischen Zwecken dienen, und - das füge ich hinzu - sie sollten sich nur auf
Krankheiten beziehen dürfen, die nicht - wie Brustkrebs erst im Erwachsenenalter ausbrechen. Die Untersuchung
auf solche, wie man in der Fachsprache sagt, spätmanifestierenden Krankheiten muss ausgeschlossen werden; denn wir wissen - ich schaue Sie an, Herr Kollege
Hüppe -, dass es keine Therapie gibt, weswegen das nur
zu Abtreibungen führen würde. Ich glaube, das will niemand von uns.
({2})
Ich komme zum Thema Forschung und zitiere ein
paar Daten aus dem TAB-Biobankenbericht. Demnach
gibt es in Deutschland etwa 40 kleinere und größere Biobanken mit genetischen Daten. Die größte davon
- 45 000 Proben - stammt aus dem nationalen Genomforschungsprojekt.
Es gibt aber auch etwa 3 Millionen Blutproben beim
Bayerischen Roten Kreuz. Davon werden 100 000 von
jeweils 5 000 Kranken und 5 000 Gesunden der Pharmaindustrie für kommerzielle Forschung zur Verfügung gestellt. Welche Pharmaunternehmen das sind und was dafür bezahlt wird, das bleibt das Geheimnis des
Bayerischen Roten Kreuzes.
Der Leiter der popgen-Biobank sagt selbst, er schätze,
dass in seinem Bereich 90 Prozent der Menschen, die
ihre Einwilligung für die Verwendung in der Forschung
geben, nicht wirklich wissen, worüber sie entscheiden.
Da ist immerhin noch von Einwilligung die Rede. Wir
wissen aus verschiedenen Berichten, dass es selbst an renommierten Instituten nicht unbedingt üblich ist, überhaupt die Einwilligung der Patienten einzuholen, wenn
man mit ihren Daten Forschung betreibt. Auch wir wissen nicht, wo unsere Proben möglicherweise lagern und
was damit gemacht wird. Hier gibt es ganz dringenden
Regelungsbedarf.
({3})
Schließlich will ich darauf hinweisen, dass 3 Millionen personenbezogene Blutproben die Neugier von Polizei und Verfassungsschutz wecken könnten. Es ist gut,
dass gerade in diesen Tagen wieder eine große Sensibilität für die Frage entstanden ist: Welche Daten sollen
diese Behörden erheben bzw. nutzen können? Es muss
klar sein, denke ich, dass wir ein Forschungsgeheimnis
brauchen. Das soll nicht bedeuten „Geheimnis um die
Forschung“, sondern soll heißen: Wenn Daten für die
Forschung erhoben wurden, dann müssen sie auch genau
da bleiben. - Nach dem Mautgesetz dürfen die Daten der
Lkw-Fahrten auch nicht an die Polizei weitergereicht
werden.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Wir als Grüne haben auf Vorarbeiten aus der
letzten Legislaturperiode zurückgegriffen; das ist kein
Geheimnis. Uns unterscheidet von anderen, Herr Kollege Hüppe, dass wir nicht einfach einen Antrag geschrieben haben, in dem wir die Forderungen der
Enquete-Kommission, so richtig sie sind, nacheinander
aufgelistet haben.
Frau Kollegin, die Redezeit ist verbraucht.
Wir haben einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf vorgelegt. Ihnen von der Koalition kann ich nur raten: Finden Sie nicht jede Woche eine neue Ausrede dafür, dass
Sie nichts tun. Die Eckpunkte sind schon lange angekündigt. Schieben Sie es nicht auf die lange Bank. Das wäre
hier wirklich die falsche Handbewegung.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Hubert Hüppe von der
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
vorliegenden Antrag greift die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen ein Anliegen auf, mit dem wir uns in diesem
Hause in der Tat schon auf verschiedene Art und Weise
beschäftigt haben. Schon die Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ hat sich
- es wurde gerade erwähnt - in der 14. Wahlperiode mit
dem Thema genetischer Tests befasst
({0})
und hat - in der Tat, Herr Kollege - gute Arbeit geleistet.
Wir hatten einen guten Vorsitzenden und auch einen guten stellvertretenden Vorsitzenden.
({1})
Wir haben entsprechende Empfehlungen bekommen.
Frau Bender, auch die CDU/CSU hat diese Empfehlungen übernommen, weil sie richtig sind. Ich denke, sie
unterscheiden sich nicht wesentlich von den Empfehlungen in Ihrem Antrag.
({2})
Deshalb bedauern wir, dass wir unter den letzten beiden
rot-grünen Bundesregierungen im Bundestag leider keinen Gesetzentwurf vorgelegt bekommen haben. Es gab
einen Diskussionsentwurf vom damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, der jedoch
nie ins parlamentarische Verfahren gekommen ist. Daher
wäre ich vorsichtig damit, uns vorzuwerfen, wir würden
dies verlängern. Wir mussten eine Menge aufräumen.
Ich denke auch an das Gewebegesetz, das wir heute
Abend beraten werden. Dieses Gesetz hätte schon längst
umgesetzt werden können. Lassen Sie uns ein wenig
Luft holen. Wir werden dieses Gesetz einbringen, denn
wir haben das Vorhaben in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben, weil wir es für genauso wichtig halten wie
Sie, und nachdem ich heute die Reden gehört habe,
glaube ich, dass von keiner Fraktion und von keinem
Mitglied des Hauses bestritten wird, dass ein Gendiagnostikgesetz sinnvoll und notwendig ist.
({3})
Es geht darum, die Persönlichkeitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern zu schützen. Gleichzeitig geht es in
einem solchen Gesetz auch darum, die Qualität der
genetischen Diagnostik zu gewährleisten. Es wurde
schon häufig angesprochen: Gentests tragen vor allem
das Potenzial von Diskriminierung, aber auch - was weniger thematisiert wurde - das Potenzial von Selektion in
sich. Beides könnte in vielen Lebensbereichen geschehen. Einige Beispiele hat Frau Bender genannt. Die Präimplantationsdiagnostik ist in Deutschland Gott sei
Dank nicht zugelassen. Hier brauchen wir nicht nur irgendwelche Regelungen ohne Konsequenzen, sondern
aus meiner Sicht klare Schranken und klare Verbote.
In den kommenden Beratungen können wir auf die
Erfahrungen anderer Länder zurückgreifen. Österreich
hat seit Jahren ein Gesetz. Es wäre gut, einmal zu hören,
was sich dort bewährt hat oder wo es möglicherweise
Lücken gibt. Wir könnten daraus lernen. Wenn das auch
in der Schweiz geschehen ist, dann könnte man sicherlich auch diese Erfahrungen in ein Gesetzesverfahren
einfließen lassen.
Wenn man sich in der Öffentlichkeit umhört, dann
wird über das Thema Gendiagnostik gar nicht so sehr
diskutiert. Das ist seltsam. Man spricht immer von der
Gentechnik, wobei die Gentechnik am Menschen kaum
eine Rolle spielt. Die Keimbahntherapie ist zum Glück
verboten. Sie würde nicht nur dazu führen, dass ein
Mensch mit neuen genetischen Möglichkeiten neu kreiert würde. Herr Schily, von diesen Möglichkeiten weiß
man allerdings wenig. Man kennt viele Buchstaben, aber
man weiß nicht, wie das Buch letztlich enden wird, wenn
man die Buchstaben verändert. Das würde möglicherweise nicht nur diesen Menschen verändern, sondern
auch alle nachfolgenden Generationen, ohne dass sie je
gefragt werden könnten. Heute weiß man zwar, dass
manche genetischen Eigenschaften, mit denen ein
Mensch lediglich Träger eines Krankheitsmerkmals ist,
die aber nicht zu einem Krankheitsausbruch geführt haben, dazu führen können, dass nachfolgende Generationen möglicherweise an einer Krankheit erkranken. Man
weiß aber auch, dass die Trägerschaft mancher Krankheitsmerkmale wahrscheinlich auch einen Schutz vor anderen Krankheiten mit sich bringt. Zum Beispiel vermutet man bei der Sichelzellenanämie, dass sie gegen
andere Krankheiten einen Schutz darstellt.
Meine Damen und Herren, bei der somatischen Gentherapie haben wir sehr viele Hoffnungen gehabt; aber
leider sind viele Hoffnungen geplatzt, obwohl ich sagen
muss, dass das, wenn man bei den Versuchen das Risiko
beherrschen und ausschließen kann, sicherlich ein Forschungsgebiet ist, bei dem eigentlich niemand ethische
Bedenken haben kann.
Allerdings gibt es eine Menge Fortschritte in der genetischen Forschung, die viele neue diagnostische und
dadurch möglicherweise auch therapeutische Möglichkeiten eröffnen. Aber auch bei der Gendiagnose gab es
zahlreiche Enttäuschungen. Ich denke an das Projekt in
Estland. Da hat man ein Humangenomprojekt durchführen wollen, das inzwischen eingestellt worden ist. Gleiches gilt für Island. Und wenn Sie sich noch erinnern,
wie damals Craig Venter in Amerika gefeiert worden ist,
der angeblich das menschliche Genom entschlüsselt hat,
muss man sagen: Inzwischen spricht kein Mensch mehr
darüber, weil man mit den Buchstaben nicht allzu viel
anfangen kann, wenn man nicht weiß, welche Wörter
man daraus bilden kann.
Trotzdem können genetische Tests zur Absicherung
einer Diagnose beitragen. Sogenannte pharmakogenetische Tests können helfen, genetisch bedingte Empfindlichkeiten für bestimmte Wirkstoffe abzuklären. Das
würde die individuell richtige Auswahl und Dosierung
von Medikamenten erleichtern, und, was noch viel wichtiger ist, schädliche, womöglich sogar tödliche Nebenwirkungen könnten verhindert werden.
Prädiktive, also vorhersagende, genetische Tests geben Anhaltspunkte über mögliche Risiken einer zukünftigen Erkrankung oder Behinderung. Diese prädiktiven
Tests können möglicherweise helfen, einer Krankheit
vorzubeugen, etwa durch Anpassung der Lebensgewohnheiten.
Die Forschung entdeckt immer mehr Gene, die mit
der Entstehung von Krankheiten in Verbindung gebracht
werden. Aber leider liegen die heutigen therapeutischen
Möglichkeiten weit hinter dem zurück, was diagnostisch
möglich ist. Man kann zwar eine Vielzahl von Krankheiten erkennen und diagnostizieren; aber sie können nicht
geheilt werden. Das ist das Dilemma.
In der Tat sind genetische Daten sensible, hochpersönliche Gesundheitsdaten. Sie sind von dem Betroffenen nicht beeinflussbar. Genetische Daten bergen - ich
glaube, auch darüber sind wir uns hier einig - das Risiko
sozialer, ethnischer und eugenischer Diskriminierung
in sich. Wir wollen den wissenschaftlichen Fortschritt.
Aber gerade angesichts der positiven Chancen genetischer Diagnostik müssen die Menschen sicher sein können, dass ihre Daten nicht zu ihrem Nachteil genutzt
werden. Sie müssen sicher sein können, dass es nicht ihr
Schaden ist, wenn sie genetische Diagnostik in Anspruch nehmen. Im Übrigen zeigt die gesamte bioethische Debatte in Bezug auf Forschung in der Medizin,
dass ein Gesetz, das Schranken aufstellt, die Forschung
nicht behindern muss, sondern sie auch befördern kann,
weil die Menschen keine Angst vor diesem Bereich haben, wenn sie wissen, dass ethische Standards eingehalten werden.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Recht auf
Selbstbestimmung im Bereich der Gendiagnostik muss
sichergestellt sein. Gentests sind grundsätzlich an die
freie und informierte Zustimmung des Betroffenen zu
binden. Dazu gehört sowohl das Recht auf Kenntnis genetischer Befunde als auch das Recht auf Nichtwissen.
Allerdings kann das schon dann problematisch werden,
wenn nahe Verwandte einen Gentest durchführen lassen,
weil dieser nicht nur etwas über die getestete Person aussagt, sondern möglicherweise auch über die Erbanlagen
der Eltern bzw. Kinder oder der Geschwister. Das Recht
auf Nichtwissen wird wahrscheinlich selbst bei Ihrem
Gesetzentwurf - aber auch mir fällt da nichts Besseres
ein - nicht in jedem Fall sicher gewährleistet werden
können.
Das Recht auf Nichtwissen bedeutet auch, dass Menschen vor jeder Form der Diskriminierung zu schützen
sind, wenn sie genetische Untersuchungen nicht in Anspruch nehmen wollen. Gentests an Minderjährigen oder
nicht einwilligungsfähigen Menschen erfordern besonders hohe Schutzstandards. Gentests, die nur im Interesse
Dritter an nicht einwilligungsfähigen Personen durchgeführt werden, sind deshalb nicht akzeptabel und müssen
verboten werden.
Genauso unzulässig sind genetische Untersuchungen
an Minderjährigen auf Erkrankungen, die erst wesentlich
später im Leben des Betroffenen auftreten können. Wenn
sie nicht notwendig sind, um unmittelbare therapeutische oder präventive Konsequenzen ziehen zu können,
sind sie unzulässig.
Meine Damen und Herren, die heute am meisten verbreiteten genetischen Tests finden im Rahmen der Pränataldiagnostik statt. Kein anderer Lebensabschnitt hat
heute so viel mit genetischer Diagnostik zu tun wie die
Schwangerschaft. Während eine schwangere Frau früher
im wahrsten Sinne des Wortes guter Hoffnung war, so
muss eine Schwangere heute ihre Gefühle gegenüber
dem Ungeborenen bis zum Testergebnis zurückstellen.
Die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ hat sich 2005 in einer ganztägigen Expertenanhörung mit dieser Problematik befasst. Es gibt tatsächlich die Tendenz, dass Diagnostik zur Selektion
führen kann.
Wir müssen heute davon ausgehen, dass über
90 Prozent der Kinder, bei denen Downsyndrom oder
Spina bifida diagnostiziert werden, abgetrieben werden.
Dabei birgt die Diagnostik selbst bereits das Risiko, dass
das Kind im Mutterleib stirbt.
({5})
Der Enquete-Bericht spricht im Falle einer Fruchtwasseranalyse von einem Fehlgeburtsrisiko von 0,5 Prozent,
bei der Chorionzottenbiopsie sogar von 2 bis 4 Prozent.
Das heißt, dass möglicherweise bis zu vier von 100 Kindern deswegen sterben müssen, weil ein Test durchgeführt wurde. Im Übrigen ist dies nicht zuletzt ein Eingriff, in den der Hauptbetroffene, also das Kind, nicht
einwilligen kann.
Hier stellt sich auch die Frage, ob solche Tests von
den Krankenkassen zu finanzieren sind. Diese Frage
stellt sich insbesondere dann, wenn ein diagnostischer
Befund nicht zur Einleitung einer Therapie führt, weil es
nämlich gar keine Therapie gibt. Bei einem Menschen
mit Downsyndrom gibt es keine Therapie. Aber auch
dies will ich sagen: Wer solche Menschen kennt, weiß,
dass sie nicht, wie es immer heißt, am Downsyndrom
leiden; sie haben Downsyndrom. Sie leiden höchstens an
der Reaktion der Menschen, die damit nicht umgehen
können.
({6})
Deswegen befürworte ich wie auch die Grünen im
vorliegenden Antrag ein Verbot vorgeburtlicher prädiktiver Tests, wenn sie nicht zum Nutzen des Kindes
während der Schwangerschaft sind. Denn ein pränataldiagnostisch erhobener Befund wirft Probleme auf,
wenn das Kind zur Welt kommt. Was machen wir eigentlich, wenn solche Untersuchungen von Kindern problematische Ergebnisse zeigen? Wie gehen wir dann mit
diesen Daten um? Wie gehen das Kind und die Eltern
mit diesen Daten um? Wie gehen die Lebensversicherungen, die privaten Krankenversicherungen und die Arbeitgeber damit um?
Ich denke, viele Menschen werden erst durch ihr Wissen krank, dass sie ein Gen besitzen, das irgendwann zu
einer Krankheit führen kann. Das kann zwar so sein, es
muss aber - mit Ausnahme von ganz wenigen Fällen wie
Chorea Huntington - nicht so sein.
({7})
- In der Tat. Ich habe heute Morgen einmal im Internet
nachgeschaut, was unter Chorea Huntington zu verstehen ist. Diese Krankheit, für die es vorgeburtliche Untersuchungen gibt, bricht in der Regel im Erwachsenenalter
von 30 bis 40 Jahren aus. Es gibt aber Fälle, in denen die
Krankheit im Alter von drei Jahren oder erst im Alter
von 75 Jahren auftritt. Was soll man also mit der Information, dass man davon möglicherweise betroffen ist,
anfangen? Bei unbehandelbaren Krankheiten ist es besser, wenn die Menschen nicht wissen, was in ihren Genen versteckt ist. Eine genaue Prognose kann man sowieso nicht abgeben.
Gerade bei der vorgeburtlichen Untersuchung ist es
ganz wichtig, dass es eine qualifizierte Beratung gibt,
und zwar nicht erst nach dem Test, sondern schon vor
dem Test. Mir ist es sehr wichtig, dass man die Menschen, bei denen eine Behinderung festgestellt wurde,
nicht vergisst. Es wäre sehr gut, wenn man die Betroffenen selbst und ihre Angehörigen in die Beratung einbeziehen würde. Sie könnten dann ihre Erfahrungen einbringen. Man könnte dadurch außerdem deutlich
machen, dass nicht jede Behinderung gleichzeitig Leid
bedeuten muss.
({8})
Eines lehrt uns die Erfahrung: Hat sich eine Gesellschaft erst einmal an solche Tendenzen, denen wir vorbeugen wollen, gewöhnt und hat sich erst einmal eine
entsprechende Praxis etabliert, dann ist eine Korrektur
kaum noch möglich. Die heutige Debatte hat deutlich
gemacht, dass wir uns über Koalitions- und Fraktionsgrenzen hinweg einig sind, das Gesetz noch in dieser
Wahlperiode zu verabschieden. Lasst uns also an die Arbeit gehen!
Vielen Dank fürs Zuhören.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Kauch, FDPFraktion.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist schon angesprochen
worden: Die Enquete-Kommission hat sich in der
14. Wahlperiode mit dem Thema beschäftigt, und auch
der Nationale Ethikrat hat sich mit der Problematik von
Gentests befasst und sich zumindest zu dem Bereich des
Arbeitsmarktes in einer Stellungnahme geäußert. Das
war im August 2005. Diese Stellungnahme sollte in der
weiteren Debatte beachtet werden. Hinsichtlich dieses
Punktes ist sie an einigen Stellen etwas differenzierter
als der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen.
Für uns Liberale ist klar: Schwächen und Fehler gehören zum Menschsein, und deshalb dürfen Einstellungsuntersuchungen mit Gentests eben nicht zur Selektion führen. In diesem Punkt unterstütze ich Kollegen
Hüppe nachdrücklich. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt, den wir hier beachten müssen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Krankheit ausbricht, ist keine
Rechtfertigung dafür, dass man jemanden heute schon
aus dem Arbeitsprozess aussondert, obwohl es nur eine
Wahrscheinlichkeit gibt, dass bei ihm eine Berufsunfähigkeit eintritt.
({0})
Deshalb muss man ganz klar den Fokus darauf legen,
Breitbandverfahren, mit deren Hilfe nach genetischen
Veranlagungen gesucht wird, bei Einstellungen auszuschließen. Hierzu ist eine gesetzliche Regelung notwendig. Eine Ausnahme möchte ich allerdings machen
- Kollegin Reimann hat sie in einem Nebensatz angesprochen -, nämlich dann, wenn es um die Sicherheit
Dritter geht, also dann, wenn man möglicherweise wie
bei Piloten Gefährdungen aufgrund von Krankheiten
ausschließen will, die vorhersagbar sind, aber deren
Symptome noch nicht eingetreten sind. Hier ist vielleicht
eine andere Abwägung zu treffen; das ist zumindest zu
diskutieren. Diese Haltung vertritt auch der Nationale
Ethikrat in seiner Stellungnahme von 2005.
Der Nationale Ethikrat hat einen weiteren Punkt angesprochen, nämlich die Frage des öffentlichen Dienstrechts. Dabei geht der Arbeitgeber ein lebenslanges Fürsorge- und Versorgungsverhältnis ein, aus dem er - anders
als beim Arbeitsvertrag eines privaten Arbeitgebers nicht aussteigen kann. Hinsichtlich dessen äußert der
Nationale Ethikrat, dass man hier unter gewissen Bedingungen abwägen müsse, ob man die Verwendung von
Informationen aus Gentests zulässt. Das halte ich dann
schon für einen schwierigeren Abwägungsprozess als in
Fällen, bei denen es um die Sicherheit Dritter geht, aber
durchaus für eine Frage, über die man auch aufgrund der
besonderen Situation im öffentlichen Dienst diskutieren
muss: Will man das tatsächlich, oder sagt man, hier
treffe man die Abwägung anders? Dieser Punkt muss
Gegenstand der Debatte über den Gesetzentwurf sein.
Ich bin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dankbar,
dass sie mit diesem Gesetzentwurf die Debatte hierzu
anstößt; wir sollten sie sachlich und fraktionsübergreifend führen.
Generell gilt für uns als FDP, dass Gentests immer
freiwillig sein müssen. Der Betroffene muss seine
Zustimmung dazu geben, es muss zuvor Aufklärung
und eine Beratung gegeben haben, und der Datenschutz muss gesichert sein. Dazu gehört eben auch, dass
die ärztliche Schweigepflicht nicht weiter durchlöchert
wird, sondern dass wir sie stärken.
({1})
Das Recht auf Nichtwissen ist angesprochen worden, aber hier bestehen natürlich auch Grenzen, nämlich
die, die Kollege Hüppe angesprochen hat: Gentests in
der Familie sagen natürlich auch etwas über einen selbst
aus. Aber wenn Sie kein Redeverbot in der Familie verhängen wollen, werden Sie das wohl hinnehmen müssen.
Es wird keine Möglichkeit geben, dies auszuschließen.
In diesem Sinne wünsche ich uns gute Beratungen zu
diesem Gesetzentwurf, damit wir hier zu einer Linie
kommen, die dann vielleicht auch zu einer fraktionsübergreifenden Lösung führt.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist gerade einmal sechs Jahre her, dass die
Nachricht um die Welt ging, das menschliche Genom sei
nun komplett entschlüsselt. Das heißt, die Erbinformation des Menschen ist fast bekannt.
Wenn man sich das an einem anderen Beispiel vor
Augen führt, stellt sich die Frage: Was bedeutet das? Wir
haben jetzt eine Bibliothek mit 3 000 Büchern, jedes
Buch hat 1 000 Seiten, und auf jeder Seite sind etwa
1 000 Buchstaben hintereinander in ihrer Abfolge zu lesen, allerdings in einer Sprache, die wir eigentlich noch
nicht verstehen, viel zu wenig verstehen oder noch nicht
richtig verstanden haben. Wir wissen viel weniger, als
wir technisch können. Von einer Reihe von Genen oder
Genveränderungen wissen wir, dass sie mit Sicherheit
zur Entstehung einer Krankheit führen. Wir kennen aber
nicht den Zeitpunkt des Ausbruchs dieser Krankheit. Wir
wissen nicht, ob das sofort, in zehn, 30 oder 40 Jahren
der Fall sein wird. Häufig kann auch nur vermutet werden, dass ein Gen an der Entstehung einer Krankheit beteiligt ist. Es kann eine Wahrscheinlichkeit angegeben
werden, ob eine Krankheit überhaupt ausbricht; aber
letztlich wissen wir dies nicht.
Eine 18-jährige gesunde Frau ohne Symptome kann
im Internet einen Gentest bestellen und testen lassen, ob
sie etwa eine Veranlagung zu Brustkrebs hat. Sie bekommt dann möglicherweise die Antwort, dass sie mit
50-prozentiger Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs erkranken kann, vielleicht in 20, 30 oder 40 Jahren oder auch
gar nicht. Ist das eine sinnvolle Information? Ich glaube,
wir sind uns ziemlich einig, dass das keine sinnvolle Information ist.
Nun zum Kernproblem von Gentests. Sie sind dann
nützlich, wenn es um eine Krankheit geht, die man therapieren kann, bei der es eine Möglichkeit gibt, sie zu verhindern. Gentests werden dann problematisch, schädlich, zur Last oder Bürde eines Menschen, wenn man
zwar eine Auskunft darüber erhält, ob eine Krankheit
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit - oder eben gar
nicht - ausbricht, man diese Krankheit aber nicht therapieren kann, wenn es also auf die Antwort, die man
durch einen Gentest bekommt, keine sinnvolle Verhaltensweise gibt.
({0})
Diese Information kann ein Leben verändern, manchmal sogar dramatisch. Sie kann - das ist schon gesagt
worden - nicht nur das eigene Leben verändern, sondern
auch das derjenigen Menschen, die um einen herum leben. Wenn es um eine vererbbare Krankheit geht und ich
die Information bekomme, dass ich sie in mir trage und
sie vielleicht in 20 oder 30 Jahren ausbricht, dann bedeutet das, dass sich auch meine Eltern, meine Geschwister
und meine Kinder Gedanken machen oder Gedanken
machen müssen, ob sie vielleicht Träger dieser Krankheit sind. Sie fragen sich: Haben der Test, den mein Vater oder mein Bruder hat vornehmen lassen, und die
Auskunft, die er bekommen hat, auch für mich eine Auswirkung? Das kann dazu führen, dass die Unsicherheit
über das Entstehen oder Ausbrechen einer Krankheit wie
ein Damoklesschwert über dem Leben eines Menschen
hängt.
Ich habe in der Debatte Folgendes gemerkt: Wir alle
sind uns einig: Wir brauchen in unserem Land im Zusammenhang mit Gentests eine Regelung, die unsinnige Gentests vermeidet, die das informationelle Selbstbestimmungsrecht des Menschen bzw. des Patienten ermöglicht.
Dazu gehört - auch darüber sind wir uns einig - eine umfassende Aufklärung über Zweck und Aussagekraft eines
Gentests und über mögliche Therapien nach einem Gentest. Zu dieser Regelung gehört auch das Recht auf Nichtwissen. Wie gerade in meinem Beispiel angedeutet, muss
man das Recht haben, die Mitteilung eines Befundes abzulehnen.
Dazu gehört, dass niemand zu einem Gentest gezwungen werden darf
({1})
und dass niemand von einem Gentest Gebrauch machen
darf, um einen Vorteil zu erlangen. Dazu gehört, dass
niemandem ein Versicherungsschutz und der Abschluss
einer Versicherung verwehrt werden dürfen; das ist ganz
wichtig. Wir sehen, dass in anderen Ländern schon zum
Beispiel getestet wird, ob eine Veranlagung zu Morbus
Huntington besteht, und man eine Lebensversicherung
nur dann abschließen kann, wenn man dies ausschließen
kann - mit fürchterlichen Konsequenzen, wenn das nicht
der Fall ist: keine Lebensversicherung, kein Kredit, kein
Haus, keine Zukunft. Dazu gehört auch, dass niemand
am Arbeitsplatz oder bei einer Einstellungsuntersuchung
wegen seiner genetischen Ausstattung diskriminiert werden darf.
Die Probleme solcher Regelungen ergeben sich übrigens im Detail. Natürlich sind wir alle froh, wenn bei einem Elektriker mit einer einfachen Ishihara-Farbtafel ein
Rot-Grün-Farbtest durchgeführt wird - das ist im Prinzip
mit einem Gentest vergleichbar -, damit er keine Kabel
vertauscht. Das bezieht sich auf das, was Kollegin
Reimann und Herr Kauch ansprachen: Es gibt eben auch
eine besondere Verpflichtung gegenüber Dritten, was in
der Detaildebatte eine besondere Rolle spielen wird und
spielen muss.
Es sei mir als Forschungs- und Wissenschaftspolitiker
erlaubt, einige weitere Punkte anzumerken. In der Untersuchung des menschlichen Genoms und der Erbinformationen steckt ein gewaltiges Potenzial zur Bekämpfung
von Krankheiten und zum besseren Verständnis von
Krankheiten. Allerdings werden wir eine solche Forschung nur dann verantwortlich betreiben können, wenn
sich Probanden, also Menschen, zur Verfügung stellen.
Diese brauchen einen besonderen Schutz, gerade wenn
es um minderjährige oder nicht einwilligungsfähige
Menschen geht. Es muss aber vor allen Dingen das Vertrauen darauf geschaffen werden, dass ihre Daten nur zu
wissenschaftlichen Zwecken genutzt werden. Deswegen
ist es für uns als Forschungspolitiker eben auch wichtig,
dass ein sogenanntes Forschungsprivileg oder Forschungsgeheimnis eingeführt wird; auch das ist schon
erwähnt worden. Das heißt, dass der Staatsanwalt eben
keinen Zugriff auf die Daten bekommt, die jemand zu
wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung gestellt hat.
Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ hat 2002 einen in der Tat umfassenden
Bericht zu genetischen Daten vorgelegt, der Forderungen und Empfehlungen enthält. Wir haben in der rot-grünen Koalition im Jahr 2004 in langen Diskussionen beRené Röspel
gonnen, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten. Wir haben
es leider nicht geschafft, diesen in Gesetzesform zu gießen, weil die Neuwahl dazwischenkam. Wir bekommen
heute eine fast unveränderte Fassung dieses rot-grünen
Gesetzentwurfes zur Vorlage. Mein Dank geht nicht nur
an Bündnis 90/Grüne, die die Initiative ergriffen haben,
eigentlich geht er - die Frau Staatssekretärin ist da - an
das Bundesministerium für Gesundheit, in dem dieser
Entwurf erarbeitet worden ist. Ich glaube, dieser Entwurf
ist eine gute Grundlage für die kommenden Diskussionen.
({2})
Lassen Sie uns gemeinsam einen überzeugenden
rechtlichen Rahmen für genetische Daten und Gendiagnostik in diesem Land schaffen! Frau Präsidentin,
({3})
es ist alles gesagt. Ich habe noch anderthalb Minuten Redezeit. Schreiben Sie mir die doch bitte für die nächste
Sitzungswoche gut!
Vielen Dank.
({4})
Mit der Übertragung der Redezeit auf die nächste Woche - so weit sind wir noch nicht.
({0})
Wir kommen jetzt zu dem Redebeitrag des Kollegen
Dr. Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Es ist einige Jahre her, da starb in meinem Wahlkreis eine Frau
an der Huntington-Krankheit. Das ist kein schöner
Tod. Ihr Sohn, der damals Anfang 20 war, hatte eine gute
Schulausbildung hinter sich und eine gute Lehre absolviert und fing an zu arbeiten. Weil seine Mutter an dieser
Krankheit gestorben war, ließ er sich auf die HuntingtonKrankheit testen. Solche Tests wurden damals ohne
große Vorbereitung und ohne große Aufklärung durchgeführt. Der Test fiel positiv aus. Dies stürzte diesen
Mann ins Unglück: Er empfand diese Diagnose als
„sein Todesurteil“, wie er es bezeichnete. Es ist hier
schon x-mal gesagt worden, dass niemand weiß, wann
diese Krankheit ausbricht. Man weiß nur, dass sie mit
hoher Wahrscheinlichkeit ausbricht, und man weiß, dass
sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führt - zu einem, wie gesagt, sehr qualvollen Tode. Der Mann hörte
auf zu arbeiten, er verlor seine Familie, fiel ins Bodenlose.
Was will ich damit sagen? Es reicht nicht, solche
Tests anzubieten, man muss auch darüber aufklären, wie
man mit einem positiven Testergebnis umgehen kann.
Ich bin den Kolleginnen und Kollegen von der Grünenfraktion außerordentlich dankbar für die Einbringung
dieses Gesetzentwurfs, weil wir damit heute die Gelegenheit haben, darüber zu reden. Die Debatte ist, wie
sich gezeigt hat, von hoher Ernsthaftigkeit geprägt. Herr
Schily, Ihr Beitrag hat mich sehr beeindruckt; das will
ich ausdrücklich sagen, auch wenn wir von verschiedenen Fakultäten sind. Wir müssen also bedenken, dass es
nicht nur um die Aufklärung derjenigen geht, die einen
solchen Test machen wollen. Es geht auch nicht nur um
die Aufklärung der Angehörigen; es ist ja bereits mehrfach gesagt worden, dass die Verwandten immer mit betroffen sind. Ich glaube, wir brauchen darüber hinaus
eine breite gesellschaftliche Aufklärung - im Vorfeld -,
was die Ergebnisse solcher Tests sein können und wie
wir damit umgehen sollen.
Ich nenne noch ein Beispiel: Selbst wenn sich eine
junge Frau darüber aufklären lässt, was ein Gentest auf
die Anlage für Brustkrebs aussagen kann und wie sie mit
dem Fall, dass der Test positiv ausfällt, umgehen kann,
bleibt die Frage, wie sich ihr Partner verhält, wie er damit umgeht, wenn er nicht mit aufgeklärt worden ist, und
wie Kolleginnen und Kollegen damit umgehen. Da können Dinge zerbrechen, die nicht kaputtgehen müssten.
Wenn wir also nicht eine breite öffentliche Aufklärung darüber haben, was solche Tests aussagen können
- wie lange kann es dauern, bis die Vorhersagen eintreffen, falls sie überhaupt eintreffen, und mit welcher Härte
treffen sie ein -, dann richten wir mehr Schaden an, als
wir Nutzen stiften können.
Ich will noch eines hinzufügen: Wenn wir Aufklärung
betreiben, müssen wir auch ernsthaft darüber reden, was
es eigentlich bedeutet, mit einer genetischen Krankheit
oder der daraus folgenden Behinderung zu leben. Wir
müssen klarmachen, dass eine erbliche Krankheit zwar
nicht wünschenswert ist, aber auch nicht das Todesurteil
bedeutet. Wenn man eine erbliche Krankheit hat, müssen
schließlich Generationen vor einem ebenfalls diese
Krankheit gehabt haben. Wir müssen klarmachen, dass
man auch mit solchen Krankheiten und den daraus folgenden Beeinträchtigungen und Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, Freude empfinden kann und dass man auch unter diesen Vorzeichen ein
erfülltes Leben führen kann.
Wenn die Aufklärung nicht in dieser Form erfolgt,
wird jeder Betroffene stigmatisiert sein. Das wäre - Kollege Hüppe hat das angesprochen - eine Form von Selektion. Das wollen wir auf keinen Fall. Herr Schily, Sie
haben auf die finstere Nazizeit hingewiesen, in der mit
Genetik furchtbare Verbrechen begründet wurden. Wenn
wir in der breiten Öffentlichkeit keine allgemeine Diskussion über Gentests führen, werden wir, wenn es um
den konkreten Gentest und die individuelle Aufklärung
geht, Schiffbruch erleiden.
Deswegen danke ich für den Anlass zu dieser Diskussion. Ich hoffe - ich spreche auch die Besucher auf den
Tribünen an -, dass wir uns so lange über dieses Thema
unterhalten werden, bis wir verstanden haben: Man kann
auch mit Krankheit leben, und eine genetische Veranlagung zu einer sehr schlimmen Krankheit bedeutet nicht
das Todesurteil.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch die
heutige Debatte ist mir vieles von dem in Erinnerung gerufen worden, worüber wir seit zehn Jahren diskutieren.
Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich seit zehn Jahren mit dieser Thematik. Das Büro für Technikfolgenabschätzung hat mit einer Analyse für den Deutschen Bundestag begonnen. Eine Enquete-Kommission hat daran
weitergearbeitet. Rot-Grün hat dann angefangen, einen
gemeinsamen Gesetzentwurf zu basteln. Er war sehr umfangreich. Wir hätten das Gesetz fast zustande gebracht.
Herr Beck hat aber viele Dinge eingebracht, die das
Ganze verkompliziert haben.
({0})
Als er heute sagte: „Jetzt müssen wir es aber endlich
tun“, habe ich gedacht: Fasst euch einmal an die eigene
Nase; ihr hättet es schon längst haben können.
In der Tat besteht Regelungsbedarf, aber an anderer
Stelle, als meistens gesagt wird. Schauen wir uns einmal
an, was man am Menschen alles untersuchen kann: Man
kann Menschen anschauen und feststellen, was sie von
anderen unterscheidet. Man sieht zum Beispiel, dass einige Menschen eine blasse Hautfarbe und rötliche Haare
haben und dass andere dunkelbraun sind und dunkle
Haare haben. Man weiß, dass die blassen Menschen
leichter einen bestimmten Hautkrebs bekommen, den die
anderen fast nie bekommen. Das weiß man. Das kann
man vorhersagen. Entsprechend wird auch beraten.
Es ist die Pflicht von Krankenhäusern und Arztpraxen,
eine Familienanamnese zu erheben. Wenn man dem Patienten helfen will, muss man über ihn Bescheid wissen
und ihn fragen - das ist gutes ärztliches Handeln -: Gab es
Krebserkrankungen bei den Eltern? Gab es Bluthochdruckerkrankungen? Gab es Diabetes in der Familie? Das
macht man, um dem Patienten prädiktiv zu helfen, um zu
wissen, wo etwas vorliegen könnte. Es gibt prädiktive Datenerhebungen.
Das Ganze kann man jetzt perfektionieren. Bei der
Zuckerkrankheit war es früher, als es die Labormedizin
noch gar nicht gab, so, dass der Arzt den Finger in den
Urin gesteckt hat und geschmeckt hat, ob er süß ist oder
nicht. Dann hat er gesagt: Das ist die Zuckerharnruhr.
Das ist Diabetes. Dann gab es die ersten Nachweismethoden für Zucker im Harn und im Blut. Dann war das
Ganze ein bisschen appetitlicher. Der Arzt brauchte
diese Opfer nicht mehr zu bringen. Später gab es sogar
prädiktive Tests, das heißt Belastungstests. Man gab dem
Patienten eine bestimmte Menge Glukose und beobachtete, wie er darauf reagiert. Aufgrund des Ergebnisses
konnte man sagen - zu dem Zeitpunkt hatte der Patient
noch keine Zuckerkrankheit -, ob er wahrscheinlich eine
entwickelt oder nicht. Wenn er Gewicht abnimmt, wenn
er sich richtig verhält, dann entwickelt er keine, und
wenn er sich falsch verhält, entwickelt er vielleicht eine.
Auch das war unsicher. All das kennen wir schon.
Das Gleiche haben wir jetzt in der Medizin auf molekularer Ebene perfektioniert. Das heißt, wenn man die
Strukturen in der Zelle analysiert, kann man mit einer
bestimmten Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Mensch
bestimmte Risiken oder Stärken hat, die ihn von anderen
unterscheiden. Das Ganze wird eigentlich nur dann gemacht, wenn es dem Patienten nutzt. Es darf nur dann
gemacht werden. Der Versuch, Krankheiten zu erkennen, ihnen vorzubeugen oder sie zu heilen, ist in
Deutschland die Ausübung der Heilkunde. Hier gibt es
ganz feste Regeln. Es gibt die ärztliche Schweigepflicht.
Das ist ein zu Recht und zum Glück hoch strafbewehrtes
Schutzgut. Für den gesamten Bereich gilt die informationelle Selbstbestimmung. Es gibt also ein Zweischrankenrecht; der Bereich ist besonders gut geschützt. Deshalb vertrauen Menschen Ärzten diese Informationen an.
Wehe den Ärzten, die das missbrauchen. Sie werden bestraft, und das ist richtig so.
Es gibt jetzt aber ein technisches Verfahren, welches
unabhängig vom ärztlichen Können verkauft werden
kann. Im Internet werden Sets angeboten. Hierfür
braucht man nur einen Tropfen Blut oder Körpersubstrat.
Dann wird ein Ergebnis angezeigt. Dazu gibt es Interpretationshilfen. Die Menschen bekommen diese Informationen und werden dann damit alleingelassen von Leuten, die gar keine Verantwortung gegenüber denjenigen
haben, die ihr Blut untersuchen lassen. Das ist das
Schlimme und Neue. Das heißt, hier werden unverantwortlich und unverbindlich mit der Angst der Menschen
Geschäfte gemacht. Das erzeugt Panikreaktionen bei den
Betroffenen. Sie wissen nicht, was sie mit den Ergebnissen tun sollen. Sie werden alleingelassen. Das darf nicht
passieren.
Hier brauchen wir Schutzmechanismen. Viele
Schutzmechanismen gibt es schon. Ich habe die ärztliche
Verantwortung angesprochen. Wir haben die Ausübung
der Heilkunde geregelt. Hier muss man noch einmal genauer schauen, was eigentlich schon geregelt ist, damit
wir nicht durch ein neues Gesetz alles doppelt und dreifach regeln. Diese Bestandsaufnahme müssen wir durchführen. Es könnte sein, dass das Gesetz dadurch hinterher erheblich schlanker wird.
Es gibt auch eine prädiktive Diskriminierung; so kann
man es nennen. Das heißt, dass man Menschen diskriminieren kann, nicht weil sie sich jetzt irgendwie verhalten
oder bestimmte Eigenschaften haben, sondern weil man
aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeiten ahnt oder
vermutet, dass sie einmal bestimmte Merkmale entwickeln werden. Das sind ganz klar Vorurteile. Möglicherweise werden Lebenschancen von Menschen aufgrund
von Vorurteilen verbarrikadiert und verhindert. Hier
müssen wir als Gesetzgeber handeln.
Hier wird immer gesagt, dass das größte Problem bei
den Versicherungen liegt. Das möchte ich ein bisschen
relativieren. Die private Versicherungswirtschaft versucht schon immer, das Risiko zu analysieren. Auch sie
will wissen, ob in der Familie schon einmal Erkrankungen vorgelegen haben, ob ich rauche oder nicht und ob
ich Bluthochdruck habe oder nicht. Wenn ich das angebe, steigt die Prämie. Dieses Prinzip ist nicht neu. Man
geht ein risikoadjustiertes Geschäft ein, wenn man so
eine Versicherung abschließt.
Ich will das Prinzip der unterschiedlichen Versicherungen einmal darstellen. Es gibt die Solidarversicherung. Die kümmert sich nicht um die individuellen Risiken. Sie sagt: Es gibt insgesamt soundso viele
Menschen, davon werden soundso viele krank, dann
müssen wir soundso viele Beiträge erheben, damit wir
sie alle behandeln können. Sie kümmert sich nicht um
den Einzelnen.
Es gibt auch Privatversicherungen. Wenn man zum
Beispiel eine Kaskoversicherung fürs Auto abschließen
will - das ist ein ganz einfaches Beispiel, das viele von
Ihnen kennen -, dann fragt die Versicherung, ob man
eine Garage hat. Wenn man keine Garage hat, muss man
mehr zahlen. Das ist eine Diskriminierung der Garagenlosen. Aber das machen wir so. Es kann sich ja nicht jeder eine Garage leisten. Das heißt, das Prinzip kennen
wir längst. Wir müssen uns entscheiden: Wollen wir eine
solidarische Sicherung? Ist es überhaupt gesellschaftspolitisch richtig, Menschen zu unterscheiden und zu diskriminieren, weil sie sich etwas leisten können oder nicht,
weil sie so sind oder anders? Oder wollen wir das nicht
beachten und bei allen gemeinsam das Sicherheitsrisiko
abdecken? Darüber haben wir nicht in ausreichendem
Maße diskutiert.
In der Arbeitswelt ist das sehr differenziert zu betrachten. In der Tat gibt es Situationen, in denen wir
Menschen aufgrund von Risiken diskriminieren müssen,
weil das Leben vieler anderer Menschen von ihnen abhängt. Wenn zum Beispiel der Kapitän oder der Steuermann eines Schiffes nicht zwischen Backbord und Steuerbord bzw. zwischen Rot und Grün unterscheiden kann,
dann gibt es Probleme, dann knirscht es unter dem Kiel.
Jeder wird sagen, dass es richtig ist, solche Leute nicht
ans Ruder zu lassen, sondern ihnen lieber andere Arbeiten zu geben. In diesem Fall ist das unstrittig.
Wenn es allerdings darum geht, darüber zu entscheiden, ob wir diese Risiken im Rahmen von Gentests beurteilen wollen, muss ich sagen: Auch Gentests gewährleisten keine Sicherheit. Wir können niemandem
aufgrund einer Wahrscheinlichkeit verwehren, einen
bestimmten Beruf zu erlernen. So müssen zum Beispiel
sehr viele Friseusen ihren Beruf abbrechen, weil sie mit
allergisierenden Stoffen zu tun haben. In diesem Beruf
beträgt die Abbrecherquote 30 bis 40 Prozent. Auch hier
können wir nicht einfach einen Gentest verlangen und
nur diejenigen für diesen Beruf zulassen, die diesem Test
zufolge mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht allergisch werden. Das geht nicht. Vielmehr müssen wir die
Arbeitsbedingungen verbessern und untersuchen, welche Stoffe die Menschen krank machen. Es ist doch nicht
normal, dass man am Körper Stoffe benutzt, die Menschen krank machen. Es gibt also Alternativen, über die
man diskutieren muss.
Der Gesetzentwurf, den die Grünen vorgelegt haben,
ist sehr problematisch. Ich möchte nur darauf hinweisen:
Wir haben ein Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg
gebracht. Aber als wir dieses Gesetz erarbeitet haben,
waren wir völlig blind, was diese wichtige Art des Diskriminierungsschutzes betrifft. Die Aspekte Versicherungen und Arbeit hätte man dort nämlich sehr wohl einbauen können.
Eventuell haben wir bald ein Forschungsrahmengesetz zu erarbeiten, in dem man regeln könnte, wie im
Rahmen der Forschung mit genetischen Daten umzugehen ist. Darüber hinaus müssen wir nach wie vor die Fragen der Fortpflanzungsmedizin gesetzlich regeln. Auch
dieses Problem haben wir noch nicht gelöst. Bestimmte
Themen, um die es in diesem Zusammenhang geht
- Stichwort: prädiktive Diagnostik -, können wir in einem solchen Gesetz aufgreifen; dieser Ansatz wurde in
diesem Hause schon einmal verfolgt. Zudem gibt es das
bewährte Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Herr Kollege Wodarg, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Der Deutsche Bundestag hat schon einiges unternommen. Wir haben nämlich die europäische Verfassung beschlossen. Wir wollen ihr zustimmen. In der europäischen Verfassung steht - das hat die erste EnqueteKommission des Deutschen Bundestages angeregt -,
dass niemand wegen seiner genetischen Ausstattung diskriminiert werden darf. Diese sehr moderne Verfassung
ist bisher leider nicht zur Geltung gekommen.
Die Bundesregierung und wir alle sind aufgefordert,
in diese Verfassung nicht nur die Kriterien Rasse, Geschlecht und Hautfarbe aufzunehmen - all das sind letztlich genetisch bedingte Merkmale -, sondern das Diskriminierungsverbot auf die genetische Ausstattung
auszudehnen: Niemand darf wegen seiner biologischen
bzw. genetischen Ausstattung diskriminiert werden.
Herr Kollege Wodarg!
Diese Regelung gehört ins Grundgesetz. Auch diese
Anregung sollte in dieser Diskussion eine Rolle spielen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/3233 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 k sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Juni 2005 zur Änderung des
Partnerschaftsabkommens vom 23. Juni 2000
zwischen den Mitgliedern der Gruppe der
Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und
im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits ({0})
- Drucksache 16/4970 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums
der Justiz
- Drucksache 16/5051 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Dr. Karl Addicks,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über eine
Einmalzahlung für Versorgungsempfänger im
Jahre 2007 ({3})
- Drucksache 16/5250 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 1. Juni 2006 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und Georgien zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 16/5386 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ablösung des Abfallverbringungsgesetzes und zur
Änderung weiterer Rechtsvorschriften
- Drucksache 16/5384 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
- Drucksache 16/5338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Gesundheit
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die
Anerkennung von Berufsqualifikationen der
Heilberufe
- Drucksache 16/5385 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften ({8})
({9}) vom 23. Mai 2005
- Drucksache 16/5387 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({10})
Innenausschuss
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 12. Oktober 2006 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Franzö-
sischen Republik zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung der Nachlässe, Erbschaften und
Schenkungen
- Drucksache 16/5388 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Dr. Lothar Bisky, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Für die Beendigung des Pachtvertrages zwischen
Kuba und den USA über Guantánamo Bay
- Drucksache 16/4628 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({11})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Anlegerinnen und Anleger bei Zertifikaten stärken
- Drucksache 16/5290 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({13}), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette
Faße, Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Attraktivität des Wassertourismus und des
Wassersports stärken
- Drucksache 16/5416 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Sibylle Laurischk, Frank
Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Mehr Freiheit wagen - Zivilgesellschaft stärken
- Drucksache 16/5410 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Florian Toncar, Michael Link ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Todesstrafe weltweit abschaffen
- Drucksache 16/5411 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({17}), Marieluise Beck ({18}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Schutz für irakische Flüchtlinge gewährleisten
- Drucksache 16/5414 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({19})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 o auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 39 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Markus Kurth und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anhebung
der Vergütung von Berufsbetreuern
- Drucksache 16/2649 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 16/3935 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur
Anhebung der Vergütung von Berufsbetreuern. Der
Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3935, den Gesetzentwurf der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
16/2649 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 39 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({21}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Frank Spieth, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für
apothekenpflichtige Arzneimittel auf 7 Prozent
- Drucksachen 16/732, 16/3014 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Barbara Höll
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3014, den Antrag der Fraktion
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die Linke auf Drucksache 16/732 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({22}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Kirsten Tackmann, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Überschuldung privater Haushalte wirksam
bekämpfen
- Drucksachen 16/1544, 16/3907 Berichterstattung:
Abgeordnete Julia Klöckner
Marianne Schieder
Hans-Michael Goldmann
Bärbel Höhn
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3907, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/1544 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({23}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Patrick Döring, Horst
Friedrich ({24}), Hans-Michael Goldmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Modellversuch für Wassertaxen in Berlin starten
- Drucksachen 16/2519, 16/4268 Berichterstattung:
Abgeordneter Ingo Schmitt ({25})
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4268, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/4268 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2519 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die Nachrüstung von in der Gemeinschaft zugelassenen
schweren Lastkraftwagen mit Spiegeln ({27})
KOM ({28}) 570 endg.; Ratsdok. 13869/06
- Drucksachen 16/3382 Nr. 2.16, 16/4542 Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({29}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Peter Götz, Dr. Joachim
Pfeiffer, Dirk Fischer ({30}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Ernst Kranz, Sören Bartol,
Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland
- Drucksachen 16/4570, 16/4940 Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Günther ({31})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4940, den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4570 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({32}) zu dem
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Umgehend Konzept für eine ergebnisoffene
Standortauswahl für ein nationales Atommüllendlager vorlegen
- Drucksachen 16/2790, 16/4964 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Christoph Pries
Angelika Brunkhorst
Hans-Josef Fell
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4964, den Antrag der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2790
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen angenommen.
Jetzt kommen die Tagesordnungspunkte 39 h bis o.
Es handelt sich um die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt: 39 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 218 zu Petitionen
- Drucksache 16/5260 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 218 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 219 zu Petitionen
- Drucksache 16/5261 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 219 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 220 zu Petitionen
- Drucksache 16/5262 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 220 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 221 zu Petitionen
- Drucksache 16/5263 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 221 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 222 zu Petitionen
- Drucksache 16/5264 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 222 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktionen Die Linke
und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 223 zu Petitionen
- Drucksache 16/5265 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 223 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 224 zu Petitionen
- Drucksache 16/5266 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 224 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 225 zu Petitionen
- Drucksache 16/5267 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 225 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die sogenannte Herdprämie als Hindernis für
eine gute vorschulische Förderung für alle
Kinder
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem Abstimmungsmarathon kehren wir wieder zu einer inhaltlichen Debatte zurück. Alle reden von Kinderbetreuung und darüber, dass wir etwas für die Kinder tun müssen. Die
Regierungsfraktionen und die Bundesregierung überbieten sich gegenseitig mit Vorschlägen. Wir haben in den
letzten Wochen und Monaten bei diesem Thema ein regelrechtes Wettrennen erlebt.
Fakt ist aber - das zeigt ein Blick auf die Realität in
Deutschland -: Bisher ist trotz allen Kampfes und Wettbewerbs gegeneinander kein einziger zusätzlicher Krippenplatz oder Kindergartenplatz in Deutschland geschaffen worden.
({0})
- Aber nicht durch Ihr Gerede!
({1})
Ich werde es Ihnen darlegen. Uns geht es eigentlich um
die Förderung von Kindern. Wir wollen die Kinder in
den Mittelpunkt stellen. Wir reden über die Förderung
von Kindern aus sozial und finanziell schwachen Familien und über die Defizite, die diese Kinder aufweisen.
({2})
- Ja, jedes Kind ist gleich viel wert. Aber nicht alle brauchen gleich viel Förderung.
Heutzutage hat ein immer größer werdender Anteil der
Kinder, die in die Schule kommen, ein Defizit. Immer
mehr Kinder sind in ihrer sprachlichen, kognitiven und
motorischen Entwicklung zurückgeblieben. Spätestens
durch PISA bekommen wir das um die Ohren gehauen.
Minister reden hier über die Innovationsfähigkeit dieses Landes und die Wissensgesellschaft. Das alles fängt
bei den Kindergartenplätzen an. Vor allem die Kinder
aus Migrantenfamilien und finanziell schwachen Familien müssen die Chance haben, ihre Ausbildung mit dem
Abitur oder einem Studium zu beenden, um in dieser
Gesellschaft mitmachen zu können. Genau darum muss
es uns gehen!
({3})
Jetzt schaue ich mir einmal an, was Sie so anbieten.
Mit Ihrer Politik und den Beschlüssen, die Sie gerade in
der Koalition gefasst haben, kommen wir auf diesem
Weg keinen Schritt weiter. In Wahrheit ist es nichts anderes als Wortgeklingel, was Sie da anzubieten haben.
({4})
Wir freuen uns ja, wenn Frau von der Leyen hilft, die
CDU und die CSU - insbesondere den Südwesten - im
Jahre 2007 ankommen zu lassen. Wir freuen uns, wenn
Frau von der Leyen Türen durchbricht und Staub aufwirbelt. Aber wenn sich der Staub dann legt, stellen wir fest,
dass es nichts als Chaos und immer noch keinen einzigen
neuen Kindergartenplatz gibt. So wie Sie es angehen,
wird es auch in den nächsten drei bis vier Jahren viel zu
wenige Kindergartenplätze geben.
({5})
- In Bayern gibt es schon gar nicht zu viele. Fragen Sie
einmal die jungen Frauen!
Ich möchte Ihnen einmal ein paar Beispiele nennen:
Ihr Modell zur Finanzierung des Krippenausbaus - das
ist mein erster Kritikpunkt - ist doch unseriös und widersprüchlich. Erst wollen Sie das Elterngeld. Sie wollen
den Eltern helfen, Beruf und Kinder miteinander zu verbinden, und hoffen, dass es dadurch mehr Kinder gibt.
({6})
Dann aber finanzieren Sie den Ausbau von Krippenplätzen gedanklich mit Geldern, die aufgrund der demografischen Veränderung, also der Tatsache, dass es weniger
Kinder gibt, eingespart werden. Was denn nun? Soll es
nun mehr Kinder geben oder soll es nicht mehr Kinder
geben?
({7})
Dieses Geld wird es nicht geben, wenn die Politik erfolgreich ist. Es wird das Geld aber sowieso nicht geben,
weil die Kommunen es längst woanders angelegt haben.
({8})
Ihr Finanzierungsmodell ist eine Veräppelung der Bevölkerung!
({9})
Damit werden Sie keine ausreichende Betreuung sicherstellen. Ich habe langsam den Eindruck, die CDU will
das auch gar nicht.
({10})
Was bieten Sie sonst noch an? - Sie bieten an, bis zu
2,5 Milliarden Euro im Jahr für Frauen auszugeben, die
zu Hause bleiben. Auch da bieten Sie der Republik etRenate Künast
was an, was sie gar nicht will. Wir wollen dieses quälende Hin und Her nicht. Wir wollen Kinderbetreuung!
Herr Steinbrück hat dazu wichtige Dinge gesagt, die
aber zeigen, dass Sie sich immer noch nicht einig sind.
Herr Steinbrück sagt in der neuesten Ausgabe der „Zeit“
bezüglich der Herdprämie - ich zitiere -:
Es gibt keine derartige Festlegung aus dem Koalitionsausschuss.
Mit diesem Satz bin ich ja zufrieden.
({11})
- Offensichtlich sind das einige SPDler auch.
({12})
Herr Steinbrück sieht diese Herdprämie kritisch, ich zitiere weiter:
Er scheint mir geradezu eine Prämie für Frauen zu
sein, die ihrem Beruf fernbleiben - und das, obwohl
wir in wenigen Jahren wahrscheinlich eine Qualifikationslücke haben und die Frauen brauchen werden, um innovationsfähig zu bleiben.
Neben der Finanzierungslüge bieten Sie mit der Herdprämie etwas an, das das absolute Gegenteil von dem ist,
was Sie sonst wollen, nämlich Deutschland innovationsfähig zu machen und Frauen ins Erwerbsleben zu holen.
({13})
So geht es nicht! Das ist Irrsinn! Damit versündigen Sie
sich an den Kindern und auch an den jungen Frauen, denen Sie suggerieren, sie könnten ihr Leben mit diesen
150 Euro bestreiten und finanzieren, indem sie zu Hause
bleiben.
({14})
Frau Kollegin Künast, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Ihre Herdprämie führt dazu, dass jemand, der seine
Kinder in einen Kindergarten geben will, 150 Euro weniger im Monat hat. Das ist das Gegenteil von dem, was
Sie wollen. Sie zwingen gerade die ärmeren Leute dazu,
ihr Kind wegen 150 Euro nicht in den Kindergarten zu
geben. Sie erzwingen, dass viele Migrantenkinder doch
kein Deutsch lernen, weil viele die 150 Euro behalten
wollen.
Kommen Sie endlich im Jahr 2007 an! Geben Sie jedem Kind in dieser Republik eine Chance! Vergessen Sie
den Unsinn mit der Herdprämie! Garantieren Sie heute
und nicht erst 2013 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem ersten Lebensjahr; denn nur ein
Rechtsanspruch bringt einen Platz.
({0})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ursula von
der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Künast, wir sind seit Februar große Schritte vorangekommen, und zwar schneller, als es mit Ihnen in der letzten Legislaturperiode gegangen ist.
({0})
Wir sind uns heute in dem Ziel einig, bis 2013 einen
Krippenplatz oder einen Tagesmutterplatz für 35 Prozent
der Kinder zu schaffen. Dies ist mit 4 Milliarden Euro
durch den Bund mitfinanziert. Das ist bereits mit dem
Finanzminister abgesprochen. Das heißt, wir sind große
Schritte vorangekommen und haben gemeinsam Lösungen gefunden. Wir haben gehandelt.
({1})
Sie haben gefragt, wie das finanziert werden solle. Ich
habe das bereits erklärt. Aber ich will es Ihnen gerne
noch einmal erklären, Frau Künast.
({2})
Die Kinder, die in den vergangenen 25 Jahren nicht geboren wurden, werden in den kommenden 25 Jahren
kein Kindergeld beziehen. Das heißt, man weiß, wie viel
Kindergeld weniger ausgegeben wird, selbst wenn das
Elterngeld - das hoffen wir; das zeichnet sich bereits ab ein Erfolg wird. Aber das ist gar nicht das Thema der
von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde. Sie verlangen
eine Debatte über die sogenannte Herdprämie. Ich will
in dieser Diskussion deutlich sagen: Ich halte es geradezu für zynisch, solche diffamierenden und diskriminierenden Ausdrücke wie Herdprämie oder Gebärmaschine zu benutzen.
({3})
Das bringt den jungen Eltern nichts, sondern verletzt und
grenzt aus.
({4})
Es ist ein unmögliches Verhalten gegenüber den jungen
Familien, solche Worte wie Herdprämie oder Gebärmaschine - egal von welcher Seite - zu gebrauchen.
({5})
Wir sollten uns dagegen wehren, solche polarisierenden Diskussionen zu führen, die suggerieren, dass die10176
jenigen, die sich zu Hause ausschließlich um ihre Kinder
kümmern, keine wertvolle Tätigkeit ausüben.
({6})
Wir sollten ebenfalls aufhören, zu suggerieren, dass diejenigen Eltern, die erwerbstätig sind und Beruf und Familie miteinander vereinbaren, ihre Kinder irgendwelchen Fremden anvertrauen. Wer Kinder erzieht, völlig
unabhängig davon, welches Lebensmodell gewählt wird
- hier sollten wir an der Spitze des Parlamentes eine
Sprache sprechen -, verdient unseren Respekt und unsere Anerkennung.
({7})
Deshalb sage ich allen, die das Gegenteil behaupten, klar
und deutlich: Die Mütter und die Väter, die sich bewusst
und verantwortungsvoll ausschließlich zu Hause um ihre
Kinder kümmern, haben meinen vollen Respekt und
meine Hochachtung. Die Mütter und die Väter, die sich
bewusst und verantwortungsvoll darum bemühen, die
Erziehung ihrer Kinder und ihren Beruf miteinander zu
vereinbaren, haben gleichermaßen meinen vollen Respekt und meine Hochachtung.
({8})
Diese jungen Menschen haben es nicht verdient, zwischen die Mühlsteine starrer Idealvorstellungen gepresst
zu werden. Wir sollten unsere Kraft besser darin investieren, Lösungen für diese jungen Menschen zu finden,
anstatt solche Wortkreationen zu schaffen.
({9})
Der Koalitionsausschuss hat sich in der vergangenen
Woche über den Ausbau der Kinderbetreuung bei den
unter Dreijährigen verständigt. Wir haben noch ein gehöriges Stück Arbeit vor uns. Das sollten wir solide machen. Wir sind auf einem guten Weg. Das sind die greifbare Gegenwart und die nahe Zukunft; das zählt jetzt.
Zudem wurde ein Rechtsanspruch ab 2013 zusammen
mit einem Betreuungsgeld politisch beschlossen.
({10})
Der Grundgedanke, die Eltern selbst entscheiden zu lassen, welche Form der Betreuung und Förderung sie für
ihre Kinder wählen, ist absolut richtig und der Maßstab.
({11})
Es muss für uns aber auch unverzichtbarer Maßstab
sein, dass dieses Bundesgeld, das immerhin Geld der
Steuerzahler ist, egal ob für die Betreuung der Kinder in
einer Kita oder zu Hause, tatsächlich und sicher zum
Wohl der Kinder in ihre Bildung und in ihre Erziehung
fließt. Ich will ganz klar sagen: Die meisten Familien bewältigen diese Aufgabe hervorragend. Doch wenn es
richtig ist, was PISA oder auch in der jüngste Gesundheitssurvey des BMG, der gerade veröffentlicht worden
ist, zeigt, dass Bildung und Gesundheit der Kinder in
Deutschland maßgeblich von ihrer sozialen Situation abhängen, dann haben wir die Verantwortung, klug zu handeln. Wenn es stimmt, dass Bildungsarmut, Übergewicht, früher Kontakt zu Nikotin und Alkohol,
motorische Störungen, Sprachstörungen usw. häufiger
bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien vorkommen,
({12})
dann hilft diesen Kindern nicht mehr Geld, sondern sie
brauchen gute Angebote.
({13})
- Hören Sie auf zu schreien, hören Sie mir erst einmal
zu! - Deshalb bitte ich dieses Parlament und auch Sie
von der Opposition, dass wir uns mit Blick auf das Betreuungsgeld und einen Rechtsanspruch ab 2013 fragen,
wie wir sicherstellen können, dass frühe Förderung, gesunde Ernährung, Bewegung, musische Früherziehung
usw. zu allen Kindern kommen, sei es über gute Angebote, die Kinder in der Kinderbetreuung bekommen, sei
es durch gute Angebote, die zu den Kindern nach Hause
kommen. Diese Angebote sollten allen Familien zur Verfügung stehen, unabhängig davon, welches Lebensmodell sie wählen. Das Entscheidende ist: Diese Angebote
sollten allen Kindern zur Verfügung stehen, unabhängig
davon, in welche soziale Situation sie hineingeboren
sind.
({14})
Noch einmal: Ob es Mutter zu Hause oder Tagesmutter,
Vater zu Hause oder Familienbildung, Mehrgenerationenhaus oder Kita ist, es muss am Ende unseres Beratungsprozesses sichergestellt sein, dass das Geld des
Bundes tatsächlich in die frühe Förderung der Kinder
fließt und nicht in noch größere Flachbildschirme oder
Playstations in den Kinderzimmern.
({15})
Zwei Dinge noch: Ich denke, wenn eine solche Subjektförderung klug ausgestaltet ist, geht sie nicht in die
einzelne Institution, sondern zu jedem einzelnen Kind.
Wir wissen auch, dass bei einer klugen Ausgestaltung
die Eltern als Nachfrager gestärkt werden und damit
Qualität und Flexibilität der Angebote steigen. Unsere
Aufgabe als Parlament - wir haben einen gewissen Zeitrahmen, dieses gut zu schaffen - ist es, Wege und Instrumente zu finden, damit jedes Kind unter drei Jahren, egal
ob es zu Hause, in einer Kita oder bei einer Tagesmutter
betreut wird, von unserer Initiative profitiert. Meine
Bitte geht dahin, dass unsere Diskussion aus der Warte
des Kindes konsequent weitergeführt wird.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Pieper von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben recht: Eltern, die in diesem Land Kinder erziehen, verdienen unsere volle Anerkennung, und
sie verdienen unsere volle Unterstützung, vor allen Dingen wenn man weiß, dass die jungen Menschen heute in
diesem Land eine ganz andere Vorstellung von Familie
haben, als sie Herr Stoiber gelegentlich beschreibt.
({0})
Das geht nämlich vollkommen an der Lebenswirklichkeit vorbei. Wir konnten jüngst im ARD-Deutschlandtrend vom März lesen, dass 52 Prozent - also mehr als
die Hälfte - der Befragten glauben, dass der Ausbau von
Betreuungsplätzen mehr als bisher unterstützt werden
muss und wichtiger ist, als das Kindergeld zu erhöhen
oder die steuerlichen Vorteile auszuweiten. Ich finde, das
sollten wir ernst nehmen.
Das gilt auch für das, was die jüngste Studie des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besagt:
dass Frauen gerade dann Kinder wollen, wenn sie einen
sicheren Vollzeitarbeitsplatz haben; die soziale Sicherheit, das Wirtschaftswachstum bewirken letztendlich,
dass junge Leute Kinder wollen. Das müssen wir einfach
einmal zur Kenntnis nehmen. Das bedeutet aber nicht,
dass der Staat ihnen vorzuschreiben hat, wie sie ihre
Kinder erziehen, ob sie sie zu Hause erziehen oder ob sie
sich einen freien bzw. einen kommunalen Träger der
Kinderbetreuung suchen.
Frau von der Leyen, an dieser Stelle teile ich die Position der Regierungskoalition nicht.
({1})
Sie haben zwar gesagt, dass Sie die Wahlfreiheit für
diese Eltern wollen, aber Sie tun nichts dafür. Sie sind
die Beschlüsse, die im Koalitionsausschuss getroffen
worden sind, sowohl was die Stiftung als auch das Betreuungsgeld anbelangt, umgangen. Sie haben dazu hier
überhaupt nichts gesagt.
({2})
Sie haben sich nicht zu dem geäußert, was die Regierungskoalition beschlossen hat.
Wenn Sie echte Wahlfreiheit wollen, dann muss die
Regierung auch das umsetzen, was Sie hier propagieren.
Es reicht nicht aus, den jungen Leuten, die eine bessere
Kinderbetreuung wollen, Märchen zu erzählen. Ihre Regierung muss auch handeln, und das tut sie nicht.
({3})
Sie sind sich uneinig. In der Regierungskoalition
herrscht ein Durcheinander. Es fehlt die klare Linie. Sie
springen wie Hasen aus der Furche, ständig hin und her.
({4})
Ich zitiere aus der heutigen Tagespresse, was Herr Struck
gesagt hat:
Das Gesetz zum Rechtsanspruch werden wir noch
in dieser Legislaturperiode verabschieden.
({5})
Mit der Frage des Betreuungsgeldes, das aus unserer Sicht unsinnig ist,
- „unsinnig“ nennt er den Beschluss seiner eigenen Koalition wird sich der Bundestag erst 2012/2013 befassen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
für wie blöd halten Sie eigentlich die Wählerinnen und
Wähler in diesem Land? Sie haben noch nicht einmal die
Krippenplatzfinanzierung etatisiert. Frau Ministerin, Sie
jonglieren hier mit Zahlen, die von Ihrem Finanzminister
überhaupt nicht bestätigt werden.
Den Menschen gaukeln Sie etwas vor - das gilt insbesondere für Herrn Stoiber -, wenn behauptet wird, Eltern
bekämen pro Kind 150 Euro Bonus, falls ein Kind während der ersten drei Lebensjahre zu Hause betreut wird.
Einmal davon abgesehen, dass das der Lebenswirklichkeit der meisten jungen Leute nicht entspricht: Das ist
doch einfach absurd. Das nimmt Ihnen im Land doch
überhaupt niemand ab. Notwendig ist, dass die jungen
Leute in diesem Land, die Kinder bekommen wollen, Sicherheit haben. Dafür hat die FDP ein klares Konzept
aufgestellt.
({6})
Dieses klare Konzept vermisse ich bei Ihnen. Ich bin
nicht umsonst heute hier am Rednerpult; das sage ich
ganz klar als Bildungspolitikerin. Ich stehe hier zwar
auch als Familienfrau; aber ich spreche in erster Linie als
Bildungspolitikerin. Für mich ist das Thema Kinderbetreuung in erster Linie ein Thema der vorschulischen
Bildung.
({7})
Schauen Sie sich einmal an, wie wir im internationalen und insbesondere im europäischen Vergleich in Bezug auf die Qualität von Kinderbetreuung dastehen: Ich
kann Deutschland diesbezüglich, zumindest was den
Westen des Landes angeht, leider nur ein Armutszeugnis
ausstellen.
Ich sage auch ganz klar: Nehmen wir uns doch einmal
die Kommunen und die neuen Länder zum Vorbild. Dort
hat sich seit der deutschen Einheit etwas bewegt. Dort
hat man trotz der schwierigen finanziellen Lage versucht, die Qualität der Krippen, der Kindergärten und
der Ganztagsschulen aufrechtzuerhalten. Das muss man
einmal anerkennen.
({8})
Ich meine, dass der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr - wir Liberalen
haben ihn damals im Zuge der Verabschiedung des
Schwangeren- und Familienhilfegesetzes durchgesetzt letztendlich ein Ergebnis der deutschen Einheit war: Die
neuen Bundesländer haben gefordert, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchzusetzen, und
daraufhin wurde er im Einigungsvertrag verankert. Also
lassen Sie uns dieses Thema im Interesse der Menschen
und im Interesse der Bildung diskutieren. Es geht nämlich um Chancengerechtigkeit, um Integration von
sprachlich benachteiligten Kindern, besonders von solchen aus Migrantenfamilien, und es geht um die Zukunft
dieses Landes.
Ich sage noch einmal: Vorschulische Bildung ist ein
Thema, das für die zukünftige Stellung Deutschlands im
internationalen Wettbewerb von großer Bedeutung ist.
Ein hoher Standard auf diesem Gebiet trägt letztendlich
dazu bei, dass wir unsere Wohlstandsgesellschaft sichern, und er hilft vor allem den jungen Menschen,
Chancengerechtigkeit zu erwerben. Wir haben ein freiheitliches Menschenbild: Wir wollen, dass die Menschen
befähigt werden, ihre Chancen durch eine gute Bildung
und Ausbildung zu nutzen.
({9})
Wir als Liberale - das zum Schluss - wollen den
Krippenplatzausbau vorantreiben, so wie Sie es vorgeschlagen haben, Frau Ministerin. Aber wir wollen die
Kommunen nicht im Regen stehen lassen. Die müssen
dann nämlich die Lasten tragen. „Wer bestellt, bezahlt“,
das haben wir als Liberale immer gesagt. Wenn sich der
Bund zu Recht an der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe
„vorschulische Bildung“ beteiligt, müssen die Umsatzsteueranteile der Kommunen erhöht werden.
({10})
Das haben wir vorgeschlagen.
Wir wollen Wahlfreiheit für die Eltern. Deshalb halte
ich nichts davon, jetzt eine Stiftung einzurichten. Wir
schlagen Ihnen vor, stattdessen Bildungsgutscheine einzuführen, diese den Eltern und nicht den Trägern in die
Hand zu geben. Dann bekommen wir echten Qualitätswettbewerb, eine Qualitätsoffensive für vorschulische
Bildung,
({11})
und dann haben wir auch die Wahlfreiheit für die Eltern.
Darum geht es in Zukunft.
({12})
Frau Pieper, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz, Herr Präsident. - Frau Ministerin,
ich höre Ihre Worte wohl. Wir sind auch bereit, Sie in Ihrem Vorhaben zu unterstützen. Aber erzählen Sie uns
hier nicht nur Märchen, sondern handeln Sie in der Regierungskoalition!
({0})
Vor allen Dingen: Bringen Sie Herrn Stoiber und die
CSU von ihrem konservativen Familienbild ab! Wir
werden das jedenfalls versuchen.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Die ersten drei Reden haben schon gezeigt: Wir führen
heute eine typisch deutsche Debatte, die man in unseren
Nachbarländern nicht verstehen würde;
({0})
denn dort ist man uns bildungspolitisch um Jahre voraus.
({1})
Wir führen heute eine Debatte, die der Öffentlichkeit
leider auch offenbart: Sieben Jahre nach der Diskussion
über die erste PISA-Studie tun sich einige Politiker immer noch schwer, die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
Schlimmer noch: Wir verlieren uns in ideologischen
Auseinandersetzungen. Das sollten wir tunlichst unterlassen; Frau Ministerin, da gebe ich Ihnen vollkommen
recht.
Wir wollen endlich weg von der Frage: Was ist das
optimale Familienmodell? Die Entscheidung darüber
treffen Gott sei Dank die Familien selber. Darüber haben
nicht wir zu entscheiden. Die SPD-Position ist klar: Wir
wollen gute Rahmenbedingungen, um in der Bildungsund natürlich auch in der Gleichstellungspolitik den Anschluss an unsere Nachbarländer zu finden.
Wir haben gerade gehört: Die Kinder in den Mittelpunkt stellen, das ist genau das Ziel. Wir wollen alle
Kinder so früh wie möglich ins Bildungsboot holen - für
eine bessere Integration, für einen besseren Spracherwerb und für eine bessere Bildung unabhängig vom
Geld der Eltern.
({2})
Wir werden es nicht zulassen, dass Kinder nur deshalb schlechtere Chancen erhalten, weil ihre Eltern mit
einem Betreuungsgeld dann bezahlt werden sollen, wenn
sie ihr Kind nicht in eine Krippe geben. Der Rechtsanspruch auf Krippenplätze für unter Dreijährige, so wie
nun vereinbart, ist bildungs- und gleichstellungspolitisch
genau die richtige Antwort. Wir formulieren den Rechtsanspruch jetzt für 2013 - das ist richtig, Frau Pieper -,
damit sich die Kommunen darauf einstellen können.
