Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Ortwin Runde feiert heute seinen
60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses
herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, dass die Kollegin Christine Scheel als ordentliches
Mitglied aus dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht ausscheidet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Antje Hermenau, die bisher
stellvertretendes Mitglied war, vorgeschlagen. Neues
stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Kerstin
Andreae werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegin Antje
Hermenau als ordentliches und die Kollegin Kerstin
Andreae als stellvertretendes Mitglied für den Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vorgeschlagen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({1})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({2})
- Drucksache 15/2468 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner,
Dirk Niebel, Daniel Bahr ({4}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Genfer Abkommen als Ausdruck
zivilgesellschaftlicher Friedensinitiative unterstützen
- Drucksache 15/2195 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen
Sicherungsverwahrung?
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny Mayer ({6}), Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von HIV/Aids verstärken
- Drucksache 15/2465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich,
Markus Löning, Dr. Guido Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bekämpfung von HIV/Aids zu
einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen
- Drucksache 15/2469 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner ({9}), Brigitte Wimmer ({10}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Roth ({11}), Volker
Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig
unterstützen
- Drucksache 15/2479 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen
im Iran
- Drucksache 15/2481 Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Sodann sollen die Tagesordnungspunkte 6 und 8 getauscht sowie der Tagesordnungspunkt 10 b - Handelsregistergebühren-Neuordnungsgesetz - abgesetzt werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss zur Mitberatung überwiesen
werden.
Gesetzentwurf über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen ({14})
- Drucksache 15/2328 überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur
Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte,
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU: Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in Moldau unterstützen
- Drucksache 15/1987 überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss ({16})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2004 der Bundesregierung
Leistung, Innovation, Wachstum
- Drucksache 15/2405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2003/2004 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 15/2000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die wichtigste Botschaft des Jahreswirtschaftsberichts klingt zwar sehr einfach, ist aber sehr wichtig:
Das vor uns liegende Jahr wird besser als das hinter uns
liegende.
({0})
Der Horizont reißt auf. Ich vermute, in wenigen Monaten werden wir und auch Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, anders über unser Land diskutieren
als in den vergangenen Monaten und Jahren.
({1})
Vielleicht werden wir in einigen Monaten sogar mit etwas mehr Selbstbewusstsein als heute feststellen, dass
wir in Deutschland die Kraft zum Turnaround gefunden
haben. Das ist außerordentlich wichtig.
({2})
Ich sage Ihnen: Dann wird die Zeit des Mitmachens
kommen und die Miesmacher werden gehen. Das ist die
Phase, auf die wir uns freuen.
({3})
Dem möchte ich gleich zu Anfang etwas hinzufügen,
was mich freut und was vermutlich - jedenfalls hoffe ich
das - viele freut: In der letzten Nacht bzw. heute Morgen
ist eine Einigung in der baden-württembergischen
Metallindustrie zustande gekommen. Ich freue mich
über diese Einigung von Herzen.
({4})
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum mich das so freut:
Durch die überraschend rasche Einigung dürfte die
Streikgefahr gebannt sein. Das ist für unser Land in der
gegenwärtigen Phase wichtig. Es wurde eine Einigung
über einen Tarifabschluss erzielt, der 26 Monate gelten
wird und - wenn man genau nachrechnet - Lohnerhöhungen von gut 2 Prozent vorsieht. Das heißt: Diese Tarifeinigung gibt allen Beteiligten Planbarkeit und Kalkulierbarkeit.
Es ist ein Abschluss, der Flexibilität ermöglicht in
Form einer betrieblichen Option, nämlich durch eine
Vereinbarung zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat. In Zukunft ist es für sechs Monate möglich,
dass nicht mehr nur 18 Prozent der Belegschaft, sondern
50 Prozent der Belegschaft auf die 40-Stunden-Woche
gehen, wenn - es ist etwas komplizierter formuliert - die
Auftragslage in dem jeweiligen Unternehmen das erfordert.
Zugleich ist eine zweite Form einer tarifvertraglichen
Option eröffnet, nämlich über den Beschäftigungssicherungstarifvertrag der Metallindustrie entsprechende Regelungen treffen zu können.
Meine Damen und Herren, ich betrachte diese Einigung als einen echten Fortschritt der Metalltarifparteien.
Sie ist eine Innovation der tariflichen Politik; ich begrüße sie deshalb ganz besonders.
({5})
Diese Einigung ist auch ein hervorragender Beweis,
dass die Konsensfähigkeit in unserem Land doch noch
vorhanden ist, und ein Beweis für die Bereitschaft der
IG Metall und der Arbeitnehmer, auf die berechtigten
Erwartungen der Wirtschaft zu mehr Flexibilität einzugehen. In diesem Fall war es die Bereitschaft der Arbeitnehmer und der IG Metall in Baden-Württemberg; aber
ich gehe davon aus, dass diese Einigung, wie die
IG Metall es nennt, Pilotfunktion für die Abschlüsse in
der gesamten Bundesrepublik hat. Ich denke und hoffe,
dass diese Tarifvereinbarung ein Vorbild für die anderen
Tarifbezirke der Metall- und Elektroindustrie sein wird.
Damit wäre die Streikgefahr in der Metallindustrie dann
endgültig gebannt.
Diese Einigung ist ebenso eine Bestätigung für das
Vertrauen, das wir in die Tarifvertragsparteien gesetzt
haben und setzen.
({6})
Sie können sich verständigen. Es bestätigt sich, was wir
immer wieder gesagt haben und was auf diesem Feld,
aber auch auf anderen Feldern gilt - ich sage das zu
Ihnen, Herr Kollege Merz, aber auch zu anderen bei
Ihnen -: Einigungen aus freien Stücken sind immer besser als gesetzliche Regelungen, im tariflichen Bereich
erst recht!
({7})
Ich betrachte dies als eine Bestätigung des Weges, den
der Bundeskanzler eingeschlagen hat und den wir mit
ihm eingeschlagen haben. Für mich ist das ein glänzender Einstieg der Tarifvertragsparteien der Metallindustrie - glänzend und insbesondere überraschend. Es ist
ein glänzender Einstieg in dieses Jahr, das ein Jahr der
wirtschaftlichen Erholung werden soll und werden muss,
ein Jahr des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs für
Deutschland. Das können wir schaffen. Dazu bietet dieser Tarifvertrag eine weitere Voraussetzung.
Meine Damen und Herren, der Aufschwung, den wir
für dieses Jahr erwarten, kommt zunächst einmal im
Schlepptau der Weltkonjunktur, die vor allem von den
USA und von China getragen wird. Der Welthandel wird
in diesem Jahr um 7 bis 8 Prozent wachsen, damit doppelt so stark wie im letzten Jahr. Davon wird auch die
deutsche Wirtschaft profitieren; sie ist stark bei Ausrüstungs- und bei Investitionsgütern, die am Beginn eines
Aufschwungs immer besonders gefragt sind.
Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist - entgegen dem, was vielfach verbreitet wird, auch von Teilen dieses Hauses, aber nicht nur, sondern auch weit darüber hinaus - so gut wie seit langem nicht mehr. Die
Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind, generell gesprochen, wieder gut gefüllt.
({8})
Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe zieht wieder
an. Das Geschäftsklima bessert sich schon seit Monaten:
Ungeachtet des hohen Eurokurses liegt der Ifo-Geschäftsklimaindex auf dem höchsten Stand der vergangenen drei Jahre.
Auch im Ausland setzen wieder mehr Investoren auf
unser Land: In den ersten drei Quartalen 2003 flossen
24,3 Milliarden Euro mehr Direktinvestitionen nach
Deutschland herein als aus Deutschland herausgingen.
Im gesamten Jahr 2002 betrug dieser Saldo nur
6,9 Milliarden Euro. 2001 war er sogar negativ. Dagegen
sind wir jetzt deutlich im Plus. All das zeigt: Die Investoren im Ausland - wie vermutlich und hoffentlich auch
die Menschen im Inland - fassen wieder Vertrauen in
den Standort Deutschland.
({9})
Die strukturellen Reformen der Bundesregierung
haben die Voraussetzungen verbessert, dass der in Gang
gekommene Aufschwung eine gute Basis hat. Vor diesem Hintergrund ist es mir unbegreiflich, meine Damen
und Herren - ich sage das ganz offen -, wie jemand
heute davon reden kann, die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung sei gescheitert.
({10})
Sie wird vielmehr bestätigt, von den in- und ausländischen Experten genauso wie von den Fakten, die wir in
Deutschland und darüber hinaus feststellen können.
({11})
Wir haben es Ihnen schon oft genug gesagt - es mag
Ihnen nicht passen -: Die Zeiten ändern sich: Der Anstieg kommt langsam, aber er kommt. Daran werden Sie
sich gewöhnen müssen. Alles in allem erwarten wir ein
Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von real 1,5 bis
2 Prozent, spitz gerechnet von 1,7 Prozent.
({12})
Das ist dann deutlich mehr als in den drei Jahren zuvor
und mehr als das Durchschnittswachstum der 90er-Jahre,
trotz des Booms durch die Einheit zu Beginn und des
vermeintlichen Technologiebooms am Ende des vergangenen Jahrzehnts. Die rote Wachstumslaterne, die wir in
Europa getragen haben, sind wir los, und das trotz diverser Sonderlasten, die wir in Deutschland durch den Aufbau Ost und durch die relativ hohen Realzinsen in der
Europäischen Währungsunion zu tragen haben.
Meine Damen und Herren, ich will nicht verschweigen, dass es, wie bei jeder Projektion, natürlich auch bei
dieser Risiken gibt. Insgesamt stimmen aber eigentlich
alle Fachleute mit uns überein, dass im Vergleich zum
Vorjahr die Chancen deutlich größer sind als die Risiken.
Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich in diesem Jahr verbessern, der wirkliche Durchbruch steht allerdings erst
2005 bevor. Zumindest wird der seit langem anhaltende
Beschäftigungsabbau allmählich zum Stillstand kommen. In der zweiten Jahreshälfte wird die Zahl der Erwerbstätigen wieder zunehmen, wenngleich sie im Jahresdurchschnitt annähernd auf dem Vorjahresniveau
verharren dürfte.
Die Arbeitslosenzahl wird weiter sinken. Das ist ein
Ergebnis unserer Arbeitsmarktreformen. 250 000 Menschen haben sich in Deutschland im vergangenen Jahr
aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig gemacht,
insgesamt waren es 500 000 Menschen. Aufgrund dieser
und anderer Reformen wird die Arbeitslosenzahl weiter
sinken. Ab Sommer wird sie sich aber auch im Zuge der
konjunkturellen Belebung verringern. Wir rechnen im
Jahresdurchschnitt 2004 mit einem Absinken der Arbeitslosenzahl im Jahresdurchschnitt um 100 000. Meine
Hoffnung ist, dass wir im Spätsommer endlich die 4-Millionen-Marke berühren und sie vielleicht sogar unterschreiten können.
Die Entwicklung, die wir absehen können, lässt keinen Zweifel: Der von uns eingeschlagene Kurs stimmt.
Das Potenzial für Wachstum und Wohlstand ist vorhanden. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist allen Herausforderungen zum Trotz hoch. Anders als in
den USA, die ich um ihre Wachstumsraten gelegentlich
beneide, führen wir den Turnaround nicht durch exorbitante Überschuldung mit hohen langfristigen Risiken
herbei
({13})
- ziehen Sie nur einmal einen Vergleich mit den USA! -,
sondern durch eine verantwortungsvolle Nutzung der
Spielräume, die konjunkturell gegeben sind, und durch
die gleichzeitig eingeleiteten Strukturreformen auf
dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen, die vertretbar waren und sind.
Ich füge hinzu: Dieses Potenzial dürfen wir nicht verspielen. Wir haben den Weg der Strukturreformen eingeschlagen und müssen ihn jetzt konsequent weitergehen,
so wie es im Jahreswirtschaftsbericht beschrieben ist.
Die Reformen im Rahmen der Agenda 2010 sind nicht
beendet. Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme,
und zwar europafähig, demokratiefest und sicher hinsichtlich der Globalisierung, ist noch in vollem Gange.
Dabei gilt es, die wirtschaftlichen Risiken im Auge zu
behalten, die ein hohes Maß an Verantwortung und Besonnenheit erfordern.
({14})
Zum einen muss der Wechselkurs, also das Verhältnis
des Dollar zum Euro, in einem vernünftigen und für die
Gesamtwirtschaft verträglichen Korridor gehalten werden. Es geht nicht an, dass die Eurozone die Lasten der
notwendigen und überfälligen Anpassung des Dollar
weltweit alleine trägt,
({15})
während zum Beispiel die japanische Notenbank den
Druck auf den Yen zumindest teilweise kompensiert. Ich
begrüße deshalb die Erklärungen der G-7-Finanzminister von Boca Raton, die die Verantwortung auch des
fernöstlichen Wirtschaftsraumes hervorheben. Wichtig
ist natürlich, dass zu gegebener Zeit den Worten auch
Taten folgen.
Zweitens. Die Lohnstückkosten müssen auch weiterhin moderat bleiben. Die Tarifpolitik muss die im Zuge
der Erweiterung der Europäischen Union immer schärfer
werdende Kostensituation am Standort Deutschland
durch erhöhte und zusätzliche Flexibilität ausgleichen.
Dazu gibt es keine Alternative. Aus diesem Grund ist es
umso wichtiger, dass es bei den Tarifverhandlungen in
der Metallbranche zu einer Einigung kommt.
Drittens. Wenn man über Risiken spricht, dann muss
denjenigen, die in der Wirtschaft und in der Politik Verantwortung tragen, klar sein, dass auch sie ihren Beitrag
leisten müssen, damit sich der beginnende Aufschwung
Bahn brechen kann. Ja, es geht auch darum, psychologisch die Weichen für einen lang anhaltenden Aufschwung zu stellen, durch den ab 2004/2005 auch die
festgefressene Langzeitarbeitslosigkeit gesenkt wird. Es
geht in Deutschland um berechtigte Zuversicht statt um
banges Zuwarten, Nörgeln und Nölen. Wir müssen endlich die Kraft zum Aufschwung finden.
({16})
Wir haben schon einiges erreicht. Insbesondere ist es
gelungen, in der Steuerpolitik ein international wettbewerbsfähiges Einkommensteuerrecht zu entwickeln.
Mit einer volkswirtschaftlichen Steuerquote von jetzt
20,9 Prozent liegen wir international im unteren Bereich.
Noch 1995 waren es 23,1 Prozent. Steuervereinfachungen haben deshalb jetzt Vorrang vor vielleicht wünschbaren, aber nicht finanzierbaren weiteren Steuersatzsenkungen, deren Gegenfinanzierung in der Luft hinge. Es
geht jetzt um verlässliche Rahmenbedingungen.
({17})
Offene und flexible Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkte sind genauso wie Klarheit und Verlässlichkeit im Hinblick auf die Finanzierung der sozialen Sicherung zentrale Voraussetzungen für eine höhere
Beschäftigungsdynamik und für das Einschwenken auf
einen dauerhaft höheren Wachstumspfad. Deswegen
müssen die Reformen gemäß der Agenda 2010 fortgeführt werden. Angesichts der Herausforderungen, mit
denen wir es zu tun haben - Abbau der Arbeitslosigkeit,
Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Erweiterung der Europäischen Union, Aufbau Ost in
Deutschland und demographische Entwicklung -, können und werden wir uns keinen Reformstopp leisten.
Ansonsten würden wir kein höheres Potenzialwachstum
der deutschen Wirtschaft erreichen, also ein Wachstum
ohne inflationäre Verspannungen. Aber dieses Ziel verfolgen wir. Deshalb muss auch der Prozess der Absenkung der Lohnnebenkosten weitergeführt werden. Wir
verfolgen weiterhin das Ziel, die Quote der Sozialversicherungsbeiträge in überschaubarer Zeit auf 40 Prozent
des beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelts zu senken.
({18})
Zum höheren Wachstum der Produktivität tragen vor
allem Investitionen in Bildung und Wissenschaft bei.
Wir setzen auf das Wissen und die Kompetenz der Menschen und auf die Innovationskraft der Unternehmen.
Das sind unsere wichtigsten Ressourcen. Derzeit geben
Staat und Wirtschaft in Deutschland - die öffentlichen
Hände und die Wirtschaft tun das gemeinsam - zusammen etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus. Gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäischen Union wollen wir diese
Quote bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent erhöhen. Das ist
eine große Herausforderung und erfordert ein enges Zusammenwirken aller verantwortlichen Gruppen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik und aller öffentlichen
Hände. Das ist das Kernstück der Initiative „Partner für
Innovationen“, die der Bundeskanzler auf den Weg gebracht hat.
({19})
Mir ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis besonders wichtig: Aus meiner Sicht reden wir bei Innovationen nicht allein und nicht einmal in erster Linie über
neue Produkte und neue Technologien, sondern wir reden über Menschen, Köpfe, Können und Qualifikationen. Deshalb reden wir auch über Motivation, Leidenschaft, Begeisterung und die Lust, Neues auszuprobieren
und zu wagen und dabei auch Verantwortung zu übernehmen. Das kann die Politik nicht allein schaffen. Sie
kann das aber anstoßen und voranbringen, indem sie beispielsweise den Generationen, die nach uns kommen
und die zu den am besten qualifizierten Generationen in
der Geschichte Deutschlands gehören, mehr materielle
und administrative Freiräume für das Denken, Forschen
und Kreieren sowie für das Gründen von Unternehmen
gibt. Eigenverantwortung und Eigeninitiative sind wesentliche Antriebskräfte für die wirtschaftliche Dynamik, die wir jetzt entfachen müssen und auch können.
({20})
Wir wollen und wir müssen Deutschland in einem
welt- und gesamtwirtschaftlichen Umfeld, das sich immer günstiger darstellt, auf dem Wachstumspfad weiter
nach vorne in die Weltspitze bringen, wohin es auch gehört. Das ist neben anderem die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir die viel zu hohe Arbeitslosigkeit
endlich überwinden können. Das ist der Schlüssel zur
Lösung vieler Probleme in unserem Land. Ich sage - so
steht es auch im Jahreswirtschaftsbericht -: Wir sind
endlich wieder auf dem Weg voran. Meine Bitte und
meine Einladung ist: Gehen Sie mit auf diesem Weg für
die Bundesrepublik Deutschland!
Ich danke Ihnen sehr.
({21})
Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Rede des Bundeswirtschaftsministers war erkennbar in erster Linie nicht an die deutsche Öffentlichkeit, sondern an die eigene Fraktion und Partei gerichtet,
({0})
die ganz offensichtlich immer größere Schwierigkeiten
haben, dem Kurs des Bundeswirtschafts- und -arbeitsministers zu folgen.
Herr Clement, wenn Sie in Ihrer Rede von Innovationen sprechen - wer will Ihnen da widersprechen? - und
dies mit dem Appell zu Lust und Leidenschaft verbinden, dann ist das wirklich bemerkenswert; denn auch das
richtet sich an Ihre eigene Bundestagsfraktion und bei
weitem nicht an die deutsche Wirtschaft. Diese ist weiter
als große Teile Ihrer Fraktion. Das wissen Sie und das
konnte man auch heute Morgen in Ihrem Beitrag sehr
deutlich spüren.
({1})
Nun ist in der Bundesregierung niemand so sehr zum
Optimismus geradezu verurteilt wie der Bundeswirtschaftsminister. Sie müssen sagen - das gehört zu Ihrer
Aufgabe -, dass es gute Perspektiven und Chancen gibt.
({2})
- Zahlen lesen, das wollen wir gerne tun, Frau Kollegin.
Lassen Sie uns doch einfach vergleichen, was der Bundeswirtschaftsminister im letzten Jahr zu ungefähr dieser
Zeit von diesem Pult aus über die Entwicklung des
Jahres 2003 erklärt hat. Ich habe heute Morgen übrigens
einige Versatzstücke wiedergefunden; das ist ja an sich
nicht zu kritisieren.
Wie war die Situation im letzten Jahr, als Sie zum ersten Mal den Jahreswirtschaftsbericht - richtigerweise
unterfiel er wieder Ihrer Zuständigkeit - vertreten haben,
und wie ist das Jahr 2003 zu Ende gegangen? Sie haben
ziemlich genau zu dieser Zeit im letzten Jahr vorausgesagt: Das Tal der Tränen ist durchschritten. Es wird im
Jahr 2003 wieder ein stabiles wirtschaftliches Wachstum geben. Die Bundesregierung erwartet 1 Prozent. Ich
persönlich - so haben Sie es dem Sinne nach gesagt könnte mir sogar vorstellen, dass es ein bisschen mehr
als 1 Prozent Wachstum geben wird. - Am Ende des
Jahres 2003 lag das Wachstum bei minus 0,1 Prozent.
Das ist die Bilanz des Jahres 2003; ich habe Ihnen die
Zahlen vorgetragen, Frau Kollegin.
Sie sind in der Einschätzung der Lage zu optimistisch
gewesen. Das war ein Stück Täuschung und auch ein
Stück Selbsttäuschung über die Bedingungen für einen
möglichen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Leider haben Sie auch heute Morgen wieder diesen
Zweckoptimismus vertreten.
Ich will Ihnen etwas zur Lage auf dem Arbeitsmarkt
sagen. Nicht nur die Wachstumslücke zu anderen Ländern in der Europäischen Union wird größer. Deutschland fällt weiter zurück. Es ist wahr: Wir werden im
Jahr 2004 wahrscheinlich die rote Laterne abgeben.
Aber wir sind weit davon entfernt, auch nur den Durchschnitt der Wachstumsraten der übrigen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union zu erreichen. Dies schlägt sich
auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland nieder. Sie, meine
Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, haben
in der Arbeitsmarktpolitik im Grunde genommen nur die
Statistik bereinigt. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit im
Jahr 2003 - saisonbereinigt ohnehin, aber in fast jedem
Monat auch ohne die Saisonbereinigung - ständig weiter
gestiegen.
Hier auf der Regierungsbank sitzt ein Bundeskanzler
- erkennbar angeschlagen -, der irgendwann einmal erklärt hat, er wolle sich jederzeit daran messen lassen,
dass die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen absinkt.
({3})
Dann machen wir das heute einmal. Die Arbeitslosigkeit
in Deutschland liegt bei 4,6 Millionen. Über den Jahreswechsel haben wir es auch saisonbereinigt mit einer
Steigerung der Arbeitslosigkeit zu tun. Die strukturelle
Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Sie sind von dem Ziel,
das Sie sich selbst gesetzt haben - von der Halbierung
der Arbeitslosigkeit, die Sie auch angekündigt haben,
will ich gar nicht sprechen; reden wir nur über die
3,5 Millionen -, weit entfernt.
({4})
- Entschuldigung, es war doch Bestandteil Ihres Regierungsprogramms, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Sie
waren es doch, die angekündigt haben, mit den HartzGesetzen könne die Arbeitslosigkeit in Deutschland in
absehbarer Zeit halbiert werden. Davon will ich aber gar
nicht sprechen. Reden wir darüber, was der Bundeskanzler immer wieder gesagt hat.
({5})
Er selbst wolle sich nicht erst bei der Wahl, sondern jederzeit daran messen lassen, dass die Arbeitslosigkeit in
Deutschland auf unter 3,5 Millionen absinkt. Wir sind in
der gesamten Regierungszeit von Rot-Grün von diesem
Ziel weiter denn je entfernt. Das ist die traurige Wahrheit
am heutigen Tag zum Jahreswirtschaftsbericht dieser
Bundesregierung.
({6})
Nun sind Sie in der Tat veranlasst - das will ich zugestehen -, bei der Arbeitslosenstatistik einige Korrekturen
vorzunehmen, sodass sie international vergleichbar wird.
Das will ich nicht kritisieren. Das ist so in Ordnung. Das
müssen Sie tun, damit die Arbeitslosenstatistik mit den
Arbeitslosenstatistiken anderer Länder, die der Internationalen Arbeitsorganisation angehören, vergleichbar
wird. Das ist richtig.
Nun lassen Sie uns einen Blick auf die Beschäftigtenzahlen werfen. Die Beschäftigtenzahlen sind nach
meiner Überzeugung ohnehin aussagekräftiger bezüglich der Frage, ob eine Industrienation oder eine Volkswirtschaft in der Lage ist, zusätzliche Beschäftigung zu
generieren oder nicht. Wir haben es, seitdem Sie in der
Regierungsverantwortung sind, mit einer kontinuierlichen Abnahme der Beschäftigtenzahlen in Deutschland
zu tun. Wir haben gegenwärtig gerade noch 27 Millionen
sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Deutschland. Das ist für ein Volk von 82 Millionen Einwohnern
zu wenig. Sie werden auch die sozialen Sicherungssysteme mit dieser abnehmenden Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland nicht aufrechterhalten können. Da liegt die eigentliche Ursache
auch für die Krise unserer sozialen Sicherungssysteme.
({7})
Darüber haben Sie, Herr Clement, heute Morgen leider
kaum ein Wort verloren.
Sie haben darauf hingewiesen, es gebe eine sehr ermutigende Zahl von Unternehmensgründungen. Es ist
wahr: Es gibt Unternehmensgründungen. Aber die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung, das der Bundesagentur für Arbeit
angeschlossen ist, hat vor einigen Tagen eine höchst aufschlussreiche Statistik über die Unternehmensgründungen in Deutschland veröffentlicht. Wir hatten in den
90er-Jahren bis zum Regierungswechsel 1998 über lange
Jahre kontinuierlich über 500 000 Unternehmensgründungen pro Jahr. Das war auch in der zweiten Hälfte der
90er-Jahre der Fall. Auch im Jahr des Regierungswechsels, 1998, lag die Zahl der Unternehmensgründungen in
Deutschland deutlich über 500 000.
Im Jahre 2003 - das ist das Jahr, in dem Sie Ihre Instrumente erstmalig eingesetzt haben, insbesondere die
so genannte Ich-AG - ist die Zahl der Unternehmensgründungen auf 450 000 zurückgegangen. Mehr als die
Hälfte dieser 450 000 Unternehmensgründungen sind
staatlich gefördert gewesen. Früher lag der Anteil der
geförderten Unternehmen bei etwa 100 000 bei einer
Gesamtzahl von 500 000. Mittlerweile ist mehr als die
Hälfte der Unternehmensgründungen staatlich gefördert.
Von 452 000 Unternehmensgründungen im Jahre 2003
sind fast 250 000 staatlich gefördert gewesen.
Herr Clement, an diesem Beispiel sehen Sie: Entweder gibt es bei den so genannten Ich-AGs und allen
Instrumenten, die Sie geschaffen haben, gehörige Mitnahmeeffekte, die in der Gesamtbilanz der Unternehmensgründungen zu keiner Besserung geführt haben,
oder aber, was noch schlimmer wäre, der Markt der Unternehmensgründungen bricht weiter zusammen und
mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Unternehmensgründungen von staatlicher Unterstützung abhängig. Das
ist eine dramatische Entwicklung.
Gleichzeitig haben Sie auch wegen der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung - ich will nicht sagen: nur - zu verantworten, dass wir im Jahr 2003 über
40 000 Insolvenzen in Deutschland gehabt haben. Damit wird die dramatische Lage der Volkswirtschaft der
Bundesrepublik Deutschland mit einem Schlag sichtbar.
Da nützt es überhaupt nichts, dass Sie sich hierhin stellen und über Innovation, Lust und Leidenschaft reden
und alle diejenigen, die kritische Anmerkungen machen,
in die Ecke der Mäkler und der Meckerer stellen. Wir haben es unverändert mit einer strukturellen Krise der
deutschen Volkswirtschaft zu tun. Diese strukturelle
Krise der deutschen Volkswirtschaft hat unverändert etwas mit der Regierungspolitik von Rot und Grün zu tun.
Das ist die Wahrheit, der Sie nicht ausweichen können.
({8})
Nun beklagt sich nicht nur jeder von uns - zu Recht -,
dass die Arbeitslosigkeit steigt, die Beschäftigung sinkt
und die Unternehmensinsolvenzen ein bedrohliches Maß
erreicht haben; wir alle sind auch über die Lage auf den
Ausbildungsmärkten zutiefst besorgt. Es ist in der Tat in
Deutschland Jahr für Jahr schwierig für junge Menschen, Ausbildungsplätze zu finden. Natürlich hat die
Zahl der Ausbildungsplätze etwas damit zu tun, wie groß
die Zahl der Unternehmen in Deutschland ist. Wenn die
Zahl der Insolvenzen steigt, dann nimmt naturgemäß
auch die Zahl der Ausbildungsplätze ab. Glauben Sie
denn im Ernst, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Partei - ich frage auch die grünen Kollegen; Herr Kuhn, Sie werden gleich reden, vielleicht können Sie dazu etwas sagen -, dass Sie die Lage bei den
Ausbildungsstellen in dieser Republik um ein Jota verbessern, wenn Sie Ihren Plan in die Wirklichkeit umsetzen, in Kürze eine Ausbildungsplatzabgabe in Deutschland gesetzlich vorzuschreiben? Was geht in Ihren
Köpfen eigentlich vor?
Haben Sie die Realität völlig aus den Augen verloren? Sehen Sie nicht, was in den Betrieben los ist
({9})
und welche Anstrengungen seitens der Betriebe unternommen werden, zum Teil auch über den Bedarf hinaus
auszubilden und qualifizierte Bewerber für offene Ausbildungsstellen zu finden? Glaubt irgendjemand von Ihnen im Ernst, dieses Problem mit einer Ausbildungsplatzabgabe lösen zu können?
Sie verschärfen vielmehr das Problem auf den Ausbildungsmärkten und verstaatlichen auf diesem Wege
schrittweise die berufliche Bildung in Deutschland. Mit
dem, was Sie vorhaben, machen Sie die Ausbildungsmärkte kaputt.
({10})
Wenn sich der Bundeskanzler schon nicht selber äußert, dann hätte ich zumindest von Ihnen, Herr Clement,
erwartet, dass Sie in Ihrer Rede zum Jahreswirtschaftsbericht 2004 auch im Angesicht der eigenen Bundestagsfraktion noch einmal so deutlich und klar darauf hinweisen, wie Sie es schon an anderer Stelle getan haben, dass
Sie Ihr persönliches Schicksal damit verbinden, dass
keine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird.
({11})
Denn Sie sind zu Recht gegen diese Abgabe. Dabei können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen.
({12})
Herr Bundeskanzler, Sie sehen so fröhlich aus. Welche Meinung vertreten Sie zu diesem Thema? Bei wem
liegt eigentlich die Richtlinienkompetenz für die Politik
in Deutschland? Ist sie jetzt von der Regierungsbank zur
SPD-Bundestagsfraktion übergegangen?
Wenn Sie dieses Thema auf die Tagesordnung setzen,
dann unterstützen wir den Bundeskanzler und den Bundeswirtschaftsminister dabei, die Einführung dieses Instruments in Deutschland zu verhindern. Sie können sich
bei dieser Politik fest auf uns verlassen, Herr Clement.
({13})
Ich schließe mich in diesem Zusammenhang - jedenfalls im Grundsatz - ausdrücklich Ihren Äußerungen aus
der vergangenen Nacht zum Thema Tarifabschluss in
der Metallindustrie an. Es ist in der Tat zu begrüßen,
dass es gelungen ist, einen Streik in der Metallindustrie
abzuwenden und dass ein kleiner Schritt in die richtige
Richtung erfolgt ist, auch Tarifverträge für die Möglichkeit zu öffnen, auf betrieblicher Ebene längere Arbeitszeiten zu vereinbaren.
Ich unterstütze diesen Weg und die Tarifvertragsparteien haben gezeigt, dass sie ihn wenigstens mit kleinen
Schritten beschreiten können. Ich fürchte aber, dass nach
den in dem Tarifvertrag getroffenen Vereinbarungen längere Arbeitszeiten für die unteren und mittleren Lohngruppen in den Betrieben ohne zusätzlichen Lohnausgleich nicht möglich sind und dass die schleichende
Aushöhlung bei den Arbeitsplätzen der mittleren und unteren Einkommensgruppen weiter voranschreitet. Denn
das eigentliche Problem sind nicht die gut qualifizierten
Beschäftigten und deren Arbeitszeiten. Sie arbeiten ohnehin längst stillschweigend und zum Teil auch durch
die Gewerkschaften geduldet weit über die normale Arbeitszeit hinaus.
Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit von
Arbeitsplätzen in Deutschland ist vielmehr, dass auch
und gerade einfache Arbeitnehmer die Chance bekommen, für den gleichen Lohn mehr zu arbeiten und dadurch ihre Arbeitsplätze vor der zunehmenden Konkurrenz aus Osteuropa zu retten.
Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Deutschland sind in den vergangenen Jahren nicht gewachsen; sie sind eher zu niedrig als zu hoch.
({14})
Aber die Bruttoarbeitskosten sind gerade in der Metallindustrie für die Betriebe zu hoch. Deswegen muss es
eine Möglichkeit geben, die Wettbewerbsfähigkeit von
Arbeitsplätzen insbesondere - aber nicht nur - gegenüber der osteuropäischen Konkurrenz zu stärken. Das ist
nicht durch Lohndrückerei zu schaffen - das wird niemand von uns befürworten -, aber es ist durch längere
Arbeitszeiten und eine höhere Produktivität möglich.
Deswegen bleibt der Tarifabschluss an dieser Stelle leider hinter dem zurück, was insbesondere für die mittleren und unteren Einkommensgruppen in den Belegschaften hätte erwartet werden können.
({15})
Auffällig an der Rede des Bundeswirtschaftsministers
ist vor allem, worüber er nicht spricht. Lassen Sie mich
zwei Themen ansprechen, die der zuständige Minister in
einer so wichtigen Rede in einer so wichtigen Debatte
praktisch mit keinem Wort berücksichtigt hat. Sie haben
das Thema Aufbau Ost einzig und allein in dem Kontext erwähnt, Herr Clement, dass durch den Aufbau Ost
zusätzliche Probleme im Zusammenhang mit dem Verbrauch des Bruttosozialprodukts bestehen und dass wir
trotz der Probleme beim Aufbau Ost die rote Laterne abgeben.
Niemand von uns will bestreiten - der Wirtschaftsminister des Freistaates Thüringen wird noch zu diesem
Thema sprechen -, dass ein anhaltender Transferbedarf
in den neuen Bundesländern besteht. Aber ist das ernsthaft alles, was Ihnen zum Thema Aufbau Ost einfällt,
nämlich der Hinweis, dass Deutschland trotz seiner Probleme die rote Laterne beim Wachstum abgibt? Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie dazu etwas mehr sagen.
Die Wachstumsschere zwischen Ost und West öffnet
sich wieder. Die Wachstumsraten in den neuen Bundesländern sind geringer als die in den alten Bundesländern.
Es gibt zwar nach wie vor jemanden, der sich Beauftragter des Bundeskanzlers für den Aufbau Ost nennt.
({16})
Aber dieser hat es noch nicht einmal nötig, an der heutigen Debatte teilzunehmen.
({17})
- Wo ist er? Ich sehe ihn noch immer nicht. Wenn er da
sein sollte, dann bitte ich um Entschuldigung.
({18})
Wir sind uns aber darüber einig, dass in einer Debatte
über die wirtschaftliche Lage Deutschlands mehr als nur
das gesagt werden muss, dass das ein Problem sei.
({19})
Wo liegen die Chancen für den Aufbau Ost und insbesondere im Zuge der Osterweiterung vom 1. Mai 2004
an? Zu diesem Zeitpunkt wird die Europäische Union
zehn neue Mitgliedstaaten bekommen. Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben kaum ein Wort darüber verloren. Wo liegen die Chancen und die Herausforderungen?
Das Lohngefälle zwischen Ost und West wird wahrscheinlich zunehmen. So wird das Lohngefälle zwischen
Brandenburg und Breslau möglicherweise 7 : 1 betragen.
Welche Antwort gibt die Wirtschaftspolitik auf diese Herausforderung? - Bedauerlicherweise haben Sie darüber
kein Wort verloren.
({20})
- Ich habe gesagt, dass Sie auch über die Chancen etwa
im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäischen Union sprechen müssen. Dann können wir auch
über Standortbedingungen diskutieren.
({21})
Man kann doch wohl erwarten, dass der Bundeswirtschaftsminister dazu mehr als nur das sagt, das sei ein
Problem. Ich glaube, das erwarten wir alle zu Recht von
ihm.
({22})
Ein weiteres großes Thema, das die deutsche Wirtschaft beschäftigt wie kaum ein anderes, ist die Energiepolitik. Herr Bundeswirtschaftsminister, warum haben
Sie in Ihrer Rede heute Morgen kein Wort darüber gesagt, dass es ein zunehmendes Problem ist, dass die deutsche Wirtschaft mit Energiekosten belastet ist, die kontinuierlich steigen, und dass der deutschen Wirtschaft alle
Wettbewerbsvorteile, die durch die Liberalisierung der
Energiemärkte in der Europäischen Union hätten entstehen können, durch höhere administrative Preise sowie
durch Steuern und Abgaben, die auf den Faktor Energie
erhoben werden, genommen werden? Warum haben Sie
ebenfalls kein Wort zu dem gesagt, was Ihr Kollege im
Kabinett, der Bundesumweltminister, gegenwärtig im
Bereich des Emissionshandels in Deutschland macht?
({23})
Die Probleme, die hier auf die deutsche Wirtschaft
zukommen, dürfen wir nicht unterschätzen; denn das,
was jetzt geplant ist, geht weit über das hinaus, was die
Europäische Union von der Bundesrepublik Deutschland
verlangt. Der Emissionshandel ist beschlossen. Ich weiß
zwar, dass Sie anders als Ihr Kollege im Kabinett über
die Tatsache denken, dass nur eine solch geringe Zahl
von Zertifikaten ausgegeben werden soll, dass sämtliche
Vorleistungen, die die deutsche Wirtschaft in den letzten
Jahren bei der Energieeinsparung erbracht hat, praktisch
nicht anerkannt werden, und dass in Zukunft zusätzliche
Belastungen auf die deutschen Unternehmen durch den
Emissionshandel und insbesondere durch die Zertifikate
zukommen. Aber es wäre gut gewesen, wenn Sie heute
Morgen wenigstens einen Satz dazu gesagt und darauf
hingewiesen hätten, dass hier nicht das Kind mit dem
Bade ausgeschüttet werden darf.
({24})
Abschließend möchte ich noch Folgendes sagen: Herr
Clement, Sie haben ziemlich genau vor einem Jahr, Ende
Februar 2003, eine große Initiative zur Entbürokratisierung auf den Weg gebracht, die auch unsere Zustimmung gefunden hat. Sie haben diese Initiative - bei der
Wortwahl ist die Regierung nie ohne Fantasie gewesen „Masterplan Entbürokratisierung“ genannt. Was ist eigentlich aus dem Masterplan Entbürokratisierung geworden? Warum haben Sie das, was Sie mit so großem
Pomp angekündigt haben, heute Morgen nicht noch einmal vertreten und eine Zwischenbilanz vorgelegt? Ich
sage Ihnen, was ich vermute, warum Sie das nicht getan
haben: Sie können gar keine Zwischenbilanz über die im
letzten Jahr angekündigte Initiative zur Entbürokratisierung vorlegen. Ich möchte Ihnen - ich habe mir das von
einigen Kollegen auch der SPD, die dabei waren, berichten lassen - ein Beispiel nennen. Gestern hat es im Verkehrsausschuss des Bundestages eine Anhörung zur Verkehrsinfrastruktur gegeben. Unter anderem hat der
Vorstandsvorsitzende der Flughafen Frankfurt AG dort
berichtet, wie die Wirklichkeit der Bürokratie in
Deutschland aussieht.
({25})
Airbus Industrie will ein neues, großes europäisches - es
ist sehr erfolgreich - Flugzeug bauen, den A380. Dieses
Flugzeug ist nun früher fertig als die dafür vorgesehene
Wartungshalle auf dem Frankfurter Flughafen. Gegen
diese Wartungshalle, eine schlichte Wartungshalle
- meine Damen und Herren, ich will Ihnen einfach einmal die Lebenswirklichkeit in Bezug auf Bürokratie in
Deutschland schildern -,
({26})
sind 40 000 Einwendungen erhoben worden. Damit
diese 40 000 Einwendungen erörtert werden können,
musste für 2,5 Millionen Euro eine neue Halle auf dem
Gelände der Flughafengesellschaft gebaut werden - nur
für eine einzige Erörterung, die da stattfindet! In dieser
riesigen Halle mit über 1 000 Plätzen sitzen jetzt 30 Anwälte, die sich gegen die Flughafengesellschaft, gegen
die Errichtung dieser neuen Wartungshalle für den A380
wenden. 2,5 Millionen Euro nur für eine Erörterung,
meine Damen und Herren! Es wird Zeit, dass wir uns
einmal über das Thema Verbandsklage und über die Exzesse, die hier stattfinden, unterhalten.
({27})
Der Bundeswirtschaftsminister müsste dies zum Gegenstand seiner Entbürokratisierungsoffensive machen
und ein Jahr, nachdem sie gestartet worden ist, wenigstens eine Zwischenbilanz vortragen. Herr Clement, wir
sprechen Ihnen den guten Willen nicht ab, wir bestreiten
auch nicht, dass Sie manches auf den Weg gebracht haben, was richtig gewesen ist, was überfällig und notwendig gewesen ist,
({28})
aber Sie werden genauso wie der Bundeskanzler selbst
in den nächsten Wochen und Monaten erleben, dass Sie
mit Ihrer Politik an dieser Bundestagsfraktion zunehmend scheitern, dass Sie dort zunehmend auf Grund laufen, dass Sie dort zunehmend auf Widerstände von denen stoßen, die nicht mehr bereit sind, den Weg von
Reformen, Innovation, Lust und Leidenschaft, wie Sie es
hier gesagt haben, fortzusetzen. Deswegen wäre es gut,
wenn nicht nur der Kanzler vom Vorsitz der SPD zurückträte.
({29})
Für das Land und für Wachstum und Beschäftigung wäre
es das Allerbeste, wenn die Bundesregierung so schnell
wie möglich gehen würde, meine Damen und Herren.
({30})
Ich erteile Kollegen Werner Schulz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Merz, die politische Substanz Ihrer Rede passt auf jeden
Bierdeckel.
({0})
Ich hatte zunächst noch die zarte Hoffnung, dass der
Optimismus, der im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, den alle Forschungsinstitute und viele Branchen teilen, der auch im
Werner Schulz ({1})
Ifo-Geschäftsklima-Index, im Konjunkturbarometer
vom „Handelsblatt“, in den wichtigsten Indikatoren zum
Ausdruck kommt, von Ihnen mitgetragen wird. Aber
was wir von Ihnen zu hören bekamen, war dieses sauerländische Mantra der Miesepeterei und nichts anders.
({2})
Ich kann das nur unter „MMM“ abbuchen. Die drei
Buchstaben standen früher für - manche, zum Beispiel
Angela Merkel, werden sich erinnern - „Messe der
Meister von morgen“. Heute steht es für die „MerzMerkel-Methode“, dieses Mitmachen, um mies zu machen.
({3})
Es gab doch nicht eine Entscheidung im vergangenen
Jahr, nicht einen Reformprozess, an dem die Union nicht
beteiligt gewesen wäre. Ich will von den Bremsspuren
gar nicht reden, die Sie dabei hinterlassen haben, beispielsweise bei der Steuersenkung, beim Subventionsabbau.
({4})
Wo ist eigentlich Horst Seehofer geblieben, der
zweite Gründungsvater oder Geburtshelfer der Gesundheitsreform? Er ist genau in dem Moment abgetaucht,
als die „Bild“-Zeitung ihre Attacken gegen die von ihm
mit eingeführte Praxisgebühr begonnen hat.
({5})
Von dem Moment an war plötzlich nichts mehr von ihm
zu hören, von dem mutigen Kämpfer für die Bürgerversicherung. Er sollte sich nicht verdünnen.
({6})
Nehmen wir nur einmal die Zauberformel: Flexibilisierung beim Kündigungsschutz. Das haben Sie eingebracht und das rechnen Sie sich zu Recht an. Wenn ich
das aber zu der hohen Arbeitslosigkeit ins Verhältnis
setze, die Sie zu Recht beklagt haben, dann muss ich sagen: Auch hier ist die schnelle Lösung nicht in Sicht. Ich
halte es für gefährlich, wenn von Ihnen diese InstantMentalität genährt wird: Wenn man etwas einrührt, bekommt man sofort die Lösung. Dann erwecken Sie auch
noch den Eindruck, dass Sie eine viel, viel bessere AllUnions-Lösung zu bieten hätten.
Im Grunde genommen gibt es momentan in keinem
einzigen politischen Sachbereich eine Übereinstimmung
zwischen CDU und CSU. Unter diesen Umständen fordern Sie Neuwahlen oder den Rücktritt des Bundeskanzlers. Was Sie da tun, ist abenteuerlich, kühn und unverantwortlich gegenüber unserem Land.
({7})
Die christlich-demokratische Konsensoffenbarung
verweist jetzt auf den 7. März. Das klingt wie der siebte
Versuch von Friedrich Merz, endlich die Widersprüche
in Einklang zu bringen.
({8})
Ich bin sehr gespannt, wie Sie all die Ungereimtheiten
- Stufenmodell oder linear-progressiver Tarif; Mehrwertsteuererhöhung, ja oder nein; Subventionsabbau
oder, wie von Bayern gefordert, Erhaltung der Entfernungspauschale, die Stichworte „Kreditfinanzierung“
und „Kopfpauschale“ - zusammenbringen.
({9})
Ich hoffe nur, dass Sie bei der radikalen Steuervereinfachung, die Sie planen, auch den Willen zeigen,
diese Initiative durch den Bundesrat zu bringen; denn
das wird entscheidend sein. Hoffentlich wärmen Sie hier
nicht nur ein Wahlkampfthema auf, obwohl Sie an der
Lösung der Probleme überhaupt nicht interessiert sind.
Wir sind bereit, die Steuervereinfachung mit Ihnen gemeinsam vorzunehmen, und zwar so, wie wir die Steuerreform im letzten Jahr beschlossen haben. Machen Sie
sich also keine Sorge um das Reformtempo! Wir haben
angefangen, den Reformstau aufzulösen, und wir lassen
da nicht locker.
Trotz meiner Kritik an manchen Details und trotz der
Kritik, die geübt worden ist: Diese Reformen sind eine
Chance für unser Land. Die Gewerkschaften haben in
der vergangenen Nacht einen großen Beitrag dazu geleistet, die Beschäftigung in Deutschland zu sichern bzw.
den betrieblichen Bündnissen für Arbeit ein ganzes
Stück näher zu kommen. Jetzt sind auch die Unternehmen gefordert. Wenn man sich anschaut, was die Bundesregierung geleistet hat - Einschnitte im Sozialsystem;
Lockerung des Kündigungsschutzes; Steuersenkungen -,
dann erkennt man: Das alles entspricht Forderungen aus
dem Arbeitgeberlager.
Jetzt müssen die Arbeitgeber ihrem Namen aber auch
gerecht werden und Arbeit geben, also Leute einstellen.
({10})
Das wird die Menschen in unserem Land motivieren und
es wird deutlich machen, dass sich diese Reformen lohnen, weil klar wird, wofür sie durchgeführt werden. Die
Motivation in der Bevölkerung wird steigen und man
wird diese Einschnitte ertragen können, weil man sieht:
Unterm Strich bringt das etwas Positives.
Die eingeleiteten Maßnahmen können natürlich nur
der Anfang sein. Das Jahr der Innovationen ist angesprochen worden. Wir verstehen unter Innovationen
nicht nur den technischen Fortschritt oder technische
Neuerungen, Produkt- oder Verfahrensinnovationen. Es
geht eben auch um soziale, um kulturelle, um geistige
und um gesellschaftliche Veränderungen; denn die Globalisierung, die demographische Entwicklung zwingen
uns, das Verhältnis von individueller Selbstverantwortung und organisierter Solidarität neu zu bestimmen. Die
soziale Gerechtigkeit selbst ist eine Innovationsaufgabe,
in der Umverteilung, Chancengleichheit, GenerationenWerner Schulz ({11})
gerechtigkeit und Gender Mainstreaming zusammenkommen.
({12})
Das Motto unserer Reformen heißt „Fordern und Fördern“. Dieses Prinzip muss aber für alle gelten, nicht nur
für einen Teil oder für eine Gruppe in der Gesellschaft.
Die soziale Ausgewogenheit ist die Voraussetzung, um
eine breite Akzeptanz dieser Reformen zu erreichen. Das
heißt beispielsweise, dass man solche heißen Eisen wie
Vermögensteuer, Erbschaftsteuer oder Ausbildungsplatzumlage anfassen muss. Viel wichtiger, als nur festzustellen, was in den Betrieben vor sich geht, ist, herauszubekommen, was in den Köpfen der jungen Leute, die keine
Ausbildung bekommen, vor sich geht. Wir müssen dieses
Problem vernünftig lösen. Diese Lösung sieht keine Abgabe, sondern eine Umlage vor, durch die diejenigen Betriebe belohnt werden, die ausbilden. Diejenigen Betriebe, die sich der verantwortlichen Aufgabe der
Ausbildung verweigern, sollen diese Umlage finanzieren.