({3})
Ich freue mich, dass sich der Bund an der Finanzierung beteiligt, nicht nur der Investitionen, sondern auch
- das ist wichtig - der Betriebskosten. Wir brauchen jeden Euro zur Unterstützung der Kommunen bei dieser
Aufgabe. Keine Bürgermeisterin und kein Bürgermeister
verstünde es, wenn wir 2,5 Milliarden Euro für das Betreuungsgeld verschwenden würden.
({4})
Politik hat meiner Ansicht nach auch etwas mit
Glaubwürdigkeit zu tun. Das heißt: Sagen, was man
meint, und tun, was man sagt. In den letzten Wochen sagen einige Politikerinnen und Politiker „Wahlfreiheit“,
meinen aber in Wirklichkeit etwas ganz anderes.
({5})
Ich habe festgestellt, dass gerade diejenigen, die sich immer darauf berufen, der Staat dürfe den Familien nicht
vorschreiben, wie sie zu leben haben, so wie auch ich es
gerade formuliert habe, im gleichen Atemzuge sagen, sie
wollten staatliche Maßnahmen wie das Betreuungsgeld,
die aber nichts anderes signalisieren als: Frau, bleib du
doch zu Hause!
Ich bitte Sie herzlich: Sagen Sie es, wenn Sie dies
meinen! Sprechen Sie in diesem Zusammenhang aber
bitte nicht von Wahlfreiheit!
({6})
Es gibt Politikerinnen und Politiker, die sagen: Wenn
mehr Geld für Krippenplätze ausgegeben wird, dann
muss auch ein Betreuungsgeld her. Sie sagen: Erst damit
schaffen wir eine finanzielle Balance. - Wahlfreiheit und
finanzielle Balance sind etwas völlig anderes.
({7})
Echte Wahlfreiheit wäre es, wenn junge Frauen und
Männer Familie und Beruf vereinbaren könnten.
({8})
Solange es nicht genügend Krippenplätze gibt, gibt es
keine Wahlfreiheit. Solange der Staat die klassische Rollenzuweisung mit dem Ehegattensplitting und der Steuerklasse V sowie der Mitversicherung in der Krankenkasse mit zweistelligen Milliardenbeträgen fördert, aber
nur unzureichend Geld für Krippenplätze zur Verfügung
stellt, gibt es keine Wahlfreiheit und auch keine finanzielle Balance für die Familien.
({9})
Für die Zukunft bitte ich darum: Kehren wir zur Realität zurück! Wir sagen es mit Renate Schmidt, die als
ehemalige Familienministerin dort sitzt, seit Jahren immer wieder, und wir wissen es seit Jahren: 80 Prozent
der jungen Männer und Frauen wollen die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf. Packen wir es an dieser Stelle
an! Mit dem Elterngeld haben wir angefangen. Der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz und auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige ist die richtige
Antwort. Ich verspreche Ihnen: Wir werden es nicht zulassen, dass uns das Betreuungsgeld auf unserem Weg
um Jahre zurückwirft. Das ist ganz klar.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze für die
Fraktion die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frauen und Männer haben das unveräußerliche Recht, Kind, Küche und Karriere gleichberechtigt miteinander zu vereinbaren. Durch das fehlende
flächendeckende Betreuungsangebot für Kinder entscheiden sich aber leider viel zu viele junge Frauen und
ihre Partner gegen ein Kind oder verschieben die Familienplanung auf einen späteren Zeitpunkt - im 21. Jahrhundert mitten in Deutschland.
Die Initiative der Familienministerin war deshalb
richtig und wichtig. Wir brauchen mehr und bessere Kindertagesbetreuungsplätze - ohne Wenn und Aber.
({0})
Viel zu lange schon wurde nur gewartet und gehofft,
dass die Kommunen etwas unternehmen werden. Jetzt
wird über die bundespolitische Verantwortung zumindest diskutiert. Doch worin genau besteht diese Verantwortung? Ich sage, sie besteht darin, allen Kindern von
Anfang an die besten Startbedingungen zu bieten, ihnen
ein Aufwachsen mit anderen Kindern zu ermöglichen
und sie so früh wie möglich umfassend zu fördern, auf
hohem Niveau, flächendeckend, ganztags und mittelfristig beitragsfrei
({1})
und natürlich unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern.
Anderenfalls werden viele Kinder vom Besuch einer
Kinderkrippe ausgeschlossen, die eher mehr Förderung
brauchen.
({2})
Eine solche Betreuungslandschaft soll endlich nicht
mehr einen Bonuscharakter haben, den man obendrauf
setzt, sondern als selbstverständliche Pflichtaufgabe von
Kommunen, Ländern und Bund verstanden werden.
Nun hat sich der Koalitionsausschuss darauf verständigt, mehr Krippenplätze zu schaffen und vielleicht sogar ab 2013 einen Rechtsanspruch zu verankern.
({3})
Auch finanziell soll sich der Bund daran zumindest vorerst beteiligen.
({4})
Doch was wurde der gespannten Öffentlichkeit in jener
Nacht medienwirksam im strömenden Regen unter Regenschirmen außerdem mitgeteilt? Das weitere Gegeneinanderausspielen von Lebensentwürfen der Familien
in der Bundesrepublik. Das Spiel, weiterhin öffentliche
Kindertagesbetreuung und die Erziehung von Kindern
durch ihre Eltern als sich gegenseitig ausschließende
Pole auszumachen, ist ein Griff in die familienpolitische
Mottenkiste.
({5})
Öffentliche Kindertagesbetreuung ist kein Ersatz für das,
was Eltern gegenüber ihren Kindern leisten wollen, sollen und auch müssen. Sie ist eine Ergänzung der Erziehungsleistung von Eltern, die man von der Seite der
Politik nicht durch eine solche Entweder-oder-Debatte
zu einer Ersatzhandlung degradieren darf.
({6})
Erst dann, wenn eine flächendeckende Kindertagesbetreuung vorhanden ist, die dem Anspruch eines Bildungsangebotes gerecht wird, den Bedürfnissen von
Kindern und den Lebensentwürfen von Eltern entspricht,
ist die freie Entscheidung von Eltern für ihre Kinder gewährleistet.
({7})
Die Linke hat unter anderem ein sozial gerechtes Elterngeld vorgeschlagen, das beides schafft: die Sicherstellung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf genauso
wie die gleichberechtigte Förderung aller Familien mit
Kindern, unabhängig davon, ob das Kind in eine Kindertagesstätte geht oder nicht. Eine Prämierung für den Verzicht auf einen Betreuungsplatz wird es mit uns nicht geben.
({8})
Wem und wofür soll dieses Betreuungsgeld dienen?
Eltern, die finanziell bessergestellt sind, entscheiden sich
nicht wegen 150 Euro mehr dafür, ihr Kind nicht in die
Krippe zu geben. Sie tun dies entweder ganz bewusst
oder aber gezwungenermaßen, weil keine Kinderbetreuungsplätze vorhanden sind. Was aber ist mit den Eltern,
die jeden Euro dreimal umdrehen müssen, wo aber der
Armutslohn oder der Regelsatz trotzdem nicht ausreicht?
Gerade diese Eltern werden gezwungen, ihre Kinder zu
Hause zu behalten, weil für sie 150 Euro mehr im Monat
die Entscheidung bedeutet, ob man in fünf oder schon in
drei Jahren das Geld für ein neues Fahrrad zusammengespart hat.
Um das Wohl der Kinder geht es Ihnen nicht.
({9})
Auch um die stärkere Aufteilung von Erwerbs- und Erziehungsarbeit zwischen Männern und Frauen geht es
Ihnen anscheinend nicht, und das, obwohl uns unsere europäischen Nachbarn vormachen, dass eine höhere Erwerbsquote von Frauen keinen Rückgang der Geburtenrate zur Folge hat. Genau das Gegenteil ist der Fall. Sie
wollen wieder einmal ein einziges Lebensmodell prämieren und gegenüber anderen besserstellen.
In Anbetracht der Tageszeit empfehle ich Ihnen, Herr
Singhammer - Sie sind ja gleich dran -: Richten Sie Ihren Blick über den bayerischen Tellerrand hinaus, und
öffnen Sie ihn für die veränderten Familienbilder und die
veränderten gesellschaftlichen Realitäten!
({10})
- Nur weil man dieselbe Meinung hat wie Herr Stoiber,
hat man noch lange nicht recht, Herr Singhammer.
({11})
Wenn Sie Kinder fördern wollen, tun Sie das für die Kinder aller Eltern, tun Sie es sozial gerecht, und vor allem
tun Sie es schnell!
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Grünen haben jetzt in drei Sitzungswochen hintereinander eine Aktuelle Stunde zum Thema Kinderbetreuung beantragt. Wir, die Koalition, haben in der
Zwischenzeit eine Verdreifachung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten tatkräftig auf den Weg gebracht.
({0})
Entgegen allen Ihren Vermutungen in den Debatten zuvor ist die Finanzierung gesichert, und das Projekt ist, im
Vergleich zu ähnlichen Projekten, in erheblich kürzerer
Zeit auf den Weg gebracht worden.
({1})
Eine neue finanzielle Ungerechtigkeit für Familien, die
auf ein Erwerbseinkommen verzichten, wird es nicht geben, auch wenn die Kollegin Künast mit bemerkenswerter Stimme lauthals dagegen angeschrien hat.
({2})
Wir wollen, dass die Familien mit Kindern es in
Deutschland leichter haben. Wir wollen eine gute Perspektive entwickeln. Sie mit Ihren Anträgen und Ihren
ständigen Zweifeln schaffen ein Klima der Unsicherheit
({3})
und nehmen mit Ihren Debatten den Familien den Mut
und den Optimismus, den sie brauchen.
Dabei arbeiten Sie mit Unterstellungen, die innovativ,
aber gleichwohl schäbig sind. Wenn Sie nur einmal die
Formulierung des Themas dieser Aktuellen Stunde „Die
sogenannte Herdprämie als Hindernis für eine gute vorschulische Förderung für alle Kinder“ nehmen: Damit
unterstellen Sie Müttern und Vätern zweierlei: Sie unterstellen, dass Mütter und Väter, die ihre Kinder vor Beginn der Schulzeit zu Hause erziehen und nicht in eine
Einrichtung geben, ein Hindernis aufbauen, sozusagen
einen Nachteil für den späteren schulischen Erfolg programmieren. Wir dagegen vertrauen den Eltern und sind
der Meinung, dass sie am besten wissen, wie sie ihre
Kinder erziehen müssen. Wir können darin keinesfalls
einen Hemmschuh sehen.
({4})
Überdies verwenden Sie den Begriff „Herdprämie“
und stellen damit diejenigen Frauen - weniger die Männer -, die ihre Kinder zu Hause erziehen, so hin, als wären sie rückständig und verzopft.
({5})
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes - passen
Sie genau auf, Frau Deligöz - gibt es derzeit mindestens
5 Millionen Mütter und etwa 110 000 „Herdmänner“,
die ihre Kinder zu Hause erziehen. Nach Angaben der
Dresdner Bank sind es mindestens 10 Millionen junge
Mütter, die das tun. Diesen Millionen junger Frauen zu
unterstellen, sie hätten einen falschen Lebensentwurf gewählt und eine falsche Lebensentscheidung getroffen,
({6})
ist weder politisch korrekt noch in die Zukunft gerichtet,
sondern rechthaberisch, engstirnig und falsch.
({7})
Wir werden uns ernsthaft und ehrlich für die Wahlfreiheit einsetzen.
({8})
Zur Wahlfreiheit gehört zunächst einmal, dass überhaupt
Kinderbetreuungsplätze vorhanden sind. Nur dann kann
man wählen.
({9})
Wahlfreiheit bedeutet aber auch, dass neue finanzielle
Ungerechtigkeiten verhindert werden müssen. Wir wollen es nicht beim Respekt für die Eltern und bei der verbalen Anerkennung belassen, sondern wir wollen einen
Erziehungsbonus einführen.
({10})
Ich denke, die allermeisten in diesem Hohen Hause
sind mit mir der Meinung, dass es falsch ist, den Eindruck zu vermitteln, Kindererziehung zu Hause sei eine
vergleichsweise leichte Sache. Familienmanagerin zu
sein, hat wenig mit Freizeit und Erholung, aber viel mit
tagtäglichem Stress zu tun. Das gilt genauso oder vielleicht noch mehr für die Frauen, die Familie und Beruf
verbinden und beide Herausforderungen meistern müssen.
({11})
Es wird gesagt, das zusätzliche Geld in Form eines
Erziehungsbonus werde nicht immer für die Kinder, sondern möglicherweise für andere Zwecke - bis hin zum
Alkoholkonsum - ausgegeben. Richtig ist, dass es leider
eine Reihe von Eltern gibt, die diese für Kinder bestimmten Mittel, wie auch andere Mittel, missbräuchlich
verwenden. Richtig ist aber auch, dass die große Mehrheit der Eltern in Deutschland sich krummlegt und eine
Stunde länger arbeitet, um alles für das Wohl ihrer Kinder zu tun.
({12})
Deshalb wehre ich mich dagegen, den Eindruck zu erwecken, Eltern seien nicht in der Lage, für ihre Kinder bestmöglich zu sorgen.
({13})
Das tun sie aber.
Wir werden alles tun, das Risiko, dass das Geld nicht
richtig eingesetzt wird, bei der Weiterentwicklung des
Erziehungsbonus auszuschalten. Wir vertrauen den Eltern und ihrer Erziehung.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Anliegen der CSU ist nicht neu und sorgt nicht zum ersten Mal für Unmut in diesem Hause und vor allem in der
Koalition.
Worum geht es? Schon bei den Beratungen zum Elterngeld hat die konservative Seite nebulös von der Bedrohung des Alleinverdienermodells in Deutschland gesprochen.
({0})
Schon damals wollten Sie die Erhöhung der entsprechenden Transferleistungen, also im Anschluss an den
Elterngeldbezug. Herr Singhammer, Sie behaupten, das
Elterngeld sei schnell eingeführt worden. Dazu sage ich:
Ohne Sie wäre es viel schneller und besser gegangen.
Das wollen wir einmal festhalten.
({1})
Sie haben sich doch in den Debatten als Verhinderer dargestellt.
Sie wollen ein Familienmodell, bei dem ein Elternteil
zu Hause bleibt. Genauer gesagt: Die Frau bleibt zu
Hause. Kein Mann auf der Welt lässt sich mit 150 Euro
überreden, Kinder zu erziehen, anstatt arbeiten zu gehen.
({2})
Was Sie wollen, geht doch wieder zulasten der Frauen.
({3})
Wenn Sie sich hier über das Wort „Herdprämie“ so
aufregen, dann halte ich das für eine künstliche Aufregung. Meines Erachtens müssen Sie das schon einmal
aushalten können. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Debatte über das Elterngeld, als plötzlich in Bezug auf die Partnermonate von „Wickelvolontariat“ die Rede war. Das sagt aus, was Sie von
Erziehungsarbeit halten, und zeigt die Wertigkeit, die Sie
der Erziehungsarbeit zuschreiben. Vor diesem Hintergrund müssen Sie auch diese Debatte und ebenso diesen
Begriff heute hier aushalten.
({4})
Beim Elterngeld konnte sich der konservative Flügel,
auch die CSU, nicht durchsetzen. Das ist es doch, was
Sie so stört, und zwar zu Recht; denn das zentrale Anliegen von Elterngeld ist, die Erwerbstätigkeit von Müttern
und Vätern zu fördern. Das steht übrigens auch in Ihrem
Gesetzentwurf. Werfen Sie einen Blick hinein! Da steht:
Das Elterngeld will dazu beitragen, dass es beiden
Elternteilen auf Dauer besser gelingt, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern.
Somit geht es natürlich um die Förderung. Jetzt versuchen Sie, hier perfiderweise zu suggerieren, es gebe in
diesem Land überhaupt keine Förderung der Ehe, als
stellten sich alle gegen das Alleinverdienermodell. Haben Sie dafür erst einmal den Boden bereitet, dann können Sie ganz schnell sagen, Betreuungsausbau sei eine
einseitige und damit ungerechte Investition; dies müsse
man irgendwie verhindern, und wenn man es schon nicht
verhindern könne, müsse man es zumindest neutralisieren.
Aber die Realität ist doch ganz anders. Sie zeigt, dass
das Ehegattensplitting nur beim Alleinverdienermodell
zu seiner maximalen Auswirkung kommt.
({5})
Die Realität ist doch, dass wir kostenlose Mitfinanzierung in den Krankenkassen und Pflegekassen haben.
({6})
Die Realität ist doch, dass das Steuerrecht - über die
Steuerklasse V sollten wir einmal reden - das Zuhausebleiben geradezu fördert und sich gegen die Erwerbstätigkeit von Frauen richtet.
({7})
Die Realität ist doch, dass unser gesamtes System auf
das Alleinverdienermodell ausgerichtet ist und die größten Defizite in den Bereichen zu finden sind, in denen
auch bei den Kindern der größte Bedarf besteht: in der
Frühförderung, in der Erziehung, in der Bildung und an
den Stellen, an denen es um Vereinbarkeit von Beruf und
Familie geht. Auch wenn Sie es nicht verstehen wollen:
Wir hinken beim Betreuungsausbau gerade für unter
Dreijährige meilenweit hinterher. Das sollten Sie auch
nicht unter den Teppich kehren.
({8})
Außerdem ignorieren Sie bei dieser gesamten Debatte, dass das, was Sie fordern, bildungspolitisch einfach Unfug ist.
({9})
Sie ignorieren, dass die Kinder derjenigen, für die die
150 Euro am lukrativsten sind, auf die Frühförderung
durch Bildung und Betreuung am meisten angewiesen
sind. Es sind die sozial Benachteiligten, die Haushalte
mit den niedrigen Einkommen; genau diese Kinder brauchen die frühe Förderung, um eine Startchance für die
Schule zu bekommen.
Sie ignorieren einfach Folgendes: Sie haben zwar ein
Modell, aber keine Idee davon, was es kostet, wie es finanziert werden soll und wer es in Anspruch nehmen
soll. Gleichzeitig versprechen Sie mit dem Familiensplitting ein Verfahren mit ungedecktem Scheck und setzen ein Milliardenversprechen in die Welt, das nur einem
dient: der eigenen Profilierung für bevorstehende Wahlkämpfe. Sie haben nämlich Angst davor, überhaupt nicht
mehr wahrnehmbar zu sein. Sie haben Angst vor der
Politik Ihrer eigenen Ministerin.
({10})
Haben Sie doch einmal den Mut, zu Ihrer eigenen Ministerin zu stehen, anstatt ihr ständig Knüppel zwischen die
Beine zu werfen!
Noch eines, Frau von der Leyen: Ich unterstütze den
Ausbau der Kinderbetreuung. Aber wenn Sie hier behaupten, Rot-Grün habe nichts gemacht, halte ich Ihnen
eines entgegen: Das TAG war von Rot-Grün, es ist effektiv und kommt an. Das sagen sogar Sie in Ihren Berechnungen. Wir wären um einiges weiter, hätten nicht
Ihre Partei und Ihre Fraktion uns im Bundestag und im
Bundesrat davon abgehalten, einen Rechtsanspruch einzuführen.
({11})
Wir wären um einiges weiter, hätten Sie hier nicht ständig die Bremser und die Kaputtmacher gespielt. Wir wären um einiges weiter, wenn Sie die gesellschaftlichen
Realitäten endlich zur Kenntnis nähmen.
Meine Herren von der CSU, auch wenn Sie es nicht
wahrhaben wollen: Die Erde ist keine Scheibe, und sie
dreht sich. Daran werden auch Ihre Drohungen nichts
ändern.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Griese von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal ist es in einer hitzigen Debatte notwendig,
Selbstverständlichkeiten festzuhalten: Erstens. Alle Eltern erziehen Kinder; auch die Eltern, die ihre Kinder
stundenweise in eine Kinderbetreuung geben, erziehen
Kinder. Es gibt noch ein paar Stunden mehr am Tag.
({0})
Es geht nicht darum, Eltern oder Frauen gegeneinander
auszuspielen, sondern es geht darum, anzuerkennen,
dass Kinderbetreuung ein sinnvoller Beitrag zur Erziehung sein kann.
Zweitens. Wir wollen eine Betreuung aller Kinder unter drei Jahren. Dies sollte wegen der Bildungschancen
erfolgen. Wir wollen eine solche Betreuung natürlich
auch für sozial Schwache und Bildungsferne. Es ist sinnvoll, wenn alle Kinder gemeinsam mit anderen Kindern
lernen und aufwachsen können.
({1})
Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass es in dieser
Debatte um Bildungschancen für Kinder, um die Verbesserung ihrer Zukunftschancen geht.
({2})
Es geht um bessere Integration. Uns, der SPD, ist es sehr
wichtig, dass Kinder mit anderen Kindern zusammenkommen, früh die deutsche Sprache lernen - und zwar
bevor sie in die Schule kommen -, dass sie Lernchancen
haben, Spiele kennenlernen und sprachlich, musisch und
künstlerisch vorankommen. Diese Chance sollte für alle
Kinder früh vorhanden sein.
Es geht uns genauso um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und um etwas, was noch gar nicht angesprochen wurde, nämlich darum, nachhaltig Armut zu
vermeiden. Armut von Familien und Eltern kann man
am besten vermeiden, indem man den Eltern eine
Chance gibt, berufstätig zu sein.
({3})
Wir sind mit dem Ausbau der Kinderbetreuung ein
großes Stück vorangekommen. Da das hier manchmal
vergessen wird, will ich ausdrücklich feststellen: Noch
vor ein paar Wochen hätte es keiner gedacht - wir kommen richtig voran. Wir werden einen Rechtsanspruch auf
die Betreuung von unter Dreijährigen verankern. Viele
von uns - auch ich - sagen, wir hätten diesen gerne
schneller und früher gehabt. Aber spätestens ab 2013
wird es einen solchen Rechtsanspruch geben. Ferner
wird es eine Beteiligung des Bundes nicht nur an den Investitionskosten, sondern auch an den Betriebskosten
geben. Das ist uns ganz wichtig; denn es geht hierbei
nicht nur um die Bereitstellung neuer Räume, sondern
auch um Qualität und die Menschen, die sich um die
kleinen Menschen kümmern.
({4})
Da wir hier über Bildungs- und Integrationschancen
sprechen, will ich aus der Bertelsmann-Studie zitieren,
in der ausdrücklich gesagt wurde, dass beim Ausbau der
Geldleistung eine große Zurückhaltung erforderlich ist.
Das Schwergewicht sollte - so wird in der Studie formuliert - insbesondere auf Dienstleistungen in der Kinderbetreuung liegen. Dem stimme ich ausdrücklich zu.
({5})
Außerdem wurde in der Bertelsmann-Studie ausgeführt,
dass es weitaus wichtiger ist, in die Kinderbetreuung zu
investieren als Transferleistungen zu erhöhen und Steuern für Eltern zu senken. Es heißt dort weiter, dass Finanzierungsmöglichkeiten auch dadurch gefunden werden können, dass auf Transfers verzichtet und das
Ehegattensplitting reformiert wird. Auch das ist eine
gute Idee der Bertelsmann-Studie zur Vereinbarkeit von
Familie und Beruf.
({6})
Ich will noch einmal sagen, was unsere Ziele in dieser
ganzen Debatte sind. Unsere Ziele sind bessere Bildungschancen für Kinder und ein Ausbau der Betreuung.
Da unser Koalitionspartner heute schon sehr geschunden
wurde, will ich ihn einmal positiv zitieren. Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion Ilse Falk hat zu
diesem Thema Ende April gesagt, dass, wenn es zusätzliche finanzielle Hilfen gebe, nicht sichergestellt werden
könne, dass das Geld den Kindern zugute komme. Statt
weitere Milliarden für direkte Transfers auszugeben,
müsse die Politik ihr Hauptaugenmerk auf Bildung und
Betreuung richten. Dem stimme ich ausdrücklich zu.
({7})
Das heißt für uns, dass wir zu den Erfolgen des Koalitionsausschusses stehen. Es wird einen Ausbau der Kinderbetreuung und einen Rechtsanspruch auf die Betreuung von unter Dreijährigen geben. Ich sage ausdrücklich:
Uns ist es wichtig, dass dieser Rechtsanspruch dazu
führt, dass Mütter und Väter arbeiten gehen können. Dabei geht es nicht um ein paar Stunden in der Woche, sondern um mindestens fünf Stunden am Tag. Wir stehen
zur Beteiligung des Bundes an den Betriebs- und Investitionskosten und dazu, dass die ostdeutschen Länder dabei gesondert berücksichtigt werden.
Ich sage ausdrücklich: Man muss darüber nachdenken, ob man wirklich neue finanziellen Hilfen schafft.
Wir halten das Betreuungsgeld aus bildungspolitischer
und integrationspolitischer Sicht für falsch. Ich füge
hinzu: Auch die arbeitsmarktpolitische Frage ist in diesem Zusammenhang sehr schwer zu klären. Sie sollten
sich einmal anschauen, wie viel Geld man verdienen
muss, um erst einmal die Höhe der Transferleistungen zu
überschreiten, wie viel Geld man also verdienen muss,
damit es sich lohnt, arbeiten zu gehen. Dieses Betreuungsgeld ist ein falscher Anreiz. Es geht in die falsche
Richtung. Es erzielt eine falsche Wirkung.
({8})
Die Wirkung, die wir erzielen sollten, ist die - ich
hoffe, dass der Koalitionspartner jetzt wieder klatschen
kann -,
({9})
Armut zu vermeiden und bessere Bildungschancen zu
ermöglichen. Daran sollten wir zielgerichtet arbeiten.
Der beste Weg dahin führt über eine bessere Qualität und
eine höhere Quantität beim Ausbau der Kinderbetreuung.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Dörflinger
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will eine
beruhigende Vorbemerkung machen an die Adresse derer, die uns in dieser Debatte zugehört haben und die insbesondere auf die Verteilung des Beifalls geachtet haben: Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Dieses Stück
Renaissance von Rot-Grün ist mit dem Ende dieser Debatte vorbei.
({0})
Ich will eine zweite Vorbemerkung machen - das ist
schon ein Kompliment an diejenigen, die diese Aktuelle
Stunde beantragt haben -: Ich kenne wenige Titel von
Aktuellen Stunden,
({1})
bei denen mit so wenigen Worten so viele Vorurteile kolportiert worden sind; das ist schon ein sprachliches
Meisterstück.
({2})
Der Beitrag, mit dem Sie, Frau Künast, diese Debatte eröffnet haben, hat einmal mehr die These bestärkt, dass
Lautstärke und Schnelligkeit Qualität nicht ersetzen.
Hätten Sie einmal Frau Haßelmann reden lassen! Sie
hätte das vermutlich besser und qualitativ sinnvoller gemacht.
({3})
Der Begriff der „Herdprämie“ ist eine Wortschöpfung
mit einer besonderen Semantik: Eine Prämie ist normalerweise eine Belohnung für denjenigen, der etwas besonders
gut gemacht hat, oder ein Anreiz, damit jemand etwas tut,
was andere nicht tun mögen. Offensichtlich - weil Sie
Ersteres nicht meinen können - sind Sie der Auffassung,
dass das, was ein Koch oder jemand, der in der Hauswirtschaft beschäftigt ist, am Herd tut, etwas Minderwertiges
sein muss; denn ansonsten müsste man ihm keine Prämie
zahlen, dass er diese Tätigkeit aufnimmt.
Ich bin, was die Qualität dieser Arbeit angeht, anderer
Auffassung: Das, was am Herd oder generell im Bereich
der Hauswirtschaft gearbeitet wird, ist genauso viel wert
wie das, was in einem Dienstleistungsunternehmen oder
in der gewerblichen Wirtschaft gemacht wird.
({4})
Es gibt allerdings einen Unterschied, meine Damen und
Herren von den Grünen: Das, was am Herd hergestellt
wird, ist in aller Regel essbar - das, was Sie heute abgeliefert haben, ist schwer verdaulich.
({5})
- Frau Lenke, ich bin bei der Sache. Sie müssen besser
zuhören!
({6})
Was mich an dieser Debatte stört - da komme ich auf
das, was der Kollege Singhammer vorgetragen hat -, ist,
dass Sie mit Ihrem Titel dieser Aktuellen Stunde einen
Großteil der Familien unter den Generalverdacht stellen,
dass sie unter Wahl eines bestimmten Lebensmodells
nicht in der Lage wären, der Verantwortung für ihre Kinder gerecht zu werden.
({7})
Ich stelle für die Unionsfraktion fest: Wir machen niemandem einen Vorwurf dafür, für welches Familienmodell, für welche Art und Weise der Erwerbstätigkeit - einer verdient, oder beide verdienen -, für welche Art und
Weise der Kindererziehung er oder sie sich entscheidet.
({8})
Wir gehen davon aus, dass die weit überwiegende Zahl
der Familien in Deutschland ihrer Verantwortung bestens gerecht wird, unabhängig davon, welches Modell
die einzelne Familie für sich gewählt hat.
Aber wir können nicht nur am Rednerpult des Deutschen Bundestages und in Sonntagsreden das Hohelied
derer singen, die in der Familienarbeit tätig sind. Dass
wir bereit sind, das zu fördern, muss auch einen Ausdruck in dem finden, was wir konkret politisch tun.
({9})
Deswegen ist der Ansatz des Betreuungsgeldes der richtige Ansatz. Wir nehmen damit nämlich die Interessen
derer in den Fokus, die sich für ein bestimmtes Lebensmodell entschieden haben. Das heißt nicht, dass wir das
andere nicht tun. Es geht nicht um „entweder oder“, es
geht um „sowohl als auch“.
({10})
Wenn ich sage, es ist der richtige Ansatz, dann lasse ich
durchaus mit mir darüber reden, in welcher Weise wir
das Betreuungsgeld ausgestalten. Sie kennen den Vorschlag des Gutscheinsystems, den der Bund katholischer
Unternehmer gemacht hat. Ich behaupte nicht, dass der
BKU mit diesem Vorschlag bereits der Weisheit letzten
Schluss gefunden hat. Aber solche Gutscheine, mit denen die Eltern bestimmte familienbezogene Dienstleistungen abrufen können, sind ein Schritt in die richtige
Richtung.
({11})
Wir können uns darüber unterhalten, wie wir das gemeinsam realisieren; dazu lade ich ausdrücklich ein.
Aber ich würde mir wünschen, dass wir uns der Sache
mit der notwendigen Ernsthaftigkeit annehmen und uns
die Vorschläge, die gemacht worden sind, genau ansehen
und sie in einer vernünftigen, sachlichen Debatte prüfen.
Wir sollten zusammen mit dem Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen in öffentlicher Verantwortung auch das in den Blick nehmen, was wir denjenigen zugutekommen lassen können, die sich für die
private Version entschieden haben. Dann werden wir unserer Verantwortung gerecht.
({12})
Die Beantragung dieser Aktuellen Stunde und Ihre Beiträge haben dazu wenig beigetragen.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Ferner von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
bin recht dankbar dafür, dass wir heute noch einmal Gelegenheit haben, über die Betreuung von Kindern unter
drei Jahren zu diskutieren. Viele scheinen die Vorstellung zu haben, dass diejenigen, die zu Hause bleiben,
ihre Kinder erziehen, während diejenigen, die ihre Kinder irgendwo abgeben, keine Erziehungsleistung erbringen. Das ist genauso falsch, wie zu sagen, man akzeptiere nicht jedes Lebensmodell. Das ist überhaupt nicht
das Thema.
({0})
Wir glauben, dass wir eine echte Wahlfreiheit nur
durch einen Rechtsanspruch schaffen können. Wie sieht
die Situation heute aus? Es besteht keine echte Wahlfreiheit. Das hängt mit verschiedenen Regelungen zusammen, beispielsweise damit, dass wir über das Ehegattensplitting insbesondere die Alleinverdienerehe und die
Familien, in denen die Einkommensunterschiede bei den
Partnern sehr groß sind, mit über 19 Milliarden Euro im
Jahr subventionieren. Das hängt ferner damit zusammen,
dass die beitragsfreie Mitversicherung der nicht erwerbstätigen Ehegatten mit 10 Milliarden Euro subventioniert
wird. Man muss sich schon überlegen, was man an die
Krankenkasse zu zahlen hat. Dadurch werden die Opportunitätskosten nicht gerade gesenkt. Es gibt auch kein
bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsbetreuungseinrichtungen. Das ist der eigentliche Punkt, warum keine
Wahlfreiheit besteht. Deshalb ist es wichtig, dass die
SPD den Rechtsanspruch durchgesetzt hat. Wir hätten
ihn zwar lieber früher gehabt, aber er besteht jetzt ab
2013.
({1})
Man darf nicht vergessen, dass berufstätige Eltern zusätzliche Kosten haben. Das bezieht sich nicht nur auf
ihre Sozialversicherungsbeiträge. Sie müssen für die
Kinderbetreuung nicht wenig Geld hinlegen. Wer sein
Kind in einer Betreuungseinrichtung untergebracht hat,
gleich ob in einem Kindergarten oder einer Kindertagesstätte, weiß, dass das nicht wenig Geld kostet. Das muss
erst einmal verdient sein, und zwar netto. Dass Steuerklasse V und Minijobs für Frauen Barrieren sind, die der
Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung entgegenstehen, ist, denke ich, zumindest bei der
Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses kein Thema. Wir
wissen, dass das so ist und dass wir hier etwas tun müssen.
Das Betreuungsgeld, das insbesondere die CSU will,
würde die traditionellen Rollenzuweisungen verfestigen.
({2})
Die Menschen in diesem Land sind aber längst im
21. Jahrhundert angekommen. Das kann man von einigen Unionspolitikern hingegen nicht unbedingt sagen.
Deshalb ist der Aspekt, den Frau Griese eben genannt
hat, wichtig: Die frühe Förderung würde durch ein solches Betreuungsgeld verhindert werden, zumindest in einigen Familien. Wir wissen, dass Kinder die frühe Förderung brauchen. Man muss überlegen, welche Anreize
man mit einem Betreuungsgeld setzt. Für wen sind
150 Euro ein Anreiz, um nicht erwerbstätig zu sein und
zu Hause zu bleiben? Ich gebe Herrn Pflüger recht, der
- ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ - gesagt
hat:
Gerade in großen Städten brauchten viele Kinder
aus sozial schwachen Schichten oder mit Migrationshintergrund Hilfe beim Erlernen der deutschen
Sprache, beim Aufbau sozialer Kompetenz. „Genau
diese Hilfen bekommen sie in einer Kita“…
({3})
Der NRW-Familienminister hat sich im Übrigen ähnlich
geäußert.
Wenn man sich internationale Studien zu diesem Bereich anschaut, findet man schnell heraus, dass die Erwerbstätigkeit der Mütter das beste Mittel gegen Kinderarmut ist und nicht die Zahlung von 150 Euro, von der
man weder leben noch sterben kann. Alleinerziehende
können mit dem Geld ohnehin nicht viel anfangen, weil
sie ihren Lebensunterhalt damit nicht bestreiten können.
Aus meiner Sicht ist ein weiteres Argument wichtig.
Für uns gehören Kinderbetreuungseinrichtungen zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Wenn man Ihren Vorschlag
richtig durchdenkt, muss man sich fragen, was er eigentlich in Bezug auf die öffentlichen Infrastrukturen bedeutet. Sollen wir jetzt all denen, die nicht das Gymnasium
oder die Universität besuchen, die nicht ins Theater gehen oder die Stadtbücherei nicht nutzen, einen Ausgleich
zahlen? Ist das gewollt?
Für uns ist wichtig, dass der Rechtsanspruch an erster
Stelle steht und spätestens bis zum Jahr 2013 umgesetzt
wird. Vielleicht, wenn sich alle Ebenen anstrengen, wird
er schon früher realisiert; in den neuen Ländern geht das
mit Sicherheit. Danach sollte aus meiner Sicht die Beitragsfreiheit angegangen werden, damit die frühe Förderung von Kindern, deren Eltern kein so hohes Einkommen haben, nicht aus finanziellen Gründen verhindert
wird. Insofern ist das Betreuungsgeld für uns in dieser
Wahlperiode kein Thema.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Fischbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
sich diese Debatte bis hierher angehört hat, versteht man
die Welt nicht mehr. Ich frage mich wirklich, ob wir
nichts Besseres zu tun haben und über keine anderen
Themen diskutieren können als über dieses.
({0})
Die von den Grünen beantragte Aktuelle Stunde schlägt
dem Fass den Boden aus.
({1})
Das betrifft schon allein die Wortwahl. Ich glaube, wir
sind uns einig, Frau Haßelmann, dass das Wort „Rabenmütter“ nicht in unseren Sprachgebrauch gehört.
({2})
Es heißt, es gebe diesen Begriff nur noch in Deutschland, sonst nirgendwo in der Welt. Es gibt noch einen
Begriff, den es nur in Deutschland gibt. Das ist der Begriff „Herdprämie“. Wir dürfen nicht damit anfangen,
solche Worte zu prägen und zu verbreiten. Hierfür tragen
wir die Verantwortung. Mit der Wortwahl, die Sie bei der
Beantragung der Aktuellen Stunde gewählt haben, diffamieren Sie Lebensentwürfe.
({3})
Mit welchem Recht diffamieren Sie Lebensentwürfe von
Eltern, die diese frei gewählt haben? Meine Fraktion
maßt es sich nicht an, zu sagen, welcher Lebensentwurf
der richtige ist und welcher der falsche.
({4})
- Frau Haßelmann, Sie haben jederzeit die Möglichkeit,
Redezeit zu bekommen, wenn auch nicht in dieser Aktuellen Stunde. Lassen Sie uns doch einmal über einen entsprechenden Antrag debattieren.
({5})
Wir werden es nicht zulassen, dass ein Familienmodell gegen ein anderes ausgespielt wird. Unsere Aufgabe
ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen - an dieser
Stelle danke ich den Kolleginnen des Koalitionspartners;
Kollegen waren, glaube ich, nicht dabei -, die es den Eltern ermöglichen, selber zu entscheiden, wie sie leben
wollen, wie und von wem ihr Kind betreut werden soll.
Wir können da keine Vorgabe machen und nichts entscheiden. Wir wollen keine Lufthoheit über die Kinderbetten. Wir wollen die Eltern stark machen und selber
entscheiden lassen.
({6})
Mich hat gewundert, wen die Grünen als Spitze nach
vorne geschickt haben; denn leider musste ich in der
Diskussion feststellen, dass die Kollegin Künast den Unterschied zwischen Krippen- und Kindergartenplätzen
gar nicht kennt. Sie sprach immer von Kindergartenplätzen. Diese haben wir schon, und den Rechtsanspruch
darauf gibt es auch schon etwas länger. Vielleicht können Sie ihr das mitteilen. Dann weiß sie das nächste Mal
wenigstens, worüber sie redet.
({7})
Kindergartenplätze sind da, Krippenplätze brauchen
wir. Wir machen überhaupt keinen Hehl daraus. Es ist
nicht so, wie Sie es jetzt darstellen, als sei das strittig, als
glaubten wir, dass das Angebot für unter Dreijährige
reicht. Es reicht nicht; darüber gibt es in diesem Lande
überhaupt keine Diskussion. Sie tun so, als wären wir
nicht in der Lage, zu erkennen, wo noch Bedarf besteht,
wo wir noch Angebote schaffen müssen. Wir wollen nur
nicht, dass der Fokus ausschließlich auf ein bestimmtes
Familienbild gerichtet ist.
({8})
Wir müssen den Fokus breit ausrichten; denn junge
Leute entscheiden sich für die Familie. Sie wollen Familie leben, und zwar aus einem ganz bestimmten Grund:
Sie empfinden die Familie als den Ort, der ihnen Glück,
Geborgenheit und Liebe gibt.
Damit bin ich bei dem Punkt, der heute viel zu kurz
gekommen ist, dem Wohl des Kindes. Kaum einer
spricht über das Wohl des Kindes.
({9})
Wer von uns sagt denn, was für das Wohl des Kindes am
besten ist? Brauchen wir nicht, gerade wenn wir das
Wohl des Kindes im Auge haben, eine vielfältige Landschaft an Betreuungsangeboten?
({10})
Machen wir uns doch nichts vor! Warum ist denn das
Thema „Tagesmütter“ jetzt auf einmal in aller Munde?
Noch vor zehn Jahren bin ich hier fast ausgebuht worden, als ich mich für mehr Tagesmütter eingesetzt habe.
Damals hieß es, das sei ein elitäres Betreuungssystem.
({11})
- Ja, Frau Lenke, Sie haben sich dafür immer stark gemacht. Das weiß ich heute noch zu schätzen. - Wir brauchen unterschiedliche Angebote. Nicht jedes Angebot
trifft immer das Wohl des Kindes.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
kann verstehen, dass Ihnen das nicht passt - insofern ist
auch die Aufgeregtheit, die Ihre Vorsitzende vorhin gezeigt hat, verständlich -,
({13})
aber die Große Koalition hat in ihrer kurzen Regierungszeit schon eine ganze Menge geschafft. Ich möchte darauf hinweisen - das habe ich schon in der letzten Debatte gesagt -, dass die vorherige Familienministerin,
Frau Schmidt, die auch jetzt im Plenum sitzt, gute Vorarbeiten geleistet hat, die wir nun ausbauen.
Wir haben wirklich eine Menge geschafft. Ich erinnere nur daran, dass wir die Möglichkeit der steuerlichen
Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten geschaffen
haben.
({14})
- Sie von der FDP sind nie zufrieden; das weiß ich.
({15})
Irgendwann haben Sie vielleicht einmal die Möglichkeit,
alles besser zu machen.
({16})
Die steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten ist ein Erfolg, den wir doch wohl einmal ansprechen dürfen. Darüber hinaus haben wir in den knapp anderthalb Jahren unserer Regierungszeit das Elterngeld
eingeführt, für das es vorher noch kein klares Konzept
gab. Das Konzept war nur ganz grob umrissen.
({17})
- Gut, dann gab es ein geheimes Konzept. Darüber lasse
ich mit mir reden. Öffentlich war es allerdings nicht.
({18})
Es war sehr nebulös, Frau Ferner. Sie kannten das Konzept also; wahrscheinlich hatten Sie es in der Schublade.
Ich zumindest kannte es nicht.
Nun ist die Bundesregierung, vor allen Dingen die
Familienministerin, damit beschäftigt, die Betreuungsangebote insbesondere für die unter Dreijährigen
auszubauen. Wir haben es geschafft - auch diesen Erfolg
darf man ruhig einmal erwähnen -, dafür zu sorgen, dass
alle Beteiligten dieses Projekt gemeinsam in Angriff
nehmen.
Zum Abschluss noch eine Bemerkung zum Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. Wir bestreiten nicht,
dass es richtig und wichtig ist, an der einen oder anderen
Stelle einen Rechtsanspruch zu formulieren. Aber an
dieser Stelle sollte man das nur dann tun, wenn man erstens über die dafür notwendigen Mittel verfügt und wenn
man zweitens gewährleisten kann, dass die Qualität der
Betreuung gesichert ist. Das ist zurzeit aber nicht der
Fall; denn noch fehlt das nötige Fachpersonal, um diesen
Rechtsanspruch durchzusetzen.
Deswegen ist es richtig, dass wir zunächst die Anzahl
der Betreuungsplätze erhöhen, bis wir 35 Prozent der unter Dreijährigen eine Betreuung anbieten können. Dann
müssen wir untersuchen, wie weit wir gekommen sind
und ob die Möglichkeit besteht, den nächsten Schritt zu
gehen. Das werden wir tun. Diese Regierung, dieses Ministerium und diese Familienministerin reden nicht nur,
sie handeln auch.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vorab: „Herdprämie“, „Wickelvolontariat“, „Rabenmütter“, „Gebärmaschinen“ - all das sind Begriffe,
die unangebracht sind und hier nichts zu suchen haben
sollten.
({0})
Mit Freude und Stolz nehme ich als sozialdemokratische Familienpolitikerin die Einigung im Hinblick auf
den Ausbau der Zahl der Krippenplätze zur Kenntnis.
Die SPD hat sich in der Großen Koalition mit ihrer Forderung nach einem Rechtsanspruch durchgesetzt. CDU/
CSU und Familienministerin von der Leyen hatten den
Rechtsanspruch wochenlang abgelehnt. Aber jetzt ist
klar: Ab 2013 wird es für Kinder ab dem ersten Geburtstag einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geben. Noch in dieser Legislaturperiode wird ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Wir haben beim Ausbau
der Kinderbetreuung keine Zeit zu verlieren.
({1})
Entgegen allen Verlautbarungen aus der Union gibt es
kein Junktim zwischen dem Rechtsanspruch und dem
heute debattierten Betreuungsgeld.
({2})
Das von der CSU ins Spiel gebrachte Betreuungsgeld ist
rückwärtsgewandt und ideologisch geleitet.
({3})
Eine Sonderprämie für Eltern, die für ihre Kinder keine
Krippenplätze wollen, wäre in vielfacher Hinsicht mehr
als kontraproduktiv. Mit dieser Prämie will die Union
die seit Jahrzehnten in mehrfacher Hinsicht vom Staat finanziell unterstützte Alleinverdienerehe noch mehr bevorzugen.
({4})
Bereits jetzt profitiert insbesondere diese Lebensform
von dem gesellschaftspolitisch längst überholten Ehegattensplitting. Eltern hingegen, die sich die Erziehung ihrer Kinder partnerschaftlich teilen und Familie und Beruf vereinbaren wollen, sind vom Staat über Jahre
benachteiligt und alleingelassen worden. Es war die rotgrüne Koalition, die mit der Ministerin Schmidt eine
neue Ära in der Familienpolitik eingeleitet und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den notwendigen
Ausbau frühkindlicher Bildungs- und Betreuungsangebote in den Fokus der Öffentlichkeit gestellt und vorangebracht hat.
({5})
Das reflexartige Gerede vonseiten der Union von
„echter Wahlfreiheit für Familien“ ist an Scheinheiligkeit nicht zu übertreffen.
({6})
Keine Wahlfreiheit gibt es zurzeit ausschließlich für diejenigen Eltern, die aufgrund fehlender Krippenplätze
nicht berufstätig sein können. Meine Damen und Herren
von der Union, warum fällt es insbesondere den männlichen Unionspolitikern - wie Stoiber - so schwer, umzudenken und veränderte Lebenswünsche von Eltern zu
respektieren und zu unterstützen?
({7})
Die Vermutung, Sie wollten damit im Nachhinein Ihr
persönlich gewähltes Familienmodell verteidigen, liegt
mehr als nahe.
({8})
Eine Betreuungsprämie ist gleichstellungspolitisch
das falsche Signal. Sie trägt zur Ausgrenzung von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt bei und verfestigt Frauenarbeitslosigkeit. Berufstätigkeit ist und bleibt für Frauen
die beste Armutsprävention. Eine Betreuungsprämie
hilft Frauen keineswegs; sie lockt sie vielmehr in eine
Falle der Abhängigkeit und Armut.
({9})
Eine Betreuungsprämie würde vor allem - dies wäre die
fatalste Auswirkung - jene Kinder von den frühkindlichen Bildungseinrichtungen fernhalten, die sie am nötigsten brauchen.
Reden wir doch Klartext: Die Betreuungsprämie setzt
Anreize, Kinder nicht in eine Krippe zu geben. Das ist
bildungspolitisch kontraproduktiv.
({10})
Gerade die Kinder, die einer frühen Förderung außerhalb
des Elternhauses besonders bedürfen, bleiben dann vermehrt zu Hause. Vor allem jene Kleinen, die von ihren
Eltern nicht genug Unterstützung erhalten und bei denen
manchmal leider der Fernsehapparat der beste Freund
ist, wären die großen Verlierer Ihrer Prämie.
({11})
Für viele Kinder ist die Kindertagesstätte das einzig stimulierende Umfeld, das sie haben.
Die Weichen für Chancengleichheit werden früh gestellt. Wir sollten endlich aus PISA lernen und Kindern
aus allen sozialen Schichten, mit und ohne Migrationshintergrund, die gleichen Bildungschancen mit auf den
Weg geben. Von einer qualitativ guten Betreuung profitieren alle Kinder. Kinder brauchen Kinder. Dieser Aspekt ist auch in Bezug auf den Erwerb der deutschen
Sprache und der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund von großer Bedeutung.
Fakt ist, eine Betreuungsprämie, für die die Union
kein Finanzierungskonzept hat, wäre in mehrfacher Hinsicht fatal: gleichstellungspolitisch, arbeitsmarktpolitisch, integrationspolitisch und bildungspolitisch.
({12})
Deutschland hat im europäischen Vergleich noch viel
nachzuholen: beim Angebot an Krippenplätzen, bei der
frühkindlichen Bildung und auch bei der Gleichstellungspolitik. Aus all diesen Gründen wird es mit uns, der
SPD, keine Betreuungsprämie geben. Der ganze Vorgang um das Betreuungsgeld zeigt, dass das Familienbild der Union antiquiert und überwiegend leider noch
ideologisch geleitet ist. Frau von der Leyen ist lediglich
das vermeintlich moderne Aushängeschild. Für moderne
und verlässliche Familienpolitik steht nur die SPD.
({13})
Herzlichen Dank.
({14})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun das Wort die Kollegin Elisabeth WinkelmeierBecker von der CDU/CSU-Fraktion. Ich hoffe, Sie
schmieden die Koalition jetzt wieder zusammen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Abschluss dieser unseligen Debatte möchte auch
ich mir noch einige Bemerkungen erlauben, bevor ich
dann endgültig den Herd abstelle und die hier herrschende Begriffsverwirrung damit hoffentlich beende.
Erste Bemerkung. Ich finde es äußerst bemerkenswert, dass wir als Familienpolitiker uns heute darüber
unterhalten, ob wir mit einem Betreuungsbonus vielleicht zu viel an Familienleistungen geben würden. Vor
einigen Wochen stand noch im Raum, den Ausbau der
Betreuung der unter Dreijährigen durch eine Kürzung
des Kindergeldes gegenzufinanzieren.
({0})
Das ist inzwischen vom Tisch. Ich denke, das ist ein sehr
positiver Ansatz, der die Perspektive stark verändert hat.
({1})
Zweite Bemerkung. Ein Betreuungsbonus passt
bruchlos in das System der Stärkung der jungen Familien, die im Fokus unserer Familienpolitik steht. Es gibt
bereits den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz
nach dem dritten Geburtstag und das neue Elterngeld für
die ersten zwölf bis 14 Monate, das sehr gut angenommen wird. Jetzt brauchen wir den Lückenschluss zwischen dem 12. bzw. 14. Lebensmonat und dem Eintritt
ins Kindergartenalter. Außerdem ist ein Ersatz für das
weggefallene Erziehungsgeld im zweiten Lebensjahr
notwendig.
Ganz ohne Ideologie und sachgerecht passt gut hinein, was wir hier anbieten wollen, nämlich einerseits den
Betreuungsplatz in einer Einrichtung oder bei einer Tagesmutter, die die Eltern nach ihren persönlichen Kriterien frei auswählen können, oder andererseits - auch
dem Elternwillen entsprechend, wenn ein anderes Lebensmodell gewählt wird - einen gewissen Ausgleich
für den Betreuungsplatz zu Hause; denn auch da entstehen Kosten,
({2})
zum Beispiel für ergänzende Bildungsangebote. Vorstellbar ist in diesem Zusammenhang auch, dass die
Mutter etwas für sich tut, um den Nachteil eines längeren Ausscheidens aus dem Berufsleben auszugleichen.
Dritte Bemerkung. Es geht völlig an der Sache vorbei,
wenn hier die Absicht unterstellt wird, mit dem geplanten Betreuungsbonus ein altes, überkommenes Familienbild aus vergangenen Epochen wieder salonfähig machen zu wollen. Ich nehme dies zum Anlass, noch
einmal deutlich zu machen, mit welchem Tempo und mit
welcher Dynamik wir in den letzten Monaten gerade für
die Familien Politik gemacht haben, die Beruf und Erziehung der eigenen Kinder vereinbaren wollen. Für berufstätige Eltern haben wir deutlich bessere Möglichkeiten geschaffen, Betreuungskosten steuerlich geltend zu
machen. Des Weiteren haben wir, wie schon erwähnt,
das Elterngeld eingeführt. Inzwischen arbeiten wir mit
dem bedarfsgerechten Ausbau des Betreuungsangebots
für unter Dreijährige im Hinblick auf einen mittelfristigen
Rechtsanspruch schon an der dritten Riesenbaustelle. Es
ist mir schleierhaft, wie man daraus auf die Festlegung auf
ein traditionelles Familienbild schließen kann.
({3})
Es geht im Übrigen an der Lebenswirklichkeit vorbei,
wenn man ein Familienbild abstrakt neben das andere
setzt, indem man eine Mutter, die sich für eine selbstgewählte Phase der Betreuung ihrer Kinder widmet, in die
eine Schublade steckt und eine Mutter, die Karrierefrau,
die schnell wieder in den Beruf zurückkehren will und
ihre anderen Aufgaben angeblich nicht richtig erfüllt, in
die andere. Das ist falsch und negiert auch die Tatsache,
dass häufig eine Frau zwischen den verschiedenen Modellen wechselt, und zwar ganz unideologisch daran
orientiert, wie es ihrer jeweiligen Situation am besten
entspricht. Ich denke zum Beispiel an eine Frau, die nach
ihrem ersten Kind drei Jahre zu Hause bleibt, weil das
zweite Kind schon unterwegs ist, aber nach dem zweiten
Kind, wenn sie schon vier oder fünf Jahre zu Hause war,
in den Beruf zurückkehren will und deshalb für dieses
Kind früher Betreuung in Anspruch nimmt.
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Dass ein
Betreuungsbonus falsche Anreize bieten kann, wie in der
heutigen Debatte festgestellt wurde, ist nicht ganz von
der Hand zu weisen. Ich verspreche Ihnen, dass wir die
Lebenswirklichkeit von Kindern in unterschiedlichen
Familiensituationen berücksichtigen werden. Das spricht
aber nicht generell gegen einen Betreuungsbonus, mit
dem wir auch die Familienarbeit honorieren wollen. Ich
denke, es wird unsere Aufgabe sein, in der Detailarbeit
der Ausgestaltung des Gesetzentwurfs hinsichtlich der
Anspruchsvoraussetzungen und der Leistungsart sicherzustellen, dass das Geld den Kindern zugutekommt. Darüber sollten wir gemeinsam konstruktiv nachdenken.
Wir sollten an dem Ziel festhalten, die Familien zu stärken, und keinen ideologischen Streit führen, an dem vor
allem die Familien kein Interesse haben.
Danke schön.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0}) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fortschritte für Zypern - Eine Aufgabe für die
deutsche EU-Ratspräsidentschaft
- Drucksachen 16/5259, 16/5453 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Markus Löning
Dr. Hakki Keskin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Rainder Steenblock vom Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
ungefähr drei Jahren, im Frühjahr des Jahres 2004, gab
es auf Zypern die Debatte um den Annan-Plan, gab es
die bevorstehenden Referenden und den bevorstehenden
Beitritt der Republik Zypern zur Europäischen Union.
Damals hatten viele von uns die Hoffnung, dass wir eine
wiedervereinigte Republik Zypern in der Europäischen
Union begrüßen können. Das hat leider nicht geklappt.
Die Referenden sind nicht so ausgegangen, wie wir es
gehofft haben. Seit dem 1. Mai 2004, seit dem Beitritt
der Republik Zypern, sind wir auf dem Weg zu einer
Wiedervereinigung der geteilten Insel leider kaum vorangekommen.
Die Europäische Union, der die Republik Zypern,
beigetreten ist, ist eine Friedensunion. Die Europäische
Union weiß, dass Frieden erst durch historische Versöhnungsleistungen entsteht. Deutschland und Frankreich
sind ein positives Symbol für die Versöhnung, die notwendig ist, um zwischen Nationen oder Gruppen Frieden zu schaffen. Der Wille zur Versöhnung ist neben allen notwendigen technischen Schritten in Bezug auf
neue Verhandlungen das zentrale Element, um auf der
Insel tatsächlich eine Wiedervereinigung erreichen zu
können.
({0})
Der Zypernkonflikt ist eine europäische Herausforderung, dessen Lösung nicht mehr auf sich warten lassen
kann. Wir dürfen diesen Prozess nicht mehr aufschieben.
Als Europäer, die wir so viel Erfahrung mit Teilung und
der Überwindung von Teilung haben, müssen wir konkret und aktiv handeln.
Für mich ist eine der wichtigsten Lehren aus unserer
eigenen Geschichte, dass wir in zentralen und existenziellen Fragen über Parteigrenzen hinweg in diesem
Hause zusammenarbeiten müssen. Die Wiedervereinigung eines Landes ist ein solch zentrales Projekt. Deshalb freue ich mich besonders, dass im Deutschen Bundestag ein solch breiter Konsens zwischen den
Fraktionen zu diesem Thema erzielt werden konnte. Ich
möchte mich bei all den Kolleginnen und Kollegen, die
an diesem Antrag mitgearbeitet haben, für die konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Wir haben damit ein
Zeichen gesetzt, dass wir nicht nur - wie gerade eben sehr kontrovers diskutieren können, sondern dass wir,
der Deutsche Bundestag, im Interesse von Menschen
auch gemeinsam handeln können.
({1})
Viele Menschen in beiden Teilen Zyperns erwarten
ein stärkeres Engagement der Europäischen Union. Vor
diesem Hintergrund kommt der EU und insbesondere
Deutschland eine große Verantwortung zu, diese Entwicklung konstruktiv zu begleiten und weitere Schritte
zur Wiederannäherung der beiden Teile Zyperns zu befördern. Insbesondere Deutschland mit seinen Teilungserfahrungen genießt auf beiden Seiten der Demarkationslinie sowie in Griechenland und der Türkei einen hohen
Vertrauensvorschuss, was die Kompetenz zur Lösung
dieser Probleme und zur Überwindung dieser Gegensätze angeht. Wir müssen das Vertrauen, das uns entgegengebracht wird, aktiv nutzen. Das wollen wir mit unserem Antrag tun.
Unser Antrag hat im Vorfeld eine Reihe von Irritationen bei befreundeten Staaten ausgelöst. Ich habe mit Befremden einige Stellungnahmen zur Kenntnis genommen, die belegen, wie andere Parlamente auch aus der
Europäischen Union im Vorfeld versucht haben, Einfluss
auf die Entscheidung des Deutschen Bundestages zu
nehmen. Das weise ich zurück. So können wir als Parlamentarier nicht miteinander umgehen.
({2})
Die Kritik kam aus sehr unterschiedlichen Richtungen. Das zeigt mir, dass wir mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag auf dem richtigen Weg sind, die Debatte und den politischen Prozess zur Lösung des
Zypernproblems neu zu beginnen. Wir wollen diesen
Prozess auf der Grundlage des Völkerrechts und der
UN-Resolution anstoßen. Wir wissen, dass nur die Vereinten Nationen in der Lage sind, auf die zentralen Fragen, die gelöst werden müssen - Zuwanderungspolitik,
Eigentumsfragen, Entmilitarisierung -, Antworten zu
geben. Wir wissen aber auch, dass eine Lösung dieses
Konfliktes nicht möglich ist, wenn wir die Fähigkeit zur
Zusammenarbeit der Bevölkerungsgruppen auf der Insel
nicht weiterentwickeln. Es hat in letzter Zeit eine Reihe
positiver Signale gegeben: der Abriss der Mauer auf beiden Seiten und die Überarbeitung der Schulbücher. All
das sind wichtige, ganz positive Schritte. Dieser Weg
muss weitergegangen werden. Aber es gibt auch viele
Blockaden in allen Bereichen.
({3})
Wir fordern die Türkei auf, die notwendigen Schritte
zur Umsetzung der internationalen Abkommen zu gehen. Wir fordern aber auch die Republik Zypern auf, die
Schritte auf der Insel zu gehen, die vertrauensbildend
sind, und mit den Stellen in Nordzypern zusammenzuarbeiten.
Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern?
Mein letzter Satz.
Es geht nicht darum, den Norden der Insel als eigenständigen Staat anzuerkennen. Wir wollen keine neuen
Mauern aufbauen, sondern Mauern einreißen. Es geht
nicht darum, den Status quo zu verteidigen, sondern darum, mutig aufeinander zuzugehen, um im Interesse der
Menschen auf der Insel Zypern eine Zukunft ohne Grenzen zu gestalten.
Herr Kollege, das waren mindestens zehn Sätze.
Das ist das Ziel unseres fraktionsübergreifenden Antrages.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Fornahl,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Rainder Steenblock, Dir persönlich Dank für die Initiative zu diesem fraktionsübergreifenden Antrag, den eine
breite Mehrheit dieses Hauses - es sind vier Fraktionen aktiv unterstützt und mitträgt, genauso wie allen anderen
Kolleginnen und Kollegen, die an der Formulierung dieses Antrags in vielen Beratungen mitgewirkt haben!
Der Antrag trifft aber vermutlich nicht überall auf der
Welt auf volle Zustimmung, auch nicht in Europa, insbesondere nicht in Zypern und Griechenland. Der Botschafter der Republik Zypern hat vor kurzem einen
Brief geschrieben, in dem er deutliche Kritik an unserem
Antrag übt. Er vertritt die Linie von 1983 und betrachtet
unsere Bemühungen einseitig unter dem Gesichtspunkt
der indirekten Anerkennung Nordzyperns. Diese Haltung führt in die Sackgasse und entspricht nicht der Intention unseres fraktionsübergreifenden Antrages; das
will ich deutlich sagen.
({0})
Nun zur Rhetorik: Es ist nicht angebracht, wenn der
Botschafter der Republik Zypern schreibt, dass
eine etwaige Annahme des Antrags in der vorliegenden Version nicht besonders förderlich für die
Kontinuität und Weiterentwicklung der auf allen
Ebenen ausgezeichneten deutsch-zyprischen Beziehung wäre.
Das ist schon der zweite Versuch, sich auf unzulässige
Weise in die Angelegenheiten des Deutschen Bundestages einzumischen. Es tut mir leid, das sagen zu müssen,
aber das weist meine Fraktion deutlich zurück.
Dass gerade der Deutsche Bundestag 17 Jahre nach
der Wiedervereinigung Deutschlands auf das Problem
eines geteilten Landes innerhalb der Europäischen
Gemeinschaft hinweist, ist gut und richtig, glaube ich.
Es geht hier um die große Mehrheit der Menschen auf
der Insel - egal ob sie griechisch- oder türkischstämmig
sind -, die sich eine Wiederannäherung und eine Wiedervereinigung wünschen. Eine Lösung ist lange überfällig.
({1})
Deshalb wäre es besser, wenn die Republik Zypern die
Intention unseres Antrages, im Rahmen der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft zur Überwindung des Status quo
in der Zypernfrage beizutragen, aktiv unterstützte.
Selbstverständlich fordern wir diese Unterstützung auch
von den Nordzyprern, von Griechenland und von der
Türkei. Alle müssen sich bewegen - Rainder Steenblock
hat darauf hingewiesen -, auch wenn es nur viele kleine
Schritte auf diesem Wege sind, aber sie müssen gegangen werden, und alle müssen diesen Weg mitgehen.
Ebenso ist die Europäische Union in der Verantwortung, sich intensiv um die Lösung des Zypernproblems
zu bemühen; dies zum einen im Hinblick auf die EUMitgliedschaft eines Staates, der immer noch geteilt ist,
und zum anderen mit Blick auf die Türkei; denn mit dem
Status quo werden sich außerordentliche Schwierigkeiten für die weiteren Verhandlungen zur Aufnahme der
Türkei in die Europäische Union ergeben. Es gilt, deutlich zu machen, dass die Europäische Union erwartet,
dass das Anpassungsprotokoll zum Assoziierungsabkommen vollständig implementiert wird, und zwar möglichst bald. Auf der anderen Seite muss das EU-Mitglied
Republik Zypern überzeugt werden, die Verhandlungen
über die Sonderregelungen für den Handel der EU mit
Nordzypern rasch wieder aufzunehmen, um auch hier zu
einer konkreten Lösung zu kommen.
Unser Antrag enthält eine Reihe weiterer wichtiger
Punkte, die schon angesprochen worden sind, wie die
Belebung des Handels, die Förderung der schrittweisen
Anpassung an das Rechtssystem der Gemeinschaft in
Nordzypern, den Abzug der türkischen Truppen aus
Nordzypern - ein wichtiger Aspekt, den man immer
wieder deutlich machen muss -, die Erarbeitung eines
Konzepts zur Lösung der ungeklärten Eigentumsfragen
- da können wir mit den Erfahrungen im Osten Deutschlands nützliche Hinweise liefern - und die Entspannung
in der Migrationsfrage. Letzteres ist ein wichtiger und
bedeutsamer Aspekt, den wir in Richtung Türkei ansprechen müssen.
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, die Zypernfrage nach dem Scheitern des Referendums von 2004
über den Annan-Plan durch die griechischen Zyprer wieder auf die Agenda der Vereinten Nationen zu setzen und
dafür zu werben, dass die VN mit neuen Initiativen nach
einer Lösung des Problems suchen.
({2})
Als Bürger eines Landes, welches selbst Jahrzehnte
geteilt war, hoffe ich, dass sich die türkischen und griechischen Zyprer, die Türkei, Griechenland, die EU und
die Vereinten Nationen dieser Verantwortung bewusst
sind, bzw. wenn sie es noch nicht sind, bewusst werden,
und nicht locker lassen, um eine endgültige Teilung der
Insel zu verhindern und den Menschen auf beiden Seiten
der grünen Linie eine Perspektive zu geben, in einem geeinten Staat zu leben. 1961 wurde Deutschland durch
eine Mauer geteilt, 28 Jahre später, 1989, fiel diese
Mauer. Die „Mauer“, die Zypern teilt, ist, wenn man so
will, heute schon 44 Jahre alt. Dies macht deutlich: Es ist
überfällig, dass wir eine Lösung des Problems finden.
Lassen Sie mich eines noch zum Schluss sagen: Aus
der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland ist inzwischen das längste Naturschutzgebiet Deutschlands
geworden. Helfen wir mit der Verabschiedung unseres
Antrages den Zyprern, uns darin nachzueifern. Es lohnt
sich, die Green Line zu einer echten grünen Linie auf
Zypern zu machen. Dann haben wir das Problem gelöst.
Vielen Dank meine Damen und Herren.
({3})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Löning,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben schon vieles über
Bewegung gehört. Ich glaube, Bewegung ist das Schlüsselwort, über das wir hier zu reden haben. Alle Seiten
müssen sich in diesem Konflikt bewegen, wenn wir
überhaupt Fortschritte erzielen wollen. Von der türkischen Seite haben wir zurzeit nicht besonders viel Bewegung zu erwarten. Dort finden Ende Juli Parlamentswahlen statt. Solange diese Parlamentswahlen nicht
stattgefunden haben, wird sich dort nichts bewegen.
Aber danach muss von der türkischen Seite deutlich Bewegung in diesen Konflikt kommen. Die Türkei kann
nicht über eine Mitgliedschaft in der EU verhandeln und
gleichzeitig eines der Mitglieder der EU nicht anerkennen. Das ist ein Unding. Das müssen wir an dieser Stelle
deutlich sagen.
({0})
Die Herstellung der vollen Freizügigkeit, was
Schiffe und Flugzeuge aus der Republik Zypern angeht,
ist selbstverständlich ein Grundelement der Europäischen Union. Jeder, der Mitglied werden will - die Türkei ist schon Mitglied in der Zollunion -, muss die volle
Freizügigkeit herstellen. Auch das ist eine Selbstverständlichkeit.
Es kann auch nicht sein, dass ein Beitrittskandidat
Truppen auf dem Territorium eines Mitgliedstaates gegen dessen Willen stationiert hat. Auch das muss man an
dieser Stelle einmal deutlich sagen.
({1})
Das sind Zustände, die wir an dieser Stelle deutlich benennen müssen. Auf der türkischen Seite muss es also
eindeutige Bewegungen geben. Diese Forderung werden
wir gegenüber der neuen türkischen Regierung zu erheben haben.
Aber auch die anderen müssen sich bewegen; auch
das muss man hier deutlich sagen. Auch die Republik
Zypern muss sich bewegen. Sie ist Mitglied in der EU;
sie gehört zur Familie. Wir haben gerade in einem anderen Zusammenhang, nämlich beim EU-Russland-Gipfel,
erlebt, wie wichtig es ist, dass wir, die Europäische
Union, uns nicht auseinanderdividieren lassen. Wir stehen zu jedem einzelnen unserer Mitgliedsländer. Die andere Seite der Medaille ist natürlich: Wer Mitglied ist,
muss sich auch unionsfreundlich verhalten. Es kann
nicht sein, dass ein Einzelner auf die Dauer Fortschritte
blockiert. Auch das müssen wir in Richtung der Republik Zypern deutlich sagen.
({2})
Was den Brief des Botschafters angeht - die beiden
Kollegen haben es schon angesprochen -: Es ist selbstverständlich legitim, dass sich der Botschafter der Republik Zypern für die Sache seiner Regierung einsetzt. Daran habe ich persönlich nichts auszusetzen. Mich hat
mehr der Ton gestört. Ich hätte mir mehr Verbindlichkeit
im Ton gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass von
diesem Brief ein Signal der Verständigungsbereitschaft
ausgegangen wäre. Das habe ich in diesem Brief leider
nicht erkennen können, und das tut mir, ehrlich gesagt,
sehr leid; denn die Bereitschaft zur Verständigung auf allen beteiligten Seiten - das schließt die Republik Zypern
selbstverständlich ein - ist die wichtigste Voraussetzung
für Fortschritte in Zypern.
Ich möchte an dieser Stelle Folgendes einflechten
- Rainder Steenblock hat es hier schon erwähnt -: Wir
hatten gestern ein Gespräch mit Kollegen aus Nordzypern. Man war unterschiedlicher Meinung über verschiedene inhaltliche Punkte. Was mich an diesem Gespräch positiv überrascht hat, war der Ton: Im Ton kam
zum Ausdruck, dass Gesprächsbereitschaft und Verhandlungsbereitschaft da sind. Das ist die Grundvoraussetzung, die wir von allen Seiten an dieser Stelle einfordern müssen.
({3})
Wir, die Europäische Union und insbesondere
Deutschland, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft
innehat, müssen eines sehr klar machen: Die Europäische Union hat hier Zusagen gegeben. Wir haben versprochen, dass wir die Handelsisolierung Nordzyperns
aufheben, und wir haben versprochen, dass wir Mittel
aus den Strukturfonds zur Verfügung stellen, um die Insel aufzubauen. Die Verteilung dieser Mittel wird von
der Republik Zypern zurzeit blockiert. Das ist ein Angriff auf unser aller politische Glaubwürdigkeit. Das belastet unser Verhältnis zur Türkei, und es belastet unsere
Glaubwürdigkeit als Europäische Union insgesamt.
Man kann solche politischen Mittel durchaus einmal
anwenden - ich will das gar nicht prinzipiell in Abrede
stellen -; aber auf die Dauer geht das nicht. Langfristig
erwarten wir unionsfreundliches Verhalten. Es ist wichtig, dass die Europäische Union glaubwürdig bleibt, und
es ist auch wichtig, dass die Situation auf Zypern unsere
Beziehungen zur Türkei nicht auf Dauer beschädigt
oder belastet. Dazu sind gerade die Beziehungen
Deutschlands zur Türkei einfach viel zu wichtig.
Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel anführen. Die
Kommission hat soeben gesagt, dass Zypern den Euro
einführen kann. Niemand würde auf die Idee kommen,
so etwas zu instrumentalisieren. Ich möchte, dass das als
Beispiel gilt, sodass man sagt: Jawohl, wir haben damals
Zypern aufgenommen. Es wird immer wieder darüber
diskutiert, ob es ein Fehler war, Zypern aufzunehmen,
ohne die Lösung des Zypernkonflikts zur Bedingung zu
machen. Jetzt ist Zypern Mitglied. Ich erwarte, dass der
an dieser Stelle gegebene Kredit an anderer Stelle, nämlich bei den Verhandlungen, zurückgezahlt wird. Ich erwarte da einfach Bewegung auf allen Seiten. Ich beschränke meine Erwartungen nicht zu sehr auf die
Republik Zypern.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen. Wir
Deutsche wissen - auch das ist hier schon mehrfach gesagt worden -, was Teilung und Wiedervereinigung heißen. Gerade historische Situationen sind eigentlich nie
miteinander vergleichbar. Sie sind immer unterschiedlich. Aber es gibt immer Detailprobleme, die gleich oder
ähnlich sind; ich nenne hier zum Beispiel Fragen der
Restitution, Fragen des Eigentums. Ich glaube, dass wir
als Deutsche hier einiges beitragen können, auch einiges
an Input, an Know-how liefern können. Wir sind gern
bereit, das zu tun, wenn der politische Wille da ist, sich
zu bewegen. Das ist unser Appell von hier aus. Wir wollen gerade als Deutsche eine friedliche Wiedervereinigung Zyperns. Wir hoffen auf Fortschritte in diesem Prozess. Dafür haben wir diesen Antrag eingebracht.
Vielen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Bernhard Kaster,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Seit dem 1. Mai 2004 ist Zypern Mitglied
der Europäischen Union - ganz Zypern, die gesamte Insel, eine, wie viele wissen, wunderschöne Insel, gern
auch als „Insel der Aphrodite“ bezeichnet. Zypern ist ein
schönes Land, aber die politische Wirklichkeit unterteilt
sich seit Jahrzehnten - das ist auch jetzt noch so, während der Mitgliedschaft in der Europäischen Union - in
Nord und Süd. Zypern hat als Mitglied der Europäischen
Union unsere volle Unterstützung, wenn es darum geht,
seine Teilung zu überwinden.
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßen
es außerordentlich, dass aus der Mitte des Parlaments
fraktionsübergreifend dieser Antrag in großer Übereinstimmung zustande kam. Er unterstützt auch das große
Engagement der Bundesregierung in der Zypernfrage,
übrigens nicht nur während der Ratspräsidentschaft. Vor
allem unsere Bundeskanzlerin hatte schon sehr frühzeitig, schon vor Beginn der Ratspräsidentschaft, darauf
hingewiesen, dass dieses europäische Problem ein Problem innerhalb der Europäischen Union und eben auch
ein Problem der Europäischen Union mit dem Nachbarland Türkei darstellt, und es auf die Arbeitsagenda gesetzt. Die Zypernfrage ist weder durch Deutschland noch
durch die Europäische Union allein lösbar. Dennoch sehen wir eine besondere Verpflichtung aufgrund der besonders guten freundschaftlichen Beziehungen, auf die
schon viele der Vorredner bewusst hingewiesen haben.
Was ist der Grund für diesen Antrag? Was kann dieser
Antrag bewirken? Er soll insbesondere ein wichtiger Anstoß sein, ein Appell an alle Beteiligten, die seit Jahrzehnten schwelende Zypernfrage endlich einer Lösung
näher zu bringen. Der letzte Punkt des Antrags - alle Beteiligten sollen sich konstruktiv bewegen, sollen etwas
einbringen - ist im Prinzip die Hauptbotschaft - neben
vielen anderen sinnvollen Impulsen und Handlungsanstößen, die wir im Antrag festgehalten haben.
Eines ist aber klar: Die Republik Zypern hat als EUMitglied die volle Solidarität der Europäischen
Union. Die Europäische Union wird sich hier auch nicht
auseinanderdividieren lassen. Eine völkerrechtliche Anerkennung quasistaatlicher Strukturen im Norden der Insel steht nicht zur Debatte.