({13})
Das ist der Sinn der Ausbildungsplatzumlage.
Ich sage ganz klar: Das Paradefeld der Innovation ist
eine verbesserte Bildung in der Breite und in der Spitze.
Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein Vermittlungsoder ein Strukturproblem; vielmehr zeigen sich die Defizite, über die wir seit der Veröffentlichung der PISA-Studie diskutieren, auch auf dem Arbeitsmarkt: Ein Drittel
der Arbeitslosen ist schlecht qualifiziert, hat keine Qualifikation oder ist nicht mehr zeitgemäß qualifiziert. Dort
heißt „lebenslanges Lernen“ nicht nur persönliche Bereitschaft und nicht nur, dass der Staat Angebote zur Verfügung stellt, sondern auch, dass die Unternehmer gefordert sind, für die betriebliche Weiterbildung, für
Qualifikation zu sorgen. Die zweite Chance, von der wir
immer wieder reden, muss auch eine zweite Möglichkeit
zur Berufsausbildung enthalten. Das muss nicht nur in
unseren Köpfen, sondern auch in der Wirtschaft ankommen.
Ich will auf die wichtigste Herausforderung des
21. Jahrhunderts eingehen: den ökologischen Aufbruch,
das ökologische Umdenken, das Erneuern unserer Produktions- und Lebensweise, das Leitbild einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Wir wissen doch alle,
dass die ökologischen und sozialen Folgekosten unserer
Wirtschaftsweise die Wohlfahrtsgewinne längst übersteigen. Wenn man den Klimawechsel und seine Vorboten,
die ab und zu ins Bewusstsein dringen, betrachtet, dann
weiß man, was hier auf uns zukommt.
Angesichts der sinkenden Wachstumsraten stellt sich
immer stärker die Frage, ob das Bruttoinlandsprodukt
überhaupt ein geeigneter Maßstab für die Ermittlung des
Wohlstandes sein kann. Oder lässt sich die Binnennachfrage in einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung wirklich kontinuierlich erhöhen? Das sind
doch Fragen, die wir in der Zukunft beantworten müssen. Wir müssen doch den Konsum viel stärker von der
quantitativen zur qualitativen Seite, also zu mehr Werthaltigkeit, umsteuern. Die ökologische Modernisierung,
also eine Ressourcen schonende Entwicklung auf den
Weg zu bringen, ist eine nachhaltige Aufgabe und bietet
beste Chancen für unsere Volkswirtschaft, Wettbewerbsvorteile zu erringen. Die Ökosteuer hat gezeigt, wie viel
uns das nützt, was man auf diese Weise bewirken kann.
Allen Unkenrufen und Horrorszenarien, die bezüglich
der Situation an den Tankstellen an die Wand gemalt
worden sind, zum Trotz ist die deutsche Automobilindustrie Spitze. Die Hightech-Autos mit niedrigem Spritverbrauch sind ein Renner. Damit hat sich VW den chinesischen Absatzmarkt erschlossen.
Nehmen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz: Das
hat im Grunde genommen viele neue Arbeitsplätze geschaffen und gibt uns bei der enormen Aufgabe, die in
den nächsten 20 bis 30 Jahren ansteht, nämlich bei der Erneuerung oder Ersetzung der Hälfte unserer Kraftwerksanlagen, die Möglichkeit, zu einem anderen Energiemix
mit verstärkter Nutzung von regenerativer Energie, zu rationellerer Energieanwendung und zu Energieeinsparung
zu kommen. Damit können wir der modernste Energiestandort der Welt werden, der dann seine Technik und
sein Know-how verkaufen kann. Wir sollten uns doch
nicht von Arnold Schwarzenegger schlagen lassen, der
das Ziel ausgegeben hat, dass in Kalifornien ein Drittel
der Energie durch Solarstrom erzeugt werden soll. Wir
sind doch selbst auf dem besten Weg.
({14})
Noch liegen wir vor den USA. Diese Position, die wir
durch unser 100 000-Dächer-Programm und vieles andere mehr erreicht haben, sollten wir nicht gefährden.
Nachdem hier der Emissionshandel angesprochen
worden ist, möchte ich hierzu abschließend sagen: Mit
dem Emissionshandel haben wir der Wirtschaft ein
marktwirtschaftliches Instrument in die Hände gegeben,
damit sie selbst entscheiden kann, wie sie das selbst gesteckte Ziel der CO2-Reduzierung erreichen will. Wer
hier von Öko-Stalinismus redet, Kollege Glos, der weiß
weder, was Ökologie ist, noch, was Stalinismus war.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weltökonom Schulz, wenn die Rede von Herrn
Merz auf einen Bierdeckel passte, dann passt Ihre auf
eine Briefmarke.
({0})
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion hatte
heute eigentlich eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers erwartet. Der „Spiegel“ titelt: „Der halbierte
Kanzler“. Das Sagen in der Partei und in der Fraktion
haben jetzt andere. Wir wollen Klarheit über den Regierungskurs. Die Menschen im Land haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie es in Deutschland weitergeht.
({1})
Offenbar heißt das SPD-Programm jetzt: Ausbildungsplatzabgabe statt Bürokratieabbau, Erbschaftsteuererhöhung statt Steuersenkung, Bürgerversicherung statt Eigenverantwortung. Offensichtlich ist die Regierung
Schröder/Clement jetzt Erfüllungsgehilfe sozialdemokratischer Rückwärtsrollen.
({2})
- Sie sollten die Sache lieber viel ernster nehmen. Das
„Tata“ bringen Ihnen, Herr Heil, mit Ihrem tollen weltökonomischen Werdegang noch viele bei.
({3})
Zu alledem will der Bundeskanzler vor dem Parlament nichts erklären; zu alledem haben Sie, Herr
Clement, nichts gesagt; zu alledem steht auch nichts im
Jahreswirtschaftsbericht. Sie reden lautstark von Modernisierungskurs, doch Sie kämpfen im luftleeren Raum.
({4})
Die „FAZ“ schreibt: „Minister ohne Zukunft“. Die
Flucht der Vernünftigen aus der SPD-Spitze geht weiter.
({5})
Ihre Rückzugsüberlegungen sind offensichtlicher Beleg
dafür, dass Sie nicht mehr daran glauben, dass Sie die
Wende mit Ihren Veränderungen hinbekommen. Den
Kurs bestimmen jetzt wieder die Betonköpfe.
({6})
In der Theorie des Jahreswirtschaftsberichts heißt es:
Der Schlüssel für mehr Wachstum und Beschäftigung liegt daher in strukturellen Reformen und
gesamtwirtschaftlichen Bedingungen, die starke
Anreize und Impulse für Innovationen und Investitionen geben, ohne die Preisstabilität zu gefährden.
So weit, so nett. Sie formulieren auch hehre Ziele:
Staatsquote unter 40 Prozent, Sozialversicherungsbeiträge ebenfalls unter 40 Prozent, Vollbeschäftigung bis
2010. Bei 6 bis 7 Millionen echten Arbeitlosen im Land
ist es schon eine sehr mutige, vollmundige Ankündigung, bis 2010 Vollbeschäftigung erreichen zu wollen.
Aber das Erstaunlichste ist: Umsetzungsvorschläge
finden sich im Jahreswirtschaftsbericht so gut wie keine.
Wie Sie das umsetzen wollen, bleibt Ihr Geheimnis.
({7})
Ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept vermag ich
beim besten Willen nicht zu erkennen. Nicht einmal
Spurenelemente notwendiger Reformen sind in der Regierungspolitik erkennbar. Im Gegenteil, der Bundeskanzler - Entschuldigung, der Parteivorsitzende - in spe,
Franz Müntefering, verkündet eine Reformpause nach
dem Motto: keine Hektik. Den Stabilitätspakt hat Hans
Eichel längst auf dem Altar seiner Haushaltslöcher geopfert.
({8})
Die Rentner werden am 1. April mit realen Kürzungen
gefoppt. Die Reform der Pflegeversicherung wird gestoppt. Die Gesundheitsreform ist gefloppt. Gefoppt, gestoppt, gefloppt - das ist das grüne-rote Chaos der Sozialpolitik.
({9})
Die Lohnnebenkosten verbleiben bei über 42 Prozent
und verhindern, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Nach
dem Sachverständigengutachten liegt das Wachstumspotenzial, also die mittelfristigen Wachstumsmöglichkeiten, nur noch bei etwa 1,5 Prozent. Die Bundesbank
spricht von 1 Prozent. Ich zitiere den Sachverständigenrat:
Konjunkturelle Belebungstendenzen bleiben in einem solchen Umfeld … abhängig vom Ausmaß der
Erholung in anderen Wirtschaftsräumen und sind
insofern labil.
Das heißt im Klartext: Das Miniwachstum, das wir erwarten können, wird von der Weltkonjunktur geliehen,
Grün-Rot gibt sich mit den Brosamen der Weltwirtschaft
zufrieden, weil sie selbst nichts Richtiges mehr gebacken bekommen.
({10})
Die Probleme der deutschen Volkswirtschaft sind
weitgehend hausgemacht. Wir können am Beispiel Japans studieren, was die Folgen sind, wenn man Strukturprobleme nicht löst: jahrelang praktisch kein nennenswertes Wachstum; zehn Jahre der Stagnation und
Deflation liegen hinter Japan.
Das entscheidende Signal müsste darin liegen, dass
der Staat sich zurückzieht. Wir haben eine Staatsquote
von fast 50 Prozent, exakt 48,6 Prozent. Deshalb wird
Hermann Otto Solms nachher für die FDP-Fraktion mit
einem ausformulierten Gesetzesantrag konkret darlegen, wie wir die Steuerreform in Deutschland umsetzen
können, wie wir vorankommen können, wie wir endlich
die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum schaffen können. Das ist der richtige Weg, um voranzukommen.
({11})
Ich kann Herrn Kollegen Merz eigentlich nur sagen:
Stimmen Sie mit uns! Ihre Kopie hat in den eigenen Reihen offensichtlich keine Chance. Sie haben heute die
Gelegenheit, dem Original zuzustimmen. So könnte aus
Friedrich Merz vielleicht doch noch Friedrich der Große
werden.
({12})
Der Jahreswirtschaftsbericht atmet interventionistischen Geist. Aber in einer Marktwirtschaft soll der Staat
nicht lenken, sondern ordnen, den Rahmen setzen. Der
Staat hätte noch genug damit zu tun, einen vernünftigen
Rahmen zu setzen. Doch Sie wollen den Staat als Planer,
Lenker und Angreifer. Bei Ihnen sollen staatlich bestellte Innovationsräte Zukunftsfelder festlegen.
({13})
- Sie haben ja tolle Leute berufen, die gerade im Zusammenhang mit der LKW-Maut belegt haben, wie fähig sie
sind.
Doch der Wettbewerb bleibt das entscheidende Entdeckungsverfahren. Bei Ihnen sollen dem Kartellamt durch
Megafusionen und Ministererlaubnisse die Zähne gezogen werden; aber Wettbewerb ist das beste Instrument
der Entmachtung. Wettbewerb sorgt für Dynamik und
Veränderung.
Besonders fatal ist Ihr interventionistischer Ansatz
beim Pressefusionsrecht.
({14})
Dort wollen Sie Strukturkrisenkartelle, egal welcher
Größe, erlauben. Sie wollen quasi in der Presselandschaft einen GWB-freien Raum schaffen. Meinungsfreiheit und -vielfalt sind offenbar für Sie nicht wichtig.
Eine weitere Pressekonzentration kann Freiheiten und
Demokratie auch gefährden.
({15})
Doch für freiheitliche Ansätze ist bei Grün-Rot kein
Platz. Anstatt mit einer maßvollen und vernünftigen
Politik zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sieht Ihr
Begriff von Freiheit so aus: hinter jeder Putzfrau am
liebsten ein Polizeibeamter und Herr Eichel als der neue
Blockwart der Nation, als haushaltspolitischer Spanner.
({16})
Im Jahreswirtschaftsbericht wird über die so genannte
nachhaltige Energiepolitik fabuliert. Eine Energiepolitik muss, wenn sie erfolgreich sein will, technologieoffen sein. Aber auch hier wollen Sie planen und lenken.
Man sieht es am aktuellen Streit zwischen Herrn
Clement und Herrn Trittin in Sachen Emissionshandel.
Der Emissionshandel nach der Art von Trittin wird kein
Nullsummenspiel für die deutsche Wirtschaft werden.
Im letzten Jahr hatten wir 20 Prozent höhere Stromkosten in Deutschland. Den Kurs der Verteuerung der
Energie setzen Sie fort; denn mit der so genannten Energiewende werden die Weichen für höhere Energiekostenbelastungen in Deutschland gestellt, was zulasten der
Arbeitsplätze geht.
Der Atomausstieg ist für mich ein dunkles Kapitel
energiepolitischer Planwirtschaft.
({17})
Heute wird noch immer ein Drittel des Stroms aus Kernenergie gewonnen. Sie wollen diesen Strom durch
Strom aus erneuerbaren Energien ersetzen, indem Sie die
Kernenergie verbieten und Windräder subventionieren.
Doch für jede Kilowattstunde Windstrom muss eine Kilowattstunde Atomstrom oder Kohlestrom vorgehalten
werden. Wenn wir sie selbst nicht vorhalten, tun es andere in Frankreich oder in Osteuropa. Aber auf jeden
Fall gefährden wir die Versorgungssicherheit in
Deutschland.
({18})
Das wissen auch Herr Clement und der Kanzler. Der
Kanzler schickt deshalb seinen Lieblingsgewerkschafter,
Herrn Schmoldt, vor, der anfängt, Atomstrom in
Deutschland wieder hoffähig zu machen.
Nach dem Motto „daheim aussteigen, auswärts einsteigen“ will der Bundeskanzler die Hanauer Brennelementefabrik nach China exportieren. Die Bundesregierung teilte uns auf Anfrage mit, die Anlage sei sicher.
Von den Grünen hört man dazu kein Wort. Ihnen genügt
es offenbar, wenn die Anlage grün angestrichen wird.
Das ist Frau Sagers Beitrag zur Innovationsdebatte.
({19})
Seien wir doch ehrlich: Ohne Kernenergie kippt der
deutsche Energiemix und wir werden extrem importabhängig. Das nutzt unserem Wirtschaftsstandort sicherlich nicht. Sie betreiben eine lupenreine grüne und rote
Klientelpolitik: Windkraft und Steinkohle werden mit
Milliardensubventionen in Deutschland hochgepäppelt.
Es ist doch ein Stück aus dem Tollhaus, Herr Heil, wenn
der Kanzler seinem früheren Wirtschaftsminister Müller,
der bei der Ruhrkohle AG, einer Tochter von Eon und
Ruhrgas - nach deren Fusion haben diese einen Marktanteil von 85 Prozent -, Vorstandsvorsitzender geworden
ist, 16 Milliarden Euro Subventionen nach Gutsherrenart
zusagt. Wir reden alle über Subventionsabbau, aber
hier werden 16 Milliarden Euro zusätzliche Subventionen genehmigt. Das ist rote Kumpelwirtschaft übelster
Art.
({20})
Ich zitiere aus den Reihen der Grünen:
Angesichts der fehlenden Mittel in den Bereichen
Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik ist
es nicht zu rechtfertigen, einen dauerhaften Steinkohlesockel zu finanzieren.
Das haben einige Ihrer grünen Kollegen formuliert. Aber
nichts geschieht. Sie kleben wie Pattex an Ihren Stühlen.
Rückgrat und Ordnungspolitik waren noch nie grüne
Stärken. Sie stehen für Unordnungspolitik.
({21})
Wir wollen einmal über den Arbeitsmarkt reden.
Wir sind immer froh, wenn es keinen Streik gibt.
({22})
Aber die Chance, Herr Kuhn, wirklich etwas für mehr
Beschäftigung zu tun, hat das Tarifkartell versäumt.
({23})
Sie haben zwar eine Einigung mit kleinen Öffnungsklauseln gefunden, aber sie hatten nicht die Kraft, die Grundvoraussetzungen für betriebliche Bündnisse für Arbeit
ohne Genehmigung des Tarifkartells zu schaffen. Deshalb muss es der Gesetzgeber tun.
Wir fordern erneut: Wenn sich 75 Prozent der Mitarbeiter in freier und geheimer Entscheidung für eigene
Regelungen aussprechen - es sind nämlich ihr Job und
ihre Lebensperspektiven -, dann müssen sie das Recht
haben, ohne Genehmigung der Kartellbrüder diese Entscheidung treffen zu können. Das ist die richtige Weichenstellung.
({24})
Ich darf dezent darauf hinweisen, dass man in Holland die Kraft gehabt hat, für zwei Jahre Nullrunden zu
vereinbaren. Wir müssen über Arbeitszeiten sprechen,
um die Voraussetzung zu schaffen, den 6 Millionen Arbeitslosen, die draußen stehen, den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dazu hat das Tarifkartell
nicht die Kraft gehabt. Das zeigt mir, dass man die Zeichen der Zeit offensichtlich immer noch nicht erkannt
hat.
({25})
Als Dank für die Gewerkschaften und als Valium für
die Regierungsparteien gibt es jetzt die Ausbildungsplatzabgabe. Die Ausbildungsplatzabgabe ist die Praxisgebühr für den deutschen Mittelstand: Sie ist teuer,
bürokratisch und bringt nichts.
({26})
Im Jahreswirtschaftsbericht wird eine Kampagne für
Ausbildungsplätze beschrieben, aber, Herr Clement, ich
lese keine Zeile über eine Ausbildungsplatzabgabe. Sie
sprachen noch vor kurzem von der Gefahr, dass über die
Ausbildungsplatzabgabe eine Verstaatlichung der Berufsausbildung herbeigeführt wird. Aber dazu schweigen
Sie in diesem Bericht.
({27})
Offensichtlich ist dieses Lieblingsprojekt des neuen
Parteivorsitzenden als Beruhigungspille für die Partei
notwendig. Am Dienstag wollten Sie zumindest als Parteivize die Flinte ins Korn werfen. Offensichtlich haben
Sie Zweifel am Reformwillen und an der Reformfähigkeit Ihrer Partei. Sie sagen immer wieder wie der Bundeskanzler: Erst das Land und dann die Partei! - Sie
werden in der nächsten Zeit viel Gelegenheit haben, zu
beweisen, dass Ihnen das Land wichtiger ist als die Partei, nämlich durch mutige Veränderungen. Mit dem, was
Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht beschreiben, werden Sie es mit Sicherheit nicht schaffen.
({28})
Nur zu sagen: „Wir wollen in sechs Jahren Vollbeschäftigung haben“, ohne zu fragen, welcher Weg dafür eingeschlagen werden muss, damit kommen wir nicht weiter.
Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Bericht der Ideenlosigkeit und der Kraftlosigkeit. Wir brauchen aber Veränderungsbereitschaft; statt festgefahrener Kartelle brauchen wir die Bereitschaft, neue Wege zu gehen.
({29})
- Herr Kuhn, Sie als grünes Alibi zementieren alles. Ich
freue mich schon auf Ihre weltpolitischen Ausführungen.
Kollege Brüderle, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Herr Präsident, ich bin bei meinen letzten Sätzen. Herr Kuhn möchte ja gerne Außenminister werden. Deshalb flüchtet er in die Weltökonomie.
({0})
Kollege Brüderle, Sie haben in Ihrer Rede die Formulierung „Blockwart der Nation“ verwandt. Ich möchte
Sie ermahnen und daran erinnern, dass wir bestimmte
Assoziationen an die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte in Bezug auf Personen dieses Hauses vermeiden
wollten.
({0})
Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Ludwig
Stiegler, SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
zunächst dem Kollegen Schulz widersprechen. Er hat die
Sauerländer im Allgemeinen mit einem negativen Touch
verbunden. Ich sage Ihnen: Wenn ein Sauerländer sauertöpfisch ist, sind nicht alle Sauerländer es. Unser Sauerländer ist in Ordnung.
({0})
Dass dieser andere Sauerländer sauer ist und sich jetzt
aufgrund der Doppelspitze sogar Sorgen über die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers macht, ist in seiner
eigenen Biografie begründet. Er war in einer Doppelspitze und ist nach kurzer Zeit im Handtäschchen von
Frau Merkel verschwunden. Dass er nichts von Doppelspitzen hält, ist völlig klar. Aber unser Sauerländer ist in
Ordnung.
({1})
Herr Merz hat versucht, das alte Rezept anzuwenden.
Wenn Sie seine Reden von vor einem Jahr nachlesen,
dann geht es Ihnen wie mit dem Lungenhaschee: Habe
ich es schon gegessen oder soll ich es noch essen?
({2})
Das ist die alte Methode: nur anklagen und Rezepte anmahnen, aber selber keine vorschlagen.
Jetzt versuchen Sie noch, uns zu spalten, uns unserem
Wirtschaftsminister zu entfremden. Meine Güte, da müssen Sie schon früher aufstehen, um damit Erfolg zu haben! Wir sind stolz, dass Wolfgang Clement der deutschen Wirtschaft wieder Mut zum Aufschwung gegeben
hat, während Sie Trübsal geblasen haben. Das ist der
Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({3})
- Lieber Kollege Ernst Hinsken, dass eure Fraktion gewohnt ist, Edmund Stoiber zu sagen: „Du bist der
Größte, Schönste und Beste“, und ihr euch nie mit euren
Ministern angelegt habt oder anlegt, ist euer Problem.
Dass sich eine selbstbewusste Fraktion auch einmal an
einem so starken Minister reibt, ist klar. Aber Reibung
ist eine alternative Energiequelle. Da entsteht nämlich
Wärme.
({4})
Lassen Sie also diesen Versuch der Spaltung! Wir
werden mit Wolfgang Clement rau und herzlich zusammenarbeiten. Entscheidend ist, dass er das Symbol für
den Aufschwung in Deutschland geworden ist, während
Sie das Symbol der Miesmacher, Unker und Klager sind.
({5})
Kommen wir noch einmal auf den Herrn Merz zu
sprechen. Er hat letztes Jahr den Untergang beschworen.
Wolfgang Clement hat gesagt: Im Jahresverlauf wird es
einen Aufschwung geben. Wer hat denn nun Recht behalten? Wolfgang Clement hat damals auf die Entwicklung im Irak hingewiesen und deutlich gemacht, dass es
langsamer gehen wird, dass wir aber im Laufe des Jahres
wieder dynamische Kräfte haben werden.
Ich verstehe ja, dass es Sie zur Verzweiflung bringt,
dass der Ifo-Geschäftsklimaindex neun Monate hintereinander nach oben zeigt. Sie möchten, dass er in die
Hölle zeigt, damit Sie mit Ihren Untergangsgesängen
Gehör finden. Aber Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit,
meine Damen und Herren.
({6})
Am allerdreistesten wird es, wenn ein Unionspolitiker
es wagt, über den Arbeitsmarkt zu reden. Sie haben
5 Millionen Arbeitslose prophezeit, Sie falsche Propheten. Schauen Sie sich die wahre Entwicklung an und
vergleichen Sie sie mit der Geschichte: Die höchste
Arbeitslosigkeit in den Monaten Januar und Februar
gab es unter der Regierung von CDU/CSU und FDP. Dabei mischte Herr Brüderle schon mit. Sie hatten die
höchste Arbeitslosigkeit, die wir immer unterboten haben,
({7})
ohne dass wir Wahlkampf-ABM eingesetzt hätten, wie
Sie es damals getan haben. Von Ihnen kann man in Sachen Arbeitsmarkt weiß Gott nichts lernen.
Von Ihnen kann man auch im Hinblick auf Beschäftigtenzahlen wenig lernen. Sie haben einfach Behauptungen über die Zahl der Beschäftigten aufgestellt.
Besser wäre es, wenn Sie die Güte hätten, die Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland während Ihrer
Regierungszeit mit der in unserer Zeit zu vergleichen.
Dann sähen Sie, dass es in Ihrer Zeit zumeist 37 Millionen und weniger waren, zu unserer Zeit jedoch immer
mehr als 38 Millionen. Jetzt ist zwar eine Ergänzung
durch die Selbstständigen zu verzeichnen. Aber Sie fordern doch selbst immer die Kultur der Selbstständigkeit.
Daher sollten Sie Herrn Clement danken, dass wir Menschen zur Selbstständigkeit ermutigt haben, und dies
nicht als Mitnahmeeffekt denunzieren. Wir müssen alles
tun, damit diese Menschen, die sich selbstständig machen, also für sich und andere einen Arbeitsplatz schaffen, unterstützt, beraten und gefördert werden, damit sie
als Selbstständige Erfolg haben. Das ist unser Auftrag.
({8})
Meine Damen und Herren, Sie haben die Insolvenzen
angesprochen. Die Analyse von Creditreform zeigt, dass
75 Prozent der Insolvenzen hausgemacht sind, also ein
Problem der jeweiligen Unternehmer sind. Schönwetterkapitäne können bei boomender Konjunktur erfolgreich
sein. Wir haben aber ein erhebliches Qualitätsproblem.
Daran müssen wir arbeiten; es muss qualifiziert werden.
Hinzu kommt, dass in Ihrer Regierungszeit alle Steuerberater die Unternehmen dazu verführt haben, ihre Eigenkapitalquote durch Entnahmen und Schütt-aus-holzurück-Verfahren so gering wie möglich werden zu lassen. Heute haben sie Angst vor den Ratings. Die Unternehmen müssen wieder lernen, aus eigener Kraft, aber
auch mithilfe von Partnern Eigenkapital aufzunehmen,
damit sie selbstständig bleiben. Das wäre hilfreich, wenn
man Insolvenzen verhindern will, nicht aber eine allgemeine Anklage von Rot-Grün.
({9})
Ihre Ausreden, was die Ausbildungsplatzsituation
angeht, haben wir lange genug gehört. Zehn Jahre hieß
es, die Wirtschaft werde es schon schaffen. Aber sie hat
es trotz aller Bemühungen, die wir anerkennen und fördern und deren Fortgang wir wünschen, nicht geschafft.
Im Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber den Menschen sagen wir: Kein junger Mensch darf die Schule
ohne Ausbildung verlassen. Wir dürfen nicht verlorene
Jahrgänge und Menschen in Warteschleifen zulassen.
({10})
In Zukunft werden wir wieder einen Facharbeitermangel
beklagen. Deshalb werden wir eine verträgliche Regelung finden, die dafür sorgt, dass die Menschen Ausbildung bekommen. Die Wirtschaft ist und bleibt in der
Verantwortung. Sie ist ihr nicht gerecht geworden; darum werden wir ein Stück weit nachhelfen. Niemand
wird glücklicher sein als wir, wenn es die Umlage nicht
braucht.
({11})
Meine Damen und Herren, Ihre Angriffe auf das
Tarifvertragsrecht - das gilt auch für Herrn Brüderle zeigen, dass Sie in Wahrheit eine andere Gesellschaft
wollen. Wir wollen eine solidarische Leistungsgesellschaft. Sie hingegen wollen eine kalte liberale Marktgesellschaft durchsetzen, die die Arbeitnehmer um ihren
Schutz bringt. Da werden wir Ihnen nicht folgen. Wir
werden den Menschen erklären, dass die Gesellschaft,
die Sie wollen, keine warme, sondern eine kalte Gesellschaft ist, die wir alle miteinander vermeiden müssen.
Die Tarifpartner haben bewiesen, dass sie Interessen
austarieren können, während Sie die Arbeitnehmerseite
entwaffnen und zum Objekt des Handelns machen wollen. Wir sind für gleiche Augenhöhe und für Kooperation. Dabei wird es auch bleiben.
Es wird noch schlimmer: Die CSU und Teile von
CDU und FDP sind auf dem Programm von Professor
Sinn gelandet und wollen die Stundenlöhne in Deutschland um 30 Prozent senken. Meine Damen und Herren,
wir haben mit den Hartz-Gesetzen dafür gesorgt, dass
auch die unteren Einkommensgruppen besetzt werden,
indem eine Kombination von Staats- und Markteinkommen angeboten wird. Aber eine generelle Stundenlohnsenkung um 30 Prozent, die Professor Sinn, Ihr
Hauptratgeber und -einflüsterer fordert, kann nicht unser
Ziel sein.
Wir stellen dagegen: Wir wollen Hochlohnland bleiben. Wie der Betriebsratsvorsitzende von Porsche gesagt
hat: Es kann nicht sein, dass die Manager nach amerikanischen Maßstäben und die Arbeitnehmer nach chinesischen Maßstäben bezahlt werden. Das passt nicht zusammen. Deshalb kämpfen wir für eine solidarische
Leistungsgesellschaft, die mit Augenmaß an die Probleme herangeht.
({12})
Meine Damen und Herren, die Daten dieses Jahres
sind gut. Wenn Sie in Ihrer Regierungszeit die Preissteigerungsraten gehabt hätten, die wir vorlegen können,
dann hätten Sie Dankfeste und große Kundgebungen
veranstaltet. Wir haben Preisstabilität wie nie zuvor. Die
Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor und bieten gute Investitionsbedingungen. Die Banken haben sich aus ihrer
Krise herausgearbeitet. Viele große Unternehmen haben
ihre Bilanzprobleme bereinigt und können wieder aktiv
werden. Mit den neuen Kreditprogrammen der KfWMittelstandsbank können wir dem Mittelstand helfen.
Die Rahmenbedingungen sind so gut wie lange nicht
mehr. Deshalb kommt es darauf an, jetzt nicht in Miesepetrigkeit zu verharren, sondern nach vorn zu schauen.
Wir warnen übrigens auch und gerade die CSU davor,
den Aufschwung zu fordern, aber in Bayern durch die
Haushaltspolitik ein halbes Prozent Wachstum zu vernichten. Das ist Ihre Situation. Manchmal könnte man
meinen, Sie wollten diesen Aufschwung nicht, weil dann
Ihre Klagegrundlage wegfiele.
Meine Damen und Herren, es ist beklagt worden, dass
der Aufbau Ost nicht angesprochen worden sei. Herr
Merz verfährt nach dem Grundsatz: Kinder, recherchiert
nicht so viel; es hetzt sich dann so schlecht. - Schauen
Sie sich einmal den Jahreswirtschaftsbericht an! Dann
sehen Sie, dass Manfred Stolpe und Wolfgang Clement
dem Aufbau Ost die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Wir werden dafür sorgen, dass die Investitionen in
den neuen Ländern vorankommen. Wir werden auch dafür sorgen, dass die Infrastruktur weiter ausgebaut wird.
Herr Brüderle, es ist wirklich ungehörig, dem armen
Stolpe die Maut-Probleme in die Schuhe zu schieben,
wenn zwei Topunternehmen, die an Sie spenden, so
grässlich versagt haben.
({13})
Halten Sie sich bitte schön an Daimler-Chrysler und an
die Telekom, statt hier einen Unschuldigen anzuklagen!
Meine Damen und Herren, es ist unverkennbar: Am
Anfang dieses Jahres zeigt die Stimmung nach oben. Sie
müssen den Keller und Ihre Tieflage verlassen. Bewegen
Sie sich mit nach oben! Dann wird auch dieses Land vorankommen. Wenn Sie nicht mitgehen, dann lassen wir
Sie halt im Sumpf zurück.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort dem Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur, Jürgen Reinholz.
({0})
Jürgen Reinholz, Minister ({1}):
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wer meint, dass mit dem vor Weihnachten
letzten Jahres verabschiedeten Reformpaket das Erforderliche getan sei, der irrt. Schlimmer noch: Er wird den
Erfordernissen, denen sich unser Land zu stellen hat,
nicht gerecht.
Jürgen Reinholz, Minister ({2})
({3})
Nach den nicht enden wollenden Diskussionen ist allenfalls der Einstieg in die dringend notwendigen Strukturreformen gelungen. Denn mit der Einigung im Vermittlungsausschuss war nur ein erster Schritt getan, nicht
weniger, aber leider auch nicht mehr.
Jetzt kommt es darauf an, den eingeschlagenen Reformweg konsequent weiterzugehen, nicht hektisch,
aber ganz sicher schnell, konsequent, ohne Rücksicht auf
diffuse Befindlichkeiten und Stimmungen und keinesfalls mit der schon in der Vergangenheit gescheiterten
Politik der ruhigen Hand. Gerade aus Sicht der neuen
Länder ist es zwingend erforderlich, dass der Reformprozess fortgesetzt wird.
({4})
Nur wenn wir die Standortbedingungen in ganz Deutschland verbessern, werden wir im internationalen Wettbewerb bestehen können.
({5})
Meine Damen und Herren, jedermann muss klar sein:
Ohne einen erfolgreichen Aufbau Ost gibt es in unserem Land keinen Aufschwung. Daher halte ich Äußerungen, nach denen die wesentliche Reformarbeit erst einmal getan sei, für äußerst fatal. Es ist doch offenkundig,
dass bei der Umsetzung der grundlegenden Reformen,
durch die sowohl die Rentenversicherung als auch die
Kranken- und Pflegeversicherung auf eine dauerhaft finanzierbare Grundlage gestellt werden müssen, keine
Zeit zu verlieren ist. Das sind wir allein schon den Lebensperspektiven künftiger Generationen schuldig. Gleiches gilt für die Neugestaltung der Einkommensbesteuerung, die mehr Transparenz und eine Vereinfachung des
Steuerrechts mit sich bringen muss.
Diese Themen müssen wir jetzt anpacken, wenn wir
in Deutschland aus eigener Kraft endlich wieder höhere
Wachstumsraten und mehr Beschäftigung erreichen wollen. Voraussetzung dafür ist, dass der wirtschaftliche
Aufholprozess in den neuen Ländern endlich wieder an
Fahrt gewinnt. Nichts liegt mir ferner, als die Erfolge
beim wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder kleinzureden. In der Tat sind die Fortschritte beim Ausbau der
Infrastruktur nicht zu übersehen. Auch die Entwicklung
im verarbeitenden Gewerbe bleibt erfreulich. Im vergangenen Jahr ist die Bruttowertschöpfung dieses Wirtschaftszweiges in den ostdeutschen Flächenländern trotz
schlechter Konjunktur um real 5,7 Prozent gestiegen. In
Thüringen betrug der Zuwachs sogar 8 Prozent.
({6})
Durch die dynamische Industrieentwicklung stehen
Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt im Ländervergleich auch beim Wachstum des Bruttoinlandsproduktes
an der Spitze. Wenn aber die Bundesregierung im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit von einer
- ich zitiere - „insgesamt zufrieden stellenden Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft“ spricht, halte ich das
angesichts der rückläufigen Beschäftigungszahlen für
nicht besonders angemessen. Das spricht eher für fortschreitenden Realitätsverlust.
({7})
Die politischen Schwerpunkte, die zur weiteren Unterstützung des Aufbaus Ost gesetzt werden müssen,
sind uns allen klar. Wir müssen den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Verkehrsverbindungen, mit
hoher Intensität fortsetzen, gewerbliche Investitionen,
vor allem in überregional ausgerichteten Unternehmen,
weiter wirksam fördern, in Bildung, Forschung und
Technologie investieren und die Wettbewerbsfähigkeit
vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen durch
passgenaue Förderangebote stärken.
Dabei geht es nicht darum, neue Wunderwaffen zu erfinden. Auch geht es nicht um die Frage, ob der Aufbau
Ost „Chefsache“ ist. Diese Verbalakrobatik allein hat bis
heute niemandem geholfen. Beim Aufbau Ost geht es
um Wahrhaftigkeit, Vertrauensschutz und um Taten statt
Worte.
({8})
Alle Räder, an denen wir drehen müssen, sind längst erfunden. Die entsprechenden Themen stehen seit Jahr und
Tag auf der Agenda. Hier geht es zum Beispiel um den
weiteren Ausbau der Infrastruktur.
({9})
An der Realisierung der im Bundesverkehrswegeplan als
vordringlich eingestuften Vorhaben darf nicht herumgedeutelt und sie darf nicht immer wieder verschoben werden. Das gilt insbesondere für die noch nicht abgeschlossenen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“.
({10})
Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass die
Durchführung eines für die Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraums so wichtigen Projekts wie der
ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig je nach Kassenlage mal zugesagt und mal zur Disposition gestellt
wird.
({11})
Das muss unbedingt aufhören. Auch erinnere ich daran,
dass das Baurecht auf wesentlichen Teilen der Strecke
im Jahr 2005 erlischt. Entscheidend ist auch, dass in den
neuen Ländern eine schnelle Planung von Infrastrukturvorhaben möglich bleibt. Ich appelliere deshalb an Sie,
meine Damen und Herren, die vom Bundesrat im
Frühjahr vergangenen Jahres beschlossenen Gesetzesinitiativen zur Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes und zur entsprechenden Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes als unumgänglich
zu begreifen und endlich auch zu verabschieden.
({12})
Jürgen Reinholz, Minister ({13})
Wir brauchen auch Planungssicherheit für die Investoren. Ich begrüße es daher sehr, dass Bund und Länder
sich auf die Fortführung des wichtigen Instrumentes der
Investitionszulage verständigt haben. Auch das muss
schnell verbindlich werden, ehe die Unternehmen ihre
Investitionen wieder abblasen oder gar auf die lange
Bank schieben.
Wirklich katastrophal für die neuen Länder wäre aber,
wenn bei der Fortführung der EU-Strukturpolitik eine
europäische Relativitätstheorie zugrunde gelegt würde.
Der wirtschaftliche Entwicklungsstand der neuen Länder
ändert sich nun wirklich nicht in der Nacht zum 1. Mai.
Sie brauchen wirksame Fördermöglichkeiten auch für
die Jahre nach 2006. Sie müssen Ziel-1-Gebiet bleiben.
({14})
Ebenso muss bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen unverrückbares Ziel sein, die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft zu stärken und sie nicht
durch falsche Weichenstellungen zu beeinträchtigen.
Aktuell muss daher zum Beispiel bei der Novellierung
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes eine Lösung gefunden werden, bei der sich die entstehenden zusätzlichen
Kosten auf alle - ich betone: alle - Stromverbraucher
verteilen. Die Netznutzungsentgelte liegen in Ostdeutschland schon heute um bis zu 50 Prozent höher als
im Bundesdurchschnitt. Wie soll eine weitere einseitige
Belastung der Strompreise in den neuen Bundesländern
verkraftet werden?
Bei den Grundlagen für den Handel mit Emissionsrechten müssen die in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung erreichten CO2-Reduzierungen berücksichtigt werden. Wir haben die Emissionen in den 90erJahren bereits um 98 Prozent reduziert. Das kann doch
heute nicht Schnee von gestern sein!
({15})
Der Aufbau Ost bleibt eine Aufgabe, bei der alle
staatlichen Ebenen an einem Strang ziehen müssen, vor
allen Dingen in eine Richtung. Der gesamtstaatliche Reformprozess und der Aufbau Ost haben nämlich eines
gemeinsam: Wir sind noch keineswegs am Ziel. Wir
müssen den begonnenen Weg entschlossen fortsetzen
und dürfen weder aus Halbherzigkeit pausieren noch vor
heiligen Kühen stehen bleiben oder plötzlich Angst vor
der eigenen Courage zeigen.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn man die Botschaft des heute Nacht
erzielten Tarifabschlusses im Südwesten richtig deutet,
dann heißt sie doch: Die Wirtschaft will, die Gewerkschaften wollen, alle am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten sind interessiert daran, dass in der Wirtschaft wieder
mehr investiert wird. Deswegen haben sie einen vernünftigen Tarifabschluss vereinbart.
Herr Merz, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, sage
ich an die Union gerichtet: Jetzt spätestens ist die Stunde
gekommen, in der Union und FDP aufhören müssen, zu
versuchen, den Standort Deutschland schlechtzureden,
wie sie es in ihren Jammerarien der letzten Jahre getan
haben. Angesichts der positiven Stimmung derzeit haben
Sie eine Verantwortung, aus der Sie nicht mehr herauskommen.
({0})
Ich will Ihnen an verschiedenen Beispielen aufzeigen,
was Sie mit Ihren Reden in Bezug auf das Investitionsgeschehen anrichten. Was Sie, Herr Merz, zur Energiepolitik und insbesondere zu den Emissionszertifikaten
gesagt haben, war nicht gerade von Sachkenntnis getrübt. Wir wollen, dass die Wirtschaft mit den Emissionszertifikaten ihrer Selbstverpflichtung nach dem
marktwirtschaftlich besten Weg nachkommt. Da gibt es
ein Problem, das ich Ihnen einmal schildern will - Sie
können das heute auch im „Tagesspiegel“ nachlesen -:
Die Wirtschaft hat von 2000 bis 2002 15 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittiert, obwohl sie Selbstverpflichtung eingegangen ist, für den Zeitraum von 2000 bis
2005 20 Millionen Tonnen weniger auszustoßen. Genau
darin besteht das Problem: Das Geschrei, dass der BDI
jetzt veranstaltet, kommt ausschließlich daher, dass die
Wirtschaft ihrer Selbstverpflichtung bisher nicht einmal
im Ansatz nachgekommen ist. Es ist aber doch legitim,
von demjenigen, der eine Selbstverpflichtung eingeht, zu
verlangen, dass diese auch erfüllt wird. Nicht mehr und
nicht weniger tun wir.
({1})
Herr Merz, wir von den Grünen sind der Überzeugung, dass die Reformen der Agenda und somit die Modernisierung Deutschlands weitergeführt werden müssen. Ein Revisionismus in Bezug auf die Agenda hat
keinen Sinn. Wir müssen Deutschland modernisieren.
Für uns ist aber auch das Thema soziale Gerechtigkeit
elementarer Bestandteil bei der Modernisierung. Hier
gibt es deutliche Unterschiede zwischen Rot-Grün und
Schwarz-Gelb.
Das Thema Praxisgebühr wäre heute nicht auf dem
Tisch, wenn Sie bereit gewesen wären - das richtet sich
an die Adresse der Union -, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen zuzulassen. Hier liegen die Effizienzreserven. Dadurch, dass sie nicht genutzt werden, werden die Kosten nach oben getrieben. Sie von der CDU/
CSU und von der FDP waren nicht zu mehr bereit, weil
Sie die Lobbys des Gesundheitssystems vertreten.
({2})
Wenn wir diese Aufgabe angegangen hätten, dann wäre
die Praxisgebühr nicht notwendig gewesen. Deswegen
sage ich: Bei der Modernisierung in Deutschland muss
auch das Themenfeld soziale Gerechtigkeit einbezogen
werden. Ich bin für Wettbewerb im Gesundheitssystem
und für eine Bürgerversicherung.
Frau Merkel, die von Ihnen vorgeschlagene Kopfprämie, sei sie mehrwertsteuerfinanziert, wie Herr Merz
rät, sei sie kreditfinanziert, wie Sie raten, stellt keine soziale Modernisierung dar, sondern sozialen Kahlschlag.
Das Ergebnis wäre, dass die kleinen Leute auch noch
den Sozialausgleich finanzieren sollen, den das komische Merz-Modell vorsieht. So haben wir nicht gewettet!
Das, was Sie machen, ist keine Modernisierung, sondern
eine Reise in die Vergangenheit!
({3})
Da Sie die Stimmung bei den kleinen Leuten anfachen, möchte ich etwas dazu sagen. Was müssen sich die
Menschen, die zusätzliche Belastungen zu tragen haben,
zum Beispiel wenn sie zum Arzt gehen, nur denken,
wenn sie in den Medien Berichte über Vorgänge in der
Wirtschaft sehen! Es wird gezeigt, wie zum Beispiel ein
Herr Ackermann und andere in einem Prozess triumphieren, obwohl sie mehr als Hundert Millionen Euro
leichtfertig dafür ausgegeben haben, dass Konzerne kaputtgemacht werden, und nicht dafür, dass die Wirtschaft
aufgebaut wird.
Wenn die Menschen mit ansehen müssen, wie zum
Beispiel Daimler-Chrysler und die Telekom bei Toll
Collect auf der ganzen Linie versagt haben, dann müssen sie sich wirklich komisch vorkommen. Auch darüber
muss im Deutschen Bundestag gesprochen werden. Herr
Verkehrsminister, ich sage Ihnen klipp und klar: Das Angebot von Toll Collect, das jetzt auf dem Tisch liegt,
halte ich persönlich für sittenwidrig. Es weist das Muster
auf: Wir sind es nicht gewesen, die Risiken sollen politisch abgesichert werden. Ich bin der Meinung, dass wir
schnell und konsequent aus diesem Vertrag heraus müssen. Es liegt ein klares Versagen eines Teils der Wirtschaft vor. Wir müssen Ross und Reiter nennen, wenn
etwas schief geht.
({4})
An die CDU möchte ich klar appellieren: Herr Merz
und Frau Merkel, ziehen Sie Ihre Mogelpackungen zurück, die Sie andauernd präsentieren. Herr Merz, Sie haben sich für Ihren Vorschlag einer Steuerreform feiern
lassen, bei deren Umsetzung 10 Milliarden Euro fehlen
würden. Sie haben keinen vernünftigen Vorschlag unterbreitet, wie Sie diese Summe finanzieren wollen. Frau
Merkel unterstützt das so genannte Kopfprämienmodell,
bei dessen Umsetzung 20 Milliarden Euro fehlen würden. Ihnen fällt nichts besseres ein, als dies über Mehrwertsteuererhöhung und über Schulden zu finanzieren.
Ihr Vorgehen kann man wie folgt vergleichen: Sie halten
den Leuten eine Wurst hin, müssen sie aber wieder zurückziehen, weil Sie sie nicht bezahlen können. Dann
behaupten Sie aber, die Bundesregierung sei schuld, dass
es keine Wurst gebe. Die Politik, die Sie machen, ist unseriös. Sie schüren Erwartungen, die Sie nicht erfüllen
können. Es geschieht Ihnen ganz recht, dass Sie in der
Union nun einen solchen Streit haben, weil Sie nicht
richtig gerechnet haben.
({5})
Frau Merkel, was ist eigentlich aus den Ankündigungen in Ihrer Mutrede im Oktober des letzten Jahres geworden? Das sollten Sie sich einmal fragen. Sie haben
damals heftig auf den Putz gehauen und wollten die
große Reformerin und Modernisiererin in Deutschland
sein. Inzwischen zaudern und schweigen Sie, ducken
sich, sehen weg und wollen verschieben. Sie sagen immer, die Regierung sei es gewesen. Nein, Sie sind unfähig, ein Reformkonzept für dieses Land vorzulegen!
Deswegen begnügen Sie sich mit billiger Kritik an der
Regierung. Die Stimmung in diesem Hause macht aber
deutlich, dass Sie damit nicht durchkommen werden.
Wir werden die Wählerinnen und Wähler überzeugen,
dass Sie nur Pseudoalternativen auf den Tisch legen und
damit nichts für die Wirtschaft und für die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland
tun.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Lieber Herr Kuhn, ich glaube, auch durch Schreien werden Ihre Worte in diesem Haus nicht wahr.
({0})
Der „Tagesspiegel“ hat vor einigen Tagen formuliert:
Die ungefähr richtige Politik, handwerklich miserabel
gemacht und dazu noch schlecht erzählt. - Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich das noch als eine nette
Untertreibung empfinde.
Erzählen können Sie, Herr Minister, hier gut. Das
wissen wir aufgrund vieler Erfahrungen. Wenn man sich
den Jahreswirtschaftsbericht des letzten Jahres und das,
was Sie in ihm alles haben verlauten lassen, ansieht
- Wachstumsdynamik beschleunigen, Arbeitsmarktstrukturen flexibler gestalten, soziale Sicherungssysteme
zukunftsfest machen, Konsolidierung der Haushalte vorantreiben -,
({1})
dann fragt man sich, was aus diesen ganzen Versprechungen geworden ist.
Was ist mit der Wachstumsdynamik? 2001 betrug
das Wirtschaftswachstum schwache 0,8 Prozent. Im
Jahre 2002 waren es noch schwächere 0,2 Prozent.
Rechnet man die statistischen Arbeitstageeffekte heraus,
dann werden wir in diesem Jahr an der Null-Komma8026
Grenze ankommen. Sie müssen auch sehen: Die ersten
Wirtschaftsinstitute revidieren ihre Prognosen inzwischen nach unten.
Nehmen wir den flexiblen Arbeitsmarkt: Es hat sich
weder beim Betriebsverfassungsgesetz noch beim Tarifvertragsgesetz etwas getan. Gemäß der Statistik haben
wir immer noch 4,3 Millionen Arbeitslose.
({2})
Wenn es Ihre Änderungen in der Statistik nicht gegeben
hätte, dann sähen die Schreckensmeldungen bei weitem
noch schlimmer aus als jetzt.
({3})
Viel wichtiger ist, dass wir uns die Beschäftigtenzahl
anschauen. Diese weist eine sinkende Tendenz auf. Allein im letzten Jahr verringerte sich die Beschäftigtenzahl um 400 000. Auch laut Ihrem Jahreswirtschaftsbericht wird sie in diesem Jahr noch niedriger ausfallen.