Daneben ist es aus unserer Sicht aber genauso wichtig
und richtig, die wirtschaftliche Situation im Norden des
Landes Zug um Zug zu verbessern. Deshalb ist es richtig, den Handel zwischen beiden Landesteilen weiter zu
beleben. Es ist richtig, Finanzhilfen für die Entwicklung
der Infrastruktur im Norden bereitzustellen. Es ist
ebenso richtig, Sonderregelungen für den direkten Handel der Europäischen Union mit dem Norden der Insel zu
ermöglichen. Diese Bemühungen - davon sind wir überzeugt - werden den Weg zu einem wiedervereinigten
Zypern sehr wohl fördern. Oft wird befürchtet, die Trennung würde damit stabilisiert; das Gegenteil wird der
Fall sein.
({0})
Wir würdigen ausdrücklich das große Engagement
der Republik Zypern bei vielen Maßnahmen, die das
menschliche Zusammenleben sowie das gesellschaftliche und auch das wirtschaftliche Leben der Menschen in
ganz Zypern erleichtern. Sichtbarstes Zeichen dafür ist
der Abriss der Mauer an der Ledrastraße in Nikosia am
9. März dieses Jahres. Ein solches Zeichen ist auch die
Zustimmung der Republik Zypern zu den Finanzhilfen,
die seitens der Europäischen Union in den Norden fließen.
Schon im kommenden Jahr kann der Euro in Zypern
eingeführt werden; es wurde bereits darauf hingewiesen.
Die Einführung des Euros ist nicht nur eine währungspolitische oder wirtschaftspolitische Maßnahme, sondern - da haben wir vielfältige Erfahrungen - der Euro
vermittelt in besonderem Maße das Bewusstsein der Zugehörigkeit zum vereinten, auch zum gelebten Europa.
Von daher will ich die Einführung des Euros durchaus so
bewerten: Es ist eine weitere Chance, den Weg zu einem
wiedervereinigten Zypern zu ebnen. Ich denke, dieser
Punkt kann noch mehr Perspektive hineinbringen.
Das Misstrauen ist auf beiden Seiten der grünen Linie
nach wie vor sehr groß. Wir sprechen hier nicht nur von
einem Problem Zypern und von einem Problem in der
Europäischen Union, sondern wir sprechen im Besonderen von einem Problem der Europäischen Union, nämlich von einem Problem mit dem Nachbarn Türkei. Im
Norden der Insel steht seit nunmehr über 30 Jahren türkisches Militär. Mit über 35 000 Soldaten besteht dort
eine vollkommen unverhältnismäßige Drohkulisse. Man
muss verstehen, wie dies vor Ort empfunden wird.
({1})
Diese Militärpräsenz erfüllt uns alle mit Sorge, denn
Gewaltoptionen können niemals Optionen sein. Der Antrag fordert es ausdrücklich: Deshalb wird die Türkei
aufgefordert, ihre vorhandenen militärischen Kräfte auf
der Insel zu reduzieren. Ziel muss der vollständige Abzug sein. Das wäre in dieser Frage ein richtiges und Vertrauen schaffendes Signal, das von der Türkei ausgehen
könnte.
({2})
Gleiches gilt für das von der Türkei zwar unterschriebene, aber nicht vollständig umgesetzte Anpassungsprotokoll zum Assoziierungsabkommen. Die Öffnung
der Häfen und Flughäfen für unseren EU-Partner Zypern
muss endlich erfolgen. Ich betone nochmals die Hauptbotschaft dieses Antrags: Bewegung, Veränderung und
der Wille zu einem Lösungsweg müssen von allen Beteiligten ausgehen. Vermeintliche innenpolitische Hemmnisse oder - wie so häufig - bevorstehende Wahlen,
seien sie in Zypern, seien sie in der Türkei oder in Griechenland, können dabei nicht als Ausrede dienen. Wahlen wird es letztlich immer auf irgendeiner Seite geben.
Um Beispiele zu nennen: Was wäre, wenn die Türkei beginnen würde, ihre Truppen ohne Vorleistung zurückzuziehen? Was wäre, wenn seitens der Republik Zypern die
Bemühungen der Europäischen Union um die Direkthandelsverordnung aktiv unterstützt würden? Ein solches Signal könnte auch ein Anstoß in Richtung der Vereinten Nationen sein, einen erneuten Anlauf zur Lösung
der Zypernfrage zu unternehmen.
Ich denke, es ist verständlich, dass auch die Vereinten
Nationen von allen Beteiligten verlässliche Zeichen benötigen und erwarten. Das gehört auf die Agenda der
Vereinten Nationen, wie wir es auch im Antrag zum
Ausdruck gebracht haben. Ganz Zypern und die Menschen in Zypern sollten endlich die gleichen Chancen
wie die übrigen neuen EU-Mitglieder bekommen, um
ohne Einschränkungen und ohne gravierende Hindernisse als EU-Land, als ein politisch geeintes, wiedervereinigtes Land in Europa an der positiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und auch politischen Entwicklung
teilzunehmen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Diether Dehm,
Fraktion die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU-Fraktion und die anderen drei Antragsteller wissen, dass der vorliegende Antrag in seinem
Grundanliegen von allen Parteien hier geteilt wird. Einzig Die Linke konnte im Vorfeld - nach einer anfänglichen kurzen Verständigung zwischen Hakki Keskin und
Rainder Steenblock - ihre notwendigen Präzisierungen
letztlich nicht einbringen. Warum? Weil die CDU/CSU
weder sich noch anderen erlaubt, mit den Linken einen
gemeinsamen Antrag zu unterzeichnen.
Ich frage mich nachträglich: Warum haben Sie von
der CDU/CSU eigentlich damals vor dem 28. September
2006 so großen Wert auf unsere Unterstützung bei Ihrer
Vereinbarung von Bundestag und Bundesregierung über
die Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten gelegt? Damals wollten Sie die Unterschrift der Linken unter Ihrem
Antrag haben. Aber erwarten die Bürger nicht vom Parlament, dass das, was am 28. September möglich war,
auch jetzt beim Thema Zypern möglich wird?
({0})
Erwarten sie nicht, dass die Argumente der zweitstärksten Oppositionspartei ernst genommen werden, statt
diese arrogant auszugrenzen und dann - um einer vergrößerten internationalen Wirkung willen - an die Einstimmigkeit zu appellieren?
({1})
Wir alle laborieren heute noch immer an dem Fehler,
der bei der Aufnahme der Republik Zypern in die EU gemacht wurde. Mit dem Tunnelblick auf einen konkreten
Aufnahmetermin wurde damals der Grundsatz achtlos
beiseitegeschoben, erst die innere Einheit des Inselstaates wiederherzustellen und danach die Aufnahme zu
vollziehen. Die richtige Reihenfolge hätte sich erfolgreich auch auf die Bemühungen um eine Einheit Zyperns
auswirken können.
({2})
Für uns sind zwei Grundsätze maßgeblich:
Erstens. Die nötige Überwindung der jetzigen Situation in Zypern muss nach vorn gerichtet erfolgen. Die
vergangenen Fehler, Versäumnisse und auch Verbrechen
können nicht nachträglich ungeschehen gemacht werden.
Zweitens. Das Völkerrecht steht in keiner Weise zur
Disposition. Es wirkt auch der realen Verbesserung der
tatsächlichen Situation für die betroffenen Menschen
nicht entgegen. Wir müssen also tatsächliche wirtschaftliche Verbesserung befördern, ohne die völkerrechtlichen Tatbestände anzutasten.
In diesem Sinne begrüßen wir mit den anderen vier
Fraktionen, dass es Anfang vorigen Jahres zur Schaffung
des finanziellen Stützungsinstruments zur Förderung der
wirtschaftlichen Entwicklung der türkischen Gemeinschaft Zyperns gekommen ist. Wir unterstützen auch die
Forderung, weiter an der Sonderhandelsverordnung für
den nördlichen Teil der Insel zu arbeiten und diese möglichst bald zu verabschieden.
Nun zu unseren notwendigen Änderungsanträgen:
Erstens. In dem Antrag der vier Fraktionen fehlt eine
unzweideutige Aussage zur völkerrechtlichen Situation, die aber nötig ist, weil die Türkei eine angebliche
türkische Republik Nordzypern als Staat und Völkerrechtssubjekt anerkannt hat. Um hier Missverständnisse
gar nicht erst aufkommen zu lassen, sind Formulierungen, die als Anerkennung staatlicher Institutionen interpretiert werden könnten, gänzlich zu unterlassen.
Der Linken wurde gestern im EU-Ausschuss vorgehalten, der Bundestag brauche das Völkerrecht nicht
noch einmal zu betonen. Aber dies sagen uns ausgerechnet Parteien, die beim Angriffskrieg auf Jugoslawien das
Völkerrecht einmal zu wenig beachtet haben. Wenn Sie
unseren Antrag für völkerrechtlich selbstverständlich
halten, warum haben Sie ihn dann nicht selbstverständlich übernommen?
({3})
Zweitens. Der Antrag stellt die eigene EU-Initiative
gleichberechtigt neben die Bemühungen der Vereinten
Nationen. Das ist mehr als ein falscher Zungenschlag.
Richtig ist vielmehr, die EU-Aktivitäten in den Rahmen
dessen einzuordnen, was die UN tut. Die wirtschaftliche
Hilfe, die durch die Maßnahmen der EU gewährt werden
kann, muss sich in die Bemühungen einordnen, die Vereinbarung auszufüllen, die unter der Leitung des UNOUntergeneralsekretärs Gambari zustande kam.
Drittens. Es muss ganz deutlich werden, dass unser
Ziel der Abzug aller ausländischen Streitkräfte sein
muss, wie es bereits in der Resolution 3212/74 des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dargelegt ist. Das
bedeutet im Ergebnis auch die Auflösung des britischen
Stützpunkts auf der Insel.
Wir hatten diese notwendigen Klarstellungen im EUAusschuss beantragt. Besonders die CDU hat unsere
Überlegungen - weil ich, nach allem, was ich von Ihnen
gehört habe, Ihre Argumente zu gewichten weiß, sage
ich: wider besseres Wissen - ausgegrenzt, und zwar nur
deshalb, weil sie von uns kamen. Sie werden sehen, dass
Ihr Antrag ohne unsere Änderungen international, auch
in Zypern, zu Missverständnissen und damit zu neuer
Zwietracht führen wird, wo neue Annäherung zwischen
den Menschen unser gemeinsames Anliegen sein sollte.
Deswegen werden wir dem Antrag der vier Fraktionen nicht zustimmen, sondern uns der Stimme enthalten.
({4})
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Günter Gloser.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute den leider immer noch
auf eine Lösung wartenden Zypernkonflikt. Wir tun dies
aus Anlass eines Antrages aus den Reihen des Bundestages, der, wie ich feststellen kann, von einer breiten
Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses getragen wird.
Ich begrüße das sehr und kann eine große sachliche
Übereinstimmung der Position der Bundesregierung mit
den zentralen Aussagen des Antrages feststellen.
Lassen Sie mich dies erläutern: Die Bundesregierung
hat den Beschluss der EU-Außenminister nach dem gescheiterten Referendum vom April 2004 mitgetragen,
die wirtschaftliche Entwicklung des Teils Zyperns, für
den der EU-Acquis noch nicht in Kraft trat, mit besonderen Maßnahmen zu unterstützen. Zu diesem Zweck
wurde bereits im Mai 2004 die sogenannte GrüneLinie-Verordnung in Kraft gesetzt. Mit ihr wird primär
die Durchlässigkeit der Trennungslinie für den türkischzyprischen Handel mit dem Süden der Republik und
dem Personenverkehr gefördert. Sie eröffnet zugleich
die Möglichkeit eines Handels türkisch-zyprischer Güter
über die grüne Linie in andere Länder. Die Verordnung
hat zu einer bedeutenden Zunahme des Waren- und Personenverkehrs zwischen beiden Teilen des Landes
geführt. Jedoch wäre bei entsprechendem politischem
Willen eine noch umfassendere Nutzung dieses Handelsweges durchaus möglich. In den vor kurzem von der Republik Zypern verabschiedeten einseitigen Maßnahmen
sehen wir ein interessantes zusätzliches Angebot zur
Förderung des türkisch-zyprischen Handels.
({0})
Mit der Verabschiedung der sogenannten Finanzhilfeverordnung stellt die EU finanzielle Mittel in Höhe
von 259 Millionen Euro zugunsten der türkisch-zyprischen Gemeinschaft bereit. Um auch das zu erwähnen:
Das übersteigt die höchsten jährlichen Pro-Kopf-Vorbeitrittshilfen für die neuen EU-Mitgliedstaaten um etwa
das Fünffache. Die Bundesregierung unterstützt die Projekte der Kommission wie die Vergabe von Stipendien
an türkisch-zyprische Studenten und Hochschullehrer
oder den Aufbau eines EU-Informationsbüros im nördlichen Teil Nikosias zur Verbesserung der EU-Kenntnisse
der türkisch-zyprischen Gemeinschaft.
Bisher war es leider nicht möglich, den ebenfalls in
diesem Kontext von der EU-Kommission vorgelegten
Entwurf für die sogenannte Direkthandelsverordnung
zugunsten der türkisch-zyprischen Gemeinschaft zu verabschieden. Der erste Rat der Außenminister unter deutscher Präsidentschaft formulierte im Januar 2007 den
Auftrag, die Arbeiten an diesem Entwurf unverzüglich
wieder aufzunehmen.
Als vorläufiges Fazit unserer sofort begonnenen Gespräche kann heute festgestellt werden - einige Vorredner haben es schon erwähnt -: Wir müssen zur Kenntnis
nehmen, dass aufgrund der aktuellen gesamtpolitischen
Rahmenbedingungen mit anstehenden Wahlen in der
Türkei und in Zypern die innenpolitischen Spielräume in
dieser für alle Beteiligten höchstsensiblen Frage sehr
klein sind. Wir setzen aber unsere Bemühungen, hier zu
einem Konsens zu gelangen, unvermindert fort.
In allen Gesprächen mit den Beteiligten werben wir
für einen pragmatischen und schrittweisen Politikansatz
im Sinne einer Annäherung durch Zusammenarbeit.
({1})
Hierzu gehört auch, dass sich Minister Steinmeier intensiv für die Öffnung des Übergangs über die grüne Linie
in der Ledra-Straße im Herzen Nikosias einsetzt. Die
Öffnung dieses seit den ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen beiden Volksgruppen im Jahr
1958 geschlossenen Übergangs wäre ein wahrhaft symbolträchtiger Akt.
({2})
Zum Engagement der Bundesregierung gehört es,
mit Vertretern aller - ich unterstreiche: aller - Konfliktparteien zu sprechen. Die Bundesregierung begrüßt auch
die entsprechenden Gesprächskontakte des Bundestages.
Dabei haben wir natürlich Verständnis für das Interesse
der Republik Zypern, dass solche Kontakte von Dritten
nicht als Beitrag zu einer völkerrechtlichen Anerkennung der sogenannten Türkischen Republik Nordzypern
interpretiert werden können. Wir teilen auch die eben erwähnte Auffassung des Bundestages, dass ein schrittweiser Abzug der in Nordzypern stationierten türkischen
Soldaten eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende vertrauensbildende Maßnahme wäre.
({3})
Zu unserem pragmatischen Ansatz passt auch die Initiative des ehemaligen VN-Untergeneralsekretärs
Gambari vom Juli 2006, mit Arbeitsgruppen und technischen Ausschüssen Lösungen für konkrete Probleme zu
erarbeiten. Leider sehen wir aber seit längerem keinen
substanziellen Fortschritt bei diesen Gesprächen. Dabei
können genau diese Gespräche eine gute Vorbereitung
für die Wiederaufnahme umfassender Zyperngespräche
unter Führung der Vereinten Nationen sein.
Wir können nachvollziehen, dass der Generalsekretär
der Vereinten Nationen von allen Beteiligten klare
Signale der Verständigungsbereitschaft fordert, bevor er
eine umfassende Initiative ergreift. Solche Signale wären
wünschenswert; denn nach wie vor gilt auch für die Bundesregierung: Eine Lösung des Zypernproblems in all
seinen Facetten ist nur im Rahmen der VN denkbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Titel des vorliegenden Antrags des Deutschen Bundestages birgt ein
ehrgeiziges Ziel: Fortschritte auf dem Weg zu einer Lösung der Zypernfrage zu erreichen. Die Bundesregierung
wird als EU-Ratspräsidentschaft, aber auch danach, ihre
Bemühungen in diesem Sinne unvermindert fortsetzen.
Ich möchte deutlich unterstreichen: Die Bundesregierung will Vertrauen schaffen und Misstrauen abbauen.
Sie will zusammenführen und nicht spalten. Auch bei
diesem Punkt muss die Europäische Union berechenbar
bleiben.
Vielen Dank.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute über Zypern, weil die Europäische Union und mit ihr die deutsche Ratspräsidentschaft in der Pflicht stehen. Mit der Aufnahme ganz Zyperns in die Europäische Union haben wir das ungelöste
Problem des Nordens der Insel in die Europäische Union
importiert. Wir müssen heute mit einiger Ernüchterung
feststellen, dass sich die hehre Hoffnung, die die Zyprioten selbst mit dem EU-Beitritt verbunden hatten - nämlich die Hoffnung, dass damit die Lösung des Konfliktes
erleichtert werden könnte -, offenbar nicht erfüllt hat.
Gleichwohl haben wir heute ein gemeinsames Problem. Es ist mir wichtig zu betonen, dass wir auch auf
eine Konsenslösung innerhalb der Europäischen Union
und im Rahmen der Vereinten Nationen Wert legen müssen. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat eine Moderatorenrolle, die sie nur dann wird erfolgreich wahrnehmen können, wenn Gesprächsbereitschaft auf allen
Seiten besteht. Sie wird im Übrigen auch eine Voraussetzung dafür sein, dass der UN-Generalsekretär dieses
Thema wird erneut aufgreifen können.
Dies, meine Damen und Herren, ist auch das Ziel unseres Antrags. Wir wollen dazu beitragen, dass die
Gesprächsbereitschaft auf beiden Seiten wieder zum
Tragen kommt. Dafür gibt es positive Signale - ich
wende mich zunächst an die zypriotische Seite -: Wir
haben mit Interesse wahrgenommen, dass Zypern zugestimmt hat, dass die Europäische Union die Finanzhilfen
für den Norden auszahlt. Gerade als Deutsche haben wir
mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, dass die
Grenzmauer in der Ledra-Straße in Nikosia am 9. März
abgerissen worden ist. Als Angehörige eines Volkes, das
selbst unter Mauer und Teilung gelitten hat, wissen wir
dies besonders zu schätzen.
({0})
Auch auf zypriotischer Seite sind weitere Schritte
notwendig. Die Vorschläge, die wir in unserem Antrag
unterbreiten, beziehen sich unter anderem darauf, die
Kontaktsperre zu Parlament, Verwaltungen, öffentlichen
Institutionen und Bildungseinrichtungen im Norden der
Insel aufzuheben, sowie darauf, die Anpassung des
Rechtssystems im Norden an die Europäische Union zu
fördern. Es liegt im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass dies gelingt.
Ich füge aber eines sehr deutlich hinzu - auch dies haben einige Vorredner schon angesprochen -: Alles, was
wir hier vorschlagen, darf nicht im Entferntesten in
Richtung einer völkerrechtlichen Anerkennung des
nördlichen Teils Zyperns interpretiert werden.
({1})
Dahin führt nach wie vor kein Weg. Ich sage sehr deutlich, dass hier eine offene Bringschuld der türkischen
Seite gegenüber Zypern und gegenüber der Europäischen Union insgesamt besteht, und unterstreiche unsere
hier ebenfalls wiederholt vorgetragenen Forderungen:
Wir wünschen uns einen Abzug der türkischen Truppen
vom Norden der Insel und bestehen darauf, dass das Zusatzprotokoll zum Ankaraabkommen vollständig umgesetzt wird, insbesondere also Häfen und Flughäfen für
zypriotische Schiffe und Flugzeuge geöffnet werden.
({2})
Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, dass
diese an die Türkei gerichteten Forderungen unsere Vorbedingungen für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union waren.
Jetzt aber sehen wir uns einer umgekehrten Entwicklung
ausgesetzt: Die Türkei unternimmt den Versuch, weitere
Forderungen ihrerseits, etwa den Abschluss der Direkthandelsverordnung, zu einer Vorbedingung dafür zu machen, dass sie ihre eigenen Verpflichtungen erfüllt. Auch
dahin kann kein Weg führen. Ich rate deshalb dazu, dass
wir erneut nachdenken und uns in Zurückhaltung üben,
was den Fortschritt der Beitrittsverhandlungen der EU
mit der Türkei angeht. Dies beziehe ich, Herr Staatsminister Gloser, auf die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel. Wir müssen vorsichtig sein und dürfen keine
Signale aussenden, die auf türkischer Seite so verstanden
werden könnten, als könnte sie sich ihrer eigenen Verpflichtungen entledigen oder sie zumindest vernachlässigen.
Meine Damen und Herren, in gewisser Weise müssen
wir natürlich berücksichtigen, dass die türkischen Zyprioten dem Annan-Plan, also dem Plan des ehemaligen
UN-Generalsekretärs zur Wiedervereinigung der Insel,
zugestimmt haben und dass wir als Europäische Union
eine gewisse Verpflichtung eingegangen sind, die Isolierung des Nordens zu beenden. Genau dies hat die Direkthandelsverordnung zum Ziel. Ich nehme mit Interesse
zur Kenntnis, dass es auch auf zyprischer Seite einige
Vorschläge gibt, den Handel mit türkischen Waren auszuweiten, Joint Ventures zu gründen und Ähnliches.
Neben dieser Zusammenarbeit zwischen der offiziellen türkischen und der offiziellen zypriotischen Seite ist
es wichtig, dass auch die Bevölkerung auf beiden Seiten
- in der Nordhälfte der Insel und auf der griechischzypriotischen Seite - einen engeren Austausch pflegt
und die Chance zu einer Annäherung erhält, sei es mittels direkten Austauschs, sei es über Sprach- und Stipendienprogramme, sei es im Rahmen von Nichtregierungsorganisationen und Verbänden. Auch dies wäre ein
wichtiges Signal, um Fortschritte zu erzielen.
Ich darf zum Schluss kommen. Es verbleiben der
deutschen Ratspräsidentschaft 38 Tage - und das bei begrenzten innenpolitischen Spielräumen sowohl in der
Türkei als auch in Zypern. Gleichwohl ergreift die Bundesregierung die Initiative und übernimmt eine Moderatorenrolle in diesem Konflikt. Dabei hat sie unsere volle
Rückendeckung. Ich freue mich, dass wir mit einem
fraktionsübergreifenden Antrag diese Unterstützung
zum Ausdruck bringen können.
Vielen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Lale Akgün, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Überwindung der Teilung und
der Wiederherstellung der vollen staatlichen Einheit und
Souveränität der Republik Zypern - diesem langfristigen
Ziel kommen wir heute mit unserem Antrag „Fortschritte für Zypern“ ein kleines Stückchen näher. Ich
denke, es ist ein großer Erfolg, dass wir uns auf diesen
Antrag über die Fraktionsgrenzen hinweg einigen konnten. Damit gehen wir mit gutem Beispiel voran und zeigen, wie man sich auch über Parteien hinweg auf einen
gemeinsamen Standpunkt einigen kann.
({0})
Mein besonderer Dank gilt dabei dem Kollegen Rainder
Steenblock von der Fraktion der Grünen im Deutschen
Bundestag, der diesen Antrag initiiert und vorangetrieben hat.
({1})
Noch einmal meinen ganz persönlichen Dank an dich,
Rainder, von dieser Stelle aus.
Zunächst einmal möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass wir, die Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, der FDP und der Grünen, mit diesem Antrag
einen Beitrag dazu leisten können, dass die Insel wiedervereinigt werden kann. Betonen möchte ich dabei auch,
dass die Verantwortlichen im Norden der Insel allen Widerständen zum Trotz an der Wiedervereinigung festhalten. Dabei gibt es von beiden Seiten ermutigende Zeichen wie - das wurde schon erwähnt - das Einreißen der
Mauer an der Ledra- bzw. Lokman-Straße. Im Dezember
2005 hat die türkische Seite Schritte zum erleichterten
Übergang in den griechischen Teil unternommen. Im
März 2007 wurde die Mauer an der Ledra-Straße von
griechischer Seite aus eingerissen.
Als Europapolitikerin ist mir das ein wichtiges Anliegen. Aber es ist mir auch ein persönliches Anliegen;
denn wo auch immer ich handeln kann, handele ich nach
dem Grundsatz Johannes Raus „Versöhnen statt spalten“.
({2})
Versöhnen statt spalten geht aber nur, wenn man Mauern
einreißt.
Für den europäischen Einigungsprozess ist die Wiedervereinigung Zyperns unabdingbar. Der europäische
Einigungsprozess gründet sich auf die europäischen
Werte, zu denen auch das friedliche Zusammenleben,
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und damit Gewaltenteilung gehören. Gewaltenteilung beinhaltet unter anderem
die Unabhängigkeit des deutschen Parlamentes. Als Vertretung des deutschen Volkes ist es frei von Versuchen
der Einflussnahme von außen. Ich betone das deswegen,
weil, wie schon erwähnt, von einigen Seiten Versuche
unternommen worden sind, an diesem Antrag etwas zu
verändern. Wir - das sind die beteiligten Fraktionen sind aber der Meinung, dass dieser Antrag goldrichtig
ist. Deshalb bleiben wir bei unserem Antrag.
({3})
Meine Damen und Herren, ich denke, vor allem die
Perspektive, die wir einnehmen, ist wichtig. Wir haben
das große Ziel der Wiedervereinigung im Auge. Mit dem
Schwerpunkt auf die Umsetzung der Direkthandelsverordnung beschreiten wir den nun anstehenden Schritt,
um diesem Ziel näherzukommen.
An dieser Stelle möchte ich der Bundesregierung danken, die bereits jetzt im Rahmen der Ratspräsidentschaft
einiges unternommen hat, damit eine Einigung zwischen
den 27 Mitgliedstaaten der EU erreicht werden kann. Ich
bin zuversichtlich, dass diese Bemühungen von der deutschen Ratspräsidentschaft, aber auch von den nachfolgenden Ratspräsidentschaften fortgesetzt werden.
Um welchen Streitpunkt es in diesem Konflikt auch
immer gehen mag, um die Öffnung des Flughafens Ercan, den Direkthandel oder um Besitz- und Grundstücksfragen, wichtig ist vor allem eines: dass wir nach vorne
schauen. Natürlich, die schmerzhafte und konfliktreiche
Vergangenheit kann und darf nicht vergessen werden.
Hier muss noch viel Versöhnung und Aufarbeitung stattfinden. Weil wir, wenn wir nach vorne schauen, die Jugend im Auge haben müssen, müssen auf beiden Seiten
vor allem die Schulbücher überarbeitet werden. Wir dürfen nicht beim Status quo stehen bleiben. Das gilt auch
für die internationalen Akteure, die um eine Beilegung
des Konfliktes bemüht sind. Sie müssen sich immer wieder fragen, worum es hier eigentlich geht. Ich sage es
noch einmal: Es geht um Zypern, vor allem jedoch um
die Menschen auf dieser Insel; das ist ein ganz zentraler
Punkt.
({4})
Zypern darf nicht zur Begleichung alter Rechnungen
oder zur Durchsetzung der Interessen anderer Länder instrumentalisiert werden. Wenn wir das beherzigen würden, wären wir ein ganzes Stück weiter, dann könnten
wir uns endlich in sachlicher Weise um die Probleme der
Menschen vor Ort kümmern.
Ein wichtiger Punkt - das hat viel mit dem Blick nach
vorne zu tun - ist der Dialog zwischen den Nord- und
den Südzyprioten. Im Moment wird noch zu viel aufgerechnet, und - ich sage das ganz offen - es wird zu kleinkariert gedacht und gehandelt. Zypern braucht stattdessen ein Wir-Gefühl, die Zyprioten brauchen das Gefühl,
dass sie zusammengehören. Die griechischen und die
türkischen Zyprioten müssen sagen können: Wir können
die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, wir müssen jetzt in die Zukunft blicken, und wir müssen zueinanderfinden. Es darf nicht länger heißen: hier die Griechen, dort die Türken. Für die Zukunft eines friedlich
geeinten Zyperns muss es heißen: wir Zyprioten. Wenn
dieses Grundverständnis erst einmal geschaffen ist, werden sich die technischen und die prozeduralen Fragen
der Wiedervereinigung endlich lösen lassen. Damit ist
der tiefere Beweggrund für unseren Antrag umschrieben.
Ganz unbescheiden möchte ich sagen: Wir haben vorgemacht, wie es geht. Wir sind nicht nach dem Motto
„Hier die Koalitionsfraktionen, dort die Oppositionsfraktionen“ vorgegangen, sondern haben als Abgeordnete des Deutschen Bundestages interfraktionell zusammengefunden.
({5})
- Sie haben wir draußen gelassen, stimmt. - Wir sind
über Parteigrenzen hinweg an der Wiedervereinigung
Zyperns interessiert. Wir wünschen uns ein wiedervereinigtes Zypern als Mitglied der Europäischen Union.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel „Fortschritte für Zypern - Eine Aufgabe für
die deutsche EU-Ratspräsidentschaft“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5453, den Antrag auf Drucksache 16/5259 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Erika
Steinbach, Holger Haibach, Carl-Eduard von
Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Christel Riemann-Hanewinckel, Christoph
Strässer, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Solidarität mit verfolgten Christen und
anderen verfolgten religiösen Minderheiten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für die weltweite Sicherstellung der Religionsfreiheit
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({1}), Josef Philip Winkler und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Glaubensfreiheit weltweit achten
- Drucksachen 16/3608, 16/1998, 16/3614,
16/4498 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Christel Riemann-Hanewinckel
Florian Toncar
Michael Leutert
Volker Beck ({2})
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({3}), Marieluise Beck ({4}), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Solidarität mit verfolgten Christen und anderen religiösen Minderheiten durch Berücksichtigung der religiös Verfolgten beim Flüchtlingsschutz einlösen
- Drucksache 16/5419 10200
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Religionsfreiheit ist das Recht, den Glauben oder
die Weltanschauung der eigenen Wahl anzunehmen, auszuüben und zu bezeugen. Sie bedeutet auch, eine religiöse Anschauung oder Überzeugung zu wechseln oder
abzulehnen.
Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit hat eine
lange Entstehungsgeschichte, es war in Europa die
Antwort auf eine Geschichte von unsäglichem Leid und
zahllosen Opfern. Die grausamen Religionskriege im
Europa des 16. und 17. Jahrhunderts - übrigens zwischen ein und derselben Religion: zwischen katholisch
und evangelisch - ließen den Willen wachsen, diesen
maßlosen Zerstörungen ein Ende zu setzen. Bis zum
18. Jahrhundert mussten die Menschen warten, um das
politische Recht auf Religionsfreiheit in Ansätzen zu erleben. Hier hat der Wunsch, mit Andersgläubigen tolerant, offen und dialogbereit umzugehen, seine historischen Wurzeln.
Die Leiden, die die Nazidiktatur durch Verfolgung,
Tod, den Zweiten Weltkrieg und vor allem den Holocaust über die Menschen brachte, waren der letzte Anstoß für die Weltgemeinschaft, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und später den Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu erarbeiten. In Deutschland gelten daneben das europäische
Recht und unser Grundgesetz.
Doch trotz all dieser Regelungen und Vereinbarungen
werden die Menschenrechte in vielen Ländern immer
noch missachtet. Blutige Auseinandersetzungen um den
richtigen Glauben nehmen zu, und Heilige Kriege werden immer noch ausgerufen. Vielfach werden Menschen
wegen ihrer Religion diskriminiert, vertrieben, verletzt
oder ermordet. Betroffen sind alle Religionsgemeinschaften: Christen, Muslime, Juden, Buddhisten und
viele andere. Fast immer trifft es Minderheiten. Mit ihnen zeigen wir uns solidarisch.
({0})
Ich möchte Ihnen an drei Beispielen deutlich machen,
was es bedeutet, für sich persönlich keine Religionsfreiheit in Anspruch nehmen zu können.
Stellen Sie sich vor, Sie wollen einen Personalausweis
beantragen und in dem Antragsformular müssen Sie Angaben zu Ihrem Glauben machen. Sie können nur zwischen den drei staatlichen Religionen wählen: Islam, Judentum oder Christentum. In dem Antragsformular gibt
es keinen Freiraum, um eine andere Religion einzutragen. Es ist auch nicht vorgesehen, dass man gar keine
Religion einträgt.
In dieser Situation befinden sich die Bahai in Ägypten. Um einen Ausweis zu bekommen, müssen sie entweder ihre Religion verleugnen oder falsche Angaben
machen. Tun sie es nicht, werden ihnen - das gilt auch
für andere religiöse Minderheiten in Ägypten - keine
Personenstandsdokumente ausgehändigt. Was das bedeutet, können wir uns vielleicht nur annähernd vorstellen: Ohne einen gültigen Ausweis hat ein Ägypter oder
eine Ägypterin keinen Zugang zu lebenswichtigen
Dienstleistungen und Einrichtungen. Menschen ohne
Pass gibt es eigentlich gar nicht. Sie sind illegal, quasi
nicht existent. Sie können jederzeit inhaftiert werden.
Sie sind äußerst schutzlos. Sie können sich auf keine
Rechte berufen. In unseren Geschichtsbüchern wurde
dieser Zustand als vogelfrei beschrieben; wir erinnern
uns. Bevor jemand für vogelfrei erklärt wurde, gab es
aber immerhin eine Art Rechtsakt.
Mein zweites Beispiel: Vor wenigen Wochen war
Flavio Santi, Vertreter einer indigenen Gemeinde aus
Ecuador, zu Gast im Deutschen Bundestag. Er berichtete sehr eindrücklich, wie vor allem der Verlust von
Landrechten zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen führt. Durch die Tätigkeiten internationaler, auch
deutscher Firmen werden nicht nur die Umwelt, das
Klima, die Gesundheit und die Kultur indigener Völker
in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die heiligen
Orte der Menschen zerstört, die dort seit Jahrtausenden
leben. Für sie sind der Regenwald, die Berge und Flüsse
heilige Orte, ein Landeplatz für ihre Götter. Wenn man
diese heiligen Orte durch Rodung oder Rohstoffabbau
vernichtet, nimmt man diesen Menschen nicht nur ihre
Wurzeln und ihre religiösen Stätten, die an diese Orte
gebunden sind, sondern auch die Freiheit, ihre Religion
auszuüben; sie können sie ohne diese Orte nämlich nicht
mehr ausüben. Das Menschenrecht auf Religionsausübung wird verletzt.
Ich möchte einen Vergleich anschließen, der nicht ironisch gemeint ist. Katholischen Christen würde dasselbe
widerfahren, wenn man den Petersdom abreißen würde,
weil man unter ihm eine Ölquelle vermutet. Wir machen
uns nicht immer bewusst, dass es Religionen gibt, die
keine heiligen Stätten aus Stein haben, sondern für die
Orte in der Natur heilige Stätten sind.
Ein drittes Beispiel - das ist uns allen vermutlich
noch in Erinnerung -: Die Freiheit der Religion findet
dort ihre Grenzen, wo der Glaube radikalisiert wird und
die Menschenrechte durch eine Religionsausübung außer Kraft gesetzt werden. Sie findet ihre Grenze, wenn
Fundamentalistinnen und Fundamentalisten vor Gewalt und Mord gegen Andersgläubige nicht zurückschrecken. Ich erinnere an den von Muslimen verübten Mord
an drei Mitarbeitern eines christlichen Verlages in der
Türkei.
Wir haben heute über vier Anträge zu entscheiden
- über drei davon in zweiter Beratung -, in denen die
Religionsfreiheit thematisiert wird. Über drei dieser Anträge haben wir bereits in den Ausschüssen diskutiert.
Ich habe festgestellt, dass sich alle Fraktionen darin einig sind, dass das Recht auf freie Religionsausübung in
einer Reihe von Ländern noch immer massiv verletzt
wird. In allen Anträgen wird die Bundesregierung aufgefordert, sich in bi- und multilateralen Gesprächen für die
Opfer einzusetzen und die Wahrung der Religionsfreiheit einzufordern.
Für die SPD-Fraktion ist besonders wichtig, dass die
Bundesregierung in den Ländern, die den Zivilpakt noch
nicht gezeichnet haben, dafür wirbt, dass die Ratifizierung endlich vorgenommen wird.
({1})
In einem vierten Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wird die Bundesregierung aufgefordert, die EU-Richtlinie zum Aufenthalts- und Asylrecht
vollständig in nationales Recht umzusetzen.
({2})
Über diesen Antrag sollen wir heute sofort nach der Debatte abstimmen. Sie alle wissen, dass uns der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt und dass er sich
zurzeit in der parlamentarischen Beratung in den Ausschüssen und in den Anhörungen befindet.
({3})
In Deutschland wird Schutz vor religiöser Verfolgung
momentan nur gewährt, wenn die innere Glaubensüberzeugung betroffen ist. Die Religionsausübung im öffentlichen Raum ist dagegen nur sehr eingeschränkt geschützt. Die umzusetzende EU-Richtlinie geht von
einem sehr weiten Religionsbegriff aus und sieht genau
diesen Schutz vor.
Ich gehe davon aus, dass wir als Parlament die europäischen Vorgaben vollständig in nationales Recht umsetzen
({4})
und wir uns dadurch solidarisch mit religiös verfolgten
Menschen zeigen werden. Ich bitte Sie um die Zustimmung zu unserem heute vorliegenden Antrag.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Burkhardt MüllerSönksen, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Verfolgung religiöser Minderheiten ist in allen Epochen ein düsteres Kapitel der Menschheitsgeschichte gewesen. Auch wenn sie kein Phänomen allein unserer
Zeit ist, kommt der Verfolgung aufgrund religiöser Orientierung gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine
ganz besondere Bedeutung zu.
Erstens deshalb, weil wir zu Recht versuchen, in einer
sich globalisierenden Welt das Zusammenleben der
Menschen in den entscheidenden Zukunftsfragen zu verrechtlichen. Das gilt zum Beispiel für den Klimawandel;
heute Morgen wurde im Hause darüber berichtet. Das
gilt zum Beispiel auch für die Nichtverbreitung nuklearer Waffen. Das gilt ebenso für den Grundgedanken der
Toleranz zwischen den verschiedenen Religionen.
Der Toleranzgedanke gegenüber anderen Religionen
findet seinen Niederschlag in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenso wie im Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Allein die
Tatsache, dass es gelungen ist, diese rechtliche Verankerung religiöser Toleranz festzuschreiben - die meisten Staaten dieser Welt haben sich dieser Vereinbarung
bereits angeschlossen -, ist ein sehr hohes Gut. Ich bin
fest davon überzeugt, dass wir die gesellschaftliche
Komponente der Globalisierung nur dann in Frieden und
Sicherheit bewältigen werden, wenn wir weiterhin auf
die Methode der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen setzen.
({0})
Zweitens ergibt sich die hohe Relevanz des Themas
aus Veränderungen im Zuge des sogenannten Krieges
gegen den Terror. Wir alle wissen, dass das, was sich
gegen Terror richtet, von vielen als religiös motivierter
Kreuzzug interpretiert und instrumentalisiert wird. Es
gehört zu den ganz großen Aufgaben, diesem Eindruck
entgegenzuwirken. Der Kampf gegen Terrorismus ist
kein Kampf der Kulturen und schon gar kein Kampf der
Religionen. Das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn sich
dieses Gerücht seit dem Mittelalter beständig hält: Keine
der großen Weltreligionen rechtfertigt Gewalt oder fordert gar dazu auf.
({1})
In der usbekischen Stadt Andischan gab es über Hunderte Tote. Dies wurde von der Regierung mit dem Argument gerechtfertigt, dass dort religiöse Fanatiker einen Staatsstreich durchführen wollten. Das ist bis heute
ungesühnt. Das muss man mit Blick auf die Menschenrechte festhalten, auch wenn die Bundesregierung gerade erst für vier Beteiligte den EU-Bann aufgehoben
hat.
Ich komme zum Thema zurück. Es gibt Beispiele, die
deutlich machen, dass das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und Religionen durchaus funktionieren
kann. Wenn man sich beispielsweise die Situation in
Aserbaidschan vor Augen führt, stellt man fest: Dieses
Land ist alles andere als eine lebendige Demokratie, und
es weist alles andere als rechtsstaatliche Strukturen auf.
Demokratie und Rechtsstaat sind dort eher rudimentär
ausgeprägt. Aber das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen funktioniert dort. Die 60 Prozent Schiiten, die 30 Prozent Sunniten, die Christen und die Juden
leben friedlich miteinander. Erst im Jahre 2003 wurde in
Baku eine neue Synagoge gebaut und eröffnet, die erste
seit langer Zeit in einem muslimischen Land.
Daran wird deutlich, dass es sich lohnt, langfristig an
diesem Ziel zu arbeiten und keinen kurzen Atem zu haben.
({2})
Mehr denn je sind wir heute im Zuge der Globalisierung
gefordert, auf einen Dialog zwischen Kulturen, Ethnien
und Religionen zu setzen. Dialog ist das entscheidende
Stichwort; denn nur aus einem Dialog können Toleranz
und Verständnis erwachsen.
Was kann staatliches Handeln in diesem Zusammenhang leisten? Vor Jahren hat die Bundesregierung den
sogenannten Islamdialog ins Leben gerufen. Grundsätzlich ist dies eine unterstützenswerte Idee. Allerdings haben die Ausschreitungen im Rahmen des Karikaturenstreits gezeigt, dass dieser Dialog noch keine belastbaren
Ergebnisse geliefert hat. Das liegt zum einen an der Ausstattung, zum anderen aber auch an der Struktur des Dialogs. Der Islamdialog muss mehr als ein neuer Haushaltstopf zur Finanzierung der Projekte unserer GoetheInstitute sein.
Wir müssen auf politischer Ebene den Dialog mit den
wesentlichen Akteuren der Religionsgemeinschaften in
anderen Ländern suchen. Gleichzeitig müssen wir uns
mehr als bisher bemühen, den Dialog zwischen den Religionsgruppen untereinander zu fördern. Bei alldem geht
es nicht um kurzfristige Erfolge. Hier geht es um sehr
langfristige Ziele und um langfristige Bemühungen.
Von der Bundesregierung erwarten wir, dass sie sich,
wie anfangs erwähnt, dafür einsetzt, dass die international kodifizierten Maßstäbe zur Religionsfreiheit auch
praktisch umgesetzt werden. In circa 50 Staaten der Welt
werden nach wie vor täglich Gebetsstätten zerstört. Das
zeigt, welch große Defizite es in diesem Bereich noch
gibt.
({3})
Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung
zu den vorliegenden Anträgen machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der „weisen“ Großen Koalition,
({4})
Sie lehnen heute unseren Antrag ab - durch den diese
Debatte überhaupt erst angestoßen wurde -, weil Sie
glauben, ein ganz kleines Haar in der Suppe gefunden zu
haben. Ich meine die Abgrenzung der Zuständigkeiten
zwischen Bund und Ländern. Das ist wenig überzeugend
und wird der Bedeutung dieses Themas meines Erachtens nicht gerecht. Die Alternative, die Sie anbieten, ist
ziemlich mager. Dabei handelt es sich um einen Antrag,
in dem es fast ausschließlich um die Verfolgung von
Christen geht.
({5})
Ich selbst bin bekennender Christ und Mitglied der
evangelischen Kirche. Aber das spielt keine Rolle, weil
es auch um andere Minderheiten in anderen Ländern
geht. In Ihrem Antrag vernachlässigen Sie, in welchem
Ausmaß das Existenzrecht des jüdischen Staates von Islamisten - nicht nur vom Iran - infrage gestellt wird.
Außerdem und vor allen Dingen betonen Sie das entscheidende Instrument, den Dialog zwischen den Religionen, viel zu wenig.
Toleranz, insbesondere religiöse Toleranz kann man
nicht per Verordnung durchsetzen, sondern nur leben.
Deshalb ist für meine Fraktion der Dialoggedanke sehr
wichtig. Unserer Einschätzung nach ist Ihr Antrag in seiner Substanz sehr enttäuschend.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort der Kollegin Erika Steinbach,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Titel unseres Antrags lautet „Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten“. Die Christen sind also schon im Titel erwähnt.
Es ist noch nicht lange her, dass wir im Deutschen
Bundestag über die religiöse Verfolgung von Christen
und anderen religiösen Minderheiten und über Menschenrechtsverletzungen, die Christen weltweit aufgrund
ihres Glaubens erleiden, gesprochen haben. Warum geht
es uns gerade um Christen? Die Situation der Christen in
weiten Teilen der Welt hat sich seit unserer letzten Debatte nicht verbessert. Im Gegenteil: Noch immer werden Menschen christlichen Glaubens in mindestens 50
von 200 Staaten diskriminiert oder verfolgt. Noch immer
sind 80 Prozent der weltweit religiös verfolgten Menschen Christen. Die Dramatik hat zugenommen; ich erinnere an wenige Beispiele.
Das Massaker von Malatya Ende April müsste nun
auch den letzten wachgerüttelt haben, der bislang noch
meinte, die gegen Christen ausgeübten Repressionen
und Gewalttätigkeiten einfach herunterspielen zu können. Im ostanatolischen Malatya stürmten - Sie werden
sich vielleicht erinnern - fünf Männer das Büro des
christlichen Zirve-Verlags, überwältigten zwei türkische
Mitarbeiter und den Deutschen Tilmann Geske, fesselten
und folterten ihre Opfer drei Stunden lang und schnitten
ihnen am Ende die Kehle einfach durch. Die Täter wurden kurze Zeit später gefasst. Sie waren geständig und
sagten aus, für das türkische Vaterland und den Islam gehandelt zu haben.
Wie sollen wir auf ein solch verabscheuungswürdiges
und erschreckendes Verbrechen reagieren? Für mich war
es eigentlich selbstverständlich, dass sich die Kirche
- insbesondere auch die türkischen Bischöfe - mit den in
einer Freikirche organisierten Familien der Opfer solidarisieren und ihnen beistehen würde. Das aber war für
mich das eigentlich Erschreckende: Weit gefehlt! Am
19. April wandte sich der Pressesprecher der katholiErika Steinbach
schen Bischöfe in der Türkei, Monsignore Georges
Marovitch, an die Presse und warf den Opfern - man
höre und staune - mangelnde Besonnenheit vor. Er beklagte, sie hätten die Tat provoziert, indem sie die Bibel
in Gegenden propagierten, wo es keine Christen gebe.
Sie hätten den Moslems Evangelien angeboten und ihre
Reaktion geradezu heraufbeschworen. Vorherige gegen
Christen gerichtete Gewaltausbrüche in der Türkei hätten ihnen - also den Opfern - Warnung genug sein müssen, sich zurückzuhalten.
Bei allem Verständnis für diplomatische Notwendigkeiten des Vatikans, eine solche Begründung kann und
werde ich nicht akzeptieren.
({0})
Der Umkehrschluss wäre doch, dass in Deutschland
muslimische Frauen umgebracht werden und man am
Ende den Muslimen sagt: Ihr seid doch selber daran
schuld, weil ihr Kopftücher tragt. Das ist doch unmöglich, es ist unglaublich, es ist undenkbar. Damit machte
Monsignore Marovitch die Opfer schlicht und ergreifend
selbst für ihren Tod verantwortlich; die Opfer waren
selbst daran schuld. Hätten sie sich ruhig verhalten, ihren
Glauben nicht gelebt, wäre ihnen ja - so seine Lesart auch nichts zugestoßen. Diese Argumentation - das
muss ich schon sagen - hat mich zutiefst erschreckt. Ein
solches Denken, auch aus dem Mund von Kirchenmännern, kann nicht Basis für ein friedliches Miteinander
von Religionen sein. Es widerspricht schlicht und ergreifend den allgemeinen Menschenrechten.
Vergleichbar war seine Reaktion nach der Ermordung
des katholischen Priesters Andrea Santoro im Februar
letzten Jahres. Für diese grausame Tat wusste der Monsignore die alleinige Schuld den westlichen Medien zuzuweisen. Nur die Täter waren in seinen Augen niemals
die Schuldigen. Ich frage mich, wer tatsächlich wen
durch welches Verhalten am Ende provoziert hat. Es
kann doch nicht ernsthaft unser Rat an die betroffenen
Christen sein, sich möglichst unauffällig zu verhalten
und ihren Glauben nicht öffentlich zu leben. Wie Hohn
würde solch eine Empfehlung in den Ohren der Hinterbliebenen klingen.
An diesem Tage sollte man auch an die Ermordung
des türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink im
Januar dieses Jahres in Istanbul erinnern, wo dann erfreulicherweise unzählige Türken spontan in Massendemonstrationen auf der Straße ihr Beileid bekundet haben. Auch dieser Mord war ein Werk verblendeter
Nationalisten. Hätte nun Hrant Dink, um sie ruhigzustellen, seinen Journalistenberuf aufgeben und zum Schicksal des Genozids an den Armeniern einfach schweigen
sollen? Er wusste, es wäre der falsche Weg gewesen. Er
wusste auch, in welcher Gefahr er sich befand. Aber er
hat mutig seine Stimme erhoben. Dafür schulden wir
ihm Dank, weil es mutig ist, auch an Opfer zu erinnern,
die ermordet wurden.
({1})
Die genannten Vorfälle mögen besonders drastisch
sein. Doch sie drohen inzwischen für viele Christen in
vielen Teilen der Welt zum Alltag zu werden, wobei ihr
Alltag schon heute erschreckend genug ist. All das ist
leider nur die sichtbare Spitze eines riesigen Eisberges.
Wenige weitere Beispiele machen das erschreckend
deutlich.
Auf den Philippinen sind Mitte April junge christliche
Hilfsarbeiter während ihrer Arbeit an einer Baustelle
südlich von Manila von Mitgliedern der islamischen Terrorgruppe Abu Sayyaf entführt und nach einer Lösegeldforderung einfach enthauptet worden. In zwei chinesischen Provinzen mussten mehr als 60 christliche Frauen
ihre Ungeborenen auf behördlichen Druck hin abtreiben
lassen. Die Familien gehörten zu Hauskirchen, die vom
Staat nicht anerkannt werden.
Im Kaschmirtal wurde ein Christ von militanten Mudschaheddin enthauptet. Sein Kopf wurde in einer Plastiktüte vor einer Moschee zur Schau gestellt. In Nigeria
werden zunehmend Kinder aus christlichen Familien
entführt. Die Kinder werden, ohne dass die Behörden dagegen einschreiten, in islamische Familien gegeben und
zum Übertritt zum Islam gezwungen, um sie gemäß den
Prinzipien des Islam aufwachsen zu lassen. In Pakistan
wurde Anfang April ein zwölfjähriges christliches Mädchen vergewaltigt und festgehalten, bis die Angehörigen
die Täter ausfindig machen konnten. Von der Polizei erhielt die Familie kaum Unterstützung. Vermutlich diente
die Vergewaltigung als Waffe zur Bestrafung und Demütigung der christlichen Familie.
Die Gründe für die beängstigende Zunahme an Gewalttätigkeiten gegen Christen lassen sich durchaus herleiten: Christen sind die weltweit am stärksten verfolgte
Religionsgruppe. Sie stellen mit 2,1 Milliarden Anhängern aber auch die größte Weltreligion und knapp ein
Drittel der Weltbevölkerung dar.
Zudem ist ein außerordentliches Wachstum der
christlichen Religion außerhalb Europas zu beobachten.
In Asien und Afrika hat sich die Zahl der Christen seit
1970 verdreifacht. Anscheinend ruft das in bestimmten
Gesellschaften Ängste hervor. Hinzu kommt ein derzeit
gerade in nichtchristlichen Weltreligionen grassierender
Nationalismus. Die katholischen oder orthodoxen Kirchen verzichten gerade im arabischen Raum schon jetzt
auf Missionsarbeit, um ihre Duldung durch die muslimische Mehrheit nicht zu gefährden. Trotz dieser Zurückhaltung kommt es zu Übergriffen.
Dürfen wir im Interesse der Religionsfreiheit diese
Übergriffe zugunsten des Dialoges übersehen oder übergehen? Ich sage Nein.
({2})
Gerade in einem aufrichtigen Dialog zwischen den
Religionen muss es möglich sein, Probleme offen anzusprechen. Gewalt - von welcher Seite auch immer - ist
keine Lösung, schon gar nicht für Glaubensfragen.
Frau Kollegin, ich darf Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Danke schön. Aus Solidarität müssen wir uns der Verfolgten annehmen. Ich wiederhole, was ich schon einmal festgestellt
habe: Wir leben in Deutschland auf dem Fundament eines christlichen Abendlandes. Unsere Werte sind vom
christlichen Glauben, der Aufklärung und Toleranz geprägt. Auf der Basis dieses Wertefundaments sollten wir
für einen vernünftigen Dialog der Religionen eintreten.
Frau Kollegin!
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Bodo Ramelow,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mir wäre es lieber, wenn der Tagesordnungspunkt allgemein dem Thema Glaubensfreiheit gewidmet wäre. Es
geht um das Menschenrecht, dass jeder Mensch auf dieser Welt das glauben kann, was er möchte, und sich nach
eigenem Gutdünken einer Religionsgemeinschaft anschließen kann. Daran darf er nicht gehindert werden.
Am Glauben darf man - egal in welchem Namen; sei es
im Namen einer Religion oder einer Staatsideologie nicht gehindert werden. Ich halte das generell für falsch
und sage das als Vertreter meiner Partei mit besonderem
Nachdruck, weil auch auf uns Verantwortung lastet.
({0})
- Das ist völlig klar.
Insofern meine ich, Frau Kollegin Steinbach, dass
man die Liste Ihrer Beispiele noch erweitern kann; aber
sie beschränken sich nicht auf Christen. Im Übrigen finden auch im Namen des Christentums noch heute
Morde statt. In einem europäischen Land nicht weit von
uns entfernt bekämpfen sich Protestanten und Katholiken seit Jahrzehnten wechselseitig mit der Waffe in der
Hand und hindern die Kinder je nach ihrer Religionszugehörigkeit regelmäßig am Schulgang.
Es gibt in den Südstaaten der USA immer wieder das
Verbrennen von Kirchen schwarzer Brüder und Schwestern durch weiße Rassisten. Das halte ich für unerträglich. Als evangelischer Christ sage ich: Auch das findet
im Namen unseres gemeinsamen Gottes statt. Auch das
ist zu verurteilen.
Ich will Ihnen aber erklären, warum ich meine, dass
der Kollege von der FDP recht hat, und warum ich den
FDP-Antrag ausdrücklich für unterstützenswert und
richtig halte. In Erfurt verbrannte sich vor wenigen Monaten ein evangelischer Pfarrer mit der Begründung,
dass er Angst hat und ein Fanal setzen will gegen den Islam in Deutschland. Als es den ersten Islamgipfel in
Deutschland gab, zu dem Herr Schäuble eingeladen
hatte - was ich sehr begrüße -, riefen Mitarbeiter meines
Büros im Innenministerium an und baten um ein Gespräch. Von der Telefonzentrale bekamen sie die Antwort, das gehe heute nicht, denn es finde der „Islamistengipfel“ statt.
({1})
Wenn das die Übersetzung ist, sobald eine abrahamitische Großreligion mit angesprochen wird - ich will die
Kollegin, die das gesagt hat, gar nicht öffentlich denunzieren -, dann halte ich das für symptomatisch. Mittlerweile greift eine islamistische Phobie in diesem Land um
sich, und wir trennen nicht mehr zwischen dem Muslim,
den wir sehr begrüßen, und dem Fundamentalisten. Ich
lehne den Fundamentalisten in jedweder Form ab, in
wessen Namen auch immer er daherkommt.
({2})
Ich komme noch einmal auf den Antrag der Großen
Koalition zurück. Frau Steinbach, als Anlass für Ihren
Antrag benennen Sie ausdrücklich, dass in Afghanistan
ein Muslim zum Christentum übergetreten ist. Sie erwähnen und beschreiben das zu Recht. Aber sind es
nicht unsere und die NATO-Truppen, die dort für eine
Rechtsordnung eintreten, bei der sich die Frage stellt, ob
sie unserer Wertegemeinschaft standhält?
({3})
Ist es das Ergebnis eines solchen Kriegseinsatzes,
dass zum Schluss jemand, der von der einen Religion zu
einer anderen übertreten will, sogar staatlicherseits mit
dem Tod bedroht wird?
({4})
- Sie nennen das Friedenseinsatz. - Ich nenne das Ergebnis verwerflich - auf das Sie selber hinweisen -,
wenn eine Rechtsordnung entsteht, in der die Glaubensfreiheit nicht mehr akzeptiert wird und nicht mehr im
Mittelpunkt steht.
Deswegen begrüße ich den Antrag der Grünen, wonach solch ein Fluchtgrund auch als Asylgrund anerkannt werden soll. Diesem Menschen müssten wir, weil
er in seinem Heimatland Afghanistan mit dem Tode bedroht wird, als Konsequenz Asyl bei uns gewähren. Darf
ich Sie auf diesen Widerspruch einfach aufmerksam machen?
Wir begrüßen das Bekenntnis zur Glaubensfreiheit.
Die Maßstäbe müssen Toleranz und Respekt sein. DesBodo Ramelow
wegen mahne ich im Hinblick auf die Verhandlungen
mit der Türkei an, dass es möglich sein muss, dort eine
christliche Kirche ohne Restriktionen zu bauen. Aber der
Maßstab muss dann in Heinersdorf genauso gelten. Es
ist aber Ihre Partei, die dort Wahlkampf und Propaganda
macht.
({5})
Der Maßstab muss überall gleich sein. Deswegen bin
ich sehr dafür, dass wir mit der türkischen Regierung bei
den Beitrittsverhandlungen darüber ernsthaft verhandeln. Aber der gleiche Maßstab muss bei uns auch gelten. Wir können die Dinge nicht ungleich behandeln.
Das ist der Grund, weshalb ich den ausschließlich auf
das Christentum fokussierten Antrag der Großen Koalition für zu kurz gegriffen halte.
Die Glaubens- und Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht, das wir mit Toleranz und Respekt auf der
ganzen Welt durchsetzen müssen, und zwar in Kenntnis
der Verfolgung der Christen und all der Umstände, die
Sie zu Recht angesprochen haben. Das gilt auch für verfolgte Bahai und verfolgte Muslime. Der Trennstrich
muss dort sein, wo Intoleranz und Dogmatismus beginnen und der Glaube zu Fundamentalismus mutiert und
als Rechtfertigung für Mord herhalten muss. Das sollten
wir gemeinsam ablehnen.
Deswegen sind wir für den Antrag der FDP. Wir würden es begrüßen, wenn das Hohe Haus diesen annimmt.
Wir machen uns auch dafür stark, dass der Antrag von
den Grünen heute angenommen wird.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde, die Diskussionslage, die in dieser Debatte
herrscht, ist ein Ärgernis; denn es geht eigentlich um die
Forderung - und da stellt sich ein sehr ernsthaftes Problem -, dass die Glaubensfreiheit weltweit geachtet
wird, wie wir es in der Überschrift unseres Antrags formuliert haben. Wer in seiner Religionsfreiheit eingeschränkt wird, wer wegen seiner Religion verfolgt wird,
muss im Rahmen unserer Menschenrechtspolitik Unterstützung erfahren, unabhängig davon, woran er glaubt,
ob er an einen Gott glaubt, ob er an mehrere Götter
glaubt oder ob er an gar keinen Gott glaubt. Das ist
Glaubensfreiheit, und das müssen wir schützen. Wir dürfen nicht nur Solidarität mit Christen üben, wie Sie es in
Ihrem Antrag fordern, meine Damen und Herren von der
Großen Koalition.
({0})
Das ärgert mich, weil Sie damit die Verhältnisse in der
Welt falsch beschreiben.
Wir waren mit dem Menschenrechtsausschuss kürzlich in Turkmenistan. Dort gibt es mehrere anerkannte
christliche Religionsgemeinschaften. Die Katholiken
sind nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt, werden
aber toleriert. Der maximalen Verfolgung sind die Juden,
die Bahai und die Zeugen Jehovas ausgesetzt. Diesen
geht es richtig dreckig. Sie trauen sich noch nicht einmal, zu sagen, dass sie gerne eine anerkannte Religionsgemeinschaft wären, weil schon das verfolgungsauslösend wäre. Das gilt für viele Länder.
Selbstverständlich gehört das Gros der Verfolgten in
vielen islamischen Ländern christlichen Gruppierungen an. Aber man kann doch nicht davon absehen - bloß
weil sie kleine Minderheiten sind -, dass Juden und Bahai in diesen Ländern oft noch einer viel stärkeren Verfolgung ausgesetzt sind. Ich war im Januar mit meinem
Fraktionsvorsitzenden im Iran. Dort sind die großen
christlichen Gemeinschaften im Parlament vertreten. Die
Bahai sind dagegen völlig rechtlos, weil es nach muslimischem Glauben legitimerweise keinen Propheten und
Religionsgründer nach Mohammed geben kann.
Solche Hintergründe verschweigen Sie. Sie haben in
Ihrem Antrag seitenweise aus dem Weltverfolgungsindex - das ist ein amerikanisch-christliches Institut - abgeschrieben. Das alles ist richtig und wahr. Aus Anständigkeit fügen Sie noch einen Absatz an, in dem Sie die
Juden erwähnen. Aber alle anderen Religionsgemeinschaften finden praktisch nicht statt. So erreichen Sie
keinen Respekt vor der Glaubensfreiheit in den Ländern,
denen wir sagen: Unabhängig vom Bekenntnis setzen
wir uns für das Prinzip ein. Sie führen diese Debatte kulturalistisch und verlogen. Das ist ein Ärgernis, weil Sie
damit dem richtigen Anliegen, die Glaubensfreiheit zu
verteidigen, in der Welt und in der Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland schaden.
({1})
Sie sind noch nicht einmal konsequent, wenn es um
Ihren eigenen Anspruch geht. Das erste Land, das im
Weltverfolgungsindex aufgeführt wird und wo die Verfolgung der Christen in den letzten Jahren dramatisch
zugenommen hat, ist Usbekistan. Seit dem Aufstand
von Andischan leiden die Christen dort verstärkt unter
Verfolgung. Was hat Ihre Regierung gemacht? Sie hat
die Sanktionen gegen die Verbrecher von Andischan
({2})
gelockert - die Bundesregierung war die treibende Kraft
in Brüssel -, ohne dass sich in den Menschenrechtsfragen etwas verändert hat.
({3})
Volker Beck ({4})
Ich sage Ihnen als Christ: „Eure Rede aber sei: Ja, ja;
nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Diese
Politik ist vom Übel.
Sie reden sehr viel darüber, was man international
machen muss und was im Rahmen des Menschenrechtsdialogs zu besprechen ist. Das alles teile ich. Was die
diesbezüglichen Maßnahmen angeht, gibt es keine großen Unterschiede zwischen unserem Antrag und den Anträgen der Koalition und der FDP. Aber wir reden zurzeit
über das Zuwanderungsgesetz. Es gibt einen Abschnitt
in den EU-Richtlinien, der besagt: Religiöse Verfolgung
muss explizit als Verfolgungsgrund anerkannt werden.
({5})
Dieser Punkt fehlt bei der vom Minister vorgesehenen
Umsetzung. Wir beantragen eine den EU-Richtlinien gemäße Umsetzung und verlangen entweder einen entsprechenden Änderungsantrag zu dem Gesetzentwurf, der
bereits in der nächsten Sitzungswoche verabschiedet
werden soll - heute ist also der letzte Tag, an dem wir
das im Parlament verlangen können -, oder einen neuen
Gesetzentwurf als Formulierungshilfe. So lieb scheinen
Ihnen die verfolgten Christen im Ausland dann doch
nicht zu sein, dass sie sich auf gesetzlich garantierten
Flüchtlingsschutz in Deutschland verlassen können.
({6})
Wenn wir über Religions- und Glaubensfreiheit reden, müssen wir auch darüber reden, wie es in Deutschland aussieht. Jeder darf hier seinen Glauben leben und
sich zu Religionsgemeinschaften zusammenschließen.
Aber wir haben ein großes Problem bei der Gleichstellung des Islam als Weltreligion mit der christlichen und
der jüdischen Glaubensgemeinschaft sowie anderen,
kleineren Gruppierungen, die bei uns anerkannt sind. Ich
glaube, wir müssen einen Fahrplan zur Gleichberechtigung des Islam entwickeln. Das könnte ein sinnvolles
Arbeitsergebnis der Islamkonferenz sein. Aber da höre
ich, dass man den Leuten nur Schwüre auf die Verfassung abnehmen will. Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Aber es muss auch klar sein, dass die Muslime dann, wenn sie die Voraussetzungen des deutschen
Religionsverfassungsrechts erfüllen, den Körperschaftsstatus und das bekommen, was allen anderen Religionsgemeinschaften gleichermaßen gewährt wird.
({7})
Voraussetzung ist aber - auch darüber muss man in
der Islamkonferenz diskutieren -, dass die muslimischen
Organisationen und Verbände akzeptieren, dass die
Glaubensfreiheit der anderen Religionsgemeinschaften
zu respektieren ist. Da will ich mit Erlaubnis der Präsidentin auf ein Beispiel hinweisen.
Ein kurzes Beispiel.
Ein Satz. - In Hamburg verhindert die Schura die Einbeziehung der Bahaireligion in den interreligiösen Dialog.
({0})
Ich meine: So etwas ist nicht zu akzeptieren. Muslime
können theologisch der Meinung sein, dass der Bahaiglaube ein völlig irriger Glaube ist, aber in dieser Gesellschaft müssen sie Andersgläubigen den gleichen Respekt zollen, den sie für sich einfordern.
Herr Kollege!
So etwas kann man aber nur verlangen, wenn man
den einseitigen christlichen Blick beiseitelässt und auf
die Gleichberechtigung aller Religionen Wert legt.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Angelika Graf, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Religionsfreiheit - das hat die Debatte sehr deutlich gezeigt - ist in einer freiheitlichen Demokratie ein hohes
Gut. International ist sie leider ein Streitthema; denn in
unterschiedlichen Regionen unserer Welt gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Religionsfreiheit eigentlich bedeutet.
Auf die Erklärung über die Beseitigung aller Formen
von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Überzeugung konnten sich 1981 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Staaten
nur um den Preis einigen, dass das Recht auf Religionswechsel nicht aufgenommen wurde. Das war ein hoher
Preis, kann doch Religionsfreiheit im eigentlichen Sinne
nur verwirklicht werden, wenn jeder und jede Einzelne
in der Entscheidung tatsächlich frei ist, zu wählen, ob er
oder sie glaubt und, wenn ja, woran.
Von der tatsächlichen Verwirklichung der Religionsfreiheit sind wir also weit entfernt. Besonders schwierig
ist es, wenn wir über unseren europäisch-westlichen Tellerrand hinausschauen. Letztlich geht es in den internationalen Verhandlungen über Religionsfreiheit um zwei
widerstreitende Konzepte. Das eine betont das individuell verbriefte Menschenrecht auf Religionsfreiheit
- darauf berufen wir uns -, das andere Konzept erhebt
die Forderung nach staatlichem Schutz der Religion,
Schutz vor Diffamierung und Schutz der Würde der Religion. Letzteres ist das Modell, für das sich viele islamische Länder aussprechen, wobei unter dem Stichwort
der Religion oft nur der Islam gesehen wird, was dazu
führt, dass andere Religionen wie Christentum, HinduisAngelika Graf ({0})
mus, Bahaireligion und Judentum unterdrückt oder verfolgt werden.
Fakt ist, dass diese islamischen Länder selten ein säkulares Staatssystem haben. Von daher ist der Wunsch
nach Schutz der Religion durch den Staat nachvollziehbar. Dass es allerdings auch säkulare Staaten im islamischen Spektrum gibt, welche selbst den dort seit
Urzeiten verwurzelten Christen nicht das Recht auf
Priesterausbildung und freie Religionsausübung geben,
macht leider der Blick auf die laizistische Türkei und ihr
Umgang mit den aramäischen Christen deutlich. Dazu
ist schon viel gesagt worden. Der Mord in Malatya hat
ein weiteres Schlaglicht auf diese Situation geworfen.
Ich stimme allen zu, die gesagt haben, dass wir darüber
im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt der Türkei diskutieren müssen.
Die Verwirklichung von Religionsfreiheit ist ein komplizierter Prozess. Ein gutes Beispiel dafür ist Afghanistan. Dies ist in vielen Anträgen erwähnt. Dort ist der
Islam Staatsreligion. Die Glaubensfreiheit ist zwar in der
Verfassung verbrieft, aber nur für Nichtmuslime. Muslime selbst genießen diese Freiheit nicht. In der Praxis
klagen zudem hinduistische Minderheiten und Christen
über Schwierigkeiten bei der Ausübung ihrer Religion.
Auf der anderen Seite hat Afghanistan zum Beispiel
den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische
Rechte sehr wohl ratifiziert. Das gewährt nun wiederum
einigen Spielraum, der im Zusammenhang mit der drohenden Verurteilung Abdul Rahmans in die Waagschale
geworfen worden ist.
({1})
Der westliche Druck hat bewirkt, dass sich Afghanistan
besonnen hat.
Der afghanische Staat macht hier aber einen sehr
schwierigen Spagat. Wir können nur hoffen, dass er sich
für mehr Religionsfreiheit positiv auswirkt. Es ist ein
tiefsitzender Konflikt zwischen den Ansprüchen an Freiheit und Demokratie, die wir, die internationale Staatengemeinschaft, für dieses Land fordern und unterstützen,
und dem Bedürfnis der Afghanen nach Sicherheit in althergebrachten Strukturen und nach Traditionen. Auch
damit müssen wir uns stärker beschäftigen, wenn wir
verstehen wollen, was in diesem Land passiert.
Wir trauern dieser Tage um drei deutsche Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan ermordet worden
sind. Heute ist ein finnischer ISAF-Soldat ums Leben
gekommen, ebenfalls im Norden Afghanistans. Herr
Ramelow, Sie haben gesagt, dass diese Soldaten diejenigen, die dort Terror ausüben, provoziert haben. Diese
Aussage ist absurd. Diese Soldaten haben definitiv für
mehr Sicherheit und mehr Freiheit in diesem Land gekämpft, und sie sind denen zum Opfer gefallen, die in
der Öffnung des Landes und in der Veränderung der Gesellschaft eine Gefahr für ihre eigenen Machtstrukturen
sehen und die Religion menschenverachtend dazu benutzen, kriminelle, vom Koran in keiner Weise zugelassene
Gewaltakte - auch gegen die eigene Zivilbevölkerung zu legitimieren.
({2})
Ein Staat kann die Freiheit der Religion nur dann
durchsetzen und gegen die Verfolgung religiöser Minderheiten nur dann wirksam vorgehen, wenn er über die
Voraussetzungen eines legitimen staatlichen Gewaltmonopols und über Rechtsstaatlichkeit verfügt. Dazu
braucht er auch eine starke Zivilgesellschaft. Gerade in
Krisensituationen und in Zeiten politischer Transformationen werden Menschenrechte und Freiheiten oft als
Erstes als unnötiger Zierrat abgetan. Oftmals gibt es einen Verweis, dass es gilt, zunächst bestimmte Konflikte
zu lösen, die Infrastruktur zu stützen und Stabilisierungsmaßnahmen durchzuführen, bevor es um die Einhaltung der Menschenrechte geht.
Es geht definitiv darum, die Menschenrechte und
Freiheiten mitzudenken und die Menschen in die Gestaltung einzubeziehen. Das gilt nicht nur für die Schaffung
der Voraussetzungen für Menschenrechte wie Religionsfreiheit, sondern auch für den interreligiösen Dialog,
den wir dringend brauchen. Wenn die heutige Debatte
dazu beiträgt, dass wir nachdenklich werden und einen
solchen Prozess noch stärker unterstützen, als es in der
Vergangenheit der Fall war, dann ist ihr Ergebnis richtig
gut. Dafür danke ich Ihnen allen.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alois
Karl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Dieser Antrag hat den Titel „Solidarität mit verfolgten Christen und anderen verfolgten religiösen Minderheiten“. Lieber Herr Ramelow, aus diesem
Grunde wird auch auf andere Religionsgemeinschaften
eingegangen. Es ist nicht so, dass über Glaubensfreiheit
allgemein gesprochen werden müsste. Ich glaube schon,
dass es richtig ist, dass wir hier über die Verfolgung von
Christen einmal dezidiert und ausführlich diskutieren
und die Situation anderer Minderheiten einbeziehen. In
der Tat wollte niemand tolerieren oder kleinreden, dass
Bahai, Juden oder andere Religionsgemeinschaften terrorisiert und in ihren Freiheiten beschränkt werden.
Sie haben hier aber den Einsatz der Bundeswehr in
Afghanistan als Kriegseinsatz tituliert - auch Frau Kollegin Graf hat das angesprochen -; dann dürfen Sie sich
nicht wundern, dass Sie nicht aufgefordert wurden, bei
fraktionsübergreifenden Anträgen mitzumachen.
({0})
Gestern konnten wir den Tag des Grundgesetzes
feiern. Vor exakt 58 Jahren wurde in Art. 4 des Grund10208
gesetzes die Freiheit des Glaubens, des Bekenntnisses,
des Gewissens eingefügt.
Der Staat soll die ungestörte Religionsausübung bei uns
garantieren. Die Väter des Grundgesetzes haben in der
Tat gute Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Die
Glaubensfreiheit ist allgemeiner Kompass für das politische Handeln. Der Grundsatz reicht weit über die Innenpolitik hinaus.
Die Religionsfreiheit ist vierfach begründet - wir haben das gehört -: in der Charta der Vereinten Nationen,
in der Erklärung der Menschenrechte, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Dennoch drängt sich oft der Verdacht auf, dass die
Religionsfreiheit dann zur Spielmasse der Regierungen
wird, wenn es um nationale Interessen, um ethnisch und
religiös begründete Politik im Innern des Staates geht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ramelow?
Bitte schön.
Herr Kollege Karl, ich möchte mit Ihnen nicht über
die Ausgrenzungsstrategie diskutieren. Die bin ich gewöhnt. Das alles fällt auf Sie selber zurück. Das ist auch
gar nicht Anlass für meine Meldung.
Ich würde gern nachfragen. Ich habe es immer so verstanden, dass der Einsatz in Afghanistan nach dem Terroranschlag auf die Twin-Towers in den USA mit dem
Völkerrecht begründet ist und dass das ein Kriegseinsatz ist. So wurde immer argumentiert. Wieso darf man
den Einsatz gegen die Taliban nicht als solchen bezeichnen?
Ich habe das Wort „Terroreinsatz“, das Sie offenkundig gehört haben, gar nicht benutzt. Ich habe von
„Krieg“ gesprochen.
({0})
Mein Eindruck ist, dass die täglichen Bilder und die
nicht zu akzeptierenden Toten - Tote sind tatsächlich jeden Tag zu beklagen, und zwar auf allen Seiten; das
schließt unsere Soldaten ein - das belegen. Wieso darf
man den Einsatz von Soldaten in einem Krieg gegen die
Taliban nicht als Kriegseinsatz bezeichnen?
({1})
Das ist für mich nicht nachvollziehbar.
({2})
Ich habe Ihre völkerrechtliche Argumentation zumindest
immer so verstanden.
({3})
- Ich habe vorhin nicht von „Angriffskrieg“ gesprochen.
Ich habe von „Kriegseinsatz“ gesprochen. Es geht um
Militär.
({4})
Herr Kollege Ramelow, Sie machen keine Zwischenintervention, sondern Sie stellen eine Zwischenfrage
oder machen eine Zwischenbemerkung.
Ich wollte eine Zwischenfrage stellen.
Dann bitte.
Der Kollege hat mich eben kritisiert. Ich möchte wissen, warum das aus seiner Sicht von mir nicht als
Kriegseinsatz bezeichnet werden darf.
Sie haben den Einsatz in Afghanistan vorhin als
Kriegseinsatz bezeichnet. Dagegen verwahre ich mich
ausdrücklich. Lieber Herr Ramelow,
({0})
der Einsatz der westlichen Truppen in Afghanistan ist
geeignet, zu erreichen, dass die Menschen dort wieder in
Frieden ihren täglichen Geschäften nachgehen können,
dass Kinder in die Schule geschickt werden können und
dass Frauen in den großen Städten keinen terroristischen
Übergriffen ausgesetzt sind. Das alles hat mit „Kriegseinsatz“ nichts zu tun; im Gegenteil: Unsere Leute dort
sind im Einsatz, um endlich wieder friedliche Verhältnisse in Afghanistan herbeizuführen.
({1})
Aber das haben Sie schon in den Diskussionen bis dato
so nicht akzeptiert.
Ich komme zu meiner eigentliche Rede zurück, Frau
Präsidentin, und darf wie folgt fortfahren: Es ist nicht so,
wie vorhin der Kollege Beck gesagt hat, dass wir die
Christen herausstellen wollen. Tatsache ist: Etwa
80 Prozent derjenigen, die in den verschiedenen Ländern
der Welt verfolgt werden, bekennen sich zum christlichen Glauben. Weltweit werden zurzeit mehr als
200 Millionen Christen an der Ausübung ihres Glaubens
gehindert und werden in der Tat in einer der größten
Christenverfolgungen, die es in der Geschichte der
Menschheit jemals gegeben hat, in ihren elementaren
Menschenrechten beeinträchtigt.
Wir erleben große Fortschritte auf den Gebieten der
Wirtschaft, der Technik und der Forschung, aber was die
Religionsfreiheit anbelangt, meint man manchmal, man
sei in das Mittelalter zurückversetzt. Insbesondere dort,
wo der Islam Staatsreligion ist, ist es mit der Religionsfreiheit häufig nicht sehr weit her. Das Rechtssystem
steht unter dem Vorbehalt der Scharia. Religionswechsel
wird häufig mit der Todesstrafe bedroht. Damit dürfen
wir uns in gar keinem Fall abfinden. Aus diesem Grunde
ist es wichtig, dass wir in unserem Antrag die Bundesregierung auffordern, in den internationalen Konferenzen
und auch bilateral die Thematik der Glaubens- und Religionsfreiheit anzusprechen.
Viele Glaubensbeeinträchtigungen in den einzelnen
Ländern sind schon angesprochen worden; ich brauche
da nichts zu wiederholen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir immer Flagge zeigen müssen, wenn wir
von Glaubensbeeinträchtigungen oder von Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit hören. Bundeskanzlerin
Angela Merkel hat das gemacht. Bei ihrem Besuch in
China hat sie zum Beispiel den greisen Bischof
Aloysius Jin in Shanghai besucht. Sie hat damit für diesen 27 Jahre lang inhaftierten Kämpfer für Glaubensund Religionsfreiheit offen Sympathie gezeigt. Das verdient ausdrücklichen Respekt, und wir bitten darum,
dass dies die generelle Linie unserer Vertreter auch des
Bundestages wird, wenn wir andere Länder besuchen.
({2})
In den nächsten Tagen findet der EU-Afrika-Gipfel
statt. Wir bitten, dort auch das Thema Glaubens- und Religionsfreiheit anzusprechen. Alle eingeladenen afrikanischen Staaten haben die entsprechenden internationalen Konventionen unterschrieben. Dennoch sieht die
Realität anders aus. Frau Steinbach ist auf verschiedene
Beispiele eingegangen. Wir könnten weiter über Vorfälle
in Nigeria und in Tansania sprechen.
Ebenso wurde die Türkei angesprochen. Vor 100 Jahren bekannten sich dort noch 20 Prozent der Bevölkerung zum Christentum. Heute sind es noch 0,2 Prozent.
Kirchen ist es dort fast unmöglich, Eigentum zu erwerben. Gotteshäuser können nicht errichtet werden. In diesen Zusammenhang passt es nicht, dass die Türkei heute
an der Tür zur EU steht und dass sie die Schwelle zur
Europäischen Union überschreiten möchte.
Ohne Religionsfrieden kann es keinen Weltfrieden
geben. Das hat Hans Küng einmal formuliert. Ich
glaube, dass es unmittelbar nach dem Tag des deutschen
Grundgesetzes richtig ist, dass wir die Solidarität mit
den verfolgten religiösen Minderheiten, insbesondere
mit den verfolgten Christen, in dieser Deutlichkeit darstellen. Aus diesem Grund bitte ich Sie, dem Antrag der
Koalitionsfraktionen zuzustimmen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
mit dem Titel „Solidarität mit verfolgten Christen und
anderen verfolgten religiösen Minderheiten“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4498, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/3608 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1998 mit dem Titel
„Für die weltweite Sicherstellung der Religionsfreiheit“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4498 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3614 mit dem Titel „Glaubensfreiheit weltweit achten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 4, Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5419
mit dem Titel „Solidarität mit verfolgten Christen und
anderen religiösen Minderheiten durch Berücksichtigung der religiös Verfolgten beim Flüchtlingsschutz einlösen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der
FDP und Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion die Linke abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Gudrun Kopp, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Dynamik und mehr Wettbewerb für die
deutsche Volkswirtschaft - Entflechtungsregelung in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und europäisches Recht integrieren
- Drucksache 16/4065 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Benzinpreise steigen jetzt, vor Pfingsten, auf Rekordhöhe. Wir erleben das fast regelmäßig vor langen
Wochenenden und Feiertagen. Der Bundeswirtschaftsminister spricht davon, dass offensichtlich, so wörtlich,
der Wettbewerb nicht funktioniert. Wir haben ein Duopol auf dem Benzinmarkt, zwei große Gruppen, und eine
Zahl freier Tankstellen, die gegen die Übermacht offenbar nicht ankommen können.
Auch in anderen Bereichen verstärkt sich die Beurteilung, dass der Wettbewerb als Triebfeder für Innovationen und vernünftige Preise nicht richtig funktioniert. Wir
erleben derzeit bei einem großen deutschen Konzern,
dass die „Fusionitis“ revidiert wird, dass man sich wieder auf Deutschland konzentriert, nachdem man viele
Milliarden versenkt hat.
Der damalige Kartellamtspräsident Böge hat 2001 bei
der Tankstellenfusion BP/Aral deutliche Bauchschmerzen gehabt. Niemand sehnt sich nach dem Telefonmonopol zurück: graue Einheitshörer und extrem hohe Inlandstelefonpreise.
({0})
Deshalb muss der Wettbewerb funktionieren. Das
Kartellamt hat sein Instrumentarium, aber das reicht
nicht aus. Die Monopolkommission hat immer wieder
beklagt, dass die Missbrauchsaufsicht der Kartellämter
die Erwartungen nicht erfüllen kann. Deshalb besteht
Handlungsbedarf.
Wir brauchen eine klare Linie. Die Bundesregierung
handelt widersprüchlich: Sinnvolle Anreizregulierung in
der Energiewirtschaft steht einem sinnlosen Verbot von
Verkäufen unter Einstandspreis gegenüber.
({1})
Darüber hinaus diskutiert die Koalition darüber, für Zeitungen einen Ausnahmetatbestand im Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen zu etablieren, um offenbar
politisch gewollte Zusammenschlüsse zu ermöglichen.
Wollen wir etwa eine Einheitszeitung für Deutschland
auf den Weg bringen?
Deshalb muss der Instrumentenkasten des Kartellamts um das Instrument der Entflechtung erweitert werden, das die Amerikaner jetzt seit über 100 Jahren kennen; dort ist es der sogenannte Sherman Act. Im Falle
übertriebener Vorgehensweise kann gehandelt und entflochten werden. Die Entflechtung ist eine Ultima Ratio,
„fleet in being“, die man sicherlich nur dann anwenden
wird, wenn nichts anderes mehr geht. Rechtliche Bedenken dagegen, die es hier in dieser Debatte gibt, sind meines Erachtens nicht überzeugend. Schon bisher kann das
Kartellamt bei Fusionen Auflagen machen, zum Beispiel
die Auflage, Teile eines Unternehmens oder ein Unternehmen zu veräußern, um eine Genehmigung erst erwirken zu können. Leichtfertig darf das nicht geschehen; es
soll auch nicht enteignet werden. Wenn Eingriffe erfolgen, wird das natürlich auch entsprechende Konsequenzen haben. Aber ich bin überzeugt, dass allein die Tatsache, dass eine Korrektur erfolgen kann, dämpfend wirkt
und die stärksten Auswüchse reduzieren wird.
Dann besteht auch die Möglichkeit, Ministererlaubnisse, die sich als falsch erweisen, zu korrigieren. Heute
kann man das nicht. Ich halte - um konkret zu werden nach wie vor die Fusion Eon/Ruhrgas für einen wettbewerbspolitischen Fehler.
({2})
Niemand kann mir begründen, dass jemand in der sozialen Marktwirtschaft 87 Prozent Marktanteil braucht, damit die Marktwirtschaft funktionieren kann. Damit solche Fehlentscheidungen mit unschönen politischen
Begleitungen, personalpolitischen Belobigungen und
Ähnlichem, die damit verbunden sind, korrigiert werden
können, braucht man das Instrument der Entflechtung.
Man braucht das auch auf europäischer Ebene. Die
europäische Wettbewerbskommissarin Kroes hat mehrfach eine Entflechtung in der Energiewirtschaft gefordert.
({3})
Herr Bundeswirtschaftsminister Glos hat große Sympathie dafür bekundet. Offenbar auf Druck aus der Koalition ist er später wieder zurückgerudert und hat seine öffentliche Äußerung relativiert, sodass man nicht weiß,
was er in Wirklichkeit darüber denkt.
All diese Elemente zeigen, dass es klug ist, den
Instrumentenkasten zu erweitern. Das Kartellamt muss
in der Lage sein, dramatischen Fehlentwicklungen entgegenzutreten. Die Amerikaner lassen ja manches laufen, mehr als wir; aber ich habe in Amerika Fälle erlebt
- bei AT&T und auch bei IBM -, bei denen schließlich
doch durchgegriffen worden ist. Wenn übergeordnete
Gesichtspunkte des Gemeinwohls gefährdet sind, kann
eingegriffen und eine Entscheidung revidiert werden.
Bei uns geht das nicht. Deshalb lautet unsere Forderung,
in das nationale Kartellrecht das Instrument der Entflechtung aufzunehmen und das Gleiche auf europäischer Ebene auf den Weg zu bringen, wie es von der
Kommissarin angemahnt wird. Wenn wir glaubwürdig
deutlich machen wollen, dass es uns mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ernst ist - das ist die
Magna Charta der sozialen Marktwirtschaft -, dann wäre
es ein Widerspruch, den Strukturen hilflos gegenüberzustehen.
Man kann nicht auf der einen Seite sagen, man sei für
Wettbewerb, und auf der anderen Seite tausend Ausflüchte haben und kneifen, wenn es um die Ausgestaltung eines entsprechenden Instrumentes geht. Wettbewerb muss auch unbequem sein, ansonsten erreichen wir
keine guten Ergebnisse und ansonsten haben kleinere
Unternehmen keine Chance auf dem Markt. Wir haben
es bei der gestrigen Debatte wieder gehört: Wenn wir im
Telekommunikationsbereich keinen Wettbewerb ermöglicht hätten, dann wären wir in diesem Bereich noch
unendlich rückständig.
({4})
Wir erleben Ähnliches auch bei Preisgestaltungen in
der Energiewirtschaft. Auch hier muss es andere Strukturen geben. Deshalb ist unsere herzliche Bitte, sich über
ideologische Scheuklappen hinwegzusetzen und Ja zu
sagen zu einer Erweiterung eines Instruments, das sorgsam geprüft werden muss, das aber in Extremfällen die
Möglichkeit zur Korrektur einräumt. Ansonsten kann
man nur wie der Bundeswirtschaftsminister sagen, alles
sei ganz schlimm, man könne nichts machen und der
Wettbewerb funktioniere nicht.
Wer A sagt, muss auch B sagen. Sie haben die
Chance, B zu sagen. Auch mein Name fängt mit B an;
das ist ein gutes Zeichen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Albert Rupprecht,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Brüderle, wir kämpfen wie Sie mit Leidenschaft
und aus tiefster Überzeugung für Wettbewerb; denn wir
glauben, dass nur Wettbewerb, Vielfalt, Kreativität und
das Sich-Anstrengen den Wohlstand in Deutschland sichern können.
Wir sind fest entschlossen, Vermachtungsstrukturen wie zum Beispiel im Strombereich aufzubrechen.
Was wir derzeit im Strombereich machen, ist konzeptionell durchdacht. Es handelt sich um ein Gesamtpaket.
Wir ziehen das auch gegen den massiven Widerstand
mancher Konzerne durch, weil wir an die zwingende
Notwendigkeit des Wettbewerbs glauben.
({0})
Es ist schon mehrfach hier gesagt worden, und es ist
richtig: Nur der Wettbewerb beschert den Verbrauchern
niedrige Strompreise. Die Bürger draußen im Lande haben es satt, dass die Stromrechnung inzwischen zu einer
zweiten Miete geworden ist.
Aber nun zu Ihrem Antrag. Die Frage ist doch in der
Tat, ob eine allgemeine Entflechtungsnorm eine wirklich wirksame Waffe gegen Vermachtungsstrukturen in
der Wirtschaft ist. Das Thema ist nicht neu; darüber wird
seit 50 Jahren immer wieder diskutiert. Auch mehrere
FDP-Minister haben diese Debatte geführt. Aber letztendlich wurde dieses Instrument bis dato nie eingeführt.
Warum nicht?
Erstens. Das Bundeskartellamt sagt uns, dass die Entflechtung letztendlich nicht praktikabel ist, weil jedes
betroffene Unternehmen, das diesen tiefen Eingriff in
das Eigentum hinnehmen muss, natürlich versuchen
wird, dagegen gerichtlich vorzugehen. Dieser Streit
durch alle Instanzen dauert dann zehn Jahre. Wenn das
Kartellamt nach zehn Jahren gewinnen sollte, haben sich
aber der relevante Markt sowie die Organisationsstruktur, die Produktstruktur und die Unternehmensstruktur
auf diesem Markt fundamental geändert. Wir leben in
dynamischen Zeiten. Nach zehn Jahren besteht gar nicht
mehr die Grundlage, auf der eine Entscheidung über die
Entflechtung getroffen worden war.
Was wird in diesen zehn Jahren passieren? Es ist vollkommen klar, dass das betroffene Unternehmen nicht
mehr in Deutschland, sondern woanders investieren
wird. Warum sollten Vattenfall und RWE in Infrastruktur
und in Kraftwerke bei uns investieren, wenn ihnen die
Zerschlagung am Standort Deutschland droht? Das werden sie natürlich nicht tun.
Summa summarum werden diese juristischen Auseinandersetzungen harte gerichtliche Kämpfe sein; die
meisten wird das Kartellamt verlieren. Außerdem werden die dringend notwendigen Investitionen nicht in
Deutschland, sondern in Polen, in Frankreich und anderswo getätigt werden.
({1})
Entflechtung, Herr Brüderle, ist eben nicht die große
Wunderwaffe.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, eine allgemeine Entflechtungsnorm macht nur dann Sinn, wenn die Entflechtung innerhalb weniger Monate durchgezogen und
abgeschlossen werden kann. Das schaffen Sie nur, wenn
Sie sie im Paket mit Beweislastumkehr und Sofortvollzug einführen. Aber genau dies lehnt die FDP bei der
derzeitigen Novelle des GWB ab. Herr Brüderle, das ist
nicht stimmig, das ist widersprüchlich.
({3})
Sie brauchen ein Entflechtungsmodell, das verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Ihr Modell ist dem
Rhiel-Modell sehr ähnlich, das ich auf den ersten Blick
durchaus als sehr sympathisch empfunden habe. Aber
wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Diskussion
auch über das Rhiel-Modell in den letzten Monaten letztendlich erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aufgezeigt hat. Nach 50 Jahren Debatte gibt es bis dato noch
kein überzeugendes Modell.
Zweitens. Eine Entflechtung kann in einem freien
Land, wie die FDP in ihrem Antrag zu Recht schreibt,
immer nur die Ultima Ratio sein.
({4})
Nur wenn alle anderen Maßnahmen gescheitert sind,
darf der Staat in das Eigentumsrecht der Bürger eingreifen, um den Wettbewerb zu sichern. Nun gibt es Vorschläge vonseiten der Grünen sowie der Linken und den
Wunsch der Kommissarin Kroes, die Entflechtung in der
Energiewirtschaft zu vollziehen.
({5})
Aber Ultima Ratio heißt auch für die Energiewirtschaft,
dass alle anderen Maßnahmen ergriffen worden und gescheitert sein müssen. Davon kann jedoch bis heute
Albert Rupprecht ({6})
überhaupt nicht die Rede sein. Wir sind mitten in der
Umsetzung eines riesengroßen Energiepakets. Einiges
wurde bereits beschlossen, und einiges wird in den
nächsten Monaten sowohl im Deutschen Bundestag als
auch auf europäischer Ebene beschlossen werden. In der
Tat kann heute niemand abschließend sagen, ob dieses
Energiepaket das erreichen wird, was wir uns wünschen.
Aber es hat das Potenzial, den Wettbewerb auf dem deutschen Markt erheblich zu beleben und einen europäischen Energiemarkt zu etablieren.
Gerade der Ausbau der Kuppelstellen und der europäischen Netze ist die Voraussetzung für einen europäischen Energiemarkt. Dies ist Bestandteil der derzeitigen Verhandlungen auf europäischer Ebene. Aber auch
hier gilt: Nur dann, wenn der Ausbau der Kuppelstellen
und alle anderen Maßnahmen nicht ausreichten, könnte
ernsthaft an eine Entflechtung als Ultima Ratio gedacht
werden.
Drittens. Die FDP hat durchaus Recht, wenn sie in ihrem Antrag formuliert, dass eine Entflechtungsnorm
nicht nur in Deutschland, sondern auf jeden Fall parallel
auch auf europäischer Ebene eingeführt werden müsste,
weil es anderenfalls zur Abwanderung von Investitionen
ins Ausland sowie zum Verlust von Produktion und
Arbeitsplätzen in Deutschland käme. Der Deutschland-Chef von Vattenfall sagt uns bereits jetzt, dass es
immer schwieriger werde, Investitionen in Deutschland
beim Mutterkonzern in Schweden zu rechtfertigen, weil
man ihn dort schlichtweg frage, wieso er Kraftwerke
nicht günstiger in Polen baue und dann den Strom von
Polen nach Deutschland transportiere.
Eine Entflechtung ausschließlich in Deutschland
führte dazu, dass mancher international tätige Konzern
nicht mehr in Deutschland investierte und produzierte.
Dies gilt natürlich insbesondere für marktmächtige Unternehmen, die von einer Entflechtung bedroht wären.
Das Risiko, die Investitionen und das Eigentum zu verlieren, wäre ihnen zu hoch. Deswegen brauchen wir in
einem solchen Fall einen Gleichklang von europäischem und deutschem Recht. Heute weiß aber noch
niemand, welche Vorschläge die Kommissarin Kroes im
Herbst zur eigentumsrechtlichen Entflechtung vorlegen
wird. Auch deswegen ist heute nicht der Zeitpunkt, einem konkreten Modell der FDP zuzustimmen.
Unser Anliegen muss es aber sein, Minister Glos, der
im Juni im Energieministerrat über diese Themen verhandeln wird, ein Meinungsbild des Parlaments mit auf
den Weg zu geben, damit er dort die deutschen Interessen vertreten kann. Er soll und muss wissen, was das
deutsche Parlament darüber denkt.
Ich fasse zusammen: Erstens. Ein funktionierender
Wettbewerb ist eine zentrale Voraussetzung für Wohlstand; dies ist die zentrale Errungenschaft seit Ludwig
Erhard.
Zweitens. Eine Entflechtung von Unternehmen, um
den Wettbewerb zum Wohle der Verbraucher zu sichern,
kann als Ultima Ratio nicht ausgeschlossen werden, aber
wirklich nur als Ultima Ratio!
Drittens. Alle derzeit vorliegenden Modelle haben erhebliche rechtliche und praktische Mängel und sind
nicht geeignet. Auch das FDP-Modell ist nicht geeignet.
Deswegen werden wir dem Antrag der FDP heute nicht
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Herbert Schui,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, ich bin Ihnen zunächst dankbar, dass Sie die
Tributzahlungen an die Mineralölkonzerne anlässlich
hoher christlicher Feste kritisieren. Das sollte an sich
nicht sein. Vielleicht sollte man eher weltliche Feste zum
Anlass nehmen und die christlichen davon ausnehmen.
Damit ist aber auch schon klar, was mit Entflechtung
bewirkt werden kann. Wenn die Kosten durch technischen Fortschritt gesenkt werden, dann kann bei vielen
Anbietern am Markt durchaus erreicht werden, dass die
Preise den Kosten entsprechen. Dann besteht über Entflechtung und Wettbewerb die Möglichkeit, auf die Einkommensverteilung einzuwirken. Allerdings fördert
Entflechtung nicht notwendigerweise technische Innovationen. Ebenso können wir nicht behaupten, dass Konzentration Innovationen verhindert. Denn immer dann,
wenn kostensenkende Innovationen möglich sind, wird
ein Unternehmen, auch wenn es eine Monopolstellung
einnimmt und gut verdient, die Möglichkeit zur Steigerung der Gewinne nutzen. Denn es gibt bei einem Unternehmen niemals eine Obergrenze der Gewinne.
({0})
Es ist aber auf einige ungelöste Fragen hinsichtlich
der Entflechtung hinzuweisen. Durch Entflechtung allein erzielen wir keinen technischen Fortschritt in der
Umwelt. Ich erinnere an die Rußpartikelfilter oder die
Entwicklung von Kraftfahrzeugen mit geringem Kraftstoffverbrauch. Einen solchen Fortschritt erreichen wir
dann nicht, wenn jener technische Fortschritt keinen ordentlichen Gewinnschub verspricht. Ähnliches können
wir da und dort in der Forschung der Pharmaindustrie
verzeichnen, wenn es um Medikamente geht, die in den
Überlegungen nicht den ersten Rang einnehmen.
Ein weiterer Punkt. Wir können durch Entflechtung
nicht erreichen, dass der technische Fortschritt der
Humanisierung der Arbeitswelt dient. Ob mit oder
ohne Entflechtung: Technischer Fortschritt wird in diesem Bereich immer nur das betreffen, was den größten
Gewinn bringt. Wenn der Gewinn mit mehr Stress erkauft wird, dann wird natürlich auch dem entsprochen.
Mit Entflechtung ist also nicht alles zu erreichen.
Nun zu einigen administrativen Fragen, wie Ihre Idee
durchzusetzen ist. Als Kriterium für Entflechtung nennt
die FDP - ich zitiere -:
Der kausale Zusammenhang zwischen der verursachenden Markt- bzw. Unternehmensstruktur einerseits und der durch sie verursachten missbräuchlichen Verhaltensweise muss eindeutig sein.
Die Eingriffskriterien sollen „extrem hoch angesetzt
werden“.
Nun kann man notfalls noch den Marktanteil, bei dem
Missbrauch entsteht, nachweisen. Wenn aber aus dem
Antrag ein Gesetz wird, dann böte dies vielen Juristen
und Gutachtern eine Beschäftigung gegen gutes Honorar. Denn Marktanteile usw. lassen sich noch nachweisen. Aber bezüglich eines kausalen Zusammenhangs,
wie ihn die FDP in ihrem Antrag formuliert, bin ich
skeptisch. Es gibt genug verkorkste Wirtschaftstheorie
und Fachgutachter, die reichlich verwirrende Überlegungen dazu anstellen werden. Ich vermute, dass solche
Rechtszüge lange dauern und kein Ergebnis bringen.
({1})
Ein wesentlicher Grund für Entflechtung und Maßnahmen, die darüber hinausgehen, wird im FDP-Antrag
nicht genannt: Das ist der kausale Zusammenhang - so
Ihr Terminus - zwischen Marktmacht und politischer
Macht. Vor allen Dingen deswegen, so meine ich, brauchen wir Entflechtung. Denn im Rahmen der Konzentration bestimmen
die Großunternehmen … nicht nur entscheidend die
Entwicklung der Wirtschaft …, sie verändern auch
die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft … Mit
ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht …
gewinnt die Großwirtschaft
einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist.
({2})
Sie usurpiert Staatsgewalt.
Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht.
Diese Entwicklung ist eine Herausforderung an
alle, für die Freiheit und Menschenwürde, Gerechtigkeit und soziale Sicherheit die Grundlagen der
menschlichen Gesellschaft sind. …
Das zentrale Problem heißt heute: Wirtschaftliche
Macht. Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht
gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum
zweckmäßig und notwendig.
- Also auch die Methode einer eigentumsrechtlichen
Entflechtung.
Nun, der emphatische Charakter der letzten Sätze
lässt erraten: Es handelt sich um Zitate aus einem Parteiprogramm, nämlich aus dem Godesberger Programm der
SPD von 1959. Diese Passagen sind aktueller denn je.
An die FDP richtet sich dieses Zitat sicherlich nicht;
denn als Rechtsstaatspartei weiß die FDP ohnehin, dass
wirtschaftliche Macht oft genug Bürger- und Menschenrechte beschränkt hat. Ich bin gespannt, ob die SPD die
Kurve zu den Vorstellungen des Godesberger Programms kriegt oder ob sie der neuen Tradition nachgibt,
dass das alles nicht mehr zeitgemäß ist.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat: Wettbewerb braucht Regeln. Ich denke,
dieser Grundgedanke verbindet die FDP und die Sozialdemokraten mit mehreren hier im Hause. Ich will allerdings infrage stellen, Herr Kollege Brüderle, ob das Beispiel, das Sie gleich zu Anfang genannt haben - die
unerfreuliche Entwicklung der Benzinpreise vor Pfingsten -, ein gutes Beispiel ist, verweist es doch auf die nationalen Steuerhöhen. Nach einem Blick auf die Übersicht des Hamburger Energie-Informationsdienstes stelle
ich fest, dass Deutschland bei den Benzinpreisen ohne
Steuern im Vergleich der 25 EU-Staaten auf Rang 14
liegt. Beim Diesel erreicht Deutschland Rang 20 und gehört damit zu den billigsten Ländern Europas. Deshalb
kommt das Institut in der Frage „Funktioniert der Wettbewerb?“ zu dem Ergebnis, dass der Vorwurf an die
Konzerne, sie würden an den Tankstellen zu hohe Preise
nehmen, zumindest aus diesem Grunde nicht zutrifft. Ich
sage das deshalb, weil ich finde, dass die ehrliche Debatte es gebietet, das hier zu erwähnen. Ganz so einfach
ist der Zusammenhang also nicht. Obwohl ich weiß, dass
die Aussage problematisch ist, glaube ich sagen zu dürfen: Das ist kein Beispiel dafür, dass wir eine solche Entflechtungsnorm bräuchten.
Wir sind uns einig: Funktionierendem Wettbewerb
kommt für eine freiheitliche Gesellschafts- und Privatrechtsordnung eine zentrale Bedeutung zu. Das deutsche Kartellrecht hat die Aufgabe, den Wettbewerb vor
Beschränkungen zu schützen. Deutsches und europäisches Kartellrecht stützen sich dabei im Wesentlichen
auf drei Instrumente, mit denen Wettbewerbsbeschränkungen verhindert bzw. untersagt werden können: zum
Ersten das Kartellverbot, zum Zweiten die Missbrauchskontrolle über marktbeherrschende Unternehmen sowie
zum Dritten die Zusammenschlusskontrolle. Damit sind
wir bisher einigermaßen gut gefahren. Ich sage das, obwohl wir alle wissen - wir sind ja dabei, das GWB zu
novellieren -, dass es hier durchaus Verbesserungsbedarf
gibt. Selbstverständlich können diese kartellrechtlichen
Instrumente bzw. Vorschriften nicht jeden Einzelfall vorweg ausdrücklich regeln; das liegt in der Natur der Sache. Deshalb gibt es die im Kartellrecht weitverbreiteten
sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffe, zum Beispiel
den der „marktbeherrschenden Stellung“ und den des
„relevanten Marktes“. Was bedeutet das nach der derzeitigen Rechtslage? Anknüpfungspunkt ist § 19 Abs. 1
GWB. Da heißt es:
Christian Lange ({0})
Die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen ist verboten.
Wie wird das nun angewandt? Ich will nur auf diese beiden unbestimmten Rechtsbegriffe hinweisen. Zum relevanten Markt. Die kartellrechtliche Missbrauchsaufsicht erfordert die marktbeherrschende Stellung eines
Unternehmens. Eine marktbeherrschende Stellung wiederum gibt es nicht per se, sondern nur auf einem zuvor
individuell ermittelten relevanten Markt, auf dem das
Unternehmen über eine besondere Position verfügt. Der
relevante Markt des Unternehmens wird grundsätzlich in
einer sachlichen - bezogen auf das Produkt - und in einer räumlichen Hinsicht - bezogen auf das Gebiet - bestimmt und abgegrenzt.
Damit kommen wir zum zweiten, zentralen unbestimmten Rechtsbegriff. Es stellt sich letztlich die Frage,
ob diese Begriffe ausreichen, um das Marktgeschehen zu
beherrschen. Hat man den relevanten Markt ermittelt,
muss in einem weiteren Schritt geprüft werden, ob das
Unternehmen auf diesem Markt eine marktbeherrschende Stellung innehat. Eine marktbeherrschende
Stellung liegt dann vor, wenn das Unternehmen über
eine wirtschaftliche Machtstellung verfügt, die es auf
diesem relevanten Markt in die Lage versetzt, sich in
nennenswertem Umfang unabhängig von seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und/oder letztlich den Verbrauchern zu verhalten. Zum Nachweis dieser marktbeherrschenden Stellung wird in der Praxis auf die Marktund Unternehmensstruktur sowie auf das Marktverhalten
des Unternehmens selbst abgestellt. Wichtige Kriterien
dabei sind insbesondere der Marktanteil des Unternehmens, die Marktzutrittsmöglichkeiten für andere Unternehmen sowie der Zugang zu Absatz- und Beschaffungsmärkten. Im deutschen Kartellrecht wird bei einem
Marktanteil von einem Drittel die marktbeherrschende
Stellung eines Unternehmens vermutet.
Diese unbestimmten Rechtsbegriffe beschreiben
abstrakt den Bereich, für den sie gelten sollen. Durch die
Auslegung seitens der Kartellbehörden bzw. der Verwaltungsgerichte wird dabei eine Bewertung aller Umstände
des Einzelfalls vorgenommen, in dem der Begriff konkret angewandt werden soll. Durch diese unbestimmten
Rechtsbegriffe ist es dem Kartellrecht möglich, einen
konstanten ordnungspolitischen Rahmen zu setzen. Mit
dessen Hilfe wiederum können wir auf dynamische Entwicklungen reagieren und im Interesse eines gut funktionierenden Wettbewerbs handeln.
Den Vorschlag der FDP, eine über die geltenden Regelungen des deutschen und europäischen Kartellrechts
hinausgehende eigentumsrechtliche Entflechtungsregelung in die laufende Kartellrechtsnovelle aufzunehmen,
halte ich für nicht angezeigt. Das gilt zumindest solange,
wie nicht alle Möglichkeiten - damit sind wir wieder bei
dem Ultima-Ratio-Argument -, die das deutsche bzw.
das europäische Wettbewerbsrecht hergeben, auch angewandt werden. Das deutsche und das europäische Wettbewerbsrecht kennen eine allgemeine Entflechtungsregel über die Ansätze der Wiederauflösung vollzogener
Unternehmenszusammenschlüsse nicht. Solche strukturellen Maßnahmen stellen - der Kollege Rupprecht hat
bereits darauf hingewiesen - einen sehr erheblichen Eingriff in die unternehmerische Betätigungsfreiheit dar und
müssen deshalb im Einzelfall begründbar sein.
Unterstellen wir einmal, wir kämen Ihrem Antrag
nach. Es stellt sich schon die Frage: Bringt das überhaupt etwas? Bei Ihrer Forderung nach einer Entflechtungsnorm im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen bemühen Sie, wie ich meine, die USA als Vorbild. In
den USA war der sogenannte Sherman Antitrust Act
die erste Rechtsquelle für das Wettbewerbsrecht gegen
die Beschränkung des Marktes durch Marktmacht. Er
wurde im Jahr 1890 erlassen.
Lassen Sie uns einmal ein bisschen in die Rechtsgeschichte der USA schauen, um festzustellen, ob der angestrebte Entflechtungsgewinn tatsächlich eingetreten
ist. Dieses Recht kam in den USA nur in Einzelfällen zur
Anwendung. American Tobacco wurde 1911 auf Grundlage des Sherman Antitrust Acts entflochten. Das ist das
erste Beispiel. Das zweite Beispiel: Standard Oil wurde
am 8. November 1906 von der Regierung der USA angeklagt und am 5. Mai 1911 entflochten. Das nächste
Mal kam das Gesetz erst sehr viel später zum Einsatz:
AT&T - Herr Brüderle, dieses Beispiel haben Sie selbst
genannt - wurde am 8. Januar 1982 aufgrund dieses Gesetzes entflochten, nachdem das Unternehmen 1974 vom
Department of Justice angeklagt worden war. Viertes
Beispiel: IBM wurde 1982 auf der Grundlage des Gesetzes angeklagt; das Verfahren wurde allerdings eingestellt. Fünftes Beispiel: Microsoft wurde 1991 ebenfalls
angeklagt, gegen den Sherman Antitrust Act verstoßen
zu haben; das Verfahren endete 1994 mit einem Vergleich. Die marktbeherrschende Stellung von Microsoft
beklagen auch wir dann und wann.
Zumindest aufgrund der Vorgänge in jüngster Vergangenheit können wir erhebliche Zweifel daran haben, ob
eine solche Entflechtungsregelung überhaupt zu dem
von Ihnen erwünschten Erfolg führt. Die USA sind jedenfalls, so meine ich, kein gutes Beispiel dafür. Deshalb halte ich es für falsch, auf den Sherman Antitrust
Act abzustellen.
({1})
Die FDP betont, dass solche erzwungenen Entflechtungen nur in Betracht kommen, wenn der Wettbewerb
durch ein Übermaß an Marktmacht beschränkt wird und
diese Beschränkung mit herkömmlichen Mitteln auf
Dauer nicht beseitigt werden kann. Sie ziehen also eine
zusätzliche Hürde ein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brüderle?
Ja, gerne.
Herr Kollege Lange, würden Sie mir zustimmen, dass
die Wirkung dieses Mechanismus nicht nur an den von
Ihnen angesprochenen Fällen abzulesen ist? Die „fleet in
being“ ist deshalb so wirksam, weil viele Prozesse, die
sonst angestrebt würden, nicht stattfinden, weil man
sonst das Risiko eingehen würde, dass Entflechtungsmaßnahmen ergriffen werden. Deshalb kann man die
Wirkung eines Instruments nicht nur an den vollzogenen
Fällen beurteilen, sondern muss auch die Fälle berücksichtigen, die gar nicht aufgetreten sind; diese kann man
natürlich nur schwer messen. Aber das ist einer der Effekte, die dabei erwünscht sind.
Das ist durchaus ein Argument, das ich zugestehen
will. Aber Sie müssen sehen: Der Sherman Antitrust Act
ist seit 1890 in Kraft, also über einen Zeitraum von mehr
als einem Jahrhundert. Daher behaupte ich, dass es auf
das Ergebnis ankommt. Die Abschreckungswirkung
kann ohne Zweifel auch ein Kriterium sein. Aber ich
meine, gerade das Beispiel von Microsoft macht deutlich, dass wir es nach wie vor mit einer beträchtlichen
Marktmacht zu tun haben und dass selbst die abschreckende Wirkung, auf die Sie mit Ihrer Zwischenfrage abstellen, nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hat.
Deshalb meine ich, dass es kein gutes Beispiel ist und
wir den Sherman Antitrust Act nicht ins deutsche Recht
übertragen sollten.
({0})
Die FDP - damit möchte ich schließen - betont, dass
solche erzwungenen Entflechtungen nur in Betracht
kommen, wenn der Wettbewerb durch ein Übermaß an
Marktmacht beschränkt wird und diese Beschränkungen
mit herkömmlichen Mitteln nicht auf Dauer beseitigt
werden können. Die Kriterien für eine erzwungene Entflechtung müssten - das schreiben Sie selbst - extrem
hoch angesetzt werden. Bloße Marktmacht allein reiche
ebenso wenig aus wie ein missbräuchliches Verhalten.
Es müsse darauf ankommen, dass das Verhalten eines
Unternehmens nur durch eine Entflechtung beseitigt
werden kann.
({1})
Sie heben also selbst hervor, dass eine Maßnahme wie
eine Entflechtung nur in diesen absoluten Extremfällen
zum Zuge kommen sollte. Insofern - auch da ist wieder
der Abschreckungsgedanke; da wird sich jeder leicht herausreden können - kann ich den Bedarf nach einer solchen Regelung, die nur in Extremfällen greift und in den
USA über hundert Jahre hinweg nicht zum gewünschten
Erfolg geführt hat, nicht erkennen. Ich schließe mich
dem Koalitionspartner, der CDU/CSU, an und sage: Das
brauchen wir in Deutschland weiß Gott nicht. Deshalb
lehnen wir den Antrag der FDP ab.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun Kollegin Kerstin Andreae, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir überweisen den Antrag in die Ausschüsse
und haben dann die Möglichkeit, dort darüber zu diskutieren. Ich finde die Möglichkeit, in diesem Zusammenhang über die Entflechtungsregel zu diskutieren, sehr
spannend. Ich finde es sehr gut, dass wir die Möglichkeit
dazu haben und auch im Ausschuss haben werden. Denn
ich teile nicht die Einschätzung der Großen Koalition,
dass das amerikanische Beispiel des Sherman Antitrust
Act deutlich gemacht hat, dass dieses Instrument nichts
taugt und wir uns deswegen die Diskussion hier sparen
können.
Es gab im Übrigen schon in der 10. Wahlperiode einen Antrag von der SPD-Fraktion, die die Entflechtungsregel ins GWB aufnehmen wollte. Wir haben in der
13. Legislaturperiode einen Antrag der Grünen-Fraktion
debattiert, die die Entflechtungsregel ins GWB aufnehmen wollte. Die Diskussion ging voran. Wir haben heute
eine andere Struktur als in den Jahren, in denen diese
Anträge gestellt wurden.
Wir sagen: Ja, es ist richtig, eine Entflechtungsregelung ins GWB aufzunehmen. Ein Monopol oder Oligopol
kann, so wie die Regelungen jetzt sind, nicht aufgehoben
werden. Aber wir brauchen einen funktionierenden Wettbewerb. Deswegen müssen wir über solche Regeln diskutieren und uns überlegen, wie wir sie fassen müssen, damit wir wettbewerbliche Strukturen schaffen.
Sie haben das Beispiel der Energiemärkte genannt.
Das ist das klassische Beispiel, an dem man derzeit über
die Frage des mangelnden Wettbewerbs diskutiert. Wir
haben das massive Problem der verriegelten Märkte. Die
vier Großen teilen sich 90 Prozent des Marktes. Fusionen spielen hier im Übrigen gar keine Rolle mehr. Deswegen greift das Argument, die GWB-Novelle ermögliche Auflagen über die Fusionskontrolle, nicht. Die vier
Großen teilen sich den Markt. Wir haben damit mangelnde wettbewerbliche Strukturen, die wir alle - zumindest in den ersten Sätzen der Reden - immer kritisieren.
Wir sagen: Mangelnder Wettbewerb hat seine Ursache in der Struktur. Wo zu viel Konzentration und zu wenige Player am Markt sind, haben wir keinen sinnvollen
Wettbewerb. Wir brauchen für diesen Wettbewerb Wettbewerber.
Wir sehen Teile des Antrags der FDP aber sehr kritisch: Wir finden, dass Sie auf halber Strecke stehen bleiben. Es ist schon angesprochen worden: Wir unterstützen ausdrücklich die Forderung der EU-Kommission
und der Kommissarin Neelie Kroes bezüglich der eigentumsrechtlichen Entflechtung bei den Transportnetzen
im Energiebereich. Wir glauben, dass die Möglichkeit
der Entflechtung bei den Konzernen nicht ausreichen
wird, sondern dass wir genauso die Diskussion über die
eigentumsrechtliche Entflechtung bei den Transportnetzen führen müssen. Die Netze müssen neutralisiert werden. Wir brauchen diskriminierungsfreien Zugang.
Die Bundesregierung hat die Initiative der EU-Kommission im Rahmen ihrer Ratspräsidentschaft nicht aufgegriffen. Das finden wir sehr schade. Denn es gab in
den verschiedenen europäischen Ländern, wie den Gesprächen mit der Kommissarin zu entnehmen war, deutlich andere Tendenzen. Bei der Erreichung des Ziels, auf
den europäischen Energiemärkten mehr Wettbewerb zu
schaffen, sind wir kein Stück vorangekommen.
Parallel dazu müssen wir darüber diskutieren, die
Möglichkeit der Zerlegung marktbeherrschender Konzerne ins GWB aufzunehmen. Herr Rupprecht von der
Union hat die verfassungsrechtlichen Bedenken in diesem Zusammenhang thematisiert. Aber es gibt auch sehr
ernst zu nehmende Verfassungsjuristen, die zu einer anderen Bewertung kommen.
({0})
Es ist wichtig, darüber vor dem Hintergrund unserer Verfassung zu diskutieren.
({1})
Wir sind nicht der Auffassung, dass schon heute abschließend bewertet werden kann, ob die verfassungsrechtlichen Bedenken so gravierend sind, dass dieses
Vorhaben nicht sinnvoll ist.
Nun möchte ich auf einen bestimmten Punkt im Antrag der FDP zu sprechen kommen. Er enthält nämlich
einen Satz, über den ich gerne mit Ihnen diskutieren
möchte. In Ihrem Antrag heißt es:
Hierbei
- gemeint sind die Entflechtungsmaßnahmen ist auch die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten
Unternehmen auf Märkten außerhalb des Geltungsbereichs des GWB zu berücksichtigen.
Sie verfolgen im Kern die Strategie der nationalen
Champions und stellen die Frage der Monopolstellung
dieser Unternehmen auf Auslandsmärkten. Eine solche
Strategie hat aus unserer Sicht gravierende Nachteile.
Darüber hinaus entspricht das nicht unserer Vorstellung
von einem europäischen Binnenmarkt.
Der eigentliche Bezugsrahmen ist in immer größerem
Maße der europäische Binnenmarkt. Deswegen müssen
wir uns mehr und mehr die Frage stellen, wie die national und international tätigen Unternehmen auf dem europäischen Binnenmarkt aufgestellt sind. Wenn ich die
Formulierung in Ihrem Antrag lese, habe ich erhebliche
ordnungspolitische Bedenken. Aber wir werden die
Möglichkeit haben, darüber zu diskutieren. Diese Debatte ist notwendig.
Ich würde mich sehr freuen, wenn die Große Koalition von ihrer Aussage, wir bräuchten diese Debatte
nicht, Abstand nehmen würde. Ich glaube nämlich, dass
diese Debatte sehr wichtig ist. Dabei geht es um den
Wettbewerb, um all die Fragen im Zusammenhang mit
den großen Konzernen und um die netzabhängigen Infrastrukturen. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie können wir für mehr Wettbewerb, mehr Wettbewerber und
mehr Innovationen sorgen? Auf diese Diskussion bin ich
gespannt. Ich hoffe, dass wir den wichtigen ordnungspolitischen Gedanken der Entflechtungsregelung auf einen
guten Weg bringen.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat
von zentraler Bedeutung, dass der Wettbewerb in den
verschiedenen Bereichen, insbesondere auf dem Energiesektor, funktioniert. Deshalb ist es gut, dass wir diesem
Thema unsere Aufmerksamkeit widmen. Abgesehen von
den Linken, die auch heute wieder der Vergesellschaftung das Wort geredet haben - das möchte ich aber nicht
besonders ernst nehmen -,
({0})
sind sich in diesem Hause alle einig, dass wir auf dem
Energiesektor wettbewerbliche Rahmenbedingungen
schaffen müssen.
Herr Brüderle und Frau Andreae, ich warne davor, die
Entflechtung in diesem Zusammenhang als den ultimativen Heilsbringer zu betrachten.
({1})
Vielmehr brauchen wir einen Strauß von Maßnahmen
mit verschiedenen Lösungsansätzen.
Das betrifft im Grunde drei Bereiche:
Erstens geht es um das natürliche Monopol der
Netze. In einem natürlichen Monopol der Netze - das
sagt schon der Name - funktioniert der Wettbewerb
nicht. Zur Lösung dieses Problems brauchen wir geeignete Ansätze. Damit haben wir in Deutschland leider verspätet begonnen. Aber durch das auch mit Ihrer Unterstützung, Frau Kopp, im Vermittlungsausschuss zustande
gebrachte Ergebnis der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes 2005 haben wir die richtigen Weichen
gestellt. Jetzt funktioniert es.
Ich will einige Zahlen nennen: Die Bundesnetzagentur hat eine Senkung der Netznutzungsentgelte in Höhe
von 2,8 Milliarden Euro angeordnet. Diese 2,8 Milliarden Euro kommen direkt der Schaffung von Wettbewerb
im Bereich des natürlichen Monopols der Netze zugute
und entlasten den Haushalt und die Verbraucher.
Ich fordere uns alle auf, jetzt mit der Anreizregulierung den nächsten Schritt zu tun. Hierbei handelt es sich
um eine Verordnung, die die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates und nicht mit Zustimmung
des Bundestages erlässt. Auch hierüber wird gegenwärtig diskutiert. Das ist in der Tat ein Lackmustest. Ich bin
einmal gespannt, ob alle hier im Haus, die heute dem
Wettbewerb das Wort reden, auch dabei sind, wenn es
darum geht, Liebgewonnenes abzuschaffen, indem wir
hier ein System implementieren, durch das Erlösvorgaben ambitioniert gesenkt werden. Dadurch werden weitere Potenziale im natürlichen Monopol gehoben.
Wir sehen hinsichtlich der Anreizregulierung das
Potenzial, innerhalb von zwei Perioden zu einer Entlastung in einer Größenordnung von mindestens 5 Milliarden Euro zu kommen. Hier hilft uns die Entflechtung, die heute hier vorgeschlagen wird, gar nicht weiter,
sondern wir müssen jetzt den eingeschlagenen Weg weitergehen. Was wäre das Ergebnis, wenn wir das nicht tun
würden? - Kollege Rupprecht hat das schon ausgeführt:
Wir würden noch mehr Zeit verlieren und das Gegenteil
dessen erreichen, was wir alle eigentlich wollen.
Das zweite Thema ist der Wettbewerb. Wir sind uns
einig, dass der Wettbewerb aufgrund der marktbeherrschenden Stellung einzelner Unternehmen gerade im
Strombereich noch nicht im notwendigen Umfang funktioniert. Herr Brüderle, Sie haben auch die Themen
Transport und anderes mehr angesprochen. Hinsichtlich
dieses Übergangsbereichs sind wir unter anderem mit
der GWB-Novelle, die wir jetzt zügig - eigentlich noch
vor der Sommerpause - verabschieden wollen, auf dem
richtigen Weg und können, solange der Wettbewerb dort
noch nicht in dem notwendigen Umfang funktioniert, die
Dinge dort so einfahren, wie wir wollen.
Herr Brüderle, eines muss ich Ihnen auch noch sagen:
Sie fordern das für den europäischen Bereich ein. Ich
weiß nicht, ob Ihnen das bekannt ist: Bereits heute gibt
es für die EU-Kommission die Möglichkeit - das ist aus
dem allgemeinen Wettbewerbsrecht abgeleitet -, bei
Einzelunternehmen als Ultima Ratio eine Entflechtung
durchzuführen, wenn eine marktbeherrschende Stellung
und ein Marktmissbrauch vorliegen. Dieses Instrument
gibt es heute schon, es steht seit 2003 zur Verfügung. Es
ist bisher nur noch nicht angewendet worden.
Vor knapp zwei Wochen hat die EU-Kommission
- das ist hier in Deutschland bisher ein bisschen untergegangen - im Gasbereich unter anderem ein Verfahren gegen RWE und Eni eingeleitet. Es gibt dieses Instrument
also. Im nächsten Jahr wird sich zeigen, ob das, was hier
vorgetragen wurde, wirklich zutrifft. Wenn das so zutrifft, dann kann es bereits einzelbetrieblich durchgeführt
werden.
({2})
- Womit kann ich Ihnen helfen, Herr Brüderle?
Sie dürfen also.
({0})
Herr Kollege Pfeiffer, es ist ein Unterschied - deshalb
fordere ich ja auch ein europäisches Kartellamt -, ob ein
solches Instrument von einem unabhängigen Kartellamt
angewendet wird oder ob das ein Instrument einer politischen Institution wie der Europäischen Kommission ist.
Das hat ganz andere Dimensionen.
({0})
- Stimmen Sie mir darin zu? Natürlich war das eine
Frage. Herr Dr. Pfeiffer ist einer der Schlauesten der
CDU/CSU-Fraktion. Deshalb weiß er, dass das eine
Frage ist.
({1})
Lieber Herr Brüderle, in der Tat vereint uns der
Kampf für die Freiheit und die Förderung des Wettbewerbs. Insofern habe ich verstanden, was Sie zum Ausdruck bringen wollen.
Ich habe nur gesagt, dass es dieses Instrument einzelbetrieblich bereits gibt. Im dritten Liberalisierungspaket
der EU wird das mit Sicherheit vorgeschlagen werden.
Sie haben das im Januar ja vorgelegt, und ich gehe fest
davon aus, dass das Thema Ownership Unbundling
von der EU-Kommission im Herbst dieses Jahres auf das
Tapet gebracht wird. Dann stehen wir vor der entscheidenden Frage, ob es im Strombereich Transportnetze
oder auch nachgelagerte Netze gibt.
Hier stellt sich dann schon auch die Frage, ob Europa
mit einem falsch verstandenen Aktionismus hinsichtlich
des Wettbewerbs das Gegenteil dessen erreicht, was gewollt ist. Wenn die EU nämlich ein Ownership Unbundling einführen sollte, dann würde das dazu führen, dass
wir in Deutschland eine Entflechtung durchführen müssten. Bei uns befinden sich die Netze - zumindest die
Übertragungsnetze - vorwiegend im Privateigentum. In
Frankreich dagegen ist der Staat Mehrheitsgesellschafter
bzw. Alleingesellschafter der Unternehmen, er ist einerseits Eigentümer des Netzes und andererseits Eigentümer des Erzeugungs- und Betriebsapparates. Deshalb
frage ich mich schon, ob sich der eine zu Pferd und der
andere zu Fuß fortbewegt.
Sie sehen also, dass man diese Fragen nicht nur unter
dem Schlagwort Entflechtung auf europäischer Ebene
und mit der Forderung nach einer Regulierungsbehörde
oder einer europäischen Kartellbehörde regeln kann. Wir
werden aber sicherlich noch Gelegenheit haben, dieses
Thema im Ausschuss zu vertiefen. Ich will Sie deshalb
nicht länger im Plenum stehen lassen,
({0})
obwohl mir viel einfallen würde, Herr Brüderle, wie wir
gemeinsam weiterkommen können. Im zweiten Bereich,
dem Wettbewerbsbereich, haben wir mit dem Kartellrecht in der Tat ein Instrument, um den Wettbewerb auf
europäischer wie auch auf nationaler Ebene zu implementieren.
Ich will uns aber nicht ersparen, auch den dritten Bereich anzusprechen. Kollege Lange hat vorhin, als es um
Benzin ging, die Frage angesprochen, wo sich die Stellschrauben befinden. Es wird immer wieder festgestellt,
dass der Wettbewerb funktioniert. Tatsächlich ist der
Staat einer der größten Kostentreiber im gesamten Energiebereich. Das gilt nicht nur für Benzin, sondern auch
im Stromsektor. Über 40 Prozent der Stromkosten, die
der einzelne Haushalt zu zahlen hat, sind staatlich induziert. In diesem Zusammenhang kann ich uns nur ermuntern, das, was wir in den Sonntagsreden gegenüber dem
Mittelstand immer wieder vortragen, ernst zu nehmen,
wenn es um die Frage geht, wie mögliche Entgelterlöse
beim Emissionshandel, die durch Marktmissbrauch und
damit unrechtmäßig entstanden sind - die sogenannten
Windfall-Profits - zu verwenden sind: Lassen wir sie denen zugutekommen, denen sie abgezockt wurden, oder
greifen wir den Bürgern und dem Mittelstand weiter in
die Tasche?
Das wird der Lackmustest der nächsten Wochen sein.
({1})
Ich bin sehr gespannt und hoffe auf eine möglichst große
Koalition - gerne auch mit der FDP und den Grünen - in
dieser Frage.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4065 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Marie-Luise Dött,
Katherina Reiche ({1}), Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marco
Bülow, Dirk Becker, Petra Bierwirth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands Verantwortung national und international mit einer umfassenden Strategie
zur biologischen Vielfalt wahrnehmen
- Drucksachen 16/1996, 16/4275 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Dirk Becker
Angelika Brunkhorst
Lutz Heilmann
Undine Kurth ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agro-
forstwirtschaft
- Drucksachen 16/2794, 16/5294 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Uda Carmen Freia Heller
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({4}), Ulrike
Höfken, Bärbel Höhn und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegenwirken
- Drucksache 16/5413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Heinz Schmitt, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Biodiversität - unser heutiges Thema - ist ein Begriff, den
man beim Bäcker um die Ecke sicherlich noch nicht jeden Tag zu hören bekommt. Mit der wörtlichen Übersetzung allein - nämlich Vielfalt des Lebens oder Artenvielfalt unserer Erde - ist er noch nicht vollständig
beschrieben.
Die Schönheit der Erde und die Vielfalt der Tiere und
Pflanzen sind schon unabhängig vom wirtschaftlichen
Nutzen atemberaubend und ein kaum zu überschätzender Wert an sich. Biodiversität meint aber mehr als Artenschutz. Es geht um die Vielfalt von Lebensräumen
mit fein aufeinander abgestimmten Funktionsweisen und
die Vielfalt der Arten, die sich an verschiedene Lebensräume angepasst haben und sich immer wieder von
neuem anpassen können.
Es geht auch um genetische Informationen, die innerhalb der Arten vorhanden sind und diese zur Anpassung
Heinz Schmitt ({0})
befähigen. Schließlich geht es auch darum, wie wir Menschen diese biologische Vielfalt nutzen.
Uns Deutschen sagt man oftmals einen Hang zur Romantik und einen eher verklärten Blick auf die Natur
nach. Bei der Biodiversität geht es aber weniger um Romantik. Die Schätzungen über die Anzahl der Arten
schwanken. Fachleute gehen von weltweit ungefähr
14 Millionen verschiedenen Arten aus. Diese Vielfalt ist
jedoch extrem bedroht.
Wir erleben derzeit ein dramatisches Artensterben.
Die Zahl der Arten hat sich von 1970 bis zum Jahr 2000
um 40 Prozent reduziert. Auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion sind 15 000 Arten erfasst, darunter
23 Prozent aller Säugetiere, 12 Prozent der Vögel und
31 Prozent der Amphibien, die akut vom Aussterben bedroht sind.
Bereits 1990 waren 42 Prozent der tropischen Regenwälder vernichtet. Jedes Jahr erhöht sich der Verlust
noch um einen halben oder ganzen Prozentpunkt. Nur
noch 30 Getreidearten liefern heute 35 Prozent unserer
Nahrungsmittel. All diese Zahlen sind mehr als alarmierend. Wir bewegen uns auf immer dünner werdendem
Eis.
Experten halten den Schutz der Biodiversität bereits
für genauso wichtig wie den Klimaschutz. Dafür gibt es
gute Gründe. Verlust an biologischer Vielfalt bedeutet,
dass Arten und Ökosysteme immer weniger Möglichkeiten haben, sich an geänderte Bedingungen anzupassen;
man spricht von genetischer Erosion. Gerade diese
Anpassungsfähigkeit der Arten haben wir aber bitter
nötig. Denn parallel zur Zerstörung der Ökosysteme muten wir unserem Planeten noch eine Klimaveränderung
zu - von anderen zerstörerischen Aktivitäten einmal abgesehen.
Wir alle nutzen sogenannte Dienstleistungen der
Ökosysteme und profitieren davon. Wälder als grüne
Lungen, Felder und Meere als Lieferanten von Nahrungsmitteln oder Rohstoffe und Arzneimittel aus Pflanzen sind Beispiele dafür. Neben dem Verlust der biologischen Vielfalt sind auch diese Leistungen der Natur
vielerorts in Gefahr. Eine Ursache dafür ist eine zu hohe
Beanspruchung. Hinzu kommen die Zerschneidung von
Lebensräumen, intensive Landwirtschaft und zerstörerische Fischfangmethoden. Dies ist der Raubbau, den wir
uns leisten. Es ist also höchste Zeit, umzusteuern!
({1})
- Wir können ja einmal über die Zahlen reden, Herr Kollege.
Wir brauchen dringend einen nachhaltigen und angemessenen Umgang mit unseren Ökosystemen, und zwar
weltweit. Besonders dort, wo diese als Nahrungsquelle
genutzt werden, müssen wir uns die Biodiversität ganz
groß auf die Fahnen schreiben. Ich denke etwa an Fischerei und Landwirtschaft. Es muss auch überlegt werden, ob Subventionen, die Anreize für eine Übernutzung
von Ressourcen schaffen, noch immer zeitgemäß sind.
Wir brauchen mehr Schutzgebiete, insbesondere auf
dem Meer. Bisher ist nur 1 Prozent der Meere weltweit
unter Schutz gestellt. Somit steht nur 1 Prozent der Fläche zur Verfügung, damit sich zum Beispiel Fischbestände erholen können. Da gibt es enormen Handlungsbedarf.
Mit dem Vorsitz innerhalb der G 8 und der Präsidentschaft in der Europäischen Union kann Deutschland die
Weichen in Sachen Biodiversität neu und besser stellen.
Das Thema gehört ganz oben auf die Tagesordnung.
Deshalb begrüßen wir den Entwurf der Bundesregierung
zu einer nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt.
({2})
Wir begrüßen auch, dass die Bundesregierung die
9. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über
die biologische Vielfalt nach Deutschland, nach Bonn,
eingeladen hat. Besonders am Tag der biologischen Vielfalt gibt es gute Voraussetzungen, um den Schutz der Arten und Ökosysteme entschlossen voranzubringen. Wir
müssen diese Möglichkeiten zugunsten der Natur und
nicht zuletzt zugunsten unserer selbst und unserer Nachkommen nutzen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue
mich auf eine weitere, interessante Debatte.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt in Deutschland wunderschöne Beispiele für biologische Vielfalt. Es gibt Orchideenwiesen,
das geschützte Wattenmeer und wunderschöne Wälder.
Es gibt in jedem Bundesland erstaunliche Beispiele für
biologische Diversität. Aber wir müssen feststellen, dass
in den Ländern der Dritten Welt ein zunehmender Raubbau stattfindet. Deswegen ist die biologische Vielfalt ein
internationales Thema mit hoher Priorität, das wir verstärkt angehen müssen.
({0})
Als Beispiel für die biologische Vielfalt habe ich einige naturnahe Flächen genannt. Daneben gibt es in
Deutschland aber auch - darüber müssen wir uns im
Klaren sein - Landwirtschaft. Weltweit gesehen brauchen wir beides: Wir brauchen den Naturschutz, den
Schutz von biologisch bedeutsamen Flächen, Biotopen
und Nationalparks. Wir brauchen aber auch die Landwirtschaft zur Produktion unserer Nahrungsmittel sowie
zur Produktion nachwachsender Rohstoffe für die stoffliche und inzwischen insbesondere für die energetische
Produktion.
Im Natur- und Artenschutz engagieren sich in
Deutschland sehr viele Menschen in sehr unterschiedlichen Verbänden. Sie alle eint das gemeinsame Ziel des
Erhalts unserer Natur und ihrer Vielfalt. Diesem Ziel
sind auch die FDP-Bundestagsfraktion und die FDP insgesamt verpflichtet. Im vergangenen Jahr haben wir auf
unserem Bundesparteitag in einem Antrag formuliert,
dass es im Interesse unserer Kinder und Enkel gilt, die
biologische Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten und
Landschaftsformen zu erhalten.
({1})
Jede Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt
muss die Ursachen für das Aussterben von Arten bekämpfen und artenreiche Regionen schützen. 3 Prozent
der weltweit beschriebenen Arten kommen in Deutschland vor. Das klingt sehr wenig, ist aber sehr viel. Es ist
eine große Aufgabe, diesen Schatz zu schützen. Artenvielfalt bedeutet - das hat mein Vorredner gesagt - Informationsvielfalt. Die in den Genomen von Tieren und
Pflanzen enthaltenen Informationen werden von Züchtern genutzt, um landwirtschaftlich genutzte Tierrassen
und Kulturpflanzensorten weiter zu verbessern.
Das Aussterben des Mammut in Europa war eine
Folge des Klimawandels. Es war unvermeidlich. Der
Klimawandel ist allgegenwärtig und ist keine Erfindung
des 21. Jahrhunderts. Der vom Menschen verursachte
Anteil des Klimawandels muss weiter bekämpft werden,
muss gemindert werden. Aber die durch den Klimawandel hervorgerufene Veränderung des Artenspektrums
werden wir nicht aufhalten können.
Ich will daran erinnern, dass es einen Artenrückgang gibt, der nicht durch den Klimawandel verursacht
wird. Wir haben in Deutschland 48 000 Tierarten und
28 000 Pflanzenarten. 520 Tierarten sowie 512 Pflanzen- und Pilzarten sind ausgestorben. Der Präsident des
Umweltbundesamtes hat recht: Der Wandel des Artenspektrums in Deutschland ist nicht dramatisch. Für
Deutschland können wir verzeichnen, dass wir bei
dichter Besiedlung und hoher Intensität der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung keinen großen Artenschwund haben. Dies sollten wir feiern; denn das ist
eine Leistung dieses Landes.
({2})
Die Zerstörung von Lebensräumen ist Hauptursache
für den Rückgang der Artenzahl. Angesichts der Tatsache, dass die Weltbevölkerung 1800 bei 1 Milliarde
Menschen lag und nun 6 Milliarden beträgt, ist es normal und richtig, dass wir Flächen verstärkt landwirtschaftlich nutzen und die Intensität der landwirtschaftlichen Nutzung erhöht haben. 1800 wurden in
Deutschland sieben Doppelzentner Weizen auf einem
Hektar geerntet. Nun sind es über 90 Doppelzentner. Auf
diese Intensivierung der Landwirtschaft könnten wir
nicht verzichten.
Lebensräume werden auch durch Schadeinträge aus
der Luft, zum Beispiel durch den immensen Eintrag von
Stickstoffverbindungen über den Luftpfad - die Verhundertfachung des Säuregehalts von Waldböden ist hier als
Beispiel zu nennen -, beeinträchtigt und in ihrem Charakter verändert. Eine Folge ist die Minderung der Artenvielfalt, weil Biotope verloren gehen. Die Übernutzung wildlebender Tier- und Pflanzenarten trägt ebenso
zum Artenrückgang bei wie das Eindringen gebietsfremder Arten. Sie verdrängen heimische Arten, verändern
Biotope in ihrem Charakter und verursachen teilweise
Gesundheitsprobleme. Ich will als Beispiele nur Beifußambrosie und Herkulesstaude nennen.
Dramatisch ist die Tatsache, dass wir noch immer relativ wenig über die Natur wissen. Einmal im Jahr, am
Tag der Artenvielfalt, erkennen wir, dass es in Deutschland Arten gibt, von denen wir glaubten, dass sie ausgestorben sind. An diesem Tag werden sie regelmäßig gefunden. Der öffentliche Eindruck eines Artenrückgangs
geht mit der Entfremdung der Menschen von der Natur
einher. Wer nur Unter den Linden oder in der Mönckebergstraße spazieren geht, weiß eben nicht, wie artenreich unsere Wälder sind.
Die nächste Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über die biologische Vielfalt findet im Jahr 2008 in
Deutschland statt; das ist gut. Die Konvention enthält
eine ganze Reihe von messbaren direkten und indirekten
Indikatoren für die Biodiversität: Häufigkeit und Verteilung von Arten, Waldfläche, Fläche geschützter Gebiete,
Wasserqualität und Stickstoffeintrag. Auf Deutschland
bezogen, können wir sagen: Vieles ist auf einem guten
Weg. Probleme bereiten die zunehmende Flächeninanspruchnahme, das Zerschneiden von Naturräumen und
das Eindringen fremder Arten. Aber weltweit betrachtet
ist die Situation dramatisch anders. Die Bedrohung der
Artenvielfalt wächst. Ich will einige Punkte nennen. Das
anhaltende Bevölkerungswachstum erfordert vermehrte Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung und
damit auch eine vermehrte und intensivere Flächennutzung. Zunehmend mehr Menschen haben keinen Zugang
zu gesundem Trinkwasser. Die Übernutzung der Fischbestände bedroht die Biodiversität in den Meeren. Wir
sollten nicht vergessen, dass wir es noch nicht einmal
schaffen, den illegalen Fischfang in der Ostsee einzuschränken. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis, auch für
die Europäische Union.
({3})
Der weitere Verlust von Wäldern, unter anderem bedingt durch den fortgesetzten illegalen Holzeinschlag,
hat Auswirkungen auf das Klima.
Das gilt auch für die zunehmende Flächenkonkurrenz
zwischen Nahrungsmittelproduktion und Erzeugung von
Biomasse für die energetische Nutzung.
Wie diesen Herausforderungen international begegnet
werden kann, ist noch weitgehend offen. Auch der von
der Koalition vorgelegte Antrag zeigt keine wirklichen
Lösungen auf. Wenn es aber der Konferenz in Deutschland gelänge, auch nur Lösungsansätze aufzuzeigen,
wäre viel erreicht. Wir als FDP-Fraktion stimmen dem
Antrag der Koalition gleichwohl zu, auch wenn wir ihn
als sehr technokratisch empfinden und die Forderung
nach einer Verstärkung der Forschung gerade auf diesem
Gebiet völlig fehlt. Bei der Abstimmung über den Antrag der Grünen mit dem Titel „Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agroforstwirtschaft“ werden wir uns enthalten. Wir teilen die Zielrichtung - das ist bekannt -,
wir sind allerdings mit einigen Formulierungen absolut
nicht einverstanden. Den Antrag mit dem Titel „Dem
Verlust an Agrobiodiversität entgegenwirken“ müssen
wir ablehnen. Er ist unstimmig, enthält viel heiße Luft
und keine realistischen Lösungsansätze. Damit ist er
überflüssig.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Marie-Luise Dött, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zeitschrift „natur + kosmos“ titelt in ihrer Juniausgabe mit
den Worten: „Artenvielfalt: Was kostet die Welt?“ In
dieser journalistisch prägnanten Verkürzung bringt der
Titel das Thema unserer heutigen Debatte auf den Punkt.
Was ist die biologische Vielfalt wert? Welche politischen
und auch finanziellen Anstrengungen müssen wir national, auf europäischer Ebene und global zum Schutz der
biologischen Vielfalt unternehmen? Was verlieren wir
auch ökonomisch, wenn die Natur ihre Dienstleistungen
nicht mehr erfüllt? Meine Antwort auf diese Fragen ist
denkbar kurz: Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu
erhalten.
Man braucht gar nicht Katastrophenszenarien nach
dem Motto zu entwerfen: Was würde geschehen, wenn
wir nicht rasch und angemessen handeln würden? - Es
ist unmittelbar einleuchtend, dass wir von unseren natürlichen Lebensgrundlagen abhängig sind, dass wir von
den Dienstleistungen der Natur in Form von sauberer
Luft, reinem Trinkwasser, fruchtbaren Böden, gesunder
Nahrung, vielfältigen Rohstoffen und natürlichen Heilmitteln leben. Diese Dienstleistungen dauerhaft aufrechtzuerhalten, ist unser ureigenes Lebens- und Überlebensinteresse. Ich betone dies deshalb so deutlich, weil
es für den Schutz der Natur und der biologischen Vielfalt
verschiedene Begründungen geben kann. Ethisch-moralische, religiöse und auch kulturelle Begründungen stehen neben Argumenten, die mehr den ökologisch-wissenschaftlichen Zusammenhang hervorheben. Diese
Begründungen haben alle ihre Berechtigung. Gerade in
christlichen Parteien wie CDU und CSU ist der Respekt
vor der Schöpfung Gottes wichtig. Ich möchte mich aber
auf diese Diskussion hier und heute nicht einlassen, sondern die schlichte und für jedermann unmittelbar einsehbare Notwendigkeit hervorheben: Wir müssen unsere
natürlichen Lebensgrundlagen und die Dienstleistungen, die die Natur uns kostenlos zur Verfügung stellt, bewahren. Ohne diese Basis ist menschenwürdiges Leben
auf unserem Planeten nicht möglich.
({0})
Es ist jedoch ohne Frage so, dass die Fähigkeit von
Natur und Umwelt, diese Dienstleistungen zu erbringen,
insbesondere durch menschliche Einflüsse in zunehmendem Maße beeinträchtigt ist. Dies gilt für Deutschland, dies gilt für die europäische Ebene und erst recht
im globalen Maßstab. Hier ist dringend mit allen Kräften
Einhalt geboten.
Der nun auch für den Letzten sichtbare Klimawandel
wird die Situation noch weiter verschärfen und hat sie in
weiten Teilen der Erde bereits verschärft. Eine ganz besonders große Herausforderung ist jedoch das Wachstum
der Weltbevölkerung. Bis zum Jahr 2050 wollen schätzungsweise 50 Prozent mehr Menschen als heute mindestens mit Trinkwasser, Nahrung, menschenwürdigen
Wohnverhältnissen und anderen Dienstleistungen der
Natur versorgt sein. Der Druck auf die Natur wird weiter
wachsen. Ein wesentlicher Faktor für dieses Bevölkerungswachstum ist die Armut. Der Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern und damit der Überwindung dieses Faktors für das Bevölkerungswachstum
kommt deshalb eine zentrale Bedeutung zu, auch im
Hinblick auf den Schutz und Erhalt unserer natürlichen
Lebensgrundlagen.
Für eine entschlossene Politik zum Schutz der Natur
gibt es auch schlagende ökonomische Gründe. Eine
erste umfassende Studie aus den 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts beziffert den Wert der Leistungen, die die
Natur in Form von Trinkwasser, fruchtbaren Böden, Regelung des Klimas, Selbstreinigung der Gewässer usw.
erbringt, auf 16 bis 54 Billionen US-Dollar jährlich. An
der großen Spannweite dieser Zahlen sieht man, dass die
Umweltökonomen noch viel zu forschen haben, bis wir
uns der tatsächlichen Werte bewusst sind. Das ändert
aber nichts daran, dass die Natur uns kostenlos Dienstleistungen von offenbar gigantischem Wert zur Verfügung stellt und dass wir mit jeder Naturzerstörung gigantische Werte vernichten. Es ist dringend geboten, dass
die Werte der Natur in die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen einbezogen werden.
({1})
Ich halte es für selbstverständlich, dass alle Instrumente und Maßnahmen, die wir zum Schutz der Natur
ergreifen, den jeweiligen lokalen und regionalen Gegebenheiten sowie den politischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedingungen angepasst sein müssen. Alle Maßnahmen müssen von den Menschen vor
Ort akzeptiert und schöpferisch weitergeführt werden.
Das heißt: Naturschutz mit den Menschen und nicht gegen sie.
({2})
Meiner Ansicht nach ist es selbstverständlich - wenn
auch in den Köpfen vieler Handelnder offensichtlich
noch nicht angekommen -, dass Natur und Umwelt dynamische Prozesse sind, dass ständige Veränderungen zu
ihrem Wesen gehören. Die Natur braucht eine hohe Vielfalt, damit sie genügend Potenzial hat, sich an Veränderungen auch tatsächlich anzupassen. Wir müssen der
Natur den Raum geben, sich weiterzuentwickeln. Ein
statisches Naturbild entspricht nicht der Realität.
Von zentraler Bedeutung für einen sinnvollen Umgang mit der Natur und eigentlich genauso selbstverständlich ist ausreichendes Wissen wenigstens um die
Grundlagen der Funktionsweise der Ökosysteme und um
Methoden einer nachhaltigen Nutzung. Dieses Wissen
zu vermitteln und entsprechend einzuüben, muss Inhalt
jeder Erziehung und damit auch der schulischen Erziehung sein - genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen.
Der von der Bundesregierung erarbeitete Entwurf für
eine nationale Strategie zur biologischen Vielfalt enthält einen reichen Katalog von Instrumenten und Maßnahmen zum Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt
in Deutschland und für entsprechende Schritte auf europäischer und globaler Ebene. Ich möchte mit Blick auf
unsere nationalen Hausaufgaben nur einige wenige
Punkte aufgreifen, die mir besonders am Herzen liegen.
Obwohl das Problem seit Jahren bekannt ist, hält die
Flächenversiegelung in Deutschland weiter an. Flächeninanspruchnahme für Verkehrs- und Siedlungszwecke und die Zerschneidung von Lebensräumen gehören
in Deutschland zu den wesentlichen Faktoren, die zur
Abnahme der biologischen Vielfalt führen. Die bisher
gegen diesen Trend ergriffenen Maßnahmen sind unzureichend.
Auch in einem dichtbesiedelten Industrieland wie
Deutschland muss es Gebiete geben, in denen sich die
Natur so weit wie möglich unabhängig von menschlichen Einflüssen mit ihrer gesamten Vielfalt und ihrer
vollen Dynamik frei entwickeln kann. Dies erfordert
auch die Vernetzung solcher ökologisch besonders wertvollen Gebiete in einem Verbundsystem, auf das Siedlungs- und Infrastrukturmaßnahmen Rücksicht nehmen
müssen. Auf jeden Fall sollte eine weitere Zersiedelung
der Landschaft und ihre Zerschneidung vermieden werden.
({3})
Ich könnte mir vorstellen, dass Infrastrukturstraßen
möglichst gebündelt mehrfach genutzt werden. Ich kann
mir auch vorstellen, dass Anreize für die Versiegelung
von Flächen, zum Beispiel im Bau- und Steuerrecht,
identifiziert und abgebaut werden. Außerdem kann ich
mir vorstellen, dass ein Rückbau von Straßen stattfindet,
um zerschnittene Lebensräume wieder zu vernetzen.