Was haben Sie noch versprochen? Ich nenne die zukunftsfesten sozialen Sicherungssysteme. Was liegt
vor? Da ist zunächst das Defizit in der Pflegeversicherung. Allein hier belief sich der Minusbetrag im letzten
Jahr auf 700 Millionen Euro. Daneben gab es bei der
Rente kurzfristig Nullrunden und an die Bundesagentur
für Arbeit wurde ein Milliardenzuschuss geleistet, der
nicht eingeplant war. Im Gesundheitswesen sehen wir
ein Umsetzungschaos, und versprochene Beitragssenkungen werden nicht durchgeführt. Bei den Sozialkassen
gibt es ein einziges Desaster.
Herr Kuhn, ich komme zur Praxisgebühr. Sie scheinen bei der Regierungserklärung Ihres Kanzlers nicht
genau zugehört zu haben. Er hat in seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 als Erster von der Praxisgebühr gesprochen.
({4})
Dann sprechen Sie auch noch von Haushaltskonsolidierung. Es ist eine Farce und Unverschämtheit, 90 Milliarden Euro an neuen Schulden als Haushaltskonsolidierung zu bezeichnen. Die Verletzung des Stabilitätspaktes
ist bei Ihnen inzwischen doch zur Routine geworden.
({5})
Herr Minister, Sie können mir wirklich glauben: Obwohl ich Oppositionspolitikerin bin, macht es mir keine
Freude, dies alles aufzuzählen. Wir auf der rechten Seite
des Hauses sind nämlich nicht nur Oppositionspolitiker,
sondern auch Bürger dieses Landes. Wir haben Kinder,
Freunde und Bekannte, die ebenfalls von Ihrer Misswirtschaft betroffen sind. Daher freut es mich wenig, dass
Sie von der aktuellen Entwicklung in Ihrer Partei weiter
geschwächt worden sind.
Wir alle wissen doch eines: Wir befinden uns in sehr
schwierigen Wirtschaftszeiten. Deshalb brauchen wir einen starken Wirtschaftsminister, der sich gegen Bremser,
Blockierer und Bedenkenträger durchsetzen kann.
({6})
Wir brauchen einen Minister, der hier nicht nur unangenehme Wahrheiten sagt - das tun Sie ja -, sondern der
auch eine konsistente Politik gestaltet und den seine Partei auch eine konsistente Politik gestalten lässt.
({7})
Das ist bei Ihnen leider nicht der Fall.
({8})
Deswegen ist der heute vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht eine Farce. Er ist ein Ritual ohne jegliche Substanz.
Wir waren so froh, dass die Grundsatzabteilung endlich
wieder ins Wirtschaftsministerium zurückverlagert
wurde; Sie bestimmen die Wirtschaftspolitik aber nicht
mehr.
Das beste Beispiel für Ihr parteiinternes Scheitern ist
die Ausbildungsplatzabgabe. Sie stehen für Freiwilligkeit; das wissen wir doch. Aber Sie können sich auch
hier nicht durchsetzen. Die Realität in der Regierung
sieht leider ganz anders aus. Dass Herr Müntefering als
Parteivorsitzender in spe quasi Ihr Vorgesetzter ist, muss
Sie wirklich tief getroffen haben. Der Gesetzentwurf für
die Ausbildungsplatzabgabe kommt. Mit der Freiwilligkeit ist jetzt Schluss. Stattdessen kommt nun wieder
Staatszwang pur. Das einzig Positive daran ist, dass Sie
auf dem Sonderparteitag damit Stimmung machen können.
Es stellt sich die Frage: Welche ist denn in diesem
Spiel Ihre Rolle, Herr Minister? Welchen Part spielen
Sie hier überhaupt? Nehmen wir doch als Beispiel den
Emissionshandel; er ist heute schon öfter angesprochen
worden. Dieses Gesetz hat immens weit reichende Folgen für unsere Wirtschaft. Es ist bezeichnend, dass Ihnen
dieses Thema im Wirtschaftsausschuss bis jetzt kein
Wort wert gewesen ist. Ich habe zu diesem wichtigen
wirtschaftspolitischen Thema um eine Stellungnahme
gebeten: Die Auswirkungen des Emissionshandels auf
die Wirtschaftspolitik.
({9})
- Lassen Sie mich ausreden, Herr Wend. - Die Stellungnahme ist gekommen. Sie bestand aus einer mageren
dreiviertel Seite. Auch hier, Herr Minister Clement, können Sie sich gegen Herrn Trittin nicht durchsetzen.
Herr Trittin missbraucht den Emissionshandel, um einen strukturpolitischen Steuermechanismus auf den Weg
zu bringen.
({10})
Ihm ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer
Unternehmen vollkommen egal. Er versucht, seine grüne
Ideologiepolitik in die Industrie hineinzutragen.
({11})
Auch hier, Herr Minister Clement, haben Sie die rote
Karte bekommen. Daher dürfen Sie nicht auf das Spielfeld.
Herr Kuhn, was Sie gerade im Zusammenhang mit
der Selbstverpflichtung der Wirtschaft gesagt haben,
muss Ihnen doch wehtun. Dabei hat man gemerkt, dass
Sie mit diesem Thema nicht vertraut sind.
({12})
Die Verpflichtung lautet, den Ausstoß der Emissionen
bis 2012 um 21 Prozent zu senken. Bis heute hat es die
Wirtschaft aufgrund einer Selbstverpflichtung - ich sage
das noch einmal: Selbstverpflichtung - geschafft, den
Ausstoß der Emissionen um 19 Prozent zu senken.
({13})
Wir würden das Ziel im internationalen Vergleich auch
ohne den Emissionshandel erreichen; da können Sie sicher sein.
Der Vorstandschef von Vattenfall hat zu Recht seine
Sorge geäußert, dass durch die grün-rote Regulierungswut besonders in Ostdeutschland Tausende von Arbeitsplätzen in der Braunkohleindustrie vernichtet werden.
Das ist nicht Aufbau Ost; was hier betrieben wird, ist
vielmehr Abbau Ost.
({14})
Wie wollen Sie denn diese wichtigen und notwendigen Reformen in Gang bringen, wenn Ihr zukünftiger
Parteichef erklärt: „Mehr für den Staat, weniger für den
Konsum“? Ein anderes Beispiel: Der Bürger soll dem
Staat das geben, was der Staat braucht. - So kann man
ein Land nicht nach vorne bringen. Sie wissen genau,
dass in der Wirtschaft gilt: Stillstand bedeutet Rückschritt. Bei Ihnen jedoch heißt es momentan: „Vorwärts,
Genossen, es geht wieder zurück“ - nichts anderes.
Wir müssen die Wachstumskräfte stärken; das wissen auch Sie. Der Mittelstand ist für die Wirtschaftspolitik wichtig; auch das wissen Sie. Sie kennen auch die
Analyse der Bundesbank vom letzten Oktober. Darin
wird festgestellt, dass sich der gesamte Mittelstand in
Deutschland in einer Abwärtsbewegung befindet. Allein
die Bruttojahresergebnisse sind in den letzten drei Jahren
um 15 Prozent geschrumpft. Wir wissen, dass die ökonomische Katastrophe noch schlimmer gewesen wäre,
wenn uns nicht die Exportwirtschaft davor bewahrt
hätte. Unser Außenhandel zeigt uns, wie anfällig und
wie abhängig wir inzwischen von der Weltwirtschaft geworden sind. Dies beweist, dass die Spaltung zwischen
binnen- und außenwirtschaftlichen Kräften immer größer wird. Das ist eine fatale Entwicklung unserer Wirtschaftspolitik.
({15})
Das Thema Osterweiterung war Ihnen nur eine
kurze Erwähnung wert. Wir wissen, dass sie nicht nur
Risiken, sondern auch Chancen birgt. Wir versuchen, auf
diese Chancen immer wieder hinzuweisen. Aber es muss
vor allen Dingen auch den kleineren Firmen möglich
sein, die Potenziale zu nutzen. Das heißt, sie müssen gut
vorbereitet sein und faire Wettbewerbsbedingungen vorfinden. Sie aber haben bei der GA-Förderung eine beispiellose Salamitaktik an den Tag gelegt; einmal hin,
einmal her. Man weiß überhaupt nicht mehr, wie es in
Ihrer Wirtschaftspolitik zukünftig mit der regionalen
Förderpolitik bestellt sein wird. All das zeigt, dass es in
diesem Zusammenhang an allen Ecken und Enden hapert.
Nehmen wir die Steuerbelastung. Ab Mai werden
Länder der EU beitreten, deren Steuerlast bei weitem geringer ist als unsere: Litauen und Zypern 15 Prozent,
Lettland 19 Prozent. Andere Länder planen Senkungen
der Steuerlast: Polen von 27 Prozent auf 19 Prozent, die
Slowakei von 25 Prozent auf 19 Prozent, die Tschechische Republik von 31 Prozent auf 24 Prozent ab dem
Jahr 2006.
({16})
In diesem Hause muss man doch handeln. Man kann
sich doch nicht zurücklehnen und sagen: Jetzt warten wir
erst einmal ab, was überhaupt auf uns zukommt.
Im abgelaufenen Jahr sind die Gewinne der deutschen
Gesellschaften mit 40 Prozent belastet worden. Das ist
der zweithöchste Wert. Nur marginal höher ist die Belastung in Japan mit 40,9 Prozent. Kein Land in Europa
greift stärker auf die Unternehmensgewinne zu als
Deutschland.
Schauen Sie sich die zukünftigen Weichenstellungen
an. Müntefering will mehr für den Staat. Wir wollen
mehr Freiheit. Müntefering sagt: Bloß keine Hektik bei
den Reformen. Wir sagen: 2004 darf kein verlorenes
Jahr für Deutschland werden. Da zeigt sich, wo wir in
Zukunft ansetzen müssen.
Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, muss zukünftig eine Schlüsselrolle zukommen. Wer soll denn Ihre
Fraktion überhaupt auf notwendige Änderungen einstellen, wenn nicht Sie? Schröder kann es nicht. Herr
Müntefering will es nicht. Wir sehen genau, dass er eine
Vorliebe für Zwangsabgaben hat. Tarifverträge sind für
ihn sakrosankt. So können wir erahnen, wo es in den
nächsten Jahren unter Ihrer Regierung langgehen wird.
Wir brauchen mehr private Initiative. Wir müssen
den Menschen mehr zutrauen, anstatt mehr staatlichen
Dirigismus zu entwickeln. Public-Private-Partnership
wird ein ganz wichtiges Thema in der Zukunft werden.
Wir brauchen endlich gesunde Staatsfinanzen. Darum
müssen wir uns bemühen und wir dürfen nicht immer
wieder in neue Schulden flüchten. Wir müssen endlich
für neue Arbeitsplätze sorgen, anstatt die Erwerbslosen
aus der Statistik zu streichen.
Was passiert jetzt? Die Neiddiskussion ist neu aufgeblüht. Sie ist aberwitzig. Der linke Flügel der SPD freut
sich jetzt schon auf die Erbschaftsteuererhöhung, die
eingebracht werden soll, obwohl jeder Ökonom sagt,
dass allein ein Drittel der Erbschaftsteuer für Verwaltungsausgaben verwendet werden muss. Sie wissen genau, dass durch eine Erbschaftsteuererhöhung Kapital
aus dem Land getrieben wird. Ich frage mich schon: Ist
es in der momentanen Situation sinnvoll, Betriebsübergaben durch höhere Erbschaftsteuern noch mehr zu erschweren? Viel wichtiger wäre es, die Erben, die sich bereit erklären, unternehmerisch tätig zu sein, zu entlasten,
ihnen die Erbschaftsteuer zu stunden und nach zehn Jahren zu erlassen. Dann haben sie viel mehr für die Volkswirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze getan, als
wenn sie einmalig Erbschaftsteuer zahlen, die vom aufgeblähten Staat wahrscheinlich nur verfrühstückt wird.
({17})
Lieber Herr Clement, ich weiß, dass Sie uns auch in
dieser Sache zustimmen. Aber Sie werden sich auch hier
bei Ihren eigenen Leuten nicht durchsetzen können.
Ich habe sehr bedauert, dass außer dem Schlagwort
„Innovation“, das in Ihrem Bericht vorkommt, keine
konkreten Aussagen zu Bildung gekommen sind. Genau
darin liegen doch die Grundlagen für die Aufwärtsentwicklung unseres Staates. Die „Financial Times“ hat
diese Woche getitelt: „Das Land der Dichter, Denker und
Erfinder hat abgewirtschaftet. Weil unser Bildungssystem verrottet, verschleudern wir unsere wichtigste Ressource: die Klugheit unserer Kinder.“
({18})
Recht hat sie. 10 Prozent eines Jahrgangs verlassen inzwischen die Schulen ohne jeglichen Abschluss. Inzwischen haben wir 4 Millionen Mitbürger, die nicht lesen
und nicht schreiben können. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen.
({19})
Es gibt viele Kindergärten, in denen 90 Prozent der Kinder kein Wort Deutsch sprechen. Wie soll denn da die Integration stattfinden? Es ist zu wenig, nur das Jahr der
Innovation auszurufen, wenn unsere Schüler nur Platz
21 von 32 Plätzen im internationalen Bildungsranking
belegen.
Ich habe bei Ihnen auch jeglichen konstruktiven Beitrag zum Thema Eliteuniversitäten vermisst. Das ist ein
sehr wichtiges Wirtschaftsthema, das angegangen werden muss. Wir kennen Ihre Forderungen nicht. Fordern
Sie mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung der einzelnen Hochschulen? Auch in dieser Frage herrscht wieder das berühmte Schweigen im Walde.
({20})
Ich möchte Sie zum Schluss noch auf zwei Schlagworte hinweisen, Herr Clement. Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht 2003 unter das Motto „Allianz der Erneuerung“ gestellt. In diesem Jahr heißt die Devise
„Partner für Innovation“.
({21})
Wenn Sie es auch zukünftig nicht schaffen, sich
durchzusetzen, und von Ihrem Parteichef ausgebremst
werden, kann ich Ihnen nur einen Rat geben: Seien Sie
ein Partner für Innovation, wie Sie es im Jahreswirtschaftsbericht formuliert haben! Räumen Sie gemeinsam
mit dem Kanzler Ihren Platz und machen Sie damit Platz
für eine Allianz der Erneuerung.
Vielen Dank.
({22})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Kauder das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Kuhn hat in seiner Rede
versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Praxisgebühr eine Erfindung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
gewesen sei. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn
Präsidenten aus der Rede des Bundeskanzlers vom
14. März 2003:
Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden
muss, sollten wir - ich komme jetzt zu den Instrumenten - Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen.
Der Begriff „Praxisgebühr“ stammt also von Herrn
Bundeskanzler. Davon sollten Sie nicht ablenken, Herr
Kuhn, wenn wir fair miteinander umgehen wollen.
({0})
Kollege Kuhn, wollen Sie darauf reagieren?
Vielen Dank, dass Sie kurz auf das Thema eingegangen sind, Herr Kauder. Aus dem in dem Zitat erwähnten
Begriff „differenzierte Praxisgebühr“ ergibt sich unschwer, dass es in diesem Zusammenhang um ein differenziertes Modell, aber keineswegs um eine Praxisgebühr beim Hausarzt ging.
({0})
Ich wollte Sie aber - das war der Sinn meiner Äußerungen - an etwas anderes erinnern. In den konkreten
Gesprächen, als die Gesundheitsreform in vielen Nächten diskutiert und vereinbart wurde, war durchaus klar,
dass entsprechende Maßnahmen zugunsten eines stärkeren Wettbewerbs im Gesundheitssystem zu einer Kostensenkung führen würden, sodass eine Praxisgebühr
nicht notwendig wäre.
Für die Zukunft ist völlig klar, Herr Kauder: Bei der
nächsten Reform im Gesundheitswesen - ob Kopfprämie oder Bürgerversicherung - kommen wir um einen
effektiven Wettbewerb in unserem Gesundheitswesen
nicht herum. Ich verstehe nicht, dass diejenigen, die sich
immer wieder für einen liberalen Wettbewerb aussprechen, die Hauptblockierer sind, wenn es um den echten
Wettbewerb verschiedener Leistungsanbieter geht.
Das ist der Sinn meiner Ausführungen. Ich finde es
großartig, wie die FDP und die Union in diesem Hause
immer wieder die Lobbys des alten Gesundheitssystems
verteidigen, gerade so, als seien sie von ihnen abhängig
und hätten den Kopf nicht frei für einen echten Wettbewerb.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Lothar Binding, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Das kann ich ja nachher einmal probieren. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Clement hat vorhin festgestellt, dass das
vor uns liegende Jahr besser werde als das vergangene
Jahr. Ich glaube, wo der Minister Recht hat, hat er Recht.
({0})
Dieser Satz gilt meines Erachtens in einem viel tieferen Sinne, als er sich durch ein Jahresgutachten ergeben
kann. Denn er beruht auf Strukturkomponenten, die bei
nur kurzfristiger Betrachtung einzelner Parameter nicht
erkennbar sind.
Die Lasten für die Zukunft bestimmen sich aus
verschiedenen Parametern, zum Beispiel aus den Staatsschulden, aber auch aus den künftigen Leistungsansprüchen. Daraus ergibt sich sozusagen eine Tragfähigkeitslücke, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt. Man
muss sich den historischen Verlauf genauer anschauen,
um zu erkennen, wo wir heute stehen.
Wir alle wissen, dass das durchschnittliche Wachstum in den 70er-Jahren bei 2,8 Prozent, in den 80er-Jahren bei 2,3 Prozent und in den 90er-Jahren bei 1,6 Prozent lag. Vor dem Hintergrund des Niedergangs der
Wachstumsraten möchte ich die Analyse eines CDUKollegen, die die Situation von 1998 beschreibt, als Beispiel nehmen - ich möchte die Vergangenheit nicht allzu
lange bemühen -, um deutlich zu machen, wie Analysen
erstellt werden. Danach gab es damals in wesentlichen
politischen Bereichen „einen positiven Trend. Die
Gemeinden verzeichneten hohe Überschüsse. Die Arbeitslosigkeit ging drastisch zurück. Die Energiepreise
entwickelten sich positiv. Die gesamtstaatliche Verschuldung lag bei etwa einem Drittel.“ Der CDU-Kollege, der
diese Analyse erstellt hat, hat sich anschließend gewundert, warum er kein zukunftsfähiges Modell zustande gebracht hat.
Jetzt, einige Jahre später, gibt es zwei ernst zu nehmende Alternativen. Der erste Ansatz zur Lösung unserer Probleme stammt von der Bierdeckelfraktion. Natürlich kann man sich vorstellen, dass man zukünftig seine
Steuererklärung auf einem Blatt Papier abgibt, das so
viel Platz bietet wie ein Bierdeckel. Aber das ist nur
möglich, wenn man entsprechend viele Bierdeckel
nimmt. Wer dieser Fraktion angehört, wird niemals eine
seriöse Steuerpolitik machen können. Jeder, der sich das
Merz-Modell genauer anschaut, wird sofort feststellen,
dass das in volkswirtschaftlicher Hinsicht zu kurz gesprungen ist; denn dieses Modell ist erstens mit Belastungen - je nachdem, wie man rechnet - in Höhe von
30 Milliarden bis 40 Milliarden Euro verbunden, die geschickterweise über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
finanziert werden sollen. Zweitens werden die Auswirkungen auf den Wirtschaftskreislauf nicht zu Ende gedacht. Wie kann man gleichzeitig die Mehrwertsteuer
erhöhen und davon sprechen, dass man die Binnennachfrage ankurbeln wolle? Dieser Widerspruch wird von
Merz nicht aufgelöst, ganz abgesehen davon, dass in seinem Modell die Integration der Unternehmensteuern
völlig ungeklärt bleibt. Das birgt natürlich große Gefahren.
({1})
Um dies sozialpolitisch zu bewerten, sollte man sich
vorstellen - hier möchte ich auf das eingehen, was mein
Kollege Bernd Scheelen gesagt hat -, was es bedeutet,
wenn eine Krankenschwester die Steuern des Chefarztes
zu zahlen hat. Es ist klar, dass dies kein Modell für die
Zukunft ist. Alle Fachleute haben sich an den Kopf gefasst, als sie dieses Modell näher untersucht haben.
Vorhin wurde im Zusammenhang mit Steuern auch
von Insolvenzen gesprochen. Vielleicht sollte man hier
ebenfalls in die Geschichte zurückgehen. Ein Betrieb,
der 1995 beispielsweise von einem Dachdeckermeister
gegründet wurde mit der Aussicht, dass die Entwicklung
des Baugewerbes sehr positiv verlaufen wird, zählte damals als Betriebsgründung. Jetzt hat aber jeder gemerkt,
dass in den 90er-Jahren die Mittel, die nach den Fördergebietsgesetzen gewährt wurden, und die Subventionen
im Baugewerbe zum Fenster hinausgeworfen wurden
und dass das Baugewerbe seit 1995 im Niedergang begriffen ist. Was macht nun dieser Handwerker, der sich
über viele Jahre von Kleinauftrag zu Kleinauftrag gerettet hat? Er geht jetzt natürlich in Konkurs. Wer hat
Schuld daran? Angeblich nicht die langfristig fehl angelegte Politik der 90er-Jahre, sondern die aktuelle Steuerpolitik der jetzigen Bundesregierung, die die Steuern zugunsten des Handwerks gesenkt hat.
Lothar Binding ({2})
Wir werden den Referenzwert des EU-Stabilitäts- und
Wachstumspaktes sicherlich noch einmal überschreiten.
Das ist nur eine kurzfristige Entwicklung. Aber es gibt
zwei historisch bedeutsame, von Eichel, Clement und
Schröder angelegte Strukturveränderungen, die langfristig zu einem Umbau unserer Volkswirtschaft führen werden, nämlich zu einem Übergang von einer reinen angebots- oder nachfrageorientierten Politik zu einem
Kombimodell einer gesamtwirtschaftlich orientierten
Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist eine Integration des SPD- und des CDU/CSU-Modells. Darüber hinaus gibt es eine sehr viel weiter gehende Überwindung
von zwei Grundmodellen, die uns in der Vergangenheit
große Probleme bereitet haben, nämlich des Keynesianismus und des Monetarismus. Ich glaube, dass wir
- möglicherweise nicht in ein, zwei Jahren, wohl aber in
größeren Zeiträumen - erkennen werden, welche tief liegende Erkenntnis wir der aktuellen Politik zu verdanken
haben, die Hans Eichel mit dem Einsatz der automatischen Stabilisatoren beschreibt. Das stellt unsere Sozialsysteme, unser Wirtschaftssystem und unsere Steuerpolitik für die Zukunft auf eine gute Basis, sodass wir
einzelnen Fehlentwicklungen in der weltweiten Finanzund Wirtschaftspolitik sehr gut die Stirn bieten können.
Dennoch wagt Herr Merz zu fragen: Wo ist eigentlich
ein Modell? Ich erkenne in diesem Bericht überhaupt
kein Modell für die Zukunft. - Ich kann das kurz zusammenfassen: Herr Merz, lesen Sie nur einmal die
Seite 10 des Jahreswirtschaftsberichts 2004! Dort steht
eine ganze Liste konkreter Maßnahmen.
({3})
- Ja, Lesen ist nicht jedermanns Stärke, insbesondere
wenn es gilt, mehr zu lesen, als auf einen Bierdeckel
passt.
Inhalte des Reformprozesses der Agenda 2010 sind
unter anderem die Senkung von Steuern und die Sicherung der Sozialsysteme. Das ist ein Weg, den wir schweren Herzens gehen. Ihre Bedeutung, auch für die Leute,
die wenig Einkommen haben, wird mit Sicherheit noch
erkannt werden. Man wird erkennen, dass sie ein System
der sozialen Sicherung, angelegt auf Jahrzehnte, beschreibt. Es geht um den Umbau der Arbeitsverwaltung
und die Sanierung der Altersvorsorge - hier fließen Erkenntnisse ein, die man durchaus auch schon vor 20 Jahren hätte gewinnen können -: Die Riester-Rente ist der
Schritt 1; die nachgelagerte Besteuerung ist der Schritt 2
und die noch zu planende Reform bei der Pflege ist der
Schritt 3.
Hieran kann man, denke ich, erkennen, wie zukunftsfähig das Modell der jetzigen Regierung eigentlich ist.
Da braucht man noch nicht einmal etwas schönzureden.
Jeder erkennt, dass dies keine Politik ist, die auf einen
Wahltag bezogen ist. Wir muten den Leuten ja nicht
ohne Grund schweren Herzens etwas zu, was wir ihnen
eigentlich gar nicht zumuten wollen, aber die Spätfolgen
einer Politik, die 20 Jahre versäumt hat, bestimmte
Strukturen anzugreifen, müssen wir heute angehen.
Langfristig wird auch der so genannte kleine Mann erkennen, dass wir das zu seinem Schutz machen. Wer einmal genauer darauf schaut, wie die konkurrierenden
Steuermodelle, die jetzt vorgetragen werden, wirken,
wird sehr wohl erkennen, dass wir dafür eintreten, dass
die breiten Schultern mehr tragen müssen als die schwachen.
({4})
Jeder wird auch merken, dass das Modell von Herrn
Brüderle „Zurück ins Private“ nicht funktioniert. Ich
will an einem Beispiel deutlich machen, was ich damit
meine. Wenn sich der Staat zurückzieht und etwas den
Privaten überlässt, dann könnte es wie folgt aussehen:
Man gibt Toll Collect einen Auftrag. Die Firma verspricht eine Technologie, kann sie aber nicht liefern. Sie
vereinbart Zeitpläne, kann sie aber nicht einhalten. Die
Projektplanung ist absolut dilettantisch. - So gut hätte
das auch der Staat gekonnt.
({5})
Von daher ist Ihre Lösung keine Lösung. Das wäre
eine Fehlentwicklung hin ins Private und hin zum Egoismus des Einzelnen, den wir hinlänglich kennen. Deshalb
braucht eine vernünftige Sozialpolitik andere Parameter
als die, die Sie vorgeschlagen haben.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Jahreswirtschaftsbericht … unterstreicht, dass
die bisher umgesetzten Reformmaßnahmen der
Agenda 2010 … gute Grundlage und Triebfeder für
den nachhaltigen Aufschwung sind.
So weit das Selbstlob, das die SPD-Fraktion auf ihre
Website gesetzt hat.
Ein Blick ins Leben zeigt allerdings etwas ganz anderes, allemal aus Sicht der inzwischen vielen AgendaGeschädigten im Land.
Ich war in den letzten Tagen im Saarland und in
Rheinland-Pfalz unterwegs. Dort wurde ich immer wieder aufgefordert: Sagen Sie im Bundestag, was wir von
den so genannten Reformen halten, nämlich nichts! - Ich
wurde von Arbeitslosen, von Jungen, von Alten und von
Bürgermeistern darum gebeten; die Leute wissen, wovon
sie sprechen, und haben für die Personalwechsel im
SPD-Vorstand nur ein müdes Lächeln übrig.
Deshalb wiederhole ich: Solange Rot-Grün den Kurs
nicht ändert, so lange bleibt Ihre Agenda 2010 ein Ladenhüter.
({0})
Das Hauptproblem, auch für die Sozialsysteme, ist
die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit. Sie hat inzwischen fast das Endzeitniveau der CDU/CSU-Ära
1997/1998 erreicht. Ich betone das, damit die Opposition
zur Rechten heute Vormittag nicht allzu vergesslich daherredet.
({1})
Der Kardinalfehler von Rot-Grün ist aber: Sie wiederholen die Fehler von CDU/CSU und FDP auf höherer
Stufe; Sie entlasten die Vermögenden weiter und belasten die Schwachen. Dann behaupten Sie noch, das sei alles gerecht und alternativlos. Genau das ist es aber nicht.
Deshalb hat die PDS Ihrer Agenda 2010 eine „Agenda
sozial“ entgegengesetzt.
Der Minister hat heute für 2004 ein Wirtschaftswachstum von bis zu 2 Prozent prophezeit. Sie hoffen
auf die Weltkonjunktur und darauf, dass Ihre Steuerreform Impulse setzt. All das wird aber an der Arbeitslosigkeit und an der Finanzschwäche der Städte und
Kommunen nichts ändern. Selbst der neue Chef der
Bundesagentur für Arbeit musste in diesen Tagen eingestehen, dass der Umbau der Agentur an der Arbeitslosigkeit ganz wenig ändern wird. Ich meine, zumindest das
spricht für Herrn Weise; denn auch aus diesem Hause
hörten wir schon Wundertöne über den angeblichen
Segen der Agenda 2010. Für die Bundesagentur nach
Gerster gilt aber dasselbe wie für die SPD nach
Schröder: Ein neuer Chef kann ganz schnell alt aussehen, wenn er am falschen Konzept festhält.
({2})
Ich habe in der vergangenen Woche unter anderem
die Jobbörse in Pirmasens besucht. Nach allem, was
mir berichtet wurde, arbeitet sie mit Erfolg. Es gibt eine
gute Vermittlungsquote, es gibt gute Kontakte zur einheimischen Wirtschaft und vor allem gibt es gute Mitarbeiter sowohl im Sozialamt als auch in der Bundesagentur und in der Jobbörse selbst. Zwei Tage später lese
ich, die Jobbörse sei in Gefahr, weil die Bundesagentur
für Arbeit sie nicht mehr wie bisher unterstütze, nicht
mehr unterstützen dürfe. Das sind nämlich die Auswirkungen Ihrer Reformen.
({3})
Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern Sie
bekämpfen die Arbeitslosen. Das können Sie gegenüber
keinem, der von der Agenda betroffen ist, schönreden.
Die Bundesrepublik hat auch 2003 einen erheblichen
Exportüberschuss erwirtschaftet. Das Hauptdilemma
- das wissen Sie alle - besteht auf dem Binnenmarkt.
Das bestätigt übrigens auch das DIW in seinem aktuellen
Gutachten. Gerade auf dem Binnenmarkt wirkt aber Ihre
Agenda 2010 negativ. Das zusätzliche Geld, das Sie mit
der Steuerreform versprachen, ziehen Sie den Menschen
durch höhere Gebühren aus der Tasche, und zwar viel
schneller als es hineinkommt.
Die Kommunen, die investieren sollten, können es
nicht, weil sie pleite sind. Ganze Regionen werden einfach ihrem Schicksal überlassen, als wären sie für RotGrün weiße Flecken auf der Landkarte. Die PDS im
Bundestag fordert seit langem eine bessere Finanzausstattung der Kommunen, gerade zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitions- und Förderprogramme für
kleine und mittlere Unternehmen und ein öffentliches Investitionsprogramm speziell für die neuen Länder. Das
wollen Sie nicht und das können Sie umso weniger umsetzen, wenn Sie sich mit der CDU/CSU einen fatalen
Wettlauf um noch niedrigere Steuern liefern.
Zum Schluss noch eine Bemerkung: Ich habe in den
letzten Tagen viel Post bekommen; oftmals beschweren
sich Bürger aus den alten Bundesländern, dass die „PDS
im Bundestag“ so viel über die neuen Bundesländer redet. Ihnen stehe in den alten Ländern schließlich auch
das Wasser bis zum Halse. - Das wissen wir wohl. Allerdings muss es wenigstens noch eine Partei geben, die
sich besonders der Belange des Ostens annimmt, insbesondere nachdem ich im Jahreswirtschaftsbericht 2004
diesbezüglich fast keine Lösungen gefunden habe und
auch die Stimmen der Kolleginnen und Kollegen aus
dem Osten hier heute vermissen musste. Leider hat auch
Werner Schulz nur die Agenda 2010 schöngeredet, anstatt sich zum Beispiel der besonderen Belange der ostdeutschen Länder anzunehmen.
Danke schön.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus
Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht 2004 zeigt, unter welch starkem Realitätsverlust die Opposition leidet.
({0})
Im letzten Jahr hat sie eine Schlusslichtdebatte geführt.
Herr Hinsken hatte seinen Auftritt mit der schönen Laterne. Heute geht es um die zusätzlichen Arbeitstage. Im
Kern geht es darum, dass Sie die Vertrauenskrise aufrechterhalten, immer nur herumnörgeln, mäkeln und alles kleinreden wollen. Das ist Wirklichkeitsverweigerung. Das schadet unserem Land.
({1})
Unsere liebe Kollegin Wöhrl hat dazu eben einen
deutlichen Beitrag geleistet. Sie sagte, es mache ihr
keine Freude, immer herumnörgeln zu müssen. Ganz
glaubwürdig war das nicht. Sie könnten sich diese
Freude ganz schnell verschaffen, wenn Sie einfach zur
Kenntnis nehmen würden, welche Verbesserungen es in
diesem Land gegeben hat und weiterhin geben wird.
Vielleicht würde es dazu beitragen, dass Sie freudiger in
die Zukunft schauen, wenn Sie Ihre Haltung, die Wirklichkeit nicht wahrzunehmen, aufgeben und nüchtern anerkennen, was sich durch den Reformprozess getan hat.
({2})
Nun möchte ich ein Stichwort aufgreifen, das Herr
Kauder hier noch einmal angesprochen hat, nämlich die
Praxisgebühr. Er hat völlig richtig aus der Rede des
Kanzlers vom 14. März zitiert, in der der Kanzler von einer differenzierten Praxisgebühr gesprochen hat.
({3})
Das Modell der Sozialdemokraten und der Grünen sah
vor, dem Hausarzt eine Lotsenfunktion zukommen zu
lassen und für Besuche bei ihm keine Praxisgebühr zu
erheben.
({4})
Sie aber haben im Gesetzgebungsverfahren dafür gesorgt, dass auch dort die Praxisgebühr gezahlt werden
muss. Machen Sie sich jetzt keinen schlanken Fuß. Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung.
({5})
Alles andere trägt dazu bei, dass die Glaubwürdigkeit
der Politik in unserer Gesellschaft leidet.
({6})
Zur Erfolgsstory dieses Landes hat auch die funktionierende Tarifautonomie beigetragen, die die Opposition geschlossen zerstören will. Eine eindeutige Bestätigung dafür, dass die Tarifautonomie funktioniert, ist der
jetzt gerade in Baden-Württemberg zustande gekommene Tarifabschluss. Indirekt wird damit auch die Position, die wir im Vermittlungsausschuss eingenommen
haben, unterstützt. Ich finde, es ist wichtig, dass wir hier
klarstellen: Die Tarifvertragsparteien selbst lösen die
Probleme und stellen sich selbst den Fragen und Herausforderungen. Der erreichte Abschluss ist wirtschaftspolitisch vernünftig. Er verbindet Flexibilität und Sicherheit:
Flexibilität für die Unternehmen, indem sie die Arbeitszeit in größerem Umfang flexibler bestimmen können,
und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande, da sie sich auf die Tarifverträge verlassen können. Das ist eine wichtige Botschaft,
meine sehr verehrten Damen und Herren.
({7})
Verunsicherung schafft kein Vertrauen, drückt die
Stimmung und sorgt damit dafür, dass kein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal entsteht. Mit dem Tarifvertrag wird die Binnennachfrage gestärkt werden. Genau solch ein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal
brauchen wir. Das unterstützt unseren Wachstums- und
Konsolidierungsprozess. Insofern sind wir froh, dass im
Zuge dieses Tarifvertrages auf der einen Seite der private
Verbrauch wieder zunehmen wird, auf der anderen Seite
die Unternehmen aber nicht überfordert werden. In der
Tat ist der Tarifabschluss so maßvoll, dass er durch Produktivitäts- und Preissteigerungen allemal finanziert
werden kann. Insofern ist er ein gutes Signal für unser
Land.
({8})
Gut ist auch, dass durch eine Laufzeit von 26 Monaten Planungssicherheit erreicht worden ist. Insgesamt
gesehen wird auch dieses Tarifergebnis, das in freien
Verhandlungen erzielt worden ist, mit dazu beitragen,
dass es in Deutschland aufwärts geht und der Wachstumskurs gestärkt wird. Somit ist es nicht richtig, diesen
Abschluss nur als einen kleinen Schritt darzustellen, wie
es Herr Merz getan hat, und den einzigen Erfolg darin zu
sehen, dass dauerhaft Arbeit ohne Bezahlung möglich
wird. Alles, was in diese Richtung geht, halten wir für
einen Irrweg; den werden wir Sozialdemokraten nicht
unterstützen.
({9})
Der Tarifabschluss ist ein Beispiel dafür, dass die
Konjunkturaussichten besser werden. Die Wachstumsaussichten für dieses Jahr sind schon positiv: laut Jahreswirtschaftsbericht 1,5 bis 2 Prozent Wachstum. Ich
denke, dies ist realistisch, da man sich mit dieser Größenordnung eher am unteren Ende bewegen dürfte. Das
haben wir alle ja auch heute wieder erfahren; denn das
wachsende Vertrauen seitens der Wirtschaft schlägt sich
in Umfragen und Erhebungen nieder. So ist der Ifo-Geschäftsklimaindex neunmal hintereinander gestiegen.
Aber auch die harten Indikatoren wie die Auftragseingänge und die Industrieproduktion, die für uns wichtig
sind, zeigen nach oben; so sind die Ausrüstungsinvestitionen in den letzten Monaten um mehr als 4 Prozent gestiegen. Zudem konnte zum Ende des Jahres ein Rekordwert beim Export in die Euro-Länder erzielt werden,
obwohl aufgrund des Wechselkursverhältnisses ein
Rückgang des Exports in die USA zu verzeichnen ist.
Das zeigt, dass die deutsche Exportwirtschaft, die ein
starkes Standbein unserer Konjunktur darstellt, absolut
wettbewerbsfähig ist.
({10})
Der Arbeitsmarkt, meine sehr verehrten Damen und
Herren, ist schon früher in Bewegung geraten. Wir alle
wissen, dass es im letzten Jahr kein Wachstum gab.
Trotzdem werden im Jahresdurchschnitt 100 000 Arbeitslose weniger zu verzeichnen sein. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt sogar um 7 Prozent unter dem Vorjahreswert. In den neuen Ländern ist der Vorjahresstand
sogar insgesamt unterschritten worden. Das hätte der
sehr geehrte Herr Minister aus Thüringen wissen müssen.
Daran zeigt sich, dass auch mit harten Fakten belegt
werden kann, dass wir durch unsere Politik nach vorne
kommen. Kohl hatte den neuen Ländern blühende Landschaften versprochen. Er hat sie getäuscht, wie wir heute
wissen. Er hat die Menschen mit ABM getäuscht und er
hat die Sozialkassen geplündert. Damit hat er das Vertrauen in die Politik zerstört und so auch die Grundlagen
für die Wachstumsschwäche in den vergangenen Jahren
geschaffen. Das muss an dieser Stelle noch einmal ganz
deutlich gesagt werden.
({11})
Mit unserem Reformprozess, der Agenda 2010, haben wir kurzfristig Impulse für die Konjunkturerholung
gesetzt. Darüber hinaus müssen eine mittelfristige Konsolidierung der Staatsfinanzen und langfristige Strukturreformen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen.
Wir senken mit unseren Arbeitsmarktreformen die Beschäftigungsschwelle, zum Beispiel dadurch, dass durch
Ich-AGs, Personal-Service-Agenturen, aber auch durch
Minijobs bessere Anreize zur Arbeitsaufnahme organisiert werden. Auch eine effizientere Arbeitsvermittlung
und die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe werden einen Beitrag zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit leisten.
Effizientere Märkte sind natürlich auch durch die Novelle zur Handwerksordnung zu erreichen. Ich habe
mich heute wieder sehr gewundert, als Herr Brüderle ein
Plädoyer für den Wettbewerb abgegeben hat:
({12})
Der Wettbewerb sorge für Dynamik, er sei ein wichtiges
Element. Wo aber saßen die Bremser? Die FDP und die
CDU/CSU haben den Prozess der Novellierung der
Handwerksordnung massivst behindert. Unserem nachhaltigen Wirken ist es zu verdanken, dass es eine vernünftige Handwerksordnungsnovelle gibt, die für
Wachstumsimpulse in diesem Land sorgen wird.
({13})
Auch der Anstieg der Lohnnebenkosten ist im Rahmen der Sozialreformen ein wichtiges Thema. Dabei setzen wir auf mehr Wettbewerb, nicht in erster Linie auf
Leistungskürzung. Das müssen die Menschen in diesem
Lande wissen. Es sollen nicht einfach Leistungen herausgeschnitten oder gekürzt werden, sondern der Wettbewerb muss für günstigere Angebote, für qualitativ bessere Angebote genutzt werden. Auch dabei haben wir
leider erleben müssen: Die Opposition sitzt im Bremserhäuschen. Sie hält Sonntagsreden für mehr Wettbewerb,
aber wenn es dann ernst wird, schützt sie Apotheker,
Ärzte und die Pharmaindustrie und ist nicht bereit, einen
fairen Wettbewerb zuzulassen.
Für uns steht fest, meine Damen und Herren: Die Reformen müssen weitergehen. Sie werden in unverminderter Geschwindigkeit weitergehen, aber sozial ausgewogen
unter dem Gesichtspunkt, Innovation und Gerechtigkeit in
ein entsprechendes Verhältnis zu bringen.
({14})
Unsere Leitlinie lautet: fördern und fordern. Das
Fördern steht bei uns ganz obenan, es steht dem Fordern
zuvor. Ihre politische Leitlinie lautet leider: fordern und
mehr Druck. Damit entsteht keine Modernisierung,
keine inhaltliche Verbesserung. Wir wollen mehr Eigenverantwortung, wir wollen eine Modernisierung des Sozialstaates und nicht einen Abbau des Sozialstaates.
({15})
Es gab schon Zwischenrufe, in denen unterstellt
wurde, die durch uns vorgenommenen Veränderungen
hätten zum Beispiel für den Arbeitsmarkt rein statistische Bedeutung.
({16})
Die Empörung von Herrn Laumann bezüglich der Anpassung der Arbeitsmarktstatistik an internationale
Standards ist groß. „Ein Laumann ersten Ranges“ titelt
die „Berliner Zeitung“ am 6. Februar 2004. Sie zitiert
ihn mit gewichtigen Aussprüchen wie „Manipulation“
und „Skandal ersten Ranges“. In der Tat wollen wir die
Arbeitsmarktstatistik an internationale Standards anpassen; denn wir sind es leid, dass Deutschland durch die
Opposition im internationalen Bereich schlechtgeredet
wird.
({17})
Wir wollen uns international messen lassen. Wir sind im
internationalen Vergleich eben nicht schlecht, sondern
gut und wir werden noch besser werden.
({18})
Lassen Sie mich klar sagen: Wenn Herr Fuchtel fordert, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe
und Sozialhilfe auf 2006 verschoben werden soll, dann
zeigt er auch damit wieder deutlich, dass er in der Tat
nicht will, dass eine wichtige Reform durchgeführt wird,
die zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation beiträgt,
die dazu beiträgt, dass es Fallmanager, eine systematische Arbeitsvermittlung, Jobcenter und Hilfen aus einer
Hand geben wird, sondern dass dies alles den Arbeitslosen in diesem Land verweigert wird, dass man hinnimmt, dass die Arbeitslosigkeit länger verwaltet wird.
Das ist mit den Sozialdemokraten und den Grünen nicht
zu machen.
({19})
Es ist völlig klar, dass die ersten positiven Ergebnisse
vorliegen. Fördern und fordern zahlt sich aus: Es gibt
beispielsweise 250 000 mehr Existenzgründer. Die Wiedereingliederung, bessere Hilfen und individuelle Betreuung durch Fallmanager stehen im Vordergrund. Das
ist ein ganz wichtiges Signal.
Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass wir zu unserem Wort stehen, die Kommunen auch tatsächlich um
2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Wir wissen, dass die
Kommunen in unserem Land wichtige Investitionsleistungen übernehmen. Deshalb werden wir im Ergebnis
auch sicherstellen, dass die tatsächliche Entlastung bei
den Kommunen ankommt. Darauf können die Kommunen vertrauen.
({20})
„Leistung, Innovation, Wachstum“ ist die Losung
des Jahreswirtschaftsberichts 2004. Deutschland ist auf
einem guten Weg. Blockieren Sie diesen Weg nicht!
Räumen Sie die Steine aus dem Weg! Sorgen Sie mit dafür, dass das Land nicht weiter schlechtgeredet wird! Wir
sollten vielmehr gemeinsam die Konjunktur ankurbeln.
Sie haben allen Grund, dabei Ihren Beitrag zu leisten.
Dann wird es auch gelingen, die Arbeitslosigkeit deutlich zurückzuführen.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2405 und 15/2000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart,
Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer
- Drucksache 15/2349 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei
die FDP zwölf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen heute den 200. Todestag des großen
Freiheits- und Aufklärungsphilosophen Immanuel
Kant. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, an ihn zu
erinnern.
Ich möchte ihn zitieren. Er hat in seiner „Metaphysik
der Sitten“ gesagt:
Nur solche Prinzipien, die diesem wechselseitigen,
gesetzlich geschützten Respekt der Freien nicht gefährden, dürfen allgemeine Gültigkeit beanspruchen.
Was will er damit sagen? Er will damit sagen, dass wir
vor den Freiheitsrechten der Bürger Respekt haben
müssen und nur solche Regeln aufstellen dürfen, die
diese Freiheitsrechte und die eigenverantwortlichen
Handlungsmöglichkeiten respektieren.
({0})
Haben wir das mit unserer Gesetzgebung getan? Ich
glaube, wir haben die Bürger eher entmündigt, sie zu
Untertanen von Staat und Bürokratie gemacht und sie in
ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.
({1})
Jedenfalls gilt das für das Steuerrecht.
Wer sich das deutsche Steuerrecht, den deutschen
Steuerdschungel, anschaut, der glaubt, wir seien verrückt
geworden. Es ist ein absurdes System, das keiner mehr
versteht und an dem selbst die Experten verzweifeln. Die
Steuerberater wissen nicht mehr, wie sie ihre Mandanten
beraten sollen; die Verwaltung weiß nicht, wie sie das
Steuerrecht anwenden soll. Das Chaos ist allgemein. Der
Bürger entzieht sich diesem System. Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung werden in Deutschland als
Kavaliersdelikte angesehen.
({2})
- Natürlich gilt er für die Wahrheit. Über die Wahrheit
rede ich doch jetzt.
({3})
Der Bürger entzieht sich durch Schwarzarbeit, durch Kapitalflucht, durch Investitionen im Ausland und durch
komplizierte Arrangements, mit denen man Steuern vermeiden kann.
Dieses Steuerrecht ist nicht reformierbar. Es muss abgeschafft werden. Wir müssen ein völlig neues, einfaches und bürgerfreundliches Steuerrecht dagegenstellen. Das ist unsere Aufgabe.
({4})
Es muss endlich Schluss sein mit der Ankündigung
von Steuersenkungen, die in Wirklichkeit immer zu
Steuererhöhungen geführt haben. Es muss endlich
Schluss sein mit der angeblichen Steuervereinfachung,
die zu immer mehr Verkomplizierungen geführt hat. Es
muss Schluss sein mit den laufenden Forderungen nach
neuen Steuererhöhungen und nach Einführung neuer
Steuerarten. Gerade in den letzten Wochen konnten wir
von Forderungen nach der Anhebung der Mehrwertsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und
der Anhebung der Erbschaftsteuer lesen; alles Forderungen, wie sie gerade von den Grünen erhoben worden
sind.
({5})
Was sagt denn der Bürger dazu? Der Bürger sagt: Ich
glaube denen sowieso nicht. Ich weiß, dass die mir nur
in die Tasche greifen wollen.
Dies geht so nicht mehr. Dagegen können Sie nur ein
einfaches, für jedermann verständliches Steuerrecht stellen. Das schlagen wir Ihnen heute vor. Um es Ihnen mit
Ihrer Kritik nicht zu einfach zu machen, sage ich Ihnen:
Wir haben uns strikt an die Grundprinzipien unseres
Grundgesetzes, unserer Verfassung, gehalten und versucht, diese in dem Einkommensteuerentwurf, den wir
Ihnen vorgelegt haben, zu verwirklichen.
({6})
Fangen wir mit dem Demokratieprinzip gemäß
Art. 20 Grundgesetz an. Es ist doch selbstverständlich,
dass der Bürger ein Gesetz, welches er befolgen soll, zunächst einmal verstehen können muss.
({7})
Das ergibt sich doch eindeutig aus dem Demokratieprinzip.
Deswegen schlagen wir einen transparenten Stufentarif vor. Es wird immer gefragt: Warum ein Stufentarif?
Technisch ist es egal, ob Sie einen linear-progressiven
Tarif oder einen Stufentarif haben. Aber es geht um die
Verständlichkeit. Der Bürger soll seine Steuerbelastung
mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen können. Das
kann er bei einem Stufentarif, nicht aber bei einem Formeltarif.
Das Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung - das
ist ebenfalls in Art. 20 Grundgesetz verankert - fordert
Vertrauensschutz. Herr Bundesminister Eichel, wie haben Sie es mit dem Vertrauensschutz gehalten? Der Bundesfinanzhof hat ja gerade die Verlängerung der Spekulationsfrist bei Immobilienverkäufen als eine nicht
verfassungsgemäße Rückwirkung bezeichnet.