Die Landwirtschaft als der mit Abstand größte Flächennutzer hat eine große Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Dienstleistungen der Natur und der
Umwelt. Sie muss sich auch ihrer Verantwortung zur
Vermeidung der flächendeckenden Nährstoffanreicherung in Ökosystemen bewusst sein. Neben dem Klimawandel und der Landschaftszerschneidung gehören die
Nährstoffanreicherungen zu den Hauptproblemen für die
biologische Vielfalt. Die Beschränkung der Nutzung von
Bioziden auf das unbedingt notwendige Maß und eine
weitere Verringerung des Stickstoffdüngerüberschusses
sind insbesondere zum Schutz der Oberflächengewässer,
des Grundwassers und damit unserer Trinkwasserversorgung wichtig.
Auch darf die für die Bekämpfung des Klimawandels
wachsende Nachfrage nach Biomasse nicht dazu führen,
dass wieder mehr großflächige Monokulturen auf den
Feldern und in den Wäldern entstehen. Es müssen rasch
wirksame Regeln gefunden und durchgesetzt werden,
damit die Nutzung der Biomasse zur regenerativen
Energiegewinnung nicht zu einer Schädigung der Natur
und ihrer Dienstleistungen führt. Die Förderung der erneuerbaren Energien durch das Erneuerbare-EnergienGesetz sollte an die Einhaltung solcher Regeln geknüpft
werden.
Mit Blick auf die UN-Vertragsstaatenkonferenz zur
biologischen Vielfalt, CBD, im kommenden Jahr in
Deutschland möchte ich hier klipp und klar betonen: Wir
müssen in puncto Naturschutz unsere Hausaufgaben machen, wenn wir als Gastgeber bei dieser Konferenz überzeugend auftreten wollen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Über die drei vorliegenden
Anträge könnten wir eigentlich auch einen ganzen Tag
diskutieren. Leider haben wir dazu nicht die Zeit.
Bereits 1992 wurde in Rio de Janeiro die Biodiversitätskonvention verabschiedet. Die Bundesrepublik hat
15 Jahre gebraucht, um die nationale Strategie zur Erhaltung der biologischen Vielfalt zu erarbeiten. Das ist angesichts der drängenden Probleme wirklich ein Armutszeugnis.
({0})
Gerade wurde eine neue Studie zur Situation der
Säugetiere in Europa veröffentlicht, die im Auftrag der
EU-Kommission erarbeitet wurde. Danach gehen die
Bestände von 27 Prozent der Säugetierarten in Europa
zurück. Bei einem weiteren Drittel ist die Bestandsentwicklung offen. Bei gerade mal 8 Prozent aller europäischen Säugetierarten gibt es einen Bestandszuwachs.
Das zeigt: Auch in Europa sind die Arten in Gefahr.
Weltweit sterben sogar 160 Arten pro Tag aus. Mit jeder Verzögerung des politischen Handelns verlängert
sich die Liste der verlorenen Arten. Jede aussterbende
Art lässt zudem andere Arten aussterben. Daran werden
wir durch die großen Plakate auf dem Weg zur Friedrichstraße erinnert.
Der vorliegende Koalitionsantrag darf angesichts dieser Situation nicht zu einer Werbebroschüre für die
9. Vertragsstaatenkonferenz im nächsten Jahr in Bonn
- sie wurde bereits genannt - verkommen.
({1})
So unvollkommen und inkonsequent der Antrag ist: Wir
brauchen ihn dringend. Wir brauchen dringend diese
verlässliche Handlungsbasis. Bis zur Vertragsstaatenkonferenz sollten Regierung und Koalition - das ist gerade schon gesagt worden - endlich ihre Hausaufgaben
machen - und wenn es nur deshalb wäre, um uns international nicht zu blamieren. Die Ausweisung von Natura-2000-Schutzgebieten muss vervollständigt werden.
Im Pflanzenschutzgesetz sind einige Dinge zu ändern;
das Umweltbundesamt hat dazu gerade Hinweise gegeben.
Zur Agrobiodiversität. Auf die Frage „Welche Farbe
hat ein Schwein?“ antworten Kinder heute meist:
„Rosa“; Erwachsene übrigens auch.
({2})
- Ich meine schon die Haustiere. - Aber wer mit offenen
Augen durchs Land fährt, begegnet auch ganz anderen
Schweinen: braunen, schwarzen, Woll- und Minischweinen. Das heißt, wir haben noch eine große Vielfalt bei
den Nutztierrassen. Auf der Brandenburger Landwirtschaftsausstellung vergangene Woche in Paaren im
Glien wurden Rassen des Jahres gekürt, zum Beispiel
das Sattelschwein, das Uckermärker Rind oder die
Skudde, ein kleines, sehr widerstandsfähiges Schaf.
Diese Vielfalt der Nutztierrassen ist kaum noch bekannt, und sie ist bedroht. Weltweit stirbt jede Woche
eine Nutztierrasse aus. In unseren Nutztierbeständen
sind zunehmend Hochleistungsrassen vertreten. Der
ökonomische Druck des globalen Wettbewerbs ist Ursache für diese Tendenz.
Damit wird gleichzeitig die genetische Vielfalt unserer Nutztierrassen zerstört - mit weitreichenden Folgen;
denn damit gehen auch genetische Optionen verloren,
die wir vielleicht einmal dringend brauchen würden.
Das Gleiche gilt übrigens für die Verarmungstendenz
bei Ackerkulturen. Der internationale Saatgutmarkt
wird nur noch von fünf großen Multis beherrscht. Die
Konzerne strecken unterdessen auch die Fühler nach den
Nutztieren aus. Gerade ist der Versuch des amerikanischen Konzerns Monsanto, ein Patent auf Schweine zu
bekommen, gescheitert.
({3})
Für die Linke ist ganz klar: Patente auf natürliche
Ressourcen sind absurd. Der öffentliche Zugang muss
gewährleistet bleiben - auch zum Schutz der Artenvielfalt in Natur und Landwirtschaft. Der Erhalt der Agrobiodiversität ist keine Spinnerei von irgendwelchen
Hinterwäldlern, sondern im Interesse der gesamten Gesellschaft.
({4})
Zu den Agroforstsystemen. Die Verbindung von
Acker- und Gehölznutzung ist gar nicht neu. Eigentlich
ist das nur das Aufgreifen von uralten Nutzungstraditionen und die Anpassung an die aktuellen ökonomischen
Bedingungen.
Agroforstsysteme können zum Erhalt und zur Verbesserung der Biodiversität beitragen, und sie können Einkommensquellen für landwirtschaftliche Betriebe erschließen. Das haben verschiedene Studien gezeigt.
Über diese positiven Effekte sind wir uns wahrscheinlich
einig. Der Tatsache, dass die Koalitionsfraktionen dem
vorliegenden Antrag im Ausschuss trotzdem nicht zugestimmt haben, mögen sachfremde Erwägungen zugrunde
liegen. Wir wären aber sehr interessiert an Ihren Vorschlägen dazu, wie wir die Probleme lösen können. Es
wäre schon ein erster Schritt, wenn Agroforstsysteme
wenigstens nicht verhindert würden. Dazu brauchen wir
zum Beispiel die Überarbeitung des Bundeswaldgesetzes, damit Gehölzstreifen nicht weiter als Wald gelten
und somit genutzt werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von
der Koalition, es vergeht kein Tag, an dem wir nicht vom
Klimawandel reden. Wenn die Koalition schon beim
CO2 nicht wirklich weiterkommt, dann lassen Sie uns
doch wenigstens die Vorteile der Agroforstwirtschaft für
das Mikroklima und den Wasserhaushalt nutzen. Die
Linke stimmt dem Antrag jedenfalls zu.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Undine Kurth, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Jeder Vorredner hat bisher versichert, wie ungeheuer wichtig der
Schutz der Artenvielfalt ist. Darin stimmen wir alle
überein. Das ist ganz sicher richtig. Gestern im Ausschuss ist sogar gesagt worden, das sei eine der wichtigsten Menschheitsherausforderungen, die wir momentan
zu bewältigen hätten. Das ist sicher auch richtig. Die im
nächsten Jahr stattfindende 9. Vertragsstaatenkonferenz
zum Schutz der biologischen Vielfalt in Bonn ist
- ebenso wie die G-8-Verhandlungen - sicherlich ein guter Hintergrund, um diesem Thema politisches Gewicht
zu geben.
Wenn das aber so ist und wenn wir uns alle darin einig sind, dass der Schutz der natürlichen Artenvielfalt
für uns lebensnotwendig und eine große Herausforderung ist, dann, glaube ich, müssen wir wesentlich konsequenter handeln, als das bisher der Fall gewesen ist. Lassen Sie uns bitte nicht den Fehler, den wir beim Thema
Klimawandel schon einmal gemacht haben, wiederholen. Jetzt, nachdem uns jemand vorgerechnet hat, wie
teuer das werden könnte, wenn wir nicht reagieren, ist
das Thema plötzlich in aller Munde. Dabei sind die
Undine Kurth ({0})
Daten und die Fakten längst bekannt. Wir hätten längst
handeln können, wenn wir die bekannten Fakten ernst
genommen hätten und wenn wir das, was wir wissen,
auch in Handeln umsetzen würden.
({1})
Genau das ist notwendig, um dieser Herausforderung,
die Sie alle gleichermaßen beschrieben haben, auch
wirklich zu begegnen.
Wir haben uns in Europa vorgenommen, das Artensterben bis 2010 zu stoppen. Hier kann man nur sagen:
Herzlichen Glückwunsch! Dann müssen wir aber langsam anfangen, konsequenter zu handeln. Deshalb glaube
ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir uns bei allem bewusst machen, was die ganze Zeit über passiert. In diesen 45 Minuten, die wir hier haben, um über dieses
Thema zu reden, werden drei bis vier Arten für immer
und unwiderruflich diese Welt verlassen haben, und
zwar mit all den Potenzialen, die ihnen innewohnen und
die wir vielleicht hätten nutzen können, zu deren Nutzung wir jetzt aber nicht mehr die Möglichkeit haben
werden.
Minister Gabriel redet immer von diesem sehr schönen Bild von den Daten, die wir auf unserer Festplatte
Natur unwiederbringlich löschen. Das ist so. Uns muss
klar sein: Wir ersetzen sie durch keine neuen. Demzufolge ist es wirklich wichtig, dass Deutschland seine
Verantwortung wahrnimmt.
({2})
- Ja, das ist sehr wichtig. - Es ist wichtig, dass wir jetzt
einen Entwurf zu einer nationalen Biodiversitätsstrategie
vorliegen haben, über den wir heute auch reden. Wir begrüßen es, dass es diesen Entwurf gibt. - Im Jahr 2005
lag dazu der erste Entwurf einer Strategieempfehlung vor.
Diese Regierung musste also nicht bei null anfangen. Wir sind der Meinung, dass dort wesentlich mehr drinstehen könnte. Trotzdem glauben wir, dass dieser erste
Schritt wichtig ist. Wir werden ihm auch zustimmen.
Wir sagen aber auch: Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem
man nicht mehr sagen kann: Es gibt verschiedene Maßnahmen, und ich suche mir nur die Maßnahme heraus,
die mir passt. - Entweder nutzen wir alle Möglichkeiten,
etwas gegen den ständigen Artenverlust zu tun, oder wir
werden scheitern.
Deshalb, glaube ich, ist es sehr wichtig, noch einmal
darauf einzugehen, in welchen Bereichen dies so ist. Wir
wissen, dass Biodiversität eine Querschnittsaufgabe ist.
Das kann aber nicht heißen: Jeder ist zuständig und keiner macht etwas. Frau Dött, ich hätte es sehr gern, wenn
Sie Herrn Tiefensee dies mitteilen würden: Einer der
Gründe für den fortschreitenden Artenverlust ist die Zerschneidung von Lebensräumen und Flächen. Das stimmt
völlig. Wir müssen in der Verkehrspolitik umsteuern.
Es wäre wunderbar, wenn Sie Ihren Kollegen Tiefensee
davon überzeugen könnten, das bitte schön ernst zu nehmen und darauf zu reagieren.
({3})
Wir wissen, dass die Waldbewirtschaftung eines der
Probleme darstellt. Wir wissen, dass wir im Wasserbau
sehr viel falsch machen. Wir wissen, dass der Eintrag
von Schad- und Nährstoffen zu groß ist. Wir wissen,
dass die Fischerei falsch betrieben wird.
({4})
- Wir werden in Bremen ganz sicher dazu beitragen,
dass sich manches ändert. Keiner von uns wird behaupten, dass wir alles auf einmal regeln können. Ich wäre
nur dafür, dass das ernsthaft angegangen wird. Das ist
unsere Aufgabe.
Frau Tackmann, Sie wiesen eben darauf hin, dass wir
Landwirtschaft und Biodiversitätsschutz brauchen.
Wieso soll das eigentlich ein Gegensatz sein? Ich glaube,
dass es sehr wichtig ist, Landwirtschaft so zu betreiben,
dass Agrobiodiversität für uns alle und für die Zukunft
erhalten bleibt. Wir haben einen entsprechenden Antrag
vorgelegt, der heute mitbehandelt wird. Wenn man es
mit dem Schutz der biologischen Vielfalt ernst meint,
dann ist eigentlich nicht zu verstehen, dass man diesem
Antrag nicht zustimmen kann. Bitte nennen Sie mir einen Punkt in diesem Antrag, bei dem Sie sagen, der sei
nicht zu verantworten, der sei nicht richtig, der führe
nicht zu dem von allen hier als richtig erkannten Ziel!
Ich glaube, dass es sehr stark darum geht, dass wir
uns darauf verständigen, das, was wir als Ziel erklärt haben, durchzusetzen, gemeinsam zu handeln und auch
dort, wo es unbequem ist, wo es eine Auseinandersetzung mit Nutzungsinteressen gibt, immer wieder dafür
zu sorgen, dass konsequent etwas geschieht. Sonst sind
die Reden, die wir immer wieder halten, nur Sonntagsreden und offensichtlich nur dazu gut, sie zu zitieren.
Aber wir müssen handeln und dürfen nicht nur reden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Gerhard Botz, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was die modernen Agroforstsysteme betrifft - diesem
Thema möchte ich mich in meinem Beitrag hauptsächlich
widmen -, so greifen wir mit neuen Wortschöpfungen an
sich eine uralte Tradition der Flächenbewirtschaftung
auf. Streuobstwiesen und Ackerraine sind die wohl bekanntesten Formen der traditionellen Agroforstnutzung.
Sie gehören nicht nur ins Kulturlandschaftsbild früherer
Zeiten, sondern prägen auch heute noch in einigen Regionen unsere ländlichen Räume. Die Nutzung von Gehölzen und/oder Bäumen auf oder am Rande landwirtschaftlicher Flächen - darum geht es - ist eine wertvolle
ökologische Bereicherung. Das ist sicher für uns alle unstrittig.
Dafür gibt es ganz einfache Gründe: Neben der Erweiterung der biologischen Vielfalt der Flora bieten
diese Gehölzstrukturen Lebensraum für zahlreiche Tierarten und leisten einen großen Beitrag zum Artenschutz
und nicht zuletzt zum Schutz der Bodenfruchtbarkeit.
Gehölze tragen dazu bei, Bodenerosion durch Wind und
Wasser zu mindern. Sie halten das Grundwasser im Boden und schützen vor zu starker Auswaschungsgefahr
bezüglich Düngemitteln. Das gilt nicht nur in der vegetationsarmen Jahreszeit. In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden - da sind wir uns sicher einig - Bäume und
Sträucher nicht mehr als ein Teil der Feldbewirtschaftung verstanden. Man kann es so auf den Punkt bringen:
Die Vernichtung unserer traditionellen Agroforstsysteme
in großen Teilen Europas und auch Deutschlands - das
müssen wir hier selbstkritisch feststellen - führte auch
zu einem Verlust von Wissen bei unseren Landwirten,
zur Standardisierung von Landschaften, zu Umweltproblemen, zur Verminderung der Biodiversität und schließlich zum Verlust von alternativen Einkommensquellen
für die Landwirte. Kurz gesagt haben wir aus einer sehr
kurzsichtigen ökonomischen Betrachtungsweise heraus
unsere Flächen in erster Linie den vorhandenen Technologien angepasst.
Heute sind wir klüger geworden, und wir verfügen
über neuere, modernere Technologien, die es uns erlauben, verantwortungsbewusster mit unserer Umwelt umzugehen, ohne - das ist und bleibt wichtig - ökonomische Belange aus den Augen zu verlieren.
Zu den Forderungen des Bündnisses 90/Die Grünen
in ihrem Antrag möchte ich jetzt, im zweiten Teil meiner
Rede, in aller Kürze einige Bemerkungen machen.
Erstens: Finanzierung der Forschungsarbeiten. Neben
den laufenden Forschungsprogrammen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung halte ich eine stärkere Berücksichtigung dieser Themen - das möchte ich
an die Adresse des anwesenden Staatssekretärs sagen in der Ressortforschung des zuständigen Bundesministeriums für angebracht.
({0})
Auch der jetzt laufende Umbau ist kein Widerspruch
dazu. Ich sehe sehr große Chancen, beide Dinge miteinander zu vereinbaren.
Im Übrigen vertrete ich die Auffassung, dass die Tatsache, dass im Moment noch Kenntnisse fehlen - diese
Kenntnisse brauchen wir aber in der Zukunft -, kein
Grund sein sollte, mit derartigen Systemen in der Praxis
nicht schon zu beginnen.
({1})
Zweitens. Was zwingend erforderlich wird, ist die
Schaffung eindeutiger rechtlicher Rahmenbedingungen für potenzielle Anwender derartiger Systeme in der
Praxis. Wir brauchen nicht nur eine klare Abgrenzung
zum Waldbegriff, wir brauchen auch eine klare rechtliche Zuordnung zu dann entstehenden geschützten Landschaftselementen. Wir brauchen nicht zuletzt auch eine
Klärung der Frage, welche Art von Pflanz- oder Saatgut
die Landwirte zu diesem Zweck verwenden können.
Ich komme zum Schluss. Ich halte es auch für sinnvoll - an dieser Stelle möchte ich den Antrag der Grünen
unterstützen -, dass die Gemeinschaftsaufgabe gestützt
auf Art. 44 der ELER-Verordnung so geöffnet wird, dass
wir eine Förderung dieser Systeme vor allen Dinge in
der Phase ihrer Etablierung unterstützen können. Von einer dauerhaften Subventionierung dieser Systeme rate
ich aus Gründen, die ich jetzt aus Zeitgründen nicht
mehr darlegen kann, dringend ab. Es muss auch ohne
eine solche Subventionierung gehen.
Ich glaube, wir sind gut beraten, mittel- und langfristig diese wertvollen ökonomischen und ökologischen
Wirkungen so hoch anzusiedeln, dass wir zu der Bewertung kommen, dass es in Zukunft auch ohne dauerhafte
Subventionen auf diesem Gebiet gehen kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Max Lehmer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Verehrte Gäste! Die dauerhafte
Sicherstellung der biologischen Vielfalt ist das unumstrittene Ziel, und zwar national und international. Dies
kommt auch in dem Übereinkommen über die Biologische Vielfalt zum Ausdruck, dem 188 Länder als Vertragsparteien zugestimmt haben. Deutschland gehört zu
den Erstunterzeichnern und hat von Anfang an eine aktive Rolle gespielt. Und das ist gut so.
Mit dem Entwurf einer nationalen Strategie zur Biodiversität sollen die Verluste biologischer Vielfalt bis zum
Jahre 2010 deutlich reduziert bzw. gestoppt werden. Es
ist dabei unverzichtbar, nationale oder zumindest regionale Aktionspläne zu erstellen, da sich - wie Sie wissen die Situation weltweit sehr unterschiedlich darstellt.
80 Prozent der biologischen Vielfalt finden sich in nur
15 Entwicklungsländern wieder.
In diesem Zusammenhang möchte ich eine globale
Betrachtung vornehmen. Die drei weltweit großen
Herausforderungen der Zukunft sind: erstens die Ernährungssicherung, zweitens die Sicherung der Energieversorgung und drittens der nachhaltige Schutz der natürlichen Ressourcen. Der Zielkonflikt liegt in der
Konkurrenz um die begrenzte und unvermehrbare Fläche für das Pflanzenwachstum.
Lediglich 11 Prozent der Erdoberfläche sind landwirtschaftlich nutzbar. Gleichzeitig wird die Bevölkerung
bis zum Jahr 2050 auf über 9 Milliarden Menschen anwachsen. Die für den Lebensmittel- und Energiebedarf
verfügbare Fläche pro Mensch wird sich demzufolge
rechnerisch erheblich verringern. Dies erzeugt erheblichen Druck auf die verbleibenden Naturschutzflächen.
Je mehr Fläche für Nahrung und Energie gebraucht wird,
desto kleiner werden folglich die naturbelassenen Flächen. Darauf wurde im Übrigen schon 1992 bei der Konferenz in Rio ausdrücklich hingewiesen. Diese Situation
erfordert daher eine sehr verantwortungsvolle Landnutzung. Aktiver Natur- und Artenschutz hängt also auch
unmittelbar mit der Art, der Intensität und der Qualität
der Nutzung von Nahrungs- und Energieflächen zusammen.
({0})
So kommt insbesondere flächenschonenden und
damit leistungsfähigen, aber trotzdem ökologisch verträglichen und nachhaltigen Nutzungsformen für den
landschaftlichen Pflanzenbau eine ganz besondere Bedeutung zu. Auf diesen Zusammenhang hat auch Umweltminister Gabriel im Oktober 2006 bei der Debatte
zum gleichen Thema ausführlich hingewiesen. Wir müssen uns mithilfe moderner Technologien die Intelligenz
der Natur nutzbar machen und die Natur gleichzeitig
schützen.
({1})
Um diesen Zielen gerecht zu werden, ist eine Effizienzsteigerung pro Flächeneinheit unumgänglich. Die
neueren Erkenntnisse über die möglichen Auswirkungen
des Klimawandels auf das Pflanzenwachstum müssen
selbstverständlich in diese Überlegungen einbezogen
werden. Vorgänge in der Natur sind äußerst komplex,
weshalb die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in
diese Systeme dauerhaft durch wissenschaftliche Forschung zu begleiten sind. Ökologische Forschung muss
ein fester Bestandteil der nationalen Strategie sein.
({2})
Im gleichen Zusammenhang steht die Agroforstwirtschaft, die Nutzung einer Anbaufläche durch die
Kombination von Elementen der Landwirtschaft und der
Forstwirtschaft. Im Hinblick auf die Notwendigkeit,
landwirtschaftlichen Boden auch für die Erzeugung von
Biomasse für die Energiegewinnung zu nutzen, sollte
der Anbau schnell wachsender Holzarten ins Auge gefasst werden.
({3})
Für diese Nutzungsform liegen bereits erste wissenschaftliche Erkenntnisse vor, die interessante ökologische und ökonomische Vorteile gleichermaßen belegen.
Es ist möglich, 5 000 Liter Heizöl durch die Verbrennung von Holz zu ersetzen, das pro Jahr auf 1 Hektar
Energiewald wächst. Gleichzeitig findet man laut Untersuchungsergebnissen dabei bis zu zehnmal mehr Arten
als auf den angrenzenden Äckern.
Die Bundesregierung sieht deshalb Agroforstsysteme
zu Recht als eine mögliche geeignete Landnutzungsform
für sogenannte Grenzstandorte und stillgelegte Flächen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Happach-Kasan?
Ja, bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Lehmer, ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen insbesondere zu den Agroforstsystemen. Allerdings können wir bekanntlich mit dem jetzigen Bundeswaldgesetz ein solches System nicht einführen.
Deswegen meine Frage: Wie ist der Stand der Überlegungen zur Änderung des Bundeswaldgesetzes, damit
der rechtliche Rahmen geschaffen wird, um Agroforstsysteme tatsächlich einsetzen zu können?
Ich bestätige Ihre Bedenken in dieser Hinsicht; ich
habe sie auch. Daher rege ich an, dass wir uns mit dieser
Thematik noch eingehend befassen. Auch aus diesem
Grunde kann der Antrag der Grünen nicht angenommen
werden. Da dieser Punkt noch offen ist, bedarf er zunächst einer Klärung.
({0})
Der Antrag der Grünen fordert die Schaffung einer Informations- und Koordinationsstelle Agroforstwirtschaft. Der Informationsbedarf ist aber durch Beratungsangebote der Privatwirtschaft und vor allen Dingen der
Ämter für Landwirtschaft und Forsten in diesem Bereich
nach meiner Information bereits gut gedeckt. Eine solche Stelle ist somit überflüssig. Des Weiteren machte der
Antrag eine Änderung des Pachtrechts notwendig, die
aber im Hinblick auf Art. 14 Grundgesetz verfassungsrechtlich problematisch wäre. Der Antrag kann folglich
nicht unsere Zustimmung finden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich werde nicht
das sperrige Wort „Biodiversität“ benutzen; auch ich
sage hierzu viel lieber „Artenvielfalt“ und „biologische
Vielfalt“. Letztendlich drückt dies viel mehr aus, und das
versteht dann auch jeder.
Der Schutz und die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist in der Tat eine globale Herausforderung, die nur
durch gemeinsame internationale Anstrengungen bewältigt werden kann; das haben meine Vorrednerinnen und
Vorredner schon geschildert. Wir in Deutschland leisten
unseren Beitrag dazu. Der Entwurf einer nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt ist umfangreich und wird
- gar keine Frage - sicherlich ausgiebig beraten werden.
Aber wir sind eben nur ein kleiner Teil in dieser großen Welt. Rund 80 Prozent der weltweiten natürlichen
Vorkommen an genetischen und biologischen Ressourcen ist - das wurde gerade gesagt - in den Entwicklungsländern zu finden. Die dramatische Zerstörung
der natürlichen Lebensgrundlagen ist die größte Herausforderung unseres Jahrhunderts. Besonders die ländliche und vor allen Dingen die arme Bevölkerung in den
Entwicklungsländern ist hiervon doppelt und dreifach
betroffen. Sie leidet darunter, dass sie kein Trinkwasser,
keine Nahrung, keine Energie und keine fruchtbaren Böden hat. Wenn ich das Wenige, das noch vorhanden ist,
zum Überleben brauche, dann schert mich, ehrlich gesagt, die biologische Vielfalt verflixt wenig. Dann
nehme ich das wenige Vorhandene erst einmal, um
meine eigene Lebensgrundlage zu sichern.
Wir bekennen uns nicht nur im eigenen Land zu unserer Verantwortung zum Schutz der biologischen Vielfalt,
vielmehr wollen wir natürlich auch den armen Ländern
helfen, die dazu allein nicht in der Lage sind.
({0})
Auch dazu werden im Entwurf einer nationalen Strategie
Aussagen gemacht.
Was bedeutet das jetzt konkret? Es ist nicht erst jetzt,
sondern schon seit Jahren so, dass wir den Schutz der
biologischen Vielfalt in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit als Querschnittsthema und zugleich als
eigenständigen Sektor unterstützen und in unsere Programme aufgenommen haben. Wir führen zurzeit rund
150 Projekte in unseren Partnerländern durch. 300 Millionen Euro haben wir dafür eingesetzt. Auf multilateraler Ebene ist Deutschland der drittgrößte Geber bei der
Finanzierung der globalen Umweltfazilität.
Was heißt das eigentlich, wenn wir das machen? Was
sind konkrete Projekte? Ich möchte Ihnen ein Beispiel
nennen: den Pendjari-Nationalpark in Benin. Dieser Nationalpark mit seinen anschließenden Jagdzonen ist ein
wichtiges Schutzgebiet von hoher regionaler Bedeutung
für den Erhalt der Artenvielfalt. Die Bevölkerung wird
zum Erhalt dieses Ökosystems beitragen und dies auch
akzeptieren, wenn es gelingt, ihre Interessen direkt zu
berücksichtigen und über an den Park gebundene Entwicklungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Armut der
Bevölkerung beizutragen.
In einem gemeinsamen Ansatz - das ist das wirklich
Interessante - von KfW, GTZ, von Holland und Frankreich, aber auch von der Globalen Umweltfazilität wird
dieses Projekt zwei Zielen dienen können: Einerseits
wird ein einmaliges Naturschutzgebiet bewahrt und andererseits ein Beitrag zur Armutsreduzierung geleistet.
Die Anrainerbevölkerung bekommt Pläne zur nachhaltigen Erschließung an die Hand. Aber eine nachhaltige Erschließung ist natürlich nicht das, was letztendlich hilft.
Sie ist vielmehr gleichzeitig damit verbunden, dass Managementkenntnisse zur Führung eines solchen Parks
entwickelt und Ressourcen, die in diesem Park bestehen,
erkannt werden. Damit erreichen wir, dass die biologische Vielfalt für diese Menschen auch eine Bedeutung
als Einkommensquelle bekommt, die von daher gesehen
den Schutz der Bevölkerung verdient. Dies wird die Bevölkerung dann auch tun.
({1})
Halten wir noch einmal fest: Der Schutz der biologischen Vielfalt gerade in ärmeren Ländern wird sicherlich
nur dann umgesetzt, wenn sich daraus ein Einkommen
erzielen lässt. In unserem Koalitionsantrag verfolgen wir
eine Strategie, in der die Bezüge zur Armutsbekämpfung
und Gerechtigkeit betont werden.
Noch ein Wort zu Ihnen, Frau Happach-Kasan: Der
Antrag der Grünen ist wirklich nicht nur heiße Luft. Das
sollte man hier einmal deutlich sagen; alles andere wäre
unfair. Er enthält sehr wohl gute Aspekte, die es eigentlich verdienen, dass man ihm zustimmt. Nur leider haben
wir einen eigenen Koalitionsantrag. Insofern werden wir
natürlich diesem zustimmen und den Antrag der Grünen
ablehnen. Ich kann Ihnen sagen: Wir bedauern das. Vielleicht finden wir demnächst eine gemeinsame Grundlage, auf der wir dann einen Antrag einbringen können.
Ich weiß, dass wir uns hinsichtlich der Wechselwirkungen, die sich aus der Biodiversität und der Armutsbekämpfung ergeben, generell einig sind.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD mit dem Titel „Deutschlands Verantwortung national und international mit einer umfassenden Strategie
zur biologischen Vielfalt wahrnehmen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4275, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/1996 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Stimmenenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Nachhaltige Ressourcennutzung durch Agroforstwirtschaft“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5294, den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2794 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke bei
Enthaltung der FDP angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5413 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Roland Claus,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-Gesetz
- Drucksachen 16/3284, 16/4461 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({1})
Siegmund Ehrmann
Jan Korte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat Kollege Wolfgang Bosbach, CDU/CSUFraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre
wieder kommt nicht nur das Christuskind, sondern auch
die Debatte über den Beschluss des Deutschen Bundestages, dass Parlament und Regierung nach Berlin umziehen. Heute haben wir diesen Punkt wieder auf der Tagesordnung, und ich ahne, er wird auch in den nächsten
Jahren immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden,
({0})
vielleicht in einem neuen Gewande, immer in der Hoffnung: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Das ist aus der Sicht von Berlin und Umgebung auch
verständlich; denn das bedeutet Milliardeninvestitionen
hier in Berlin, Zehntausende neuer, sicherer Arbeitsplätze - dass die dann woanders verloren gehen, wird
gerne ausgeblendet. Aber ich sage noch einmal: Aus der
Sicht von Berlin ist mir der Wunsch durchaus verständlich. Allerdings müssen wir im Deutschen Bundestag die
Interessen der gesamten Bundesrepublik Deutschland
wahren. Bei dieser Gelegenheit der kleine Hinweis:
Nicht nur das Land/die Stadt Berlin hat legitime Interessen; legitime Interessen haben auch andere Städte und
Regionen in unserem Land.
Es wird gerne mit Kosten argumentiert, insbesondere
mit den Kosten der Pendelei. Ich habe Verständnis für
dieses Thema, dazu sage ich später auch noch etwas.
Wer aber die Kosten in den Mittelpunkt der Argumentation stellt, sollte bedenken, dass Kosten bei der Entscheidung für Berlin nicht nur keine Rolle gespielt haben, sie
durften - aus politischen Gründen - überhaupt keine
Rolle spielen. Damals hieß es, es gehe um die Glaubwürdigkeit der Politik, sie müsse verlässlich und berechenbar sein. Diese Argumentation greife ich gerne auf: Was
damals für Berlin galt, muss heute auch für Bonn gelten.
Ich zitiere Willy Brandt - der ist zitierfähig ({1})
- nicht immer, aber immer öfter -:
Mein Interesse ist es aber, an etwas mitzuwirken,
das Berlin nicht außen vor lässt, was aber auch
nicht eine Lösung ist, die überwiegend und einseitig zulasten von Bonn ginge. Denn wir haben Platz
für mehr als einen Ort, für die Regierung und die
anderen Instanzen, ganz abgesehen davon, dass natürlich in Bonn eine Menge investiert worden ist,
was nicht einfach in den Sand geschrieben werden
darf.
Rita Süssmuth:
Es ist mir beim Gesetz wichtig, daran zu erinnern:
Das alles war ein Kompromiss. Ohne den Plan, Ministerien in Bonn zu belassen, wäre nicht auszuschließen gewesen, dass die Entscheidung auch anders hätte ausfallen können.
Im Klartext: für Bonn.
Am Ende dieser kleinen Zitatsammlung der große
Philosoph Gregor Gysi:
Mein entscheidendes Argument für Berlin ist eigentlich eine Frage nicht nur der nationalen Glaubwürdigkeit, sondern auch der internationalen
Glaubwürdigkeit …
({2})
Man kann Glaubwürdigkeit aber nicht nur für Berlin reklamieren; das Glaubwürdigkeitsargument muss auch
für Bonn gelten.
Es gibt einen untrennbaren politischen Sachzusammenhang zwischen der Entscheidung des Deutschen
Bundestages, mit dem Parlament und einem Teil der Bundesregierung einschließlich der politischen Führung aller
Ministerien nach Berlin umzuziehen, und dem Berlin/
Bonn-Gesetz. Das Berlin/Bonn-Gesetz ist die politische
Geschäftsgrundlage für diese Umzugsentscheidung. So
richtig die Entscheidung für Berlin war, so falsch wäre es,
diese politische Grundsatzentscheidung des Deutschen
Bundestages von damals, wenn auch nur in Teilen, infrage zu stellen.
({3})
Es kommt im Übrigen ganz selten vor, dass ein Antragsteller im Antrag die Argumente für die Ablehnung
des Antrages gleich mitliefert. Im Antrag heißt es wörtlich:
„Sicherstellung einer dauerhaften und fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin
und der Bundesstadt Bonn“ …
So ist es. Wer das aber zitiert, muss doch zu der Erkenntnis gelangen, dass man diese gesetzgeberische Grundsatzentscheidung nicht nach wenigen Jahren wieder aufheben kann. Das wäre nämlich nicht „dauerhaft“,
sondern das Gegenteil von „dauerhaft“. Außerdem wäre
es gegenüber Bonn und der Region nicht fair.
Ein geradezu kurioses Argument findet sich auf
Seite 3 des Antrages. Dort wird ausführlich beschrieben,
dass Bonn und die Region Bonn nach der Umzugsentscheidung und den Umzügen eine überaus positive Entwicklung genommen haben. Damit haben Sie recht.
Dass Bonn und die Region Bonn wirtschaftlich erfolgreich waren, kann doch aber kein Argument dafür sein,
Tausende von Arbeitsplätzen nach Berlin zu verlagern.
Berlin sollte sich vielmehr anstrengen, um wirtschaftlich
mindestens ebenso erfolgreich zu sein wie die Region
Bonn.
({4})
Das größte Investitionshindernis in Berlin ist doch nicht
der fehlende zweite Umzug. Das größte Investitionshindernis in Berlin ist der rot-rote Senat. Das ist der eigentliche Grund.
({5})
Ich darf darum bitten, nicht gegen die Gesetze der Logik zu argumentieren. Liebe Leute, man kann doch nicht
ernsthaft eine Zweiteilung der Regierungsfunktionen
beschließen und sich anschließend wundern, dass man
eine Zweiteilung der Regierungsfunktionen hat. Wer
eine Zweiteilung beschließt, muss doch wissen, dass sie
danach auch kommt. Hier wird ja gelegentlich der Eindruck erweckt, der damalige Gesetzgeber hätte im Zustand der Bewusstlosigkeit eine Entscheidung getroffen,
und nachdem er aufgewacht ist, erst gesehen, was er entschieden hat. Diese Entscheidung war gewollt.
({6})
Sie wurde bewusst herbeigeführt, vermutlich um eine
Reihe von Bonnbefürwortern auf die Seite Berlins zu
ziehen. Sind sie aber auf dieser Seite angekommen, sagt
man ihnen: Ätsch, das war gar nicht ernst gemeint. In
Wahrheit wollten wir ja den Komplettumzug. - Das hat
mit einer verlässlichen, mit einer redlichen Politik nichts
zu tun. Politik muss verlässlich und berechenbar sein.
Das, was Berlin für sich reklamiert, reklamieren Bonn
und Umgebung mit genauso guten Gründen für sich.
({7})
Zu den Kosten der Pendelei. Ich habe Verständnis
dafür, dass man fragt, ob es wirklich nötig ist, dass so
viele Euros für die Pendelei ausgegeben werden. Dahinter setze auch ich ein Fragezeichen.
({8})
In der parlamentarischen Arbeit, in den Fraktionen, den
Arbeitsgruppen und den Ausschüssen, erleben wir, ganz
egal, von wo die Bataillone anreisen, Folgendes: Es erscheint der Abteilungsleiter, im Gefolge der Unterabteilungsleiter, der Referatsleiter und jemand, der Ahnung
hat. Da darf man schon einmal fragen: Genügt nicht der,
der sich zu dem Thema auskennt? Muss ein ganzes Bataillon anreisen? - Man muss auch nicht unbedingt ins
Flugzeug steigen. Ab und zu genügt der Griff zum Telefonhörer. Nichts spricht dagegen, die Reiserei zu reduzieren. Wenn man sich aber den Zeitraum von 1999 bis
2006 ansieht, stellt man fest, dass in der ersten Hälfte
dieser Zeitspanne 70 Prozent der Kosten angefallen sind
und in der zweiten Hälfte nur noch 30 Prozent. Die Kosten sind also rückläufig.
Geradezu ein Stück aus dem Tollhaus ist es, den Eindruck zu erwecken, als sei ein Umzug nach Berlin für
den deutschen Steuerzahler besonders kostengünstig. Ich
lasse jetzt einmal dahingestellt, ob ein Komplettumzug
4 oder 5 Milliarden Euro kostet.
({9})
Jedenfalls haben wir das Geld nicht.
({10})
Wir müssten Kredite aufnehmen. Wenn die Kosten
5 Milliarden Euro betrügen, müssten wir jedes Jahr etwa
250 Millionen Euro Zinsen zahlen. Dieser Betrag läge
um ein Vielfaches höher als die Kosten der Pendelei.
Das Kostenargument ist also nicht tragfähig.
Zum Schluss, Herr Präsident, möchte ich noch ein Zitat des ehemaligen Kollegen Dr. Möller aus der damaligen Debatte anführen:
Deutschland verfügt über zwei politische Schwergewichte: Berlin und Bonn. Die mit dem Namen
Bonn verbundenen Grundentscheidungen deutscher
Politik bleiben das Fundament deutscher Politik.
Und Fundamente müssen stabil und dauerhaft sein.
Danke fürs Zuhören.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Otto Fricke, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu Anfang gestehe ich etwas: Ich bin befangen;
denn ich bin wie mein Vorredner Rheinländer.
({0})
Aber ich gestehe ein Zweites: Als damals die Entscheidung fiel, die übrigens nicht mit der Mehrheit der beiden
großen Fraktionen, sondern mit wesentlicher Unterstützung der FDP-Fraktion und der heutigen Linksfraktion
- ich weiß nicht, wie sie damals hieß - getroffen wurde
({1})
- jetzt weiß ich, wie sie heißt -, befand ich mich im Studium in Freiburg. Damals aber habe ich als Rheinländer
gesagt: Es ist richtig, dass das Parlament umzieht und
das Regieren in Berlin stattfindet.
Man hat ein Gesetz verabschiedet und - das wird völlig vergessen - einen Vertrag mit einer Stadt, letztlich
mit einer Region, geschlossen, aus dem man nicht so
einfach heraus kann. Gesetze könnten wir ändern; das ist
sicherlich möglich. Wenn wir den Vertrag nicht einhalten
würden - das ist bei einem Parlament schon fast nicht
möglich -, wären wir schadensersatzpflichtig. Dieses Risiko müssen wir bedenken.
({2})
- Nein, das ist es ja, Herr Kollege: Diesen Vertrag können Sie nicht kündigen, und wenn Sie es täten, würde die
Geschäftsgrundlage wegfallen, und das müssten Sie begründen.
({3})
Wir merken aufgrund dieser Debatte, dass das Thema
wahnsinnig interessant ist. Fast jeder bekommt die Anfragen: Wie stehen Sie dazu? Was halten Sie davon? Finden Sie nicht auch, dass dieses oder jenes falsch ist? Egal was Sie sagen, es heißt immer: Der ist auf der einen
oder auf der anderen Seite. Dabei haben wir als Parlament doch eine ganz andere Aufgabe. Wir haben die
Aufgabe, für den Steuerzahler die beste Lösung zu finden: ein Parlament, das mit der Regierung effektiv arbeitet und dafür sorgt, dass die Regierung ihr Regierungshandeln gestalten kann. Dabei vergessen wir, dass das
Regieren nicht nur in diesem Parlament erfolgt. Ich kann
nur bestätigen, was Kollege Bosbach eben gesagt hat:
Wir müssen uns wirklich fragen, warum Luftwaffe, Heer
und Marine vertreten sind, wenn es im Haushaltausschuss um die Beschaffung eines neuen Flugzeuges
geht.
Wir haben sehr viele Möglichkeiten, etwas zu tun.
Die Kosten des Pendelns sind zu hoch. Aber um was
für ein Pendeln handelt es sich? Pendelt man nach Berlin, weil man ins Parlament muss oder etwas mit der Regierung zu besprechen hat? Es gibt viele Gründe fürs
Pendeln. Hier müssen wir genau differenzieren. Wenn es
um den Teil des Pendelns geht, der darin begründet ist,
dass hier die Gesetzgebung stattfindet, dann muss man
das hinterfragen und im Interesse des Steuerzahlers
möglichst schnell abstellen. Wenn es aber um Pendeln
im Sinne von Verwaltungshandeln geht und wir auch das
nicht wollen, dann kann ich den Freunden aus dem Südosten unseres Landes nur sagen, dass man vielleicht
überlegen sollte, das Patent- und Markenamt nach Berlin
zu bringen, und den Freunden aus dem Südwesten, dass
man auch das Verfassungsgericht oder den BHG nach
Berlin umsiedeln lässt. Ich kann nur sagen: Das sollten
wir nicht tun. Wir leben in einem föderalen Staat. Ich bin
froh, dass wir keinen Zentralismus à la Frankreich haben; den wollen wir auf keinen Fall.
({4})
Zu den Kosten des Restumzuges gibt es - Kollege
Bonde und Kollege Claus, das ist Ihr Spezialthema keine konkreten Zahlen. Aber wenn man behauptet - das
will ich am Rande sagen -, dass der Umzug leicht sei und
man ihn ohne Probleme hinbekomme, dann weise ich
darauf hin, dass die Große Koalition beabsichtigt, für einen sehr hohen Betrag den Umzug des Innenministeriums zu ermöglichen, weil es im alten Gebäude unter
anderem aus Sicherheitsgründen nicht bleiben kann. Viel
Spaß, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie das Verteidigungsministerium nach Berlin holen wollen, weil
Sie glauben, es gebe genügend freie Büroräume, und Sie
dann jemand fragt: Wollen Sie es wirklich riskieren, das
Verteidigungsministerium in Berlin, zum Beispiel in
Prenzlauer Berg, anzusiedeln? Dann werden Sie erleben,
dass auf einmal alle sagen: Jetzt müssen wir leider besonders teure Gebäude bauen.
Der Haushaltsausschuss, von dem manche meinen,
er würde nur darüber entscheiden, dass Geld ausgegeben
wird, hat aufgrund der hohen Komplexität dieses Themas eine Arbeitsgruppe gebildet, in der untersucht wird,
welche Forderungen das Parlament zukünftig an die Regierung stellt, damit die Effizienz verbessert und der
Steuerzahler entlastet wird. Unsere Hauptaufgabe ist
nicht etwa die Erfüllung von Wünschen, sondern die Realisierung vernünftiger Vorschläge. Dafür wurden wir
Parlamentarier gewählt.
Eines ist dabei wichtig: Die gegenwärtig regierenden
Fraktionen haben einen Koalitionsvertrag geschlossen,
in dem es heißt, dass das Gesetz nicht geändert wird.
Auf dieser Basis handelt die FDP. Wenn die Koalition
das Gesetz dennoch ändern will, dann muss sie das sagen. Solange sie das nicht tut, gilt für uns gegenüber der
Exekutive, dass das die Grenzen sind, innerhalb derer
wir uns bewegen.
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass wir nur dann zu einer Lösung
kommen, wenn wir dieses Thema entemotionalisieren
und deutlich machen, dass weder die eine noch die andere Lösung die einzig richtige ist. Wer glaubt, in der
Politik sei entweder Schwarz oder Weiß richtig, der irrt.
Ich würde vorschlagen, dass wir uns die Zahlen genau
ansehen. Ich garantiere Ihnen, dass die Arbeitsgruppe
des Haushaltsausschusses eine Lösung finden wird.
Dennoch wird es immer wieder Einzelne geben - hier
sollte man sich nichts vormachen -, die lieber eine andere Lösung gehabt hätten. Aber auch das gehört zur politischen Debatte. Ich bitte alle Beteiligten und die Bevölkerung: Lassen Sie sich nicht ins Bockshorn jagen!
Wer Ihnen vormachen will, dass entweder Schwarz oder
Weiß richtig ist, der nimmt nicht zur Kenntnis, dass es
auch ein helles Grau, ein dunkles Grau und sogar dunkelstes Grau gibt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Gabriele Fograscher,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Seit 1994, seit Inkrafttreten des Berlin/Bonn-Gesetzes,
finden in regelmäßigen Abständen mit mehr oder weniger seriösen Argumenten gespickte Debatten statt. Diese
Diskussionen werden immer sehr emotional geführt. Das
Berlin/Bonn-Gesetz ist Gegenstand zahlreicher Berichte,
Anfragen und Gutachten. Es ist immer populär - um
nicht zu sagen: populistisch -, die Posten für Dienststellen und Dienstreisen zu addieren und so zu tun, als entstünden durch einen Komplettumzug keine Kosten und
als würden in diesem Fall keine Dienstreisen mehr anfallen. Auch das Argument, eine Zusammenlegung der Ministerien am Sitz Berlin hätte automatisch mehr Effizienz
zur Folge, ist bei näherer Betrachtung nicht stichhaltig.
Die Linke ist mit ihrem heute vorliegenden Antrag
wieder einmal auf diesen Zug aufgesprungen. Die in diesem Antrag aufgestellte Forderung, das Kanzleramt bis
2009 und die anderen Ministerien bis spätestens 2012
vollständig in Berlin anzusiedeln, ist nicht nur unrealistisch, sondern auch sozial unzumutbar. Deshalb lehnen
wir diesen Antrag heute ab.
({0})
Bei allen Diskussionen um Dienstposten und Planstellen muss man berücksichtigen, dass es immer auch
um Menschen und Familien geht, die ein Recht und einen Anspruch auf eine verlässliche Perspektive haben.
Auf der anderen Seite geht es aber auch um eine sparsame und effiziente Verwendung von Steuermitteln. Als
vermeidbare Kosten werden immer wieder die Dienstreisen zwischen Bonn und Berlin angeführt. Die Zahl der
Reisen ist allerdings rückläufig. Dazu trägt in entscheidendem Maße die Verwendung neuer Kommunikationsmedien wie E-Mail oder Videokonferenzen bei. Das
Bundesinnenministerium rechnet damit - das hat es in
seinem Bericht an den Haushaltsausschuss deutlich gemacht -, dass es aufgrund des Einsatzes moderner Techniken zu einer weiteren Reduzierung der Zahl der
Dienstreisen kommen wird. Dienstreisen zwischen
Bonn und Berlin sind aber auch im Rahmen der Fachaufsicht oder zum Besuch von Weiterbildungseinrichtungen
des Bundes im Raum Köln-Bonn-Koblenz notwendig.
Dienstreisen sind also nicht ausschließlich auf die Teilung der Ministerien zurückzuführen. Ich darf aus dem
Bericht des Bundesinnenministeriums vom 5. April
2007 zitieren:
… zu berücksichtigen ist, dass die Dienstreisen
zwischen den Regionen Bonn und Berlin nicht nur
Folge der Aufteilung der Bundesregierung auf die
beiden Standorte sind, sondern z. B. auch aus Gründen der Fachaufsicht bei den dislozierten Geschäftsbereichsbehörden im Raum Köln-Bonn erfolgen.
Um das Ziel der effizienten Regierungsarbeit und
Verwaltung zu erreichen, braucht es mehr als die populistische Forderung nach Zusammenlegung der Ministerien an einem Sitz. Effizienzgewinne lassen sich zum
Beispiel durch die konsequente Umsetzung des Regierungsprogramms „Zukunftsorientierte Verwaltung durch
Innovation“ einschließlich des Programms „E-Government 2.0“ erreichen. Im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung gibt es bereits heute eine ressort- und behördenübergreifende Bündelung interner Dienstleistungen.
Mit der Verstärkung politisch bedeutsamer ministerieller Kernaufgaben in Berlin und der zunehmenden
Verlagerung vorwiegend verwaltender Aufgaben auf
nachgeordnete Behörden in Bonn lassen sich weitere Effizienzgewinne unter Beibehaltung der Arbeitsteilung
zwischen Bonn und Berlin erzielen. Ein Beispiel dafür
ist das Bundesjustizministerium: Die Dienststelle Bonn
des BMJ hat administrative Aufgaben auf das zum
1. Januar 2007 gegründete Bundesamt für Justiz übertragen. Im Bundesamt für Justiz werden moderne und effiziente Verwaltungsstrukturen geschaffen.
- Ich darf nochmals aus dem Bericht des BMI zitieren:
Durch die Verlagerung von Aufgaben, deren Verbleib in ministerieller Zuständigkeit nicht geboten
ist, konzentriert sich das Ministerium … auf seine
politisch-konzeptionellen Kernaufgaben.
Der Haushaltsausschuss hat eine Arbeitsgruppe mit
der Prüfung und Auswertung der Berichte des BMI beauftragt. Sie wird die notwendigen Schritte und Maßnahmen erarbeiten, um mehr Flexibilität und mehr Effizienz
unter Beachtung der sozialen Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Interessen der Regionen zu
erreichen.
Wir als Große Koalition befassen uns ernsthaft und
seriös mit diesem Thema. Wir werden das Notwendige
und das, was sinnvoll ist, umsetzen. Ihren Antrag lehnen
wir ab.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Roland Claus, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen insbesondere aus dem Rheinland! Am 9. November
des vergangenen Jahres hat Ihnen die Linksfraktion den
Vorschlag auf den Tisch gelegt, einen Komplettumzug
der Ministerien nach Berlin vorzusehen und dafür folgerichtig die Geltungsdauer des Berlin/Bonn-Gesetzes
nach einem auch von uns konstatierten erfolgreichen
Verlauf zu beenden. Wir haben den Antrag mit Augenmaß gestellt; es ist auch kein Anti-Bonn-Antrag. Wir sagen aber: 17 Jahre nach der Vollendung der deutschen
Einheit ist es mit dieser Teilung genug.
({0})
Unser Antrag hat einiges in Bewegung gesetzt: Die
Medien haben aktiv informiert, es hat Umfragen gegeben, und die Ausschüsse haben sich mit diesem Thema
befasst. Herr Kollege Bosbach, Sie verkennen offenbar
völlig die in der Bundesregierung und auch in Ihrer
Fraktion anzutreffende große Sympathie für diesen Antrag. Sie sollten sie gelegentlich zur Kenntnis nehmen.
({1})
Auch wenn Sie den Antrag heute ablehnen: Sie werden
um die Lösung dieses Problems nicht umhinkommen,
und das ist auch gut so. Ich darf Sie im Übrigen darauf
hinweisen, dass Sie heute als Mehrheit im Bundestag
einmal mehr gegen die Mehrheit der Bevölkerung zu
entscheiden gedenken.
({2})
Wir wissen durch die gute Aufklärungsarbeit der Medien inzwischen, dass über die Hälfte der Beschäftigten
nach wie vor am Standort Bonn tätig ist, dass
120 Millionen Euro für Neubauten in Bonn vorgesehen
sind, dass an Arbeitstagen ständig 170 Beamte in der
Luft sind und dass in 2006 66 000 Flüge zu konstatieren
waren. Auf der anderen Seite ist uns regierungsamtlich
bestätigt worden, dass der von Ihnen genannte Betrag
von 5 Milliarden Euro für einen Komplettumzug jeglicher Grundlage entbehrt. Das haben wir schriftlich.
({3})
Ich glaube auch, dass es notwendig ist, diese Debatte
hier anzustoßen, weil sich der Bundestag ein wenig an
den Zustand gewöhnt hat. Ich behaupte einmal: Ohne
Linksfraktion im Bundestag wäre das auch so geblieben.
({4})
- Sie waren doch schon dabei, sich daran zu gewöhnen,
dass die Linksfraktion nicht mehr im Bundestag ist. Wir
waren doch kein Wunschkind dieses Parlaments. Das
wollen wir doch nicht vergessen.
({5})
Unser Hauptvorwurf bezieht sich darauf, dass Sie
jetzt eine große Chance vertun, die Regierung zu modernisieren und damit zukunftsfähig zu gestalten. Alle
Fachleute, die sich mit dem Antrag befasst haben, haben
festgestellt, dass damit eine Riesenchance verbunden ist,
ein paar alte Zöpfe abzuschneiden und neue Wege zu beschreiten.
({6})
Wir meinen: So kann man nicht gut regieren. Über die
Verschwendung von Zeit und Geld ist schon gesprochen
worden.
Klaus Töpfer, der einst Umzugsbeauftragter war, hat
sich in einer selbstkritischen Reflexion die Frage gestellt: Warum haben wir seinerzeit eigentlich nicht gesagt, nur die Besten dürfen nach Berlin? Dann wäre das
Problem vielleicht gelöst gewesen. - Ich finde, er hat
recht gehabt.
({7})
Nun erreicht uns aus der Großen Koalition eine ganze
Reihe von Vorwürfen nach dem Motto „Das Anliegen ist
zwar in Ordnung, aber müsst ihr - gerade ihr - das denn
so laut fordern?“ Ich kann den Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition nur die Gegenfrage stellen:
Merkt ihr denn nichts mehr? Ihr leistet euch innerhalb
der Großen Koalition eine knallharte Opposition untereinander, aber von uns erwartet ihr einen Kuschelkurs. So
läuft das nicht.
({8})
Es gibt eine ganze Reihe weiterer unredlicher Argumente, zum Beispiel den Vergleich mit dem Solidarpakt. Erstens ist der Solidarpakt befristet und zweitens
ein Nachteilsausgleich. Beides trifft auf die Berlin/
Bonn-Gesetzgebung nicht zu. Wir wissen auch, dass die
mit dem Berlin/Bonn-Vertrag avisierte Summe bereits
im Jahr 2005 erreicht wurde. Was das Argument der Zumutbarkeit anbetrifft, muss ich Sie fragen: Wer hat nach
der Zumutbarkeit gefragt, als in den letzten Jahren Zehntausende oder gar Hunderttausende von Menschen vorwiegend in den neuen Bundesländern der Arbeit hinterherrennen mussten?
({9})
Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir uns alsbald
wieder über dieses Thema unterhalten werden.
({10})
Ich will auch daran erinnern, dass der Bund und das
Land Berlin eine Verantwortung für die Nachnutzung
des Flughafens Berlin-Tempelhof haben.
({11})
Dort ist bekanntlich sehr viel Platz. Insofern ließe sich
der Neubau eines Innenministeriums vermeiden.
Wir haben uns ein gutes halbes Jahr mit unserem
Antrag beschäftigt. Die Debatte ist angestoßen. Daran
ändert auch Ihre Ablehnung nichts. Das Berlin/BonnGesetz hatte seine Zeit. Die Zeit läuft jetzt ab.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Alexander Bonde, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über einen Antrag der Linksfraktion.
Es geht nicht um eine grundsätzliche Entscheidung, die
zu treffen ist. Die Frage, ob unser Regierungshandeln
mit der konkret existierenden Situation der Aufgabenteilung zwischen zwei Standorten effizient ist, steht heute
nicht zur Abstimmung. Dafür wären eine offene und ehrliche Debatte und ein mehrheitsfähiger Vorschlag notwendig. Das ist der vorliegende Antrag auch aus unserer
Sicht nicht, weil der Vorschlag, den Umzug sofort, komplett und bitte de luxe in Verbindung mit einem Liegenschaftsmanagement in Berlin durchzuführen, das bestehende Problem nicht lösen würde. Deshalb können wir
den Antrag nur ablehnen.
({0})
Gleichzeitig führen wir zu Recht im Haushaltsausschuss eine intensive Diskussion über die Frage, ob die
gegenwärtige Situation in Auslegung des Berlin/BonnGesetzes effizient ist. Dabei wurden viele Problemlagen
identifiziert, die deutlich machen, dass das nicht der Fall
ist. Die Zahlen sind bekannt: 751 Tonnen Post werden
jährlich zwischen den beiden Dienstorten hin- und hergeschickt; das sind mehr als 2 Tonnen pro Tag. Es gibt
132 000 Pendelflüge von Bundesbediensteten zwischen
Bonn und Berlin. Durch die Pendelei geht die Dienstzeit
von 680 Stellen verloren. All das wird von den Steuerzahlern finanziert, ohne dass sich dadurch die Regierungsführung verbessert. Das Innenministerium redet
von Effizienzverlusten. Wir alle kennen die Doppelstrukturen in den Ministerien.
Meiner Fraktion und mir geht es nicht um die Frage
„Pro oder kontra Bonn bzw. Berlin“. Vielmehr geht es
im Kern um die Frage, wie wir unter Anerkennung der
Entscheidung, dass die Region Bonn ein wichtiger Behördenstandort bleibt, und der Tatsache, dass die Bundesrepublik bei dem Strukturwandel, den man dieser Region abverlangt hat, Verantwortung gegenüber der
Region trägt, zu einer Lösung kommen, bei der unter
Wahrung des Vertrauensschutzes für Bonn, aber auch für
die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler diese Situation
beendet wird.
({1})
Dazu müssen wir uns das Gesetz anschauen. Es gibt gute
Beispiele dafür, dass regierungsnahes Handeln in Bonn
stattfindet, obwohl es in Berlin besser aufgehoben wäre,
weil es dort keine so hohen Kosten verursachen würde.
Gleichzeitig wissen wir, dass ein großer Teil des Verwaltungshandelns in den Ministerien nicht in der Hauptstadt
stattfinden muss.
Das Umweltbundesamt soll in Dessau bleiben; es
muss nicht nach Berlin. Das Bundesamt für Justiz soll in
Bonn bleiben; es muss nicht nach Berlin. Auch Neugründungen wie die IT-Gesellschaft der Bundeswehr im
Großraum Bonn sind doch bewusst dorthin verlagert
worden, weil wir sie nicht in Berlin brauchen. Sie stehen
nicht im Zentrum des Regierungshandelns. Deshalb
kann man bei diesem Thema der föderalen Struktur gerecht werden.
({2})
Ein gutes Beispiel ist hier das Justizministerium. Es
überträgt Verwaltungsarbeiten auf das in Bonn neu gegründete Bundesamt für Justiz. Herr Bosbach, manchmal weiß ich gar nicht, auf welcher Basis Sie sich beschweren. Gleichzeitig zwingt das Berlin/Bonn-Gesetz
das Bundesministerium der Justiz aber, einen Zweitsitz
in Bonn zu erhalten mit, glaube ich, 37 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, deren einzige Funktion es noch sein
kann, die Fahne morgens hoch und abends wieder herunter zu ziehen.
Das sind genau die Punkte, bei denen wir eine ernsthafte Lösung gemeinsam besprechen müssen. Da nutzt
weder die Schimäre, es ginge um einen Komplettumzug
von Zehntausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der Bundestagsverwaltung, etwas. Noch nutzt die Schimäre, dass es um das Ende der Stadt Bonn ginge. Wir
wissen doch alle, dass die Wahrheit eine andere ist. Unsere Aufgabe liegt darin, Effizienz zu schaffen. Das ist
eine Aufgabe, bei der Anträge wie der heute vorliegende
nicht helfen, weil sie Verunsicherung in Bonn schaffen
und Vertrauen zerstören.
Ich lobe deshalb die gemeinsame, sehr konstruktive
Herangehensweise im Haushaltsausschuss des Bundestags. Im täglichen Leben können wir mit der Aufteilung
auf zwei Standorte leben, aber man muss sie richtig und
klug gestalten. Die aktuelle Aufgabenverteilung ist eben
nicht klug.
({3})
Ich möchte an uns alle appellieren, solche Debatten
nicht zur parteipolitischen Profilierung stattfinden zu
lassen. Der eine oder andere muss in solchen Diskussionen zudem bereit sein, über den Kirchturmhorizont seines Wahlkreises hinauszublicken. Wir tragen hier Verantwortung. Jeder Euro, der für unnötige Verwaltung,
unnötige Bürokratie, Pendelei und unnötig verschickte
Post ausgegeben wird, stellt Kosten für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dar, für die wir geradestehen
müssen. Es geht auch um Umweltbelastungen wie den
CO2-Ausstoß sowie um Frustration von Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern. Ich kenne keinen in Bonn stationierten
leitenden Beamten, der dauernd zwischen Berlin, Bonn
und Brüssel hin- und herfliegen muss, der zufrieden ist,
dass er mehr Flugstunden hat als der Pilot, der ihn fliegt.
Genau das müssen wir beenden.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Stephan Mayer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Ich fühle mich bei dieser Debatte an
den US-Spielfilm „Und täglich grüßt das Murmeltier“
erinnert.
({0})
So ansehnlich und nett der US-Spielfilm ist, so überflüssig ist diese Debatte; denn die stetig und regelmäßig wiederholten Forderungen von verschiedener parteipolitischer Seite, das Berlin/Bonn-Gesetz zu kippen und den
Komplettumzug der Bundesregierung von Bonn nach
Berlin zu vollziehen, machen dieses Ansinnen nicht
richtiger und unterstützenswerter.
({1})
Der Deutsche Bundestag hat mit der Verabschiedung
des Berlin/Bonn-Gesetzes im Jahre 1994 zum Ausdruck
gebracht, worum es bei der Verlagerung des Parlamentssitzes und von Teilen der Institutionen der Bundesregierung geht. Es geht zum einen um die Schaffung eines
verlässlichen rechtlichen Rahmens, aber es geht zum anderen vor allem um die Schaffung von Planungssicherheit. Nicht zuletzt geht es um die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991
zur Vollendung der deutschen Einheit.
Planungssicherheit und Verlässlichkeit waren die
entscheidenden Geschäftsgrundlagen für das Berlin/
Bonn-Gesetz. Dies kommt nicht zuletzt in § 1 Abs. 1 des
Berlin/Bonn-Gesetzes klar zum Ausdruck. Dort geht es
darum, „Grundsätze für die Verlagerung der Verfassungsorgane Bundestag und Bundesregierung in die
Bundeshauptstadt Berlin zu bestimmen …“ Hinzu
kommt ein weiterer wichtiger Aspekt, der ebenfalls in
§ 1 Abs. 1 des Berlin/Bonn-Gesetzes zum Ausdruck
kommt, nämlich „die Wahrnehmung von Regierungstätigkeiten in der Bundeshauptstadt Berlin und in der Bundesstadt Bonn zu sichern und einen Ausgleich für die
Region Bonn zu gewährleisten“. Planungssicherheit und
Kontinuität für die Region Bonn sollten für uns alle nach
wie vor Leitlinie sein und sind für die Regierungstätigkeit sowohl in Berlin als auch in Bonn entscheidend.
Das heißt aber nicht, dass damit alles bis in das letzte
Detail, beispielsweise bis zu den Stellenplänen der Ministerien, geregelt ist und keine Veränderungen möglich
sind. Das heißt nicht, dass der Status quo, der bei der
Verabschiedung des Entwurfs eines Berlin/Bonn-Gesetzes 1994 vorhanden war, auf immer und ewig zementiert
sein muss. Aber ein wichtiger Grundsatz nicht nur im
Recht, sondern vor allem auch in der Politik sollte für
uns sein: Pacta sunt servanda. Dies ist eine wichtige
Grundvoraussetzung für eine verlässliche und berechenbare Politik. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fühlt
sich in diesem Zusammenhang apodiktisch an unseren
Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 gebunden.
Es freut mich, mein lieber Kollege Fricke, dass Sie deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass unser Koalitionsvertrag Richtschnur Ihres Handelns ist.
({2})
Es geht aber bei dem Thema eines potenziellen Umzugs der Bundesregierung von Bonn nach Berlin vor allem um die Glaubwürdigkeit des Deutschen Bundestages und damit der Vertreter des deutschen Volkes
gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Bundes, gegenüber der ehemaligen Bundeshauptstadt
Bonn und der Region Bonn sowie gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Sehr gerne.
Bitte, Herr Fricke.
Lieber Kollege Mayer, es ist durchaus vernünftig,
wenn sich das Parlament an einem guten Teil einer
Koalitionsvereinbarung orientiert. Aber kann ich aus
dem, was Sie sagen, auch schließen, dass diese Vereinbarung des Koalitionsvertrages weiterhin Gültigkeit hat?
Wie ich zum Ausdruck gebracht habe, sehr geehrter
Herr Kollege Fricke, fühlen wir uns an den Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 nicht nur in diesem
Punkt, sondern in Gänze gebunden.
({0})
Ein Teilaspekt des Antrags der Linken ist die Föderalismusreform. Es wird argumentiert, mit dieser seien
neue Tatsachen geschaffen worden. Schon in der Antizipierung dieser Entwicklung und der Verabschiedung
der Föderalismusreform haben wir uns im KoalitionsverStephan Mayer ({1})
trag klipp und klar darauf festgelegt, dass am Berlin/
Bonn-Gesetz aus dem Jahr 1994 nicht gerüttelt wird.
({2})
Wenn wir das Berlin/Bonn-Gesetz kippten und dem Antrag der Linken auf Erlass eines Beendigungsgesetzes
zustimmten, erlitten wir einen eklatanten Vertrauensverlust in Deutschland.
Dies alles bedeutet aber nicht, dass es verboten ist,
über weitere Optimierungsmöglichkeiten nachzudenken,
wenn es darum geht - dies möchte ich zur obersten Maxime unseres Handelns deklarieren -, die volle Funktionsfähigkeit der Bundesregierung zu sichern. In den
nächsten Wochen und Monaten wird es darum gehen,
nach Effizienzreserven zu suchen und Rationalisierungsspielräume aufzustöbern und diesen nachzugehen,
um letztendlich die Kosten zu reduzieren. Wir sind hier
dem deutschen Steuerzahler verpflichtet. Deswegen
muss insbesondere der Bericht des Bundesinnenministeriums vom 2. April dieses Jahres an den Haushaltsausschuss für uns eine stete Mahnung sein, nach Kosteneinsparpotenzialen zu suchen. Diese sind meines Erachtens
durchaus vorhanden. Ich kann mir durchaus vorstellen,
dass man klar differenziert und die Verwaltungsaufgaben
in Bonn belässt und die ministeriellen Aufgaben verstärkt in Berlin konzentriert.
Ich bin wie einige Vorredner sehr wohl der Auffassung, dass es möglich sein muss, die Dienstreisen zu reduzieren. Da möchte ich uns am eigenen Revers packen;
denn wir legen in den Ausschüssen bei diversen Antragsberatungen immer peinlichst genau Wert darauf,
dass das gesamte Bataillon der Experten aus Bonn anwesend ist. Hier sollten wir alle parteiübergreifend innehalten und vielleicht auf den einen oder anderen Ministerialen, der den beschwerlichen Weg von Bonn nach Berlin
gehen müsste, verzichten.
({3})
Es muss auch möglich sein, in Zukunft zu evaluieren, ob
und wie der Doppelsitz der Bundesregierung in Bonn
und Berlin zu Reibungsverlusten und Nichtnutzung von
Synergieeffekten führt.
Ein wichtiger Aspekt ist folgender: Wenn dem gefolgt
würde, was Die Linke fordert, nämlich einem Komplettumzug bis zum Jahr 2012, dann würden unschätzbares
und außerordentlich wertvolles Know-how und ein
wichtiger Erfahrungsschatz von Beamtinnen und Beamten mit Sitz in Bonn verlorengehen. Es wäre nicht zu
erwarten, dass alle, die jetzt ihre Arbeit in Bonn haben,
den Umzug vollziehen würden. Schon aufgrund der Regierungsfähigkeit ist es wichtig, daran festzuhalten, dass
dieser wichtige Erfahrungsschatz und dieses wichtige
Know-how weiterhin in Bonn gehalten werden.
Der Antrag der Linken ist nicht wie Sie, sehr geehrter
Herr Kollege Claus, behauptet haben, ein Antrag mit
Augenmaß. Er ist genau das Gegenteil. Er ist ein einseitiger Antrag, der nicht wohl austariert und ausgewogen
ist und nicht das Interesse aller Bundesbürger, nicht nur
das der Bürger in und um Berlin, berücksichtigt. Deswegen kann man meines Erachtens diesem populistischen
Antrag in dieser Form nur ganz klar die Ablehnung erteilen.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Bettina Hagedorn für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Eingangs will ich mich all denjenigen vorstellen, die mich nicht kennen: Ich bin im Gegensatz zu
manch anderem Redner weder Rheinländerin noch aus
Berlin. Außerdem bin ich Haushälterin. Damit bin ich,
so glaube ich, eigentlich prädestiniert, zu diesem Thema
hier zu reden; denn wir Haushälter sind es gewohnt, auf
die Fakten zu schauen.
({0})
Damit meine ich jetzt nicht die Fakten des Antrags, sondern die Fakten von Unterlagen, die in den Redebeiträgen schon mehrfach angeführt worden sind und die der
Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages im November letzten Jahres angefordert hat, und zwar, Kollege
Bosbach, auf gemeinsame Initiative der Haushälter von
SPD und CDU/CSU.
Der Antrag der Linkspartei, der heute auf der Tagesordnung steht, ist, um es kurz zu machen - meine Kollegen haben es schon gesagt -, nicht mehrheitsfähig, er ist
populistisch, er ist unrealistisch, er ist nicht sozial verträglich, und er wird deswegen abgelehnt. Was mich an
ihm ein bisschen betrübt, ist, dass er zu keinem Zeitpunkt darauf abgezielt hat, hier mehrheitsfähig zu sein.
({1})
Wir reden hier über ein ernstes und wichtiges Thema,
das viele Menschen in der Bundesrepublik bewegt, und
zwar nicht nur Menschen im Raum Berlin und im Raum
Bonn. Die meisten Menschen erwarten von uns Politikern in Berlin selbstverständlich, dass wir gerade in Zeiten, in denen wir ihnen sagen, dass wir mit dem Geld
sorgfältig umgehen müssen, alle den Gürtel enger
schnallen müssen, und ihnen Reformen zumuten, unser
Verwaltungshandeln kostengünstig und effizient organisieren und bei uns keine anderen Maßstäbe anlegen als
die, die wir anlegen, wenn wir Gesetze machen, die für
die Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger wichtig
sind. Darum ist es wichtig, dass wir bei diesem wichtigen Thema auf die Grundlagen zurückkommen.
Die Linkspartei hat mit ihrem Antrag überhaupt nicht
darauf abgezielt. Was hier vorgelegt worden ist, ist nicht
mehrheitsfähig. Das ist sehr bedauerlich.
Aber der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich des Themas Berlin/Bonn-Gesetz sehr wohl
angenommen. Das ist kein Geheimnis geblieben: Dieser
Vorgang ist in sehr vielen Zeitungsartikeln behandelt
worden. Ich möchte einmal zeigen, wie umfangreich die
von uns angeforderten Berichte sind.
({2})
Ich habe sie mitgebracht. Es sind zwei Berichte: der Bericht des Innenministeriums und der Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes. Der Haushaltsausschuss hat sich
damit Ende April ungefähr zwei Stunden lang zum ersten Mal beschäftigt, Herr Vorsitzender.
({3})
Selten wurde in Debatten fraktionsübergreifend, in so
großer Ernsthaftigkeit und mit Würdigung der Fakten,
um die es eigentlich geht, miteinander gerungen. Nicht
zu Unrecht haben wir dann gesagt: Wir debattieren das
nicht zu Ende; das war nur eine erste Debatte; wir müssen diese Berichte ernst nehmen; endlich liegen sie auf
dem Tisch; nach so vielen Jahren ist es wichtig, dass Berichte ausgewertet werden, die die Fragen behandeln,
was das Gesetz, das in der damaligen Zeit - zu Recht verabschiedet worden ist, eigentlich gebracht hat, wie
das Ganze unter den heutigen Voraussetzungen zu bewerten ist und wie das Regierungshandeln auf der
Grundlage dieses Gesetzes eigentlich funktioniert.
Wenn man diese Berichte liest, dann stellt man fest,
dass es - das ist unstrittig - Absurditäten gibt. Manches
ist in den letzten Wochen durch die Medien gegangen.
Hier sind schon die 132 000 Flüge pro Jahr und die
751 Tonnen Papier, die hin- und hergekarrt werden, angesprochen worden. Einiges andere ließe sich hier aufzählen.
Es geht aber nicht nur darum, das zu beklagen, und es
geht schon gar nicht darum, dies zu skandalisieren. Wir
wollen unsere eigene Arbeit und schon gar nicht die unserer Ministerien und die ihrer Mitarbeiter schlechtreden.
({4})
Es geht darum, sehr genau zu schauen, wie sich das, was
an diesen Zuständen inakzeptabel ist, eigentlich verändern lässt. Wer sich damit näher beschäftigt hat, der teilt
sicherlich meine Auffassung: Mancher Effizienzgewinn
lässt sich - Vorredner haben darauf hingewiesen - ohne
eine Gesetzesänderung herausholen.
Hier wurde der Gedanke geäußert, dass sämtliche
Ministerien schwerpunktmäßig in Berlin tätig sind und
dass nachgeordnete Behörden ihre Verwaltungstätigkeit in Bonn ausüben. Dazu muss man sagen: Das sieht
schon das Berlin/Bonn-Gesetz vor; aber offensichtlich
ist es an der Praxis gescheitert. Wenn unsere Regierungen das seit 1994 nicht so umgesetzt haben, wie es theoretisch hätte geschehen sollen, lag das sicherlich nicht
nur daran, dass sie schlecht oder unwillig waren, sondern
auch daran, dass in der Praxis manches anders ist, als
man es sich damals bei der Verabschiedung des Gesetzentwurfs gedacht hat.
Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sagen: Dieses Gesetz
muss evaluiert werden. Andere Gesetze werden
15 Jahre nach ihrem Inkrafttreten ebenfalls evaluiert.
Die Steuerzahler erwarten von uns zu Recht, dass wir
nicht mit unterschiedlichen Maßstäben messen und dass
wir den Mut haben, gemeinsam festzustellen, was angesichts der geltenden Rechtslage möglich ist und an welcher Schraube man eventuell drehen muss. Diejenigen,
die dann gleich mit dem Holzhammer kommen und von
einem von heute auf morgen durchzuführenden Komplettumzug reden, machen eine vernünftige, eine parteiübergreifende Debatte in Wahrheit kaputt. Bei solch einem Verhalten blutet mir das Herz. Wir brauchen diese
Debatte. Gerade die jungen Menschen in diesem Land
erwarten von uns, dass wir sie führen.
({5})
Ich muss zum Schluss kommen. Ich wünsche mir,
dass wir diese Berichte so auswerten, wie wir es uns gemeinsam vorgenommen haben. Kollege Bosbach, ich
habe hier schon so manche Rede von meinem haushaltspolitischen Kollegen Fromme gehört, zum Beispiel in
Haushaltsberatungen. Darin hat er sich zu dieser Problematik so ähnlich wie ich gerade eben geäußert. Dies gilt
auch für viele andere Kollegen der CDU/CSU im Haushaltsausschuss. Wir sind inhaltlich durchaus auf einer
Ebene. Wir sind eben nicht nur für Berlin oder nur für
Bonn, und wir sind nicht nur gegen Berlin und nicht nur
gegen Bonn, sondern wir versuchen, die Dinge sachlich,
übergeordnet und an der Arbeit orientiert zu sehen. Die
Kollegen Haushälter von der Union
({6})
sind zwar heute nicht da, aber das ändert nichts daran, so
hoffe ich, dass wir in Zukunft genauso intensiv wie bisher an diesem Thema arbeiten und hoffentlich zu guten
Ergebnissen kommen, die dem Land dienen; das erwarten die Menschen von uns.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des In-
nenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Beendigungsgesetz zum Berlin/Bonn-
Gesetz“. Dazu liegen zwei Erklärungen nach § 31 un-
serer Geschäftsordnung vor, die zu Protokoll genommen
werden, und zwar von den Kollegen Markus Löning und
Hellmut Königshaus.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/4461, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/3284 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dage-
1) Anlagen 3 und 4
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
gen? - Enthaltungen? Dann ist die Beschlussempfehlung
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
({0})
- Und einigen Enthaltungen. Entschuldigung, das habe
ich nicht registriert.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Passgesetzes und weiterer
Vorschriften
- Drucksachen 16/4138, 16/4456 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 16/5445 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann ({2})
Jan Korte
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,
Dr. Karl Addicks, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sicherheitslücken bei biometrischen Pässen
beseitigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,
Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Einführung des elektronischen Personalausweises
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck ({5}) und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Datenschutz und Bürgerrecht bei der Einführung biometrischer Ausweise wahren
- Drucksachen 16/854, 16/3046, 16/4159,
16/5445 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann ({6})
Jan Korte
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
ein Änderungsantrag sowie ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir fortfahren, bitte ich die Kolleginnen und
Kollegen, die der Aussprache nicht folgen wollen, ruhig
zu sein oder den Saal zu verlassen. - Danke.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erstem Redner dem Kollegen Clemens Binninger.
({7})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn man die öffentliche Diskussion
oder, besser gesagt, die mediale Diskussion oder parteipolitische Diskussion der letzten Wochen zum Thema
„biometrische Pässe“ verfolgt hat, weiß man, dass vier
Fragen im Mittelpunkt dieser Diskussion gestanden haben: Erstens. Worin liegen überhaupt die Vorteile der
biometrischen Pässe?
({0})
Zweitens. Sind die Daten der biometrischen Pässe überhaupt sicher? Drittens. Gibt es eine zentrale Datenbank?
Viertens. Unter welchen Bedingungen darf die Polizei
auf die Daten der Passbehörden zugreifen?
({1})
Ich will gerne zu allen vier Fragen etwas sagen und auch
für Klarheit sorgen.
({2})
Gestatten Sie mir aber vorneweg eine Bemerkung zu
der Art und Weise, wie die Oppositionsparteien und vermeintliche Datenschützer diese Diskussion in den letzten
Wochen geführt haben.
({3})
Was sind das für Beiträge, die den Eindruck erwecken,
als ob in unserem Land die Sicherheitsbehörden, die
Passbehörden und die Polizeibehörden für den Datenschutz die größere Gefahr sind als die unbefugte Nutzung durch Dritte? Das Bild, das Sie hier erzeugen, ist
doch absurd.
({4})
Unsere Sicherheitsbehörden arbeiten auf einem so hohen
Datenschutzniveau, dass von dem Klima, das Sie hier
erzeugen wollen, keine Rede sein kann. Das ist der Generalverdacht, den Sie erheben, wir aber nicht.
({5})
Zur ersten Frage: Worin liegt der Nutzen der biometrischen Pässe? Wir werden mit der Speicherung des
Fingerabdrucks und des Gesichtsbildes im Chip der biometrischen Pässe eine erhöhte Fälschungssicherheit haben. Missbrauch wird de facto ausgeschlossen sein. Wir
werden bei der Kontrolle eine verbesserte Qualität haben. Das wird den Reise- und Personenverkehr erleichtern.
({6})
Da wir die biometrischen Pässe innerhalb der Europäischen Union einführen, wird es auch zu einem Sicherheitsgewinn führen.
Gleichzeitig - das ist ein Aspekt, den man sicherlich
nennen darf - ist die Biometrie ein Standortfaktor für
unser Land. In Bezug auf die biometrischen Pässe kann
man also nicht nur sagen, dass sie einen Gewinn an Sicherheit und Qualität und Erleichterung bei der Kontrolle bringen, sondern auch, dass sie ein Vorteil für den
Standort Deutschland sind.
({7})
Zur zweiten Frage: Sind die Daten denn sicher? Was
hier an Horrorszenarien oder Schauergeschichten - angeblich kann man ganz schnell im Vorbeigehen die Daten aus dem Chip herauslesen - in Umlauf gesetzt
wurde, spottet eigentlich jeder Beschreibung. Ich bitte
Sie, im Protokoll der Anhörung nachzulesen. Spätestens
seit der Sachverständigenanhörung dürfte jedem klar geworden sein, dass dieser Chip mit einer derart erhöhten
Sicherheit ausgestattet ist, die sogar bei Geheimschutzdokumenten angewandt wird, und dass die Technologie
eine Garantie für die nächsten 20 Jahre bietet. Es wird
immer das Beispiel genannt, man könnte das Foto von
dem Chip quasi im Vorbeigehen auslesen. Dieses Beispiel wurde in allen Einzelheiten zerpflückt.
({8})
Dieses Auslesen ginge nur, wenn Sie schon über alle Daten, die im Pass vorhanden sind, also über den Namen,
den Vornamen und die Passnummer, verfügen. Dann
könnten Sie vielleicht das Foto herauslesen. Dann könnten Sie aber auch ein Foto mit der Digitalkamera machen. Wozu wollen Sie das dann noch auslesen?
({9})
Haben Sie diese Daten nicht, was das Wahrscheinliche sein wird, und versuchen Sie, diese Daten aus dem
Chip herauszulesen, dann bräuchten Sie dafür zwölf
Tage, und zwar zwölf Tage, an denen sich der Pass nicht
von der Stelle bewegen darf.
({10})
Das ist doch kein realistisches Szenario, sodass man
wirklich sagen kann, wir haben hier eine Technik, die
auf höchstem Standard Sicherheit produziert. Es gibt
keinen Zweifel an der Sicherheit der biometrischen
Pässe.
({11})
Der dritte Punkt, der immer etwas vorschnell und in
Unkenntnis der Gesetzesmaterie ins Feld geführt wurde,
ist der, es werde eine zentrale bundesweite Datenbank
errichtet. Da hilft ein Blick in das Gesetz. Im neuen § 4
des Passgesetzes steht klipp und klar: „Eine bundesweite
Datei … wird nicht errichtet.“
({12})
Dabei bleibt es auch. Es gab nie einen anderen Vorschlag.
({13})
- Nicht zu unserem Leidwesen. Darauf komme ich nachher noch zurück, keine Sorge, Herr Wieland. - Eine bundesweite zentrale Datei wird nicht errichtet, obwohl die
Oppositionsparteien dies immer wieder vereinzelt behauptet haben.
({14})
Das ist Irreführung der Bürger, aber keine sachliche Diskussion.
Der vierte Punkt lautet: Unter welchen Bedingungen
darf die Polizei zukünftig auf die Daten der Passbehörden zugreifen? Auch da wurde das Szenario in die Welt
gesetzt, dass die Polizei jetzt auf 82 Millionen Passfotos
zugreifen darf. Das ist falsch und absurd. Die Polizei
darf, worauf wir bestanden haben, bei Straf- und Bußgeldverfahren - also bei Ermittlungsverfahren -, bei denen es einen konkreten Verdacht gibt, man aber nicht
weiß, wie der Verdächtige aussieht, völlig zu Recht das
Foto von der Passbehörde erhalten.
Weil niemand ernsthaft erwarten kann, dass die Polizei am Wochenende, wenn Gefahr im Verzug ist, sagt,
wir warten, bis die Passbehörde am Montag wieder geöffnet hat, darf die Polizei in diesen Eilfällen online auf
den Datenbestand der jeweiligen Passbehörde zugreifen.
Dabei haben wir eine Sorge der Datenschützer ausräumen können, weil uns dies selber wichtig war. Wir haben
gesagt, das soll auf eine regionale Zuständigkeit begrenzt sein. Die Polizei in München greift auf den Datenbestand der Passbehörden im Raum München zurück.
Wenn die Kollegen in Hamburg etwas brauchen, dann
können sie das dort anfordern. Das hat auch der Bundesdatenschutzbeauftragte gestern anerkannt. Er hat seine
Bedenken, die er ursprünglich hatte, zurückgezogen. Insofern muss man anerkennen, dass wir hier ein Gesetz
gemacht haben, das höchsten Sicherheitsanforderungen
und höchsten Qualitätsansprüchen genügt und auch den
Datenschutz umfassend berücksichtigt.
({15})
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der nicht im
Gesetz steht und bei dem die Union eine andere Position
hatte als unser Koalitionspartner. Es geht um die dezentrale Speicherung der Fingerabdrücke, die im Chip
sind, auch bei der Passbehörde. Es steht nicht im Gesetz.
Wir hatten es gefordert, aber im Interesse der Einigung
blieb es dann bei der Forderung und kam nicht in den
Gesetzestext.
({16})
- Ob das vernünftig war, werden Sie vielleicht gleich anders beurteilen.
Schauen wir uns den Status quo an. Heute ist im Passregister geregelt, dass alle Daten, die im Pass enthalten
sind, wie Name, Vorname, Größe, Augenfarbe und das
Lichtbild, aus gutem Grund als Doppel bei der Passbehörde hinterlegt sind. Dies bietet Nachvollziehbarkeit
des Verwaltungshandelns und Rechtssicherheit, auch im
Interesse des Passinhabers. Zu diesen Daten, die heute
schon als Doppel vorhanden sind, kommen zwei neue
hinzu: das biometrische Lichtbild und der biometrische
Fingerabdruck. Das biometrische Lichtbild speichern
wir - wie heute - ebenfalls im Passregister. Da haben Sie
keine Bedenken. Zum biometrischen Fingerabdruck sagen Sie: Das geht verfassungsrechtlich nicht. - Das ist
nicht haltbar.
Wir sagen: Es wäre sinnvoller, besser und sicherer,
wenn die Passbehörde - aus gutem Grund - über eine
Kopie aller Daten verfügen würde, die im Pass enthalten
sind, weil so Qualität und Sicherheit - auch im Interesse
der Bürger - besser gewährleistet werden könnten als
heute; wir vernichten quasi die Daten, nachdem der Pass
ausgehändigt ist.
({17})
Das halten wir nicht für sinnvoll.
Schauen wir einmal, wie es in Europa gehandhabt
wird; Deutschland ist ja nicht das einzige Land, das einen biometrischen Pass einführt.
({18})
- Sie sind sicherlich der Beste, Herr Kollege
Wiefelspütz. - Schauen wir einmal, wie es in den Ländern Europas gemacht wird, in denen biometrische Pässe
eingeführt werden: Frankreich sieht eine zentrale Speicherung der Fingerabdrücke vor; wir vernichten sie.
Holland sieht eine zentrale Speicherung der Fingerabdrücke vor; wir vernichten sie. Österreich sieht eine zentrale Speicherung der Fingerabdrücke vor; wir vernichten sie.
Ich halte das nicht für den richtigen Weg. Vielleicht
sollten wir in einigen Jahren, wenn wir praktische Erfahrungen gesammelt haben, noch einmal über dieses
Thema nachdenken. Es ist übrigens ein Thema, bei dem
die Mehrheit der Bevölkerung auf unserer Seite steht.
({19})
Zwei Drittel der Befragten - wie wir in der Innenausschusssitzung erfahren haben, ist darunter auch Frau
Wiefelspütz -, die Mehrheit der Menschen in diesem
Land, sind dafür, die Fingerabdrücke dezentral, bei den
Passbehörden, zu speichern. Unser Gesetzentwurf sieht
das nicht vor; das ist ein Fehler.
Die Union sagt aber: Wir orientieren uns bei unserer
Politik auch an der Mehrheit der Bevölkerung, im Interesse der Sicherheit unseres Landes. Der biometrische
Pass leistet einen Beitrag zu mehr Sicherheit. Sicherlich
werden wir in einigen Jahren, vielleicht auch früher,
noch einmal über unsere Forderung diskutieren, eine
Kopie der Fingerabdrücke zu hinterlegen.
({20})
Herzlichen Dank.
({21})
Das Wort hat nun die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Augen zu und durch, das ist offensichtlich die Devise
der Koalition bei diesem Thema. Dabei haben die Sachverständigen bei der Anhörung vor gut vier Wochen eindrucksvoll die Risiken geschildert, die mit diesen neuen
Pässen auf uns zukommen. Viele Sicherheitsexperten
trauen der Sicherheit des E-Passes offensichtlich nicht
über den Weg, weshalb sie den neuen E-Pass in Alufolie
einhüllen, damit er nicht ausgelesen werden kann.
({0})
Sogar der Chef des Bundeskriminalamtes, der mir eine
Woche zuvor noch persönlich versichert hat, wie sicher
das alles sei, und mich fragte, warum ich mir Sorgen
machte, trägt seinen Pass in einer Schutzhülle. Warum
tut er das eigentlich, wenn er sagt, dass die neuen Pässe
sicher sind? Mit gutem Beispiel vorangehen, darunter
hatte ich mir immer etwas anderes vorgestellt.
({1})
Früher gab es eine Schutzhülle, damit der Pass nicht
verkratzte oder unschöne Knicke bekam. Heute braucht
man eine Schutzhülle, damit der Pass sicher ist. Ich kann
nicht ganz nachvollziehen, warum das sein muss. Die
Sachverständigen haben auch eindrucksvoll geschildert,
welche neuen Möglichkeiten für Kriminelle mit dem
E-Pass geschaffen werden.
Das Verfahren der sogenannten zweidimensionalen
Gesichtserkennung ist nicht technisch ausgereift. Manche Sachverständige warnen sogar, dass ein RFID-Chip,
auf dem das alles gespeichert ist, längstens fünf Jahre
hält. Dabei soll der Pass doch zehn Jahre halten! Wer
sich daran erinnert, wie die Entwicklung bei Handys
oder bei Computern in den letzten zehn Jahren vorangegangen ist, der kann sich vorstellen, wie die Entwicklung
bei den RFID-Chips sein kann. Schließlich telefoniert
niemand von uns mehr mit einem zehn Jahre alten
Handy.
Herr Binninger, ich gebe Ihnen zu bedenken: Sie sollten vielleicht auch einmal den Mut haben, in die Zukunft
zu blicken und nicht beim Status quo zu verharren.
({2})
Ihre Rede hat sich nur auf den Status quo bezogen. Alles,
was gesagt worden ist, hat Sie nicht beeindruckt. Es gibt
allerdings ein paar Änderungen, die man loben muss
- Herr Bosbach ist jetzt weg; er wird es leider nicht hören -: Der Doktortitel wird wieder auf dem Pass stehen;
das macht sicherlich viele glücklich. Es wird auch eine
Pflicht zur Aufzeichnung der abgefragten Passbehörde
geben; auch das begrüßen wir. Darüber hinaus haben Sie
die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Transsexuellengesetz umgesetzt, mehr aber auch nicht.
Dennoch lautet Ihre Devise: Augen zu und durch. Aus
Ihrer Sicht wird damit die Sicherheit erhöht. Ist das denn
wirklich so? Deutsche Ausweise galten auch vor der
Einführung der biometrischen Pässe als die fälschungssichersten und besten der Welt. Die Zahl der gefälschten
Pässe ist absolut gesehen gering. Es gab im Jahr 2004
nur 228 gefälschte Pässe. Ist das den ganzen Aufwand
wert?
({3})
Ein echter Zugewinn an Sicherheit ergäbe sich erst
dann, wenn es an der Grenze eine Eins-zu-einsKontrolle gäbe. Eine Kamera müsste quasi den Grenzbeamten ersetzen. Dafür ist aber erst jetzt ein Pilotprojekt
geplant. Vielleicht gibt es ab dem Jahre 2009 die ersten
Kameras an der Grenze. Wenn das so weitergeht, sind
die ersten Pässe abgelaufen, bevor wir ein umfassendes
Sicherheitskonzept haben. Verstehen Sie das unter Sicherheit? Wir tun das jedenfalls nicht.
({4})
Augen zu und durch gilt auch für die Einreise in die
USA, wie Sie immer wieder betonen. Die USA stellen
allerdings gerade ihr System bei der Einreise von „Zwei
Finger lesen“ auf - dies hat nichts mit Rouladen, sondern mit dem System zu tun - „Zehn Finger gerollt“ um.
Der Rechnungshof in den USA hat nämlich erkannt,
dass mit nur zwei Fingern kein Beitrag zur Sicherheit geleistet werden kann.
Es ist völlig offen, welche Konsequenzen das für uns
hat. Es ist sogar so, dass der Vertreter des Innenministeriums, der uns am Mittwoch im Innenausschuss zu diesem Thema berichtet hat, nicht einmal wusste, dass die
USA ihr System umgestellt hatten. So stelle ich mir den
Einsatz für Sicherheit im Innenministerium nicht vor.
Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass die
USA bis heute keine biometrischen Daten auf RFIDChips in ihren Pässen haben. Warum nicht? Sie haben
Datenschutz- und Sicherheitsbedenken. Das sollte uns
ein Vorbild sein.
Augen zu und durch: Vermutlich machen Sie das deshalb, weil es Ihnen um etwas ganz anderes geht. Es geht
Ihnen darum, möglichst viele Daten der Bürger zu sammeln, damit man sie möglicherweise für andere Zwecke
verwenden kann.
({5})
- Dass wir einen Innenminister in Niedersachsen stellen,
ist mir neu, Herr Tauss.
({6})
Herr Tauss, dass Sie nicht auf der Höhe der Zeit sind, ist
für das Parlament wirklich nichts Neues.
Herr Binninger hat schon gesagt, worum es ihm in der
nächsten Zeit wirklich geht, nämlich um die Speicherung weiterer Daten. Das ist sehr verräterisch. Wenn Sie
Daten anderweitig nutzen wollen, dann möchte ich Sie
bitten, offen und ehrlich damit umzugehen und mit uns
darüber zu diskutieren. Benutzen Sie die Bürger nicht
weiter als Versuchskaninchen für die Einführung eines
Passes, der mehr als doppelt so teuer ist wie früher.
Für uns gilt jedenfalls nicht Augen zu und durch. Für
uns gilt: Wir sind eine wachsame und aufmerksame Opposition. Deshalb werden wir diesem Gesetz nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Hofmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Piltz, hätte ich einen Hut getragen, dann
wäre er mir sicherlich hochgegangen.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Ohren auf und mitdenken, das
wird notwendig sein.
({1})
Frank Hofmann ({2})
- Nein. Denn was Sie heute vorgestellt haben, geht an
der Realität, über die wir die letzten Tage geredet haben,
völlig vorbei.
({3})
Ich möchte auf der sachlichen Ebene bleiben und auf
die teilweise bewusst geschürte Terrorhysterie eingehen,
die auch in der Diskussion um die Pässe eine Rolle
spielte. Ich will in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass wir die Pflicht haben, die EU-Richtlinie in
nationales Recht umzusetzen. Ich teile in diesem Fall die
Kritik des Bundesbeauftragten für den Datenschutz,
Peter Schaar, der die mangelnde Einflussmöglichkeit des
Bundestages und des Europäischen Parlamentes beanstandet hat.
({4})
In Zukunft sollte die Bundesregierung bei der Umsetzung ihrer Brüsseler Vorhaben den Bundestag im Vorfeld stärker beteiligen.
Wenn wir uns die Änderungsvorschriften des Passgesetzes anschauen, die die Koalitionsfraktionen erarbeitet
haben, können wir von der SPD mit dem Erreichten sehr
zufrieden sein. Ich möchte nicht verhehlen, dass dies
nicht immer so aussah im Verlauf der Diskussion um die
Speicherung des elektronischen Fingerabdrucks: Auf der
einen Seite äußerten sich regelmäßig Hardliner, die den
Terrorismus nicht effizient genug bekämpft sahen. Auf
der anderen Seite bremsten FDP und Grüne - bei der
FDP konnten wir es vorhin wieder hören -, die bei jeder
technischen Innovation den direkten Weg in den Überwachungsstaat an die Wand malen. Die PDS nimmt aus
meiner Sicht an einer zielführenden Diskussion überhaupt nicht teil.
Die Kritik von FDP und Grünen, die in ihren Anträgen zum Ausdruck kommt, geht an der Realität vorbei.
So können zum Beispiel im elektronischen Pass gespeicherte Daten nicht mit einfachen Mitteln aus- und mitgelesen werden. Ich wiederhole deshalb mit anderen Worten das, was mein Kollege Berichterstatter von der CDU/
CSU, Clemens Binninger, gesagt hat. Damit ein Lesegerät die digitalen Daten auf dem Chip auslesen kann,
muss es über einen geheimen Signaturschlüssel verfügen, dessen Gültigkeit durch ein elektronisches Zertifikat des Landes, das den Reisepass ausgestellt hat, bestätigt wird. Ein aktives Auslesen des Chips ist unter
optimalen Bedingungen nur bis zu maximal 20 Zentimeter möglich. Hierfür muss ein Lesegerät bis auf diese geringe Entfernung an den Pass kommen. Pass und Lesegerät müssen sich mehrere Sekunden in Ruhe befinden.
Außerdem müssen die Passnummer, das Geburtsdatum
des Inhabers und das Ablaufdatum des Passes bekannt
sein.
({5})
Was wäre nun der Gewinn bzw. die Erkenntnis eines
solchen Spionageangriffs? Neben allen bereits bekannten Daten bleibt als einziger Ertrag des Angreifers das
Passfoto des Passinhabers, das digitalisierte Bild. An die
Fingerabdruckdaten kommt er immer noch nicht heran.
Die ganze Debatte um derartige Sicherheitsrisiken ist absurd und sollte von der Opposition nicht weiterverfolgt
werden. Man muss schon, Frau Piltz, eine Überdosis
„James Bond“ genossen haben, wenn man dies weiterhin
kritisiert.
({6})
- Sie, Herr Wieland, drei Überdosen „James Bond“.
Für uns in der SPD-Fraktion ist klar: Wir wollen nicht
alles tun, was technisch möglich ist; wir wollen aber alles tun, was technisch nötig ist, um dem Bürger ein
größtmögliches Maß an Sicherheit zu gewährleisten.
({7})
Dies ist uns mit dem vorliegenden Gesetz gelungen. Wir
haben ein höheres Maß an Sicherheit gewonnen und es
trotzdem gleichzeitig geschafft, die rechtsstaatliche Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu wahren. Wir
konnten die von Herrn Binninger beschriebene verfassungsrechtlich problematische Forderung der Union
nach der dauerhaften Speicherung der Fingerabdrücke
aller Passinhaber im Passamt auch nach Aushändigung
des Passes verhindern. Es bleibt dabei: Die Fingerabdrücke werden nur im Pass gespeichert.
({8})
Eine Vorratsdatenspeicherung von Fingerabdrücken ohne konkreten Zweck, quasi eine Volksdaktyloskopie, wird es mit der SPD nicht geben. Ich erinnere
Herrn Binninger, der gesagt hat, in der Verwaltung sei so
etwas immer schon gemacht worden, an Folgendes: Bei
uns gilt nicht der Grundsatz, dass Verwaltungsrecht vor
Verfassungsrecht geht. Umgekehrt, Verfassungsrecht
geht vor Verwaltungsrecht! Deswegen bleibt es auch dabei, dass eine Vorratsdatenspeicherung nicht kommen
darf.
({9})
Es wird also immer nur - dies sage ich auch den Bürgerinnen und Bürgern noch einmal - ein Vergleich von
Pass und Passinhaber anhand der gespeicherten Fingerabdruckdaten stattfinden. Diese Daten sind im Pass und
nirgendwo anders gespeichert.
({10})
- Was heißt „vorerst“? Wir machen dieses Gesetz und
nichts anderes. Ich kann nur über dieses Gesetz sprechen.
Frank Hofmann ({11})
({12})
- Wer ist in diesem Fall Binninger? Der Gesetzgeber
sind wir alle. Was jetzt herausgekommen ist, habe ich Ihnen gesagt.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der sogenannte Onlineabruf von Passbildern zur Verfolgung von
Verkehrsordnungswidrigkeiten und Straftaten darf nur
unter engsten Voraussetzungen stattfinden: bei der Unerreichbarkeit der Passbehörde und bei einer Gefährdung
des Ermittlungserfolges. Außerdem ist die Möglichkeit
des Abrufs auf die für den Landkreis zuständige Polizeibehörde beschränkt. So haben wir in der Koalition gemeinsam eine zentrale Datenbank verhindert sowie Sicherheit und Vertrauen bei den Bürgern geschaffen.
Ursprünglich sah das Bundesinnenministerium - Herr
Wieland, hören Sie zu - vor, die Landeskriminalämter
als Zentralstellen für den Onlineabruf einzurichten.
Hierdurch hätte ein Einfallstor für eine zentrale Lichtbilddatenbank entstehen können. Aber Clemens
Binninger und ich, die CDU/CSU und die SPD, waren
sich einig, dass wir dies nicht wollten. Deshalb ist es
auch nicht dazu gekommen. Daraus brauchen Sie niemandem einen Vorwurf zu stricken.
({14})
Was soll die Kritik am Onlineabruf im Eilfall? Ich
erinnere daran, dass der Kabinettsentwurf den Onlineabruf für Verkehrsordnungswidrigkeiten als Regelfall enthielt. Der Bundesrat hat vorgeschlagen, diesen Abruf auf
Straftaten zu erweitern. Die bisherige Praxis war, dass
die Passämter die Lichtbilder den Polizeibehörden im
Rahmen der Amtshilfe zufaxten. Das heißt, es gab die
Übermittlung von Lichtbildern an die Polizeibehörden
bei Straftaten schon immer. Wir haben nun den Onlineabruf nicht für den Regelfall, sondern nur für den Eilfall
zugelassen. Dies ist keineswegs ein Anlass, über einen
übermäßigen Eingriff in die Bürgerrechte zu klagen;
vielmehr ist dies notwendig, sinnvoll und verhältnismäßig.
({15})
Der Abruf ist weiterhin umfassend zu dokumentieren,
um möglichem Missbrauch vorzubeugen. Damit wird
der Vorgang auch für den Datenschutzbeauftragten überprüfbar. Neben dem Datenschutz haben wir dem technischen Fortschritt Rechnung getragen, indem wir die
Voraussetzungen für ein durchgängig elektronisches
Verfahren zur Passbeantragung geschaffen haben.
Auf besonderen Wunsch der CDU/CSU und des Bundesrates bleibt der Doktorgrad entgegen dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung weiterhin in
den Pässen und Personalausweisen eingetragen, selbst
wenn dies international unüblich ist, zu Irritationen im
Reiseverkehr führt und eine Gelegenheit zum Bürokratieabbau verschenkt wird. Ich sage hierzu nur: Habemus
doctores.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Wir erzielen für den
Bürger einen konkreten Sicherheitsgewinn, indem wir
die beim Reisepass bestehenden Fälschungsmöglichkeiten weiterhin reduzieren und die Kontrollen beschleunigen. Für den Passbewerber entstehen außer der Passgebühr keine Zusatzkosten. Wir haben ein modernes
Passgesetz mit dem größtmöglichen technischen Sicherheitsstandard, ohne die Freiheit des Bürgers zu beeinträchtigen. Das ist Sicherheitspolitik mit Augenmaß.
Danke.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei der CDU/CSU ist es relativ klar: Sie hat Orwell’sche
Überwachungsfantasien. Bei der SPD ist es natürlich nur
tragisch, dass sie hier mitteilen muss, das Ganze sei irgendwie nicht ganz so toll, aber man müsse es eben machen. Dann kommt die Ausrede, dass für all das die
Europäische Union verantwortlich ist.
Das Entscheidende bei diesem Punkt ist, dass in dieser Angelegenheit insbesondere Otto Schily und mittlerweile Wolfgang Schäuble die treibende Kraft waren bzw.
sind, die diese Maßnahmen auf europäischer Ebene
durchdrücken wollten bzw. wollen. Diese übten bzw.
üben dort nämlich Druck aus.
({0})
Was der Kollege Binninger sagte, stimmt so einfach
nicht. Wir hatten doch eine Sachverständigenanhörung. Es gibt keinen konkreten praktischen Grund für
dieses und keinen Nutzen aus diesem Passgesetz. Denn
kein einziger Sachverständiger konnte sagen, dass die
jetzigen Pässe unsicher sind. Im Gegenteil: Es wurde gesagt, das seien die sichersten Pässe, die es weltweit gibt.
Das war die Aussage aller Sachverständigen, auch die
der von Ihnen benannten. Also brauchen wir ein solches
Gesetz überhaupt nicht.
Die Kollegin Piltz hat angesprochen, dass selbst der
BKA-Chef Ziercke nach ungefähr sechs- bis siebenfacher Nachfrage eingeräumt hat, dass es in zwei Jahren
ungefähr 100 Fälschungen gegeben hat, also de facto
keine. Er konnte noch nicht einmal konkret sagen, ob es
sich um wirkliche Fälschungen handelte, die für kriminelle Zwecke benutzt worden sind. So sieht nämlich die
Wahrheit aus.
Es gibt weitere Gründe, warum die Linksfraktion ein
solches Passgesetz ablehnt. Es hat nämlich nicht nur keinen Sinn, sondern ist auch - das ist noch schlimmer - ein
großes Sicherheitsrisiko. Das sagen nicht nur wir, sondern zunehmend mehr Sachverständige, wie wir alle, die
wir an der Anhörung teilgenommen haben, hören konnten.
Erstens. Die RFID-Technik - das ist eine Funktechnik ist unsicher und unausgereift. Auch das haben die Sachverständigen festgestellt.
Zweitens. Biometrische Merkmale, insbesondere Fingerabdrücke - auch das haben die Sachverständigen eindrucksvoll dargestellt -, verändern sich im Laufe eines
Lebens. Bei hart arbeitenden Leuten verändern sie sich
schneller. Auch deswegen ist das Ganze anfällig.
Drittens. Die Sachverständigen haben festgestellt,
dass das Passgesetz, das Sie vorhaben, eine gigantische
Fälschungsindustrie hervorrufen wird. Diese Kritik
kommt nicht nur von uns, sondern wird auch von Sachverständigen geteilt, die sich damit lange beschäftigt haben.
Im Kern geht es um den Sicherheitsstaat, der
Schäuble vorschwebt. Herr Binninger hat es gesagt: Natürlich greift man bei einem Onlinezugriff auf eine zentrale Datei zu. Das ist doch völlig klar; das ist völlig eindeutig. Denn auch wenn man dezentral online abrufen
kann, kann man daraus heutzutage über Nacht technisch
eine Zentraldatei machen. All das ist technisch möglich.
Das ist das, was Sie wirklich wollen.
({1})
Davor graut es uns.
({2})
Es ist schon ein Skandal, wenn man sich überlegt,
dass die Abnahme von Fingerabdrücken, also eine erkennungsdienstliche Methode für Verdächtige, auf die
gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden soll. Das sollte
man sich einmal konkret vorstellen. Es ist nicht nur absurd, sondern ein Skandal, dass man eine ganze Bevölkerung erkennungsdienstlich behandelt. Das kann in einem Rechtsstaat, in einer Demokratie doch wohl nicht
wahr sein.
({3})
Das reiht sich im Übrigen wunderbar in die Schnüffelproben und alle möglichen anderen - ich muss vorsichtig
sein - Fehlgriffe ein, die sich Herr Schäuble und diese
Bundesregierung in letzter Zeit leisten.
Ich fasse also zusammen: Es gibt keinen wirklichen
Grund für dieses Passgesetz. Lehnen Sie es bitte ab!
Auch wenn es Otto Schily finanzielle Einbußen bescheren mag, muss man es ablehnen. Es gibt keine wirkliche
Notwendigkeit für dieses Gesetz. Es ist ein weiterer
Schritt in Richtung Kontrolle und Überwachung. Im
Kern bringt es weniger Freiheit, vor allem bringt es in
diesem Punkte nachweislich weniger Sicherheit. Deswegen wird die Linksfraktion dieses Gesetz ablehnen.
Danke.
({4})
Nächster Redner ist nun der Kollege Gert
Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Auf meine schriftliche Anfrage nach der Sicherheit der
RFID-Chips antwortete das Innenministerium am
10. April lapidar, dass die Sicherheit der in den Chips
der elektronischen Reisepässe gespeicherten Daten gewährleistet sei. Man habe dies zudem bereits auf eine
Kleine Anfrage der FDP-Fraktion erwidert.
Die Bundesregierung hatte diese Kleine Anfrage bereits Mitte Dezember beantwortet. Doch in der Zwischenzeit ist einiges geschehen: Dem Sicherheitsexperten Lukas Grunwald aus Hildesheim, so berichtet der
„Tagesspiegel“ vom 10. Februar 2007, ist es in der Zwischenzeit gelungen, den Code des biometrischen Passes
eines Freundes zu knacken.
({0})
Da muss es ja wohl erlaubt sein, die Frage nach der Sicherheit erneut zu stellen, zumal bei der öffentlichen
Anhörung im Innenausschuss knapp zwei Wochen nach
der Antwort auf meine schriftliche Frage immer wieder
das Argument der Sicherheit als Begründung für den
elektronischen Pass herhalten musste.
Waren denn die herkömmlichen bundesdeutschen
Pässe so unsicher? Nein, sie sind sicher, so die Meinung
der Experten, sie genießen einen hervorragenden Ruf.
Warum also die biometrische Variante im Eiltempo einführen? Sie ist nicht so sicher, wie die Regierung das immer wieder anpreist.
Die Anhörung im Innenausschuss erbrachte bemerkenswerte Zweifel an einer pauschalen Unbedenklichkeitserklärung.
({1})
Experten wie Professor Pfitzmann aus Dresden und
Lukas Grunwald hegen erhebliches Misstrauen gegenüber der technischen Sicherheit der Chips. Der oberste
Datenschützer der Republik, Peter Schaar, warnte vor einer Vernetzung der Passregister. Zwar hat sich die SPD
erfolgreich gegen die Speicherung der Fingerabdrücke
gewehrt; aber die Sicherheitsbehörden sollen die Möglichkeit erhalten, in Eilfällen Passfotos der Meldeämter
online abzurufen.
({2})
Da muss einem der Bundesdatenschutzbeauftragte
wie einer, der gegen Windmühlen kämpft, erscheinen.
Leider sind diese Windmühlen alles andere als Einbildungen.
({3})
George Orwell hatte nicht ausreichend Fantasie, um das
zu beschreiben, was auf uns zukommen wird. Seit Jahren
werden Freiheiten durch Pflichten ersetzt: Es wird kontrolliert, überwacht, registriert, erfasst, gesammelt und
abgeglichen, zentral gemeldet und national abgerufen.
Diese Daten werden verkauft, getauscht, belauscht in einem weltweiten Datensumpf. Das ist die Realität; das
kann man nicht leugnen.
Die Bundesregierung kann in keiner Weise garantieren, dass die auf den RFID-Chips gespeicherten Daten
nicht doch an Kriminelle gelangen können. Professor
Pfitzmann warnte ausdrücklich vor einem Missbrauch
von Fingerabdrücken zu kriminellen Zwecken. Die
Bundesregierung kann zudem nicht kontrollieren, wie
die biometrischen Merkmale in Drittländern verwendet
werden.
Warum also, frage ich Sie noch einmal, gehen Sie dieses Sicherheitsrisiko ein?
({4})
Weil es Ihnen um einen anderen Begriff der Sicherheit
geht. Das, was Sie Sicherheit nennen, ist in Wirklichkeit
eine umfassende Kontrolle und ein Meilenstein auf dem
weiteren Weg in den Überwachungsstaat: Sie wollen
wissen, was wir wann tun, und das bis in alle Ewigkeit
speichern.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Wolfgang Wieland für die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was soll
ich nun tun: Aufgeben? Oder meinem Herz einen Stoß
geben? Meine Herren von der Sozialdemokratie, hätten
Sie hier gesagt: „Eine EU-Verordnung zwingt uns,
({0})
etwas völlig Unnötiges zu machen und den Bundesbürger mit Fingerabdrücken in seinem Pass zu beglücken,
es tut uns leid“, dann hätte ich ja mit Ihnen gelitten.
({1})
Sie, insbesondere der Kollege Hofmann, haben sich aber
hier hingestellt und das als großen zivilisatorischen Fortschritt in Sachen Sicherheit verkauft.
({2})
- Es geht um ein Reisedokument. Das ist kein Zug nach
Nirgendwo, sondern ein Zug nach Absurdistan.
({3})
- Herr Mitarbeiter des BKA außer Diensten, ich kann
mich noch gut erinnern, dass Ihre Behörde vor gut
20 Jahren gesagt hat - ich kann mich so gut daran erinnern, weil ich meinen alten Pass in die Waschmaschine
gesteckt habe, um noch einmal ein altes Dokument zu
erhalten und für mich eine Frist von zehn Jahren herauszuschlagen, was auch geklappt hat -: Sie bekommen einen neuen Pass. Er ist fälschungssicher und maschinenlesbar. Er ist wunderbar.
Der Kollege Korte und die Kollegin Piltz haben zu
Recht auf das hingewiesen, was der BKA-Chef auf unsere ständigen Fragen, ob das nicht mehr gelte, ob wir
eine Fälschungswelle hätten, geantwortet hat.
({4})
- Kinder und Wiefelspütz sagen die Wahrheit! Das muss
ich hier einmal feststellen. Leider sind Sie aber der Einzige in Reihe eins der SPD. - Ziercke, der BKA-Chef,
hat gesagt: Kein Problem. Wir haben - das wissen Sie Probleme mit Banküberweisungen, Checkkarten und
vielem anderen, aber nicht mit unserem Reisepass.
Nun sagt man einfach: internationaler Terrorismus.
Otto Schily kam seinerzeit mit diesem Argument daher.
Bitte schön, kommen die Terroristen denn mit deutschen
Reisepässen angereist? Können wir denn irgendetwas an
den Pässen in diesen etwas dubiosen Herkunftsstaaten
ändern? Nein. Man folgt folgender Logik: Der Bundesbürger ist, mit wenigen Ausnahmen, okay. Sein Pass ist
okay. Der internationale Terrorist ist natürlich nicht
okay. An dessen Papiere kommen wir aber nicht heran.
Wie lösen wir das Problem? Indem wir alle Bundesbürger zwingen, ihre Fingerabdrücke im Pass aufnehmen zu
lassen. Ich sage noch einmal: Gegen dieses Vorhaben
war der Bau des Rathauses von Schilda geradezu eine rationale Maßnahme.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?
Nur, weil sie meine Redezeit verlängert. Bitte schön.
Lieber Herr Kollege Wieland, sind Sie in der Lage, zu
begreifen, dass es bei der Einführung dieses wunderbaren neuen Passes nicht um Terrorismus oder Fälschungsfragen geht, sondern darum, dass man an der Grenze,
wenn Sie einen solchen Pass eines Tages haben, blitzschnell feststellen kann: „Wieland ist derjenige, der in
dem Pass steht, und umgekehrt.“?
({0})
Das ging bislang nicht. Das ist der geniale Fortschritt.
Sind Sie nicht der Meinung, dass dieses Hightechinstrument, dieser Pass, den es weltweit nur in Europa gibt,
das wert ist, weil er den Bürgern in der Tat mehr Sicherheit verschafft? Mit Terrorismus hat das alles nichts zu
tun, lieber Herr Wieland.
({1})
Herr Kollege Wiefelspütz, anders als möglicherweise
Sie, weiß ich immer noch, dass ich Wieland bin.
({0})
Ich hatte noch nie an irgendeiner Grenze ein Problem,
das klarzumachen. Das wurde noch nie bestritten. Der
Gebrauchswert dieses neuen Passes - es tut mir leid leuchtet mir nicht ein.
Die Risiken, die Sie mit diesem Pass neu schaffen,
wurden von der Kollegin Piltz schon angesprochen. Den
Pass brauche ich doch nicht, wenn ich mich in der Bundesrepublik aufhalte. Dann ist er in der Schublade.
({1})
Wenn ich in einen Drittstaat oder gar einen Schurkenstaat reise, brauche ich ihn aber. Von Herrn Binninger
werde ich getröstet: Um Ihren neuen Pass auszulesen,
müssen die dichter als 10 Zentimeter herankommen. Soll
ich denn an der Hotelrezeption in Zukunft sagen: „Gehen Sie an diesen Pass, den Sie von mir haben wollen,
nicht dichter als 10 Zentimeter heran.“? Wenn ich mit
diesem Ansinnen komme, holen die doch gleich die Polizei.
({2})
Und dann haben sie alle Zeit der Welt, meinen Pass auszulesen und zu kopieren. Sie haben meine Daten. Eine
große Sicherheitsvorkehrung! Sie müssen meinen Namen und mein Geburtsdatum haben. All das steht doch
in dem Pass drin. Die Daten haben sie doch dann. Sie haben alle Zeit der Welt, den Pass auszulesen.
Nun sagen Sie bitte nicht, das sei harmlos. Das wurde
auch schon gesagt. Da saßen sieben Sachverständige. Sie
haben immer nur gehört, die Möglichkeit des Auslesens
sei theoretisch, das wolle niemand machen? Warum haben dann zwei der sieben, der Sachverständige für Datensicherheit und der BKA-Chef, ihren Pass in einer
Hülle, wenn es die Gefahr des Auslesens nicht gibt? Hat
Ihr Chef schon Paranoia, oder was ist da los, lieber Herr
Hofmann?
({3})
Das alles können Sie uns nicht erzählen. Es ist wirklich
so.
({4})
Herr Binninger hat an einer Stelle die Wahrheit gesagt.
({5})
Man will damit offenbar Geld verdienen. Aber dafür ist
doch der Bundesbürger nicht da. Gleichzeitig wurde gesagt, dass die Lebensdauer dieser Chips drei bis fünf
Jahre beträgt. Man wird sich nun nicht mehr nach zehn
Jahren, sondern schon nach fünf Jahren einen neuen Pass
ausstellen lassen müssen. Das alles prallt an Ihnen ab.
({6})
Sie haben eine Nachbesserung vorgenommen. Das
will ich gar nicht verkennen. Nun kommt ein großes
Aber: Wir haben im Moment noch keine Referenzdatei,
keine Lichtbilderdatei und keine Fingerabdruckdatei,
aber die Seite des Saales, auf der die Regierung sitzt,
und der nicht anwesende Innenminister werden Tag und
Nacht rödeln, damit wir sie bekommen.
Herr Kollege.
Das haben wir doch bei den Mautdaten und bei den
Antiterrorgesetzen gesehen. Es gibt immer nur einen
vorläufigen Waffenstillstand. Die nächsten Schritte sind
geplant.
({0})
Deswegen sind wir wie die FDP gegen den Onlinezugriff, der jetzt geschaffen wird. Es ist ein weiterer Keks.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Wie das Krümelmonster nach Keksen ruft, ruft die
CDU/CSU nach Gesetzen. Wenn sie eins hat, ruft sie
nach dem nächsten und dann nach dem übernächsten.
Dazu sagen wir Nein.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 11 a. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Passgesetzes und weiterer Vorschriften. Der
Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5445, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/4138 und
16/4456 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
FDP vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag auf Drucksache 16/5484? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
abgelehnt.
({0})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5474. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 11 b. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 16/5445 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5445 die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/854 mit dem Titel
„Sicherheitslücken bei biometrischen Pässen beiseitigen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/3046 mit dem Titel „Keine
Einführung des elektronischen Personalausweises“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5445 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/4159 mit dem Titel „Datenschutz und Bürgerrecht bei der Einführung biometrischer Ausweise wahren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Margareta Wolf ({1}),
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotierter Unternehmen einführen
- Drucksache 16/5279 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vereinbart, wobei für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten
vorgesehen sind. - Ich höre keinen Widerspruch. Damit
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Margareta Wolf für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren zu dieser späten Stunde über einen Antrag meiner Fraktion, in dem wir die Einführung
einer Quote im Hinblick auf die Besetzung von Aufsichtsräten fordern. Wir sehen dafür eine Frist bis zum
Jahre 2012 vor. Bis dahin sollen die Aufsichtsräte zu
40 Prozent mit Frauen besetzt sein. Wir führen in unserem Antrag aus, dass § 100 des Aktiengesetzes dahin gehend geändert werden soll, dass maximal fünf Aufsichtsratsmandate durch eine Person übernommen werden
dürfen.
({0})
Warum machen wir das? Wie Sie wissen, sind
Frauen in den Aufsichtsräten der deutschen Unternehmen gegenwärtig zu 7,5 Prozent vertreten. Sie sind aber
nur deshalb dort, weil sie in maßgeblichem Umfang von
der Arbeitnehmerbank gestellt werden. In den Vorständen deutscher Unternehmen sind Frauen nur zu knapp
2,5 Prozent vertreten,
Margareta Wolf ({1})
({2})
und dies trotz der Tatsache, dass wir in Deutschland,
wenn auch nur langsam, einen Generationenwechsel in
den Vorständen und in den Aufsichtsräten beobachten
können. Man könnte hinzufügen: nicht immer mit großem Erfolg. Ich nenne an dieser Stelle nur die Namen
Telekom und Siemens.
Ich möchte Ihnen sagen, dass wir uns mit der Erarbeitung dieses Antrags sehr schwergetan haben. Wir sind
nicht prinzipiell, wie es der Kollege Wieland vorhin
sagte, für neue Gesetze und neue Quoten. Nein, wir haben uns unter anderem mit Gertrud Höhler beraten und
verschiedene Unternehmensberaterinnen angehört und
uns dann für die Forderung nach Einführung der Quote
entschieden, die auch eine gesellschaftspolitische Debatte auslösen soll.
({3})
Warum? Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor sechs
Jahren hat sich der Deutsche Bundestag darauf verständigt, mit der deutschen Industrie eine freiwillige Vereinbarung zu schließen, um das Potenzial der Frauen in
Führungspositionen drastisch zu erhöhen. In diesen
sechs Jahren wurden zwei Berichte der Industrie vorgelegt, in denen lediglich festgestellt wurde, dass sich der
Status quo gegenüber 2001 nicht verändert hat. In der
letzten Woche hat sogar der tschechische Sozialkommissar Spidla in Bad Pyrmont gesagt: Bekanntlich werden
in Deutschland die drei Ks - Kinder, Küche, Kirche hochgehalten. Dabei ist Karriere auch ein schönes K.
({4})
Bücher mit Titeln wie „Das dämliche Geschlecht“ oder
„Oben ohne“ befinden sich in den Bestsellerlisten und
werden auch von Frauen gelesen.
Wie ist die Situation? Im Durchschnitt sind Frauen im
Studiengang BWL zu 44,1 Prozent vertreten, in Physik
zu über 60 Prozent, in Mathematik zu über 50 Prozent,
in Chemie zu über 50 Prozent etc. Dass sie bessere Abschlüsse machen, brauche ich hier nicht zu erwähnen.
({5})
Die Bundesregierungen sind in der Vergangenheit
nicht untätig gewesen. Das gilt auch für die gegenwärtige Regierung. Aber leider funktionieren die angewandten Instrumente nicht. Es gibt zum Beispiel die Plattform
„genderdax“, die Initiative „ChanGe“ und verschiedene
Netzwerke innerhalb des Ministeriums von Frau von der
Leyen. Gleichwohl passiert gar nichts.
Wir haben uns für dieses Instrument der Quote entschieden, weil der VdU - der Verband deutscher Unternehmerinnen - eine Umfrage bei 2 000 weiblichen Führungskräften in seinem Verband durchgeführt hat, von
denen 1 500 gesagt haben, sie hätten die Qualifikation
und sie würden gerne in einen Vorstand oder einen Aufsichtsrat gehen.
({6})
Die Zeitschrift „Brigitte“ unterhält seit Anfang dieses
Jahres ein Forum, in dem sie die Frage stellt, ob wir eine
neue Frauenbewegung brauchen. Die Zeitschrift „Capital“, deren Redaktion übrigens kein weibliches Mitglied
hat und die uns auch nicht nahesteht, hat eine Umfrage
bei 500 weiblichen Führungskräften gemacht und sie gefragt, warum sie nur im mittleren Management und nicht
in einem Aufsichtsrat oder Vorstand sind. 70 Prozent sagen - hören Sie gut zu -, dass das an der Dominanz
männlicher Netzwerke liegt. 63 Prozent sagen, die
Sorge der Vorgesetzten vor familienbedingten Auszeiten
und eingeschränkter Verfügbarkeit der Frauen sei der
Grund. Diese These hat uns übrigens Frau Höhler bestätigt, und auch junge Führungskräfte bestätigen sie. Sie
sagen, dass sie deshalb nicht hochkommen, weil sie
schon Kinder haben oder weil befürchtet wird, dass sie
Kinder bekommen.
Aus diesem Grunde haben wir diesen Antrag eingebracht. Ich finde, dass niemand die Augen vor dieser
Ressourcenvergeudung, die wir in unserem Land betreiben, verschließen kann. Ich bitte Sie herzlich: Wenn Sie
diese Quote nicht unterstützen, dann sind Sie gefordert,
ein anderes Instrument zu benennen, weil die freiwillige
Vereinbarung mit der deutschen Industrie - sie wurde
von der deutschen Industrie konzediert - gescheitert ist.
Das ist ein Nachteil für den Standort Deutschland und
für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Wir machen uns gegenüber den Norwegern, den Spaniern, die
gerade ein solches Gesetz eingeführt haben, den Dänen
und den Franzosen, die auch darüber nachdenken, lächerlich.
({7})
Lassen Sie uns in die Richtung denken, den Anteil der
Frauen in den Aufsichtsräten und Vorständen mit verschiedenen Instrumenten zu erhöhen. Sie haben die notwendige Qualifikation, die sogar noch besser ist als Ihre,
meine sehr verehrten Herren.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine kluge Frau hat einmal gesagt: Wir haben die
Gleichberechtigung erst dann erreicht, wenn es überall
so viele mittelmäßige Frauen wie mittelmäßige Männer
gibt. Nichts für ungut.
({0})
Sie hat wohl recht.
Richtig ist aber auch, dass die Frauen auf dem
Vormarsch sind. Anfang der 60er-Jahre gab es an
Gymnasien zwei Fünftel Mädchen und drei Fünftel Jungen. Heute sind über die Hälfte der Abiturienten weiblich, und den besseren Notendurchschnitt haben sie auch
noch. Hinzu kommt: Quer durch alle Fachrichtungen
brauchen Studentinnen bei einem gleich guten Abschluss weniger Semester als ihre männlichen Kollegen
und absolvieren dabei zusätzlich noch mehr Praktika und
Auslandsaufenthalte. Zunächst einmal ist also festzuhalten: Sie haben einen erheblichen Bildungsvorsprung.
Die schlechte Nachricht kommt aber direkt hintendran: Trotz alldem gibt es immer noch erhebliche Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen gleicher
Qualifikation. Daneben stoßen Frauen bei ihrem Aufstieg in Führungspositionen relativ schnell an die viel zitierte gläserne Decke. Irgendwann geht es einfach nicht
mehr weiter nach oben. Ein Beispiel: In den Vorständen
der 30 DAX-Unternehmen - Sie wissen es alle - sitzt
seit Anfang 2007 gerade einmal eine Frau. Die übrigen
192 Spitzenmanager sind männlich.
Im Antrag der Grünen können wir lesen - das haben
wir gerade auch gehört -: Die Quote muss her.
({1})
Ich meine, das ist arg kurz gehüpft. Ich empfehle deshalb
ganz dringend - das ist sozusagen eine Anleitung, wie
man es besser machen kann - den Antrag der Koalitionsfraktionen von SPD und CDU/CSU auf Drucksache 16/4558 mit dem Titel „Chancen von Frauen auf
dem Arbeitsmarkt stärken“ aus dem März 2007.
({2})
Er besticht vor allem durch eine scharfe Analyse der
Situation von Frauen in der Erwerbstätigkeit.
({3})
Es wird vieles zum Bildungsniveau, das sehr hoch ist,
und auch zur Einkommenssituation, die weniger schön
ist, ausgesagt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Wolf?
Nein danke.
({0})
Im Gegensatz zu Ihnen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen der Grünen, sagen wir nun aber nicht einfach,
dass die Quote es bringt. Für mich persönlich ist eine
Frauenquote - egal wo sie zum Einsatz kommt - immer
nur das letzte Mittel, wenn gar nichts anderes hilft.
({1})
Ich möchte keine Quotenfrau sein. Gott sei dank bin
ich auch keine. Die Frauen haben die Frauenquote gar
nicht nötig.
({2})
- Ich bitte Sie, Herr Tauss. Es geht aufwärts mit uns, und
zwar freiwillig.
({3})
Wir sind auf einem sehr guten Weg.
Ich bin der festen Überzeugung, dass in einer globalisierten Wirtschaft ohnehin automatisch und stetig der
Druck auf die Unternehmen wächst, auf allen Führungsebenen das weibliche Potenzial stärker zu nutzen. Denn
wer wird in Zukunft schon auf die uns nachgesagten vermeintlich typisch weiblichen Fähigkeiten verzichten
können und wollen?
({4})
Der Bewusstseinswandel hat auch schon eingesetzt.
Das müssen Sie doch wissen. Sie fordern eine neue
Frauenbewegung;
({5})
dann müssten Sie auch wissen, was weibliche Fähigkeiten sind.
Denken Sie zum Beispiel an die „Women’s Initiative“
von McKinsey. Individuelle Arbeitszeitmodelle und
Mentoringprogramme werden entwickelt und von den
interessierten Frauen hervorragend angenommen. Auch
das schlagen wir als Regierungsfraktionen ebenso wie
mehr Teilzeitmöglichkeiten auch in Führungspositionen
in unserem breit aufgestellten Antrag vor.
({6})
Wenn Unternehmen dann noch flexible Arbeitszeiten
oder sogenannte Vertrauensarbeitszeiten anbieten, sind
wir meiner Meinung nach auf einem sehr richtigen Weg.
Damit sind wir beim Thema familienfreundliche
Arbeitswelt angelangt. Auch wenn Sie das nicht gerne
hören, befindet sich die Große Koalition auf dem allerbesten Weg, was den Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten angeht.
({7})
Auch das ist eine unverzichtbare Rahmenbedingung für
Mütter, die beruflich aktiv sein und bleiben wollen, ganz
zu schweigen von der von uns eingeführten steuerlichen
Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen. Davon haben Frauen konkret etwas in der Praxis, nicht aber von Einzelmaßnahmen wie Ihrer Forderung einer Quote für
Aufsichtsratgremien.
Zu Ihrem Beispiel Norwegen: Grundsätzlich klingt
der Ansatz einer vom Staat verordneten Frauenquote für
börsennotierte Unternehmen verlockend. Garniert wird
das Ganze noch mit der Androhung von Sanktionen gegenüber den Unternehmen, die die Quote nicht erfüllen.
Die Sanktionen reichen bis zum Entzug der Börsennotierung, wenn die Welt bis Ende 2007 sozusagen doch nicht
so rosa aussieht, wie wir uns das vorstellen.
Bevor wir allerdings blind einem solchen Modell hinterherlaufen, sollten wir erst einmal abwarten, wie es
sich in der Praxis auswirkt.
({8})
Wenn dort die Quote erfüllt wird, wäre das erfreulich.
Wenn sie nicht erfüllt wird, dann kann das sehr unterschiedliche Gründe haben; es muss nicht immer - wie
hier gerne klischeehaft verbreitet wird - an der angeblichen Frauenfeindlichkeit der Unternehmen liegen. Auch
auf einer Liste mit Tausenden Bewerberinnen, wie sie in
Norwegen angelegt wird, muss nicht unbedingt die passende Frau für das jeweilige Unternehmen dabei sein.
Dem dürfen wir uns nicht verschließen. Deshalb wird es
mit uns eine solche Quote nicht geben.
Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen zu Ihren
sonstigen Anregungen wie der Obergrenze von Aufsichtsratsmandaten für eine einzelne Person und dem
Wechsel vom Vorstandsvorsitz in den Aufsichtsrat.
Sie begründen das insbesondere mit den Finanz- und
Korruptionsskandalen der letzten Jahre in Deutschland.
Zum einen muss man fragen, ob überhaupt ein kausaler
Zusammenhang besteht. Zum anderen halte ich solche
Pauschalierungen für den Standort Deutschland für
schwierig und gefährlich, da der Eindruck entsteht, dass
die deutsche Wirtschaft grundsätzlich korrupt ist. Dabei
wissen Sie so gut wie ich, dass das Gegenteil richtig ist.
Ein paar schwarze Schafe machen noch lange keine
Herde. Deswegen können wir Ihren Antrag leider Gottes
nur ablehnen.
Ich habe einmal auf die Besetzung im Plenarsaal geachtet. Im Gegensatz zu anderen Sitzungen, bei denen
wir für Frauenthemen eine Männerquote einführen
müssten, brauchen wir das heute erfreulicherweise nicht.
({9})
Respekt, meine Herren! Schön, dass Sie da sind. Wir
kommen also auch hier voran. Auch hier brauchen wir
keine Quote.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans
für die Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In zwei Punkten stimme ich Ihnen - wie wahrscheinlich jeder und jede im Saal - zu, Frau Kollegin
Wolf: Erstens gibt es in Deutschland zu wenige Frauen
in Führungspositionen.
({0})
Es fehlen aber nicht nur weibliche Aufsichtsräte, sondern auch weibliche Vorstandsmitglieder, Abteilungsleiterinnen, Professorinnen, Bundesministerinnen, Abgeordnete usw.
({1})
Zweitens. Die Investitionen in Bildung, Ausbildung,
Studium und Wissenschaft kosten den Staat viel Geld.
Dieses Geld ist vergeudet, wenn gut ausgebildete und
qualifizierte Frauen nicht in Führungspositionen vordringen können.
({2})
Aber das war es auch schon mit den Übereinstimmungen. Denn das eine ist die Wirklichkeit, und das andere
ist Ihr Antrag. Dieser ist mehr als realitätsfern.
({3})
Es muss sich natürlich auch in deutschen Aufsichtsräten etwas tun. Aber der Gesetzgeber ist da zuletzt gefragt. Sie beziehen sich in Ihrem Antrag auf eine Regelung in Norwegen. Frau Kollegin Raab hat schon gesagt,
dass jedes Land unterschiedliche Rahmenbedingungen
mitbringt. So dürfte auch Ihnen bekannt sein, dass Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf
in den skandinavischen Ländern deutlich besser organisiert sind. Dort gehört es zum Alltag, dass Frauen genauso wie Männer Karriere machen können, ohne dabei
große Einbußen im Privatleben hinnehmen zu müssen.
Zum anderen ist es interessant, dass Norwegen zwar
an der Spitze liegt bei dem Anteil von Frauen in Aufsichtsräten. Sie haben in Ihrem Antrag aber vergessen,
zu erwähnen, dass auch andere skandinavische Länder
und osteuropäische EU-Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht weit über dem Durchschnitt liegen, und zwar ohne
Frauenquote. Es lohnt sich also, einmal nach den wirklichen Gründen zu fragen.
({4})
Sie haben auch schon erwähnt, dass Forsa in diesem
Frühjahr 501 Frauen in Führungspositionen dazu befragt
hat, was die Karriere von Frauen ausbremst. Die Antworten - Sie haben es schon gesagt - sind nicht gerade
überraschend. 70 Prozent der Befragten sehen als
größtes Hemmnis die Dominanz der männlichen Netzwerke an. An zweiter Stelle stand mit 63 Prozent die
Sorge der Vorgesetzten vor familienbedingten Auszeiten. Die Ellbogenmentalität war auch eine häufige Antwort. Wir sollten aber auch nicht vergessen, dass ein
zwar geringerer Teil, aber immerhin noch 22 Prozent der
befragten Frauen den mangelnden Ehrgeiz von Frauen
als Hindernis ansahen.
Ich frage Sie: Was kann Ihr Antrag an diesen Dingen
ändern? Nichts.
({5})
Wollen Sie mit gesetzgeberischem Druck, der den
Frauen unter solchen Voraussetzungen nur schadet,
wirklich Frauen in den obersten Führungsetagen erzwingen? Haben Sie sich weiterhin gefragt, wie die Frauen,
die Sie mit Ihrem Antrag beglücken wollen, Ihre Frauenquote sehen? Die Umfrage von Forsa hat das nicht ausgelassen: Die meisten der 501 befragten Frauen lehnen
eine Quote kategorisch ab. Nur 16 Prozent der Befragten
wünschen sich eine Frauenquote.
Was wollen die Frauen stattdessen? Mehr Akzeptanz
im eigenen Unternehmen, persönliches Karrierecoaching und gezielte Förderung bei Einstellung und Beförderung. Orientieren Sie sich doch bitte an diesen Wünschen der betroffenen Frauen! Dann ist Ihr Antrag
überflüssig.
({6})
Notwendig ist ein Wandel in den Köpfen; das ist ganz
klar. Jeder muss sich bewusst machen, dass Frauen in
Führungspositionen notwendig sind. Auch diesbezüglich
tut sich mittlerweile etwas. Wir brauchen qualifizierte
Frauen. Norwegen ist dabei schon an eine Grenze gestoßen. Man findet in Norwegen nicht mehr genügend qualifizierte Frauen, die bereit sind, diese Position einzunehmen. Denn - so ist es zumindest in Norwegen - der
weitaus überwiegende Teil der jungen Frauen ist lieber
in der Mode- und Gesundheitsbranche tätig als in Karrieregebieten wie Technik und Ingenieurwesen. Diesbezüglich muss ein Umdenken einsetzen, auch bei den Frauen.
Ich möchte noch etwas zu der Datenbank sagen, die
Sie vorschlagen. Frau Schewe-Gerigk behauptet im „Tagesspiegel“, dass es in Deutschland genügend qualifizierte Frauen gibt.
({7})
Wo nehmen Sie dieses Wissen her? Haben Sie
dazu eine Studie?
({8})
Haben Sie deutschlandweit Headhunter befragt? Wie
kommen Sie zu dieser These?
({9})
Haben Sie die Frauen befragt, ob sie bereit sind, das zu
tun? All dies ist meines Erachtens überhaupt nicht dargetan und erwiesen.
Ich habe vorhin gesagt, was sich Frauen als Unterstützung wirklich wünschen. Gerade was das Coaching
betrifft, gibt es gute Ansätze in der Wirtschaft. Ich verweise nur auf die Initiative „Generation CEO“. Das
sollten wir weiterverfolgen. Die Forderung nach einer
40-prozentigen Frauenquote hält Kollege Benneter - er
wird nachher noch sprechen - laut „Tagesspiegel“ für
„lebensfremd“. Ich halte Ihren gesamten Antrag für skurril und kann nur hoffen, dass er keine Mehrheit findet.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Uwe Benneter
für die SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin heute offensichtlich quotiert.
Frau Kollegin Wolf, das ist ein typischer Oppositionsantrag.
({0})
Sie waren Parlamentarische Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium. Sie hätten sieben Jahre Zeit gehabt,
das mit uns auf den Weg zu bringen.
({1})
Was ist passiert? Wie ernst nehmen Sie eigentlich die
Frauenförderung? Es ist wohlfeil, sich mit der PDS in
Fantasieforderungen zu überbieten. Aber Sie hätten die
Chance gehabt, während unserer gemeinsamen Regierungszeit etwas zu verändern.
({2})
Nehmen Sie sich ein Beispiel an uns! Wo wir Politik
machen und regieren, wird nicht geträumt, sondern gehandelt. Der erste rot-grüne Senat in Berlin mit Walter
Momper war paritätisch mustergültig besetzt.
({3})
Wir sind sogar so weit gegangen, unseren guten und
weitsichtigen Kanzler in den Ruhestand zu schicken, um
endlich eine Kanzlerin ans Ruder zu lassen.
({4})
- Okay, trotzdem finde ich es gut, dass sich die Grünen
dieses Themas angenommen haben.
({5})
Herr Kollege, ich will nur darauf hinweisen, dass die
Redezeit noch läuft.
({0})
Die Frau Kollegin Dyckmans hat viel Richtiges gesagt. Auch der Kollegin Raab kann ich in vielen Punkten
zustimmen. Richtig ist, dass es sich um eine nicht zu
rechtfertigende Verschwendung von wertvollen Ressourcen handelt.
({0})
- Ich meine damit, dass in den Aufsichtsräten zu wenige
Frauen vertreten sind.
({1})
Meine Kolleginnen Raab und Dyckmans haben jedenfalls den richtigen Ansatz in der Gleichstellungspolitik genannt. Wir brauchen erst einmal einen Unterbau für
eine solche Spitzenquote; den haben wir bislang nicht.
({2})
Das belegt insbesondere Ihr Beispiel Norwegen. Entscheidend ist - das müssen wir erkennen -: Familienpolitik ist Infrastrukturpolitik, Arbeitsmarktpolitik und
Bildungspolitik. Das alles gehört zusammen. Nicht separat, sondern nur gemeinsam bestimmen sie unsere Lebensentwürfe. Norwegen hat die Fragen, bei denen es
um die Vereinbarkeit von Familien/Frauen und Beruf
geht, längst beantwortet.
({3})
Die Tatsache, dass Frauen arbeiten, gilt dort schon lange
als Selbstverständlichkeit.
({4})
Norwegen bietet seinen Familien umfangreiche Zeitrechte
({5})
in Form von sozial abgesicherter Teilzeitarbeit und großzügiger Urlaubsregelung. Außerdem hat das Land ein
gut ausgebautes Netz außerfamiliärer Kinderbetreuungsangebote. Der dichte Ausbau staatlicher Unterstützungsleistungen für Familien mit Kindern gilt gerade in
Norwegen als ganz zentrales Merkmal eines Wohlfahrtsstaates. Die gezielte Förderung der Beteiligung auch von
Vätern an der Kindererziehung stellt einen wesentlichen
Schwerpunkt der dortigen Familienpolitik dar.
({6})
Gerade im Zentrum einer Vielfalt von bewusstseinsbildenden Kampagnen steht hier nicht nur die Notwendigkeit einer gerechten Aufteilung der Arbeit zwischen
den Geschlechtern; viel entscheidender ist der große Gewinn, den Väter durch eine stärkere Beschäftigung mit
und der Bindung zu ihren Kindern haben.
({7})
Diese Politik ist erfolgreich. Bereits 2003 nahmen
83 Prozent der Väter in Norwegen das Angebot einer
Auszeit wahr.
Wichtig ist auch, dass der norwegische Arbeitsmarkt
deutlich flexibler als der deutsche ist. Eine einjährige
Karenz gilt dort nicht als Karrierebruch.
Leider sind Deutschland und Norwegen noch lange
nicht vergleichbar. Wir müssen uns auf einen eigenen
Weg machen und uns erst einmal an das norwegische Niveau heranrobben. Dieser Weg beginnt nicht bei einer
Frauenquote von 40 Prozent in Aufsichtsräten. Wenn wir
damit anfangen wollten, müssten wir unsere Frauen
noch lange vertrösten oder gleich auffordern, nach Norwegen auszuwandern.
({8})
Zu guter Letzt habe ich noch einen ernsthaften rechtlichen Einwand gegen das Antragsbegehren, den Frauenanteil von 7,5 Prozent auf 40 Prozent im Jahr 2012 zu
erhöhen. Das ist naturgemäß nur so zu schaffen, dass wir
ab sofort alle freiwerdenden Aufsichtsratsstellen nur
noch mit Frauen besetzen.
({9})
Eine solch rigide Vorgabe ist logischerweise eine massive Einschränkung des Rechts, bei der Wahl von Aufsichtsräten die Möglichkeit zu haben, eine genügende
Auswahl treffen zu können. Deshalb kann es nicht rechtens sein, für den Fall mit Sanktionen zu drohen, dass
dieses Ziel nicht erreicht wird.
({10})
Eine gleichberechtigte Teilhabe an Führungspositionen ist nicht mit der Brechstange zu erreichen. Um endlich auch in Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen
ausreichend Qualität vorweisen zu können - was nur mit
viel mehr Frauen möglich sein wird; da sind wir uns sicher alle einig -, brauchen wir einen langen Atem. Das
wusste auch schon Rosa Luxemburg.
Vielen Dank.
({11})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Den Spaßfaktor kann ich
jetzt natürlich nicht mehr toppen, aber das Thema ist eigentlich sehr ernst.
Es gibt mindestens ein sehr bestechendes Argument
für eine Quotierung in Aufsichtsgremien börsennotierter
Unternehmen: die bundesdeutsche Realität. Frauen kommen dort kaum vor. Gerade einmal 11 Prozent Frauen
- die Zahl ist genannt worden - sind gegenwärtig in
Aufsichtsräten der DAX-Unternehmen tätig. Zum Vergleich: Dass in Norwegen dieser Anteil 34 Prozent beträgt, verwundert vielleicht nicht. Aber auch in Lettland
und Slowenien beträgt dieser Anteil 21 Prozent, und das
sind nun nicht die Musterstaaten.
Die Repräsentanz von Frauen in Aufsichtsräten ist
zwar für uns Linke nicht die oberste Priorität, aber auch
diese Vertretungslücke symbolisiert ein deutliches
Gerechtigkeitsdefizit in dieser Gesellschaft. Dabei ist
es eine zentrale Aufgabe von Demokratie, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern herzustellen. Zum Anspruch auf gleiche Teilhabe von Frauen und
Männern an allen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen gehören selbstverständlich auch Aufsichtsräte.
Sie sind ein wichtiges Mitbestimmungsgremium innerhalb der Privatwirtschaft. Deswegen brauchen wir dort
auch Frauen. Frauen sollten daher dort prinzipiell relevant vertreten sein, übrigens unabhängig davon, ob sie
effizienter arbeiten - denn diese Frage stellt man auch
bei Männern nicht -,
({0})
und auch unabhängig davon, dass natürlich auch wir
wissen, dass die Unternehmenspolitik dadurch nicht automatisch besser und vernünftiger wird.
Aber beim Weg dorthin unterscheiden sich unsere
Vorstellungen schon vom vorliegenden Antrag. Für uns
Linke ist es etwas bizarr, über welche Irrwege die Grünen weiter versuchen, der störrischen deutschen Wirtschaft zu ihrem Glück zu verhelfen. Als ob wir nicht
längst wüssten, dass die Heilsversprechen des Diversity-Managements nichts bringen. Die Erfahrungen zeigen doch, dass die Wirtschaft in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter nur tut, wozu sie vom Markt
oder durch ein Gesetz gezwungen wird.
Dafür gibt es ein wichtiges weiteres Indiz: 80 Prozent
der ohnehin verschwindend geringen Anzahl an Frauen,
die in einem Aufsichtsrat sitzen, haben ihr Mandat über
die Vertretung der Arbeitnehmenden in diesen Gremien
erhalten. „Schöner wirtschaften in deutschen DAX-Unternehmen mit Frauenquote“ ist also ein Mythos.
Aber auch über diese neoliberale Quotenmotivation
hinaus hat der Antrag der Grünen einen faden Beigeschmack - es hat schon etwas von kollektivem Gedächtnisverlust -;
({1})
denn Sie hätten Ihre sieben Jahre in der rot-grünen Bundesregierung zur Durchsetzung Ihrer Vorschläge durchaus effektiver nutzen können. Außerdem darf ich daran
erinnern, dass die PDS bereits in der 14. Legislaturperiode den Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes für
die Privatwirtschaft vorgelegt hat. Sie hätten ihn aufgreifen oder ihm sogar zustimmen können.
Stattdessen haben Sie 2002 für eine Vereinbarung
zwischen Bundesregierung und Arbeitgeberverbänden
gestimmt. Diese Vereinbarung hat nicht funktioniert, und
Sie kritisieren sie heute zu Recht. Es mag sein, dass Sie
zu beschäftigt waren mit den Arbeitsmarktreformgesetzen, die Sie mitgetragen haben und die für Frauen sehr
viele Benachteiligungen bedeuten.
Aber zurück zur Frauenquote in Aufsichtsräten. Die
Forderung selbst ist durchaus in unserem Sinne. Wir
selbst haben einen Antrag mit dem Titel „Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes auf dem Arbeitsmarkt
durchsetzen“ gestellt. Mit diesem Antrag haben wir die
Bundesregierung im vergangenen Jahr dazu aufgefordert, umgehend den Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft
vorzulegen. Ein solches Gesetz muss die Wirtschaft verbindlich verpflichten, den Anteil von Frauen in verantwortlichen Positionen und in Führungsebenen systematisch zu erhöhen.
({2})
Das darf allerdings nicht nur für deren Anteil in Spitzenpositionen und nicht nur für börsennotierte Unternehmen gelten. Um Frauen und Männer im Bereich der Erwerbstätigkeit wirklich gleichzustellen, brauchen wir
außerdem eine aktive, systematische Frauenförderung auch in den unteren und mittleren Betriebsebenen. Das
ist der Unterbau, von dem Herr Kollege Benneter sprach.
Über die passenden Instrumente zu diskutieren, wäre aus
meiner Sicht mindestens genauso wichtig wie eine Diskussion über die Quote. Dem sollten wir im Ausschuss
nachkommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5279 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist allerdings,
welcher Ausschuss sich mit dieser Materie federführend
beschäftigen darf. Die Fraktionen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und der Linken wünschen nach meinen
Informationen die Federführung beim Rechtsausschuss,
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wünscht die
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich lasse zunächst einmal über den Überweisungsvorschlag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen abstimmen, also über den Antrag, die Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie anzusiedeln.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der
Linken abstimmen, die Federführung beim Rechtsausschuss anzusiedeln. Wer ist für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit angenommen. Ich gehe
davon aus, dass Sie alle dies akzeptieren.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Thematische Strategie für die städtische Umwelt
Entschließung des Europäischen Parlaments
zur thematischen Strategie für die städtische
Umwelt ({1})
({2})
- Drucksachen 16/3573 Nr. 1.4, 16/4608 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erstem Redner dem Kollegen Sören Bartol von der SPDFraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa braucht starke und lebenswerte Städte und
Regionen.