({8})
Die Präsidentin des Bundesfinanzhofes hat ausdrücklich
gesagt, der Gesetzgeber hätte erkennen können, dass wir
es mit dem Verfassungsverbot der Rückwirkung ernst
meinen.
({9})
Das gilt natürlich genauso - Herr Bundesfinanzminister, dafür sind nicht Sie zuständig; das haben die
Gesundheitspolitiker veranlasst - für die Eingriffe im
Hinblick auf die Betriebsrenten und die Direktversicherungen.
({10})
Hier ist in lang bestehende Altersversorgungsplanungen
der Bürger eingegriffen worden. Darauf konnten sie sich
nicht vorbereiten und damit konnten sie nicht rechnen.
Das ist ein enteignungsgleicher Tatbestand und evident
verfassungswidrig. Diese Regelung wird keinen Bestand
haben.
({11})
Für uns heißt das auch, dass die Verwaltung in Zukunft keine Nichtanwendungserlasse mehr herausgeben
darf. Die höchstrichterliche Rechtsprechung muss
Rechtskraft haben. Nur der Gesetzgeber ist befugt, dies
zu ändern.
Meine Damen und Herren, der Gleichheitsgrundsatz
in Art. 3 Grundgesetz besagt ganz eindeutig, dass gleiche Sachverhalte gleich behandelt werden müssen. Das
führt doch zwingend dazu, dass die unterschiedliche Besteuerung nach unterschiedlichen Einkunftsarten aufgegeben werden muss. Wer den Gleichheitsgrundsatz
ernst nimmt, muss sämtliche Lenkungsnormen und Ausnahmen im Steuerrecht beseitigen. Nur dann bekommen
Sie ein einfacheres und gerechtes Steuerrecht zustande.
Deswegen brauchen wir ein Steuergesetz, das auf einen
einheitlichen Einkommensbegriff abstellt und in dem die
Einkünfte nur nach der Höhe unterschiedlich belastet
und alle anderen Dinge außen vor gelassen werden. Es
geht nicht, dass sich die Politik über das Steuerrecht in
die privaten oder wirtschaftlichen Entscheidungen der
Bürger einmischt. Das muss endlich beendet werden.
({12})
Deswegen gehen wir in unserem Entwurf strikt von
der Neutralität des Steuerrechtes aus. Die Besteuerung
muss unabhängig davon erfolgen, aus welcher Quelle
das Einkommen stammt, für welche Zwecke es verwendet wird oder in welcher Rechtsform es erwirtschaftet
wird.
Es gibt andere Vorschläge wie den des Sachverständigenrates: eine duale Besteuerung, die zu einer Begünstigung der Kapitaleinkünfte führt. Das ist zwar ein interessanter Vorschlag; aber er wird dem Prinzip der
Gleichheit der Besteuerung und dem Neutralitätsprinzip
nicht gerecht. Deswegen haben wir ihn verworfen.
Die Steuererklärung muss einfach sein und ohne großen Zeit- und Kostenaufwand erstellt werden können.
Deswegen mündet unser Steuerkonzept in ein einseitiges, einfaches Steuererklärungsformular, das selbstverständlich auch elektronisch an das Finanzamt geliefert
werden kann. Eine Seite, so einfach ist es. Wir haben es
vielfach ausprobieren lassen. Innerhalb einer halben
Stunde hat es jeder bewältigt, dem ich das Formular vorgelegt habe.
({13})
Herr Bundesminister Eichel, ich zeige es Ihnen auch.
({14})
Selbstverständlich müssen Sie Ihre Daten vorher gesammelt haben. Im Übrigen ist die blau-gelbe Färbung rein
zufällig.
({15})
Art. 14, der Eigentumsartikel, schreibt zwingend vor,
dass Sie keine übermäßige Besteuerung durchführen
dürfen. Dabei darf man nicht nur auf die direkten Steuern achten. Uns wird vorgeworfen, ein Steuersatz von
35 Prozent sei zu niedrig; die Bezieher höherer Einkommen würden zu niedrig besteuert. Sie müssen natürlich
sehen, dass wir neben den direkten Steuern auch noch
indirekte Steuern haben. Diese sowie vielfältige Sozialabgaben führen dazu, dass wir in Deutschland die bei
weitem höchste Abgabenquote aller Industriestaaten haben.
({16})
Deswegen muss sie bei den leistungsdämpfenden direkten Steuern korrigiert werden.
({17})
Aus Art. 14 ergibt sich auch, dass Sie keine Doppelbesteuerung zulassen dürfen. Dies bedeutet, dass eine
Vermögensteuer auf keinen Fall wieder eingeführt werden darf, weil das Vermögen, das Sparkapital der Bürger,
längst schon mehrfach besteuert worden ist.
({18})
Das gilt auch für eine potenzielle Erhöhung der Erbschaftsteuer.
Schließlich führt uns der Schutz von Ehe und Familie
dazu, dass wir in unserem Stufentarif das Ehegattensplitting durch Verdoppelung der Einkommensgrenzen
bei den Stufen beibehalten und auch den Kindern einen
Freibetrag in der Höhe des Grundfreibetrags jedes Erwachsenen gewähren.
({19})
Erst dadurch kommen wir zu einer adäquaten Berücksichtigung der Kinder im Steuerrecht. Im Ergebnis
werden Ehepaare mit zwei Kindern erst ab einem Jahreseinkommen von 37 000 Euro überhaupt Einkommensteuer zu zahlen haben. Deswegen kann von sozialer
Schieflage überhaupt keine Rede sein.
({20})
Der normale Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem
Durchschnittseinkommen bleibt also von einer Einkommensbesteuerung völlig frei.
({21})
- Heute ist die Besteuerung sehr viel höher.
Meine Damen und Herren, nun sage ich noch etwas
zur Finanzierung. Uns ist vielfach vorgeworfen worden,
unsere Vorschläge seien unsolide und in Anbetracht der
Haushaltslage nicht finanzierbar. Genau das Gegenteil
ist der Fall: Eine solche Steuerreform muss mit einer
Steuerentlastung verbunden sein, weil sonst die Bürger,
die bisherige Vorteile verlieren, die Zeche bezahlen
müssten. Aus einer solchen Steuerreform sollen aber alle
einen Vorteil haben. Darüber hinaus sind nur durch eine
Entlastung Wachstumsimpulse auszulösen, die wir brauchen, um unsere Wirtschaft zu dynamisieren und Arbeitslose in Arbeit und Brot zu bringen.
({22})
Dadurch machen wir aus Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldempfängern wieder Steuer- und Beitragszahler. Nur
wenn Sie das erreichen, wird es Ihnen auch gelingen,
Herr Bundesfinanzminister, die Haushalte zu sanieren.
Ohne eine Dynamik der Wirtschaft und ohne einen Beschäftigungseffekt wird Ihnen dies nicht gelingen und
ohne Steuersenkung erreichen Sie diesen Effekt nicht.
Deswegen ist eine solche Nettoentlastung zwingend geboten.
Im Übrigen - das sage ich nur nebenbei - haben Berechnungen ergeben, dass in den gut fünf Jahren der rotgrünen Regierung Belastungswirkungen und Entlastungswirkungen saldiert zu einer Mehrbelastung der
Steuerbürger bzw. der Steuersubjekte insgesamt in Höhe
von 8 bis 10 Milliarden Euro geführt haben. Dies
schließt die dritte Stufe der Steuerreform von Rot-Grün
bereits ein. Wenn wir nach unserem Vorschlag zu einer
Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro kommen, dann
neutralisieren wir zunächst einmal den Zugriff der rotgrünen Regierung auf die Steuersäckel der Bürger. Darüber hinaus bleibt nur eine Nettoentlastung von 6 bis
8 Milliarden Euro übrig. Wenn dies nicht zu verantworten sein sollte, dann möchte ich wissen, was Sie sich
noch leisten wollen.
Meine Damen und Herren, dies ist ein Angebot an
alle Parteien, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
({23})
Wir können dies nicht alleine durchsetzen. Die rot-grüne
Bundestagsmehrheit kann ihre Reform nicht alleine
durchsetzen, weil es im Bundesrat eine andere Mehrheit
gibt. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich fordere Sie
auf, sich an einem solchen konstruktiven Reformprozess
zu beteiligen.
Natürlich kann man immer über Einzelheiten reden.
Das muss so sein. Aber das Grundkonzept einer EinDr. Hermann Otto Solms
kommensteuer, die sich strikt an den Prinzipien unserer
Verfassung orientiert, kann auf keinen Fall aufgegeben
werden.
({24})
Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss mit
Immanuel Kant: Haben Sie den Mut, sich Ihres eigenen
Verstandes zu bedienen!
({25})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Hans
Eichel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Natürlich haben wir den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen - auch über Ihren liberalen
Verstand hinweg, Herr Solms. Darauf will ich gleich
kommen. Zuallererst begrüße ich aber die unpolemische
Art, mit der Sie Ihr Konzept hier vorgetragen haben.
Verehrter Herr Merz, man kann einen Gesetzentwurf
vorlegen. Sogar die FDP, eine kleine Fraktion in diesem
Hause, kann das. Sie stellt nur einen einzigen Finanzminister in Deutschland, nämlich Herrn Professor Paqué in
Sachsen-Anhalt. Umso mehr müsste es doch der Union,
dieser großen Partei, möglich sein, einen Gesetzentwurf
vorzulegen.
({0})
- Unser Gesetz steht längst im Gesetzblatt, Herr Merz. Parteifreunde von Ihnen leiten so leistungsfähige Finanzministerien wie die von Bayern und BadenWürttemberg. Haben Sie den Mut, auch einen Gesetzentwurf auf den Tisch zu legen! Dann kommen wir wieder ein kleines Stückchen weiter.
Herr Solms, nun wollen wir gucken, was in Ihrem
Konzept steht und was nicht darin steht. Ich will mit den
aus meiner Sicht diskussionswürdigen Punkten anfangen
und im zweiten Teil die kritikwürdigen Dinge ansprechen.
Diskussionwürdig ist in der Tat der Abbau von Steuervergünstigungen. Er freut jeden Finanzminister. Jede
Vergünstigung, jede Ausnahme von der allgemeinen Besteuerung animiert unsere 70 000 Steuerberater in
Deutschland und auch die Bürger dazu, sie sich zunutze
zu machen, um die Steuerlast zu senken. Ich rede jetzt
nur von dem, was rechtens ist, und nicht von dem, was
nicht rechtens ist. Ich kritisiere das gar nicht; die Kritik
hat sich an den Gesetzgeber zu richten.
Was das bedeutet, haben wir beim Thema Sonntags-,
Feiertags- und Nachtzuschläge gesehen. Plötzlich - es
hat Jahrzehnte gedauert; das hat mich wirklich gewundert - kam ein Fußballverein auf die Idee, dass man auch
die Millionengehälter von Fußballern darunter subsumieren könnte. Ich nehme dieses Beispiel, weil es für
uns Sozialdemokraten ein sensibles ist; wir wollen nicht
- da haben Sie Recht - diejenigen den Abbau von Vergünstigungen bezahlen lassen, die kleine Einkommen
haben und davon betroffen sind. Deswegen ist eine
Reihe von flankierenden Maßnahmen zu treffen. Solange die Tarifvertragsparteien, deren Sache es wäre, das
in Tarifverträgen zu regeln, dazu nicht bereit sind, werden wir den Krankenschwestern die Vergünstigung nicht
wegnehmen, wenn damit verbunden wäre, dass sie mehr
Steuern zahlen müssten. Das kann nicht sein.
({1})
Damit sind wir zum ersten Mal an dem Punkt, dass wir
über die soziale Frage der Verteilungswirkung unserer
Steuergesetzgebung reden müssen. Aber zunächst einmal ist Ihr Konzept grundsätzlich richtig.
Ein Hinweis an Herrn Merz: Es ist relativ einfach, ein
neues Einkommensteuerrecht zu schaffen. Herr Solms,
Sie wissen so gut wie ich: Das neue Recht ist zunächst
das alte ohne die Vergünstigungen; dann ist der Tarifverlauf zu wählen. Das Schöne ist: Wer ein ganz neues
Einkommensteuergesetz schreibt, muss nicht explizit sagen, welche Vergünstigungen er abschafft. Das einzige,
was Sie explizit erwähnen, ist der Wegfall der Vergünstigungen für Arbeitnehmer.
({2})
Aber ich unterstelle einmal, dass Sie - über diesen Punkt
muss ja geredet werden - auch eine Verbreiterung der
Bemessungsgrundlage für Betriebe meinen. Wie wollen
Sie denn Bewirtungskosten bzw. Spesen behandeln? Wie
wollen Sie denn bei Betriebsjubiläen verfahren? Wie
wollen Sie denn mit Dienstwagen umgehen? Weil ich
weiß, wie Sie sich bei entsprechenden Vorschlägen meinerseits verhalten haben, frage ich Sie: Was wollen Sie
wirklich? Sagen Sie den verschiedenen Lobbygruppen
- hier liegt ja die Ursache der Zerstörung des Steuerrechts -, dass Sie all die bisherigen Regelungen nicht
mehr wollen?
({3})
Oder sagen Sie nur den Arbeitnehmern, die Sie sowieso
nicht wählen, dass Sie ihnen ihre Vergünstigungen wegnehmen? Das zu sagen gehört zur Redlichkeit dieser Debatte.
({4})
Meine Damen und Herren, wir wollen und müssen
eine solche Debatte sehr redlich führen. Trotz aller
Schwierigkeiten, die bestehen, sage ich Ihnen: Die
Abschaffung von Steuervergünstigungen wird jeden
Finanzminister freuen. Denn alle Finanzminister - ganz
egal welcher Coleur -, die den Versuch unternommen
haben, solche Ausnahmetatbestände zu reduzieren, haben sich - ich weiß, wovon ich rede - auf vielfältige
Weise blutige Nasen geholt.
Deswegen, sehr verehrter Herr Merz, liegt es nun an
Ihnen, einen entsprechenden Versuch zu starten und einen Entwurf vorzulegen. Ich habe das schon dreimal gemacht bzw. war daran beteiligt. Der erste Versuch war
das Steuerentlastungsgesetz vom Frühjahr 1999. Das
konnten wir noch durchsetzen. Damit haben wir - gegen
den wütenden Protest der rechten Seite dieses Hauses 70 Steuerausnahmetatbestände entweder ganz beseitigt
oder eingeschränkt.
({5})
Dieses Gesetz konnten wir nur verabschieden, weil wir
im Bundesrat noch eine Mehrheit hatten. Meine Stimme
als hessischer Ministerpräsident, der, was Sie kritisiert
haben, die Wahl schon verloren hatte, war damals mit
ausschlaggebend.
({6})
Damals gab es bei jeder einzelnen Vergünstigung, die
wir gestrichen oder eingeschränkt haben, wütenden Protest.
({7})
Der zweite Versuch war das Gesetz zum Abbau von
Steuervergünstigungen, das uns wahlpolitisch sehr geschadet hat. Darin stand beispielsweise auch - das registriere ich im FDP-Konzept positiv und hoffe, Sie bleiben
dabei -, wie wir mit den Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer umgehen. Wir wollten mit dem Abbau von Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer endlich Ernst
machen. Auf europäischer Ebene wehre ich mich entschieden dagegen - in diesem Punkt auch gegen unsere
französischen Freunde und zunächst einmal nur gemeinsam mit meinem dänischen Kollegen -, dass wir die
Mehrwertsteuer genauso zerstören, wie wir es mit der
Einkommensteuer durch zig Ausnahmetatbestände getan
haben, die durch Lobbys durchgesetzt werden konnten
und Mehrheiten gefunden haben. Dagegen wehre ich
mich ganz entschieden.
({8})
Wir sollten uns mit Blick auf die Zukunft einig sein,
dass keiner von uns versucht, neue Steuervergünstigungen einzuführen. Wenn wir - was ja nicht verkehrt sein
muss - an der einen oder anderen Stelle auch einmal eine
Subvention gewähren, dann sollte sie auf der Ausgabenseite nur noch eine Finanzhilfe darstellen, die direkt
nachgewiesen werden muss, sodass ich jährlich überprüfen kann, ob sie etwas bringt oder ob sie gestrichen werden sollte. Aber, sehr verehrter Herr Merz, dann kann es
nicht sein, dass Ihre Seite - in dieser Frage war es übrigens insbesondere der bayerische Ministerpräsident - im
Vermittlungsausschuss erklärt, dass im Bereich der
Landwirtschaft nicht nur keine einzige Steuervergünstigung beseitigt werde,
({9})
sondern dass auch keine einzige Finanzhilfe eingeschränkt werde; ansonsten sei die Veranstaltung zu
Ende. Das ist noch im Dezember letzten Jahres passiert.
Daher muss ich mich schon fragen, wie glaubwürdig
Ihre Ankündigungen, das Steuersystem radikal zu vereinfachen und die Steuersubventionen abzubauen, sind.
Das kann ja wohl nicht sein.
({10})
Das dritte Mal haben wir diesen Versuch mit dem
Haushalt 2004 unternommen. Das Ergebnis kennen wir
aus dem Vermittlungsausschuss. Ich will ausdrücklich
anerkennen, dass wir einen Schritt vorangekommen
sind. Aber ebenso ausdrücklich sage ich: Das abstrakte
Konzept von Herrn Merz lag ja schon vor und war auf
dem Bundesparteitag der CDU unter großem Beifall beschlossen worden. Aber Ihr Verhalten im Vermittlungsausschuss hatte damit nichts zu tun. Sonst hätten wir einen großen Schritt weiter sein können.
({11})
Das gilt auch für die FDP.
Meine Damen und Herren, damals habe ich gesagt:
Im Vermittlungsverfahren wird entschieden, wie gut die
Plattform ist, die wir zimmern, damit wir bei der Vereinfachung des Steuerrechts vorankommen. In dieser Frage
sind Sie viel hasenfüßiger gewesen als wir. Denn das,
was ich vorgeschlagen habe, ist nur zu einem Teil verwirklicht worden. Hier könnten wir schon einen großen
Schritt weiter sein. Wenn ich dann noch ein Jahr weiter
zurückdenke, und zwar an das Gesetz zum Abbau von
Steuervergünstigungen, könnten wir auch schon ein großes Stück weiter sein.
Positiv - ich sage das ausdrücklich - ist der Schritt
bei der Besteuerung von Alterseinkünften. Ich will
dazu auch ein Wort sagen, weil wir gegenwärtig eine Art
von Kampagne in diesem Lande erleben. Diesmal hat
der „Spiegel“ angefangen, dann erst kam die „Bild“-Zeitung hinterher; es ist ja manchmal sehr unterschiedlich.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es dagegen präzise auf
den Punkt gebracht. Bei den Betriebsrenten ändert sich
steuerlich überhaupt nichts. Das Einzige, was insgesamt
bei den Renten passiert - was in Ihrem Konzept auch
steht; wozu das Verfassungsgericht uns verpflichtet
hat -, ist, dass wir ganz vorsichtig, nach und nach, auf
der einen Seite die Renten in dieselbe Besteuerung hereinführen, die für jeden Arbeitnehmer gilt. Das wird im
Jahre 2040 vollendet sein; heute sind die Freibeträge für
die Rente aus gutem Grund mehr als doppelt so hoch wie
bei jedem normalen Arbeitnehmer. Auf der anderen
Seite stellen wir - wesentlich schneller, nämlich bis
2025 - die Vorsorgeaufwendungen der Arbeitnehmer
von der Steuer frei.
Daraus wird uns ein Einnahmeausfall erwachsen - bis
2025; erst danach wird er langsam zurückgehen -, der
mir noch ziemliche Sorgen macht; ich komme darauf
gleich zurück. Das Alterseinkünftegesetz ist also ein Gesetz zur Verminderung der Steuerlast in diesem Lande.
Die öffentliche Debatte nimmt hingegen geradezu psychopathische Züge an.
({12}) - Elke Wülfing [CDU/CSU]:
Wenn die Bürger mehr Steuern zahlen müssen,
regt sie das schon auf!)
Wir werden uns fragen müssen - das geht übrigens an
alle, ganz egal wer regiert -, ob in einem solchen Klima
massiv veröffentlichter Meinung die notwendigen Veränderungsprozesse noch zu vollenden sind. Denn wir
müssen die Staatsfinanzen, die sozialen Sicherungssysteme sanieren. Das geht überhaupt nicht anders. Das
geht auch nicht - auch darauf komme ich gleich noch zurück -, ohne dass ich jemandem etwas wegnehme. Ich
kann kein 86-Milliarden-Euro-Loch von vergangenem
Jahr und kein 70-Milliarden-Euro-Loch in diesem Jahr
schließen, ohne dass ich irgendwem etwas wegnehme.
Wenn das nicht klar ist und wenn dann solche Kampagnen entfacht werden, muss man sich in der Tat fragen, ob wir die Kraft haben, das alles durchzustehen, ob
dieses Land reformfähig ist. Das ist eine Frage nicht nur
an die Politik, sondern auch an sehr viele andere.
({13})
Das zur positiven Seite. Da haben wir zurzeit offenbar
auch keinen Streit; ich würde es auch begrüßen, wenn
das so bliebe.
Damit komme ich zu den kritikwürdigen Elementen.
Zunächst einmal, verehrter Herr Solms: Das mit dem
Grundgesetz klingt gut. Auf der Basis stehen wir alle. Es
lässt allerdings ein paar Interpretationen zu und ist bei
Ihnen selbst nicht widerspruchsfrei. Wenn Sie behaupten, dass alle Erträge, gleich welcher Herkunft, gleich
besteuert werden müssen, dann dürfen Sie eine Abgeltungsteuer auf Zinserträge in Ihr System nicht einbauen. Das wäre ein Widerspruch zu Ihrem eigenen Argument. Dieser Widerspruch in Ihrer eigenen
Argumentation lässt dann die Diskussion um die DualIncome-Tax zu.
({14})
- Natürlich. Deswegen sage ich: Es geht nicht an, wenn
Herr Solms sagt, alle Einkünfte, egal woher, seien bei
der Einkommensteuer gleich zu behandeln, und er selbst
tut es nicht. Auf mehr habe ich nicht hingewiesen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Solms?
Gern.
Herr Bundesminister, wegen der Kürze der Redezeit
konnte ich auf diesen Punkt nicht eingehen. Wären Sie
bitte bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Abgeltungsteuer nach unserem System für die Masse der Arbeitnehmer nicht zu einer ungerechten Besteuerung
führt? Wir schlagen ja vor, 25 Prozent auf Zinseinkünfte
zu erheben. Nach unserem Tarif erreicht der allein stehende Arbeitnehmer einen Durchschnittssatz von
25 Prozent erst ab einem Jahreseinkommen von etwa
70 000 Euro. Das ist mehr, als die Arbeitnehmer in der
Regel verdienen.
Herr Solms, das finde ich spannend. Halten wir einmal fest: Auf der einen Seite bezahlen diejenigen, die
dem Spitzensteuersatz von 35 Prozent unterliegen, an
der Stelle weniger. Auf der anderen Seite müssen diejenigen, die einem niedrigeren Steuersatz als den 25 Prozent unterliegen und keine Veranlagungsoption machen,
mehr auf ihre Zinserträge zahlen. Das ist der Sachverhalt. Das heißt doch aber nichts anderes, als dass Sie an
dieser Stelle im Widerspruch zu Ihrem eigenen Grundsatz stehen, nämlich dass alle Einkommen gleich zu besteuern sind. Eben das tun Sie nicht. Auf mehr wollte ich
jetzt gar nicht hinweisen.
({0})
Aber, verehrter Herr Kollege Solms, jetzt komme ich
zu der Verteilungswirkung. Das ist schon ein Problem.
Damit Sie das Ziel erreichen können, dass alle entlastet
werden, müssten Sie akzeptieren - Sie haben hier eingeräumt, dass Sie das tun -, dass ein großes Loch auf der
Einnahmeseite entsteht.
({1})
- 20 Milliarden Euro ist 1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Ich finde, das ist in der Tat ein sehr großes Loch. Das würde übrigens dazu führen, dass wir
das 3-Prozent-Kriterium weiterhin nicht erfüllen könnten. Das kann angesichts unserer Verpflichtungen auf
europäischer Ebene so nun wirklich nicht gehen.
Sehr verehrter Herr Solms, wie würde eigentlich die
Verteilungswirkung aussehen? Die Wirkung wäre, dass
bei den unteren Einkommen eine Steuererhöhung stattfinden würde. Ich habe Beispiele ausrechnen lassen.
Nehmen wir zum Beispiel einen allein stehenden Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro,
der zum Arbeitsort eine Entfernung von 20 Kilometern
zurücklegen muss. Für ihn fällt die Entfernungspauschale nun weg, sodass er 44 Euro mehr bezahlen muss.
Sie sagen, das sei nicht viel. Richtig. Aber die Entlastung eines Ledigen mit einem Jahreseinkommen von
100 000 Euro beträgt dagegen 5 700 Euro bzw. 17 Prozent. Die Entlastung steigt bei den höheren Einkommen
prozentual an und verharrt ab einem bestimmten Betrag.
Noch ein Wort am Rande zum Wegfall der Entfernungspauschale. Man sollte noch einmal darüber nachdenken, ob ein Wegfall nicht ein verfassungsrechtliches
Risiko birgt. Ich sehe es eher wie die CSU. Ich glaube,
dass das verfassungsrechtlich nicht geht. Man kann die
Entfernungspauschale der Höhe nach einschränken - das
haben wir vorgeschlagen -, kann sie aber wahrscheinlich
nicht ganz streichen. Das sei nun aber dahingestellt.
Zu der Verteilungswirkung haben wir also eine ganz
unterschiedliche politische Position. Nach Ihren Vorstellungen gilt: Je höher das Einkommen, desto höher ist
nicht nur die tatsächliche Entlastung - das ergibt sich aus
einer progressiven Einkommensteuer -, sondern desto
höher ist auch die prozentuale Entlastung. Eine solche
Steuerpolitik möchte ich nicht machen. Eher würde ich
es umgekehrt machen, sehr geehrter Herr Solms.
({2})
Sie sprechen dauernd von einem Eingangssteuersatz
von 15 Prozent. Diesen haben wir im Gesetz vorgesehen; er gilt ab dem nächsten Jahr.
({3})
Sie hätten gerne einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent.
Wir sehen ab nächstem Jahr einen Spitzensteuersatz von
42 Prozent vor. Mit anderen Worten: Bei einem Aufbau
eines Steuertarifs nach Ihren Vorstellungen würde im Ergebnis bei den unteren Einkommen auf längere Frist
keine Entlastung erfolgen. Im Gegenteil: Durch den Abbau aller Vergünstigungen würde es eher zu einer Belastung führen. Aber je höher das Einkommen wäre, desto
höher wäre die Entlastung. Sehr verehrter Herr Solms,
ein solcher Tarif ist nicht nach unserer Vorstellung.
({4})
Sie haben hier im Hause auch schon ganz anders argumentiert. Ich bin nicht der Meinung, dass eine Absenkung des Spitzensteuersatzes auch dann noch Priorität
hat, wenn er 42 Prozent beträgt; sie ergibt sich auch
nicht aus einem internationalen Vergleich.
Ich frage Sie allen Ernstes: Sind Sie wirklich der Meinung, dass schon Einkommen ab 40 000 Euro - das ist der
Jahresverdienst eines gut verdienenden Facharbeiters mit dem Spitzensteuersatz besteuert werden sollen? Oder
sollten wir nicht eher, wenn wir Geld hätten, an eine Verschiebung denken und den Spitzensteuersatz lieber etwas
höher ansetzen und ihn dafür wesentlich später beginnen
lassen? Eine solche Steuergesetzgebung wäre viel leistungsfördernder als die, die Sie vorsehen. Bei dieser wird
nämlich schon dem Facharbeiter bescheinigt, er sei mit
seinem letzten Euro bereits in der Spitzengruppe. Alle
Personen mit höheren Gehältern zahlen, bis hin zu Herrn
Esser, das Gleiche. Herr Solms, das halte ich nicht für gerecht, um das in aller Klarheit zu sagen.
({5})
Bei unserem Modell gilt der Spitzensteuersatz nicht
schon bei 40 000 Euro, sondern erst wesentlich später.
Ab nächstem Jahr gelten die 42 Prozent erst ab etwas
über 52 000 Euro. So viel zur Verteilungswirkung.
Ich komme nun auf Ihren Stufentarif zu sprechen.
Ich spreche, so wie Herr Faltlhauser, von einem Stufengag. Jedermann kann das heute auf seinem Laptop oder
seinem PC ausrechnen. Das lernen heute schon die Kinder in der Grundschule.
({6})
Herr Solms, auch Sie wissen doch, dass es um einen rein
optischen Trick geht. Keiner kann die höheren Belastungen, die mit dem Stufentarif, im Gegensatz zum linearprogressiven Tarif, in bestimmten Bereichen verbunden
sind, schnell beziffern. Gleichzeitig können die öffentlichen Haushalte die Einnahmeausfälle, die sich alleine
aus dem Stufentarif ergeben, nicht verkraften. Für ein
solches Modell werden Sie keinen Finanzminister und
keine Freunde in Ihren eigenen Reihen finden.
({7})
Ich komme zur Finanzierung. Sie können nichts anderes - das machen Sie, damit Ihr Konzept ein bisschen attraktiver wird; das verstehe ich -, als den Menschen
Steuersenkungen zu versprechen. Das, was Sie mit Ihrer
Verteilungswirkung bewirken, können Sie nur dadurch
abfedern, dass Sie einen riesigen Einnahmeausfall hinnehmen. Das geht angesichts der gegenwärtigen Situation nicht. Die Steuerquote in Deutschland ist die niedrigste der Mitgliedsländer der Europäischen Union und
sogar der Beitrittsländer. Zurzeit sind der slowakische
Ministerpräsident und der slowakische Finanzminister
hier im Lande. Angesichts dessen wurde in den Nachrichten diskutiert, wie dort das Steuersystem aussieht.
Wir haben ein anderes System. Darüber will ich nicht
reden. Die Slowakei ist das einzige Land, dessen Steuerquote minimal unter unserer liegt. Die Flatrate liegt dort
bei 19 Prozent. Während wir eine Steuerquote von
20,5 Prozent haben, hat sie 19,2 Prozent. Das muss man
sich einmal vor Augen führen: In allen anderen Ländern
nebenan, zum Beispiel in Tschechien, liegt sie darüber.
Das gilt auch für die kombinierte Steuer- und Abgabenquote.
Ich halte also fest: Die niedrigste Steuerquote in der
Europäischen Union hat Deutschland. Mit anderen Worten: Auch beim internationalen Vergleich stellt man fest,
dass weitere Ausfälle bei den Steuereinnahmen zurzeit
nicht unser Thema sein können. Wer das Thema ernsthaft angehen will, der muss weiterschauen und die
Steuer- und Abgabenquote betrachten. Herr Solms,
Ihre Aussage, nach der wir mit dieser ganz oben liegen,
war übrigens falsch. Im europäischen Vergleich liegen
wir hier sogar unterhalb der Mitte. Belgien, Dänemark,
Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Norwegen,
Österreich, Schweden und Tschechien haben beispielsweise eine höhere Steuer- und Abgabenquote als wir.
Hieran liegt es also auch nicht.
Man muss über die Lösung der Probleme in der
Struktur nachdenken. Ich warne aber davor, zu schnell
von der Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme, also dieser Art der Senkung der Lohnnebenkosten
zu reden, weil wir dadurch zu schnell über die notwendigen Reformmaßnahmen in den Systemen hinweggehen
würden. Ich glaube aber, es ist völlig unvermeidlich,
dass sich auch diese Frage stellen wird.
Reden wir über unsere europäischen Verpflichtungen.
Wir haben uns im Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichtet
({8})
- sehr richtig -, zu einem ausgeglichenen Haushalt zu
kommen. Das ist noch nicht einmal die aktuelle Frage.
Das heißt, bis wir das erreicht haben, müssen wir jedes
Jahr 0,5 Prozent des strukturellen Defizits zurückfahren.
Das sind 10 Milliarden Euro für den Gesamtstaat. Bedenken Sie, dass das bis weit über das Jahr 2007 hinausgeht! Hinzu kommen dann noch die Kosten für die Erweiterung der Europäischen Union. Ich bin übrigens für
die Unterstützung dankbar, die ich in dieser Frage für die
Position der Bundesregierung gestern im Europaausschuss erhalten habe.
Somit könnten wir das durch Ihre Steuerreform entstehende Einnahmeloch - 20 Milliarden Euro pro Jahr in den nächsten Jahren finanziell überhaupt nicht verkraften. Dies wäre auch mit keiner europäischen Verpflichtung vereinbar.
({9})
Damit komme ich zur Frage, wo die Prioritäten der
Finanzpolitik liegen. Diese liegen nicht bei der Steuerquote, sondern sie liegen bei der Steuerstruktur. Wir wollen Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung vorlegen.
Diese müssen und werden umfangreicher sein als Ihre.
Wir müssen nicht nur den Weg zu einem ausgeglichenen
Haushalt, sondern auch zu einem Überschusshaushalt
gehen, damit der Haushalt auch über den Konjunkturzyklus ausgeglichen ist. Das würden wir mit Ihren Vorschlägen lange nicht erreichen. Wir müssen auch Geld
für das haben, was wir in Europa die Qualität des Budgets und in Deutschland die Zukunftsaufgaben nennen.
In der Tat müssen die Ausgaben für Bildung, Forschung,
Entwicklung, Kinderbetreuung und Innovation gesteigert werden. Auch darauf kommt es an. Auch das ist eine
Aufgabe der Finanzpolitik. Ohne das werden wir die Zukunft nicht gewinnen.
({10})
Deswegen sagen wir Ja zu einer Debatte, die zu einem
vereinfachten Steuerrecht führt, und Nein zu einer Debatte, die zu weiteren Einnahmeausfällen und sozialen
Ungerechtigkeiten führt. Das sage ich für die Regierungskoalition ganz ausdrücklich.
({11})
Das wäre nämlich das Ergebnis Ihres Konzeptes. Vereinfachung ist ein wichtiges Element.
Was haben wir in diesem Jahr zu tun? Unsere Steuerreform liegt in Gesetzesform vor. Die nächste Stufe
kommt. Sie hätte schon zum 1. Januar dieses Jahres
kommen können, wenn Sie sowohl bei der Steuersenkung als auch beim Subventionsabbau ein bisschen mutiger gewesen wären.
({12})
Die Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes steht
auf der Steueragenda für dieses Jahr. Ich hoffe, dies wird
durch uns gemeinsam geschehen.
Auch die Kapitalertragsbesteuerung und die europäische Zinsrichtlinie sind Themen dieses Jahres. Gemeinsam mit den Ländern haben wir darüber hinaus Gott sei
Dank mit dem Abbau von Vorschriften begonnen.
Auch das Außensteuerrecht ist ein zentrales Thema.
Es ist zwar nicht sehr publikumswirksam, in diesem Jahr
aber sehr wichtig.
Schließlich nenne ich die Vereinfachung der Steuererklärung sowohl für die Arbeitnehmer als auch für alle
anderen.
An diesen Dingen ist zu arbeiten. Da werden wir auch
vorankommen. Das wird sich zeigen.
Sehr verehrter Herr Solms, ich bedanke mich für eine
unpolemische und sachliche Debatte. Ich würde mich
freuen, wenn wir bei der Vereinfachung vorankommen
würden. Aber bitte, wir haben unsere Kriterien genannt:
keine weiteren Einnahmeausfälle und die Beachtung der
sozialen Gerechtigkeit. Dann müssen wir aber auch den
Mut haben, den Menschen deutlich zu machen, was das
heißt. Es geht nicht an, die Regierung immer vorangehen
zu lassen, sie dann jedes Mal zu verleumden und am
Ende zu sagen: Wir wollen alles einfacher gestalten.
Auch Sie müssen den Mut aufbringen, Ross und Reiter
zu nennen.
({13})
Das erwarte ich insbesondere von Herrn Merz. Auf einer
solchen Basis lässt sich eine vernünftige Diskussion führen.
Ich bedanke mich sehr herzlich dafür, dass Sie mir so
lang und geduldig zugehört haben.
({14})
Das Wort hat der Kollege Michael Meister, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist erfreulich: Niemand in der Debatte bestreitet, dass das deutsche Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss. Dieses Ziel wird glücklicherweise
von niemandem mehr in diesem Hause infrage gestellt.
Bürger und Unternehmen beklagen zu Recht die zahlreichen Ausnahmeregelungen und die hohen Steuersätze
im deutschen Steuerrecht sowie die Hektik und den Aktionismus, den wir in der Steuergesetzgebung gegenwärtig verspüren. Es werden Eingriffe in bereits bestehende
Lebenssachverhalte vorgenommen, so genannte Rückwirkungen. Lieber Herr Bundesfinanzminister Eichel,
die von mir beschriebenen Probleme haben massive negative ökonomische Auswirkungen auf unser Land.
Dies müssen wir in der Debatte zur Kenntnis nehmen.
({0})
Nicht nur die Bürger verstehen nicht mehr, wie unser
Steuerrecht aufgebaut ist, auch die Finanzverwaltungen
haben ein riesiges Problem, die Steuergesetze anzuwenden. Nehmen wir einmal das Thema Zinsen bzw. Kapitalertragsbesteuerung. Dort besteht dringender Handlungsbedarf, den auch das Verfassungsgericht anmahnt.
Nehmen wir das Thema Spekulationsgewinne. Auch
dort wird deutlich, dass nicht nach Recht und Gesetz besteuert wird und daher Handlungsbedarf gegeben ist. Die
Finanzverwaltung ist nicht in der Lage, die heutige Gesetzgebung umzusetzen. Ich will einen dritten Bereich
ansprechen. Ich glaube, auch die Gerichtsbarkeit leidet
unter dem, was heute in Gesetzen steht. So nimmt die
Anzahl der Klagen gegen Steuergesetze permanent zu,
und zwar sowohl in der deutschen Gerichtsbarkeit als
auch auf europäischer Ebene.
Wenn wir darin übereinstimmen, dass das deutsche
Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss, dann
muss eine grundlegende Steuerstrukturreform vorgelegt werden. Darüber sind wir uns einig, daher würde ich
mich sehr freuen, wenn die Bundesregierung - hier in
Person des Bundesfinanzministers - einen Gesetzentwurf zur tatsächlichen Vereinfachung, besseren Transparenz und Vertrauensbildung im deutschen Steuerrecht
vorlegen würde. Willensbekundungen reichen hier nicht,
Herr Bundesfinanzminister.
({1})
In dieser Diskussion steht für uns - damit komme ich
zum Punkt Finanzierung - nicht das Thema Entlastung
im Vordergrund, sondern für uns sind Transparenz, Einfachheit und Vertrauensbildung in der Steuergesetzgebung maßgebend. Es ist vollkommen richtig - darin
stimme ich Ihnen zu -: Diese müssen wir in eine vernünftige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und Sozialgesetzgebung einbetten, weil wir nur mit einer entsprechenden Finanzpolitik zu dem notwendigen Schub
in der Wirtschaft beitragen und unsere Ziele vernünftig
umsetzen können. Lieber Herr Bundesfinanzminister,
wenn Sie den Handlungsbedarf für eine Strukturreform
erkennen, dann frage ich: Warum handeln Sie nicht? Wo
bleibt der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung zur
Vereinfachung des deutschen Steuerrechts?
({2})
Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie
in den vergangenen Jahren an dieser Stelle relativ viel
Aktivismus entwickelt haben.
({3})
Sie haben allein im letzten Jahr sieben Steuergesetze
vorgelegt, die wir im Deutschen Bundestag beraten haben. Aber Ihre Leitlinie bei der Steuergesetzgebung war
leider nicht Vereinfachung, sondern das Stopfen von
Haushaltslöchern. Darauf haben Sie bisher Ihre Steuerpolitik ausgerichtet.
({4})
Jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen
Steuervergünstigungsabbaugesetz, das für die Menschen
in Deutschland eine Mehrbelastung in Höhe von 17 Milliarden Euro bedeutet hätte. Der entscheidende Unterschied ist: Wir wollen - darin sind wir uns in der Opposition einig -, dass das Steuermehraufkommen durch die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage den Menschen
über eine Tarifentlastung zurückgegeben wird. Ihre Politik jedoch ist es, die Bemessungsgrundlage zu erweitern,
damit Steuern zu erhöhen, den Tarif aber nicht zu senken.
Die Opposition will eine Steuerstrukturreform mit einer
breiten Bemessungsgrundlage und niedrigen Tarifen. Sie
hingegen reden ständig darüber, die Bemessungsgrundlage zu erweitern und den Tarif nicht abzusenken. Das
aber gehört für uns zusammen.
({5})
Sie haben das Haushaltsbegleitgesetz 2004 angesprochen. Auch dort - das muss ich Ihnen sagen - haben
Sie diesen Grundsatz nicht eingehalten. Sie haben wieder geplant, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern,
und haben dies den Menschen als Steuerentlastung verkauft. Sie haben angekündigt, in Deutschland würden
Steuern gesenkt, aber ab dem 1. Januar 2005 werden die
Auswirkungen Ihrer Gesetze zu massiven Steuermehrbelastungen führen. Wir müssen, wenn wir um Vertrauen
werben, endlich aufhören, auf die Pakete, die wir schicken, die falschen Etiketten zu kleben.
({6})
Wir müssen ehrlich sein. Das, was wir ankündigen, müssen wir auch tun. Wir dürfen nicht das Gegenteil von
dem einpacken, was auf der Liste steht.
({7})
Ich glaube, wir waren im Jahr 1997 in der Steuerdebatte in Deutschland, was die Vereinfachung und Transparenz betrifft, bedeutend weiter, als wir es heute sind.
Wir hatten nämlich hier im Deutschen Bundestag bereits
die so genannten Petersberger Steuervorschläge beschlossen. Es gab einen Beschluss des Deutschen Bundestages zur Steuervereinfachung mit einer breiten Bemessungsgrundlage, wenigen Ausnahmen und niedrigen
Steuersätzen. Warum ist er nicht Realität in Deutschland
geworden, sondern ein Beschluss des Bundestages geblieben? - Weil Sie von der SPD mit Ihrem Vorsitzenden
Oskar Lafontaine damals im Bundesrat aus machttaktischen Gründen
({8})
ein einfaches, transparentes Steuersystem in Deutschland blockiert haben. Das ist die Ursache, warum wir damals nicht weitergekommen sind.
({9})
Wenn man die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, dann muss man feststellen, dass Ihr Bundeskanzler im vergangenen Jahr angekündigt hat, er wolle im
Bereich der von mir vorhin angesprochenen Kapitalertragsbesteuerung eine Steueramnestie einführen und er
wolle eine Neuregelung über die Abgeltungsteuer bei
den Kapitaleinkünften. Was haben Sie gemacht? - Sie
haben Vorschläge zur Steueramnestie vorgelegt. Die haben wir im Dezember beschlossen. Sie haben bis heute
aber keine Regelung zur Kapitalertragsbesteuerung vorgelegt. Warum haben Sie keine Regelung vorgelegt? Weil die Fraktion der SPD sie blockiert. Diese Fraktion
will nicht, dass Kapital günstiger als Arbeit besteuert
wird. Deshalb sind Sie nicht handlungsfähig. Sie sind
gelähmt. Sie haben nicht die Rückendeckung Ihrer eigenen Fraktion und Koalition. Deshalb bleibt es bei Ankündigungen und es kommt nicht zu tatsächlichen Vereinfachungen des Steuerrechts und der Lösung der
Probleme.
({10})
- Liebe Frau Scheel, die Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung erwarten wir mit großer Spannung. Wir
warten auch vor dem Hintergrund der Amnestie darauf,
was Sie zur Erbschaftsteuer sagen. Frau Simonis hat
heute Morgen im Frühstücksfernsehen gesagt, die Erbschaftsteuer müsse dringend erhöht werden.
({11})
Wir sind auch gespannt, was Sie zur Vermögensteuer sagen. Sie glauben doch nicht, dass jemand von der Amnestie Gebrauch machen wird, wenn Sie die Erhöhung
der Erbschaftsteuer, die Wiederbelebung der Vermögensteuer und eine offene Kapitalertragsteuer in den Raum
stellen.
Das, was Sie in den vergangenen fünf Jahren in der
Steuerpolitik geleistet haben, ist ein Rückschritt. Sie sind
weit hinter die Petersberger Beschlüsse von 1997 zurückgefallen. Deshalb sind wir von der Union der Meinung, dass wir uns in der Steuerpolitik wieder in die
richtige Richtung bewegen müssen. Dies bedeutet einheitliche Grundfreibeträge für alle Menschen in
Deutschland, gleich welchen Alters. Ein Freibetrag von
8 000 Euro soll auch für Kinder gelten. Wir sind der
Meinung, dass, wenn wir zu dem Stufentarif von
Friedrich Merz übergehen, jeder auf seinem Bierdeckel
seine Steuerlast ausrechnen kann.
Gehen Sie einmal von einer vierköpfigen Familie aus,
die aus den Eltern und zwei Kindern besteht und die ein
Jahreseinkommen in Höhe von 40 000 Euro hat, wobei
nur ein Erwerbstätiger in der Familie ist. Dann können
Sie relativ leicht mit dem Stufentarif die Steuerlast berechnen. 8 Prozent auf 7 000 Euro sind dann steuerpflichtig, wenn man die Freibeträge und den Grundfreibetrag vom Einkommen abzieht. Die Steuerlast beträgt
dann 840 Euro.
({12})
- Ich habe eben 12 Prozent ausgerechnet, Herr Binding.
Sie sind Mathematiker, Sie können das schnell nachvollziehen. Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.
Das ist eine riesige Leistung, auch in der Familienpolitik. Unser Ansatz des Ehegattensplittings, die
Grundfreibeträge und der Stufentarif sind ein riesiges
Plus für Familien in Deutschland. Sie reden darüber, wir
wollen es tun. Wir machen Steuerpolitik für Familien in
diesem Land.
({13})
Nun behaupten Sie, wir hätten ein Problem mit den
Ausnahmetatbeständen, die wir beseitigen wollen.
({14})
Wir diskutieren über die Pendlerpauschale. Die haben
Sie schon angesprochen. Wir wollen die Ausnahmetatbestände lückenlos streichen, weil wir sonst das Ziel
eines einfachen Steuerrechts in Deutschland nicht erreichen werden. Wir sind aber auch der Meinung, dass man
Aufwendungen anerkennen muss. Deshalb sollten Sie
einmal einen Blick in unser Konzept werfen. Dort ist ein
Arbeitnehmerpauschalbetrag von 1 000 Euro vorgesehen, der diese Aufwendungen pauschaliert erfasst und
anzuerkennen versucht. Wir können darüber diskutieren,
ob die Höhe richtig gewählt ist, aber die Anerkennung
der Aufwendungen ist der richtige Ansatz.
({15})
Wenn wir tatsächlich die Basis eines völlig reformierten Einkommensteuerrechts mit niedrigen Steuersätzen
und einer breiten Bemessungsgrundlage geschaffen haben - um diese Frage geht es schließlich -, dann können
wir darauf aufbauend eine vernünftige Gemeindefinanzreform angehen.
({16})
- Das müssen Sie beantworten, Herr Spiller. Sie sind
doch mit der Gemeindefinanzreform gescheitert. Es war
doch Ihre Vorlage, deren Umsetzung Sie nicht zustande
gebracht haben. Nicht die Opposition, sondern Sie sind
in der Verantwortung.
({17})
Wir sind der Meinung, dass wir den Umdenkungsprozess, der am 19. Dezember eingesetzt hat, nutzen müssen, um die Kommunen in Deutschland an einem Prozess der Verstetigung ihrer Einnahmen zu beteiligen,
indem wir ein Drei-Säulen-Modell schaffen und eine seriöse Beteiligung der Kommunen an der Einkommen-,
Körperschaft- und Umsatzsteuer und damit an der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land ermöglichen.
Dies wollen wir gemeinsam mit den Kommunen erreichen.
Wenn wir hier nicht nur Sonntagsreden halten wollen,
Herr Poß, dann müssen wir endlich dem Rückschritt in
der Steuerpolitik, den Sie in den vergangenen fünf Jahren bewirkt haben, ein Ende bereiten.
({18})
Wir brauchen an dieser Stelle einen Politikwechsel.
({19})
Das Steuerrecht darf nicht mehr der Fiskalpolitik unterliegen; es muss vielmehr dem Prinzip „niedriger, einfacher und gerechter“ folgen.
Das Einkommensteuerrecht muss zudem - darin bin
ich mit Herrn Solms einig - komplett neu verfasst werden. Ein Herumdoktern an dem bestehenden Recht wird
uns nicht weiterhelfen. Notwendig ist der Entwurf eines
neuen Einkommensteuerrechts.
({20})
Meine Damen und Herren, Sie können davon ausgehen, dass sich die Union mit einer eigenen parlamentarischen Initiative an dieser Debatte beteiligen wird.
({21})
Wir sagen Ihnen zu, Herr Solms, diesen Diskussionsprozess konstruktiv zu begleiten. Wir sind bereit, mit Ihnen
in den Gremien über ein einfacheres, gerechteres und
transparenteres Steuerrecht zu diskutieren.