Mit diesem Appell endet die Leipzigcharta, die die für
Stadtentwicklung zuständigen Minister und Ministerinnen der EU-Mitgliedsländer heute in Leipzig beschlossen haben. Dieses Bekenntnis zu den Städten als Motor
von Wachstum und Beschäftigung, als Träger gesellschaftlichen Fortschritts und als Orte sozialer und ethnischer Integration in Europa ist ein großer Erfolg der
deutschen Ratspräsidentschaft.
({0})
Drei von fünf Europäern leben in Städten mit über
50 000 Einwohnern. Die Städte sind die Kraftzentren
Europas. Sie sind die Kristallisationspunkte wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Dynamik - einerseits.
Andererseits - das ist die Kehrseite der Medaille - konzentrieren sich hier auch wirtschaftliche, soziale und
Umweltprobleme. Die Städte sehen sich konfrontiert mit
Arbeitsplatzverlusten, mit dem Auseinanderdriften
prosperierender und niedergehender Stadtteile, mit ethnischen Konflikten, Umwelt- und Verkehrsproblemen,
Luft- und Wasserverschmutzung, Lärmbelästigung, steigender Flächeninanspruchnahme in Verbindung mit einem Funktionsverlust der Innenstädte.
Das Bekenntnis der Leipzigcharta zu einer nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklungspolitik ist die
richtige Antwort auf diese Herausforderungen.
({1})
Die Städte brauchen Unterstützung von allen politischen
Ebenen, um die Herausforderungen bewältigen und ihre
Chancen realisieren zu können.
Die Qualität der städtischen Umwelt - unser heutiges
Thema - ist ein wichtiger Teilaspekt einer solchen nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklungspolitik. Gute
Umweltbedingungen erhöhen nicht nur lokal die Lebensqualität für die Menschen in den Städten und damit
auch deren Attraktivität für Unternehmen und qualifizierte Arbeitskräfte; gute Umweltbedingungen in den
Städten können darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten.
Blicken wir zurück: Die Europäische Kommission hat
2004 den Konsultationsprozess zur thematischen Strategie für die städtische Umwelt als Teil des sechsten
Umweltaktionsprogramms der EU eröffnet. Die Mitgliedstaaten lehnten jedoch die erste Mitteilung der
Kommission ab. Die Vorschläge für gesetzliche Vorschriften, die in die kommunale Planungshoheit eingriffen, fanden keine Zustimmung. Auch der Bundestag
sprach sich in seiner damals noch von Rot-Grün eingebrachten Entschließung vom 27. Januar 2005 gegen zusätzliche Rechtsvorschriften aus.
Die Kommission trug dem Rechnung und legte im Januar 2006 einen neuen Vorschlag für die thematische
Strategie für die städtische Umwelt vor. Deren zentrales
Anliegen ist es, die Mitgliedstaaten, vor allem aber die
Regionen, die Städte und die Kommunen darin zu unterstützen, die städtische Umweltsituation zu verbessern.
Die von der Kommission vorgeschlagene Strategie
geht - aus unserer Sicht ganz richtig - davon aus, dass
den kommunalen Behörden eine entscheidende Rolle bei
der Verbesserung der Umweltqualität in den Städten zukommt. Sie geht weiterhin ganz richtig davon aus, dass
integrierte Konzepte und langfristige strategische Aktionspläne nötig sind, um die komplexen Probleme der
Städte zu bewältigen. Mit einem Bündel weicher Maßnahmen will die EU Unterstützung leisten, insbesondere
indem sie den Austausch bewährter Praktiken durch den
Aufbau von Netzwerken fördert, Kompetenzen durch
Fortbildung in den städtischen Verwaltungen stärkt und
zukunftsweisende Projekte fördert.
Der Kommissionsvorschlag berücksichtigt, was der
Bundestag Ende 2004 in einer Entschließung zum Ausdruck gebracht hat. Mit ihrer thematischen Strategie darf
die EU nicht in die Planungshoheit der Kommunen ein10254
greifen; das Subsidiaritätsprinzip muss gewahrt bleiben. Zusätzliche verbindliche Maßnahmen sind nicht der
richtige Weg zu einem effektiven und bürgernahen Umweltschutz. Darin sind wir uns auch mit den kommunalen Spitzenverbänden einig.
Das Europäische Parlament fällt mit seiner Entschließung vom November 2006 nun wieder dahinter zurück.
Es greift die erste Mitteilung der Kommission von 2004
wieder auf. Das Europäische Parlament fordert - zwei
Beispiele - EU-Leitlinien zur Umsetzung der Luftqualitätsrichtlinie und deren Überprüfung anhand von Kernindikatoren und EU-Zielvorgaben für Grünflächen pro
Einwohner. Wir sind aber nach wie vor der Auffassung,
dass den Städten in der gegenwärtigen Situation mit weiteren ordnungspolitischen Maßnahmen und Kontrollen
von der EU-Ebene nicht geholfen ist, zumal sie noch an
der Umsetzung der Feinstaubrichtlinie und der Lärmrichtlinie zu knacken haben.
({2})
Die vom Europäischen Parlament geforderten weiteren rechtlich verbindlichen Vorgaben und Fristen für die
Umsetzung lehnen wir ab.
Ganz im Sinne der Leipzigcharta verstehen wir integrierte Stadtentwicklungspolitik als einen Prozess, der
nur durch Einbindung der regionalen und lokalen Behörden und durch Einbeziehung von wirtschaftlichen Akteuren, Interessengruppen und Bürgerinnen und Bürgern
vor Ort gelingen kann. Ohne den lokalen Sachverstand
geht es nicht, denn es gibt in Europa kein einheitliches
Stadtmodell. Rahmenbedingungen, Probleme und Potenziale unterscheiden sich von Land zu Land und auch von
Stadt zu Stadt.
Die Leipzigcharta formuliert das so:
Integrierte Stadtentwicklungspolitik ist eine zentrale Voraussetzung für die Umsetzung der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie. Ihre Umsetzung ist
eine Aufgabe von europäischer Dimension, in der
jedoch die örtlichen Besonderheiten berücksichtigt
und das Subsidiaritätsprinzip gewahrt werden
muss.
Es ist gut und richtig, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, namentlich ganz vorneweg Minister
Wolfgang Tiefensee, die europäische Dimension einer
nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik in das Blickfeld
gerückt hat. Der neue Stellenwert der Städte in der europäischen Politik schlägt sich auch in Schwerpunktsetzungen der neuen Strukturfondsförderperiode ab 2007
nieder. Aus dem EFRE werden zum Beispiel partizipative, integrierte und nachhaltige Stadtentwicklungsstrategien gefördert, mit denen der starken Konzentration
auch ökologischer Probleme in den Städten begegnet
werden soll.
Die stärkere Ausrichtung der deutschen Städtebauförderung auf die Innenentwicklung der Städte ist auch ein
Beitrag zum Umweltschutz. Mit der Änderung des Baugesetzbuches haben wir bereits den rechtlichen Rahmen
dafür verbessert. Mit einem neuen finanziellen Instrumentarium wollen wir nun die Innenstädte und Ortskerne auch als Wohnorte wieder attraktiver machen und
Zersiedelung stoppen. Diese Orientierung „innen vor außen“ bietet gute Chancen, Flächenverbrauch und Verkehr zu reduzieren.
Ein umweltverträglicher städtischer Nahverkehr und
energieeffiziente Gebäude können ein großer Aktivposten in der Ökobilanz der Städte sein. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist ein großer Erfolg. Hieran
wollen wir mit einem Investitionspakt zur energetischen
Modernisierung sozialer Infrastruktur - sprich: Kitas,
Schulen und Turnhallen - anknüpfen. Auch das ist ein
Beitrag zu einer Stadtentwicklungspolitik, die soziale,
bauliche, bildungspolitische, wirtschaftspolitische und
umweltpolitische Ziele integriert.
({3})
Gerade für benachteiligte Stadtteile ist eine gesunde
Umwelt von großer Bedeutung. Die Menschen hier sind
besonders von den gesundheitsschädlichen Lärm- und
Schadstoffemissionen an großen Straßen und Verkehrsanlagen betroffen. Sie leben teilweise in schlecht sanierten Wohnungen. Grün- und Freiflächen fehlen in ihrem
Wohnumfeld. Insofern ist auch eine städtische Umweltpolitik, die die Lebensqualität in diesen Stadtteilen verbessert, ein Beitrag zum sozialen Zusammenhalt in den
Städten.
Viele Städte nehmen ihre umweltpolitische Verantwortung ernst. Das Klimabündnis mit seinen ehrgeizigen Zielen zur CO2-Minderung, die weit über die EUZiele hinausgehen, hat allein in Deutschland fast
400 Mitglieder. Bei der Umsetzung dieser Ziele brauchen die Städte aber Unterstützung von Ländern, Bund
und EU durch gezielte Förderung, Erfahrungsaustausch
und auch Fortbildung in den Verwaltungen.
Ich bin sicher, dass von der heute in Leipzig beschlossenen Charta weitere wichtige Impulse für unsere Städte
ausgehen. Ihr integrierter bildungs- und beteiligungsorientierter Ansatz ist auch in der städtischen Umweltpolitik der richtige; denn er ermöglicht örtlich angepasste Lösungen, die - so hoffen wir alle - Akzeptanz
finden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche irgendwann einen schönen Abend.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Patrick Döring, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal kann man, glaube ich, festhalten, dass
die Beratung der Beschlussempfehlung, die wir hier
heute vornehmen, ein gutes Beispiel dafür ist, wie man
auch als nationales Parlament manches, was in Brüssel
unausgegoren aufgeschrieben wird, machtvoll zurückPatrick Döring
weisen kann. Ich glaube, es ist ein gutes Signal, dass wir
das weitestgehend gemeinsam tun.
({0})
Wenn man sich das, was die Kollegen dort beschlossen haben, durchliest, dann kommt man schon ins Grübeln darüber, ob diese Kollegen niemals in einem kommunalen Parlament gesessen oder gar keine Vorstellung
davon haben, wie unterschiedlich die Städte von Athen
bis Stockholm oder von Bukarest bis Lissabon sich entwickelt haben. Deshalb ist es gut, dass wir auch beim
Thema städtische Umwelt auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips pochen. Vieles von dem, was in der
Leipzigcharta steht, ist - der Kollege Bartol hat das angesprochen - gut und richtig. Auch wir als FDP unterstützen die in breitem Umfang getragene Politik des
Ministers, mehr für innerstädtische Kerne und für
Reurbanisierung zu tun und weg von Zersiedelung und
der grünen Wiese zu gehen.
Die Leipzigcharta ist zunächst einmal jedoch ein von
allen Mitgliedstaaten ziemlich weich formuliertes Papier, das jetzt für die Stadtentwicklungsprogramme, die
hier national aufgelegt werden, umgesetzt werden muss.
Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.
Wenn das aber so ist, dann müssen wir über die Ziele
sprechen. Dann müssen wir auch schauen, womit wir
uns beim Thema städtische Umwelt befassen. Ich hatte
fast gedacht, der Kollege Bartol schafft es, das Thema
Feinstaub in seiner neunminütigen Rede ganz auszublenden. Er hat aber fairerweise auf die Schwierigkeiten hingewiesen. Die Schwierigkeiten sind da. Wir sind - was
die Wirtschaftssituation des örtlichen Gewerbes, den
Städtetourismus und viele weitere Fragen angeht - mit
einer Richtlinie und einem Umsetzungsprogramm in
ganz schwierigen kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen. Deshalb darf man jetzt nicht auf europäischer
Ebene Anforderungen stellen, die unsere Städte, unsere
kommunalen Verwaltungen und Parlamente nicht erfüllen können.
({1})
Die Gefahr, dass hierbei in Brüssel überdreht wird, ist
noch nicht gebannt.
Man kann sagen: Wir haben in Deutschland bewährte
Standards in der Abfallwirtschaft und beim Umgang mit
Abwasser; wir haben meistens auch einen funktionierenden Nahverkehr. Da sind wir in Europa von einheitlichen
Standards sehr weit entfernt. Deshalb sehe ich mit großer Sorge, dass jetzt, nach den Konsultationen zum
Grünbuch zum städtischen Nahverkehr, erneut von
der Kommission und vom Parlament massiv versucht
wird, konkrete Handlungsanweisungen für unsere
Kommunen in Europa festzuzurren: wie Nahverkehr organisiert werden muss, wie man Fahrradfahrer und Fußgänger fördert, wie man den motorisierten Individualverkehr ausgrenzt, wie man mithilfe einer Citymaut und
durch die Behinderung von Parkmöglichkeiten all das
konterkariert, was wir mit dem innenstadtfördernden
Stadtentwicklungsprogramm, das wir gerade neu aufsetzen, zu erreichen versuchen.
({2})
Wir müssen sehr wachsam sein, damit uns nach Veröffentlichung dieses Grünbuchs nicht wieder Handlungsanweisungen auf den Tisch gelegt werden. Wir
müssen dann genauso reagieren, wie wir es jetzt tun: mit
einer Entschließung unseres Parlamentes in dem Sinne,
dass die Subsidiarität Vorrang hat, dass also unsere
Kommunen darüber entscheiden, wie sie mit ihren innerstädtischen Verkehren, ihrer innerstädtischen Industrie
und ihrem Gewerbe umgehen.
Ich muss ehrlich sagen: Die Entwicklung auf europäischer Ebene steht im Gegensatz zu dem, was sich gerade
hinsichtlich der Schaffung von mehr Möglichkeiten für
die Städte, mehr Freiraum für die Planerinnen und Planer und mehr Eigenverantwortung für die Bauherren tut.
Ich glaube deshalb, dass wir noch mehr Wert darauf legen müssen, dass die Regierung nicht nur Förderungsmöglichkeiten schafft, sondern auch Sorge dafür trägt,
dass diejenigen, die Privateigentum in den Städten haben, die ihre Immobilien meistens schneller, preiswerter
und vorbildlicher als die kommunalen Wohnungsgesellschaften saniert haben, die die Hauptlast der bisherigen
Politik getragen haben, in Zukunft nicht mit noch mehr
Lasten befrachtet werden. Weitere Belastungen sind jedenfalls aus Sicht der FDP nicht mitzutragen.
({3})
Abschließend möchte ich zu der Frage, welche Auswirkungen die demografische Entwicklung - darüber
sprechen wir morgen - auf die Struktur unserer Städte
hat, eines ehrlich sagen: Man kann keine Wohnung in
der Innenstadt haben, in der es so ruhig wie auf dem
Lande ist; das wird nicht funktionieren. Deswegen gehört es zu einer ehrlichen Diskussion, darauf hinzuweisen, dass bestimmte liebgewonnene Privilegien des
Wohnens auf dem Land in Innenstädten nicht zu haben
sind. Auch das müssen wir berücksichtigen, wenn wir
die Städte mit neuen Grenzwerten und neuen belastenden Richtlinien konfrontieren.
Herzlichen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass wir die Debatte über die thematische
Strategie für die städtische Umwelt heute führen, an einem Tag, an dem die europäischen Bauminister in Leipzig über die Leipzigcharta nicht nur beraten, sondern
- wie wir alle wissen - vor wenigen Stunden auch entschieden haben.
Auf diesem Gebiet herrscht auch in diesem Haus
überwiegend Konsens darüber, dass wir mehr ganzheitliche Strategien und ein besser abgestimmtes Handeln aller am Prozess der Stadtentwicklung beteiligten Personen und Institutionen brauchen. Dies gilt über die
Grenzen der einzelnen Städte und Gemeinden hinaus; es
gilt auch für den Wettbewerb zwischen den Städten und
dem ländlichen Raum. Ob lokal, regional, national oder
europäisch: Jede Ebene trägt Verantwortung für die Zukunft unserer Kommunen.
Deshalb ist es nur konsequent, wenn wir uns auch im
Deutschen Bundestag Gedanken darüber machen, wie es
gelingt, auf der einen Seite durch ein neues Verantwortungsbewusstsein Rahmenbedingungen für eine verbesserte integrierte Stadtentwicklungspolitik zu schaffen
und auf der anderen Seite das wertvolle Gut der kommunalen Selbstverwaltung und der kommunalen Planungshoheit zu sichern.
Deutsche Städte und Gemeinden haben durch ihre
hohe Baukultur sowie durch die kulturelle und soziale
Vielfalt wirklich etwas zu bieten. Wir müssen den Kommunen die Chance geben, diese gute Grundlage weiter
auszubauen und negativen Entwicklungen frühzeitig entgegenzusteuern. Dazu gehört auch eine angemessene
Finanzausstattung. Es ist unsere Aufgabe als Gesetzgeber, finanziell dafür zu sorgen, dass die Städte und Gemeinden ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich
wahrnehmen können. Es ist aber auch unsere Aufgabe,
darauf zu achten, dass die Europäische Union nicht ständig ureigene kommunale Angelegenheiten in ihre Zuständigkeit holt.
Mit der thematischen Strategie für die städtische Umwelt, über die wir heute debattieren, erleben wir erneut
ein Musterbeispiel, wie vonseiten der Europäischen
Union versucht wird, in die kommunale Planungshoheit einzugreifen. Das politische Ziel im Sinne der
Lissabonstrategie, die Umweltsituation in Städten zu
verbessern und sie so als Orte für Leben, Arbeit und Investitionen attraktiver zu machen, ist unbestritten richtig.
Es ist auch in Ordnung, wenn sich die Europäische
Kommission und das Europäische Parlament mit dem
Leitbild einer nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklungspolitik auseinandersetzen. Ich sage aber auch
ganz deutlich: Wir wollen keinen Eingriff in die Planungshoheit der Kommunen durch Europa.
({0})
Wir sind dankbar, dass die Europäische Kommission
- das wurde vorhin bereits gesagt - nach unserer Debatte
vor zwei Jahren zum gleichen Thema aufgrund unseres
parlamentarischen Widerstandes und auch des Widerstandes vieler anderer nationaler Parlamente ihre Eingriffe in das kommunale Planungsrecht aufgegeben hat
und nun nur noch von Empfehlungen und Hinweisen zur
Wahrnehmung des Subsidiaritätsprinzips spricht.
Es erstaunt aber schon, wenn nun das Europäische
Parlament uns in den Rücken fällt. Wir finden es nicht
gut, wenn unter Federführung des dafür zuständigen sozialistischen Berichterstatters das Europaparlament für
jede städtische Siedlung mit über 100 000 Einwohnern
einen Plan für nachhaltiges Stadtmanagement und einen
Plan für nachhaltigen städtischen Verkehr mit den dazugehörenden Berichten fordert. Diese zentralistische
Tendenz lehnen wir entschieden ab.
({1})
Städte sind sehr wohl auch ohne europäische Vorgaben in der Lage, selbst zu beurteilen, ob, wo und wann
Handlungsbedarf besteht.
({2})
Unabhängig davon wird kaum jemand behaupten, dass
wir in Deutschland einen Mangel an Plänen oder einen
Mangel an Berichten hätten. Dies gilt vor allem im Umweltbereich. Wir haben vielmehr eher ein Anwendungsund ein Durchsetzungsproblem in unserem Land.
Um das Übel, über das wir diskutieren, konkret beim
Namen zu nennen: Wir brauchen keinen durch die EU
regulierten zusätzlichen Plan für städtisches Umweltmanagement. Auch für einen nachhaltigen städtischen
Verkehr brauchen wir keine neue EU-Vorschrift.
({3})
Schon gar nicht brauchen wir eine Berichtspflicht der
Kommunen gegenüber Brüssel.
({4})
Lassen Sie es mich so zusammenfassen:
Erstens. Niemand hat ein Problem damit, wenn sich
die Europäische Kommission und das Europäische Parlament mit einer thematischen Strategie für die städtische Umwelt befassen.
Zweitens. Deutsche Städte und Gemeinden können
dabei eine Vorbildfunktion übernehmen.
Drittens. Die vom Europäischen Parlament geforderten verbindlichen und zusätzlichen europäischen Regelungen widersprechen eindeutig dem Subsidiaritätsprinzip.
Viertens. Eingriffe der Europäischen Union in die
kommunale Planungshoheit und neue bürokratische Vorhaben sind das falsche Signal. Wir lehnen sie deshalb genauso wie bereits vor zwei Jahren erneut ab.
Wir wollen ein Europa, in dem die Menschen ihre nationale, regionale und lokale Identität bewahren können.
Das ist möglich, wenn den gewählten Bürgervertretern
auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene eigenständige Gestaltungsspielräume erhalten bleiben.
Wir wollen ein Europa, das in der Bevölkerung eine
hohe Akzeptanz genießt. Das ist umso leichter erreichbar, wenn sich die Europäische Union auf die international wichtigen Zukunftsthemen der Gemeinschaft konzentriert. Alles, was auf der unteren politischen Ebene,
also auf der kommunalen Ebene vor Ort, geregelt werden kann, soll dort nahe an den Menschen entschieden
werden.
Das Thema Stadt ist unter vielerlei Gesichtspunkten
ein wichtiges Zukunftsthema. Die Europäische Union
darf nicht nur, sie muss sich damit befassen. Aber sie
soll Zukunftsperspektiven entwickeln: in der Energiepolitik, in Klimafragen oder im Umgang mit der zunehmenden Erderwärmung, zum Beispiel mit den damit
verbundenen Hitzewellen, die vor allem in den Ballungsräumen die großen Städte schnell zu politischem
Handeln zwingen werden. Auch kann und soll sie einen
Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen den
Mitgliedstaaten und den Kommunen über die Ziele einer
nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik organisieren. Das
alles ist zu begrüßen; es ist richtig und notwendig. Aber
dazu bedarf es weder einer europäischen Rechtsetzung
noch einer neuen Bürokratie aus Brüssel.
Wichtig ist uns in diesem Zusammenhang, dass der
europäische Diskussionsprozess über die strategische
Ausrichtung der Stadtentwicklungspolitik auch in unserem Land auf nationaler Ebene fortgesetzt wird. In diesen dringend notwendigen Dialog müssen die Länder,
die Kommunen, aber auch die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft genauso wie die Stadtplaner und Architekten sowie viele andere auf diesem Gebiet handelnde Akteure einbezogen werden. Wir bitten deshalb die
Bundesregierung, für diesen aus meiner Sicht notwendigen Dialog ein geeignetes Forum zu schaffen. Wir als
Parlamentarier sind bereit und gewillt, daran aktiv mitzuwirken.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In Tokio, Shanghai und vielen anderen explodierenden Städten der Welt tragen viele Menschen bereits heute rund um die Uhr Atemschutzmasken. Mit
dem europäischen Siedlungstrend, Metropol- und Ballungsräume weiter auszubauen und zu fördern, entwickeln wir uns genau in die gleiche Richtung. In den
Städten ist der Verbrauch von Umweltressourcen am
größten, und die Siedlungsbelastungen sind am höchsten. Der Nettobodenverbrauch in Deutschland beträgt
täglich mehr als 11 Hektar Fläche. Wir brauchen eine
ausgewogene Flächenbilanz und Freiräume, in denen
sich Schadstoffbelastungen dort ausgleichen lassen, wo
sie entstehen, also in den Städten.
Nun schlägt das Europäische Parlament - eigentlich
längst überfällig - vor, für Europa thematische Strategien für die städtische Umwelt vorzugeben. Es liegt
schon allein im Namen klar auf der Hand, dass es sich
um die Umweltverbesserung in den Städten handeln soll.
Jetzt aber kommen Sie, meine Damen und Herren Koalitionäre, mit einer Beschlussempfehlung, in der es heißt
- ich zitiere -:
Eingriffe in die Planungshoheit der Kommunen
werden abgelehnt.
Gleichzeitig befürworten Sie allerdings - das haben Sie
in Ihren Redebeiträgen eben auch dargestellt - in derselben Drucksache, dass Sie sich den inhaltlichen Strategien fast vollständig anschließen. Das heißt übersetzt für
mich: Wasch mich, aber mach mich bitte nicht nass.
Sollen die Umweltstrategien wie eine Art Ehrenkodex
der Kommunen verstanden werden? Meinen Sie, dass
sich die Städte in Europa, die sich im harten Konkurrenzkampf um Wirtschaftsansiedlung und Arbeitsplätze
schon heute gegenseitig mit Lockangeboten überbieten,
an einen solchen Ehrenkodex halten werden?
Umweltfragen sind keine lokalen, sondern nationale
und globale Fragen, die auch nur auf diesen Ebenen lösbar sind. Dazu ist es erforderlich, dass sich jeder in gleicher Weise an Vereinbarungen halten muss. Ausgerechnet da wollen Sie auf die kommunale Planungshoheit
pochen? Diese Konsequenz wünschte sich die Linke in
vielen anderen politischen Fragen von Ihnen.
({0})
Die Linke unterstützt die in der Entschließung des
Europäischen Parlaments vorgeschlagenen Maßnahmen, die die Umwelt und die Menschen schützen und für
eine nachhaltige Stadtentwicklung sorgen sollen. Von
der Bundesregierung erwarten wir daher, dass sie sich in
Fragen der Umweltpolitik an EU-Maßstäben orientiert.
Wir erwarten gerade im Sinne einer nachhaltigen Stadtplanung im europäischen Maßstab, dass ganzheitliche
Stadtentwicklungskonzepte als Grundlage der Weiterentwicklung der städtischen Lebensqualität erarbeitet werden, welche die soziale, kulturelle und ökologische Dimension der Stadtentwicklung berücksichtigen. Wir
erwarten mehr Engagement für den ÖPNV statt eine
Kürzung der dafür notwendigen Regionalisierungsmittel. Das Prinzip der Mobilität für alle ist ein soziales
Prinzip, dem Rechnung getragen werden muss. Die
jüngste Debatte um den CO2-Ausstoß bei Pkws zeigt,
welch lobbyistisches Verhältnis die Bundesregierung
und deutsche EU-Kommissare zu wirkungsvollen Maßnahmen für den Umweltschutz haben, wenn es ganz
konkret wird.
Wir erwarten, zum Erhalt historischer Zentren und
natürlicher Lebensräume die Sanierung von Siedlungskernen zu fördern und dem Bebauungsdruck durch
Schutzgebiete in Städten und Siedlungsrandgebieten zu
begegnen. Wir erwarten, dass in der Stadtplanung bei der
Ausweisung neuer städtischer Siedlungen der Ausweisung von Grünflächen stärker Beachtung geschenkt
wird, um Naturflächen zu erhalten und den Bezug der
Menschen zur Natur zu fördern, und nicht, wie jüngst
von Ihnen hier beschlossen, eine Bebauung im innerstädtischen Bereich ohne Umweltprüfung. Wir erwarten,
in der öffentlichen Auftragsvergabe etwa zum Zwecke
der energetischen Gebäudesanierung und der Nutzung
erneuerbarer Energien regelmäßig auf Nachhaltigkeitskriterien Bezug zu nehmen, anstatt immer dem billigsten
Gebot den Vorrang zu geben.
Ich sage es noch einmal: Die Linke begrüßt, dass das
EU-Parlament das Leitbild einer nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklung verfolgt. Allerdings misstraut
die Linke aus den eben genannten Gründen der Umweltpolitik der Bundesregierung und glaubt nicht, dass die
gegenwärtigen nationalen Rechtsvorschriften ausreichen werden, einen Beitrag zu einer nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklungspolitik zu leisten. Da müssen wir schon noch etwas nachlegen. Daher werden wir
die vorgeschlagene Entschließung nicht mittragen.
({1})
Heute und morgen findet das Treffen der für Regionalentwicklung zuständigen EU-Minister in Leipzig
statt, das mit der Verabschiedung einer Leipzigcharta
schließen soll. Wir begrüßen die Leipzigcharta als eine
Form der Auseinandersetzung mit dringenden, ja existenziellen Problemen unserer Zeit, die ihre Ursachen in
der städtischen Entwicklung haben. Allerdings darf man
von den Fachministern der Mitgliedstaaten der EU mehr
als einen Problemaufriss und unverbindliche sowie verschwommene Leitlinien erwarten. Da ist das Europäische Parlament bereits weiter.
Danke schön.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Peter Hettlich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben über dieses Thema schon vor wenigen Wochen im Ausschuss ausführlich debattiert. Das
vorliegende Dokument des Europäischen Parlaments hat
durchaus sehr viele positive Anregungen; das hat Kollege Bartol eben hervorgehoben. Es legt an vielen Stellen die Finger in die Wunden, auch wenn manche Formulierungen etwas originell sind. Wenn ich zum
Beispiel unter Punkt 17 von der Förderung der Kompostierung lese, dann frage ich mich: Was hat das eigentlich
in einem solchen Papier zu suchen? Für uns besteht hier
schon lange Handlungsbedarf.
Ich halte es aber für durchaus rührend, wie sehr sich
das Parlament bemüht hat. Es ist in diesem Dokument
eine Reihe wichtiger Forderungen enthalten, zum Beispiel die Forderung nach einem nachhaltigen Stadtmanagement, einem nachhaltigen städtischen Verkehr und
einer nachhaltigen Stadtplanung. Ich glaube, das können
alle Kollegen aus allen Fraktionen unterschreiben.
({0})
Lieber Horst Friedrich, wir vertreten zwar, was die
kommunale Planungshoheit und die kommunale Selbstverwaltung angeht, den gleichen Standpunkt wie die
meisten Redner heute Abend hier. Daran möchten wir
auch nichts ändern. Aber wir sehen natürlich, dass bestimmte Dinge nicht unbedingt so gut laufen, wie wir
uns das manchmal wünschen. Das kennen wir aus unseren eigenen Kommunen. Insofern sollte man nicht immer so tun, als ob wir, was die Vorschläge des Europäischen Parlamentes angeht, über jeden Zweifel erhaben
sind.
Schauen wir es uns einmal realistisch an: Wie steht es
denn mit der städtischen Umwelt tatsächlich? Wir haben
noch eine ganze Menge Probleme. Wenn ich einmal
ganz ehrlich bin, muss ich feststellen, dass es uns in den
letzten Jahren trotz vielfältiger Anstrengungen eigentlich
nicht gelungen ist, wirklich signifikante Verbesserungen
herbeizuführen. Schauen wir uns einfach nur die Fakten
an. Warum gibt es eine Suburbanisierung? Warum gibt
es nach wie vor eine ungebremste Stadtflucht der Menschen mit all ihren weitreichenden Konsequenzen: Zersiedelung, Flächenverbrauch - das hat die Kollegin
Bluhm eben angesprochen -, einem Zuwachs an beheizten Flächen? Ich habe es heute einmal ausgerechnet: In
den letzten 15 Jahren sind allein über 600 Millionen
Quadratmeter an Wohnflächen hinzugekommen - mit
weitreichenden Konsequenzen im Hinblick auf eventuelle CO2-Einsparungen. Das heißt, es gibt hier kontraproduktive Entwicklungen. Wir müssen etwas dagegen
tun. Das Gleiche gilt für den zusätzlichen Verkehr, der in
diesem Bereich induziert wird. Hier haben wir erheblich
etwas zu tun.
Lieber Kollege Döring, wenn Sie es nicht ernst nehmen, dass städtische Umwelt mehr ist als einfach nur
eine Hülle, in der man ein Gewerbe oder Geschäfte betreibt, dann sollten Sie sich einmal anschauen, was passiert, wenn sich diese Städte einfach entleeren. Sie brauchen dazu nicht zu uns nach Sachsen zu kommen. Gehen
Sie nach Nordrhein-Westfalen und schauen Sie sich einmal an, wie die Innenstädte von Höxter und Iserlohn allmählich ausbluten. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wenn
das so weitergeht, dann gibt es dort kein Gewerbe mehr.
Dann können Sie dort keine Geschäfte mehr machen,
und dann gibt es das, was Sie eben beschworen haben:
den Wertverlust von Immobilien. Sie sollten sich fragen:
Wo ist hier Ursache und Wirkung?
Ich sage an dieser Stelle: Wenn wir die Förderung der
städtischen Umwelt nicht energischer angehen und dafür
sorgen, dass die Menschen in den Städten bleiben, dann
bleibt im Prinzip alles andere weit hinter dem zurück,
was wir uns vorstellen.
({1})
- Ich spreche hier gar nicht über Brüssel - das habe ich
ganz am Anfang abgehakt -, mir geht es darum, an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich zu sagen, dass wir
uns auf die Fahnen schreiben müssen, dass wir bei der
städtischen Umwelt etwas machen müssen.
Die Feinstaubrichtlinie - der Kollege Bartol hat es
anklingen lassen - ist ein Beispiel dafür,
({2})
wie gut gemeinte Sachen nicht funktionieren. Ich
stimme mit dem Kollegen überein, dass wir bestimmte
Aspekte der Umsetzung völlig unterschätzt haben. Was
machen wir jetzt eigentlich, wenn wir die EU-Richtlinie
für andere Luftschadstoffe umsetzen müssen? Beispielsweise ist Benzol ein Stoff, der in 1,20 Metern Höhe besonders unsere Jüngsten belastet. Ein Desaster wie bei
der Umsetzung der Feinstaubrichtlinie können wir uns
nicht erlauben.
({3})
Last, but not least will ich ein Hohelied auf die Kommunalpolitiker singen. Sie haben einen verdammt harten
Job, sie arbeiten in weiten Teilen ehrenamtlich. Wir fordern immer mehr von ihnen. Ich sage Ihnen: Das, was in
den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommt,
vor allen Dingen auf die Kommunen, wird für die Kommunalpolitiker noch einmal eine deutliche Arbeitssteigerung bedeuten. Gerade der demografische Wandel kann
nicht von uns, vom Bundestag aus, bewältigt werden, sondern muss lokal, vor Ort, angegangen werden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kommunen gestärkt werden,
und wir müssen dafür sorgen, dass die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker gestärkt werden, vor allen Dingen in ihren demokratischen Mitwirkungsrechten.
({4})
Da haben wir noch eine Menge zu tun. Ich bitte die Kollegen und Kolleginnen aus den Landesparlamenten, mit
ihren Ministern und mit ihren Ministerpräsidenten zu
sprechen. Hier liegt nämlich noch einiges im Argen.
Danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/4608 zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung über die Entschließung des Europäischen Parlaments zur thematischen Strategie für die
städtische Umwelt. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung ab. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({0}), Jan Mücke, Patrick Döring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Finanzierung des Transrapid jetzt sicherstellen und alle Mittel auf die Strecke Hauptbahnhof München-Flughafen München konzentrieren
- Drucksache 16/1165 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Horst Friedrich für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
… der Transrapid ist unter technologischen Aspekten eine sehr interessante und anspruchsvolle
Entwicklung, ein Vorhaben, das insoweit durchaus einer zukunftsorientierten Technologiepolitik
entspricht.
Es ist richtig, daß man einem derartigen technologischen Sprung nicht mit den Maßstäben oder gar
Ideologien von vorgestern gerecht werden kann.
Dies schrieb der damalige SPD-Vorsitzende Rudolf
Scharping 1995 an den Betriebsratsvorsitzenden der
Thyssen Henschel GmbH in Kassel, der sich schon damals aus Angst um die Arbeitsplätze in Kassel an die
SPD gewandt hatte mit der Bitte, diese Technik endlich
umzusetzen.
({0})
Wir warten heute noch darauf.
Wer den Bereich „Clusterbildung und hochinnovative
Leuchtturmprojekte“ der Koalitionsvereinbarung der
Großen Koalition studiert hat, konnte den Glauben bekommen, dass jetzt endlich kräftig angepackt wird. Denn
da steht zu lesen:
Der Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Technologiestandorts Deutschland dienen ausgewählte innovative Leuchtturmprojekte,
wie zum Beispiel … der Ausbau von Bahnschnellsystemen, unter anderem mindestens einer Transrapid-Referenzstrecke in Deutschland.
So weit, so schlecht.
({1})
Damit bin ich wieder bei der SPD. Der ehemalige Kollege Klaus Daubertshäuser hat in einem seiner wenigen
Bücher geschrieben, der Transrapid sei eine hervorragende Technik für den Fernverkehr.
1999 hat die erste Regierung Schröder die Strecke
Hamburg-Berlin unter anderem mit dem Argument gekippt, man könne die Technik zwar durchaus in Deutschland umsetzen, aber bitte nicht im Fernverkehr, sondern
im Nahverkehr. Man hat der Industrie damals zugesagt,
mit dem Ende des Projektes Hamburg-Berlin würden
die im Bundeshaushalt noch vorhandenen 2,2 Milliarden
Horst Friedrich ({2})
für die Ansetzung wenigstens einer Strecke umgesetzt
werden.
Man hat sich dann auf die Suche nach einer Strecke
im Nahverkehr gemacht. Man hat zunächst einmal fünf
Strecken ausgewählt und untersucht. Im ersten Screening blieben zwei Strecken übrig, eine in NRW und eine
in Bayern. Die Strecke in NRW ist aus Gründen, die ich
hier nicht näher erläutern muss, von NRW zurückgezogen worden. Die Strecke in Bayern blieb übrig. Die
Deutsche Bahn, die das Projekt mittlerweile plant, hat
mehrfach erklärt - zum letzten Mal am 9. Mai dieses
Jahres gegenüber der FDP-Fraktion in Gestalt ihres Vorsitzenden Hartmut Mehdorn -, dass die Deutsche Bahn
dieses Projekt in München nicht nur plant, sondern auch
bauen und betreiben will, weil sie es für notwendig hält.
Er hat deutlich gemacht, dass eine S-Bahn, egal wie sie
ausgestaltet ist, das Problem in München nicht lösen
wird. Ganz abgesehen davon, hat Hartmut Mehdorn
deutlich gemacht: Wenn der Transrapid in München
nicht kommt, gibt es auch keine S-Bahn; denn das Geld
steht nur für den Transrapid zur Verfügung. So weit ist
die Deutsche Bahn.
({3})
- Herr Kollege Bartol, wo Hartmut Mehdorn recht hat,
da gebe ich ihm auch recht.
({4})
Die rot-grüne Bundesregierung hat die Finanzierungs- und Planungsgrundlagen für den Transrapid in
Deutschland ab 1999 durch einen Kunstgriff entscheidend verschlechtert. Man ist von einem Bundesprojekt
mit bundespolitischer Planungskompetenz dazu übergegangen, zu sagen: Der Transrapid im Nahverkehr ist
zwar ein wichtiges Technologieprojekt, aber es ist ein regionales Projekt; daher müssen die Länder mit ins Boot.
Nirgendwo steht, dass man das wie eine Monstranz auf
Dauer vor sich hertragen muss. Was hindert uns, den Gesetzgeber, eigentlich daran, das wieder aufzuheben?
Eines ist klar: Sehr viel Zeit für die Umsetzung der
Technologie in Deutschland haben wir nicht mehr. Am
Ende des letzten Jahres hat es ja schon ein bisschen gekriselt. Da ging es darum, auf welcher Grundlage Planungsmittel für die Deutsche Bahn, die im Haushalt des
Bundes schon eingestellt waren - wohlgemerkt: vom
Haushaltsausschuss eingestellt -, ausgezahlt werden
könnten. Der Finanzminister hat gesagt, der Beschluss
des Bundestages reiche ihm nicht aus. Da hat man sich
famos darüber gestritten, auf welcher Basis das erfolgen
könnte. Das hätte fast dazu geführt, dass die Planungsgesellschaft der Deutschen Bahn aufgelöst und die Leute
entlassen worden wären.
({5})
Fakt ist, dass Thyssen als einer der wesentlichen
Technologieträger in der Industrie die entscheidenden
Leute in diesem Bereich mittlerweile woanders beschäftigt. Es handelt sich um eine Aktiengesellschaft. Da fragen die Aktionäre, wie viel Zeit- und Geldaufwand, wie
viel Energie man noch in ein Projekt steckt, von dem
man nicht sicher sagen kann, dass es in Deutschland tatsächlich umgesetzt wird. Eine Aktiengesellschaft muss
die Technologie, die sie entwickelt hat und auf die sie
das Patent hat, verkaufen, solange ein potenzieller Käufer - das kann eigentlich nur einer sein - das Ganze noch
nicht geschenkt bekommen muss, weil er weiß, dass die
anderen keinen Entscheidungsspielraum mehr haben. Es
muss noch ein bisschen Werthaltigkeit dahinterstecken.
Das ist die eigentliche politische Führungsaufgabe.
Deswegen sage ich noch einmal: Natürlich können
Sie diesen Antrag mit Ihrer Mehrheit ablehnen. Sie haben ja schon seine Aufsetzung lange verzögert. Ihr entscheidendes Problem ist aber, dass Sie daran gemessen
werden, ob Sie das, was Sie in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben haben, das, was Sie der Industrie
am laufenden Band versprochen haben, auch umsetzen.
Dieses Problem werden Sie nicht los. Daran werden wir
Sie messen. Daran werden Sie sicherlich auch die Betriebsräte von Thyssen Henschel messen. Ich bin gespannt, was Sie denen erklären. Der Kollege Berg hat
nun, wo man bei der Nahverkehrsstrecke München vielleicht einen Durchbruch erzielen könnte, erklärt - das
habe ich heute gelesen; das ist spannend -, dass man den
Transrapid im Nahverkehr nicht akzeptieren könne, er
im Fernverkehr aber eine gute Lösung wäre. Was wollen
Sie eigentlich tatsächlich? Wissen Sie eigentlich noch,
was Sie erklären?
In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion im
Ausschuss.
({6})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich hat das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Horst Friedrich, dieser Antrag
ist nicht unsachgemäß verzögert worden, sondern genau
zum richtigen Zeitpunkt aufgesetzt worden, nämlich
jetzt, wo wir in die entscheidende Phase um die Zukunft
des Transrapid kommen. Ich bin sehr dankbar, dass wir
heute darüber reden können. Ich finde es ein bisschen
schade, dass es 21.15 Uhr ist und wir nicht ein bisschen
früher darüber reden konnten. Denn es ist ein wichtiges
Thema, bei dem dieses Hohe Haus eine große Verantwortung hat.
Wir sind in München hinsichtlich der Planungen in
der Endphase. Die Anhörungen laufen seit Februar dieses Jahres. Wir erwarten eine Stellungnahme der Bezirksregierung und werden noch in diesem Jahr Baurecht
haben. Jetzt ist es Zeit, den Leuchtturm aufzustellen, anzumalen und in Betrieb zu setzen, von dem in unserer
Koalitionsvereinbarung die Rede ist.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({0})
({1})
Es handelt sich hierbei auch um ein Symbolthema.
Warum haben die Chinesen den Transrapid gebaut?
({2})
Sie haben es nicht nur deshalb getan, weil sie einen Zubringer zu ihrem Flughafen brauchten, sondern auch
weil sie eine Demonstration abliefern wollten: Wir wagen den Aufbruch in eine neue Technologie, um die Zukunft zu gewinnen. Umgekehrt wäre unser Versagen,
den Transrapid in Deutschland nicht bauen zu können,
ein ganz besorgniserregendes Signal hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit dieses Landes.
({3})
Wenn man die Zukunft gewinnen will, reicht es nicht
aus, den Globalisierungsgegnern eine Thermoskanne
Kaffee zu bringen. Man muss die Chancen der Globalisierung ergreifen, indem man die Möglichkeiten, die
man hat, weltweit mit einem solchen Projekt nutzt. Es
gibt genügend Anstrengungen. Bis 1999 ist viel Geld
aufgewendet worden. Bedauerlicherweise fiel dann die
Entscheidung, die Strecke Hamburg-Berlin nicht zu
bauen. Fünf Strecken - Kollege Friedrich hat es gesagt sind untersucht worden. Ich sage: In München ist die
letzte Chance. Wenn wir in München nicht bauen, wird
es keine Transrapidstrecke in Deutschland geben.
({4})
Im Übrigen sind die Chinesen entschlossen - sie machen keinen Hehl daraus -, den Transrapid weiterzuentwickeln. Sie sagen: Wir wollen den Transrapid nicht nur
weiterhin bauen - sie sind ja in einer Art Planfeststellung -, sondern auch weiterentwickeln. Ich sage Ihnen:
In zehn Jahren wird niemand mehr davon reden, dass
deutsche Ingenieure dieses Projekt unter anderem mit
deutschen Steuergeldern entwickelt haben. Wenn wir
nicht aufpassen, wird es ein chinesisches Projekt sein.
Deswegen ist es Zeit, dass wir Nägel mit Köpfen machen.
({5})
Im Übrigen möchte ich auf Folgendes hinweisen
- das geht in der öffentlichen Diskussion in Deutschland
viel zu sehr unter -: Es gibt überall in der Welt Überlegungen, den Transrapid - man ist bei den Projekten unterschiedlich weit - in die Realität umzusetzen.
({6})
Die USA haben inzwischen viel Geld in die Hand genommen, um ihre möglichen Strecken auszuwählen. Wir
werden voraussichtlich eine an der Ostküste und eine an
der Westküste sehen. Auf der britischen Insel denkt man
über ein Projekt nach. In anderen Teilen der Welt wird
man diese Technologie anwenden wollen.
Insofern, denke ich, muss man die Exportchance, die
in diesem Projekt liegt, sehen: Wertschöpfung, Arbeitsplätze, auch bei den Dienstleistungen, die sich um die
Realisierung des Projekts ranken. Da ist einiges zu holen. Es ist insbesondere ein Symbol für das Innovationsklima, das wir in diesem Land haben. Ich kann an die
Finanzpolitiker, Haushälter und Finanzminister nur appellieren, jede buchhalterische Kleinkrämerei beiseitezulegen und sich zu vergegenwärtigen, dass die Gutachten sagen: Jeder Euro, den wir in dieses Projekt stecken,
kommt in vierfacher Weise zurück oder zumindest - je
nachdem, welchem Gutachten man mehr Vertrauen
schenkt - in zweieinhalbfacher Weise.
Lassen Sie mich ein Wort zum Thema München sagen: Ja, es ist in München ein Nahverkehrsprojekt, weil
man leider - ich habe es heute in einer Presseerklärung
der Grünen oder der SPD gelesen - einen Geburtsfehler
beim Bau des Flughafens München zu beklagen hat,
weil man, als er damals geplant wurde, die Zukunft des
Verkehrsträgers Schiene unterschätzt hat. Ich rate dazu,
das im Zusammenhang mit einer anderen Entscheidung,
die wir zu treffen haben, nicht noch einmal zu tun.
Ich glaube aber auch, dass das eine Riesenchance für
die Stadt München ist, sich als Technologie- und Informationshauptstadt in Europa zu beweisen.
({7})
Deswegen ist mir völlig unbegreiflich, wieso der Oberbürgermeister von München glaubt, dass er das nicht nötig hat.
({8})
Ich kann nur sagen: Hochmut kommt vor dem Fall.
({9})
Wer glaubt, dass er es nicht mehr nötig hat, um die Zukunft zu kämpfen, der hat die Zukunft verloren. Deswegen bedaure ich außerordentlich, dass die Chancen dieses Projekts in der Münchner Kommunalpolitik
offensichtlich nicht in ausreichendem Maße zur Kenntnis genommen werden.
Ja, das ist auch ein Nahverkehrsprojekt. Deswegen
ist die Forderung gerechtfertigt, dass sich Bayern an den
Kosten beteiligen soll. Bayern hat sich großzügig gezeigt. 300 Millionen Euro wurden zugesagt, und sie liegen bereits auf dem Tisch. Darüber lässt sich reden.
({10})
- Entschuldigung. Wenn ich mich richtig erinnere,
machte die Zusage für den Metrorapid in NordrheinWestfalen 2 Milliarden aus. Das entspricht, umgerechnet
auf das Projekt in Nordrhein-Westfalen, 62,5 Prozent.
Das ist der Maßstab, mit dem wir auch das Projekt in
Bayern beurteilen sollten.
Letzten Endes geht es nicht darum, ob Bayern
300 Millionen Euro oder 320 Millionen Euro zahlt, sondern um die Frage: Handelt es sich um ein Landesprojekt, nur weil es eine Nahverkehrsfunktion hat? Nein, es
Dr. Hans-Peter Friedrich ({11})
handelt sich um ein Bundesprojekt. Es wird nicht dadurch zum Landesprojekt, dass es eine Zubringerfunktion in Richtung Münchner Flughafen umfasst.
Dieses Hohe Haus hat eine große Verantwortung. Wir
müssen im Deutschen Bundestag möglichst schnell eine
Grundsatzentscheidung treffen. Das kann im Grunde nur
geschehen, indem vonseiten der Bundesregierung umgehend ein entsprechendes Bundesgesetz vorbereitet wird,
in dem geklärt wird, wie man mit diesem Bundesprojekt
fortfahren will und wer wie beteiligt werden soll.
Es ist zum Beispiel die Rede von der Flughafengesellschaft München. Das ist vernünftig; denn die Flughafengesellschaft München profitiert vom Transrapid. Es ist
auch die Rede von der Deutschen Bahn; es ist erfreulich,
dass sie sich beteiligen will. Aber die Grundlage all dessen muss ein Bundesgesetz sein, das in diesem Hohen
Hause beraten und beschlossen werden muss.
Hier haben wir eine große Verantwortung. Ich warne
davor, zu glauben, man könne sich sozusagen auf kaltem
Wege vor dieser Entscheidung drücken, indem man sagt:
Die Bayern zahlen zu wenig, das Geld reicht nicht aus.
({12})
Es kommt auf die politische Grundsatzentscheidung an.
Es geht darum, ob dieses Hohe Haus den Willen und die
Durchsetzungskraft hat, das Transrapidprojekt als Zukunftsprojekt zu realisieren oder nicht. Das ist die grundlegende Entscheidung, die zu treffen ist.
({13})
Wenn diese Entscheidung getroffen wurde, reden wir
darüber, ob wir von dem einen oder anderen noch die
eine oder andere Million brauchen. Aber das kommt später. Ich jedenfalls glaube, dass hier Ja oder Nein gesagt
werden muss. Jeder von uns hat eine Verantwortung dafür, ob der Transrapid in Deutschland zu einer Erfolgsstory wird. Er hat das Zeug dazu. Jetzt liegt es an uns.
Vielen Dank.
({14})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat jetzt das Wort
für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute liegt uns ein Antrag vor, in dem nach milliardenschweren Subventionen gerufen wird. Verfasst hat ihn
ausgerechnet der Gralshüter der Marktwirtschaft in diesem Haus: die FDP. Sie wollen Staatsknete für ein verkehrspolitisch wie wirtschaftlich sinnloses Projekt: für
den Transrapid vom Münchner Hauptbahnhof zum Flughafen.
Natürlich haben die Liberalen Verbündete in der Regierungskoalition; das haben wir gerade feststellen können. Vom Sparen ist keine Spur. Sonst sind sie nicht so
zimperlich. Wenn es darum geht, den Ärmsten der Gesellschaft Zuwendungen zu streichen, wird natürlich
nicht so lange diskutiert.
Die Firmen Siemens - sie ist sehr bekannt und in letzter Zeit in den Schlagzeilen -, Thyssen-Krupp und einige andere haben sich gerade aus jeglicher Finanzierung und jeglicher Risikoübernahme verabschiedet. Sie
freuen sich natürlich über den Berliner Geldregen.
({0})
Für sie ist das Projekt ein Milliardengeschäft, vor allem
dann, wenn sich später ein paar Züge ins Ausland verkaufen lassen. Darüber haben wir ja schon etwas gehört.
Das ist ja auch das Ziel der FDP.
({1})
Was hat das Projekt die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bis jetzt gekostet? Das muss man den Leuten einmal sagen: Seit 1990 hat die Weiterentwicklung der
Technik 560 Millionen Euro gekostet. Hinzu kommen
59 Millionen Euro für die Versuchsanlage im Emsland,
56 Millionen Euro für die Planungen der Route Berlin-Hamburg und der Metrorapid-Strecke in NordrheinWestfalen sowie 11,1 Millionen Euro für Machbarkeitsstudien hinsichtlich der Trasse in Nordrhein-Westfalen
und einer geplanten Linie in Bayern.
({2})
Wir bezweifeln, dass der Transrapid überhaupt irgendwo wirtschaftlich zu betreiben ist. Die Chinesen
werkeln an einem eigenen System, und auch sonst
scheint das Interesse im Ausland eher zurückhaltend zu
sein. Kein Wunder: Der Transrapid ist viel zu teuer, um
wirtschaftlich betrieben zu werden. Vielleicht ist das ein
Grund, warum die FDP potenzielle Investoren nicht
nach Schanghai zur Begutachtung des deutschen Wunderwerks schicken will. Schließlich ist die Strecke dort
hochdefizitär. Nicht umsonst steht die ursprünglich geplante Verlängerung der Flughafenanbindung nach
Hangzhou auf dem Prüfstand.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wie
stehen Sie eigentlich zu einem Nutzen-Kosten-Verhältnis der Münchner Stecke von 0,6? Volkswirtschaftlich
würden wir also mit jedem investierten Euro 40 Cent
Miese machen.
({4})
Ich halte das für ein kaufmännisches Fiasko. So sieht das
auch der Bundesrechnungshof. Das sind keine Zahlen
von mir, sie stammen vom Bundesrechnungshof. Wir
halten die teure Magnetschwebebahn für überflüssig. In
München gibt es günstigere und ökologisch bessere Alternativen. Das wissen auch Sie.
({5})
Dass es seit jeher auch Sicherheitsbedenken bezüglich
der Technik gibt - Hagelschlag, Terroranschläge, Wildwechsel bei Bodenführung usw. -, kommt noch hinzu.
Die Bundesregierung hat bislang zudem nie eine Antwort auf die Frage gegeben, warum die Industrie bei der
Finanzierung völlig außen vor gelassen wird. Herr
Tiefensee will trotzdem die Hälfte der Investitionskosten
von 1,85 Milliarden Euro übernehmen, die Deutsche
Bahn macht sich schlauerweise selbst Konkurrenz und
legt 185 Millionen Euro auf den Tisch, und der Münchner Mobilitätsexperte Edmund Stoiber steuert für Bayern
noch einmal 300 Millionen Euro bei, weil durch die
Schwebebahn, wie wir von ihm inzwischen wissen,
der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an
Bayern, an die bayerischen Städte heranwächst,
weil das ja klar ist, weil aus dem Hauptbahnhof
viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.
Genau so ist es auch.
({6})
Ich erteile Heinz Paula das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, wir sind uns über alle Fraktionen hinweg einig,
dass die Erfindung der Magnetschwebetechnologie
zweifelsohne eine Meisterleistung ist. Der Transrapid ist
nachgewiesenermaßen das schnellste bodengebundene
Verkehrssystem mit einem enormen Beschleunigungspotenzial. Dies ist auch ein zentraler Vorteil.
In Zukunft gilt: in zehn Minuten vom Münchner
Hauptbahnhof zum Flughafen. Im Gegensatz dazu die
jetzige Situation - ich kann aus eigener Erfahrung berichten -: Von Augsburg zum Münchner Hauptbahnhof
dauert es 20 Minuten. Danach wird es richtig gemütlich;
denn dann dauert es fast 50 Minuten, um zum Flughafen
zu gelangen.
({0})
Der Transrapid hat gegenüber den konventionellen
Schienenfahrzeugen zweifelsohne eine Vielzahl von
Vorteilen: Der Flächenbedarf ist geringer, die Steigungsfähigkeit ist besser und die Instandhaltung von Weg und
Fahrzeug kommt gegenüber dem Rad-Schienen-System
außerordentlich gut weg. Untersuchungen haben gezeigt,
dass die Instandhaltungskosten beim Fahrzeug um 55 bis
60 Prozent niedriger sind. Beim Fahrweg sind sie sogar
um bis zu 70 Prozent geringer als bei der konventionellen Schiene.
Ein weiterer Vorteil des Transrapids sind zweifelsohne seine geringeren Geräuschemissionen. Bei einer
Geschwindigkeit von circa 300 km/h sind die Lärmemissionen um 50 Prozent geringer als die eines Hochgeschwindigkeitszuges. Bei Testfahrten konnte festgestellt
werden, dass bei dieser Geschwindigkeit ein Unterschied von über 10 dB - also eine Halbierung des wahrgenommenen Lärms - besteht.
({1})
Das ist gerade in der jetzigen Zeit, in der wir uns sehr intensiv mit dem Thema „Belästigung durch Lärm“ beschäftigen, ein nicht zu gering zu achtender Vorteil.
({2})
Insbesondere an den Kollegen Horst Friedrich gerichtet
({3})
ist festzustellen, dass es der Diskussion zweifelsohne
mehr gedient hätte, wenn Sie auf diese pauschalen Vorhaltungen verzichtet hätten, die uns nicht weiterbringen,
und stattdessen den Blick mit mir gemeinsam auf die
Tatsachen gerichtet hätten.
Tatsache ist zum Beispiel, dass sich die Bundesregierung - das haben Sie richtigerweise zitiert - die Förderung neuer, innovativer Technologien zum Ziel gesetzt
hat. Ich kann darauf verzichten, aus Kap. 1. „Wirtschaft
und Technologie“, insbesondere Kap. 1.7. „Clusterbildung und innovative Leuchtturmprojekte“ des Koalitionsvertrages zu zitieren. Das hat dankenswerterweise
der Kollege Horst Friedrich bereits übernommen.
({4})
Die politische Grundsatzentscheidung unseres Koalitionspartners ist mit dieser klaren Koalitionsaussage im
Grunde gegeben, Kollege Friedrich.
Tatsache ist darüber hinaus - das haben Sie bereits
angesprochen -, dass die Technologie im Ausland bzw.
in China hohe Anerkennung findet. Die Strecke in
Schanghai beweist uns täglich die Ausgereiftheit dieses
Systems. Inzwischen hat sie sich zu einer Touristenattraktion entwickelt.
({5})
An die Adresse der Linken gerichtet, ist eine weitere
Tatsache festzuhalten. Der industriepolitische und
volkswirtschaftliche Nutzen einer solchen Strecke - das
ist übrigens eine Voraussetzung für die Mitfinanzierung
durch den Bund - wurde in einem im Herbst 2006 erstellten Gutachten der Universitäten Köln und Hamburg
sehr hoch bewertet.
Tatsache ist des Weiteren, dass für die in München
geplante Strecke das Sicherheitskonzept genehmigt
wurde. Wenn es ein Sicherheitsdefizit gäbe, dann wäre
die Genehmigung sicherlich nicht erteilt worden. Somit
betrachte ich auch das kürzlich vorgelegte Gutachten als
nicht besonders aussagekräftig, zeichnen sich doch die
Gutachter bisher nicht unbedingt dadurch aus, dass sie
sich mit der Transrapidtechnologie näher befasst hätten.
({6})
Sie sind vielmehr Fachleute für die Wirtschaftlichkeit
der Infrastruktur und die Optimierung von Fahrplänen,
die sie hervorragend beurteilen können.
Mein Vertrauen gilt daher klar dem Urteil der anerkannten Fachleute des EBA.
Tatsache ist darüber hinaus - auch das ist ein zentraler
Punkt, Kollege Friedrich -, dass es bereits im November
letzten Jahres zu einer Vereinbarung zwischen dem
Bund, dem Freistaat Bayern und der DB AG gekommen
ist, das Vorhaben als gemeinsames Projekt mit einer gemeinsamen Finanzierung zu handhaben. Ich bin insofern
etwas überrascht, dass das Ganze Ihrerseits nur mit Blick
auf dem Bund betrachtet wird, wie es in dem Antrag der
FDP der Fall ist.
({7})
Tatsache ist die klare Ansage im Bundeshaushalt 2007. Ich darf zitieren:
Die Planung und Realisierung von Anwendungsstrecken für die Magnetschwebebahntechnik dient
der Sicherung der Magnetschwebebahntechnik
und liegt im Interesse des Technologievorsprungs,
des Erhalts der Arbeitsplätze und der Sicherung
des Industriestandortes Deutschland. Die Zuweisungen …dürfen
- das bitte ich genau zu registrieren, Kollege Horst
Friedrich insgesamt 50 Prozent der Investitionskosten nicht
übersteigen.
Das heißt, der Bund trägt nach einer Zusage von Minister Tiefensee insgesamt 925 Millionen Euro der Gesamtinvestitionskosten von 1,85 Milliarden Euro.
({8})
Die Deutsche Bahn finanziert einen weiteren Teil. Der
Freistaat Bayern hat 300 Millionen Euro verbindlich zugesagt.
Jetzt kommen wir zu einer spannenden Frage. Es gibt
eine Finanzierungslücke in Höhe von 375 Millionen
Euro, die geschlossen werden muss. Ich richte insbesondere an die Kollegen aus Bayern den dringenden Appell:
Intervenieren Sie bei den zuständigen Stellen, damit sich
der Freistaat deutlich bewegt! Es geht hier nicht um
Kleinkrämerei, Kollege Friedrich.
({9})
An der Stelle darf ich einen klaren Hinweis an unseren Wirtschaftsminister Glos richten. Der Punkt wird
nicht von ungefähr unter dem Kapitel Wirtschaft behandelt. Der Transrapid ist insbesondere ein wirtschaftsund technologiepolitisches Projekt und obliegt somit
ganz zentral der Mitverantwortung des Ministers Glos.
Ich weise darauf hin, dass wir dringend eine Entscheidung brauchen, um die Exportchancen, die zweifelsohne vorhanden sind - zum Beispiel nach England, in
die USA oder in die Golfstaaten -, nicht zu gefährden
und - das ist ein Hinweis an die Linken - zur Sicherung
von Arbeitsplätzen beizutragen. Es nützt nichts, immer
mit der gleichen Platte - Hartz IV - durch die Lande zu
ziehen und das bei jedem Thema anzubringen. Es geht
konkret um die Sicherung von Arbeitsplätzen.
({10})
Allerdings überrascht mich der Antrag der FDP.
({11})
Wie Sie mit der Finanzierung umgehen, ist wirklich hanebüchen.
({12})
- Sie verlangen permanent neue milliardenschwere Ausgaben. Vor kurzem erst wieder, als es im Ausschuss um
die Gigaliner ging, verlangten Sie Zusatzinvestitionen in
Höhe von 8 Milliarden Euro, um einige Brücken zu verstärken.
({13})
Gleichzeitig sieht die Partei folgende Finanzierungsmöglichkeiten: Ich würde Sie einmal bitten, auf der
FDP-Homepage nach dem Stichwort „Steuersenkung“
zu suchen. Sie kommen nicht auf die Anzahl der Einträge. Es gibt sage und schreibe 387 Einträge. Wie Sie
milliardenschwere Zusatzausgaben und zur gleichen Zeit
gewaltige Steuersenkungen bewerkstelligen wollen,
müssen Sie mir bitte einmal erklären.
({14})
Glaubwürdig ist das Ganze jedenfalls nicht mehr.
({15})
Sie stellen wirklich märchenhafte finanzielle Forderungen, ohne sich auch nur im Ansatz um die Verfügbarkeit der Mittel zu kümmern.
({16})
Das, Kollege Horst Friedrich, würde sich keine Privatperson leisten. Das würde sich kein Unternehmen leisten. Das wird sich erst recht unsere Regierungskoalition
nicht leisten.
({17})
Wir handeln verantwortungsvoll.
Ich bedanke mich.
({18})
Jetzt hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Transrapid - das klingt irgendwie modern.
Verkehrs- und industriepolitisch soll er sinnvoll sein.
Seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich
manche Dinge geändert - leider nicht in den Köpfen vieler Kollegen, aber in der Realität.
({0})
Sie haben offensichtlich noch nicht mitbekommen,
dass ein Rad-Schiene-System im Normalbetrieb inzwischen 320 Stundenkilometer fahren kann, zumindest
teilweise und in Deutschland und Frankreich auch auf
relativ vielen Strecken.
({1})
- Schreien Sie doch nicht, dadurch werden Ihre Argumente auch nicht besser!
({2})
Auf der Strecke zum Münchner Flughafen bringt Ihnen
der Transrapid im Vergleich zu einer Express-S-Bahn
zehn Minuten Zeitersparnis. Wunderschön! Herr Stoiber
hat das in seiner wirren Art ja darzulegen versucht.
({3})
Aber was kostet dieses Projekt? Offiziell werden
1,85 Milliarden Euro angegeben. Das sind die üblichen
Zahlen der Bahn. Kollege Horst Friedrich, Du solltest
wissen, dass diese Zahlen der Bahn nie stimmen!
({4})
Seit wann glaubst Du den Unsinn von der Bahn? Das
wäre ja ganz neu!
({5})
Setzen wir also reale Zahlen an. Nehmen wir eine
wahrscheinliche Zahl: 3 Milliarden Euro. Damit kostet
uns eine Minute Zeitersparnis 300 Millionen Euro. Das
mag die FDP für effektiven und effizienten Steuermitteleinsatz halten. Die Grünen denken so nicht.
({6})
In Zeiten des Klimawandels ist das Geld sinnvoll einzusetzen, und zwar in einen vernünftigen Ausbau des
ÖPNV.
Die Industrie gibt kein Geld dazu, die Bahn gibt widerwillig 185 Millionen Euro und Bayern gibt - wenn es
ehrlich ist - auch kein Geld dazu. Denn im Wirtschaftsministerium in Bayern ist man auch nicht ganz dumm.
Sie können dort sogar ein bisschen rechnen. Deswegen
wissen sie ganz genau, dass das Projekt viel teurer wird.
Bayern will unbedingt, dass es ein Bundesprojekt wird,
damit das Land maximal 300 Millionen Euro zahlen
muss und nicht noch 1 Milliarde Euro zusätzlich. Das ist
der Kernpunkt.
Es ist amüsant, dass ausgerechnet die FDP glaubt, per
Staatsorder festlegen zu können, was eine Zukunftstechnologie ist.
({7})
Was sich auf dem Markt nicht bewährt, wird nun einmal
nicht gekauft. Der Transrapid wird nicht gekauft, obwohl es eine Anwendungsstrecke gibt. Man kann natürlich vermuten, dass die FDP, die CDU/CSU und Teile
der SPD provinziell sind und deshalb sagen: Der Transrapid darf nicht nur in China, sondern muss auch in
Deutschland fahren. Eine solche Argumentation ist in einer globalisierten Welt sehr kindisch.
({8})
Es gibt weltweit keine einzige ernsthafte Bestellung.
Zukunftsorientiert wäre es, wenn Sie sich entschieden, das Projekt sterben zu lassen; denn die Technologie
hat sich überholt. Die Nische ist durch die Weiterentwicklung
({9})
- das wäre auch eine Alternative - untergegangen. So
traurig es ist, aber Sie wollen den Transrapid tatsächlich
im Nahverkehr einsetzen. Sie haben anscheinend noch
gar nicht verstanden, auf welcher Strecke Sie ihn einsetzen wollen; das ist bitter.
({10})
- Wir haben das beschlossen, weil wir gewusst haben,
dass dann eine Transrapidstrecke nicht gebaut wird.
({11})
Wir sind nämlich trickreich, und die SPD fällt auf manches herein. Im Fernverkehr wird er nie fahren, weil er
dort viel zu teuer ist. Für ein paar Kilometer zahlen Sie
bereits 2 Milliarden Euro. - Herr Kalb, Sie wollen eine
Zwischenfrage stellen; das ist schön. Dann habe ich
mehr Redezeit.
Möchten Sie die Zwischenfrage zulassen, Herr
Hofreiter?
Ja, mit Vergnügen, von der CDU/CSU immer gerne.
Bitte, Herr Kalb.
Herr Kollege, wenn Sie das, was Sie gerade gesagt
haben, ernst meinen, nämlich dass Sie der Entscheidung
1999 zugestimmt haben in der Absicht, das Projekt damit scheitern zu lassen, frage ich Sie: Sind Sie mit mir
einig, dass Sie dann die Beteiligten - die Industrie, die
Wirtschaft und die Arbeitnehmerschaft - wissentlich in
die Irre geführt haben und dass Sie darüber hinaus in
Kauf genommen haben, dass unnötigerweise Geld ausgegeben wird?
Herr Kollege Hofreiter, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Ihre Antwort auf diese Zwischenfrage zugleich
das Ende Ihrer Rede beinhalten muss.
Deswegen war ich für die Zwischenfrage so dankbar. - Herr Kollege Kalb, erstens war ich persönlich
nicht beteiligt.
({0})
Zweitens wissen alle hier im Haus, dass das Projekt unsinnig ist.
({1})
Das Projekt Hamburg-Berlin hätte sich rentiert, wenn
jeder Hamburger einmal in der Woche mit dem Transrapid nach Berlin gefahren wäre.
({2})
Das heißt, alle hieran Beteiligten - die Bahn, das Wirtschaftsministerium und das Verkehrsministerium - wissen, dass dieses Projekt unsinnig ist.
({3})
Es ist das übliche Spiel: Niemand traut sich, ein unsinniges Projekt sterben zu lassen.
Seien Sie mutig und geben Sie das Geld für etwas
Sinnvolles aus! Lassen Sie dieses Projekt sterben! Es
wäre eine Zukunftsinvestition.
({4})
Ich beende die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache
16/1165 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung ({0})
- Drucksachen 16/4664, 16/5054 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
({1})
- Drucksache 16/5447 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange ({2})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5451 Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt J. Rossmanith
Volker Kröning
Ulrike Flach
Anna Lührmann
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Die Fraktionen haben vereinbart, hierüber eine halbe
Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auch diese heutige zweite und dritte Lesung des
ERP-Wirtschaftsförderungsneuordnungsgesetzes muss
man im politischen Zusammenhang sehen, und zwar erstens im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung, zweitens der notwendigen Haushaltskonsolidierung, drittens der langfristigen Wirtschaftsförderung
und viertens der Erhaltung unseres ERP-Sondervermögens. Tatsache ist: Die deutsche Wirtschaft ist wieder auf
klarem Wachstumskurs. Dafür verantwortlich ist in allererster Linie der deutsche Mittelstand; denn die Arbeitsplätze, die zusätzlich geschaffen worden sind, sind vor
allem in den kleinen und mittleren Unternehmen entstanden. Bis 2009 könnte die Zahl der Arbeitslosen nach Ansicht der Experten sogar auf 3 Millionen sinken. Wir halten am Ziel der Vollbeschäftigung fest.
Die deutsche Wirtschaft wird schon in diesem Jahr
kräftiger wachsen als angenommen. Wir hatten solche
Prognosen über ein Wirtschaftswachstum von bis zu
3 Prozent lange nicht mehr. Es zeigt sich, dass Reformen
Früchte tragen, und es wird deutlich, was in unserem
Land und in unserer Wirtschaft steckt, wenn Kräfte freigesetzt werden. Um den Aufschwung weiter zu verstetigen und um kontinuierlich Wachstum und Beschäftigung
zu erzielen, brauchen wir vor allem die Stärkung des
Mittelstandes. Das ERP-Wirtschaftsförderungsneuordnungsgesetz, das wir heute behandeln, und das Unternehmensteuerreformgesetz, das wir morgen beraten,
sind zwei wichtige Eckpunkte, um diesem Ziel näher zu
kommen.
Der Schwerpunkt unserer Politik in dieser Legislaturperiode muss nach wie vor eine Politik zur Stärkung des
Mittelstandes sein. Dazu gehört natürlich die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen; denn nach wie
vor haben vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch Unternehmerpersönlichkeiten, die
den ersten Schritt in die Selbstständigkeit wagen, ein zu
geringes Eigenkapitalpolster oder Probleme bei der
Fremdfinanzierung. Der Innovations- und Mittelstandsförderung kommt somit höchste Bedeutung zu. Im ERPSondervermögen stehen besonders Finanzierungsmittel
für diese kleinen und mittleren innovativen Unternehmen und technologieorientierten Existenzgründer bereit.
Im Koalitionsvertrag wurde deshalb festgeschrieben
- das sollten wir immer wieder in Erinnerung rufen -,
dass die Förderung durch das auf den Marshallplan zurückgehende ERP-Sondervermögen vollständig erhalten
bleiben soll.
({0})
Darüber hinaus sollten auch die haushaltswirksamen Beschlüsse von Genshagen zur Haushaltskonsolidierung
umgesetzt werden. Man darf dies nur im Zusammenhang
sehen, nicht isoliert. Diese Aufgabe wird mit dem vorliegenden und heute zu beschließenden ERP-Wirtschaftsförderungsneuordnungsgesetz umgesetzt werden.
Der Unterausschuss hat sich mit dem Gesetz, dem
Vertrag und der Verwaltungsvereinbarung intensiv befasst und mit Mehrheit eine Empfehlung ausgesprochen.
Der Unterausschuss hat nach der Anhörung Korrekturen
des Gesetzentwurfs durchgeführt. Diese betreffen eine
Klarstellung zum besseren Verständnis des Gesetzes, die
Erhaltung der Förderungssubstanz, die Erhaltung der
Vermögenssubstanz, die korrekte Regelung der Vermögenstransfers und die Verdeutlichung des weiter geltenden Parlamentseinflusses mit dem Zustimmungsvorbehalt des Deutschen Bundestages.
({1})
Ich glaube, auf dieses Selbstverständnis sollten wir heute
besonders hinweisen,
({2})
weil das nicht von vornherein vorgesehen wurde. Dem
wurde durch einen von den Koalitionsfraktionen eingebrachten und angenommenen Änderungsantrag Rechnung getragen.
Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen
des Unterausschusses für die intensiven mehrmonatigen
Beratungen sehr herzlich bedanken. Ich möchte mich
auch bei allen Kolleginnen und Kollegen des federführenden Wirtschaftsausschusses bedanken. Ich glaube,
dass selten so lange und intensive Beratungen über einen
Bereich, der nicht im Fokus der Öffentlichkeit steht
- dennoch ist er für den Mittelstand wichtig -, stattgefunden haben. Herzlich bedanken möchte ich mich auch
beim Bundesrechnungshof. Er hat einen wesentlichen
Beitrag zur Klarheit geleistet und wichtige Korrekturen
angeregt. Das möchte ich noch einmal betonen.
({3})
Was ist geschehen? Mit dem vorgelegten Artikelgesetz wird die aus dem ERP-Sondervermögen finanzierte
Wirtschaftsförderung gemäß den Vorgaben des von
mir zitierten Koalitionsvertrages und den haushaltswirksamen Beschlüssen von Genshagen neu geordnet. Mit
der gefundenen Lösung werden Teile des Sondervermögens in Höhe von 4,65 Milliarden Euro auf die KfW als
Eigenkapital übertragen bzw. werden sie ihr in Höhe von
3,15 Milliarden Euro als Nachrangdarlehen gewährt.
Circa 14 Milliarden Euro an Forderungen und Schulden werden aus dem Sondervermögen zum Buchwert
auf den Bund übertragen, und das Sondervermögen wird
damit entschuldet.
Der Bundeshaushalt erhält aus dem Sondervermögen
2 Milliarden Euro. Im Gegenzug erhält das ERP-Sondervermögen einen vollständigen Ausgleich und bleibt dadurch in seiner heutigen Substanz erhalten. Dazu überträgt der Bund die Rechte an Rücklagen, die ihm in der
KfW zustehen, in Höhe von 1 Milliarde Euro auf das
Sondervermögen.