({22})
Ich will allerdings auf einige Untiefen hinweisen. Ich
glaube, es ist richtig, dass Sie in § 1 Ihres Gesetzentwurfs und damit an vorderster Stelle das Prinzip der
Leistungsfähigkeit verankert haben. Es bedarf allerdings einer Erklärung, warum ein angestellter und ein
selbstständig tätiger Handwerker unterschiedlich behandelt werden sollen. Der eine kann seine Aufwendungen
in vollem Umfang absetzen; der andere kann dies nicht.
Wenn wir uns zu dem Prinzip der Leistungsfähigkeit bekennen - Sie bekennen sich in Ihrem Gesetzentwurf
dazu und auch wir sind dafür -, dann sollten wir dieses
Prinzip auch konsequent umsetzen.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Sie haben das Thema Kapitalerträge und Dual Income
Tax angesprochen. Ich glaube, wenn wir ehrlich sind,
muss auch an dieser Stelle das Prinzip der Leistungsfähigkeit eingehalten werden.
({23})
Danach sind alle Markteinkommen steuerlich gleich zu
behandeln. Was die Realisierung dieses Prinzips angeht,
besteht, glaube ich, noch Diskussionsbedarf.
Ein weiterer Punkt ist die Gewinnermittlung bei Unternehmen. In der Frage, wie man an die Gewinnermittlung herangeht, gibt es unterschiedliche Einschätzungen.
Die FDP befürwortet ein Modell, das die Wahl zwischen
Handelsbilanz und internationalen Rechnungsstandards
zulässt. Ich glaube, bei der Gewinnermittlungsmethode
ist auch zu berücksichtigen, was diese Standards bedeuten. Sie verfolgen nämlich unterschiedliche Ziele, und
zwar zum einen eine Zahlungsbemessungsfunktion und
zum anderen eine Informationsfunktion. Ob wir klug beraten sind, eine optionale Regelung als steuerrechtliche
Basis zu schaffen, steht für mich infrage. Ich verweise in
diesem Zusammenhang auf das Gutachten von Herrn
Professor Herzig, in dem er deutlich gemacht hat, dass
die Anwendung von IAS, das heißt von internationalen
Rechnungslegungsgrundsätzen, in Bezug auf das Steuerrecht durchaus verfassungsrechtliche Implikationen aufweisen kann. Insofern ist es fraglich, ob wir mit einer
solchen Regelung gut beraten sind.
({24})
Ich möchte abschließend festhalten, dass trotz der bestehenden Untiefen, über die wir sicherlich im parlamentarischen Verfahren im Finanzausschuss diskutieren können, der Grundsatz, die Bemessungsgrundlage zu
verbreitern und gleichzeitig die Steuersätze zu senken,
richtig ist. Wir setzen uns gemeinsam mit der FDP für
diesen Grundsatz ein. Ich halte es für dringend notwendig, dass der riesige Apparat, den Sie mit dem Finanzministerium und seinen mehreren tausend Mitarbeitern zur
Verfügung haben, lieber Herr Spiller, in diesem Zusammenhang Vorleistungen bringt.
({25})
Darauf warten wir.
Wir kommen in Kürze - am 1. Mai - in eine Situation, in der wir einer riesigen Konkurrenz ausgesetzt sein
werden. Ich frage mich, ob Ihnen dann nicht das Lächeln
relativ schnell vergehen wird, wenn plötzlich die Steuerbasis auf legale Weise erodiert, und ob es reicht, wenn
der Herr Bundeskanzler von unpatriotischem Verhalten
spricht, oder ob wir nicht unsere Verantwortung als Gesetzgeber wahrnehmen sollten. Ich bin der Meinung, wir
sollten nicht nur Sonntagsreden halten, sondern unsere
Verantwortung wahrnehmen.
Vielen Dank.
({26})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Dr. Meister, wenn man das Wort „Wahrheit“ so oft in
den Mund nimmt, wie Sie das gerade getan haben, dann
kann ich nur bitten: Bleiben Sie auch bei der Wahrheit!
({0})
Zwischen dem, was Sie im Hinblick auf den Subventionsabbau gesagt haben, und dem, was Sie im Dezember letzten Jahres im Vermittlungsverfahren getan haben,
liegen jedenfalls Welten. Jedes Mal, wenn es konkret geworden ist, hat die Union nicht Subventionsabbau betrieben, sondern begründet, warum einzelne Subventionen
beibehalten werden müssten. Das ist die Wahrheit.
({1})
Sie haben gesagt, dass wir das, was wir ankündigten,
auch umsetzen müssten. In diesem Zusammenhang kann
ich nur darauf hinweisen, dass Sie im letzten Jahr ebenfalls angekündigt haben, das Steuerrecht zu vereinfachen
und Subventionen abzubauen. Wenn man Subventionen
abbaut, dann führt das zumindest teilweise auch zu Vereinfachungen im Steuerrecht. Aber genau das haben Sie
im Vermittlungsverfahren nicht mitgetragen, weil Sie
wussten, dass Sie noch Spielraum für Ihren eigenen Gesetzentwurf benötigen werden. Es ging Ihnen also nicht
um das Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie um
wirkliche Vereinfachungen, sondern nur um parteipolitisches Kalkül. Das ist der andere Teil der Wahrheit.
({2})
Herr Dr. Solms, wenn Sie den 200. Todestag von Immanuel Kant ansprechen und hier die Freiheit beschwören - das tun Sie immer sehr gerne; die Begriffe „Wettbewerb“ und „Freiheit“ haben Sie bislang in jeder Rede
verwendet, die ich kenne -, dann frage ich Sie, wie sich
die FDP verhält, wenn es konkret wird. Was geschieht
denn, wenn Vorschläge auf den Tisch kommen? Was haben Sie gemacht, als wir den Apotheken den Internethandel ermöglichen wollten? Was ist los gewesen, als
wir die Handwerksordnung ändern wollten? Wie ist es
denn um Ihre Liberalität bestellt, wenn es um eine Öffnung im Bereich der Rechtsberatung geht, die bislang
den Anwälten vorbehalten ist? - Jedes Mal, wenn es
konkret wird, betreiben Sie Klientelpolitik.
({3})
Ich finde es gut - das sage ich ganz offen -, dass Sie
einen Steuergesetzentwurf vorgelegt haben. Wir werden
uns mit Ihrem Gesetzentwurf im weiteren parlamentarischen Verfahren auseinander setzen und sehen, welche
Fragen noch offen sind und wo gemeinsame Möglichkeiten liegen. Mich überrascht aber, dass Sie ein neues
Modell verfechten, das - davon haben Sie immer gesprochen - zu einem radikalen Subventionsabbau führen
soll, obwohl Sie im letzten Jahr Anträge auf Erhalt der
Eigenheimzulage und auf Anhebung der Subventionen
für Schifffahrtsbetriebe eingebracht haben. Das passt
wirklich nicht zusammen, Herr Dr. Solms. Sie sollten
einmal darüber nachdenken, ob Sie nicht ein beträchtliches Glaubwürdigkeitsproblem haben. Ich glaube,
dass Sie eines haben.
({4})
Interessant ist auch, dass in den Bundesländern, in denen die FDP mitregiert - ich denke an Rheinland-Pfalz,
Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt -, die Subventionen permanent angehoben worden sind. Ausgerechnet
Herr Brüderle, der Obersubventionsabbauer, war derjenige, der in Rheinland-Pfalz dafür gesorgt hat, dass die
Förderung des Weinbaus an Steillagen von 1 500 DM
auf 5 000 DM angehoben worden ist. Jedes Mal, wenn
es konkret wird, wollen Sie Subventionen eher anheben
als abbauen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, dem Sie
sich stellen müssen.
({5})
Sie verstricken sich permanent in Widersprüche. Das
werden wir auch aufdecken, Herr Dr. Solms.
({6})
- Wer hat denn die Verträge abgeschlossen? Das war
doch Ihre Regierung, nicht wir. Wer hat denn damals die
Stahlindustrie gefördert? Sie waren doch 29 Jahre an der
Regierung beteiligt. Sie haben doch alle Verträge abgeschlossen und Subventionen auf breiter Basis aufgebaut,
die wir jetzt mühsam versuchen abzubauen.
({7})
Wir leiden heute darunter, dass Sie jahrelang dafür gesorgt haben, dass alles nach oben geswitcht ist. Dass es
um die Staatsfinanzen heute so schlecht bestellt ist, ist
leider auch Ihr Verdienst.
Zu Ihrem Gesetzentwurf: Ich möchte gerne wissen,
wie Sie sich vorstellen, wie wir die zu erwartenden Steuerausfälle, die in der Endstufe 15 Milliarden bis 20 Milliarden Euro ausmachen werden, gegenfinanzieren sollen. Sie wissen ganz genau, dass die Steuerausfälle in
der Übergangsphase noch wesentlich höher sein würden.
Auf der einen Seite fordern Sie hier immer mehr Geld
für Bildung, mehr Geld für Forschung und die Einhaltung der Maastricht-Kriterien und auf der anderen Seite
wollen Sie Steuerausfälle produzieren. Das hat mit dem,
was Sie ansonsten fordern, überhaupt nichts mehr zu tun.
Sie suggerieren den Leuten nur: Vereinfachung. Es fällt
aber doch kein Manna vom Himmel! Woher soll es kommen? Sie müssen doch Finanzierungswege aufzeigen!
„Maastricht“ ist für Sie anscheinend ein Fremdwort. Sie
stellen sich nicht dem, was notwendig ist. Sie entziehen
sich völlig der Notwendigkeit der Gegenfinanzierung
und glauben, dass die Leute darauf hereinfallen. Die
Leute sind doch nicht blöd. Sie wissen doch ganz genau,
dass es nichts mehr zu verschenken und zu verteilen
gibt, sondern dass wir versuchen müssen, eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik hinzubekommen.
({8})
Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und die
Ausfälle, die den Kommunen entstehen - den Kommunen fehlen ja dann Einnahmen in Höhe von rund 20 Milliarden Euro -, über einen höheren Umsatzsteueranteil der
Kommunen und über eine Beteiligung der Kommunen am
Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer
kompensieren. Damit schneiden Sie nur ein Stück aus
dem gesamten Steuerkuchen heraus und verteilen das
woandershin, sagen aber nicht, wie die Länder und der
Bund mit dem Einnahmeausfall in Höhe von 20 Milliarden Euro klarkommen sollen.
({9})
Sie schichten einfach nur um. Das ist, finde ich, nicht in
Ordnung. Das kann man so nicht machen, Herr
Dr. Solms.
({10})
Herr Merz von der CDU ist da wenigstens ehrlich. Er
sagt: Wenn uns irgendwo etwas fehlt, dann machen wir
eine Mehrwertsteuererhöhung.
({11})
Sie ist auch bei Ihnen irgendwo im Hinterkopf. Alle Modelle, die vorgelegt worden sind, ob es nun Ihr Modell ist
oder ob es das Modell von Professor Kirchhof ist, bei
dem in der Übergangsphase auch hohe Steuerausfälle
entstehen, oder ob es der Prosatext von der Union ist
- etwas anderes gibt es bislang ja nicht -, haben ein Problem. Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorlegen, weil sie sich niemals auf einen Text einigen kann.
({12})
Der Punkt ist: Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorlegen, nicht deshalb, weil es nicht möglich
wäre, sondern deshalb, weil sie sich nicht einigen kann.
({13})
Man muss fragen: Was ist denn nun mit der Finanzierung? Ich halte es für völlig falsch, dass Sie in einer Zeit,
in der es - wir haben heute Morgen darüber debattiert mit der Wirtschaft mal wieder ein Stück aufwärts geht,
({14})
in der wir sagen können „Klasse, das Pflänzlein wächst;
wir müssen es betreuen, damit es weiter wächst, was ja
im Interesse aller Beteiligten richtig ist“,
({15})
Vorschläge machen, bei denen Sie Steuererhöhungen im
Hinterkopf haben. Das ist schädlich für die Konjunktur.
Das haben Sie uns immer vorgeworfen. Jetzt machen Sie
solche Vorschläge selbst. Das ist unsolide und für die
Zukunft, wirtschaftspolitisch gesehen, nicht gut. Deswegen werden wir uns mit Ihren Vorschlägen, Herr
Dr. Solms, sehr genau auseinander setzen. Ich bin einmal
gespannt, wie Sie die Fragen beantworten werden, wenn
es konkret wird. Da geht es auch um Unternehmensbesteuerung im weitesten Sinne; der Minister hat es angesprochen.
Uns geht es darum, dass wir die Wirtschaft am Ende
stärken. Wir wollen den Leuten nicht nur mit einer schönen Überschrift suggerieren, dass jetzt irgendwie etwas
ganz Tolles kommt, und am Ende ist der Schaden groß
und das Geflenne geht los. Das wollen wir nicht, sondern
wir wollen eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik machen.
({16})
Wir beteiligen uns an Vereinfachungsvorschlägen! Wir
sind für Vereinfachung immer offen. Das können wir
auch gern gemeinsam machen, aber nicht so, wie Sie das
jetzt vorschlagen, nicht in dieser Form.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es darf keinen Zweifel daran geben, dass eine
Steuerstrukturreform mit Vereinfachungen in Deutschland dringend notwendig ist, damit das Steuerrecht einfacher und gerechter wird, damit Leistung wieder mehr
belohnt wird, damit wieder mehr Investitionen möglich
werden, damit unsere Betriebe wieder wettbewerbsfähiger werden und damit letztlich unsere gesamte Volkswirtschaft wieder zu ihrer alten Stärke zurückfindet. Es
lohnt sich, für die Erfüllung dieser Aufgaben intensiv
und konstruktiv zu arbeiten.
Für mich ist es aber Drückebergerei, wenn sich ein
Finanzminister einem Reformbedarf geradezu verweigert - wir haben es erlebt -, indem er selbst keinen Gesetzentwurf vorlegt.
({0})
Herr Eichel, warum moderieren Sie nur?
({1})
Sie fabulieren über diskussionswürdige und kritikwürdige Elemente. Ein Bundesfinanzminister hat doch - darum geht es - einen Wählerauftrag; deswegen müsste er
in dieser Frage handeln.
Herr Eichel hat mit der Steuerquote argumentiert.
Daraus ersehen wir doch, dass es Handlungsbedarf gibt:
({2})
Ein gerechtes und einfaches Steuersystem muss eine
breite Bemessungsgrundlage haben, damit keine Sondertatbestände entstehen. Zu sagen: „Wir haben eine niedrige Steuerquote; Schluss, aus, Ende!“, das ist doch völlig falsch und widersprüchlich.
Das Steuerrecht umfasst mittlerweile mehr als
100 originäre Steuergesetze. Daneben gibt es eine nicht
bezifferbare Anzahl von Gesetzen, die neben ihrem außersteuerlichen Inhalt steuerliche Vorschriften enthalten.
Hinzu kommen 96 000 Verwaltungsvorschriften und allein 5 000 BMF-Schreiben zur näheren Auslegung dieser Gesetze.
({3})
Das Einkommensteuergesetz umfasst gegenwärtig nicht
weniger als 182 Paragraphen. Es gibt immer wieder neue
Rekorde: Das Altersvermögensgesetz, Stichwort RiesterRente, hat einen Zuwachs von 21 Paragraphen im Einkommensteuerrecht mit sich gebracht. Daran sieht man:
In dieser Form kann es nicht weitergehen; es muss zu einer konstruktiven, neuen Steuerstrukturreform kommen,
und zwar möglichst schnell, weil unsere Betriebe und unsere Arbeitsplätze - letzten Endes wir alle - aufgrund von
Wachstumseinbrüchen, aufgrund einer geringeren volkswirtschaftlichen Dynamik und wegen der fehlenden Reformfähigkeit Schaden erleiden.
Der Kollege Merz von der CDU, Herr Professor
Faltlhauser von der CSU und Professor Kirchhof haben
gut vergleichbare Steuerkonzepte vorgelegt. Mittlerweile hat auch die FDP einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Nur die Bundesregierung, die in dieser
Angelegenheit eigentlich federführend sein sollte, hat
nichts vorgelegt. Dazu kann man nur sagen: Standortverbesserung - Fehlanzeige! Das macht die Reformunfähigkeit von Rot-Grün deutlich. Nach den bisherigen Reden von Herrn Eichel gilt anscheinend wieder das
alte Motto: Umverteilen, bremsen und blockieren. Darin
hat man sich in der Vergangenheit geübt.
({4})
Wenn man nur mit sich selbst beschäftigt ist, kann
man natürlich keine Reformfähigkeit beweisen. Reformunfähigkeit ist genau das, was unser Land nicht braucht.
Nirgendwo wird der Reformwirrwarr der Koalition
sichtbarer als in der Steuerpolitik. Ich möchte einmal einige Beispiele aufzeigen.
Der Bundeskanzler verspricht großspurig mehr Innovationen, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung.
Gleichzeitig will Herr Müntefering aber eine Ausbildungsabgabe, eine Erbschaftsteuererhöhung und die
Wiedereinführung der Vermögensteuer.
({5})
Das passt nicht zusammen. Das ist Wachstums- und Innovationsvernichtung. Herr Poß, vielleicht kommt Ihnen
ein solcher Linksruck entgegen.
Herr Clement kündigt stärkere Förderungen des Wirtschaftsstandortes an. Gleichzeitig will Herr Eichel eine
- leistungshemmende - Substanzbesteuerung in das
Steuerrecht einfügen, zum Beispiel durch die Revitalisierung der Gewerbesteuer. Gott sei Dank haben wir das
verhindert. Das wäre nämlich ein Kahlschlag für den
Wirtschaftsstandort.
({6})
Ich erinnere auch an das - dieser im Vermittlungsverfahren erzielte Kompromiss ist eigentlich eine Zumutung -, was mit der Gesellschafterfremdfinanzierung
passiert ist: Zinsen sind als Kosten der Betriebe nicht
mehr abzugsfähig. Das kostet Arbeitsplätze. Ihre Steuerpolitik, meine Damen und Herren, ist in sich widersprüchlich; das kann in der Zukunft nicht mehr so bleiben, weil wir alle die Zeche dafür bezahlen.
({7})
Ehe Herr Eichel jetzt sofort wieder auf die Verteilungswirkungen abhebt, muss man deutlich machen,
dass eine radikale Steuerreform natürlich letzten Endes
eine Nettoentlastung für alle Bürgerinnen und Bürger
mit sich bringen muss. Wer sofort wieder eine Neidkampagne bezüglich der Lage von Arbeitnehmern und Arbeitgebern anfängt, wird das deutsche Steuerrecht nie
entrümpeln können. Er wird nämlich immer auf der jeweils falschen Seite stehen. Der Grundsatz muss vielmehr lauten: Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft. Hierfür brauchen wir eine Nettoentlastung für alle, die
einfach nur über eine Steuerstrukturreform erreicht werden kann. Immer wieder Neid in der Gesellschaft schüren ist der völlig falsche Weg.
({8})
Es braucht einen entschlossenen Reformkurs. Die Reformunfähigkeit ist der Dieb unserer Zukunft. Wer nur
auf einen Aufschwung von außen wartet, kommt unversehens ins Abseits, insbesondere dann, wenn sich aufgrund der EU-Osterweiterung der Wettbewerb in unserem Land verschärfen wird.
Es ist natürlich ein Unding, wenn der Staat heute von
der Summe aller Bruttoeinkommen, die in Deutschland
verdient werden, bereits mehr als die Hälfte, nämlich genau 57 Prozent, für seine Zwecke absorbiert. Ich hebe
hierbei natürlich auf die Gesamtbelastung ab; es ist nicht
nur die Steuerquote zu betrachten. In Bezug auf die
Gesamtbelastung liegen wir auf dem letzten Platz in
der Europäischen Union.
({9})
Das ist die Wahrheit. Darin liegt letzten Endes auch ein
Grund, warum nicht mehr Arbeitsplätze entstehen.
Lassen Sie mich auf die Steuerreformkonzepte von
CDU/CSU und FDP eingehen. Man könnte jetzt ein echtes Benchmarking bezüglich der Effekte auf Wachstum
und Beschäftigung machen. Ein Wettbewerb um die bessere Reform des Steuerrechtes ist ein Hoffnungsträger
für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zwischen
CDU und CSU wird es im März zu einer Einigung kommen. Dann wird ein klares Konzept vorgelegt werden,
({10})
das viele Gemeinsamkeiten mit dem Gesetzentwurf der
FDP aufweist. Wir werden dann sehen, was die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen dazu sagen werden.
Die zielführenden Gemeinsamkeiten lauten: radikale
Vereinfachung und Senkung der Steuersätze, völlige
Neufassung des Einkommensteuergesetzes, grundsätzliche Orientierung am Prinzip der Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit, lückenlose Erfassung und Besteuerung des Markteinkommens und Erhaltung des Nettoprinzips, Berücksichtigung des Familienstandes, rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung, einheitliche
Besteuerung der Kapitaleinkünfte
({11})
und - was auch wichtig ist - Abschaffung der Gewerbesteuer. Das sind eindeutige Gemeinsamkeiten, die aufzeigen, von welcher Seite verlässliche Reformen für die
Steuerpolitik in Deutschland kommen: CDU/CSU und
FDP. Das muss hier deutlich gesagt werden, meine Damen und Herren.
({12})
Natürlich gibt es auch unterschiedliche Vorstellungen:
So ist ein Kompromiss zwischen Verfechtern des
Stufentarifs und Verfechtern des linear-progressiven
Tarifs nötig. Dass das BMF Schwierigkeiten mit dem
linear-progressiven Tarif hat, wird schon an dessen Internetseite deutlich. Hier steht kein funktionierendes Rechenmodul zur Verfügung, mit dem die Leute ausrechnen könnten, was ihnen letztendlich abgenommen wird.
Vor diesem Hintergrund bietet sich der Stufentarif an,
der wesentlich einfacher und leichter zu kommunizieren
ist. Die CDU/CSU wird in dieser Frage auch Kompromissfähigkeit zeigen. Die Steuerschuld ist dann zwar auf
einem Bierdeckel auszurechnen, aber für die Steuererklärung wird schon eine Seite nötig sein; das hat der
Kollege Solms ja hier auch dargestellt.
Mir ist es noch wichtig darzustellen, dass neben der
Tariffrage auch die Frage der so genannten kalten Progression in der Diskussion eine Rolle spielen muss. Wir
müssen auch über einen „Tarif auf Rädern“ zur Bekämpfung der so genannten kalten Progression diskutieren.
Durch eine regelmäßige Anpassung der Einkommensgrenzen müssen wir letzten Endes der allgemeinen Preisentwicklung Rechnung tragen.
Das gilt auch für das Existenzminimum. Der persönliche Grundfreibetrag von circa 8 000 Euro ist insbesondere vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Vorgaben richtig und notwendig. Zum Ausgleich der so
genannten kalten Progression sollte aber auch der
Grundfreibetrag - ebenso wie alle anderen Freibeträge - in regelmäßigen Abständen der Preisentwicklung angepasst werden. Wir haben das Problem, dass es
Freibeträge gibt, die 20 Jahre oder länger nicht mehr angepasst wurden. Das ist Betrug am Steuerzahler.
({13})
Bei den Freibeträgen, die vor 20 Jahren entstanden sind,
muss berücksichtigt werden, dass sich im Laufe der Zeit
einiges verändert hat. Allein das ist ein Argument für
eine neue Steuerreform.
Auch bei den Einkunftsarten haben wir eine Gemeinsamkeit. Eine Abkehr von der steuerlichen Trennung in sieben Einkunftsarten ist zu begrüßen. Denn die
Unterscheidung zwischen Einkünften aus Gewerbebetrieb, Land- und Forstwirtschaft und freiberuflicher
Tätigkeit ist nur historisch bedingt und führt zu einer unnötigen Verkomplizierung. Hier liegt ein echter Vereinfachungsgewinn.
Ebenso haben wir Gemeinsamkeiten bei der Verlustrechnung, den steuerfreien Einnahmen, den Veräußerungsgewinnen, der Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen und den Kapitaleinkünften. Es ist notwendig,
dass wir den Kommunen durch den Wegfall der Gewerbesteuer und eine Beteiligung an der Körperschaft-, Einkommen- und Umsatzsteuer eine neue Chance eröffnen.
Auch bei der Erbschaftsteuer müssen wir einen Weg finden. Die Erbschaftsteuer gehört mit in ein zielführendes
Reformpaket, weil wir unsere Betriebe erhalten müssen;
wir dürfen sie nicht immer mehr besteuern und dadurch
vernichten.
Darum geht es, meine Damen und Herren. Dagegen
ist alles, was vom Bundesfinanzminister hier gesagt
wurde, nur ein alter Ladenhüter, den unsere Bürger nicht
mehr sehen wollen. Sie können es einfach nicht; deshalb
geben Sie den Wählerauftrag zurück! Deutschland
braucht eine neue Steuerpolitik, damit es aufwärts geht.
({14})
Der Kollege Pinkwart hat sich bei der Rede der Kollegin Scheel zu einer Kurzintervention gemeldet. Ich habe
das übersehen. Herr Kollege Pinkwart, ich gebe Ihnen
jetzt das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Scheel, es ist
eigentlich sehr bedauerlich, dass Sie sich als Vorsitzende
des Finanzausschusses vergleichsweise unsachlich
- wenn ich das als Mitglied des Finanzausschusses so
sagen darf - zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geäußert haben. Sie haben meine Fraktion in drei Punkten
sehr massiv angesprochen und dazu möchte ich hier
Stellung nehmen.
Erstens haben Sie von der Blockade von Steuerreformen gesprochen. Ich möchte Sie noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass Sie es mit Ihren von
Rot-Grün geführten Landesregierungen waren, die unter
Federführung von Herrn Lafontaine 1997 eine der
grundlegenden Steuerreformen verhindert haben,
({0})
die schon jetzt einen Tarif von 15 bis 39 Prozent gebracht hätte. Dafür tragen Sie Mitverantwortung.
({1})
Sie haben das Land Rheinland-Pfalz angesprochen.
Das Land Rheinland-Pfalz war es, das die Steuerreform,
die Sie mit eingebracht haben, dank der FDP im Bundesrat möglich gemacht hat, was zeigt, dass gerade die FDP
jedem vernünftigen Versuch, in Sachen Steuervereinfachung, Steuerklarheit und niedrigere Steuern in Deutschland weiterzukommen, den Weg ebnet, egal von welcher
Fraktion, von welcher Partei Vorschläge kommen. Wichtig ist, dass das Ziel stimmt.
Die FDP hat - das möchte ich hier ausdrücklich betonen - auch im Vermittlungsverfahren im Dezember letzten Jahres dazu beigetragen,
({2})
dass es zu vernünftigen Ergebnissen gekommen ist.
Auch das hätte von Ihnen hier angesprochen werden
müssen.
Im Übrigen haben Sie deutlich gemacht, dass wir in
Anbetracht der konjunkturellen Rahmenbedingungen
keine Steuererhöhungen brauchen, vor allen Dingen im
Unternehmenssektor nicht. Deswegen war es so wichtig,
dass es im Vermittlungsverfahren gelungen ist, die von
Ihnen, Frau Scheel, maßgeblich mitzuverantwortende
Erhöhung der Gewerbesteuer für die mittelständische
Wirtschaft abzulehnen.
Sie haben in einem zweiten Punkt über die Steinkohlesubventionen gesprochen. Es ist tatsächlich richtig:
Dank des Handelns der FDP zu ihrer Regierungszeit ist
es möglich geworden, dass die Steinkohlesubventionen
jetzt einen degressiven Verlauf nehmen.
({3})
Das ist, wie gesagt, erst durch uns möglich geworden.
({4})
Es war Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender Joschka
Fischer, der mit Herrn Lafontaine die Demonstrationen
in Bonn angeführt hat und gegen einen Abbau der Steinkohlesubventionen zu Felde gezogen ist.
({5})
Frau Scheel, jetzt hat Ihre Fraktion die einmalige historische Chance, dazu beizutragen, dass die Steinkohlesubventionen nicht noch weiter verlängert werden. Das
könnten Sie im Deutschen Bundestag und ebenfalls in
Nordrhein-Westfalen, wo Sie mitregieren, durchsetzen.
Warum tun Sie nicht das, was Sie hier von anderen einfordern?
({6})
Frau Scheel, Sie haben drittens die Klientelpolitik
angesprochen.
({7})
Herr Kollege, Sie haben nur drei Minuten Redezeit.
Das ist meine letzte Bemerkung. - Sie haben in diesem Zusammenhang das Land Rheinland-Pfalz genannt.
Ich bitte Sie herzlich, doch einmal mit Ihrer Kollegin aus
Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, zu sprechen. Dort
könnte man viele Klientelprogramme der Grünen kürzen. Stattdessen wird dort eine weitere Steuer, die Wassersteuer, eingeführt, um Klientelprogramme am Laufen zu halten.
({0})
Frau Kollegin Scheel, bitte.
Herr Professor Pinkwart, die Blockade, von der ich
gesprochen habe, hat sich auf ganz konkrete Sachverhalte hinsichtlich des Vermittlungsverfahrens im Dezember bezogen. Der Gesetzentwurf von Rot-Grün, den wir
im Deutschen Bundestag verabschiedet hatten, fand im
Bundesrat keine Zustimmung. Deshalb haben wir im
Vermittlungsverfahren mühsam versucht, die Subventionen, die wir vorher teilweise zu 100 Prozent streichen
wollten, wenigstens um 50 Prozent zu streichen. Aber
auch das war Ihnen schon zu viel. Genau das ist das Problem gewesen.
Sie sprechen immer die Petersberger Beschlüsse an.
Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Beschlüsse einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einen Spitzensteuersatz von 39 Prozent vorsahen. Unser Gesetz
sieht einen Steuertarif - er tritt nächstes Jahr in Kraft;
wenn es nach uns gegangen wäre, dann gäbe es diesen
Tarif schon dieses Jahr, aber das haben Sie nicht mitgetragen - mit einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent
und einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent vor.
({0})
Ich frage Sie: Ist es wirklich so tragisch, einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent ab einem Einkommen von
rund 52 000 Euro zu haben? Wäre es für die Wirtschaft
wirklich besser, wenn der Spitzensteuersatz in der von
Ihnen vorgeschlagenen Höhe schon ab einem Einkommen von 40 000 Euro greifen würde? Ich glaube, das,
was wir vorgeschlagen haben, ist im Hinblick auf die
Leistungsfähigkeit auf alle Fälle der bessere Weg.
({1})
Zweiter Punkt. Wenn das, was Sie da machen, so gut
ist - Sie haben Ihre Regierungsbeteiligungen, auch die in
Rheinland-Pfalz, angesprochen -, dann muss ich fragen:
Warum reicht das Land Rheinland-Pfalz den Gesetzentwurf der FDP eigentlich nicht im Bundesrat ein? Warum reicht Baden-Württemberg den Gesetzentwurf der
FDP nicht im Bundesrat ein? Sie tun es nicht, weil diese
Länder wissen, dass die Finanzierung nicht steht, und
weil sie wissen, welche finanziellen Probleme auf sie zukommen. Was Sie hier über die Zustimmung zu Ihrem
Gesetz sagen, ist Prosa. Schauen Sie zu, dass Ihre Landesregierungen im Bundesrat eine Mehrheit für Ihren
Gesetzentwurf bekommen! Ich kenne allerdings kein
einziges Bundesland, das den Gesetzentwurf der FDP
unterstützt.
({2})
Dritter Punkt. Ich möchte kurz noch etwas zur Steinkohle sagen. Es ist schon toll, Herr Professor Pinkwart:
Erst schrauben Sie die Subventionen auf ein hohes Niveau und dann sind Sie auf einen Vertrag stolz, mit dem
sie ein bisschen abgebaut werden.
({3})
Wer die Subventionen hochgeschraubt hat - ich habe
schon gesagt: Sie haben 29 Jahre mitregiert -, war die
FDP. Ich muss sagen, dass es nicht besonders mutig ist,
eine Subvention, die man hochgeschraubt hat, ein Stück
zurückzufahren.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
sollten jetzt von der Propaganda wieder in die Wirklichkeit dieses Landes eintauchen
({0})
und sollten nicht versuchen, die Bürgerinnen und Bürger
systematisch zu täuschen, wie das in den Beiträgen der
Opposition geschehen ist.
({1})
Herr Michelbach, wenn Sie von Betrügereien am
Steuerbürger sprechen, dann müssen Sie auch erwähnen,
dass zu Ihrer Regierungszeit das Verfassungsgericht
mehrfach geurteilt hat,
({2})
dass Sie den Steuerbürgern, den Erwachsenen und den
Kindern, das steuerfreie Existenzminimum vorenthalten haben. Wir haben in der Opposition Druck gemacht,
dass das steuerfreie Existenzminimum angehoben wird.
({3})
- Hören Sie zu! Sie können nicht durch Schreien die
Fakten übertünchen. - Zu Ihrer Regierungszeit hatten
wir einen Grundfreibetrag unter 13 000 DM. Wir haben
jetzt einen Grundfreibetrag von 7 664 Euro. Das ist die
Wirklichkeit; das ist die Wahrheit.
({4})
Sie haben ebenso wie die FDP getäuscht. Das hat die
FDP, haben dieser famose Herr Solms und diejenigen,
die jetzt das große Wort führen - Herr Pinkwart war zu
dieser Zeit noch nicht im Bundestag -, genauso mit zu
vertreten.
Sie wollen jetzt folgende Arbeitsteilung: Sie zeigen
der Bevölkerung die schönen neuen Steuertarife und die
politische Schwerstarbeit der Finanzierung soll die
Koalition machen. Auf diese Arbeitsteilung lassen wir
uns nun wahrlich nicht ein; das haben wir nicht nötig.
({5})
Wir haben eine Erfolgsstory vorzuweisen. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger um 60 Milliarden Euro.
Das steuerfreie Existenzminimum habe ich ja schon
erwähnt. Zudem haben wir im nächsten Jahr einen
Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Zu Ihrer Verantwortungszeit betrug er 25,9 Prozent. Sie haben die Bürgerinnen und Bürger leistungsfeindlich hoch besteuert.
Wir haben das Umgekehrte gemacht.
({6})
Bei uns lohnt sich Leistung wieder. Das ist die Wahrheit
und nichts anderes.
({7})
- Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Sie
machen Propaganda. Wenn ich manchmal sehe, wie Herr
Westerwelle im Fernsehen über die Steuerpolitik redet,
dann kommt es mir vor, als spräche ein Blinder über
Farbe. Es ist erschreckend, auf welchem Niveau sich die
politische Auseinandersetzung abspielt.
({8})
Wir haben zudem den Spitzensteuersatz von 53 auf
42 Prozent heruntergebracht.
Es gab in diesem Zusammenhang im letzten Dezember ein Vermittlungsverfahren. Einige von Ihnen hier
waren Zeugen, zum Beispiel Herr Michelbach und Herr
Meister, der jetzt leider nicht mehr anwesend sein kann.
Wer hat beim Abbau von Steuersubventionen gebremst? Die CDU und die CSU noch schlimmer.
Herr Michelbach, ich verstehe gar nicht, dass Sie jetzt
dem Herrn Stoiber so in den Rücken fallen, indem Sie
das FDP-Konzept bzw. die CDU-Vorstellungen loben.
Herr Stoiber und Herr Faltlhauser haben deutlich gemacht, was sie davon halten. Herr Faltlhauser hat schriftlich gefordert: Weg mit dem Stufentarif! Er hat einen lesenswerten Artikel darüber verfasst. Herr Faltlhauser hat
gesagt, dass diese Vorstellungen nicht mit einem sozialen Rechtsstaat vereinbar seien und dass die Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungskraft ausgehöhlt
werde. Warum sagen Sie das nicht im Namen der CSU
im Deutschen Bundestag? Das wäre doch erwähnenswert gewesen.
({9})
Herr Kollege Poß, ich will Ihnen einmal die Gelegenheit geben, Luft zu holen. Der Herr Kollege Westerwelle
möchte eine Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Herr Kollege, zunächst einmal meinen kollegialen
Respekt dafür, dass Sie fünf Minuten sprechen können,
ohne einmal einzuatmen.
Langes Training.
Das sollte über die Parteigrenzen hinweg hohe Anerkennung genießen.
({0})
Da Sie augenscheinlich, wie Sie in Ihrer Rede zum
Ausdruck bringen, meine Fernsehauftritte genauestens
verfolgen Joachim Poß ({1}):
Gelegentlich.
- das unterstütze ich ({0})
und da Sie, wie Sie es gerade getan haben, das Niveau
unserer steuerpolitischen Beiträge bestreiten, möchte ich
Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass immerhin der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages am heutigen Tage in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ alle Parteien aufgefordert hat, sich dem Entwurf
eines Gesetzes für ein vereinfachtes Steuerrecht der
Freien Demokraten anzuschließen?
({1})
- Es ist übrigens spannend, dass Sie nach der Agenda2010-Diskussion schon bei dem Wort „Deutscher Industrie- und Handelskammertag“ so reagieren. Sehr bemerkenswert!
({2})
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der
Präsident einer der am höchsten angesehenen Institutionen, die wir in Deutschland in der Wirtschaftspolitik haben, erklärt hat, endlich einmal lege eine Partei einen
Entwurf vor, der ein einfaches und verständliches Steuerrecht wolle?
Herr Kollege Westerwelle, sind Sie denn bereit, dem
Publikum hier zu sagen, dass dieser Präsident FDP-Mitglied ist, und halten Sie angesichts dieses Umstandes
diese Aussage für verwunderlich?
({0})
Das war typisch für Sie, was die Ernsthaftigkeit Ihrer
Beiträge hier in diesem Parlament angeht. Mehr braucht
man dazu nicht zu sagen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Ja, natürlich.
Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
viele vernünftige Leute in Deutschland FDP-Mitglied
sind?
({0})
Herr Kollege Westerwelle, das ist eine Überzeugung,
die Sie Gott sei Dank mit nicht so vielen Menschen in
dieser Republik teilen.
({0})
- Wir wissen ja auch um unsere Schwierigkeiten und
wollen nichts schönreden, Herr Kollege Solms.
({1})
Aber wir wollen doch einmal zu den Fakten kommen.
Wenn der Kollege Meister sagt, wir hätten verhindert,
dass die Kommunen weiter entlastet werden, dann war
dies eine glatte Lüge. Alle, die im Vermittlungsausschuss dabei waren, wissen, dass Sie unseren Gewerbesteuerentwurf unterminiert haben. Wäre es nach uns gegangen, wäre die Gewerbesteuer weiter gefestigt
worden. Die Kollegin Scheel hat Ihnen zu Recht vorgeworfen, dass Sie überhaupt keine Antwort für die Kommunen haben. Sie machen kommunalfeindliche Politik,
meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP.
({2})
- Das ist die Wahrheit.
({3})
Jetzt habe ich einige Klarstellungen vorgenommen,
was hier Realität und was Propaganda ist. Ich hoffe, dass
dies auch einmal beachtet wird. Allerdings muss man Ihnen zugestehen, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger
mit beträchtlichem Geschick hinter die Fichte führen.
Nun komme ich zum Gesetzentwurf der FDP. Dazu
sagte der bayerische Ministerpräsident am 2. Februar
wörtlich:
({4}) besteht nur aus Grundsätzen, damit kann die
Steuerverwaltung nicht arbeiten.
Herr Michelbach, warum haben Sie hier nicht vorgetragen, was er zu dieser Gesetzesvorlage gesagt hat? Herr
Stoiber hat Recht; denn eine radikale Steuervereinfachung ist viel komplizierter, als viele Steuervereinfachungsfanatiker uns glauben machen wollen. Sie haben
einen interessanten Paragraphen in Ihrem Entwurf. Ich
zitiere einmal § 4:
Anrufungsauskunft
Das zuständige Finanzamt … hat auf Anfrage eines
Steuerbürgers darüber Auskunft zu geben, wie in
seinem Fall die Vorschriften dieses Gesetzes anzuwenden sind.
So viel zur Klarheit Ihres Gesetzentwurfes und zur Qualität Ihrer Arbeit.
({5})
Den Maßstab, den Herr Stoiber an das FDP-Konzept
gelegt hat, sollte man nicht nur an diesen Entwurf - hier
gebe ich Herrn Westerwelle Recht -, sondern auch an
andere Reformkonzepte legen, die unter der Überschrift
„Einfaches und überschaubares Steuersystem“ derzeit
diskutiert werden. Das Steuerrecht zu vereinfachen ist
das angebliche Ziel aller Entwürfe, die unter dieser
Überschrift kreisen. Das wirkliche, verschleierte Ziel all
dieser Konzepte ist jedoch eine Umverteilung der Steuerlast von oben nach unten. Dazu hat Herr Eichel Ihnen
eben ein Beispiel geliefert. Mit gewissen Abstrichen gilt
dies selbst für das bekannte CSU-Modell. Aber wir werden einmal sehen, was nach dem 7. März von dem CDUModell oder dem CSU-Modell übrig geblieben sein
wird. Wir sind gespannt, ja, richtig närrisch auf diesen
7. März. Vor allem interessiert uns, wie aussagefähig die
CDU/CSU an diesem Tage sein wird.
Ich sage es schon an dieser Stelle ganz deutlich und
ganz ruhig: Für eine unsoziale Steuerumverteilung sind
Sozialdemokraten nicht zu haben. Dies ändert sich auch
nicht.
({6})
Wer nach einem einfachen und durchschaubaren Einkommensteuerrecht ruft, dem werden wir immer wieder
zwei Fragen vorhalten: Wer soll das bezahlen? Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Zu diesen Fragen
besteht auch Grund und Anlass. Wenn sich die Vertreter
dieser Besteuerungsmodelle dann auch einmal zu der Finanzierung äußern, dann erst wird deutlich, wie sie sich
ihr Gesamtkonzept wirklich vorstellen: Finanzierung
über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - Herr Merz ist
in den letzten Tagen diesbezüglich erfrischend offen gewesen - oder über eine höhere Staatsverschuldung. Das
ist die Konsequenz, die aber den Steuerbürgerinnen und
-bürgern auch gesagt werden muss.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kalb?
Ja, gerne.
Ich bin kein Doktor, aber es schmeichelt mir, dass Sie
mich so ansprechen.
Herr Kollege Poß, würden Sie mir bestätigen, dass
meine Erinnerung nicht trügt, dass Sie nach der Vorstellung des CSU-Konzeptes sinngemäß gesagt haben, dieses Konzept sei zumindest eine vernünftige Gesprächsgrundlage?
Ich habe dazu gesagt, dass von den vorhandenen Konzepten das CSU-Konzept sicherlich dasjenige sei, auf
dessen Grundlage man noch am ehesten miteinander reden könnte. Daran habe ich keine Abstriche zu machen;
dies habe ich vorhin auch so ähnlich zum Ausdruck gebracht. Ich habe nur festgestellt, dass Herr Michelbach
die CSU-Vorstellungen hier in seiner Rede verschwiegen
({0})
oder verschleiert hat.
({1})
- Auch dies kann ich Ihnen bestätigen. Aber gerade bei
einer so straff geführten Kaderpartei wie der CSU erwartet man doch eine Sprachregelung, die dazu führt, dass
sich Herr Michelbach dem anschließt, was Herr Stoiber
sagt.
({2})
Die Grundfragen sind also: Wer soll das bezahlen?
Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Solange
Sie diese Fragen nicht beantworten, täuschen Sie die
Bürgerinnen und Bürger. Wir machen diese Täuschung
nicht mit, meine Damen und Herren.
({3})
Die Einkommensteuer ist das Instrument, mit dem
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit am besten erfasst
werden kann. Nach diesem Prinzip der Leistungsfähigkeit muss auch Umverteilung erfolgen. Mit den von uns
bislang beschlossenen Steuersenkungen ist der Spielraum des finanziell Machbaren ausgeschöpft. Was wir an
finanziellem Spielraum noch haben, müssen wir einsetzen, um die wirklichen Schwächen des Standortes zu bekämpfen. Wir haben Innovationsschwächen; um sie zu
beseitigen, brauchen Bund und Länder Geld. Dafür müssen wir das Geld ausgeben. Das ist die Alternative, die
wir deutlich machen wollen.
({4})
Zur Gerechtigkeitsfrage. Natürlich schmerzen die
SPD die Umfragezahlen und die Debatte, die wir aushalten müssen. Das ist doch gar keine Frage. Aber, Herr
Michelbach, wir haben durchgesetzt, dass Einkommensmillionäre wieder Einkommensteuer zahlen. In der
Zeit Ihrer Regierungsverantwortung in den 90er-Jahren
- da haben wir einschlägige Zahlen - war das kaum noch
der Fall. Sie hatten solche Gestaltungsmodelle, dass sie
sich der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entziehen konnten. Wir haben in den letzten Jahren wesentlich mehr Steuergerechtigkeit durchgesetzt. Das gilt für die Grünen und für die SPD. Darauf
sind wir stolz.
({5})
Steuerliche Gerechtigkeit und die Berücksichtigung
der Finanzierbarkeit von Konzepten sind zwingende
Leitlinien jeder Steuerreform. Daran muss sich jedes
Modell messen lassen.
Es ist zudem irrational, im Zentrum der wirtschaftspolitischen Diskussion eine Steuerdebatte zu führen. Die
volkswirtschaftliche Steuerquote - der Herr Minister hat
gesagt: 20,7 oder 20,9 Prozent - ist nicht unser Problem.
Wir haben andere Schwächen.
({6})
Darauf sollten wir uns konzentrieren. Die Steuerfrage ist
angesichts der historisch niedrigen Steuerquote in
Deutschland überhaupt nicht relevant, wenn es um mehr
Wachstum und Beschäftigung geht. Herr Michelbach,
zusätzliche Steuerentlastungen würden bedeuten, dass
wichtige öffentliche Mittel für mehr Innovation und
Wachstum fehlen würden.
({7})
- Das muss sich einmal setzen.
({8})
Auch die Zahlen müssen sich setzen. Das FDPKonzept kommt im ersten Jahr auf Steuermindereinnahmen von 20,3 Milliarden Euro, im Jahr der vollen Wirksamkeit sogar auf fast 30 Milliarden Euro. Allein diese Zahlen verdeutlichen: Hier sind Fantasten am
Werk, die den Bürgern eine Welt vorgaukeln wollen, die
mit der finanzpolitischen Wirklichkeit nichts zu tun hat.
({9})
Frau Merkel hat den CDU-Parteitag mit dem hochgejubelten Drei- oder Vierstufentarif getäuscht. Das sind
Tarife ohne Substanz. Tarife aufs Papier zu malen fällt
uns allen nicht schwer. Das verlangt keine große Kreativität. Aber das gegenzufinanzieren ist in der Tat die
Schwierigkeit.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Solms?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Poß, mich würde interessieren, wie Sie
auf solche Zahlen kommen. Es gibt bis jetzt keine
abschließenden Berechnungen. Der Herr Bundesfinanzminister hat mir gerade selber gesagt, dass das Bundesfinanzministerium in Zusammenarbeit mit den Landesfinanzministerien dabei ist, die verschiedenen Vorschläge
zu berechnen.
({0})
- Er hat „20 Milliarden Euro“ gesagt; Sie redeten eben
von 30 Milliarden Euro. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Ja, im Jahr der vollen Wirksamkeit.
Ich habe die Information, dass das bayerische Finanzministerium bei dem FDP-Entwurf auf 14,5 Milliarden
Euro gekommen sei. Auch das kann ich nicht bestätigen.
Wir haben selbst gesagt: Die Entlastung wird etwa zwischen 15 und 20 Milliarden Euro liegen. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, dass Sie jetzt die Beträge in
die Höhe treiben.
Die Berechnungen des Finanzministeriums, die mir
bekannt sind, gehen bei Ihrem Konzept - ich wiederhole
das - im ersten Jahr von Steuermindereinnahmen von
20,3 Milliarden Euro aus, im Jahr der vollen Wirksamkeit von fast 30 Milliarden Euro. Das sind die Zahlen,
die mir bekannt sind. Ich bin davon ausgegangen, dass
das - bei allen Schwierigkeiten, die wir kennen, ganz genaue Beträge zu ermitteln - eine seriöse Schätzung ist.
({0})
Sie haben einen Entwurf vorgelegt, der viel verschleiert. Sie haben bewusst die ausdrückliche Nennung all
der Steuerausnahmetatbestände, die Sie streichen wollen, ausgespart, weil Sie den Zorn der Wählerinnen und
Wähler fürchteten.
Das gilt auch für die CDU. Dort einen Bierdeckel
hoch zu halten, der für die Steuererklärung genügen soll,
und so zu tun, als hätten Sie den Stein der Steuerweisen
entdeckt, hat mir Seriosität nichts zu tun. Das war ein
politischer Rohrkrepierer.
({1})
Obwohl die CDU nur Leitsätze vorlegt, kann man genauere Zahlen berechnen. Die Schätzer sagen, dass das
Merz-Modell im ersten Jahr zu Ausfällen von 31,5 Milliarden Euro führen würde. Dazu kommen noch die
18 Milliarden Euro für die Kinderkomponente, die auf
dem Parteitag beschlossen wurde, und die ungeklärte
Frage, wie die von der Herzog-Kommission vorgeschlagene Kopfpauschale mit Steuermitteln überhaupt erst
sozial erträglich ausgestaltet werden soll. Das hat die
CSU, namentlich der Kollege Glos, der an dieser Debatte nicht teilnimmt, als nicht finanzierbar und nicht sozial gerecht bezeichnet, was Sie, Herr Michelbach, nicht
vorgetragen haben. Das CDU-Konzept geht nur auf,
wenn Sie die Mehrwertsteuer um vier oder fünf Punkte
erhöhen. Seien Sie doch so ehrlich und sagen Sie den
Bürgerinnen und Bürgern das! Das ist die Konsequenz
Ihrer Vorstellungen.
({2})
Alle so genannten Einfachsteuermodelle, auch das
der FDP, sind sozial ungerecht. Ihr eindeutiges Ziel ist
die Senkung der Steuerlast von Spitzenverdienern. Der
Spitzensteuersatz würde dann auch für Normalverdiener
mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro gelten, sowohl für Arbeitnehmer als auch für Manager. Dazu sagt
die CSU: Wir wollen den Trend brechen, dass schon
Bürger, die nur etwas mehr als der Durchschnitt verdienen, mit dem höchsten Steuersatz belastet werden; denn
das ist leistungsfeindlich. In diesem Punkt hat die CSU
Recht. Aber setzen Sie Ihre Vorstellungen bitte auch um!
Wir machen eine solche leistungsfeindliche Gesetzgebung hier im Deutschen Bundestag nicht mit. Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern auch noch nachhaltiger, als es bisher geschehen ist, verdeutlichen. Was
Sie wollen, ist eine Umverteilung von oben nach unten;
wir wollen das nicht.
({3})
Sagen Sie den Leuten doch, dass Sie die Übungsleiterpauschale, die Steuerfreiheit von Feiertags-, Nachtund Schichtzuschlägen, den Sparerfreibetrag und vieles
mehr, was insbesondere Arbeitnehmer betrifft, streichen
wollen. Gerade vonseiten der FDP bzw. von Herrn
Westerwelle wird immer so getan, als habe die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft etwas mit der
Beibehaltung der Entfernungspauschale zu tun. Das ist
Wählertäuschung oder aber Sie wissen es nicht besser,
weil Ihre ökonomischen Kenntnisse nicht ausreichen,
Herr Westerwelle.
({4})
Man muss es deutlich sagen: Diese Subventionen, die
wir abgebaut haben und weiter abbauen wollen, haben
mit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
nichts zu tun.
Auch bei der Vereinfachung des Steuerverfahrensrechts sind wir ein gutes Stück weitergekommen. Lesen
Sie einmal im Steueränderungsgesetz nach, was hier mit
Mehrheit beschlossen wurde! Das müssen die Länder
- und zwar alle Länder, auch die CDU-geführten - jetzt
umsetzen. Wir können Millionen von Arbeitnehmern
schon in diesem und im nächsten Jahr mit einer vereinfachten Steuererklärung helfen. Hier sind Ihre Taten gefordert. Aber Sie sollten den Leuten keine Versprechen
machen und populistische Bierdeckelfantasien entwickeln.
Meine Damen und Herren, die SPD steht für die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
und nicht für eine Umverteilung der Steuerlast von oben
nach unten unter dem Deckmantel der Steuervereinfachung. Das ist auch gerecht. Die SPD steht für die Finanzierungsfähigkeit des Staates und nicht für Steuergeschenke, die die öffentlichen Kassen noch leerer
machen, als sie es ohnehin schon sind, und eine künftige
Belastung unserer Kinder bedeuten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP will sich wieder einmal als Steuersenkungspartei profilieren.
({0})
Ihr Pech ist, dass Sie sich zwar mit allen etablierten Parteien in einen Wettbewerb um neue Steuersenkungskonzepte begeben haben, dass Sie im Augenblick aber kaum
wahrgenommen werden.
({1})
- Nicht mit uns, das ist richtig. Sie greifen meinem
nächsten Satz schon vor; denn wir als PDS nehmen an
diesem ruinösen Wettbewerb nicht teil.
({2})
Manchmal hat man ja den Eindruck, man müsse erst
einmal erklären, warum Steuern überhaupt erhoben werden. Wir brauchen Steuereinnahmen zum Beispiel, um
Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder und Straßen zu
erhalten und zu bauen und um Lehrer, Wissenschaftler
und Polizisten zu bezahlen. Wer die Steuern aber unentwegt senken will, der muss den Menschen auch sagen,
worauf sie im öffentlichen Leben verzichten sollen.
Das FDP-Steuermodell hätte massive Steuerausfälle
für Bund, Länder und Gemeinden in insgesamt zweistelliger Milliardenhöhe zur Folge; das ist hier schon angesprochen worden. Die FDP will einen Stufensatztarif
einführen. Was bedeutet das? Das bedeutet eine massive
Steuerentlastung für die Bezieher hoher Einkommen.
Der FDP geht es also um eine gravierende Senkung des
Spitzensteuersatzes. Das ist reine Klientelpolitik.
({3})
Ein Kollege von der CDU hat davon gesprochen, hier
werde eine Neiddebatte geführt. Dazu kann ich aber nur
sagen: Wenn man sich gegen diese Klientelpolitik zur
Wehr setzt, wird eine Gerechtigkeitsdebatte geführt.
Ein Kernstück Ihres Gesetzentwurfs ist die Abschaffung der Gewerbesteuer. Das ist aus unserer Sicht wirklich verantwortungslos. Die Kommunen befinden sich
unter Rot-Grün in der schwersten Finanzkrise ihrer Geschichte: Das Defizit der Kommunen beträgt 10 Milliarden Euro. Wie soll das nach Meinung der FDP kompensiert werden? - Die FDP will einen örtlichen Zuschlag
auf die Lohn- und Einkommensteuer bzw. auf die Körperschaftsteuer einführen und zugleich den Anteil der
Kommunen an der Umsatzsteuer von jetzt 2,2 Prozent
auf fast 12 Prozent erhöhen.
Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, dass in den
letzten 20 Jahren der Anteil der Unternehmens- und Vermögensteuer am gesamten Steueraufkommen dramatisch verringert wurde: von 28 Prozent auf 16 Prozent.
Gleichzeitig aber stieg der Anteil der Lohnsteuer der Arbeitnehmer am gesamten Steueraufkommen; er liegt
jetzt bei fast 40 Prozent. - Diese Entwicklung würde
nach dem Modell der FDP weitergehen. Das heißt also:
Die kleinen Leute sollen noch mehr belastet werden und
noch mehr zahlen. - Die FDP hat vorgeschlagen, den
entsprechenden Beitrag der Körperschaften um 8 Prozent zu senken und den Beitrag der Personengesellschaften um 10 Prozent.
Ich finde, diese wenigen Zahlen sind klare Belege dafür, dass es der FDP eben nicht um eine solide Finanzbasis für die Kommunen geht, sondern um den massiven
Rückzug vor allem der Kapitalgesellschaften aus der Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur. Ich finde, das
ist nicht hinzunehmen.
({4})
Völlig unrealistisch ist der Vorschlag der FDP, den
Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer auf einen
Schlag von 2,2 Prozent auf beinahe 12 Prozent zu erhöhen. Das hätte massive Steuerausfälle für Bund und Länder zur Folge. Was würde geschehen? - Die Länder würden nichts anderes tun, als massive Kürzungen an die
Kommunen durchzureichen. Der kommunale Finanzausgleich würde weiter geschwächt. Das wäre ein Schlag
ins Gesicht der Kommunen insbesondere in Ostdeutschland, wo rund 70 Prozent der kommunalen Einnahmen
aus dem Finanzausgleich kommen. Mir soll mal jemand
erklären, wie die Kommunen nach diesem Modell der
FDP weiterhin Schulen und Kitas erhalten sollen.
Wir als PDS sind für ein sehr einfaches, aber sehr gerechtes und solidarisches Steuersystem. Davon ist die
FDP mit ihrem Gesetzentwurf leider weit entfernt.
({5})
Zwar haben Sie mit Ihrem Antrag Rot-Grün heute die
Gelegenheit geboten, sich als Verteidiger der sozialen
Gerechtigkeit und der sozialen Balance darzustellen. Ich
denke aber, die überzeugendste Darstellung von sozialer
Gerechtigkeit wäre, wenn Sie von Rot-Grün die
Agenda 2010 korrigieren würden.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was will die FDP? - Ein einfaches Einkommensteuersystem mit breiter Bemessungsgrundlage und
niedrigen Steuersätzen - das klingt gut -,
({0})
ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf Einkommen- und
Körperschaftsteuer und die Erhöhung des Umsatzsteueranteils der Kommunen auf fast 12 Prozent; das klingt
nicht so gut.
Was aber bedeuten die Vorschläge konkret? Alle
Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, Bezieher sehr hoher Einkommen möglichst umfassend zu entlasten, mit
einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Das bedeutet
eine deutliche soziale Schieflage, nichts anderes.
({1})
Der Arbeitnehmer-Pauschbetrag soll für niedrige
Einkommen nur noch 200 Euro betragen, aber mit
zunehmendem Einkommen auf 5 000 Euro ansteigen.
Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sollen voll steuerpflichtig werden, Sozialleistungen mindern den
Grundfreibetrag. Vorgesehen ist ein hoher Kinderfreibetrag - wiederum interessant für Bezieher höherer Einkommen -, Kindergeld dagegen wird Nebensache. Dafür
sollen hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse
bis 12 000 Euro abziehbar werden. Für Alleinerziehende
ist keinerlei Entlastung vorgesehen, aber das Ehegattensplitting ist heilig.
Kurzum: Die Gewinner des FDP-Konzepts wären
Einkommensmillionäre, die Verlierer wären Familien
und Menschen mit kleinem Einkommen.
({2})
Verlierer wären auch die zukünftigen Generationen;
denn zusätzliche Steuerentlastungen heute im Umfang
von zwischen 15 und 20 Milliarden Euro bedeuteten höhere Steuern von morgen. Eines, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der FDP, verraten Sie uns jedoch
nicht, nämlich wie Sie ihr Konzept finanzieren wollen.
Wie soll die Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle
in Milliardenhöhe aussehen? Sie wollen den Gemeinden
beinahe 12 Prozent von der Umsatzsteuer zukommen
lassen, Gelder - Frau Scheel hat es gesagt -, die vom
Bund und von den Ländern abgingen. Zusätzlich kostete
der Wegfall der Gewerbesteuer rund 20 Milliarden Euro.
Das ist unseriös. Es ist nicht gegenfinanziert. Sie stellen
damit Versprechungen von massiven Steuerentlastungen
in den Raum, ohne die Gegenfinanzierung wirklich zu
thematisieren.
Nun zum Thema Gewerbesteuer. Ich werfe Ihnen
vor, dass Sie hier wiederholt keine echte Alternative anbieten. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Kommunen Ihren Vorschlag hierzu nicht umgesetzt haben
wollen. Sie wollen auch nicht gegen ihren Willen bei der
Umsatzsteuer an dem Tropf von Bund und Ländern hängen. Sie sehen sich weiterhin in die Abhängigkeit von
erhöhten Zuweisungen getrieben. Zudem haben die Ergebnisse der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen deutlich gezeigt, worauf das von Ihnen geförderte Modell mit Hebesatz auf Einkommensteuer und
Körperschaftsteuer hinausläuft: auf eine Belastung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf eine Entlastung Ihrer Klientel.
Mit Ihrem heutigen Vorschlag präsentieren Sie sich
überdeutlich als Partei der Besserverdienenden. Bezieher hoher Einkommen werden entlastet, die Kleinverdiener verlieren.
({3})
Die Kommunen erhalten keine echte Alternative. Sie
schlagen keine Kompensation für massive Steuerausfälle
vor.
Wir brauchen - darin gebe ich Ihnen Recht - eine
konsequente Steuervereinfachung. Wir sind bereit, über
alle sinnvollen Vorschläge zu diskutieren. Die finanziellen Spielräume durch den Abbau von Steuervergünstigungen sollten vor allem genutzt werden, um den
Grundfreibetrag anzuheben und einfache und umfassende Pauschalen für alle Steuerbürger zu schaffen. Das
wäre ein wirklich durchgreifender Beitrag zur Vereinfachung, von dem alle Bürger etwas hätten. Zudem würde
die Finanzverwaltung deutlich entlastet. Es ist aber auch
klar: Diese Vereinfachung kostet etwas. Für eine weitere
Nettoentlastung ist zurzeit kein Spielraum vorhanden.
Eine weitere massive Senkung des Spitzensteuersatzes
ist wirklich nicht vordringlich.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Peter Rzepka, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nur ein einfaches Steuerrecht ist auch ein gerechtes Steuerrecht. Bürger, Unternehmer, Wissenschaftler, Steuerberater, Finanzbeamte und Finanzrichter klagen über die zunehmende Chaotisierung des deutschen
Steuerrechts, dessen Auswirkungen auf die Steuerbelastung auch von Experten nicht mehr zuverlässig beurteilt
werden können.
Ein Steuerrecht aber, das Grund und Höhe der Belastung nur unzureichend erkennen lässt, ist verfassungsrechtlich problematisch, weil dem Eingriff des Fiskus
die hinreichende gesetzliche Grundlage fehlt und gegen
den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstoßen wird. Ein solches Steuerrecht ist ungerecht und unsozial, weil es denjenigen mehr nutzt, die
sich teure Steuerberatung leisten können.
({0})
Es ist wachstumsfeindlich und wettbewerbsverzerrend,
weil viele Ausnahmetatbestände die Marktpreise beeinflussen und Investitionen in unproduktive Verwendungen lenken. Es ist schließlich Anlass zu
Ausweichreaktionen und Rechtsverweigerung durch
Standortverlagerung und Kapitalflucht, durch Steuerhinterziehung und Abtauchen in die Schattenwirtschaft.
({1})
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt im Jahresgutachten 2003/2004 zu folgendem Befund - meine Damen
und Herren von der SPD-Fraktion, wenn Sie uns nicht
glauben wollen, dann sollten Sie wenigstens auf die
Sachverständigen hören -:
Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig
erhebliche Defizite. Das deutsche Einkommensteuerrecht wird zunehmend als chaotisch wahrgenommen. Steuerpolitische Einzelmaßnahmen fügen
sich nicht in eine erkennbare Systematik ein:
({2})
Der deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an dem sich die Haushalte und Investoren in
ihrer Einkommensdisposition langfristig ausrichten
könnten.
({3})
Demnach ist die Steuerpolitik dieser Bundesregierung
und der sie tragenden rot-grünen Koalition eine der Ursachen für die anhaltende Wachstums- und Beschäftigungskrise.
({4})
Noch im Jahr 2000 hatte diese Bundesregierung die Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch ein
tragfähiges und gerechtes Steuer- und Abgabensystem
als eine ihrer beiden finanzpolitischen Leitplanken bezeichnet. „Das Steuersystem des Jahres 2003 ist weit
entfernt von diesen Zielen“, lautet die ernüchternde Erkenntnis des Sachverständigenrates. Statt sich den selbst
gesteckten Zielen zu nähern, entfernt sich diese Bundesregierung immer weiter davon.
Als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens vom
Dezember 2003 sind umfangreiche Gesetzesänderungen
bezüglich der Körperschaftsteuer, Einkommensteuer,
Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Tabaksteuer, Erbschaftsteuer, Biersteuer, Mineralölsteuer und Stromsteuer mit
zum Teil erheblichen Komplizierungen vorgenommen
worden.
({5})
Ich will in diesem Zusammenhang nur auf die Neuregelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung und zur Beschränkung der Verlustverrechnung hinweisen.
({6})
Die Union hat im Vermittlungsverfahren viele Mängel der ursprünglichen Gesetzentwürfe der Regierungskoalition korrigieren können, musste aber im Kompromiss und um die Erwartung der Menschen hinsichtlich
des Vorziehens der Steuerreform nicht zu enttäuschen,
weitere Fehlentwicklungen hinnehmen. Angesichts der
Sprunghaftigkeit und des Verlusts der Glaubwürdigkeit
bei der Steuerpolitik dieser Bundesregierung richten sich
die Hoffnungen der Deutschen auf die Opposition.
Nach Vorlage der Leitsätze für eine radikale Vereinfachung und eine grundlegende Reform des deutschen
Einkommensteuersystems durch unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz trauen
50 Prozent der Deutschen der Union, aber nur
24 Prozent der SPD die besseren Steuer- und Finanzkonzepte zu.
({7})
Wir lassen uns in unserer Steuerpolitik von der Erkenntnis leiten, dass die Steuerlast gesenkt und das Einkommensteuerrecht einer Runderneuerung unterzogen
werden muss, bei der die steuerliche Bemessungsgrundlage durch den weit gehenden Abbau von Sondertatbeständen verbreitert wird und die Steuersätze deutlich gesenkt werden. Die FDP-Fraktion beschreibt in ihrem
vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der
Gewerbesteuer das Problem der deutschen Einkommensbesteuerung ähnlich und legt ähnliche Lösungsvorschläge vor.
({8})
Auch die FDP sieht die Streichung bzw. Rückführung
zahlreicher Sondertatbestände, einen neuen Einkommensteuertarif mit niedrigeren Steuersätzen, hohe
Grundfreibeträge pro Person - einschließlich der Kinder -, die Beibehaltung des Ehegattensplittings, die
nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte, die unbeschränkte Verlustverrechnung und die Verminderung
der Einkommensarten vor.
Es war schon Thema der Diskussion, dass die Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine verlässliche Steuerquelle, die den Städten und Gemeinden in Deutschland
die Erfüllung ihrer Aufgaben auf Dauer sichert, ebenfalls ein gemeinsames Ziel ist.
({9})
Die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen Form, die zunehmend zu einer Großbetriebssteuer mit allen daraus
folgenden Aufkommensschwankungen degeneriert ist,
hat keine Zukunft mehr.
({10})
Daran werden auch diejenigen, die, wie Herr Poß, daran
arbeiten, diesen Fremdkörper in unserem Steuersystem
zu revitalisieren, nichts ändern können.
({11})
Bei der Umstellung der Gemeindefinanzierung
durch eine Beteiligung an den Gemeinschaftssteuern mit
eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen müssen natürlich die Stadtumlandproblematik, das Verhältnis zwischen aufkommensschwachen und -starken Gemeinden und die Administrierbarkeit hinreichend
berücksichtigt werden. Frau Kollegin Andreae, nichtsdestotrotz nimmt die Zustimmung zu dieser Form der
Ersetzung der Gewerbesteuer auch bei den Kommunen
zu.
({12})
Dass Zinsen auf Steuernachzahlungen nach Ihrem
Konzept wieder abziehbar sein sollen, findet meine Zustimmung. Es ist nicht zu verstehen, dass der Fiskus
Nachzahlungszinsen in Höhe von 6 Prozent aus dem
steuerlichen Netto verlangt, andererseits aber die an den
Steuerpflichtigen gezahlten Zinsen auf Steuererstattungen in vollem Umfang besteuert.
Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf in einigen Punkten
noch nicht ausgereift. Für Arbeitnehmer sehen Sie eine
Abgeltungspauschale für berufsbedingte Kosten in
Höhe von 2 Prozent der steuerpflichtigen Einnahmen
- höchstens 5 000 Euro - vor. Zum einen vermag ich
nicht einzusehen, dass mit steigenden Einnahmen automatisch auch die Werbungskosten steigen sollen, zum
anderen stellen Sie nicht nur auf die Einnahmen aus der
Betätigung als Arbeitnehmer ab, sondern auf sämtliche
steuerpflichtigen Einnahmen, sodass diese steuerlich absetzbare Pauschale auch dann ansteigt, wenn der Arbeitnehmer Einnahmen aus anderen Einkommensquellen erzielt. Eine solche pauschale Begünstigung von
Großverdienern mit Einnahmen bis zu 250 000 Euro findet nicht unsere Zustimmung und dürfte einer verfassungsgerichtlichen Prüfung kaum standhalten.
Bei beschränkter Steuerpflicht soll generell der
Spitzensteuersatz von 35 Prozent gelten. Eine solche Besteuerung von in Deutschland tätigen Arbeitnehmern,
die in anderen EU-Staaten ansässig sind, dürfte meines
Erachtens mit dem EU-Recht kaum vereinbar sein.
Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgesehene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräußerung
von Wirtschaftsgütern eingehen, die einer wirtschaftlichen Betätigung gedient haben. Ich glaube, Ihr Entwurf
berücksichtigt nicht ausreichend die Gefahr einer
Scheingewinnbesteuerung, die mit inflationären Preisentwicklungen verbunden ist, und dürfte deshalb in diesem Punkte Anlass zu Veränderungen geben.
In Ihrem Steuerkonzept lassen Sie sich von dem
Grundsatz einer einheitlichen Besteuerung der
unterschiedlichen Einkünfte leiten und sehen deshalb
nur noch eine Einkunftsart vor. Die Körperschaftsteuer
wird in diesem Konzept dadurch in die Einkommensteuer integriert, dass der Spitzensatz der Einkommensteuer dem Körperschaftsteuersatz mit 35 Prozent entspricht. Konsequent stellen Sie Ausschüttungen
inländischer Kapitalgesellschaften, die nach Ihrem Konzept auf der Ebene der Kapitalgesellschaft mit 35 Prozent vorbelastet wurden, beim Anteilseigner steuerfrei
mit der Möglichkeit, im Wege einer Antragsveranlagung
den Körperschaftsteuersatz durch den persönlichen Einkommensteuersatz des Anteilseigners zu ersetzen. Dagegen sollen Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften, die im Ausland bereits mit Körperschaftsteuer
vorbelastet sind, zusätzlich der Einkommensteuer des inländischen Anteilseigners unterworfen werden. Dies
dürfte zumindest mit dem EU-Recht unvereinbar sein.
Eine solche Zusatzbelastung ergibt sich übrigens auch
nach dem Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs bei mehrstufigen Inlandskonzernen, was Sie nicht ernsthaft beabsichtigt haben können.
Kapitalerträge, die nicht Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften sind, sollen nach Ihrem Modell mit einer
Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden. Abgesehen davon, dass Sie den Leser Ihres Gesetzentwurfs
darüber im Unklaren lassen, was Kapitalerträge im Einzelnen sind, handelt es sich um eine Ausnahme von der
grundsätzlich angestrebten Gleichbehandlung aller Einkünfte und damit um einen Systembruch.
Ihr Entwurf enthält damit Elemente einer so genannten dualen Einkommensteuer, die Kapitaleinkommen
niedriger besteuert als Arbeitseinkommen. Dieser systematische Schönheitsfehler hat aber erhebliche praktische
Auswirkungen, da er die Fremdkapitalfinanzierung von
Kapitalgesellschaften gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung begünstigt,
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
- ich möchte in meinen Ausführungen erst einmal
fortfahren -, Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und Personenunternehmen benachteiligt. Ihr Konzept widerspricht damit den Zielsetzungen einer finanzierungs- und
rechtsformneutralen Besteuerung.
({0})
Jetzt möchte ich gerne die Zwischenfrage zulassen.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben gerade auf die Uhr geschaut
und wahrscheinlich festgestellt, dass sich Ihre Redezeit
dem Ende zuneigt.
Unser Konzept beinhaltet einen starken familien- und
frauenpolitischen Teil. Ich möchte Sie bitten, mir die
Frage zu beantworten, ob es auch das Ziel der CDU/
CSU ist, die Steuerklasse V abzuschaffen. In unserem
Steuerkonzept haben wir andere Steuerklassen vorgesehen. Wir wollen das Gender-Prinzip in unserem neuen
Steuerkonzept durchsetzen. Sie haben von ähnlichen
bzw. gleichen Zielen gesprochen und darauf verwiesen,
worin sich Ihr Konzept von dem der anderen unterscheidet. Meine Frage ist: Werden auch Sie von der CDU/
CSU sich dafür einsetzen, dass die Steuerklasse V abgeschafft wird?
Frau Kollegin, ich habe in meinem Beitrag bereits
darauf hingewiesen, dass wir von ähnlich hohen Grundfreibeträgen ausgehen, und zwar für alle Familienmitglieder, also einschließlich der Kinder. Wir sind uns auch
in der Fortführung des Ehegattensplittings einig. Insofern wird sowohl in Ihrem als auch in unserem Entwurf
die familienpolitische Komponente berücksichtigt.
Lassen Sie mich fortfahren - meine Redezeit geht zu
Ende -: Nach alledem weist der FDP-Entwurf im Grundsatz in die richtige Richtung. Die CDU/CSU-BundesPeter Rzepka
tagsfraktion wird sich konstruktiv in die Beratung einbringen, um den Entwurf zu verbessern und bestehende
Mängel zu beheben. In der vorliegenden Fassung jedenfalls ist er noch nicht beschlussreif.
Während sich die Regierungsfraktionen an der Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe mit all ihren negativen Arbeitsmarkt- und
Ausbildungsplatzeffekten abarbeiten, leisten die Oppositionsfraktionen einen Beitrag zu einem radikalen Neuanfang im Steuerrecht, mit dem den Anforderungen an die
steuerliche Gerechtigkeit entsprochen wird, die Leistungsbereitschaft gefördert wird und Deutschland im
Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze wieder
bestehen kann.
Wir fordern die Regierungskoalition auf, klar zu sagen, ob sie bereit ist, einen solchen radikalen Neuanfang
im Steuerrecht mitzutragen und beratungsfähige Gesetzentwürfe vorzulegen. Die Unionsfraktion ist bereit, ein
solches Steuerrecht noch in diesem Jahr zu beraten und
zu verabschieden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 15/2349 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 d sowie
die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf:
28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk
Manzewski, Joachim Stünker, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Siegfried
Kauder ({0}), Dr. Norbert Röttgen,
Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({1}), Irmingard
Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
sowie den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer
Funke, Sibylle Laurischk, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes § 201 a StGB ({2})
- Drucksache 15/2466 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll betreffend die Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem
Ozon ({4}) vom
30. November 1999 im Rahmen des Übereinkommens von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung
- Drucksache 15/2410 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Dirk Fischer ({6}), Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Planung und städtebauliche Zielvorstellungen
des Bundes für den Bereich beiderseits der
Spree zwischen Marschall- und Weidendammer Brücke vorlegen
- Drucksache 15/2157 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
2003 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
({8})
- Drucksache 15/2020 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({9})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten HansMichael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel
Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden
landwirtschaftlicher Unternehmen ({10})
- Drucksache 15/2468 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Dirk Niebel, Daniel Bahr
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Genfer Abkommen als Ausdruck zivilgesellschaftlicher Friedensinitiative unterstützen
- Drucksache 15/2195 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({13})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowie
27 auf. Hier handelt es sich um Beschlussfassungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des
Geflügelfleischhygienegesetzes und des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes
und sonstiger Vorschriften
- Drucksache 15/2293 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({15})
- Drucksache 15/2480 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Ursula Heinen
Hans-Michael Goldmann
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2480, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Seeverkehrsabkommen
vom 10. Dezember 2002 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Regierung der
Volksrepublik China andererseits
- Drucksache 15/2284
({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({17})
- Drucksache 15/2444 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({18})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/2444, diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Möchte sich jemand der
Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Auch dieser
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959
über die Rechtshilfe in Strafsachen und die
Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 15/2254 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 15/2445 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Dr. Jürgen Gehb
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/
2445, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. Möchte jemand gegen den Gesetzentwurf stimmen? Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli
2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die ErgänVizepräsident Dr. Norbert Lammert
zung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die
Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 15/2255 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({22})
- Drucksache 15/2446 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Siegfried Kauder ({23})
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2446, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Möchte
sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Dritten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses
zu 20 gegen die Gültigkeit der Wahl zum
15. Deutschen Bundestag eingegangenen
Wahleinsprüchen
- Drucksache 15/2400 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Hermann Bachmaier
Hans-Joachim Hacker
Petra-Evelyne Merkel
Dr. Hans-Peter Friedrich ({24})
Manfred Grund
Thomas Strobl ({25})
Jürgen Koppelin
Der Wahlprüfungsausschuss empfiehlt, die aus den
Anlagen 1 bis 16 ersichtlichen Beschlussempfehlungen
zu diesen Wahleinsprüchen anzunehmen. Hierzu ist getrennte Abstimmung verlangt.
Ich rufe zunächst die in den Anlagen 1 bis 10 aufgeführten Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen
auf. Wer stimmt diesen Anlagen mit den darin aufgeführten Beschlussempfehlungen zu? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlungen zu den
Wahleinsprüchen in den Anlagen 1 bis 10 sind damit
einstimmig angenommen.
Wer stimmt für die aus der Anlage 11 ersichtliche Beschlussempfehlung zu dem diesbezüglichen Wahleinspruch? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung zu dem Wahleinspruch in der Anlage 11 ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wer stimmt für die aus den Anlagen 12 bis 16 ersichtlichen Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses zu weiteren Wahleinsprüchen? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlungen sind einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 90 zu Petitionen
- Drucksache 15/2449 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 91 zu Petitionen
- Drucksache 15/2450 Wer stimmt dafür? - Wer möchte dagegen stimmen? - Wer enthält sich? - Auch diese Sammelübersicht
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 92 zu Petitionen
- Drucksache 15/2451 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 93 zu Petitionen
- Drucksache 15/2452 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
- Drucksache 15/2453 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Sammelübersicht gegen die
Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
zu dem Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur
Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften
über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ({31})
- Drucksache 15/2285 ({32})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({33})
- Drucksache 15/2486 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Ingo Wellenreuther
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2486, diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt gegen diesen Gesetzentwurf? - Wer möchte
sich der Stimme enthalten? - Dieser Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Wir bleiben bei Tagesordnungspunkt 27:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Harmonisierung des Haftungsrechts im
Luftverkehr
- Drucksache 15/2359 ({34})
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2486, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wer dieser Beschlussempfehlung und damit dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen will, den bitte
ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf angenommen.
Ich bedanke mich für die große Disziplin bei dem Abarbeiten dieser Tagesordnungspunkte.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung?
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
Erstem dem Kollegen Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSUFraktion.
({35})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom vergangenen Dienstag, über die wir heute im Bundestag debattieren, ist eine Niederlage für die Bundesregierung.
({0})
Entscheidend ist, dass es nicht nur eine juristische, sondern auch eine politisch-moralische Niederlage ist, die
daraus erwachsen ist, dass Sie sich vor der Verantwortung gedrückt haben. Das ist nun auch durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden.
Sie haben sich vor der Beantwortung einer Frage gedrückt - das ist nicht irgendeine Frage -, bei der es um
den Schutz der Bevölkerung, der Bürger, von Männern,
Frauen und Kindern, vor gefährlichen Gewaltverbrechern geht. Hier waren Sie aufgefordert, zu entscheiden.
({1})
Aber Sie haben sich nicht entschieden. Vielmehr haben
Sie sich hinter einer fadenscheinigen Alibiausrede versteckt. Sie haben behauptet, dass Sie gar nicht entscheiden dürften; denn dies zu regeln sei nicht Sache des
Bundes, sondern der Länder. Das ist nun eindeutig klargestellt worden: Mit 8 : 0 Stimmen hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das natürlich Bundessache ist. Es war auch abwegig, zu behaupten, dass dies
Ländersache sei. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie das genau gewusst haben; denn so schlecht können die Juristen
im Bundesjustizministerium gar nicht sein. Im Gegenteil: Sie sind gut. Deshalb haben Sie gewusst, dass es
sich hier um eine Reaktion des Staates auf Straftäter handelt, dass es also um das Strafrecht und damit um Bundesrecht geht. Sie im Bundestag waren gefordert, zu entscheiden. Aber Sie haben sich versteckt und nicht
gehandelt. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen.
({2})
Der Grund, warum Sie sich versteckt haben, ist, dass
Sie sich in der Koalition - das ist ein Musterbeispiel für
die Handlungsunfähigkeit rot-grüner Rechtspolitik nicht einig sind. Viele von Ihnen teilen die Meinung von
Herrn Stünker, dem rechtspolitischen Sprecher der SPDFraktion. Er hat vor sechs und noch einmal vor drei Monaten im Bundestag zur Sicherungsverwahrung ausgeführt - mir liegen die entsprechenden Stenografischen
Berichte vor -: Sie ist verfassungswidrig. In der Sache
wollen wir sie nicht. - Das ist Ihre Position, Herr
Stünker.
({3})
Andere in der Koalition teilen diese Meinung nicht. Der
Bundesinnenminister zum Beispiel sagt: Wir wollen sie
haben. - Sie waren also nicht handlungsfähig, weil Sie
nicht einig waren. Sie hatten weder den Mut, zu sagen,
die Gesellschaft solle das Risiko eingehen, noch den
Mut, zu entscheiden, dass die Gesellschaft vor solchen
Verbrechern geschützt werden muss. Deshalb haben Sie
sich versteckt, und das, obwohl es um den Schutz der
Bevölkerung vor gefährlichen Gewaltverbrechern geht,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit Wiederholungstäter
sein werden. Sie haben sich versteckt und nicht gehandelt, obwohl eine Mehrheit in diesem Hause - wir haben
einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht - handeln wollte. Das, was die politisch-moralische Niederlage ausmacht, ist diese Verantwortungsverweigerung.
Das ist ein Tiefpunkt in der politischen Kultur unseres
Landes. In dieser Frage haben Sie abgewogen und
schließlich entschieden, das Koalitionswohl vor das Gemeinwohl, das Parteiwohl vor das Bürgerwohl zu stellen. Ihnen war also das Wohl der Koalition näher als das
der Bürger. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen.
({4})
Niemand, auch wir nicht, hat aber Grund, sich über
die Niederlage, die Sie erlitten haben, zu freuen. Auch
das Fehlen politischer Kultur und die Folgen Ihrer Entscheidung bieten keinen Anlass zur Freude; denn das
wird man in Zukunft nicht einfach korrigieren können,
auch wenn das Bundesverfassungsgericht bis an seine
Grenzen gegangen ist.
Es ist nicht einfach korrigierbar. Stellen Sie sich einmal vor, die beiden Inhaftierten, die geklagt haben, hätten nicht in Bayern oder Sachsen-Anhalt gelebt, sondern
in Nordrhein-Westfalen oder in einem der elf Länder, die
solche im Notstand, sozusagen, erlassenen Landesregelungen nicht getroffen haben! Sie wären schlicht und ergreifend freigelassen worden! Sie wären auf die Gesellschaft losgelassen worden! - Wer weiß, in wie vielen
Fällen so etwas stattgefunden hat? Wer weiß es? Es sind
immerhin Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht
mit Mehrheit entschieden hat: Die Betroffenen sind so
gefährlich, dass sie selbst auf verfassungswidriger
Grundlage weiter inhaftiert bleiben müssen, weil wegen
der konkreten Gefahr für die Bürger ihre Entlassung
nicht zu verantworten ist.
In anderen Ländern findet das aber statt. Da gilt die
von Ihnen befürwortete und zu verantwortende Rechtslage. Der Staat entlässt solche Straftäter sehenden Auges. Er weiß um die Gefährlichkeit der Straftäter, die ja
schon Verbrechen begangen haben. Er sagt aber: Wir
können keine Sicherungsverwahrung anordnen. Die
Grundlage ist verweigert worden. - Er wartet also darauf, dass ein weiteres Verbrechen begangen wird. Im
nächsten Urteil kann dann nach der jetzigen Rechtslage
die Sicherungsverwahrung angeordnet werden.
Meine Damen und Herren, diese Absurdität,
({5})
diese Ungeheuerlichkeit des geltenden Bundesrechts
können Sie keinem Bürger verständlich machen.
({6})
Sie können keinem Bürger verständlich machen, dass
der Staat geradezu zusieht, wie Verbrechen begangen
werden,
({7})
und erst dann in der Lage ist, zu entscheiden.
Diese Entscheidung hat Konsequenzen. Wir sind bereit, diese Konsequenzen zu ziehen. Wir hatten Gesetzentwürfe eingebracht. Sie haben sie abgelehnt. Wir werden sie erneut in den Bundestag einbringen. Wir sind
bereit, zu handeln.
Herr Kollege!
Eine letzte Bemerkung, eine letzte Warnung an Sie,
({0})
weil ich wieder feststelle, dass Ihre Handlungsunfähigkeit und Ihre Uneinigkeit geblieben sind.
({1})
Ich warne Sie davor, erneut einer bundeseinheitlichen
Regelung auszuweichen und eine Länderregelung zu
versuchen, nur weil Sie das im Bund nicht hinbekommen. Sie sind nun durch das Bundesverfassungsgericht
aufgefordert, endlich Ihre Pflicht zu tun.
({2})
Werden Sie Ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen
und Bürger gerecht und schaffen Sie eine bundeseinheitliche Regelung!
({3})
Bevor ich der Bundesministerin Brigitte Zypries das
Wort erteile, weise ich noch einmal auf etwas hin, was
nicht so gänzlich neu ist, nämlich dass die Redezeit in
Aktuellen Stunden jeweils genau fünf Minuten beträgt.
({0})
Frau Ministerin, bitte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Röttgen, diese Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts ist keine Niederlage für
diese Bundesregierung,
({0})
sondern sie ist eine Niederlage für den Gesetzgeber der
13. Legislaturperiode.
({1})
Der Gesetzgeber der 13. Legislaturperiode
({2})
wurde mehrheitlich von Ihrer Partei zusammen mit der
FDP gebildet.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht schreibt auf Seite 69
des Umdrucks - da geht es um die Frage der Kompetenzen; ich darf zitieren -:
Die Länder sind zu ergänzenden Regelungen nicht
befugt, denn das Recht der Sicherungsverwahrung
ist im Strafgesetzbuch umfassend und abschließend
geregelt.
({4})
Dies folgt zunächst aus einer Analyse der letzten
großen Reform dieses Rechtsgebiets vor der Verabschiedung des Bayerischen Straftäterunterbringungsgesetzes und des Sachsen-Anhaltischen Unterbringungsgesetzes. Das Gesetz zur Bekämpfung
von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998
({5})
sollte dem gesamten damals geäußerten Reformbedarf Rechnung tragen und verzichtete bewusst
({6})
auf einen weiter gehenden Ausbau der Maßregel
der Sicherungsverwahrung.
({7})
Das zeigt, weshalb die Länder keine Gesetzgebungskompetenz haben. Es wurde schon 1998 abgelehnt.
({8})
Ich mache jetzt nur einen historischen Abriss, damit
wir hier nicht immer so geschichtslos darüber reden;
({9})
das ist der Punkt; darum geht es jetzt.
({10})
Sie haben damals im Ausschuss auch den Antrag der
SPD abgelehnt, eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung einzuführen.
Hauptsächlich hat die Bundesministerin der Justiz das
Wort.
({0})
Nachdem wir uns darüber verständigt haben, dass der
Anteil, den Ihre Partei an dieser Entscheidung trägt,
doch ein ganz überwiegender ist, sollten wir jetzt gemeinsam nach vorn gucken und feststellen, was aufgrund dieser Entscheidung nun zu tun ist.
({0})
Tatsache ist nämlich - Karlsruhe hat so entschieden -,
dass der Bund eine Gesetzgebungskompetenz hat. Es ist
nur eine theoretische Möglichkeit, diese Gesetzgebungskompetenz nicht wahrzunehmen. Das werden wir nicht
tun.
Die andere Variante, Länderöffnungsklauseln aufzunehmen - auch sie wird durch diese Entscheidung nahe
gelegt -, halte ich auch nicht für einen guten Weg.
({1})
Man hat gesehen, dass es - auch weil man schnell handeln muss - in der Tat sinnvoller ist, eine einheitliche
Regelung zu finden. Eine Länderöffnungsklausel mit
entsprechenden Ländergesetzen lässt sich vom Ablauf
her bis zum 30. September überhaupt nicht verwirklichen.
({2})
- Ich sage nur, welche Handlungsmöglichkeiten es nach
der Entscheidung - ich habe sie gelesen; ich weiß nicht,
ob Sie sie gelesen haben - gibt.
({3})
Wir sehen uns in der Pflicht, jetzt zu handeln, um genau das zu tun, was notwendig ist: die Bevölkerung vor
schweren Straftaten schützen. Wir werden deshalb in
den nächsten Tagen einen Gesetzentwurf vorlegen, der
eine nachträgliche Sicherungsverwahrung vorsieht.
({4})
Dieser Gesetzentwurf wird den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in dieser Entscheidung und in der
Entscheidung von letzter Woche Rechnung tragen. Die
Zeit drängt;
({5})
deshalb bin ich froh, dass ich Ihnen bereits heute skizzieren darf, verehrter Herr Abgeordneter, was wir uns vorstellen.
({6})
Sie werden sehen: Wir haben schon Überlegungen angestellt. Ich sagte bereits, dass das Gesetz in wenigen Tagen fertig sein wird. Da sich das Hohe Haus mit den Details befassen muss, sage ich schon jetzt, was wir uns
ungefähr vorstellen, damit wir dann alle gemeinsam
schnell in die Sacharbeit einsteigen können.
({7})
Was wollen wir machen? Das bestehende System der
Sicherungsverwahrung und der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung werden wir um eine weitere Vorschrift
ergänzen, die dem Umgang mit den wenigen Tätern, um
die es hier geht, Rechnung trägt. Das sind nämlich die
Täter, für die - wie in Sachsen-Anhalt - aus rechtlichen
Gründen oder aus tatsächlichen Gründen bislang nicht
Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte, weil
sich erst im Vollzug herausgestellt hat, dass von ihnen
eine erhebliche Gefährdung ausgeht.
Eine Regelung, die sich in dieses System einpasst,
muss im Großen und Ganzen dasselbe Verfahren wie bei
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung beinhalten.
Das heißt, es gelten die Überprüfungsfristen wie bei der
Unterbringung nach § 66 StGB oder nach § 66 a StGB.
Das sichert zum einen die Rechte der Betroffenen und
ihre Chance darauf, entlassen zu werden, wenn eine Person als nicht mehr gefährlich gilt. Auf der anderen Seite
ermöglicht es aber auch, einen Betroffenen gegebenenfalls, also wenn es erforderlich ist, unbefristet in Sicherungsverwahrung zu behalten.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass es hierbei um das überragende Schutzinteresse der Bürger im Hinblick auf Leben, auf körperliche
Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung geht.
Wir unterhalten uns deshalb - so meine wenigstens ich nicht über kleine Diebe oder kleine Betrüger und deren
nachträgliche Sicherungsverwahrung. Eine solche Ausdehnung wäre mit den Vorgaben, die das Gericht gemacht hat, wohl kaum zu vereinbaren.
({8})
Wir müssen die Entscheidung - das werden wir im
Gesetz so vorsehen -, ob eine nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen ist, an
eine umfassende Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit, seiner Taten und seines Verhaltens im Vollzug
knüpfen. Karlsruhe hat ganz eindeutig erkennen lassen,
dass beispielsweise allein eine Therapieverweigerung als
Begründung für die Verhängung der Sicherungsverwahrung nicht ausreicht. Wesentlich ist vielmehr - das
wurde in den Entscheidungen mehrfach betont - das
Gesamtbild, das sich aus der Anlasstat und dem Verhalten im Vollzug ergibt.
Wir werden zu diskutieren haben, ob wir nicht in die
Regelung auch diejenigen einbeziehen müssen, die sich
nicht in einer Strafhaft, sondern im Vollzug einer Maßregel nach § 63 StGB befinden, wenn sich nämlich herausstellt, dass die psychische Störung nicht mehr besteht
und sie damit aus der Psychiatrie zu entlassen wären,
gleichwohl aber ihre Gefährlichkeit festgestellt wird.
Dazu ist bisher noch von niemandem ein Vorschlag vorgetragen worden. Diese Überlegung ist neu. Wir müssen
uns gemeinsam darüber verständigen, wie wir diesen
Fall regeln wollen.
Zudem müssen wir eine Übergangsregelung - das
werden wir auch tun - für diejenigen schaffen, die jetzt
aufgrund dieser für verfassungswidrig erklärten Gesetze
einsitzen und die erst einmal überprüft werden müssen,
ehe eine neue Sicherungsverwahrung gegebenenfalls
verhängt werden kann. Das heißt, wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie wir es schaffen, dass diejenigen, die aufgrund der Landesgesetze jetzt noch einsitzen,
so lange in Gewahrsam bleiben, bis sie erneut begutachtet worden sind und ein Gericht darüber entschieden hat,
ob die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung
vorliegen oder nicht.
Um diese Punkte geht es aufgrund dieser Entscheidung hier. Sie sind überschaubar. Dadurch, dass diese
Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode schon
das Instrument der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung eingeführt hat, auf das wir in der Systematik zurückgreifen können, bin ich auch sehr zuversichtlich,
dass wir erstens sehr schnell einen Gesetzentwurf werden vorlegen können und ihn zweitens auch sehr schnell
beraten können.
Ich hätte die herzliche Bitte, dass die anfänglichen
Quisquilien darüber, wer denn nun mehr Schuld als der
andere habe, zurückgestellt werden, damit wir gemeinsam auf alle Fälle wenigstens sicherstellen ({9})
- ich habe ja gesagt, was ich davon halte; ich glaube
nicht, dass Sie dabei besser abschneiden -, den von
Karlsruhe
({10})
- es redet überwiegend immer noch die Bundesjustizministerin, Herr Röttgen - gesetzten Termin zu erreichen.
Eines ist doch klar: Es liegt im Interesse dieses Hauses
und auch im Interesse der Bundesländer, dass die Menschen, um die es hier geht, nicht freigelassen werden.
({11})
Daran kann doch auch aller politischer Dissens nichts
ändern. Deswegen bitte ich sehr darum, dass das Gesetz
mit der gebotenen Eile, aber gleichzeitig mit der notwendigen Gründlichkeit hier im Hause beraten wird.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, dass es hier nicht, wie es die Bundesjustizministerin gerade gesagt hat, um Quisquilien geht, sondern
Fragen zur Entscheidung anstehen, die ganz außerordentlich wichtig sind und auch sorgfältig geprüft und debattiert werden müssen.
({0})
- Hören Sie doch überhaupt erst einmal zu, bevor Sie
sich aufregen. Sie müssen ja offensichtlich sehr nervös
sein. Ich habe auch großes Verständnis dafür, dass Sie so
nervös sind. Ich werde darauf nämlich noch eingehen.
Auf der einen Seite haben wir das Verfassungsrecht
zu beachten, und zwar streng. Der Rechtsausschuss des
Deutschen Bundestages hat dazu Anhörungen durchgeführt, die uns klare Aussagen gebracht haben, übrigens
auch von Sachverständigen, die von der CDU/CSU benannt worden sind.
Auf der anderen Seite haben wir hochgefährliche Täter. Das hat offensichtlich das Bundesverfassungsgericht
dazu veranlasst, eine Übergangsregelung vorzusehen, in
der der Gesetzgeber die Chance hat nachzubessern. Man
hat wohl eine Gefahr darin gesehen, wenn diese Personen unmittelbar in die Freiheit entlassen würden.
({1})
Das ist ungewöhnlich. Hieraus ergibt sich damit auch
eine Verpflichtung für uns.
Trotzdem muss ich hier den Sachverhalt ansprechen,
dass ich bei kaum einer Frage während der Zeit, in der
ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, so viele
rechtliche Volten vonseiten der Koalitionsfraktionen wie
bei dieser erlebt habe. Als die CDU/CSU, übrigens wie
auch die FDP, die Auffassung vertrat, dass hier der Bundesgesetzgeber gefragt ist, hat der Kollege Stünker uns
vorgeworfen, wir befänden uns im strafrechtlichen Mittelalter.
({2})
Er hat ebenso klar wie damals der Vertreter des Bundesjustizministeriums gesagt, dass es bei dieser Frage um
Gefahrenabwehr gehe. Deshalb habe das Ganze im Bundesrecht nichts zu suchen. All diesen Auffassungen und
auch Ihnen persönlich, Herr Kollege Stünker, ist vom
Bundesverfassungsgericht eine schallende Ohrfeige verpasst worden.
({3})
Ich erkenne ja an, dass Sie irgendwann Ihre Meinung
geändert haben und plötzlich auch für eine bundesrechtliche Regelung der Sicherungsverwahrung waren. Diese
haben wir dann ja auch im Jahre 2002, übrigens mit den
Stimmen der FDP,
({4})
verabschiedet. Die Lösung, die wir damals gefunden haben, haben wir nach sorgfältiger Prüfung beschlossen.
Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Ich persönlich
wäre bereit gewesen, weiter zu gehen, aber die Argumente der Verfassungsrechtler, dass das der Rahmen sei,
in dem wir uns bewegen könnten, haben mich ganz außerordentlich überzeugt. Ich habe jetzt von der Bundesjustizministerin keine neuen Argumente gehört, die uns
gegen die damaligen Auffassungen der Verfassungsrechtler die Freiheit geben, das Ganze so zu regeln, wie
es jetzt gerade hier skizziert worden ist. Ich will deshalb
ankündigen, dass wir sehr sorgfältig und sehr genau als
eine dem Rechtsstaat und der Verfassung verpflichtete
Partei prüfen werden, ob der Weg, der vom Bundesjustizministerium vorgeschlagen wird, gangbar ist.