Das Sondervermögen löst zudem Rückstellungen, die
für Risiken und Lasten in der Vermögensrechnung des
ERP-Sondervermögens gebildet worden sind, in Höhe
von 1 Milliarde Euro auf. Das ist möglich, weil der Bund
gleichzeitig die Lasten übernimmt, die der Rückstellungsbildung zugrunde liegen.
Das ERP-Sondervermögen erhält von der KfW eine
Kapitalvergütung in Höhe von jährlich 4,8 Prozent und
eine Nachrangdarlehensverzinsung in Höhe von
4,5 Prozent per annum. Für beides gibt es Klauseln - das
muss man immer wieder betonen -, die eine Anpassung
an die weitere Kapitalmarktentwicklung regeln. Das war
ein besonderes Anliegen, dessen Umsetzung wir immer
wieder gefordert haben.
Diese Vergütung und weitere Erträge, die dem ERPSondervermögen innerhalb, aber auch außerhalb der
KfW zufließen werden, sind dazu geeignet, notwendige
Erträge in Höhe von derzeit 590 Millionen Euro zu liefern. Das ist der wesentliche Punkt. Damit lässt sich die
bisherige Förderung unter Wahrung der realen Substanz
fortführen. Am wichtigsten ist, dass die Mittelstandsförderung nicht geschmälert wird.
({4})
Wir sollten noch einmal betonen, dass wir uns hier
durchgesetzt haben: Die Mittelstandsförderung wird
nicht geschmälert; vielmehr bleibt die Substanz dieser
Förderung voll und ganz erhalten. Die Hoffnung bleibt,
dass auch darüber hinaus Erträge erwirtschaftet werden,
die dem Fördervolumen zusätzlich zugute kommen.
Die bisherige ERP-Wirtschaftsförderung kann somit
in Bezug auf Volumen und Intensität erhalten werden.
Wir sollten die Öffentlichkeit nicht falsch informieren;
vielmehr sollten wir dafür sorgen, dass die Perspektive
der Mittelständler, der Unternehmer erhalten bleibt, die
für sie mit diesem Sondervermögen verbunden war. Gerade die Unternehmen brauchen eine Vertrauensbasis.
Diese Vertrauensbasis darf nicht geschmälert werden.
Dieses Vertrauen, dass die Finanzierungsbedingungen
auch in Zukunft günstig sind, ist ein ganz wichtiges
Feld. Ich glaube, dass wir mit dem Bundeswirtschaftsminister, mit dem Bundeswirtschaftsministerium, mit dem
Parlament, mit der KfW und dem Bundesfinanzministerium einen tragbaren Kompromiss geschlossen haben.
Der Gewinner dabei ist der Mittelstand. Das bedeutet Investitionen und Arbeitsplätze in der Zukunft. Deswegen
stimmen wir diesem Gesetz heute zu.
Herzlichen Dank.
({5})
Martin Zeil hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Michelbach hat versucht, hier um Vertrauen zu
werben und ein Gesetz zu vertreten, von dem ich weiß,
dass er es innerlich eigentlich ablehnt.
({0})
Es geht heute Abend um wirklich viel Geld. Es geht
noch um mehr. Es ist das Ende des bisher selbstständigen ERP-Vermögens und zugleich der Kniefall der Parlamentsmehrheit vor der Exekutive in Gestalt des Finanzministers.
({1})
Die Koalition bricht heute mit einem Konsens, Herr
Kollege Wend, der 53 Jahre lang fraktionsübergreifend
gehalten hat.
Ich darf zitieren:
Die Bundesregierung tritt mit ihrem Entwurf nicht
nur deutsches Recht mit Füßen, sondern verstößt
gegen deutsch-amerikanische Abkommen zur Wirtschaftsförderung. Wenn die Koalition ihre Zerschlagungspläne weiterverfolgt, befindet sich die
Bundesregierung geradewegs auf dem Weg in die
Bananenrepublik.
({2})
Geht es nach ihrem Willen, werden die MarshallGelder dem Parlament künftig dauerhaft entzogen.
Wir halten die Regierungspläne daher für verfassungsrechtlich unseriös und wirtschaftsfeindlich.
So die jetzige Staatssekretärin Dagmar Wöhrl und der
Kollege Bernhardt in einer Presseerklärung der Unionsfraktion vom Oktober 2004.
({3})
Leider hat der Wechsel von der Oppositions- auf die Regierungsbank den klaren Blick von damals getrübt.
({4})
Der Koalitionsvertrag wird exekutiert, obwohl der Finanzminister auf diese 2 Milliarden Euro überhaupt
nicht angewiesen ist.
Das Herausbrechen der 2 Milliarden Euro ist die eine
Seite. Die andere Seite ist, dass auch das Restvermögen
auf die KfW übertragen wird, obwohl diese, wie sie sagt,
die Eigenkapitalspritze gar nicht braucht.
Mit diesem Gesetz werden die Mittelstandsgelder der
Verfügungsgewalt des KfW-Vorstands unterstellt. Die
Rechte des Parlaments werden nur noch pro forma gewahrt und in Wirklichkeit an andere abgegeben. Es ist
ziemlich einmalig in der Parlamentsgeschichte, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass sich eine Mehrheit von
Abgeordneten bei so viel Geld selbst entmündigt.
({5})
Trotz aller Änderungen und trotz aller Kosmetik, die
Sie in letzter Minute natürlich noch versucht haben, ist
vieles ungeklärt, offen und fragwürdig geblieben.
({6})
Es wird ohne ersichtlichen Mehrwert mit einer bewährten Tradition gebrochen. Die Gefahr eines Substanzverlustes ist, auch wenn uns die Bundesregierung gern anderes weismachen würde, alles andere als gebannt; der
Bundesrechnungshof hat darauf hingewiesen. Er hat
auch kritisch angemerkt, dass die Bundesregierung es
bis zum heutigen Tage versäumt hat, den Bestand des
Vermögens zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu ermitteln.
Wie kann man glaubhaft die Substanz erhalten wollen,
wenn man den Ausgangswert dafür überhaupt nicht genau kennt?
({7})
Wenn man behauptet, man wolle das ERP-Sondervermögen auf keinen Fall schmälern, stellt sich doch auch
die Frage: Warum in aller Welt macht man ein Gesetz, in
das man hineinschreibt, dass die Kosten für die Verwaltung des ERP-Sondervermögens, die bislang der Bund
getragen hat, künftig vom Sondervermögen zu tragen
sind?
Wir haben heute keine akzeptable Antwort auf die
Frage bekommen, warum die künftige Anlage des ERPSondervermögens nicht öffentlich ausgeschrieben worden ist, was sowohl aus ordnungspolitischen als auch aus
Ertragsgründen geboten gewesen wäre.
({8})
Wir wissen nicht, ob die Kapitalverzinsung in Höhe von
590 Millionen Euro ausreicht, um die Förderleistung
dauerhaft zu garantieren.
Auch das Verfahren selbst spricht Bände. Nicht selten wurden wichtige Unterlagen erst in letzter Minute
vorgelegt - zu spät, um sich eingehend damit befassen
zu können. Der Bundesrechnungshof hat noch in seiner
Stellungnahme vom 21. Mai erklärt - Herr Kollege
Meyer, hören Sie zu; auch dies dürfte ziemlich einmalig
sein -, dass die Bundesregierung mit ihrem Verhalten
eine qualifizierte Beratung des Parlaments durch den
Bundesrechnungshof behindert.
({9})
Auch der Umgang mit den Amerikanern als den
Geldgebern ist alles andere als ein diplomatisches
Glanzstück. Kürzlich wollte die Regierung noch abwarten, bis sich die USA endgültig positioniert haben. Jetzt
stellt man sie doch vor vollendete Tatsachen.
({10})
Die Freien Demokraten dieses Hauses beteiligen sich
im Gegensatz zu den Kollegen von Schwarz-Rot nicht
an der Zerschlagung des ERP-Vermögens und an seiner
Entdemokratisierung. Wir fühlen uns der Tradition und
der Zweckbestimmung dieses Treuhandvermögens für
den Mittelstand verpflichtet und lehnen dieses Gesetz
ab.
({11})
Jetzt spricht Christian Lange für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben heute Abend um 22 Uhr wieder einmal ein Schauspiel klassischen Oppositionsgebarens
erleben dürfen. Ich bedaure es, dass das Marshallplanvermögen und die Verbesserungen, die wir im Unterausschuss gemeinsam durchgesetzt haben, in Ihrer Rede
nicht gewürdigt worden sind;
({0})
denn die wichtigste Botschaft des heutigen späten
Abends ist: Alle Unternehmer und alle Existenzgründer
in Deutschland können sich auch weiterhin auf die Mittelstandsförderung des Bundes verlassen.
({1})
Wenn die FDP nicht dabei sein will, dann tut mir das
leid. Sie hätten die Chance, sich das gleich bei der Abstimmung noch einmal zu überlegen. Dass wir es schaffen, Haushaltskonsolidierung und Mittelstandsförderung unter einen Hut zu bringen, ist in der Tat der
Charme des Konstrukts, das wir heute Abend beschließen werden. Lassen Sie uns schauen, wie wir das machen.
({2})
Zunächst zu Ihrem Argument der Wettbewerbsverzerrung: Meine Damen und Herren von der Opposition
und insbesondere von der FDP, Sie wissen, die Bundesregierung hat die Frage möglicher Wettbewerbsverzerrungen durch Kapitalverstärkung der KfW im Hinblick
auf das EU-Beihilferecht prüfen lassen. Aus beihilferechtlicher Sicht der EU ist gegen die Neuordnung des
Sondervermögens nichts einzuwenden, da das der KfW
zur Verfügung gestellte Kapital des ERP-Sondervermögens ausschließlich dem Fördergeschäft der KfW zugutekommt. Dies betrifft auch die von deutschen Banken
vorgetragenen Bedenken gegenüber einer möglichen
Wettbewerbsverzerrung aufgrund der Kapitalerhöhung.
Auch das macht deutlich: Die Konstruktion ist so gewählt, dass neue Geschäftsfelder und neue Kundengruppen für die KfW nicht entstehen können. Es können insbesondere auch keine Industriebeteiligungen gekauft
werden. Das war uns ein Anliegen. Deshalb haben wir
dies im Vertrag und im Gesetz festgeschrieben. Nehmen
Sie bitte zur Kenntnis, dass diese Wettbewerbsverzerrungen vielleicht etwas für die Märchenstunde um 22 Uhr
sind, jedoch nichts für die Wirklichkeit in Deutschland.
({3})
Ich sage Ihnen noch etwas: Wir ändern auch nichts
am Hausbankenprinzip; denn das wäre die Voraussetzung dafür, dass Ihre Befürchtungen eintreten. Es ist
auch weiterhin so, dass die Hausbanken bestehen bleiben werden und dass es entsprechende Förderungen
geben wird, die wir dem Mittelstand über die KfW zugutekommen lassen und die über diese abgewickelt
werden - ein weiteres Indiz dafür sind, dass Ihre Befürchtungen nicht stimmen können.
Ein zweiter Punkt, den Sie angesprochen haben, waren die Konsultationen mit den Vereinigten Staaten von
Amerika. Sie wissen, die Vertretung der Bundesrepublik
Deutschland gegenüber dem Ausland ist Aufgabe der
Bundesregierung und nicht des Parlaments. Trotzdem
verhält es sich so, dass wir als Parlament die Vereinigten
Christian Lange ({4})
Staaten von Amerika weit über das Maß hinaus beteiligt
haben. In nichtöffentlichen Sitzungen dieses Unterausschusses waren Vertreter der Botschaft anwesend. Ich
lege Wert darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland
ein souveräner Staat ist. Eigentlich wären wir dazu nicht
verpflichtet gewesen. Wir haben es dennoch getan, weil
wir entsprechende Befürchtungen ausräumen wollten.
Deshalb können Sie doch nicht sagen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren Argumenten dieses
Konzept torpedieren würden. Im Gegenteil: Sie waren
von Anfang an beteiligt. Die Bundesregierung hat dies
vor der Entscheidung des Kabinetts in gleicher Form
noch einmal sichergestellt. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass wir das Maximum an Beteiligung gewährt haben.
({5})
Wir haben auch, was unsere eigenen Angelegenheiten
- den Vertrag und die entsprechende Verwaltungsverordnungen - anbelangt, das Maximum geleistet. Ja, wir
mussten ein wenig Druck ausüben, das ist richtig. Das
haben wir alle gemeinsam getan. Es sind alle Fraktionen
vor den Beratungen informiert gewesen.
({6})
Ein großes Anliegen der SPD-Bundestagsfraktion
- und auch von den Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und letztlich auch von Ihnen - war und ist es,
dass die Beteiligung des Deutschen Bundestags auch in
Zukunft sichergestellt ist. Wir haben dies - ich sage das
ganz klar - gemeinsam durchgeboxt. Es ist ein großer
Erfolg, dass der Parlamentsvorbehalt im Hinblick auf
das Gesetz und auf den Vertrag heute und in Zukunft sichergestellt ist. Das ist das Ergebnis unseres gemeinsamen Kampfes. Deshalb bitte ich Sie: Tun Sie nicht so,
als wenn Sie sich anders positionieren wollten!
({7})
Gemeinsam haben wir dafür Sorge getragen, dass auch
in Zukunft das Parlament das Sagen hat, und das ist gut
so. Deshalb will ich es hier entsprechend würdigen.
Damit die Mittelstandsförderung auch in Zukunft
sichergestellt ist, muss allerdings die Vorraussetzung erfüllt sein, dass die entsprechenden Gelder tatsächlich zur
Verfügung stehen. Sie wissen, dass die Bundesregierung
seinerzeit ein Gutachten in Auftrag gegeben hat, das zu
zwei Ergebnissen führte:
Erstens. Ein dauerhafter Erhalt des ERP-Wirtschaftsvermögens ist nur möglich, wenn neben der laufenden
Förderung auch der Substanzerhalt gewährleistet ist.
Zweitens. Für Förderung und Substanzerhalt werden
jährliche Erträge von mindestens 590 Millionen Euro
benötigt, davon 300 Millionen Euro für die Finanzierung
neuer Förderleistungen und 290 Millionen Euro, um den
Substanzerhalt sicherzustellen.
Wir haben in den entsprechenden Beratungen dafür
Sorge getragen, dass diese Bedingungen erfüllt werden.
Auf der Basis dessen, was wir nach der Anhörung gemeinsam beschlossen haben, wurde noch einmal nachjustiert. Ich möchte an die Kleinigkeit in Art. 1 § 7
Abs. 2 des Gesetzentwurfs erinnern: Dort wird die Anregung des Bundesrechnungshofes aufgegriffen, für den
Fall eines kurzfristigen Liquiditätsbedarfs dem Sondervermögen über die KfW vorübergehend Mittel zur Verfügung zu stellen. Damit besteht kein Bedarf mehr für
eine Kreditaufnahme am Markt. Gleichzeitig wird der
Bundeshaushalt entlastet.
Durch eine stärkere Einbeziehung des Know-hows
der KfW wird außerdem eine Effizienzsteigerung ermöglicht. Wir sind nämlich davon überzeugt, dass wir
durch die Zusammenlegung der Strukturen eine ökonomische Situation erreichen, bei der beide Seiten gewinnen.
({8})
Das ERP erhält langfristige Planungssicherheit und deutlich höhere Erträge als bisher. Die KfW erhält als Förderbank des Bundes zusätzliches Eigenkapital. Letztlich
erreichen wir dadurch eine Stärkung der Mittelstandsförderung. Genau das ist der Sinn und Zweck unseres Vorgehens.
Die KfW wird im Gegenzug dazu verpflichtet, jährlich über die Verwendung des eingebrachten Sondervermögens zu berichten. Auch dies entkräftet Ihre Bedenken. Darüber hinaus erteilt die KfW auf Anfrage alle
benötigten Auskünfte. Sollten die zur Verfügung stehenden Mittel für die Wirtschaftsförderung zeitweise nicht
ausreichen, stellt die KfW dem ERP-Sondervermögen
vorübergehend Mittel in Höhe von bis zu 600 Millionen
Euro bereit.
Auf Vorschlag des Bundesrechnungshofes wurden
dem Parlament weitere Kontrollrechte eingeräumt: Das
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie
muss am Schluss eines jeden Rechnungsjahres - auch
das war ein Vorschlag aus der Anhörung - die Jahresrechnung für das Sondervermögen aufstellen; zudem
muss es zum 31. Dezember jedes Jahres einen Jahresabschluss - eine Bilanz mit Gewinn- und Verlustrechnung vorlegen. Der Jahresabschluss ist im Rahmen des jährlichen Gesetzes über den Wirtschaftsplan zu veröffentlichen. Wir können damit sicher sein, dass die Rechte des
Parlaments in bester Weise gewahrt werden.
({9})
Ich möchte ein weiteres Ergebnis festhalten: Mit dem
Übergang von Verbindlichkeiten des Sondervermögens
auf den Bund führen wir die Politik der Eingliederung
von Schulden der Sondervermögen in die Bundesschuld
konsequent fort. Das erhöht die Transparenz und vereinfacht so das Kreditmanagement und die Bundesschuldenverwaltung. Eine eigene Kreditaufnahme des ERPSondervermögens wird künftig nicht mehr notwendig
sein.
Es wurde klargestellt, dass das Gesetz zur Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung lediglich die Ermächtigung für die Einbringung weiterer Teile des Sondervermögens als Nachrangkapital schafft. Durch Zusatz
des Wortes „befristet“ - darauf haben auch Sie Wert gelegt - wird zudem deutlich gemacht, dass das Sondervermögen nach Ablauf der vertraglich vereinbarten DarleChristian Lange ({10})
henszeit frei darin ist, das Vermögen anderweitig
anzulegen. Auch hiermit wurde einer Anregung aus der
Anhörung Rechnung getragen.
Ich denke, es ist gelungen, in hohem Maße sicherzustellen, dass die Mittelstandsförderung in Deutschland
auch in Zukunft auf sicheren Beinen steht. Folgendes
war uns, der SPD-Fraktion, besonders wichtig: Es ist sichergestellt, dass wir hier im Parlament das letzte Wort
haben, wie es in Zukunft mit der Mittelstandsförderung
weitergeht. So war es in den vergangenen mehr als
50 Jahren; so wird es auch in Zukunft sein. Das ist eine
gute Botschaft. Deshalb würde ich mir wünschen, dass
alle hier im Hause zustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Es spricht nun der Kollege Dr. Herbert Schui für Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Lange, Ihre Rede war zwar sehr emphatisch,
aber nicht ganz überzeugend. Warum eigentlich das
ERP-Sondervermögen letztendlich neu geordnet werden
soll, wissen wir nun immer noch nicht.
({0})
Natürlich werden dem Bund 2 Milliarden Euro zugeführt. Aber angesichts der doch außerordentlich günstigen Konjunkturlage - Sie haben schließlich den ewigen
Frühling ausgerufen - kann ich die Begründung der Regierung, es handele sich um eine enorme Effizienzsteigerung, nicht einsehen.
Es ist vielmehr deutlich geworden, dass die Neuordnung das Verfügungsrecht des Parlamentes einschränkt,
das ERP-Sondervermögen schwächt und die KfW
stärkt. Daran hat sich auch nach den genannten Neuformulierungen substanziell nichts geändert. Alles läuft
darauf hinaus, dass die Fördermöglichkeiten durch das
ERP-Sondervermögen eingeschränkt werden. Der Rechnungshof geht davon aus, dass der Anteil der liquiden
Mittel am Vermögen abnimmt. Damit wird das Vermögen, was die Fördermöglichkeiten angeht, sozusagen
versteinert.
Die Bundesregierung hingegen - das scheint mir das
interessantere Phänomen zu sein - gewinnt an Spielraum
hinzu. Es geht nicht allein um die 2 Milliarden Euro, die
dem Bundeshaushalt definitiv zugeführt werden. Es geht
auch darum, dass Forderungen in Höhe von 14 Milliarden Euro, die ursprünglich zum ERP-Sondervermögen
gehörten, nun auf die KfW übergehen. Die KfW hat
dann die Möglichkeit, diese 14 Milliarden Euro zu verbriefen und zu liquidieren. Sie kann also zusätzliche
Staatsschulden erwirken, ohne dass damit ein Verstoß
gegen die Maastrichtkriterien einhergehen würde.
Dieses Arrangement stammt eigentlich aus der
Schröder/Clement-Ära. In dieser Zeit hatte die Bundesregierung erhebliche Probleme, die Maastrichtkriterien
einzuhalten. So kam man auf diese Idee. In der Genshagener Kabinettsklausur vom 10. Januar 2006 ist das noch
einmal bekräftigt worden.
Was ich aber nicht verstehen kann, ist, dass CDU und
CSU diesem Gesetz zustimmen. Es ist deswegen merkwürdig, weil beide Parteien doch betonen, wie sehr ihnen an Waigels Maastrichtkriterien gelegen ist. Wenn
dem so ist, dann sollte eigentlich nicht der Verdacht entstehen können, dass hier ein Schattenhaushalt geschaffen
wird, der dem Bund, wenn es „brennt“, die Möglichkeit
gibt, sich zu verschulden, ohne dass das gleich Kontroversen mit Brüssel auslöst.
Auf der anderen Seite kann ich natürlich verstehen,
dass man sich diese diskrete Möglichkeit der Staatsverschuldung eröffnen möchte. Es ist mir klar, dass die Regierung dies tun muss, weil sie aufgrund der Senkung
bei den Unternehmensteuern und der Steuern auf Vermögens- und Unternehmenseinkommen allgemein schließlich künftig wieder mit Haushaltsdefiziten rechnen
muss - dies umso mehr, als hohes Wachstum und höhere
Steuereinnahmen zwar einstweilen zu verzeichnen sind,
aber kein Dauerzustand sein werden.
Letzte Bemerkung. Notwendig wäre eine klarere Organisation der KfW. Unsere Position ist eindeutig: Es
könnte so bleiben, wie es ist. Das ERP-Sondervermögen
hat sich in vielen Jahren bewährt. Es gibt unter den gegebenen Bedingungen kein Erfordernis, daran herumzubasteln.
Notwendig wären allerdings klarere Auflagen für die
KfW, damit § 2 des Gesetzes über die Kreditanstalt für
Wiederaufbau eingehalten wird. Die KfW nimmt, was
ihre Aufgaben angeht, einen zu großen Spielraum wahr.
Das liegt daran, dass der Verwaltungsrat seiner Aufgabe,
die KfW zu überwachen, nicht in geeigneter Weise nachkommen kann. Denn er ist zum einen nicht richtig
zusammengesetzt, und zum anderen ist er zur Verschwiegenheit verpflichtet, was dazu führt, dass die Geschäftspolitik der KfW nicht in der Öffentlichkeit diskutiert wird.
Es wäre besser, wenn man mittelfristige Pläne für die
KfW machen würde - dies gilt auch nach der neuen Regelung, die eine Mehrheit finden wird -, mit denen die
Geschäftspolitik der KfW in einem engeren Sinne vonseiten des Parlaments festgelegt werden könnte.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt hat das Wort der Kollege Hans-Josef Fell für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das ERP-Sondervermögen hat 60 Jahre lang
den Mittelstand sowie Innovation und Umweltschutz in
Unternehmen gefördert und unterstützt. Dies war eine
Erfolgsgeschichte, nicht zuletzt für den Aufbau Ost. Gemeinsam haben alle Fraktionen über Jahrzehnte hinweg
die Begehrlichkeiten der Finanzminister abgewehrt, das
Vermögen zur Haushaltskonsolidierung zu verwenden.
Der Unterausschuss ERP-Sondervermögen hat über
Fraktionsgrenzen hinweg ebendieses Vermögen verteidigt. Substanzerhalt und Verfügungsgewalt durch das
Parlament waren diesem Unterausschuss immer sehr
wichtig.
Doch das ERP-Sondervermögen erlebt heute den
schwärzesten Tag in seiner Geschichte. Die Vertreter
von Union und SPD verweisen zwar darauf, dass es noch
schlimmer hätte kommen können. Das ist wohl wahr.
Bundesfinanzministerium und KfW hatten vorgehabt,
das ERP-Sondervermögen zwischen sich aufzuteilen.
Dies konnte durch den Widerstand des Bundestages verhindert werden. Dennoch haben das ERP-Sondervermögen und der Bundestag erheblich Federn lassen müssen.
In der Vergangenheit war der Bundestag der Souverän
über das Vermögen. Zukünftig muss er seine Macht und
seine politische Gestaltungsmöglichkeit mit dem KfWVorstand teilen. Die Verfügungsgewalt über das Kapital
ist sogar gänzlich an den KfW-Vorstand übergegangen.
Herr Lange, ein Parlamentsvorbehalt war bisher nicht
notwendig, weil das Parlament eben der Souverän war.
Die Tatsache, dass es nun einen Parlamentsvorbehalt benötigt, zeigt doch auch den Verlust der Parlamentsrechte
auf.
({0})
Dies ist nichts anderes als Demokratieabbau. Ich halte es
für bedauerlich, dass die Bundesregierung Parlamentarier dazu gebracht hat, dem Abbau der eigenen Souveränitätsrechte auch noch zuzustimmen.
Die Haltung der Bundesregierung ist auch sonst sehr
fragwürdig. Sie hat immer verhindert, dass optimale Anlagemöglichkeiten für das Vermögen überhaupt untersucht wurden, und sie hat sogar den Bundesrechnungshof an seiner Beratungstätigkeit für den Bundestag
gehindert. So wurden zugesagte Entwürfe sehr spät und
manchmal zu spät geliefert oder überhaupt nicht vorgelegt, wie das Beispiel der fehlenden Planungsrechnungen zeigte.
Die Bundesregierung hatte auch guten Grund für ihre
Verschleierungstaktik. Die Neuordnung des ERP-Sondervermögens hat mehr den Interessen des Finanzministers und der KfW gedient, kaum aber dem Interesse des
Landes, des Parlaments, der Wirtschaft oder des Vermögens selbst.
({1})
Die Bundesregierung hat mittlerweile eine Verwaltungsvereinbarung beschlossen, die im Widerspruch
zum ERP-Neuordnungsgesetz steht. Trotz aller Verschleierungsversuche wissen wir jetzt, dass dem Vermögen gesetzeswidrig real Substanz entzogen wird. Als
Folge des Substanzentzugs und der Reduzierung der liquiden Mittel wird die Förderkraft des Vermögens in den
nächsten Jahren deutlich abnehmen.
Die Aufgabenverteilung in der Großen Koalition ist
offensichtlich ganz klar: Die Parlamentarier dürfen Reden über Mittelstands- und Innovationspolitik halten, der
Finanzminister missbraucht das ERP-Sondervermögen
und damit das wichtigste Förderinstrument für den Mittelstand zur Haushaltskonsolidierung, und der Wirtschaftsminister lässt dies einfach geschehen. Früher
hatte die SPD gemeinsam mit den anderen Fraktionen
das ERP-Sondervermögen mit Zähnen und Klauen verteidigt. Heute stellt sich die Frage: Wer schützt das ERPSondervermögen noch vor den SPD-Finanzministern?
({2})
Ich weiß, dass einzelne Parlamentarier in den Regierungsfraktionen noch versucht haben, das Schlimmste zu
verhindern. Das ist ihnen hoch anzurechnen. Nichtsdestotrotz müssen wir festhalten, dass 60 Jahre nach der
Marshallrede dem ERP-Sondervermögen großer Schaden zugefügt wird.
({3})
Wir hätten uns wohl alle einen schöneren Jahrestag in
zwei Wochen zur Feier des ERP-Sondervermögens gewünscht. Ich jedenfalls bin gespannt, was der Kongress
der USA zu dieser unilateralen Maßnahme Deutschlands
sagen wird.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5447, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 16/4664 und 16/5054 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5447 empfiehlt der Ausschuss, dem von
der Bundesregierung mit der Bitte um Zustimmung vorgelegten Vertrag gemäß Art. 1 § 6 des Gesetzes zur Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5476? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung
durch die Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP, bei Gegenstimmen der Koalitionsfraktionen
und einiger Abgeordneter der Linken sowie bei Enthaltung eines Abgeordneten der Linken abgelehnt.
Wer stimmt dem Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5475 zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag der Fraktion Die Linke bei Zustimmung des Großteils der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen des übrigen Hauses
abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 16 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin,
Karin Binder, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes
- Drucksache 16/3016 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dr. Heinrich L.
Kolb, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Schutz der arbeitenden Jugend
({0})
- Drucksache 16/2094 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1})
- Drucksache 16/5316 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Wolfgang Grotthaus für die SPD.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Thema, das wir jetzt behandeln, scheint aus meiner
Sicht unerschöpflich zu sein. Gegen die hier wieder zu
beratenden Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung des
Jugendarbeitsschutzgesetzes, insbesondere gegen den
FDP-Entwurf, hat sich die SPD-Fraktion bereits mehrfach ausgesprochen - und dies nicht nur in dieser Wahlperiode, sondern in den vorhergehenden beiden Wahlperioden.
({0})
Denn wir sind der Auffassung, dass Änderungen nicht
nur einer eingehenden fachlichen Diskussion bedürfen,
sondern dass auch eine Abstimmung mit den Bundesländern notwendig ist, die ihre Erfahrungen aus dem Vollzug mit in die Beratungen einbringen müssen.
Ihnen ist somit aus den zurückliegenden Diskussionen hinlänglich bekannt, dass das BMAS auf der Fachebene eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Überprüfung des Jugendarbeitsschutzgesetzes eingerichtet hat.
Dabei wird natürlicherweise auch die Verkürzung der
Nachtruhe eine Rolle spielen. Sollte die Bund-LänderArbeitsgruppe zu gegebener Zeit entsprechende Vorschläge zu gesetzlichen Änderungen empfehlen, werden
wir diese bewerten und im Rahmen eines vernünftigen
Arbeitsschutzes - ich betone noch einmal: eines vernünftigen Arbeitsschutzes - für junge Menschen gewichten. Dabei sei schon an dieser Stelle angemerkt,
dass die Gesundheit der jungen Menschen und nicht der
zusätzliche Nutzen von Arbeitspotenzial im Mittelpunkt
stehen wird.
({1})
Nun zu den Anträgen. Was will die FDP? Im Gesetzentwurf der FDP ist vorgesehen, den Beginn der Nachtruhe für im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie im
Schaustellergewerbe beschäftigte Jugendliche von
bisher 22 auf 24 Uhr heraufzusetzen und an den Berufsschultagen von bisher 20 auf 21 Uhr. Mit diesen Änderungen soll eine bessere Ausschöpfung des Ausbildungspotenzials in diesen Branchen ermöglicht und so der
Jugendarbeitslosigkeit entgegengewirkt werden. Zwei
Stunden mehr in den Nachtstunden bedeuten also Verringerung der Jugendarbeitslosigkeit.
Zudem sollen die Möglichkeiten von Haupt- und Realschülern für eine Ausbildung verbessert werden. Die
früheren Reifeprozesse und veränderten persönlichen
Nachtruhezeiten der über 16-Jährigen ließen diese Änderungen zu, ohne den Schutz der arbeitenden Jugendlichen zu gefährden. Das hört sich erst einmal gut an.
({2})
Doch betrachten wir den Sachverhalt ein wenig näher.
Die der Bewertung zugrunde liegenden Zahlen sprechen
eine ganz andere Sprache. Mit den FDP-Maßnahmen
wird keine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze
erreicht.
({3})
Allerdings werden die Grundwerte des Jugendarbeitsschutzes über Bord geworfen.
({4})
Die FDP spricht von Lockerung, ich spreche von Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzgesetzes.
({5})
Eine ausreichende Nachtruhe ist insbesondere für junge,
in der Entwicklung stehende Menschen wichtig. Das Jugendarbeitsschutzgesetz trägt schon heute durch Ausnahmeregelungen den Besonderheiten des Gaststättenund Schaustellergewerbes Rechnung.
({6})
Was sagen die Zahlen? Im Gegensatz zu anderen
Branchen, wo mehrheitlich ein Rückgang der Zahl der
Ausbildungsplätze feststellbar war, kann im Hotel- und
Gaststättengewerbe ein Plus von neu abgeschlossenen
Ausbildungsverträgen verzeichnet werden. Allerdings
fällt die Übernahme in reguläre Arbeitsverhältnisse in
keiner Branche geringer aus. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Die geltenden Ausnahmeregelungen sind
nach unserer Auffassung allemal ausreichend. Wesentliche Ausbildungsinhalte können nach Einschätzung der
Gewerkschaft NGG auch innerhalb der bisherigen Arbeitszeiten vermittelt werden.
({7})
Uns liegt als Zweites ein Antrag der Fraktion Die
Linke vor.
({8})
In ihrem Antrag hebt Die Linke darauf ab, dass sich die
Lebenswirklichkeit junger Menschen, insbesondere
der Zeitpunkt der Aufnahme der ersten Erwerbstätigkeit,
deutlich nach hinten verschoben habe. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen, die heute eine Ausbildung beginne, sei 18 Jahre und älter, für sie gelte das
Jugendarbeitsschutzgesetz nicht mehr, weshalb sein Geltungsbereich auf Jugendliche unter 21 Jahren auszuweiten sei. Man muss sich das einmal vor Augen führen:
Die Linke möchte gerne das Wahlalter - auch für die
Bundestagswahl - auf 16 Jahre senken,
({9})
will aber gleichzeitig die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf unter 21-Jährige ausdehnen.
({10})
- Ihre Reaktion zeigt deutlich, dass ich Sie getroffen zu
haben scheine.
Der Antrag Ihrer Fraktion zeigt deutlich, dass hier in
keiner Weise zielführend gearbeitet wird. Denn das Jugendarbeitsschutzgesetz zielt auf den Schutz junger, in
der Entwicklung stehender Menschen, es schützt Kinder
und Jugendliche vor Arbeit, die sie gefährdet oder die
für sie ungeeignet ist.
({11})
Das entscheidende Kriterium ist hierbei das Alter, nicht
der Beginn des Arbeitslebens. Das Jugendarbeitsschutzgesetz knüpft nicht wie das Berufsbildungsgesetz an ein
Ausbildungsverhältnis an. Erwachsene Arbeitnehmer
unterliegen den allgemeinen Regelungen des Arbeitsschutzes. Ein weiter gehender, für erwachsene Auszubildende nötiger Schutz ist im Berufsbildungsgesetz
geregelt. Deshalb ist eine Ausweitung des Jugendarbeitsschutzgesetzes nicht erforderlich. Die Ausweitung des Begriffs „Jugendliche“ auf unter 21-Jährige erscheint vor dem Hintergrund des deutschen
Volljährigkeitsalters und einschlägiger Vorschriften der
EU und der ILO rechtssystematisch zweifelhaft.
({12})
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
Ich komme zum Schluss. - Es erscheint mir wichtig,
nochmals auf die Existenz der Bund-Länder-Arbeitsgruppe hinzuweisen und die dort zu entwickelnden
Vorschläge einer Novelle abzuwarten, um dann in die
parlamentarische Beratung einzutreten. Dabei - dies
kündigen wir hier und heute schon an - sollte weder die
besondere Schutzbedürftigkeit Jugendlicher im Erwerbsleben noch der Schutzzweck des Gesetzes aus dem
Blickfeld fallen. Wir werden uns für die gesundheitlichen Belange der jungen Menschen weiterhin einsetzen,
({0})
und wir werden das Jugendarbeitsschutzgesetz nicht aufweichen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Ernst
Burgbacher.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Grotthaus, manchmal hilft es, Anträge zu
lesen. In unserem Antrag steht nicht die Ausweitung von
22 Uhr auf 24 Uhr, sondern auf 23 Uhr. Das müssen Sie
zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie es vortragen, dann doch
bitte richtig.
({0})
Das ist zwar eine Kleinigkeit, aber wir sollten bei der
Wahrheit bleiben.
Die Welt beneidet uns um unser duales Ausbildungssystem. Duales Ausbildungssystem bedeutet, dass ein
Teil der Ausbildung in der Berufsschule stattfindet und
der andere Teil im Betrieb. Der große Vorteil dieses Systems ist, dass die jungen Leute nicht nur mit theoretischen Kenntnissen in den Beruf einsteigen, sondern den
Arbeitsalltag bereits aus eigener Erfahrung kennen.
({1})
Das ist jedoch nur dann der Fall, wenn sie arbeiten dürfen.
Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht zur
Kenntnis nehmen wollen, dass sich in den letzten 30,
40 Jahren in unserer Gesellschaft etwas verändert hat.
Herr Grotthaus, Sie sprachen von Kindern, die man
schützen muss. Als ich Jugendlicher war, musste ich gegen 22 Uhr zu Hause sein. Zur selben Zeit haben sich
später meine Kinder fertiggemacht, um wegzugehen. Da
hat sich doch etwas geändert. Jugendliche haben ein völlig anderes Ausgehverhalten. Davor kann ich doch
nicht die Augen verschließen.
({2})
Beim Ausgehverhalten hat sich viel verändert. Die Gaststätten waren früher um 18 Uhr gut gefüllt. Heute ist das
viel später der Fall. Wir haben uns ein Stück weit an südliche Gebräuche angepasst.
Wie sieht die Realität denn aus? Wenn der Laden
brummt, müssen die unter 18-Jährigen aufhören. Diejenigen, die sich für diese Ausbildung entschieden haben,
wollen das überhaupt nicht. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, sagen: Wir würden gerne arbeiten. Wir
wollen überhaupt nicht aufhören, aber wir müssen. Wozu soll es gut sein, dass der Gesetzgeber das vorschreibt?
({3})
Ich weiß, Sie wollen mit der Realität nichts zu tun haben; das haben wir in vielen Diskussionen gemerkt.
Doch was ist die Folge davon? Jugendliche unter
18 Jahren haben eindeutig weniger Chancen auf einen
Ausbildungsplatz.
({4})
Das lässt sich nachweisen. In den großen Hotels, zum
Beispiel in Berlin, haben fast nur Abiturienten Ausbildungsplätze bekommen. Einem Haupt- oder Realschüler
sagt man: Warte, bis du 18 bist; dann bewirbst du dich
wieder. - Es ist abstrus, wenn man nicht erkennen will,
was sich in unserer Gesellschaft verändert hat. Mit dieser Starrköpfigkeit und diesem Scheuklappendenken
werden die Jugendlichen in Wirklichkeit nicht geschützt,
dadurch werden ihnen ihre Chancen genommen.
({5})
Zum Antrag der Linken muss ich sagen - da stimme
ich Ihnen, Herr Grotthaus, zu -:
({6})
Das ist nicht mehr ernst zu nehmen. Bei den Rechten
will man von 18 auf 16 Jahre herunter, sagt aber, dass
die Jugendlichen bis zum 21. Lebensjahr nicht vernünftig arbeiten dürfen.
({7})
- Das ist kein Schutz. Sie schützen die Jugendlichen
nicht, sondern berauben sie ihrer Chancen auf einen
Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Das ist Ihr System; das
haben wir schon in der vorangegangenen Debatte gesehen.
({8})
- Die über 18-Jährigen werden ja eingestellt. Wir haben
gerade gehört, dass nirgends so viel ausgebildet wird wie
in diesem Bereich. Sie wissen aber auch, dass sich die
Rahmenbedingungen dieser Branche - daran ist auch
Ihre Politik schuld - ständig verschlechtert haben. Es
gibt jetzt zum ersten Mal Anzeichen dafür, dass es ein
bisschen aufwärts geht. Die Politik muss die richtigen
Rahmenbedingungen setzen. Dann haben wir weit mehr
Chancen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zur
Union sagen. Heute Abend ist eine Ablehnung wahrscheinlich; das ist bedauerlich. Ihre Tourismuspolitiker
treten in der Öffentlichkeit hingegen für eine Änderung
des Jugendarbeitsschutzgesetzes ein; das haben wir bei
der Debatte über das ERP-Sondervermögen gehört. Bisher haben Sie genau das Gegenteil gesagt. Sie kuschen
vor der SPD, machen das mit. Zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes haben Sie während Ihrer Oppositionszeit unzählige Anträge gestellt. Nun kuschen Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Irgendwann müssen Sie zeigen, dass auch Sie Mitglied dieser
Großen Koalition sind, dass nicht immer die linke Seite
des Hauses sagt, was gemacht wird, sondern dass auch
Sie sich einmal durchsetzen. Das müssen Sie beweisen.
Das gehört zur Ehrlichkeit in der Politik.
({9})
Ich weiß, dass unser Gesetzentwurf wieder abgelehnt
werden wird. Wir werden Sie mit der Frage wieder konfrontieren. Wir wollen Jugendlichen mehr Chancen geben. Wir werden auf dem Weg weitermachen, bis wir
eine Mehrheit haben.
({10})
Jetzt spricht die Kollegin Gitta Connemann für die
CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Ich
liebe es“,
({0})
so heißt die Werbung einer bekannten Schnellrestaurantkette. Diese hat mit der Bundesagentur für Arbeit und
der Jugendzeitschrift „Bravo“ eine Jobattacke entwickelt. Jugendliche werden hier über die Chancen nach
der Schule informiert. Als Plus der Ausbildung wird die
flexible Gestaltung der Arbeitszeit angeführt. Die Werbung zeigt Erfolg: Über 2 000 junge Leute machen bereits eine Ausbildung als Fachfrau bzw. Fachmann für
Systemgastronomie. In Restaurants dieser Kette dürfen
Jugendliche über 16 Jahren bis 23 Uhr arbeiten. Sie beginnen dafür später am Tag. Alle Beteiligten profitieren
von dieser Flexibilität: das Unternehmen, das dem Gast
längere Öffnungszeiten bieten kann, der Gast, der später
essen kann, und der Jugendliche, der bereits zu Beginn
seines Berufslebens Flexibilität lebt; denn diese wird
ihm auch später abverlangt.
Ganz anders sieht dagegen die Situation beim Hotel
um die Ecke aus. Hier darf ein Jugendlicher nur bis
22 Uhr beschäftigt werden. Es ist jetzt 22.36 Uhr. Danach dürfte er dort nicht mehr arbeiten und sicherlich
auch hier der eine oder andere jugendliche PDS-Abgeordnete nicht mehr. Von Flexibilität also keine Spur.
Worauf beruht dieser Unterschied? Auf § 14 des Jugendarbeitsschutzgesetzes, der unter anderem für Mehrschichtbetriebe eine Ausnahmeregelung vorsieht. Ist
das logisch? Wohl kaum, wenn es um den Zweck des
Gesetzes geht, nämlich den Schutz der arbeitenden Jugend; denn entweder gefährdet eine Beschäftigung um
23 Uhr die Gesundheit, oder sie tut es nicht.
({1})
Da kann es auf den Betrieb nicht ankommen.
Die Fraktion der Linken will mit ihrem Antrag den
Geltungsbereich des Gesetzes auf Jugendliche ausweiten, die noch nicht 21 Jahre alt sind. Damit wäre es
Mehrschichtbetrieben aber immer noch möglich, Jugendliche zu anderen Zeiten zu beschäftigen als das
kleine Hotel um die Ecke. Jetzt frage ich Sie, meine Damen und Herren von der Linken: Was bewegt Sie,
Schnellrestaurants gesetzlich anders zu behandeln als
Hotels? Meine Damen und Herren von der Linken, ist es
Ihre Liebe zu Ronald McDonald oder zu den „schicken
Chicken“? Wohl kaum, wenn ich sehe, dass Sie dieses
Unternehmen auf Ihrer Internetseite abfällig als amerikanischen Frikadellenbrater diskreditieren.
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Antrag
offenbart, dass Sie sich mit den Details der gesetzlichen
Regelung gar nicht auseinandergesetzt haben. Ihre juristische Unkenntnis bzw. Ihr Desinteresse zeigt sich übrigens auch an anderer Stelle Ihres Antrages. So schreiben
Sie in der Gesetzesbegründung, dass die überwiegende
Mehrheit der Jugendlichen heute erst mit 18 oder später
eine Ausbildung beginnt. Es ist Ihnen entgangen, dass
der Schutz von Auszubildenden bereits heute besonders
geregelt ist, aber nicht durch das Jugendarbeitsschutzgesetz, sondern durch das Berufsbildungsgesetz. Ich gebe
Ihnen den bewährten juristischen Rat: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Leider haben Sie diesen Blick nicht riskiert.
({2})
Dies zeigt, dass es Ihnen um eines nicht geht: den
Schutz von Kindern und Jugendlichen. Sonst hätten Sie
sich juristisch kundiger mit dem Gegenstand Ihres Antrages auseinandergesetzt, nämlich dem Jugendarbeitsschutzgesetz. Ziel dieses Gesetzes ist es, Kinder und Jugendliche vor Überforderung, Überbeanspruchung und
den Gefahren am Arbeitsplatz entsprechend ihres Entwicklungsstandes zu schützen, unabhängig davon, ob sie
Auszubildende oder Arbeitnehmer sind. Dieses Ziel hat
sich auch 30 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes nicht
geändert. Aber in den letzten 30 Jahren haben sich soziale, wirtschaftliche, gesellschaftliche und bildungsmäßige Entwicklungen vollzogen, die einer Überprüfung
bedürfen. Deshalb ist eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt worden. Sie soll die Frage beantworten, ob Änderungen erforderlich sind, um die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen junger Menschen zu
verbessern, übrigens immer unter Gewährleistung der
Sicherheit und der Gesundheit der Jugendlichen, die an
erster Stelle stehen müssen.
Es findet eine Gesamtprüfung statt. Die Betonung
liegt auf „gesamt“. Hier richte ich meine Kritik an Sie,
Herr Burgbacher; denn Sie fordern nur eine punktuelle
Überprüfung des Gesetzes. Wir brauchen aber eine Gesamtbetrachtung. Das hat nichts mit Kuschen zu tun,
({3})
sondern mit Kundigkeit. Hier greift Ihr Gesetzentwurf
zu kurz. Daher lehnen wir ihn ab.
({4})
Es geht nicht nur um die Nachtruhe, aber es geht
auch um sie. Schließlich müssen Jugendliche die Chance
erhalten, ein Berufsfeld genau kennenzulernen. Im Gastgewerbe gehören dazu auch die atypischen Arbeitszeiten. Heute gehen die Menschen später essen. Kein Gast
lässt mehr um 22 Uhr die Gabel fallen. Auf diese Realität hat Österreich reagiert. Dort beginnt die Nachtruhe
erst um 23 Uhr. Die Rechte und die Gesundheit der Jugendlichen sind dadurch nicht nachteilig betroffen.
Die Linken interessiert das allerdings nicht. Sie haben
die erste Lesung dieses Gesetzentwurfs dazu missbraucht, die gesamte Branche des Hotel- und Gaststättengewerbes zu diffamieren. Ihre Pauschalvorwürfe
reichten von Ausbildungsverweigerung bis hin zu Ausbeutung. Ausbildungsverweigerung? Davon kann angeGitta Connemann
sichts von 100 000 Auszubildenden in sechs gastgewerblichen Berufen nun wirklich keine Rede sein. Allein
im Jahr 2006 konnte die Ausbildungsquote um
7,4 Prozent gesteigert werden. Diese Branche bietet an,
sogar noch mehr junge Menschen auszubilden, wenn es
nicht die bekannten Probleme gäbe.
Ich habe in den letzten Wochen im Rahmen von
Schulbesuchen mehrfach Schüler nach ihren Perspektiven gefragt, unter anderem in der letzten Woche in einer
Hauptschule in Haren, einer Stadt in meinem Wahlkreis.
Von zwei Mädchen erhielt ich die Antwort, dass sie eigentlich eine Ausbildungsstelle bekommen hätten, wenn
sie nicht zu jung gewesen wären. Sie sind 16 Jahre alt.
Nun werden sie in Maßnahmen abgeschoben. Sie werden geparkt, bis sie 18 Jahre alt sind.
({5})
Nach Ihrem Willen, meine Damen und Herren von den
Linken, müssten sie dort verharren, bis sie das
21. Lebensjahr erreicht haben. Das zeigt die Absurdität
Ihres Gesetzentwurfs. Ohne jeden Zweifel müssen Jugendliche an ihrem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz geschützt werden. Aber sie müssen an ihrem Arbeitsplatz
geschützt werden, nicht vor einem Arbeitsplatz.
({6})
Ausbeutung? Schwarze Schafe gibt es sicherlich in
jeder Branche. Sie müssen mit aller Härte verfolgt werden. Aber ein solcher Verstoß ist keine Frage der Beschäftigungszeit. Wer ausbeuten will, kann dies nach,
aber auch vor 22 Uhr tun. Außerdem handelt es sich nur
um Ausnahmen. Die Ausbildung eines jungen Menschen
erfordert von seinem Ausbilder großen persönlichen und
finanziellen Einsatz. Diesen Einsatz pauschal als Ausbeutung zu verleumden, finde ich persönlich ungeheuerlich.
({7})
Zur Klarstellung: Es geht lediglich um eine andere
Verteilung der Beschäftigungszeiten. Eine Verlängerung
der Arbeitszeiten von Jugendlichen wird nicht gefordert.
({8})
Aber das würde Sie offensichtlich weniger tangieren.
Diesen Eindruck habe ich gewonnen, nachdem ich die
letzte Rede der Kollegin Golze gehört habe. Sie wies
darauf hin, dass zentrale Abweichungstatbestände im
Rahmen von Tarifverträgen mit den Gewerkschaften
ausgehandelt werden können. Wenn man aber einen
Blick in das Tarifabkommen über die Ausbildungsvergütungen im Gaststätten- und Hotelgewerbe der
Freien und Hansestadt Hamburg wirft, stellt man fest:
Dort können jugendliche Auszubildende bis zu neun
Stunden täglich, bis zu 44 Stunden wöchentlich und bis
zu 5,5 Tage in der Woche beschäftigt werden. Es geht
also weit über die Vorgaben des Jugendarbeitsschutzgesetzes hinaus; das geschieht mit Ihrer Billigung. Interessant! Schon deshalb ist Ihr Gesetzentwurf abzulehnen.
Beachte immer, dass nichts bleibt, wie es ist, und
denke daran, dass die Natur immer wieder ihre Formen wechselt.
Marc Aurel sagte diesen Satz. Es ist an der Zeit, das Jugendarbeitsschutzgesetz den veränderten Realitäten anzupassen,
({9})
und zwar auf der Grundlage der Vorschläge der BundLänder-Arbeitsgruppe. Dann kann es heißen: Wollen
können ist eben besser als Müssen dürfen.
Vielen Dank.
({10})
Jetzt spricht die Kollegin Diana Golze für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum zweiten
Mal über diese beiden Gesetzentwürfe zum Jugendarbeitsschutz. Sie werden unseren nachher sicherlich
pflichtgemäß, aber, wie ich hoffe, wenigstens teilweise
gegen Ihre Überzeugung ablehnen. So ist das leider immer, und das ist schlecht.
({0})
Ich weiß: Jugendarbeitsschutz ist einigen von Ihnen ein
Graus. Wir wollen ihn aus Überzeugung.
Ich erinnere mich noch gut an die heftige Debatte, die
wir hier im Parlament geführt haben. Die FDP hatte einmal mehr mit dankenswerter Offenheit ein Bekenntnis
zur Schleifung des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzgesetzes abgelegt. Den Kolleginnen und Kollegen sage ich
ganz deutlich: Sie haben sich schon lange aus der seriösen Debatte um die Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes verabschiedet.
({1})
Sie haben hier nichts anderes als eine Auftragsarbeit der
Wirtschaftsverbände vorgelegt.
({2})
Ich empfehle Ihnen: Verlegen Sie Ihre Parteizentrale
doch gleich ins Haus der Deutschen Wirtschaft. Das
spart Miete und schafft kürzere Auftragswege.
({3})
Ich erinnere mich auch an die Vertreterinnen und Vertreter der Unionsfraktion. Sie haben hier mit Ausnahme
des unbelehrbaren Tourismuslobbyisten Ernst Hinsken
einen bemerkenswerten Kurswechsel hingelegt.
({4})
Noch im Wahlkampf 2005 stand die Schleifung des Jugendarbeitsschutzgesetzes ganz oben auf dem Wunschzettel für die erhofften schwarz-gelben Weihnachten.
Nun kann man sehen, dass die Große Koalition doch ein
wenig zivilisierend auf die Union wirkt - zumindest zeitweise; denn leider haben Sie Ihr Bekenntnis zum Erhalt
des Jugendarbeitsschutzgesetzes im Fachausschuss
schon wieder etwas abgeschwächt.
Ich erinnere mich auch an die Grünen, die uns einmal
mehr Populismus für Dinge, die sie einst auch auf ihrer
Agenda hatten, vorgeworfen haben.
({5})
Aber sei es drum: Ein Bekenntnis zum uneingeschränkten Erhalt des Jugendarbeitsschutzes haben auch Sie abgelegt. Aufgrund der neu errungenen Regierungsverantwortung in Bremen hoffe ich, dass dieses Bekenntnis
auch dazu führt, dass sich das Land Bremen in den Beratungen der zuständigen Bund-Länder-Arbeitsgruppe
offensiv gegen jede Verschlechterung im Jugendarbeitsschutzgesetz einsetzt. Ich darf Ihnen an dieser Stelle versprechen, dass die Linke im rot-roten Senat von Berlin
dafür eintreten wird, dass Sie in dieser Frage einen
Bündnispartner haben.
({6})
Nun zur SPD.
({7})
Sie nannten uns Träumer, weil wir den Geltungsbereich
des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf alle Jugendlichen
moderat bis zum 21. Lebensjahr ausweiten wollen.
({8})
Sie selbst - damit meine ich Sie selbst, Herr Staatssekretär Andres - haben 1992 in der Opposition noch eine
Ausweitung auf das 25. Lebensjahr vorgeschlagen.
({9})
Die Jugend der IG Metall fordert auch heute noch, dass
das Jugendarbeitsschutzgesetz für alle Auszubildenden
bis zum 25. Lebensjahr gelten soll.
({10})
Aber sei es drum: Solange Sie in der Bundesregierung
durch unsere Initiative gezwungen werden, eine Verschlechterung im Jugendarbeitsschutzgesetz nicht zuzulassen, werde ich mir Ihre Vorwürfe geduldig anhören.
({11})
Im Moment sieht es ja so aus, dass die Pläne der Bundesregierung zur Novellierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf Eis liegen. Der versprochene Bericht der
Bund-Länder-Arbeitsgruppe liegt nicht vor. Weitere Beratungen stehen an. Das heißt nichts anderes, als dass der
außerparlamentarische und der parlamentarische Widerstand gegen die Aushöhlung Erfolg hatten.
({12})
Damit haben wir schon eines unserer Ziele erreicht, auch
wenn Sie unsere Initiative heute ablehnen werden.
Ich hoffe, dass sich diejenigen, die sich bei der Gewerkschaftsjugend selbst zum Schutzpaten erklärt haben, im weiteren Verfahren daran erinnern werden. Für
uns geht es freilich um mehr: Wir wollen nicht nur den
Erhalt, sondern den Ausbau des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes.
Sollte die Bundesregierung nach allem, was bis jetzt
passiert ist, tatsächlich einen Reformvorschlag vorlegen,
der als Auftragsarbeit für die Wirtschaftsverbände zu
identifizieren ist, dann dürfen Sie sich ganz sicher sein,
dass wir hier im Parlament einen Gegenentwurf einbringen werden, der die Handschrift all derjenigen trägt, die
in den Betrieben als Gewerkschafter und Jugendvertreter
die Rechte von Auszubildenden verteidigen. Sie alle
- damit meine ich vor allem die SPD - werden sich dann
entscheiden müssen, auf welcher Seite Sie stehen.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt spricht die Kollegin Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Burgbacher, das Jugendarbeitsschutzgesetz wird wieder
einmal zum Sündenbock für die Ausbildungsplatzmisere
gemacht. So einfach ist die Welt nur noch für die FDP.
({0})
Eine Ihrer Behauptungen ist richtig, nämlich dass es
immer weniger Hauptschüler gibt, die einen Ausbildungsplatz in der Gastronomie finden.
({1})
Auch dass immer mehr Gymnasiasten in dieser Branche
arbeiten, ist richtig. Das liegt aber wahrlich nicht am Alter der Jugendlichen.
({2})
- Nein, es liegt an den gewachsenen Anforderungen
auch in diesem Bereich. Der DEHOGA selbst sagt, dass
nur noch knapp die Hälfte der Ausbildungsberufe in dieBrigitte Pothmer
sem Bereich für Hauptschüler angeboten wird, weil inzwischen die Anforderungen erheblich gestiegen sind.
Das Problem besteht darin, dass die Hauptschüler nicht
gut genug qualifiziert werden, um diesen Anforderungen
zu entsprechen.
({3})
Das hat in erster Linie nichts mit dem Alter der jungen
Leute, sondern mit dem schlechten Bildungssystem zu
tun.
Ich finde es langsam peinlich, dass Sie Debatte um
Debatte auf das Ausgehverhalten der Jugendlichen abheben, um Ihre Forderung durchzusetzen.
({4})
Wenn Sie im jugendlichen Alter selber in einer Kneipe
gekellnert hätten,
({5})
dann würden Sie auch den Unterschied zwischen Arbeiten und Feiern kennen.
({6})
Schade, dass Sie solche Erfahrungen nicht mitbringen.
Dann würden Sie zumindest dieses Argument nicht mehr
vorbringen.
Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist richtig und notwendig, weil Jugendliche, die sich in einem psychischen
und physischen Entwicklungsprozess befinden, einen
gewissen Schutz brauchen. Deswegen gibt es, glaube
ich, keine Notwendigkeit, das Jugendarbeitsschutzgesetz
an dieser Stelle zu ändern.
Aber, Frau Golze, es gibt auch keine Notwendigkeit,
den Schutz der Jugendlichen weiter auszudehnen.
Junge Leute wollen irgendwann gefordert werden.
({7})
Sie wollen ernst genommen und als Erwachsene behandelt werden.
({8})
Dazu gehört auch, dass sie versuchen, unter den Bedingungen der Erwachsenenwelt zurechtzukommen.
({9})
- Das haben wir nicht vorgeschlagen. So wenig wir wollen, dass junge Leute bis 25 am Rockzipfel ihrer Mutter
hängen, so wenig wollen wir sie unter eine Käseglocke
packen.
({10})
Ich halte das für falsch, weil es die Jugendlichen in ihrer
Entwicklung behindert.
({11})
Wenn wir wirklich etwas für die Jugendlichen tun
wollen, dann müssen wir woanders ansetzen. Dann müssen wir das Ausbildungssystem strukturell verändern
und verbessern. Dann ist eine modulare Ausbildung notwendig. Außerdem muss endlich das Berufsbildungsgesetz umgesetzt werden, das zwar schon seit mehreren
Jahren in Kraft ist, aber erst in vier von 16 Bundesländern umgesetzt worden ist.
Wir müssen vor allen Dingen die schulische Ausbildung verbessern. Es ist ein Skandal, dass Jahr für Jahr
20 Prozent bis 25 Prozent der Jugendlichen mit dem Etikett „nicht ausbildungsfähig“ versehen die Schulen verlassen. Diese Jugendlichen werden wir in den nächsten
Jahren brauchen. Wenn wir sie jetzt nicht qualifizieren,
dann werden wir sie ein Leben lang alimentieren müssen.
({12})
Darin besteht das Problem, nicht im Jugendarbeitsschutzgesetz, Herr Burgbacher.
({13})
Es wäre schön, wenn Sie Ihre Rolle nicht als parlamentarischer Arm des DEHOGA verstehen würden, sondern
tatsächlich übergeordnete Interessen verfolgen würden.
Das wäre gut für Sie und auch für die Jugendlichen.
Ich danke Ihnen.
({14})
Renate Gradistanac redet jetzt für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wie immer - ich glaube, das ist jedes Jahr so lehnen wir den Antrag der FDP zur Lockerung des Jugendarbeitsschutzgesetzes ab.
({0})
Nach dem Entwurf der Linken soll das Schutzalter auf
21 Jahre angehoben werden. Auch das lehnen wir ab.
Das Jugendarbeitsschutzgesetz hat die Aufgabe,
junge Menschen unter 18 Jahren entsprechend ihrem
Entwicklungsstand vor Überforderung, Überanspruchung und Gefahren am Arbeitsplatz zu schützen. Allgemein gilt, dass ungünstige und lange Arbeitszeiten
gesundheitliche Beeinträchtigungen begünstigen und
das Unfallrisiko erhöhen. Überträgt man diese Erkenntnisse auf Jugendliche, dann sollten für uns alle zwei
Dinge selbstverständlich sein: Erstens. Junge Menschen
dürfen nicht den gleichen Belastungen ausgesetzt werden wie Erwachsene. Zweitens. Eine Verlängerung der
Jugendarbeitszeit ist vor allem aus gesundheitlichen
Gründen abzulehnen.
Bereits heute scheiden zahlreiche Menschen aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Arbeitsleben
aus. Wenn Menschen aber länger arbeiten sollen - Stichwort „Rente mit 67“ -, dann ist dies nur möglich, wenn
wir uns für eine starke Präventionskultur einsetzen.
({1})
Die SPD-Fraktion will ein Präventionsgesetz. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir die Prävention zu einer eigenständigen Säule der gesundheitlichen
Versorgung ausbauen wollen. Zur Prävention gehören
auch die Erhaltung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz und die Vermeidung von krankheitsbedingten Frühverrentungen. Dem widerspricht
eine Lockerung des Jugendarbeitsschutzes.
Seit langem gibt es das fadenscheinige Argument,
dass der Jugendarbeitsschutz ein Ausbildungshindernis
für Haupt- und Realschüler im Hotel- und Gaststättengewerbe sei. Dennoch will ich es kurz beleuchten: Es
gibt keinen Verdrängungseffekt durch volljährige Abiturienten und Abiturientinnen, meine sehr verehrten Herren von der FDP.
({2})
Ich glaube, einige in der CDU wackeln auch. Im Gegenteil: In keiner anderen Branche ist der Anteil der Auszubildenden mit Hochschulreife von 1996 bis 2002 stärker
gesunken als im Hotel- und Gaststättengewerbe; da ist er
nämlich von 13,4 Prozent auf 9,7 Prozent gesunken. Es
gilt eben, manchmal genauer hinzuschauen, die Zahlen
genau zu lesen und nicht immer Falsches vorzutragen.
({3})
Fakt ist doch, dass das Jugendarbeitsschutzgesetz
schon jetzt auf die Bedürfnisse, die im Besonderen im
Hotel- und Gaststättengewerbe bestehen, eingeht. Normalerweise liegt die Beschäftigungszeit zwischen 6 und
20 Uhr. Die Ausnahme für diese Branche sieht eine Beschäftigung bis 22 Uhr, im Schichtbetrieb sogar bis
23 Uhr vor. Was, Herr Burgbacher, sollen Auszubildende eigentlich zwischen 22 und 23 Uhr noch lernen?
({4})
Spülen, Stühle hochstellen und dann das Licht ausmachen? - Ich glaube nicht, dass diese späte Stunde der Erreichung der Ausbildungsziele dient.
({5})
Da stellt sich mir doch die Frage, ob nicht andere Interessen - ({6})
- Sie brauchen sich gar nicht zu melden. Ich antworte
ohnehin nicht auf Ihre Frage.
({7})
Sie möchten die Zwischenfrage also nicht zulassen,
Frau Kollegin?
Nein. Ich kenne ihn; da kommt nichts Gescheites heraus.
({0})
Es stellt sich mir die Frage, ob hier nicht andere, nämlich wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen,
Herr Burgbacher, und nicht die von Ihnen immer vorgeschobenen.
Der DEHOGA-Geschäftsführer - jetzt wird es spannend - äußerte sich erst kürzlich zum Thema „Alkoholmissbrauch“, zum sogenannten Flatrate-Trinken. Ich zitiere:
Jugendschutz muss in der Gastronomie oberste
Priorität haben.
Damit hat Herr Büttner meine und unsere volle Unterstützung.
({1})
Dies gilt im Besonderen für den Schutz von Jugendlichen bei der Arbeit.
({2})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Mein letzter Satz: Was fehlt, sind verschärfte Kontrollen, damit der Jugendarbeitsschutz endlich eingehalten
wird und Jugendliche vor Überforderung durch die Arbeitgeber geschützt werden.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5316, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3016 abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Fraktion Die Linke und
Gegenstimmen aus dem Rest des Hauses abgelehnt. Damit entfällt die dritte Beratung.
Wir stimmen jetzt über den von der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zum Schutz der arbeitenden Jugend ab. Der
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf DrucksaVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
che 16/5316, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/2094 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung
der FDP und Gegenstimmen aus dem übrigen Hause abgelehnt. Damit entfällt die dritte Beratung.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksachen 16/4663, 16/5053 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/5448 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({1})
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege
Siegfried Kauder ({2}), der Kol-
lege Joachim Stünker, die Kollegin Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, die Kollegen Jörn Wunderlich und
Hans-Christian Ströbele sowie die Kollegin Dr. Barbara
Hendricks.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes und anderer
Gesetze. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/5448, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
16/4663 und 16/5053 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FDP vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Än-
derungsantrag auf Drucksache 16/5485? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei
Zustimmung durch die FDP und Die Linke, Enthaltung
durch Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung durch die
Koalition abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-
men.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen aufzuste-
hen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
1) Anlage 7
in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5477? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Entschlie-
ßungsantrag bei Zustimmung durch die gesamte Opposi-
tion und Ablehnung durch die Koalition abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/5478. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit
ist auch dieser Entschließungsantrag bei Zustimmung
der Opposition und Ablehnung durch die Koalition ab-
gelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Peter
Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines generellen Tempolimits von
120 km/h auf deutschen Autobahnen
- Drucksache 16/5420 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothée
Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Einführung eines generellen Tempolimits von
130 Stundenkilometern auf Bundesautobahnen
- Drucksache 16/5145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Hier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben Gero
Storjohann, Jörg Vogelsänger, Jan Mücke, Lutz Heilmann
und Dr. Anton Hofreiter.
Interfraktionell ist Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/5145 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/5420
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Verabschiedung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über Qualität und Sicherheit
von menschlichen Geweben und Zellen ({5})
- Drucksache 16/3146 10282
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({6})
- Drucksache 16/5443 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hubert Huppe
Hierzu gibt es einen Entschließungsantrag der Frak-
tion des Bündnisses 90/Die Grünen. Ihre Reden zu Proto-
koll gegeben haben Hubert Hüppe, Dr. Carola Reimann,
Michael Kauch, Frank Spieth, Dr. Harald Terpe und Rolf
Schwanitz.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über
Qualität und Sicherheit von menschlichen Geweben und
Zellen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5443, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/3146 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und bei
Enthaltung der FDP und der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhalten wie vorher angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5443 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/5479. Wer stimmt dafür? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist bei
Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke und Ablehnung durch die übrigen Abgeordneten abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft in Ägypten fördern
- Drucksache 16/4458 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
1) Anlage 9
Ihre Reden zu Protokoll gaben Joachim Hörster, Dr.
Rolf Mützenich, Marina Schuster, Dr. Norman Paech
und Dr. Uschi Eid2). lnterfraktionell wird Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 16/4458 an die Ausschüsse
vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Verabschiedung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Anpassung des Dienstrechts
in der Bundesagentur für Arbeit ({8})
- Drucksache 16/5050 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({9})
- Drucksache 16/5289 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Rohde
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kollegen
Stefan Müller ({10}) Klaus Brandner, Jörg Rohde,
Kornelia Möller und Brigitte Pothmer.3)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Anpassung des Dienstrechts in der Bundesagentur für
Arbeit. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5289,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5050 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
bei Zustimmung durch die Koalition und Die Linke und
Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, der möge sich erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung mit dem gleichen Ergebnis wie vorher angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Körte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unrecht des Kalten Krieges wiedergutmachen
- Drucksache 16/3934 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben Günter
Baumann, Maik Reichel, Max Stadier, Jan Korte und
2) Anlage 10
3) Anlage 11
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wolfgang Wieland sowie der Kollege Gert
Winkelmeier1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/3934 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Verabschiedung eingebrachten Entwurfs
eines … Strafrechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Computerkriminalität ({12})
- Drucksache 16/3656 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({13})
- Drucksache 16/5449 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Kauder ({14})
Dirk Manzewski
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
Zu Protokoll gegebene Reden liegen von den Kollegen Siegfried Kauder ({15}), Dirk
Manzewski, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jan
Korte, Jerzy Montag und Alfred Hartenbach vor.2)
Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung haben abgegeben die Kolleginnen und
Kollegen Angelika Graf ({16}), Monika Griefahn,
Christoph Pries, Jörg Tauss, Siegmund Ehrmann und
Renate Schmidt ({17}).3)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Straf-
rechtsänderungsgesetzes zur Bekämpfung der Compu-
terkriminalität. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5449, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf der Druck-
sache 16/3656 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungs-
antrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst
abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 16/5486? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Damit ist der Änderungsantrag bei Zustim-
mung durch die Linke und Gegenstimmen der übrigen
Abgeordneten abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung bei Ablehnung durch Die Linke und ei-
nen Abgeordneten der SPD-Fraktion und Zustimmung
des übrigen Hauses angenommen.
1) Anlage 12
2) Anlage 13
3) Anlagen 5 und 6
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
({18})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Engpässe beim grenzüberschreitenden Strom-
handel abbauen - Wettbewerb auf dem
Elektrizitätsmarkt intensivieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Martin Zeil, Jens Ackermann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Wettbewerb für die deutschen und eu-
ropäischen Energiemärkte - Europäischen
Impuls aufnehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Dr. Thea Dückert, Hans-Josef Fell, Kerstin
Andreae und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Wettbewerb auf den Energiemärkten stär-
ken, eigentumsrechtliche Entflechtung der
Transportnetze umsetzen und Möglichkeiten
zur Entflechtung bei marktbeherrschenden
Stellungen schaffen
- Drucksachen 16/3346, 16/4187, 16/4557,
16/5337 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Die zu Protokoll gegebenen Reden stammen von den
Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer, Rolf Hempelmann,
Gudrun Kopp, Kerstin Andreae und Hans-Kurt Hill.4)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion der FDP mit dem Titel „Engpässe beim
grenzüberschreitenden Stromhandel abbauen - Wettbe-
werb auf dem Elektrizitätsmarkt intensivieren“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/5337, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3346 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalition und der Linken
gegen die Stimmen der FDP und bei Enthaltung der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
4) Anlage 14
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/4187 mit dem Titel „Mehr
Wettbewerb für die deutschen und europäischen Ener-
giemärkte - Europäischen Impuls aufnehmen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfeh-
lung bei Zustimmung durch die Koalition und Die
Linke, Gegenstimmen der FDP und bei Enthaltung von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5337 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/4557 mit dem Titel
„Wettbewerb auf den Energiemärkten stärken, eigen-
tumsrechtliche Entflechtung der Transportnetze umset-
zen und Möglichkeiten zur Entflechtung bei marktbe-
herrschenden Stellungen schaffen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Diese Beschlussempfehlung ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalition, Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung von FDP
und der Linken.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 25 a bis c so-
wie den Zusatzpunkt 5 auf:
25 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Bildungsbericht 2006 - Bildung in
Deutschland
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 16/4100 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({20})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bildungsberichterstattung fortführen und weiterentwickeln
- Drucksache 16/5415 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({21})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({22}), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung stärken
- Drucksache 16/5412 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({23})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Bildungsberichterstattung in Deutschland und
deren Weiterentwicklung
- Drucksache 16/5409 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({24})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Zu Protokoll gegeben haben ihre Rede die Kollegen
Marcus Weinberg, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Cornelia
Pieper, Cornelia Hirsch, Priska Hinz ({25}) und der
Parlamentarische Staatssekretär Andreas Storm.1)
Verabredet ist, die Drucksache 16/4100 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Innenausschuss, an den Ausschuss für Angelegenheiten
der Europäischen Union sowie an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/5415, 16/5412 und 16/5409 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({26}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die deut-
sche humanitäre Hilfe im Ausland 2002 bis
- Drucksachen 16/3777, 16/5490 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
1) Anlage 15
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Michael Leutert
Volker Beck ({27})
Uns liegen die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Ute Granold, Christel Riemann-Hanewinckel, Burkhardt
Müller-Sönsken, Michael Leutert und Thilo Hoppe vor.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Bericht der Bundesregierung über die deutsche Humanitäre Hilfe im Ausland von 2002 bis 2005 auf den
Drucksachen 16/3777 und 16/5490. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
und der Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({28})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen
Gehb, Norbert Geis, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fritz Rudolf Körper,
Joachim Stünker, Dr. Carl-Christian Dressel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({29}), Markus Kurth, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes
- Drucksachen 16/3811, 16/1171, 16/5450 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Dr. Carl-Christian Dressel
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege
Dr. Jürgen Gehb, der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel,
die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sowie
die Kollegen Jörn Wunderlich und Volker Beck ({30}). 2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
und der Fraktion der SPD mit dem Titel „Ächtung des
Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom
14. Juli 1933“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
1) Anlage 16
2) Anlage 17
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5450,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
auf Drucksache 16/3811 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! -
Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stim-
men vom Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5450 empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/1171 mit dem Titel „Nichtig-
keitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! -
Die Enthaltungen! - Damit ist die Beschlussempfehlung
bei Zustimmung der Koalition, Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Linken sowie Enthal-
tung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation
- Drucksache 16/5404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({31})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({32}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Bund-Länder-Staatsvertrag - Qualitätsma-
nagement Lebensmittelqualität
- Drucksachen 16/2744, 16/3906 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ursula Heinen
Elvira Drobinski-Weiß
Hans-Michael Goldmann
Ulrike Höfken
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({33})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Verbraucherinformationsrechte stärken -
Neues Verbraucherinformationsgesetz zü-
gig vorlegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Zweite Chance nutzen - Das Recht auf Ver-
braucherinformation grundlegend neu ge-
stalten
- Drucksachen 16/4447, 16/4544, 16/5165 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ursula Heinen
Elvira Drobinski-Weiß
Hans-Michael Goldmann
Karin Binder
Ulrike Höfken
Hier liegen uns Reden der Kolleginnen und Kollegen
Ursula Heinen, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Michael
Goldmann, Karin Binder und Ulrike Höfken vor.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/5404 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28 b. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bund-Länder-
Staatsvertrag - Qualitätsmanagement Lebensmittelquali-
tät“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/3906, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/2744 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag
der Fraktion der FDP mit dem Titel „Verbraucherinfor-
mationsrechte stärken - Neues Verbraucherinforma-
tionsgesetz zügig vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5165, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/4447 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustim-
mung von der Koalition und von Bündnis 90/Die Grü-
nen, Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der Linken
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5165 empfiehlt der Ausschuss für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Ableh-
1) Anlage 18
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/4544 mit dem Titel „Zweite Chance
nutzen - Das Recht auf Verbraucherinformation grundlegend neu gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalition und Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und
FDP.
Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 29:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines Alkoholverbots für
Fahranfänger und Fahranfängerinnen
- Drucksache 16/5047 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({34})
- Drucksache 16/5398 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
Wir haben zu Protokoll gegebene Reden der Kolle-
ginnen und Kollegen Gero Storjohann, Heidi Wright,
Patrick Döring, Dorothée Menzner, Dr. Anton Hofreiter
und Achim Großmann.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung eines Alkoholverbots für Fahranfänger und Fahranfängerinnen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5398, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5047 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchten,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalition, Bündnis 90/Die Grünen und
der Linken gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf
zustimmen will, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmergebnis wie vorher angenommen.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf morgen, Freitag, den 25. Mai, 9 Uhr, ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den
restlichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.