Eines will ich aber auch deutlich machen - damit
komme ich auf den Beginn meiner Rede zurück -: Wir
haben es hier mit hochgefährlichen Tätern zu tun. Nach
meiner Kenntnis sind im Augenblick fünf Personen in
dieser besonderen Form der Verwahrung. Deshalb werden wir natürlich erneut und sorgfältig in die Prüfung
eintreten müssen, wie wir hier zu einer Lösung kommen
können.
Aber eines ist für die Liberalen ganz klar: Es muss
eine verfassungsfeste Lösung sein. Denn es hilft uns
nichts, wenn wir hier irgendetwas beschließen, was hinterher einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhält.
({5})
Ich muss sagen: So klar das Urteil gewesen ist, es hat
mir nicht gefallen, dass diese Täter auch noch vom
höchsten deutschen Gericht Recht bekommen haben.
Das hätten wir vermeiden können. Deshalb müssen wir
die einzelnen Fragen bei den anstehenden Diskussionen
sehr sorgfältig prüfen. Das wird die Linie sein, mit der
die FDP in diese Beratungen geht.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Dieses Urteil bietet nun wahrlich keinen Grund, von einer Ohrfeige zu sprechen, die die Bundesregierung oder
die Parlamentsmehrheit von Rot-Grün bekommen hätten. Das Gericht hat sich große Mühe gegeben und in
erster Linie eine Zuständigkeitsfrage entschieden,
indem es festgestellt hat, dass - dafür spricht tatsächlich
vieles - nicht die Länder zuständig sind, sondern der
Bundesgesetzgeber.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht gesagt,
dass wir eine nachträgliche Sicherungsverwahrung brauchen; es hat nicht einmal gesagt, dass diese mit Sicherheit zulässig ist. Die Mehrheit der Richter des Bundesverfassungsgerichts hat ausdrücklich betont, dass eine
solche Regelung nicht von vornherein das Verdikt der
Verfassungswidrigkeit trägt. Das heißt, selbst dieses Gericht kommt zu dem Schluss, dass ganz genau überlegt
werden muss, ob nicht beispielsweise das Rückwirkungsverbot und andere verfassungsrechtlich sehr wichtige Grundsätze gegen eine solche Regelung sprechen,
wie sie beispielsweise Bayern und Sachsen-Anhalt geschaffen haben.
Das heißt, hier ist ein ganz wichtiger Abwägungsprozess vorzunehmen. Das haben wir vor. Eine Entscheidung ist zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht sagt
nicht mehr, als dass der Bundesgesetzgeber entscheiden
soll, ob er selbst für eine Regelung sorgt,
({0})
ob er überhaupt ein zusätzliches Eingreifen für erforderlich hält oder ob der Bund den Ländern die Kompetenz
dafür überträgt. Es wäre durchaus denkbar, dass überhaupt nichts geschieht, weil - so haben es die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts, die die Minderheitsmeinung vertreten haben, formuliert - die Maßnahmen,
die schon heute möglich sind, ausreichen, zum Beispiel
Führungsaufsicht, Weisungen, Unterbringung in einer
psychiatrischen Anstalt und Ähnliches, um vor gefährlichen Tätern die Sicherheit zu wahren und die Bevölkerung vor ihnen zu schützen.
({1})
Das sind alles wichtige Fragen, die wir prüfen müssen. Wir können nicht einfach ohne Prüfung wie Bayern
und Sachsen-Anhalt vorgehen, wie Sie es vorschlagen.
Meine Bedenken gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung - das sage ich Ihnen ganz deutlich - sind
durch die beiden Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht mit zu entscheiden hatte, eher bestätigt worden.
Wir wissen - auch das Bundesverfassungsgericht hat das
ausdrücklich festgestellt - dass die Sicherungsverwahrung und die nachträgliche Sicherungsverwahrung Regelungen sind, die die Nazis im November 1933 ins Strafgesetzbuch eingeführt haben. Das sollte für uns alle ein
Grund sein, ganz genau hinzuschauen.
Jeder Gefangene - auch Sie haben ja hin und wieder
mit ihnen zu tun - empfindet die Sicherungsverwahrung
natürlich als Strafe ohne Schuld, die er zu erleiden hat,
({2})
denn die strafrechtliche Schuld hat er ja bereits verbüßt.
Wenn die Gerichte in Bayern und in Sachsen-Anhalt die
Gefährlichkeit der beiden Männer, die jetzt weiterhin in
Sicherungsverwahrung sitzen, damit begründet haben,
dass sie sich keiner Therapie unterziehen wollten,
({3})
dann bestätigt das meine Bedenken. Gutachter dürfen
nicht zu dem Ergebnis der Gefährlichkeit kommen, weil
das Fehlen einer Therapie nicht ausreicht. Selbst dem
Bundesverfassungsgericht war offensichtlich sehr unwohl, denn es hat gesagt, die Instanzgerichte seien aufgefordert, die Entscheidung zu überprüfen und festzustellen, ob die Gesamtwürdigung der Täter und der Taten
eine längere Unterbringung in der Sicherungsverwahrung überhaupt rechtfertigt.
Wenn ich all das berücksichtige, dann kann ich nur zu
dem Ergebnis kommen: Wir haben nicht nur die Aufgabe, eine Entscheidung zu fällen, sondern auch, nochmals sehr gründlich abzuwägen. Insbesondere müssen
wir das beachten, was uns die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Dissenting Vote mit auf
den Weg gegeben haben, nämlich dass es nach dem
Rückwirkungsverbot, das aus guten Gründen Verfassungsrang hat, eine äußerst problematische Angelegenheit ist - es ist fraglich, ob, in welchem Maße und mit
welchen Einschränkungen so etwas passieren kann -,
wenn der Gesetzgeber eine Regelung erlässt, die für
Menschen, die ihre Strafe bereits verbüßt haben, bedeutet, dass sie weiterhin jahrelang, möglicherweise ein
ganzes Leben lang, in der Haft bleiben müssen.
({4})
Diese Entscheidung werden wir uns nicht leicht machen. Bei dieser Entscheidung sind alle Möglichkeiten
offen. Ich kann nur sagen: So wie es die beiden Länder
Sachsen-Anhalt und Bayern geregelt haben, so kann eine
Regelung jedenfalls nicht aussehen und so darf sie nicht
aussehen, weil sie mit den Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in das Urteil geschrieben hat, inhaltlich
nicht zu vereinbaren ist.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation ist viel zu ernst, um unlautere Argumente zuzulassen, wie sie beispielsweise der Kollege Ströbele verbreitet; denn er weiß ganz genau, dass eine Maßregel der
Besserung und Sicherung keine Strafe ist und dass das
Verbot der Doppelbestrafung ihr nicht entgegensteht.
({0})
Es brennt lichterloh. Was mich am meisten ärgert, ist
nicht, dass die Bundesjustizministerin versucht, den
schwarzen Peter im Kreis herumzutragen. Was mich
auch ärgert, ist der Umstand, dass wir unnötig sehr viel
Zeit verloren haben.
({1})
Dass die landesrechtlichen Regelungen verfassungsrechtlich bedenklich sind, wissen wir nicht erst seit der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004. Man braucht nur bei Kinzig in der NJW
2001 auf Seite 1455 nachzulesen. Dort sind genau die
verfassungsrechtlichen Bedenken, wie sie sich aus der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben,
aufgeführt.
Wir müssen auch über konkrete Fälle sprechen. Der
Fall aus Sachsen-Anhalt betraf einen damals 17-Jährigen, der die Schwägerin seiner Freundin mit einem
Hammer erschlagen hat, weil sie ihm nicht willfährig
war. Die Tat wurde zwei Tage später entdeckt. Der 2-jährige Sohn des Tatopfers saß blutverschmiert, verstört
und völlig unterkühlt neben seiner Mutter. Der Täter bekam damals in der alten DDR eine Jugendstrafe von
15 Jahren. Die Hälfte davon musste er absitzen. Zwei
Monate nach der Haftentlassung hat er versucht, eine
20-jährige Frau, die ihm ebenfalls nicht willfährig war,
zu erstechen. Diese Frau leidet noch heute an Nervenstörungen und an einer Gehbehinderung. Ich sage das nur,
damit jeder weiß, wovon wir sprechen.
Frau Justizministerin, es ist vielleicht geboten, nicht
mit Häme auf eine zurückliegende Legislaturperiode zu
verweisen, sondern das Gesetz aus dem Jahre 1998, mit
dem in § 66 Abs. 3 StGB eine neue Vorschrift eingeführt
wurde, zu analysieren. Denn die beiden Fälle, über die
das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat, sind
so genannte Altfälle, weil die Taten vor dem Jahr 1998
liegen. Wären sie heute geschehen, könnten sie nach
dem jetzt bestehenden § 66 Abs. 3 StGB - das ist eine
Leistung nicht Ihrer, sondern unserer damaligen Regierung ({2})
sehr wohl gelöst werden. Die Sicherungsverwahrung,
die damals nach altem Recht nicht möglich war, wäre
jetzt nach § 66 Abs. 3 StGB möglich.
Aber wir dürfen uns nicht hinter diesen Fällen verstecken. Es geht hier nämlich nicht allein um die Regelung
von zwei Altfällen. Es geht schlicht und ergreifend um
die Problematik, dass sich manchmal erst im Strafvollzug Persönlichkeitszüge eines Täters zeigen, die nach
der Prognose des erkennenden Gerichts noch nicht feststellbar waren. Was liegt näher, als die Entwicklung des
Straftäters in der Strafhaft bei der Prognoseentscheidung
über seine Gefährlichkeit mit einzubeziehen? Also
schreit doch genau das, was der Gesetzgeber früher
schon wollte, nämlich eine sichere Prognoseentscheidung treffen zu können, nach der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
Ich räume natürlich ein: Dies ist kein einfach zu lösendes Problem,
({3})
weil sich hier die Sicherheit der Allgemeinheit und die
grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte eines Straftäters und Verurteilten gegenüberstehen.
({4})
Das ist ein Konflikt, den der Gesetzgeber zu lösen hat.
Nur, da hat das Justizministerium schändlich versagt,
Zeit wurde verschenkt, die man jetzt aufholen muss.
Denn haben wir dies bis zum 30. September dieses Jahres nicht geschafft, erhält die Bundesjustizministerin die
rote Karte und die zwei Straftäter - einen Fall habe ich
Ihnen geschildert; dieser Straftäter hat eine Frau umgebracht und versucht, eine zu töten - sind dann auf freiem
Fuß. Das werden wir nicht wollen.
({5})
Unsere Unterstützung haben Sie. Wir helfen mit, zu
einer sachlichen Lösung zu kommen. Aber wir lassen
uns nicht gefallen, dass Sie uns Dinge vorwerfen, die
rechtlich nicht haltbar und politisch nicht vertretbar sind.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Uwe
Benneter, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss eines
klar sein: Wir haben die gemeinsame Verantwortung,
schnell dafür zu sorgen, dass die Täter, um die es hier
geht, nicht zum 1. Oktober dieses Jahres freigelassen
werden.
({0})
Deshalb macht es keinen Sinn, Herr Kollege Kauder,
sich wechselseitig vorzuhalten, dass man die größere
Verantwortung wahrnehmen würde. Für uns gibt es in
dieser Frage kein Verstecken.
Es gab gute Gründe, dieses Problem zum Bereich der
präventiven Gefahrenabwehr zu zählen und es deshalb
landesgesetzlich zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dies jetzt anders gesehen und hat uns andere
Gründe vorgegeben. Anhand dieser Gründe werden wir
nun rasch, präzise, umfassend und vor allen Dingen
rechtzeitig ein entsprechendes Gesetz vorzulegen haben.
Eines jedenfalls ist uns klar: Diese Täter dürfen nicht in
Freiheit kommen. Die Gesellschaft muss die Sicherheit
haben, dass solche Täter in staatlichem Gewahrsam bleiben.
({1})
Die CDU/CSU hat dies 1998 - darauf ist wiederholt
hingewiesen worden - selbst so gesehen. Deshalb macht
es wenig Sinn, dem Kollegen Ströbele vorzuhalten, er
nehme hier eine unkorrekte Abwägung vor.
({2})
Ich halte es wirklich für eine Frechheit, wenn Sie meinen, Sie müssten uns davor warnen, diese Verfassungsgerichtsentscheidung nicht korrekt zu deuten. Wir deuten
sie so, wie sie uns vorgegeben worden ist. In wenigen Tagen wird uns die Bundesjustizministerin - das hat sie
schon angekündigt - einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorlegen, einen Gesetzentwurf, in dem das Verfahren genau so ausgestaltet sein wird, wie wir es bereits für die
vorbeugende Sicherungsverwahrung vorgesehen haben.
Wir jedenfalls lassen keine Zweifel daran zu, dass
schwerstkriminelle Mörder und Sexualstraftäter nicht in
Freiheit kommen dürfen. Herr Kauder, Sie haben die
Scheußlichkeiten eines Falles dargestellt. Sie können sicher sein, dass keiner der hier Anwesenden dies anders
sieht. Deshalb besteht die gemeinsame Verantwortung,
das, was das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat,
in der Abwägung zwischen einerseits der Menschenwürde, die sicher auch für Straftäter gilt, und andererseits der Sicherung der Allgemeinheit umzusetzen. Dafür sind wir bzw. ist der Staat zuständig. Wir haben diese
Abwägungen vorzunehmen, wobei es einerseits um
hochgefährliche Täter und andererseits um eine verfassungsgerechte Lösung geht.
Dies werden wir - darauf können Sie sich verlassen leisten. Wir in dieser Koalition werden dies bei allen
Schattierungen, unterschiedlichen Ansätzen und bei allen Diskussionen, die darüber in der Vergangenheit stattgefunden haben, umsetzen und keinerlei Zweifel daran
aufkommen lassen, dass solche Täter auch für uns auf
Dauer hinter Schloss und Riegel gehören.
({3})
Ich erteile der Kollegin Michaela Noll, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt Tage, da macht das Zeitunglesen Spaß.
Einer war gestern, denn jetzt herrscht Klarheit. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Frau Ministerin: Sie sind jetzt an der Regierung.
({0})
So sieht es auch die Öffentlichkeit.
({1})
In den Zeitungen hieß es: „Eine schallende Ohrfeige für die
Bundesregierung“ - „Die Welt“, „Danke, ihr Richter“ „Bild“-Zeitung, „Nun muss der Bund sich rühren“ - „Berliner Zeitung“.
Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts können die Menschen in Deutschland aufatmen und ich auch.
({2})
Endlich haben wir Rückendeckung für eine Rechtspolitik bekommen, die Opferschutz höher als Täterschutz
gewichtet.
({3})
Im letzten Jahr haben wir hier an dieser Stelle immer
wieder eine Debatte über den Umgang mit gefährlichen,
nicht therapierbaren Gewalt- und Sexualtätern geführt.
„Wegschließen, und zwar für immer“ forderte Kanzler
Schröder vor einiger Zeit, als in kurzen Abständen
gleich mehrere Sexualmorde an Kindern verübt worden
waren. Das Thema wurde besetzt und es wurde auf Vergessen gesetzt.
Ich frage mich daher immer wieder, warum SPD und
Grüne das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht
ernst nehmen. Bei den Grünen fällt mir die Antwort
leicht: Geht es Ihnen, Herr Ströbele, vielleicht nur darum, Ihr politisch relevantes Klientel zu bedienen?
({4})
- Sie müssen sich gar nicht so aufregen. - Generelles
Misstrauen und Widerwillen gegen Polizei, Staatsanwaltschaft und geschlossenen Vollzug sind die Handschrift grüner Rechts- und Innenpolitik. Wie oft haben
wir dies in der Vergangenheit bereits erlebt! Sprechen
wir einmal Graffiti an,
({5})
sprechen wir die Verschärfung des sexuellen Missbrauchs an. Warum fiel es Ihnen damals so schwer, die
Grundtatbestände nach § 176 Abs. 1 und Abs. 2 StGB
bei Kindern als Verbrechen einzustufen? Deshalb fordere ich Sie jetzt auf: Schluss mit falscher Toleranz;
denn Toleranz hat dort ein Ende, wo Gefährdung der öffentlichen Sicherheit anfängt.
({6})
Mit diesem Urteil wird die Bundesregierung gezwungen umzudenken. Räumen Sie endlich dem Opferschutz
Vorrang vor dem Täterschutz ein. Meine Damen und
Herren von der Regierungsbank, lassen Sie den vielen
Worten, die bereits gefallen sind, jetzt Taten folgen. Es
gilt, schnellstmöglich ein Bundesgesetz zu erlassen.
Deshalb sage ich an dieser Stelle: besser spät als nie. Bis
heute hat die Bundesregierung alle Vorschläge - es waren viele - hartnäckig mit der Begründung blockiert, die
Länder seien zuständig. Weit gefehlt! Diese Begründung
wurde mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
widerlegt. So haben auch Sie, sehr geehrter Herr Kollege
Stünker, eine kleine Nachhilfestunde bekommen. Müssen wir von der Opposition denn der Bundesregierung
immer wieder ihre Verantwortung für den Schutz der
Allgemeinheit ins Bewusstsein rufen? Anscheinend ja.
Die Opfer mahnen uns zu handeln. Die Schicksale ermordeter Kinder wie Kim, Natalie, Tom und Sonja werden uns begleiten.
({7})
Erwarten Sie bitte kein Verständnis von betroffenen Eltern, wenn Sie in dieser Frage immer wieder verzögern
oder blockieren. Die Sicherungsverwahrung trifft keine
Unschuldslämmer. Darum geht es. In Sicherungsverwahrung kommen nur schwere Straftäter.
Zurzeit sitzen 300 schwere Sexualverbrecher und Gewalttäter in Sicherungsverwahrung, davon allein ein
Drittel bei mir in Nordrhein-Westfalen. Ich hatte vor kurzem selbst Gelegenheit, einen Sicherungsverwahrungstrakt in meinem Wahlkreis in Langenfeld zu besuchen.
({8})
Die dort einsitzenden Rückfalltäter werden hoffentlich
keinem Unschuldigen mehr etwas tun.
Die Frist läuft. Sie haben bis zum 30. September Zeit.
So lange müssen die in den unterschiedlichen Bundesländern inhaftierten Sexualstraftäter in Haft bleiben. Ich
sage Ihnen: Das ist gut so.
({9})
Aber es ist ein Armutszeugnis für die Regierung, dass
das Bundesverfassungsgericht trotz Verfassungswidrigkeit der Landesgesetze darauf bestehen muss, dass die
Straftäter in Haft bleiben. Damit war sich das Bundesverfassungsgericht seiner Verantwortung bewusst. Anderenfalls würden sich die hier viel zitierten „tickenden
Zeitbomben“ wieder unter das Volk mischen.
Ich werde nicht lockerlassen, bis wir in Deutschland
ein Gesetz haben, mit dem besonders gefährliche Straftäter weggesperrt werden können, und zwar notfalls für
immer.
Sie, Herr Ströbele, haben wieder nur für die Täter gesprochen und nicht für die Opfer. Gebetsmühlenartig
wiederhole ich deshalb meine alte Forderung: Opferschutz vor Täterschutz!
({10})
Nun sind Sie am Zug. Nach Ihrem Vortrag, Frau Ministerin, habe ich die Hoffnung, dass sich endlich etwas tut.
Es ist höchste Zeit.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Noll, vor fünf Minuten hat Ihr Kollege Kauder die
Hand zu einer sachlichen Diskussion ausgestreckt. Nach
Ihrer Rede ist alles schon wieder vorbei. Bei solcher bodenlosen Phraseologie, solchem Populismus und solchen
Angriffen gegen den Kollegen Ströbele persönlich
({0})
werden wir es offensichtlich nicht schaffen, mit Ihnen
sachlich über diese ganz schwierige Frage zu reden.
Natürlich hat das Bundesverfassungsgericht uns eine
enge Frist gesetzt, zu handeln. Wir werden auch handeln,
wie es der Kollege Ströbele beschrieben hat.
({1})
Wir werden uns ganz genau überlegen, was zu tun ist,
und werden in der gebotenen Frist und Eile das Richtige
tun.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat aber eine noch eiligere Entscheidung angemahnt. Es hat die Gerichte, die
nach Landesrecht die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die noch fünf Betroffenen angeordnet haben,
aufgefordert, unverzüglich ihre Entscheidungen zu überprüfen, und zwar nicht anhand der materiell verfassungswidrigen Kriterien der Landesgesetze, sondern nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
({3})
Es ist durchaus möglich, dass diese Menschen von den
Gerichten freigelassen werden, wenn die verfassungsgeJerzy Montag
mäßen Kriterien des Verfassungsgerichtsurteils auf diese
Fälle angewendet werden.
({4})
Warten wir ab, wie diese Entscheidungen aussehen werden.
Meine Damen und Herren, wir Grüne und auch die
Kollegen der SPD hatten schwere verfassungsrechtliche
Bedenken gegen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. Ich persönlich kann sagen: Wir
haben sie weiterhin. Das Bundesverfassungsgericht hat
nun gesagt, eine nachträgliche Anordnung einer präventiven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter sei „bei
entsprechend enger Fassung nicht von vornherein“ verfassungswidrig. Einen engeren Korridor kann ich mir
kaum vorstellen.
({5})
Deswegen gilt es, diesen engen Korridor, innerhalb dessen eine verfassungsmäßige Regelung überhaupt nur
möglich ist, jetzt schnell auszuloten.
({6})
Dazu will ich an dieser Stelle in der gebotenen Kürze
drei Gedanken vortragen.
Erstens. Das Gericht hat gesagt, dass die Bindung der
Sicherungsentscheidung an die Straftat weiterhin das
entscheidende Element ist.
({7})
Das bedeutet, dass die Bindung an das Bundesrecht nicht
nur formal - über das Strafrecht -, sondern auch verfahrensmäßig und materiell ist: Auch die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist in erster Linie an
die Straftat zu binden, die begangen worden ist.
({8})
- Jetzt sagen Sie es hier: Ja, so ist es. - Aber in den Gesetzen, die für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist genau dies nicht beachtet worden. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehr als deutlicher Art und Weise gesagt,
dass das bayerische Gesetz nicht nur formal - wegen Unzuständigkeit -, sondern auch inhaltlich verfassungswidrig ist, weil es im Wesentlichen auf das Nachtatverhalten, insbesondere auf das Verhalten in der Strafhaft und
eine angeblich verweigerte Teilnahme an einer Resozialisierungsmaßnahme, abzielt.
Das werden wir nicht tun; denn das wäre tatsächlich
verfassungswidrig.
({9})
Auch bei einer nachträglichen Anordnung bleibt es dabei, dass die Straftat der Ausgangspunkt der Überlegungen sein muss und dass das Verhalten danach lediglich
als ergänzendes Argument, wie das Verfassungsgericht
schreibt, herangezogen werden kann. Deswegen bin ich
persönlich im Übrigen auch gegen eine Öffnungsklausel.
Denn ich will nicht, dass die Bayerische Staatsregierung
ihr verfassungswidriges Gesetz noch einmal aus der Tasche ziehen und mittels einer Öffnungsklausel als Landesgesetz einführen kann.
({10})
Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte,
ist: Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass eine nachträgliche Sicherungsverwahrung die umfassende Würdigung der Täterpersönlichkeit voraussetzt. Das bedeutet,
dass eine umfassende Begutachtung notwendig ist. Es
wäre sogar besser - hier übernehme ich gern eine Idee
aus dem bayerischen Landesgesetz -, wenn dabei zwei
Sachverständige eingesetzt würden und wenn sie externe
Sachverständige und nicht solche, die aus dem Vollzug
kommen, wären.
({11})
Auch sagt das Bundesverfassungsgericht, dass sehr hohe
Maßstäbe an die Qualität dieser Gutachten anzulegen
sind, weil in den Gutachten immer Unschärfen in der
Prognosebildung vorhanden sind.
({12})
Ich bin dafür, dass wir uns tatsächlich Gedanken darüber
machen, wie wir die hohe Qualität gerade dieser Ausnahmeentscheidungen verfassungsfest im Gesetz verankern.
({13})
Mein dritter Punkt. Ein rechtsstaatliches Verfahren
muss der Tatsache Rechnung tragen, dass auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung keine isolierte Strafvollstreckungsentscheidung, sondern eine echte Ergänzung des Sachurteils im Erkenntnisverfahren ist.
Herr Kollege!
- Ich komme zu meiner letzten Bemerkung.
Wie schön.
({0})
Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass wir uns
Gedanken darüber machen müssen, dass es sich um eine
öffentliche Verhandlung handeln wird, dass eine umfassende Beweisaufnahme durchgeführt wird, dass eine
volle Verteidigungsmöglichkeit gegeben wird und dass
die Rechtsmittel auch in diesem Verfahren aufrechterhalten werden.
({0})
Das sind meiner Meinung nach die drei Punkte,
Sie hatten aber Ihre letzte Bemerkung angekündigt.
- die in die Debatte eingebracht werden müssen.
Dann werden wir schnell ein gutes und verfassungsgemäßes Gesetz zustande bringen.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Röttgen, auch wenn ein Redner nach
Auffassung der Opposition etwas Richtiges sagt, wird
deswegen nicht seine Redezeit verlängert. Das gilt im
Übrigen auch bei umgekehrter Rollenverteilung.
({0})
Nun hat die Kollegin Dorothee Mantel, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die
Sicherungsverwahrung wird nicht nur in Deutschland diskutiert. Am vergangenen Wochenende gab es in der
Schweiz eine Volksabstimmung zu diesem Thema.
56 Prozent der Bevölkerung stimmten für die Möglichkeit
einer Anordnung der Sicherungsverwahrung und 24 der
26 Kantone sprachen sich mehrheitlich dafür aus. Auch in
Deutschland besteht dringender Handlungsbedarf. Das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag dieser Woche hat eines gezeigt: Die Bundesregierung hat
jahrelang falsche Tatsachen über die Zuständigkeit verbreitet. Jetzt hat die Bundesregierung die Quittung für
ihre Untätigkeit bekommen.
({0})
Vergangene Woche hat die Bundesjustizministerin
eine Rückfallstatistik vorgelegt. Diese Untersuchung
sollte eine Grundlage für künftige Vorhaben im Justizbereich schaffen. Ich hoffe sehr, dass sich die Bundesregierung auch bei der Sicherungsverwahrung zum Handeln
aufgefordert sieht.
({1})
Denn die Union hat schon oft genug darauf hingewiesen, dass der Bund in diesem Bereich ein Gesetz auf
den Weg bringen muss. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist für die Bundesregierung daher eine
klare Niederlage.
({2})
Diese hat es bislang abgelehnt, bundesweit eine einheitliche Regelung zu schaffen.
({3})
- Liebe Frau Kollegin, wenn einem die Sorgen und Probleme der Bevölkerung am Herzen liegen, dann, so
glaube ich, ist es nicht nur Juristen gestattet, über dieses
Thema zu sprechen.
({4})
Eine meiner Kolleginnen, die dort hinten Platz genommen hat, sagt immer, dass auch wir, die wir nicht Juristen sind, gesunden Menschenverstand haben.
Ich möchte noch einmal auf die Rückfallstatistik eingehen. Denn die Erklärung, die das Bundesjustizministerium zur Rückfallstatistik vorgelegt hat, stimmt mich
weniger positiv. Die Verfasser der Studie kommen zu
dem Ergebnis, dass die Rückfallquote bei Strafen mit
Freiheitsentzug höher ist als bei zur Bewährung ausgesetzten Strafen.
({5})
- Auf Sie beide komme ich später noch zu sprechen. - Das
Bundesjustizministerium interpretiert dies so, dass leichtere Strafen zu weniger Rückfällen führen. Tatsächlich
aber werden Bewährungsstrafen eher bei schon positiven
Sozialprognosen ausgesetzt. Man sollte also sehr vorsichtig sein, wenn man hier mit Ursache und Wirkung
argumentiert. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass im
Einzelfall eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe sinnvoller wäre.
Die Sicherungsverwahrung ist eine notwendige und
sinnvolle Regelung, denn nicht immer können mögliche
Gefahren, die von Tätern ausgehen, schon im Zuge einer
Verurteilung erkannt werden. Wer dem nicht zustimmen
kann, sollte sich fragen, ob er nicht an einem falschen
Menschenbild festhält. Leider gibt es in Ihren Reihen
noch immer viele Anhänger der Theorie, dass ein
Mensch immer Opfer der gesellschaftlichen Umstände
sei, demnach auch ein Sexualstraftäter Opfer der gesellschaftlichen Umstände sei. Das ist doch eine verkehrte
Welt, meine Damen und Herren, vor allem, wenn die
wirklichen Opfer den Eindruck haben müssen, dass sich
die Politik mehr um die Täter sorgt als um sie.
({6})
Ich will die Dinge ganz offen beim Namen nennen:
Ihre falsche Täter-Opfer-Einstellung führt in vielen Bereichen des Strafrechts und der Innenpolitik zu großen
Problemen. Immer steht der falsch verstandene Schutz
Einzelner im Vordergrund, aber nicht der Schutz der Bevölkerung, der Schutz der Menschen in unserem Land.
({7})
Wenn ich mit jungen Müttern diskutiere, wie soll ich ihnen das erklären? Es geht nämlich um die richtige Balance zwischen Schutz und Freiheit. Doch leider ist die
Linke in einem falschen Menschenbild verhaftet.
({8})
Anders kann ich auch mir selbst die Aussagen einiger
Kollegen nicht erklären. Herr Montag, Sie machen immer ganz erhebliche verfassungsrechtliche Vorbehalte
gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung geltend.
({9})
Da stimmt doch etwas nicht! Der Schutz der Bevölkerung kann und darf doch nicht weniger hoch wiegen als
die Sorge um die Täter!
({10})
Die ersten Reaktionen der Bundesregierung machen
nicht den Eindruck, als wolle man aus dieser Niederlage
lernen. Bundesinnenminister Schily hat das Urteil zwar
begrüßt. Es bleibt aber zu hoffen, dass er nicht schon ein
Unheil ahnt, nämlich dass bis September nichts passieren wird. Mit der Aussage, er begrüße, dass Frau Zypries
die ersten Schritte schon eingeleitet habe, macht er hoffentlich nicht klar, dass er die Verantwortung dem Justizministerium alleine überlässt.
Ich möchte daher die Bundesregierung auffordern,
mitzuhelfen, dass bis September dieses Jahres eine gesetzliche Regelung geschaffen wird. Die Zeit drängt: Bis
zum 30. September muss der Bund eine Regelung schaffen. Einfach wird das nicht. Frau Zypries, ich setze
meine Hoffnungen auch auf Sie! Doch selbst wenn Sie
es wollten - mit einem Ströbele an dem einen Bein und
einem Montag an dem anderen Bein, da kann man keinen Schritt nach vorne machen.
({11})
Die Verhinderer werden weiterhin im Stillen ihr Werk
betreiben. Jeder in der Koalition, der sich nicht dagegen
wehrt, handelt verantwortungslos! Stellen Sie sich jetzt
Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren von der
Koalition! Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt,
dass Sie nicht mehr länger untätig bleiben dürfen. Die
Bevölkerung hat ein Recht darauf, vor Gefahren geschützt zu werden.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Kemper,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich die verzweifelten Bemühungen insbesondere
der CDU-Damen sehe, dieses Gerichtsurteil in eine Niederlage für die Regierung umzudeuten, habe ich erhebliche Zweifel, ob es zu der Gemeinsamkeit, die Herr
Kauder in Aussicht gestellt hat, kommen kann und kommen wird.
({0})
Ich glaube, auf die Reden, die Sie hier gehalten haben,
muss man nicht näher eingehen. Ich will mich auch nicht
darauf einlassen, wer nun wem eine schallende Ohrfeige
verpasst hat; ich glaube, das wird der Sache nicht gerecht.
({1})
Ich werde mich an dem rechtspolitischen Exkurs
nicht beteiligen, sondern will einige Gedanken als Innenpolitiker beitragen. Nachdem ich in meinem ersten
Leben mehr als 30 Jahre mit der Verbrechensbekämpfung in der Praxis zu tun hatte, nämlich als Polizeibeamter täglich mit ihr konfrontiert war, widme ich mich
nämlich seit nunmehr über zehn Jahren politisch der inneren Sicherheit.
Wir haben bei der inneren Sicherheit zwei Grundsäulen zu beachten. Da ist zum einen die Repression: Wir
müssen begangene Straftaten aufklären, den Täter ermitteln und der Bestrafung zuführen, und zwar nicht allein,
um dem Strafanspruch des Staates gerecht zu werden.
Nein, ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch dem
Opfer und den Angehörigen der Opfer ein wichtiges Anliegen ist, dass Straftaten aufgeklärt und die Täter bestraft werden. Hier brauchen wir von Ihnen keinen
Nachhilfeunterricht; das machen wir seit Jahren, da gibt
es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten.
({2})
Die zweite Grundfeste ist die Prävention. Bei der Prävention geht es in erster Linie darum, Straftaten zu verhindern. Dazu gehört, dass Straftäter, die in hohem Maße
gefährlich sind, in Sicherungsverwahrung kommen können. Die Strafen reichen oftmals nämlich nicht aus. Eine
lebenslange Freiheitsstrafe dauert bei uns kein Leben
lang; das ist allen bekannt. Es gibt ein Leben nach dem
Lebenslänglich. Es muss uns nun darum gehen, die wenigen Lücken, die bestehen, zu schließen.
Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil die Frage
geklärt, wer zuständig ist. Jetzt geht es darum, dass wir
das Richtige tun. Wir werden das angehen. Ob Sie, Herr
Kauder, mitmachen oder nicht, bleibt Ihnen überlassen.
Ich finde aber, es wäre gut, wenn wir in dieser wichtigen
Frage gemeinsam etwas auf den Weg bringen würden.
({3})
Es steht grundsätzlich völlig außer Frage: Jeder Straftäter hat eine Chance auf Rehabilitation, eine zweite
Chance verdient. Ob er diese Chance aber bekommt,
muss bei erkennbaren Risiken ganz besonders geprüft
werden. Es kann nicht angehen, dass Menschen auf
freien Fuß kommen, die erkennbar eine Gefahr für
potenzielle Opfer darstellen. Das wollen wir nicht. Deswegen werden wir handeln.
Es gibt - das wissen wir alle - keinen Rundumschutz
und keine hundertprozentige Sicherheit, bei Ersttätern
sowieso nicht. Über das mögliche Verhalten von Ersttätern gibt es keine Erkenntnisse, es hilft also auch keine
Sicherungsverwahrung. Wir können bestenfalls die allgemeine Prävention, die Primärprävention stärken, was
wir im Übrigen auch tun werden. Wir müssen aber alles
tun, um gefährliche Triebtäter mit extrem ungünstiger
Prognose, die Wiederholungstäter sind, nicht wieder in
die Freiheit entlassen zu müssen. Diese Täter sind in der
Regel Karrieretäter, ihre Tötungs- und Sexualdelikte waren nicht ihre erste Straftat. Sie haben eine kriminelle
Karriere hinter sich.
Darauf müssen wir reagieren. Die Menschen erwarten
von uns, dass sie in Sicherheit leben und ein Leben ohne
Angst führen können. Sie haben einen Anspruch darauf,
vor gefährlichen Tätern geschützt zu werden. Hierzu
werden wir alle legalen Mittel ausschöpfen, die wir haben. Dabei spanne ich den Bogen von der Ausschöpfung
der Möglichkeiten bei der DNA-Analyse bis zur Sicherungsverwahrung.
({4})
Das kann auch bedeuten, dass Straftäter nach Verbüßung
ihrer Taten noch lange Zeit in Sicherungsverwahrung
bleiben müssen. Dabei spielt natürlich auch ihre Entwicklung in der Haftanstalt eine Rolle. Wir werden auf
Bundesebene also kurzfristig das jetzt entstandene Vakuum schließen. Das werden wir entschlossen tun.
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, bei dem
wir keinen Nachhilfebedarf haben. Es kann gelegentlich
Zielkonflikte bei der Beurteilung von Täter und Opfer
geben. Jeder von uns neigt dazu, zunächst einmal die
Karriere eines Täters zu beleuchten. Dabei kommt man
vielleicht zu dem Schluss, dass derjenige eine schwere
Kindheit und es in seinem Leben nicht leicht gehabt hat
und dass man ihm helfen müsse. Das sollten wir auch
tun. Aber wo es einen Zielkonflikt zwischen der Beurteilung der Vergangenheit des Täters und der Beurteilung
der Zukunft der potenziellen Opfer gibt, entscheiden wir
in der Koalition uns ganz eindeutig zugunsten der Zukunft der potenziellen Opfer. Ich fordere Sie auf: Machen Sie mit! Wir haben keinen Nachholbedarf an Ihren
Ratschlägen.
({5})
Darauf kann Kollege Kemper nicht mehr eingehen, da
seine Redezeit abgelaufen ist. Das muss im Ausschuss
nachgeholt werden.
Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht bestätigt mit seinem
Urteil die Rechtsauffassung von CDU und CSU. Wir haben schon mehrfach auf die gefährliche Gesetzeslücke
hingewiesen und uns wiederholt dafür eingesetzt, dass
die nachträgliche Sicherungsverwahrung bundesgesetzlich geregelt wird.
Die Hoffnung der Bundesregierung, die Zuständigkeit
in dieser für sie heiklen Frage auf die Länder abzuwälzen und damit ihre koalitionsinterne Uneinigkeit zu verbergen, wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zunichte gemacht. Das Meinungsspektrum von
Rot-Grün zum Umgang mit gefährlichen Gewaltverbrechern weist nämlich ein beachtliches Ausmaß auf. Dies
wurde auch heute wieder deutlich. Da haben wir zum
einen die öffentlichkeitswirksam in der „Bild“-Zeitung
vorgebrachte Forderung des zürnenden Kanzlers,
Sexualverbrecher gehörten für immer weggesperrt. Zum
anderen haben wir den Kommentar des grünen Abgeordneten Christian Ströbele, die nachträgliche Sicherungsverwahrung sei Freiheitsentzug für Unschuldige.
({0})
Dies ist im „Neuen Deutschland“ vom 5. Februar 2004
nachzulesen. Herr Ströbele hat gerade „richtig“ dazu gesagt.
({1})
Keine der beiden Positionen wird dem Problem, um
das es heute geht, auch nur im Entferntesten gerecht.
({2})
Ein pauschales Wegsperren für immer kommt nicht infrage, weil dem das Grundrecht auf Freiheit entgegensteht.
({3})
Die Abwägung der kollidierenden Prinzipien - Grundrecht auf Freiheit einerseits und Schutz der Bevölkerung
andererseits - kann nämlich niemals pauschal, sondern
immer nur im Einzelfall erfolgen.
Kristina Köhler ({4})
({5})
Nicht jeder Straftäter wandert automatisch in die Sicherungsverwahrung, sondern nur diejenigen, bei denen
Umstände und Motive der Tat sowie die individuelle
Entwicklung während der Haft einen solchen Schritt als
Ultima Ratio notwendig machen.
Herr Ströbele glaubt nun andererseits aber, es sei
seine Pflicht, „unschuldige“ entlassene Schwerverbrecher vor Freiheitsentzug zu schützen. Ihm muss ebenso
entschieden widersprochen werden.
({6})
Wer die Sicherungsverwahrung als letztes Mittel ausschließt, riskiert wissentlich neue Opfer. Zur Erinnerung:
Wir sprechen hier über Sexual- und Gewaltverbrecher,
die sich in der Haft jeder Therapie und jedem Versuch einer Resozialisierung gegenüber resistent gezeigt haben.
Darunter sind Mörder und Vergewaltiger, die bereits im
Gefängnis ankündigen, wie sie ihr nächstes Opfer zu
quälen gedenken und welche Richter und Vollzugsbeamten auf ihrer Todesliste stehen. Wer hier von Freiheitsentzug für Unschuldige spricht, der macht Täter zu Opfern und blendet den Schutzanspruch der Bevölkerung
völlig aus.
({7})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
über die nachträgliche Sicherungsverwahrung dem Umgang mit Gewaltverbrechern enge verfahrensrechtliche
Grenzen gesetzt. Danach ist ein leichtfertiger Umgang
mit der Sicherungsverwahrung ausgeschlossen. Auch
verurteilte Gewaltverbrecher in Sicherungsverwahrung
müssen die reelle Chance haben, durch eine persönliche
Veränderung wieder in Freiheit zu gelangen. Dass es
eine kleine Gruppe gibt, die sich in Freiheit vermutlich
sofort wieder neue Opfer suchen wird, ist eine bittere Erkenntnis. Daraus Konsequenzen zu ziehen und vernünftig zwischen dem Schutzanspruch der Bevölkerung und
den Freiheitsrechten der Täter abzuwägen ist sehr viel
schwieriger, als es die Äußerungen von Gerhard
Schröder und Christian Ströbele vermuten lassen.
({8})
In Anbetracht dieser stark divergierenden Rechtsverständnisse der Koalitionsfraktionen, die uns heute
wieder deutlich gemacht wurden, habe ich erhebliche
Zweifel, dass es die Regierung schafft, dem Auftrag des
Bundesverfassungsgerichtes nachzukommen und bis
zum 30. September 2004 eine bundesgesetzliche Regelung auf den Weg zu bringen.
Rot-Grün hat den berechtigten Schutzanspruch der
Bevölkerung lange genug ignoriert. Heute haben Frau
Ministerin Zypries und Herr Benneter angekündigt, ein
entsprechendes Gesetz vorzulegen. Das ist zwar eine
späte, aber auch eine gute Einsicht. Mit Ihrem grünen
Koalitionspartner werden Sie hier aber nicht weit kommen. Deswegen wäre die SPD gut beraten, in diesem
Punkt mit der Fraktion der CDU/CSU zusammenzuarbeiten.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Simm, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Mantel, ich bin nicht der Meinung, dass zu diesem
Thema nur Juristen oder Juristinnen sprechen sollten.
({0})
- Nein, das habe ich nicht gesagt. Da haben Sie etwas
missverstanden. - Ich erwarte aber schon, dass sich Politikerinnen und Politiker - ich verallgemeinere und beziehe das nicht nur auf Sie - der verfassungsrechtlichen
Implikationen der hier zu treffenden Entscheidungen einigermaßen bewusst sind, sich dieser also vergewissern,
und dass sie nicht leichtfertig darüber hinwegreden.
({1})
Ich hatte den Eindruck, dass einige Kollegen der
Union - nicht alle - so tun, als könne man dieses Gesetz
mal schnell nebenbei erarbeiten, als habe dieses Thema
bestenfalls den Stellenwert der Herabsetzung der innerstädtischen Geschwindigkeit von 50 auf 40 Stundenkilometer, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass dann die
Aufregung größer wäre. Einige Redner sind sich in ihren
Beiträgen offenbar der Tatsache, dass wir uns hier in einem schwierigen verfassungsrechtlichen Abwägungsprozess zwischen Freiheitsrechten, verfassungsrechtlichen Garantien für das Strafverfahren und das Strafrecht
sowie dem berechtigten Anspruch der Bevölkerung, vor
äußerst gefährlichen Straftätern geschützt zu werden, befinden, den wir leisten müssen und dem wir gerecht werden müssen, nicht hinreichend bewusst bzw. haben sich
um der plakativen Wirkung willen leichtfertig darüber
hinweggesetzt.
({2})
Ich bin darüber etwas unglücklich, weil wir in der
Vergangenheit - ich habe alte Diskussionen mit vollzogen, da ich die ganze Zeit Mitglied des Rechtsausschusses war - im Rechtsausschuss in den Anhörungen über
weite Strecken sehr viel seriöser, gewissenhafter und
verantwortungsvoller darüber diskutiert haben, ob es
Möglichkeiten gibt, die Sicherungsverwahrung auszudehnen und den Schutz vor besonders gefährlichen Gewaltverbrechern zu verbessern.
({3})
Ich bin auch nicht der Meinung, dass diese Diskussionen ohne Ergebnis geblieben sind. Ich darf Sie daran
erinnern: Wir haben beiläufig eine Bestandsaufnahme
gemacht und festgestellt, dass es im Vollzug einen eklatanten Mangel an Therapieangeboten und besonders an
qualifizierten Therapieangeboten gibt. Wir haben miteinander darüber diskutiert, wie schwierig es ist, auf diesem Gebiet richtige Prognosen zu stellen. Wir haben darüber gesprochen - das hat auch Konsequenzen
gehabt -, dass die Ausbildungsmöglichkeiten und -angebote im Bereich der universitären Ausbildung und der
Forensik unzureichend sind. Wir haben über die Frage
der Qualifikation von Gutachtern geredet. Da ist einiges
verändert und viel an Problembewusstsein erzeugt worden. Ich bin deswegen unglücklich darüber, dass wir
durch die Art und Weise, wie diese Diskussion hier geführt wird, das, was wir auf diesem Felde an Arbeit geleistet haben, ein Stück weit selber entwerten.
({4})
Ich appelliere an uns alle, dass wir uns nicht gegenseitig den ernsthaften Willen absprechen, den Schutz vor
gefährlichen Straftätern zu verbessern. Dieser ernsthafte
Wille verbindet uns. Daran sollten wir festhalten und gemeinsam nach Lösungen suchen.
({5})
Das Finden von Lösungen ist nicht so einfach, wie
manchmal in den Reden der Eindruck erweckt wird. Gerade das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat bei
mir eine Menge Fragen aufgeworfen.
({6})
Ich frage mich, wie wir dem gerecht werden sollen.
({7})
Ich darf daran erinnern: In dem Urteil steht, dass die
Entscheidung darüber, ob es sich um einen entsprechend
gefährlichen Straftäter handelt, von dem weitere Taten
zu erwarten sind, auf ein sorgfältig substanziiertes Prognosegutachten gestützt werden muss. Es gibt den Hinweis, dass die Verweigerung der Therapie kein Anknüpfungspunkt sein darf; das ist schon erwähnt worden. Es
wird postuliert, dass das Gericht, das letztlich darüber zu
entscheiden hat, mit hinreichender Gewissheit zu dem
Ergebnis kommen muss, dass von dem Betroffenen weitere, entsprechend schwerwiegende Taten zu erwarten
sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss, wie fassen wir eine Prognoseentscheidung,
geknüpft an hinreichende Gewissheit, in ein Gesetz? Ich
halte das schon für die Quadratur des Kreises; das ist etwas, was sich begrifflich ausschließt.
({8})
Ich darf darauf hinweisen: Ich habe das Minderheitenvotum gelesen. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies
alle getan haben. Die Verfasser des Minderheitenvotums
weisen darauf hin, dass die Mehrheit des Senates keinen
Anlass hatte, nach Maßstab des Art. 104 Grundgesetz zu
prüfen, nämlich des Rückwirkungsverbots im Strafrecht.
Diese Garantie in unserer Verfassung ist ebenfalls zu beachten.
Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich bin fertig, Herr Präsident.
Ich meine, dass wir gut daran tun, ernsthaft und seriös
über dieses Thema zu diskutieren und uns gemeinsam
um angemessene Regelungen zu bemühen, die gegebenenfalls vor einer neuen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bestand haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Geis,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Simm, wir haben 1997/98 neben der
Verschärfung des Sexualstrafrechts auch die Frage beraten, inwieweit es möglich und verfassungskonform sein
kann, die Sicherungsverwahrung zu erleichtern und eine
Entscheidung darüber zu treffen, ob gegen den Täter, der
gefährlich ist und von dem man, durch Prognosegutachten bestätigt, weiß, dass er nach Verbüßung seiner Tat
weiterhin für die Menschheit gefährlich sein wird, unter
bestimmten Voraussetzungen eine Sicherungsverwahrung verhängt werden kann.
Wir waren uns damals einig, dass dies möglich sein
soll. All diese Fragen, die jetzt wieder diskutiert werden,
haben wir damals mit großer Sorgfalt - da pflichte ich
Ihnen bei - diskutiert und wir haben uns wirklich ernsthaft Gedanken darüber gemacht und machen müssen, ob
es möglich ist, einen Täter, Herr Ströbele, der seine
Strafe verbüßt hat und eigentlich ein freier Mann ist,
dennoch im Interesse der Sicherheit der Bevölkerung
festzuhalten. Das war ein wichtiges Thema, Frau Ministerin.
Wir haben uns auch die Frage gestellt, ob das für die
nachträgliche Sicherungsverwahrung Geltung haben
kann. Das war ein Thema innerhalb der Anhörung, wobei die Fragen von beiden Seiten, von Frau DäublerGmelin und mir, gestellt wurden. Die Sachverständigen
haben uns damals geantwortet, dass der Strafrichter die
Entscheidung darüber, ob gegen jemanden die Sicherungsverwahrung verhängt wird, treffen muss, der über
die Strafe selbst zu entscheiden hatte. Sie haben damals
durch die Bank abgelehnt, die nachträgliche Sicherungsverwahrung schon 1998 mit zu regeln.
Aber der Gedanke, dass hier eine Sicherheitslücke
entstanden ist, hat uns nie verlassen. Wir haben überlegt
und es gab entsprechende Überlegungen im Bundesrat.
Die Bayerische Staatsregierung hat einen Gesetzentwurf
im Bundesrat eingebracht, dort aber keine Mehrheit gefunden. Dann kam der berühmte Ausspruch des Kanzlers, der heute schon zweimal zitiert worden ist. Der Appell ist bei Ihnen leider verhallt. Wir haben diesen
Appell aufgenommen und im Oktober 2001 einen Gesetzentwurf für die nachträgliche Sicherungsverwahrung
vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf wurde von Ihnen - das
muss man allerdings sagen -, auch mit den entsprechenden Anmerkungen von Ihnen, Herr Stünker, abgelehnt.
({0})
Wir sind an dieser Mehrheit gescheitert. Damals war das
schon auf dem Tisch. Dann wurde in dieser Legislaturperiode der ungefähr gleiche Gesetzentwurf noch einmal
von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegt und Sie haben ihn
wiederum abgelehnt.
Gute Argumente aber setzen sich durch, auch wenn
das nur mithilfe des Bundesverfassungsgerichts geschieht. Aber das ist ja schon etwas. Ich bin ganz sicher,
dass Sie jetzt einen Gesetzentwurf vorlegen werden, der
verfassungskonform sein wird, wobei nicht nur der Aspekt der Prävention eine Rolle spielen darf - das hat uns
das Verfassungsgericht ganz ausdrücklich gesagt -, sondern an die Anlasstat angeknüpft werden muss, nämlich
an die Straftat, derentwegen der Täter im Gefängnis
sitzt. Es muss die Möglichkeit bestehen, für den Täter,
der seine Strafe abbüßt und bei dem sich im Strafvollzug
herausstellt, dass er ein gefährlicher Täter ist, was der
entscheidende Richter noch nicht wissen konnte - sonst
hätte er die Sicherungsverwahrung ausgesprochen -,
nachträglich die Sicherungsverwahrung anzuordnen,
wenn er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut gefährliche Straftaten begehen wird, sobald
er die Strafvollzugsanstalt verlässt. Das ist, glaube ich,
uns allen klar gemacht worden. Manche haben es früher
gemerkt, andere etwas später. Jetzt aber kommt es darauf
an, dass wir schnell beraten und eine gute Entscheidung
fällen.
Sie, Frau Ministerin, haben dem Bundesrat angeboten, im Benehmen mit ihm eine schnelle Lösung zu finden. Ich meine, es wäre auch gut, wenn Sie die CDU/
CSU in die Beratungen mit einbeziehen würden. Denn
bis zum 30. September ist es nicht allzu lange hin und
bis dahin muss die Entscheidung gefällt worden sein.
Ich danke Ihnen.
({1})
Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde erteile ich dem
Kollegen Joachim Stünker, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Implementierung der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung im materiellen Strafrecht bedarf einer
großen rechtspolitischen, verfassungsrechtlichen und
rechtsstaatlichen Sensibilität. Dies wird beim Studium
der zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Monat Februar deutlich, die sich mit dieser
Frage grundsätzlich auseinander gesetzt haben. Ich
meine, das wird insbesondere in dem Minderheitenvotum der drei Verfassungsrichter Groß, Osterloh und
Gerhard zu der Frage der befristeten Fortgeltung der entsprechenden Ländergesetze deutlich. Frau Simm hat bereits darauf hingewiesen.
Ich habe selten ein Minderheitenvotum von Richtern
eines obersten deutschen Gerichts, nämlich des Bundesverfassungsgerichts, gelesen, in dem die Kolleginnen
und Kollegen in einem Senat mit einer derartigen verbalen Radikalität argumentativ umgegangen sind. Daraus
wird deutlich, welche grundsätzlichen rechtsstaatlichen
und verfassungsrechtlichen Fragen sich hinter dem
Thema verbergen und gelöst werden müssen.
Herr Kollege Röttgen, es tut mir Leid: Diesen Ansprüchen sind Sie in dieser Aktuellen Stunde ebenso wie
die Redebeiträge der anderen Mitglieder Ihrer Fraktion
nicht gerecht geworden.
({0})
- Auf Sie komme ich gleich zu sprechen, Herr van
Essen. - Ich danke dem Kollegen Geis für den wirklich
sachlichen Beitrag, den er eben zu diesem Thema geleistet hat.
({1})
Nun zu Ihnen, Herr van Essen: Sie haben vorhin die
Meinung geäußert, das Bundesverfassungsgericht habe
mir mit seiner Entscheidung eine schallende Ohrfeige
versetzt. Herr Kollege van Essen, ich hätte Ihnen eigentlich mehr Redlichkeit und Niveau zugetraut.
({2})
Ich habe in der von Ihnen gemeinten Diskussion gegen
bestimmte Gesetze mit bestimmten Inhalten argumentiert. Ich glaube, dass ich bei den Inhalten, um die es
ging - die Beschlussverfahren vor der Strafvollstreckungskammer und Ähnliches -, richtig gelegen habe.
Das wird auch aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich, wenn man sie zu Ende liest.
Denn das beschleunigte Schnellverfahren wird nicht
möglich sein. Das habe ich gemeint.
Wichtig ist, dass mit der abschließenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als höchstem deutschen Gerichts - der Kollege Geis hat darauf hingewiesen - ein jahrelanger Streit der Fachjuristen aus der
Praxis und der Wissenschaft zu diesem Thema beendet
worden ist, indem klargestellt worden ist, dass das absolute Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz auf die Sicherungsverwahrung nicht anwendbar ist.
Ich hätte mir noch gewünscht, dass in dem Urteil auch
zu Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention
Stellung genommen wird. Das ist aber nicht der Fall.
Vielleicht erfolgt auch zu dieser Frage irgendwann eine
Klarstellung. Ich gehöre zu denen, die in dieser Frage
eine andere Meinung vertreten haben. Auch das muss
man ertragen können; das ist durchaus in Ordnung. Aber
als eine schallende Ohrfeige empfinde ich das nicht.
Ich möchte noch auf eines hinweisen - das wird
sicherlich in den Beratungen, die wir zu führen haben,
sehr deutlich werden -: Das Bundesverfassungsgericht
hat dafür, wie eine nachträgliche Sicherungsverwahrung
im Detail erfolgen soll, sehr hohe Hürden aufgestellt. Ich
glaube, ich bin der Einzige in diesem Hohen Hause, der
beruflich - als Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer über mehrere Jahre hinweg - damit befasst war,
über Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Die
Schwierigkeiten, eine sichere Prognose zu treffen, die im
Ergebnis im Extremfall bedeutet, dass der Mensch auf
der Anklagebank, der auch seine verfassungsrechtlich
verbrieften Grundrechte hat, möglicherweise sein Leben
lang nicht mehr aus der Sicherungsverwahrung herauskommen wird, sind in der Praxis sehr groß. Das haben
uns auch alle Sachverständigenanhörungen im Rechtsausschuss gezeigt. Daher meine ich, dass wir eine große
Verantwortung haben, den Streit der Vergangenheit zu
begraben und jetzt ein Gesetz zu erarbeiten, das den hohen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügt, und zwar zum einen um des Rechtsstaats willen
und zum anderen im Interesse der Gerichte in Deutschland - vom Bayerischen Wald bis nach Flensburg -, die
mit diesem Gesetz in der Praxis arbeiten müssen. Angesichts dessen ist sorgfältige Arbeit dringend notwendig.
Herr Kollege Röttgen, wir reichen Ihnen nach wie vor
die Hand zu einer gemeinsamen vernünftigen Arbeit.
Aber die heutigen Reden - entschuldigen Sie, dass ich
Sie direkt anspreche - waren teilweise unsäglich und taten weh.
Danke schön.
({3})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie
die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Erika Ober, Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Globale Bekämpfung von HIV/Aids intensivieren
- Drucksache 15/2408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Ulrich Kelber, Detlef Dzembritzki,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({2}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das Center for International Cooperation
({3}) stärken und weiter ausbauen
- Drucksache 15/2396 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({4}), Karin Kortmann, Detlef
Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wüstenbildung wirksam bekämpfen - Armut
überwinden, Ernährung sichern, Konflikte
verhindern
- Drucksache 15/2395 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger,
Hartwig Fischer ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Umdenken in der Kongopolitik
- Drucksache 15/2335 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny
Mayer ({9}), Dr. Christian Ruck,
Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von
HIV/Aids verstärken
- Drucksache 15/2465 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Markus Löning, Dr. Guido
Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen
- Drucksache 15/2469 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans
Büttner ({12}), Brigitte Wimmer ({13}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Roth ({14}),
Volker Beck ({15}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen
- Drucksache 15/2479 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({16})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Da an dieser Beratung offenkundig nicht alle Kolleginnen und Kollegen teilnehmen können oder wollen,
die gerade die Aktuelle Stunde bestritten haben, wäre es
schön, wenn wir zu einem zügigen Austausch der jeweiligen Debattenbesetzungen kommen könnten, damit die
jetzt beginnende Diskussion in einer angemessenen
Form stattfinden kann.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Erika Ober, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Weltweit haben sich seit dem Ausbruch von
HIV/Aids 65 Millionen Menschen infiziert. Circa
23 Millionen Menschen sind bereits verstorben. Für
Ende 2002 wird die Zahl der infizierten Menschen weltweit auf 42 Millionen geschätzt, davon über 3 Millionen
Kinder unter 15 Jahren. 95 Prozent aller Menschen mit
HIV/Aids leben in Entwicklungsländern. Mittlerweile ist
die Hälfte der Betroffenen weiblich. Das hat weit reichende gesellschaftliche Folgen.
Die Folgen von Aids sind erschreckend. Insbesondere
in Afrika sieht man, mit welcher fürchterlichen Macht
die Pandemie in die Gesellschaften eingreift. Über
Staatsgrenzen hinweg und in allen gesellschaftlichen
Gruppen, egal welcher Hautfarbe, zeigen sich die Folgen. Die Lebenserwartung sinkt deutlich. In vielen Regionen sinkt sie bei der Geburt zum Beispiel auf bis zu
20 Jahre. In manchen Ländern liegt die Lebenserwartung
heute bei 40 Jahren. Familienstrukturen zerfallen, da die
Bevölkerung im produktiven Alter vorrangig betroffen
ist. Daraus erwächst eine erschreckende Zunahme von
Aidswaisen. Die Wirtschaftsleistung sinkt. Es kommt zu
innenpolitischen Instabilitäten, sicherheitspolitischen
Problemen und einer zunehmenden Abhängigkeit von
Hilfe von außen.
Besonders Kinder sind durch die hohe Infektionsrate
bei Frauen im reproduktiven Alter betroffen. 95 Prozent
der Aidswaisen weltweit, rund 11 Millionen Kinder, leben in Afrika. In Uganda hat es früh und mit großem
Einsatz Bemühungen gegen die Ausbreitung der Infektion gegeben. Trotzdem gibt es mittlerweile allein in
Uganda 2 Millionen Aidswaisen. Diese Kinder haben einen oder beide Elternteile durch Aids verloren. Sie werden in Uganda teilweise in Schulen über Nacht beherbergt. Während in den Häusern ihrer Familien fremde
Menschen wohnen, schlafen sie in kommunalen Gebäuden. Dort finden sie ein wenig Schutz. Dies ist besonders
in den Gegenden wichtig, in denen viele Kinder als Kindersoldaten verschleppt werden, zum Beispiel im Norden Ugandas.
Aidswaisen haben schlechte Aussichten auf Schulbildung. Viele sind auf sich allein gestellt oder müssen bereits in jungen Jahren auf ihre jüngeren Geschwister
Acht geben und ihnen die Eltern ersetzen. Große Teile
der Elterngeneration fallen als Bezugspersonen, Erzieher
und Ernährer aus. Die folgende Generation ist durch den
Ausfall an Bildung und durch die fehlende menschliche
Zuwendung geschwächt. Dies ist meines Erachtens ein
denkbar schlechter Ausgangspunkt für eine friedliche
Entwicklung und macht auch auf anderen Gebieten Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit zunichte.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle besonders auf die Situation von Frauen und Mädchen hinweisen; denn zum einen sind Frauen und Mädchen aus physiologischen und
sozialen Gründen stärker gefährdet und zum anderen stehen sie im Zentrum von Entwicklungsprozessen. Sie ziehen die Kinder groß, pflegen Kranke und Alte und leisten einen Großteil der Erwerbs- und Hausarbeit. Gerade
die persönlichen Rechte von Mädchen sind weniger
stark ausgeprägt und ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung ist schwächer als die von Jungen
und Männern.
Die Schlechterstellung von Mädchen und Frauen
führt konkret auch zu einem Mangel an sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung. Auch haben Frauen aus
physiologischen Gründen eine vielfach höhere Infektionswahrscheinlichkeit als Männer. Südlich der Sahara
sind mittlerweile 58 Prozent aller Infizierten weiblich.
Botswana hat die Aidsepidemie zur nationalen Krise erklärt. Dort wurde festgestellt, dass in ländlichen Gebieten in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auf einen
infizierten Mann fünf neu infizierte Frauen kommen.
Medikamente zur Behandlung von HIV-Infektionen
stehen zur Verfügung und werden in den Industrieländern auch umfangreich eingesetzt. Sie sind aber in den
Entwicklungsländern, vor allem unter Bedingungen einer fehlenden oder zumindest unzureichenden basismedizinischen Versorgung, de facto oft nicht verfügbar und
zu teuer. Dabei hat sich zum Beispiel erwiesen, dass bei
perinatalem Einsatz von Medikamenten die Übertragung
des Virus von der Mutter auf das Kind mit großem Erfolg vermieden werden kann. Laut Weltgesundheitsorganisation haben trotz der spürbaren Kostensenkungen nur
1 Prozent der Bevölkerung, die die lebensverlängernde
antiretrovirale Therapie benötigen, Zugang zu einer
Behandlung. Nach dem Ausbruch von Aids liegt die Lebenserwartung unter solchen Umständen und ohne Zugang zu medikamentöser Behandlung bei durchschnittlich circa sieben Monaten.
Im Vorfeld der WTO-Konferenz in Cancun gab es einen kleinen Erfolg. Das TRIPS-Abkommen erlaubt den
Entwicklungsländern neuerdings, nicht nur selbst Aidsmedikamente herzustellen, sondern auch Generika zu
importieren, wenn sie keine eigenen Produktionsstellen
haben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass dies nicht ausreichen wird, um eine flächendeckende therapeutische Versorgung zu erreichen. Es ist in diesem Zusammenhang
darauf hinzuweisen, dass es dringend notwendig ist, die
Suche nach einem Impfstoff zu intensivieren.
Die Entwicklung der Pandemie in Afrika ist erschreckend. Aids verändert ganze Gesellschaften - trotz einiger erfreulicher Beispiele mit regional stagnierenden
oder sogar sinkenden Infektionsraten. Hinschauen ist
hier nur der erste Schritt. Es genügt nicht, das Problem
nur zur Kenntnis zu nehmen. Aids spielt eine entscheidende Rolle für die friedliche Entwicklung der Welt und
ist damit auch sicherheitspolitisch relevant. Wir müssen
diesem Anspruch - es handelt sich um eine Querschnittsaufgabe - angesichts unserer eigenen menschlichen,
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Erwartungen
und Ziele noch stärker gerecht werden.
HIV/Aids ist kein afrikanisches Problem allein. Auch
in anderen Teilen der Welt steigen die Infektionszahlen.
In Osteuropa und Russland sind die Steigerungen dramatisch. Wir haben hierbei auch an die Probleme zu denken, welche durch die Resistenzentwicklung auf uns in
Europa zukommen. Virusresistenzen entwickeln sich unter inkonsistenter Einnahme von Aidsmedikamenten
schneller als bei allen anderen bekannten Therapien,
zum Beispiel bei Antibiotikatherapien. Die regelmäßige
Einnahme von Aidsmedikamenten ist aber in vielen Teilen der Welt nicht zu gewährleisten. Kofi Annan bezeichnet Aids als eine Krise, die „eine Gefahr für die gesamte Zivilisation“ darstellt.
Bis 2010 erwartet man, dass weltweit zu den bisher
circa 42 Millionen infizierten Menschen 45 Millionen
Neuinfizierte hinzukommen. Der Höhepunkt der Pandemie wird für das Jahr 2050 erwartet. Die Bundesregierung macht sich mit ihrem Engagement für UNAIDS gegen die Ausbreitung von Aids stark. Unser Beitrag zum
Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria liegt bei 300 Millionen Euro bis zum
Jahr 2007. Ich möchte auch den Einsatz der Bundesregierung für die Bereitstellung preisgünstiger bzw. kostenloser Medikamente erwähnen. Deutschland stellt
jährlich circa 300 Millionen Euro für die Bekämpfung
von HIV/Aids bereit.
Die Bekämpfung von HIV/Aids - sie wurde als prioritäres Handlungsfeld der Entwicklungszusammenarbeit
definiert - hat bei der Bundesregierung einen hohen
Stellenwert. Der Bundeskanzler hat das Interesse am
afrikanischen Kontinent kürzlich mit seinem Besuch in
Äthiopien, Kenia, Ghana und Südafrika unterstrichen. Er
hat deutlich gemacht, dass wir Afrika nicht vergessen
dürfen.
({1})
Dieser Antrag soll dem hohen Stellenwert gerecht werden.
Weil diese Bemühungen und die betroffenen Menschen in den Entwicklungsländern und überall auf der
Welt unterstützt werden müssen, fordern wir in unserem
Antrag dazu auf, dass sich Deutschland verstärkt auf internationaler Ebene - in den Vereinten Nationen, bei der
Weltbank und in der EU - für die Umsetzung der Millenniumsziele einsetzt.
Deutschland soll sich in den internationalen Gremien
und bei internationalen Diskussionen noch intensiver dafür einsetzen, von Nichtregierungsorganisationen, von
privaten Spendern und von der Privatwirtschaft zusätzliche Beiträge für den Globalen Fonds zur Bekämpfung
von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria einzuwerben.
Daneben soll die HIV/Aids-Bekämpfung als multisektoraler Ansatz in die nationalen Armutsbekämpfungsstrategien der Entwicklungsländer integriert werden.
Aids ist zu einer der größten Bedrohungen unserer
Zeit für eine friedliche Entwicklung geworden. In der
Bekämpfung von Aids sehe ich einen Schlüssel für nachhaltige Entwicklung. Prävention und Behandlung sind
zwei zentrale Ansätze. Sie sind mit den Aufgaben,
Frauen und Mädchen zu stärken, sich gegen Stigmatisierung und Diskriminierung einzusetzen und weiter für
den vermehrten Einsatz von und für den besseren Zugang zu Medikamenten zu ringen, verzahnt.
Es liegen nun drei Anträge aus den verschiedenen
Fraktionen vor, die alle vergleichbare Forderungen beinhalten. In diesen Anträgen sind deutlich mehr Gemeinsamkeiten zu erkennen, als es in der öffentlichen Diskussion bisher der Fall zu sein schien. Deshalb wäre es doch
sicher möglich, sich im Ausschuss auf eine gemeinsame
Beschlussempfehlung zu einigen. Lassen Sie uns dies
gemeinsam angehen, im Sinne der Betroffenen und diesem Thema angemessen!
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Kraus, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Von meiner Vorrednerin wurde bereits darauf
hingewiesen, dass die vorliegenden Anträge vieles gemeinsam haben. Das ist überhaupt ein gewisses Kennzeichen der Arbeit unseres Ausschusses:
({0})
Wir verfolgen bei relativ vielen Punkten gleich gerichtete Ziele.
({1})
Häufig muss man sich über den Weg streiten, insbesondere über die Intensität, mit der die Regierung diese
Ziele verfolgt, und über die finanziellen Möglichkeiten.
Wir wissen heute, dass Entwicklungspolitik ein Instrument zur Bewahrung von Stabilität, zur langfristigen
Krisenprävention, zur Eindämmung von Extremismus,
Kriminalität, Terrorismus und Umweltzerstörung sein
kann. Sie trägt dazu bei, die richtigen Rahmenbedingungen für eine gesunde politische und wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen sowie tragfähige, demokratische,
rechtsstaatliche und effiziente Strukturen in den Entwicklungsländern aufzubauen.
Es gab in den letzten Jahren auch große Erfolge. Zwischen 1990 und 2000 soll der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, immerhin von 29 Prozent auf 23 Prozent gesunken sein. Angeblich ist es auch
so, dass erstmals seit vielen Jahren die Zahl derjenigen,
die mit weniger als 1 Dollar am Tag auskommen müssen, gesunken ist.
Tatsache ist aber auch, dass die Zahl der schlechten
Nachrichten nicht abreißt. Ich nenne beispielhaft die erhebliche Zahl von Kriegen und Konflikten, die weltweit geführt werden, und die wachsende Ungleichheit
sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen den
Staaten; und dies, obwohl die Armut abnimmt. Hierhin
gehört auch, dass nach Berechnungen der Weltbank die
weltweiten Wachstumsraten nicht ausreichen, um das
Millenniumsziel der Armutshalbierung bis zum
Jahre 2015 zu erreichen.
Betroffen von all diesen Dingen ist vor allem Afrika.
Hier spielt insbesondere das Problem Aids eine Rolle.
Meine Vorrednerin hat die Zahlen ja schon genannt; ich
kann mir das also ersparen. Die Lebenserwartung ist,
wie sie sagte, um drei Jahre bis zu zehn Jahren rückläufig. Es gibt Berichte aus Ländern wie beispielsweise
Botswana, wo die Lebenserwartung sogar um 20 Jahre
zurückgegangen sein soll. Dieser Wegfall der Brücke
zwischen den Generationen stellt in der Tat eine menschliche Katastrophe dar; hierdurch werden die Erfolge der
Entwicklungspolitik auf dramatische Weise infrage gestellt.
Die vorliegenden Anträge geben die Möglichkeit, auf
die wohl größte Katastrophe, die wir derzeit erleben, in
der Öffentlichkeit hinzuweisen. In Wahrheit wird dieses
Thema nämlich viel zu wenig beachtet. Man überlege
sich einmal, dass Aids in wenigen Jahren so viele Opfer
gefordert haben wird wie die Weltkriege des letzten
Jahrhunderts. Der Vergleich mit der Pest ist bezogen auf
das südliche Afrika ja keineswegs abwegig. Pest und
Aids unterscheiden sich vielleicht dadurch, dass die Pest
des Mittelalters die Schwächeren hinweggerafft hat,
während Aids vor allem die Aktiven in einer Gesellschaft ergreift und es bei Aids vielleicht ein bisschen
länger als bei der Pest dauert, bis die Leute wegsterben.
9 000 Tote pro Tag ist eine erschreckende Zahl. Man
wundert sich, dass diese Zahl und die ihr zugrunde liegenden Verhältnisse in der Öffentlichkeit, in den Medien
nicht stärker erwähnt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
mich heute vor allem einem Thema im Bereich Aids zuwenden. Ich hatte ein Gespräch mit Vertretern der Organisation Sant’Egidio; dieses Gespräch hat mich sehr beeindruckt, weil sie geradezu ein Musterbeispiel für eine
NGO darstellt. Wir sollten bei der Gelegenheit den
NGOs wirklich einmal herzlich dafür danken, dass sie es
schaffen, mit einem Budget auszukommen, das sich zu
90 und mehr Prozent aus Spenden und Beiträgen speist,
dass so gut wie keine Gehälter bezahlt werden, kaum
Verwaltungskosten anfallen und die Hilfe zu 100 Prozent
dorthin kommt, wo sie hingehört. Es ist beeindruckend,
mit welch großem Engagement sie ihre Arbeit machen.
({2})
Es war für mich ganz besonders beeindruckend, mit welcher Freude die Leute erzählt haben, was sie empfinden - es ist fast wie ein Wunder -, wenn Menschen, die
schwerst krank sind, bei regelmäßiger Einnahme von
Medikamenten nach einigen Wochen körperlich und
geistig wieder aufblühen und wieder in die Lage versetzt
werden, selber zu laufen und zu arbeiten und sich um
ihre Familien zu kümmern.
Das kostet natürlich eine ganze Menge Geld. Wenn
auch die Kosten für die Medikamente dramatisch zurückgegangen sind, was gut ist, bleiben doch viele
Kosten übrig, insbesondere für die sinnvolle Betreuung,
Diagnosemöglichkeiten und dergleichen. Wir müssen in
diesem Bereich einfach mehr tun. Ich denke, dass es
richtig ist, dabei die Netzwerke und Organisationsstrukturen von solchen Einrichtungen, wie ich sie erwähnt
habe, auch wirklich zu nutzen.
Aids ist also etwas, was sicher unsere Aufmerksamkeit erfordert. Auch wenn wir in vielen Punkten übereinstimmen, hat mir eines in dem Antrag weniger gefallen:
Das ist die Forderung bzw. der Appell an die US-Regierung, ihre Versprechungen einzuhalten. Es wäre gut,
wenn auch wir unsere eigenen Versprechungen einhalten
würden. Dann könnten wir das umso glaubwürdiger fordern.
({3})
Es ist sowieso unser Problem, dass von dieser Regierung vieles versprochen wurde, was die Finanzen anbelangt, aber nicht eingehalten wurde.
({4})
- Sie wissen, dass ich Recht habe.
({5})
Man kann nicht oft genug daran erinnern; vielleicht hilft
es etwas. Ich glaube es zwar nicht, aber die Hoffnung
darf man auch in dieser Frage nicht aufgeben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich etwas sagen, was mir schon seit geraumer Zeit am
Herzen liegt, und zwar zur Akzeptanz der Entwicklungshilfe in Deutschland. Ich glaube, dass wir die gemeinsame Aufgabe haben, etwas zu tun. Ich stelle immer wieder fest, dass sich Einzelpersonen und kleine
Gruppen - jeder von uns hat im Wahlkreis solche Gruppen - in ganz rührender Weise um einzelne Länder, einzelne Gruppen und auch Einzelpersonen in der Dritten
Welt kümmern, dass die Entwicklungshilfe aber gleichzeitig - wie ich in Versammlungen, die ich halte, feststellen kann -, auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, nicht mehr
besonders gut akzeptiert wird, und zwar von einer großen Anzahl von Menschen. Auf der einen Seite ist die
deutsche Bevölkerung ganz ungewöhnlich hilfsbereit
und spendenfreudig, wenn es um aktuelle Notfälle und
Katastrophen geht. Auf der anderen Seite gibt es
schreckliche Bemerkungen, wenn es um die langfristige
staatliche Entwicklungszusammenarbeit geht; das geht
von ausgesprochener Skepsis bis zur brutalen Abwendung.
Es gibt viele Gründe dafür: Gründe im eigenen Land,
so etwa die wirtschaftliche Entwicklung, und sicher
ebenso Gründe in den betroffenen Ländern, die teilweise
von korrupten und kriminellen Regierungen und Oberschichten beherrscht werden, von denen so viel Geld auf
die Seite geräumt wird - was in der Öffentlichkeit immer
wieder publiziert wird -, dass sie selber eigentlich die
größten Geber sein könnten. Wir müssen uns einmal
überlegen, wie man an das Geld von solchen Leuten herankommt; das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt.
Die Unrechtmäßigkeit, wenn ein Präsident innerhalb weniger Jahre ein Vermögen in der Größenordnung des
Millionenfachen von dem, was ein Normalbürger dieses
Landes verdient, ansammelt, liegt eigentlich auf der
Hand. Aber das ist ein anderes Thema; vielleicht sollten
wir es an anderer Stelle einmal aufgreifen.
Ich denke jedenfalls, dass es unsere gemeinsame Aufgabe sein muss, das Thema Entwicklungshilfe in der Bevölkerung wieder populärer zu machen.
({6})
Das ist schwierig. Aber weil der Normalbürger hilfsbereit ist, wenn der menschliche Aspekt einer solchen
Hilfe und die Erfolge, die damit erreicht werden, entsprechend herausgestellt werden, können wir für die Akzeptanz sicher etwas tun. Gleichzeitig dürfen wir es den
Regierungen dieser Länder nicht ersparen, dass die Hilfen, die sie von uns bekommen - mit Ausnahme der Nothilfe -, daran gemessen werden, wie gut oder schlecht
diese Regierungen sind. Das ist zwar nicht schön für die
betroffenen Menschen, aber es gibt wohl keine andere
Möglichkeit für uns, einen Beitrag zu leisten und für dieses Thema wieder mehr Akzeptanz zu erreichen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Uschi Eid.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Gestatten Sie, dass ich mich bei der Fülle der Themen
auf das Thema Aids beschränke. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Dinge, die mein Vorredner eben
eingefordert hat, zum Teil richtig stellen, aber auch klar
machen, dass wir die Dinge bereits umsetzen.
Es ist gut, dass sich vor einigen Jahren - leider viel zu
spät; da sind wir uns alle einig - die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Aids neben der Tatsache, dass die Erkrankung ein furchtbares persönliches Schicksal ist, auch ein
Entwicklungsproblem darstellt, das alle Lebensbereiche berührt und in vielen Ländern in eine tiefe Entwicklungskrise zu münden droht. Es war allerhöchste Zeit,
dass im Jahr 2000 das Thema HIV/Aids bei der UNO
ganz oben auf die internationale Tagesordnung gesetzt
wurde und sich die Staaten - die Bundesrepublik mit der
Unterschrift von Bundeskanzler Schröder - in der Millenniumserklärung verpflichtet haben, alles zu tun, um
der Ausbreitung dieser Krankheit bis 2015 Einhalt zu gebieten.
({0})
In der Folge wurde als neues Finanzierungsinstrument der globale Gesundheitsfonds eingerichtet, der
2002 seine Arbeit aufgenommen hat und in den die Bundesrepublik bis zum Jahr 2007 300 Millionen Euro einzahlen wird. Die begonnene Arbeit des Fonds lässt hoffen, dass wir in einer großen, gemeinsamen
Kraftanstrengung den todbringenden Trend der HIV-Infektion noch umkehren.
Welches aber sind - diese Frage ist wichtig - die Voraussetzungen?
Erstens. Die nationalen Regierungen in den betroffenen Ländern müssen eine sachgerechte, wirksame und
offensive Aidspolitik betreiben.
({1})
Aufklärungsarbeit - und damit Prävention durch Sexualbildung und Verhaltensänderungen - ist das A und O,
um die weitere Ausbreitung einzudämmen. Kampf gegen Hexenglauben, Aufbrechen sexueller Tabus und damit das Brechen der Macht der Männer über den weiblichen Körper müssen ganz oben stehen.
({2})
- Ja, Herr Vorsitzender.
In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass sich vor
zehn Tagen die „Koalition von Frauen gegen Aids“ gegründet hat. Auslöser dafür war die Erkenntnis, dass die
bisherigen Bemühungen um Prävention viel zu wenig
Frauen und Mädchen erreichen und nur unzulänglich die
Situation der Frauen in der Familie und ihr Unterordnungsverhältnis zum Mann berücksichtigen.
({3})
Eine Studie in Sambia hat zutage gefördert, dass nur
11 Prozent der interviewten Frauen meinen, das Recht
zu haben, ihren Mann um die Benutzung eines Kondoms
zu bitten. 11 Prozent! Diese Zahl fordert ebenso zum
Handeln auf wie die anderen Zahlen, die Frau Ober genannt hat.
Zweitens. Das Gesundheitswesen in den betroffenen
Ländern muss ausgebaut werden. Denn gute ländliche
und städtische Gesundheitszentren und Erste-Hilfe-Stationen sind für Prävention ebenso wie für die Versorgung
der Erkrankten unabdingbar. An dieser Stelle ist unsere
Entwicklungskooperation ganz stark.
Drittens. Der politische Dialog mit unseren Partnerländern und mit internationalen Organisationen ist wichtig
für die Verständigung auf Prioritäten, auf koordiniertes
Handeln und auf gemeinsame Bekämpfungsstrategien.
Aus diesem Grund und um uns mit anderen Gebern besser zu vernetzen, um die internationale Diskussion mitzugestalten, aber auch um mit unseren Partnern in der
Aidsbekämpfung kritische Fragen zu erörtern - das ist
nicht immer einfach; ich habe vorhin die Themen genannt -, habe ich im vergangenen September in New
York an der Aidssondersitzung der VN-Generalversammlung teilgenommen, auf die im CDU/CSU-Antrag
Bezug genommen wird.
Viertens. Es müssen neue Kooperationen mit starken
Partnern in der Forschung, in den Heilberufen, in den Medien, in bürgergesellschaftlichen Organisationen und in der
Wirtschaft eingegangen werden. Wir haben große Schritte
in diese Richtung gemacht. Beispielhaft möchte ich hier
nennen: unsere Unterstützung der Nelson-Mandela-Stiftung, die in Südafrika Meinungsführer einer aktiven HIVPolitik ist, die Kooperation mit deutschen Firmen, um
Aidsaufklärungs- und Verhaltensänderungsprogramme in
den Betrieben zu verankern und zu verbreiten sowie
- das ist das dritte Beispiel - unsere Unterstützung der
Herstellung von Antiretroviralia für die Armen in der
Demokratischen Republik Kongo, worüber heute in der
„FAZ“ berichtet wird.
Fünftens. Die Behandlungsmöglichkeiten müssen
verbessert werden, insbesondere durch Zugang zu kostengünstigeren Medikamenten. Genau hierfür hat sich
die Bundesregierung im Rahmen der WTO erfolgreich
eingesetzt, auch wenn die im TRIPS-Abkommen gefundene Regelung in Bezug auf grenzüberschreitende
Zwangslizenzen für manche nicht ganz zufriedenstellend
ist. Trotzdem muss man sagen: Es ist bereits ein Erfolg
zu verzeichnen.
({4})
Ich freue mich sehr, dass wir gerade bei der Behandlung von HIV-infizierten Menschen zum Beispiel mit
der christlichen Laienorganisation Sant’Egidio sehr gut
und erfolgreich zusammenarbeiten und das Projekt in
Mosambik die Anerkennung der AWZ-Delegation gefunden hat, die dieses Projekt im letzten Jahr besucht
hat.
({5})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Diese fünf
Aspekte, die ich skizziert habe, sind Säulen unserer Aidspolitik. Allein im Jahr 2003 hat das BMZ insgesamt
339 Millionen Euro zur Aidsbekämpfung in den Entwicklungsländern eingesetzt. Damit der Mythos ein
Ende hat, sage ich: Dieses Geld ist ganz gezielt für die
Aidsbekämpfung eingesetzt worden. Wir hoffen, dass
damit den Kranken Linderung verschafft und dass diese
tödliche Krankheit eingedämmt wird.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Heinrich,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat besteht in der Analyse und vor allen Dingen
auch in der Beurteilung der Dramatik, wie die Krankheit
Aids zur Geißel der Menschheit geworden ist, eine
große Übereinstimmung. Wir sind deshalb dazu aufgerufen, unsere entwicklungspolitischen Anstrengungen daran auszurichten.
Ob unsere Entwicklungspolitik erfolgreich ist, wird
ganz wesentlich daran zu messen sein, ob wir mit der
Krankheit Aids fertig werden, ob wir bei der Bekämpfung Erfolge zu vermelden haben. Denn ganze Generationen bzw. ganze Bereiche der aktiven Bevölkerung fallen aus. So sterben zum Beispiel jährlich 17 Prozent der
Lehrer eines Staates weg. Eine Regierung kann jedoch
gar nicht so schnell wieder eine ausreichende Zahl ausgebildete Lehrer für die Schulen zur Verfügung stellen.
Dann ist höchste Alarmstufe. Man muss auch über die
13 Millionen Aidswaisen sprechen, die es hier gibt. Hier
geht es an die Substanz eines ganzen Kontinents.
Der Erhaltung dieser Substanz haben wir uns mit unserer Entwicklungspolitik verschrieben. Herr Kraus hat
einen etwas weiteren Bogen gezogen. Die wirtschaftliche
Bedeutung dieser Entwicklung wird teilweise weit
unterschätzt, aber auch die Tatsache, dass die demokratischen Strukturen dieser Länder kaputtgehen, wenn solche Entwicklungen nicht gestoppt werden können und
wir nicht erfolgreich sind. Das liegt, glaube ich, auf der
Hand.
Wir müssen endlich einen Masterplan bzw. eine klar
ausformulierte Strategie entwickeln, indem wir Bedingungen formulieren, um den Kampf gegen Aids erfolgreich führen zu können.
({0})
Da gibt es viele gute Ansätze. An vorderster Stelle ist die
Gründung des Global Aids Fund durch die G 8 zu nennen. Dies möchte ich überhaupt nicht kleinreden. Aber
ich möchte klar und deutlich herausstellen, dass es nicht
reicht, einmal eine Entscheidung zu treffen und auf
lange Sicht hin eine gewisse Summe Geld zur Verfügung
zu stellen.
Der Vergleich der Summen, die die Bundesrepublik
Deutschland und Frankreich dem Global Aids Fund
zur Verfügung gestellt haben, spricht eine eigene Sprache.
({1})
Von Frankreich wurden 2002 und 2003 je 50 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt. Die Bundesrepublik hat 2002
12 Millionen Euro und 2003 32 Millionen Euro gezahlt.
2004 stehen für den Global Aids Fund 38 Millionen
Euro zur Verfügung; Frankreich hat 150 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt.
({2})
Wir können hier über viele Hilfsmöglichkeiten reden.
Aber was nützt das, wenn Sie den Inhalten und Analysen, die Sie richtigerweise vorgetragen haben, nicht auch
konsequenterweise das Aufstocken der finanziellen Mittel gegenüberstellen?
({3})
- Hier haben wir definitiv einen Dissens.
Ich freue mich, dass die Frau Staatssekretärin Eid so
offen war. Als wir bei der Nelson-Mandela-Stiftung waren, haben Sie offen und klar gesagt, dass Sie froh sind,
dass das deutsche Parlament die Regierung immer wieder treibt, die entsprechenden finanziellen Ressourcen
zur Verfügung zu stellen. Da haben Sie sehr wahr und
sehr offen gesprochen. Ich möchte dies heute fortsetzen.
Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie trotzdem eine
Zwischenfrage der Kollegin Wimmer?
Ja, bitte.
Herr Kollege, würden Sie mir zugestehen, dass die
Bekämpfung von Aids nicht nur den Global Fund im
Blick hat, sondern dass die Bundesregierung über diesen
Fund hinaus sehr viel mehr Mittel zur Bekämpfung von
Aids einsetzt?
Ich gestehe Ihnen das gern zu; das ist gar keine Frage.
Aber auch dann, wenn wir die Summe insgesamt nehmen, stellen wir fest, dass Deutschland keinen seiner
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechenden Beitrag leistet. Nicht weniger und nicht mehr fordere ich
hier ein. Jeder, der noch ein bisschen mit Zahlen umgehen kann und sich nicht nur in ein verwirrendes, in langen Fristen gedachtes Zahlenspiel einlässt, sondern die
Fakten, die tatsächlichen Zahlen aus dem vorletzten und
letzten Jahr sowie aus diesem Jahr klar und deutlich
sieht, wird mir zustimmen müssen.
Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Wimmer?
Bitte. Wenn Sie in Ihrer Frage einen neuen Inhalt
brächten, wäre ich sehr dankbar.
Vielen Dank, Herr Kollege.
Ist Ihnen bekannt, welche Mittel Frankreich für bilaterale Bemühungen aufbringt? Wenn ja, dann hätten wir
eine Vergleichsmöglichkeit zwischen dem, was die Bundesrepublik, und dem, was Frankreich macht. Wenn Sie
fair sind, müssen Sie sagen, dass die Bundesrepublik
Deutschland bei aller Notwendigkeit zum Sparen enorm
viel Geld einsetzt und mit an der Spitze aller vergleichbaren Länder steht.
Liebe Frau Kollegin, das führt uns nicht weiter.
({0})
- Sie wollen doch eine Antwort -. Wir haben es hier mit
einer Krankheit zu tun, bei der Prophylaxe nicht mehr
ausreicht. Heute müssen wir einen massiven zusätzlichen finanziellen Aufwand treiben, um zu verhindern,
dass, wie es von Herrn Kraus und mir, aber zum Teil
auch von Ihrer Seite gesagt wurde, Strukturen zusammenbrechen. Hier ist Behandlung statt Prophylaxe vonnöten. Sie müssen massiv Geld in die Hand nehmen, damit entsprechende Versorgungszentren aufgebaut
werden können, damit eine Schulung derjenigen vorgenommen werden kann, die die Medikamente verteilen,
und damit die hohen Investitionen im Bereich der Labortechnik getätigt werden können.
({1})
Insbesondere die Diagnostik bedingt einen sehr hohen
Investitionsbedarf; er macht etwa dieselbe Summe aus,
die für Medikamente aufgewandt werden muss.
({2})
Liebe Frau Kollegin, Sie laufen jetzt weg; es tut mir
Leid. Ich fahre daher in meiner Rede fort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen
natürlich auch darauf achten, dass es bei dem erfolgreichen Kampf gegen Aids die richtigen Infrastrukturen
gibt. Hier ist bereits Sant’ Egidio angeführt worden. Wir
haben uns dies vor Ort selbst angesehen. Von solchen
NGOs kann man eigentlich nur lernen. Hier zeigt sich
wieder, dass sich unsere Entwicklungszusammenarbeit
im Wesentlichen darauf konzentrieren muss, die Infrastrukturen herzustellen und zu helfen, die großen Investitionen mit zu finanzieren. Die Arbeit vor Ort, die den
Einsatz von viel Humankapital erfordert, können wir
von hier aus nicht leisten; sie wird von den NGOs geleistet.
({3})
Aber sie sind bisher allein gelassen worden. Es hat sehr
lange gedauert, bis unsere Aufmerksamkeit auf diese
ganz besonderen Engagements gelenkt worden ist. Ich
unterstreiche nochmals, dass wir hier denjenigen helfen
müssen, die heute schon vor Ort eine großartige Arbeit
leisten.
({4})
Hinzu kommt, dass wir im Zentrum unserer Aufgaben
das Thema der HIV-Übertragung von der Mutter auf das
Kind sehen sollten. Es ist ganz sicher richtig, dass schon
während der Schwangerschaft, aber auch bei der Geburt
und in der Stillzeit Verhaltensänderungen vorgenommen
werden müssen. Hierfür sind Information und Aufklärung, aber auch eine entsprechende Infrastruktur erforderlich. Es reicht nicht aus, den Menschen zu sagen, sie
sollten ihre Kinder nicht stillen, sondern man muss auch
dafür sorgen, dass sauberes Wasser zur Verfügung steht,
um den Kindern aufbereitete Nahrung geben zu können.
Diese Infrastruktur aber können die NGOs vor Ort nicht
aufbauen. Hier müssen wir für eine verbesserte Infrastruktur arbeiten.
Gestern kam eine Tickermeldung, wonach Swasiland
künftig für das Schulgeld von 60 000 Aidswaisen aufkommt, die sonst einfach nicht mehr zur Schule gehen
könnten, weil sie es nicht zahlen könnten. Wenn Aidswaisen nicht zur Schule gehen, haben Rebellen, die Kinder zu Soldaten machen wollen, ganz besonders leichtes
Spiel, weil sie in der Regel Nahrungsmittel und ein kleines bisschen Fürsorge gewähren. Dieser Kreislauf muss
unterbrochen werden.
Darum wollen wir uns dafür einsetzen, dass sich die
Bundesrepublik Deutschland bei der Versorgung der
Aidswaisen stärker engagiert. Wir halten es für notwendig, zu überprüfen, ob wir zum Beispiel Swasiland, das
wirklich eines der ärmsten Länder ist und es sich eigentlich überhaupt nicht leisten kann, das Schulgeld von
Staatsseite zu übernehmen, helfen können.
({5})
Gleichzeitig ist es notwendig und wichtig - auch darauf legen wir besonderen Wert -, die Forschung im
Impfstoffbereich voranzutreiben. Vor allen Dingen
muss die besondere Situation in Afrika berücksichtigt
werden, wo man andere Virenstämme als in Europa
kennt. Hier sind begleitende Forschungen nötig. Auch ist
noch so gut wie gar nicht erforscht, wie sich eine Kombination von Malaria oder Tuberkulose mit Aids auswirkt. Hier ist ein breites Feld noch nicht bearbeitet. Ich
möchte die Bundesregierung nachdrücklich aufrufen,
sich hier stärker zu engagieren.
Ich bleibe dabei: Wenn wir bei der Bekämpfung von
HIV/Aids nicht erfolgreich sind, wird unsere gesamte
Entwicklungszusammenarbeit sehr stark infrage gestellt
und - so weit möchte ich gehen - fast nutzlos.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde wichtig,
dass in dieser Debatte deutlich wird, dass uns allen dieses Thema auf der Seele lastet und dass wir alle Kräfte
mobilisieren, um dazu beizutragen, dass Menschenleben
gerettet werden.
Die Zahl der Waisen im südlichen Afrika ist so groß
wie die Zahl der Kinder in Deutschland. Das macht die
Dramatik deutlich. Deshalb sollten wir keinen Streit um
die Frage führen, ob zu wenig getan werde. Ich bin
selbstverständlich für jede Unterstützung dankbar. Damit niemand Missverständnissen unterliegt: Wir leisten
einen Riesenbeitrag, der übrigens, seit wir die Regierung
übernommen haben, dramatisch gesteigert worden ist.
Wir haben damals 19 Millionen im Haushalt vorgefunden; wir sind heute, wenn man alles zusammennimmt,
bei 339 Millionen Euro, die wir bilateral und multilateral
zur Verfügung stellen.
Herr Heinrich, die Zahlen, die Sie nennen, hängen damit zusammen, dass manche Länder nur in den Globalen
Aidsfonds einzahlen. Er ist aber viel später eingerichtet
worden. Wir haben 1998 angefangen, gegen Aids zu
powern. Ich bin froh, dass wir das getan haben. Deshalb
stecken wir viel, rund 100 Millionen Euro, in die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Rechnen Sie es einfach zusammen!
Ich weiß noch, wie die Notenbankgouverneure bei der
Weltbank mich angeguckt haben, als ich erklärte, wir
müssten Programme gegen Aids auflegen. Heute geben
wir zum Beispiel 77 Millionen Euro nur für die Zuschussprogramme über die Weltbank.
Es gibt einfach Bereiche, in denen es keinen Zweck
hat, Regierung und Opposition gegeneinander zu stellen.
Lassen Sie uns vielmehr gemeinsam kämpfen! Lassen
Sie solche Rechnereien, die belegen sollen, dass wir
schlechter seien, beiseite! Das stimmt nicht. Wir sind in
diesem Bereich wirklich gut. Aber wir können und müssen noch besser werden.
({0})
Herr Kollege Heinrich, bitte.
Ich bedanke mich für Ihre Kurzintervention. Ich sehe,
dass ich einen Punkt angesprochen habe, der uns beide
berührt. Sie fühlen sich missverstanden.
Ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Ich achte die
Leistung der Bundesregierung. Sie ist überhaupt nicht
gering. Sie liegt in der Aufklärung und Prävention und
ist in einer Zeit erbracht worden, bevor der Global Aids
Fund zur Bekämpfung von Aids eingerichtet worden ist.
Das ist gar keine Frage. Hier sind wir uns völlig einig.
Aber mir geht es darum, dass wir den Global Aids Fund
jetzt stärker fördern sollten, um bei der Behandlung erfolgreich zu sein. Das ist der Punkt, den ich meine.
Außerdem, Frau Wieczorek-Zeul, sage ich Ihnen in
diesem Zusammenhang eines: Ich war sehr enttäuscht
von der Tatsache, dass der Bundeskanzler, als er vor der
Afrikanischen Union eine große Rede gehalten hat, keinen einzigen Satz zum Thema Aids gesagt hat. Die Führer aller afrikanischen Staaten waren anwesend. Das
wäre eine Möglichkeit gewesen, die entsprechenden Positionen und die Wichtigkeit des Themas darzustellen
und die Regierungschefs aufzufordern, ihre Falschmeldungen und ihren Hexenglauben, den Frau Eid zu Recht
erwähnt hat, endlich zu unterlassen. Leider Gottes müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass der Kanzler hier
eine große Chance verpasst hat.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hans Büttner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich muss mich schon ein bisschen über
die Verve bzw. die Art wundern, mit der wir hier über die
Entwicklung in den afrikanischen Ländern debattieren.
Einerseits wird gesagt, dass wir auf gleicher Augenhöhe
mit ihnen sprechen wollen. Andererseits aber tun wir
- und wenn wir ehrlich sind, stellen wir das fest - genau
das Gleiche, was wir schon hundert Jahre lang getan haben: den armen schwarzen Männern und Frauen in
Afrika zu sagen, was sie zu tun haben, anstatt sie auf ihrem Weg in Richtung Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, den sie seit 1990 vehement gegangen sind,
zu unterstützen und sie dafür zu loben.
Kollege Heinrich, ich unterstütze das, was Sie zum
Thema Aufklärung gesagt haben. Wenn wir aber all
diese Forderungen stellen, sollten wir nicht vergessen,
wie lange wir selbst in unserem hoch entwickelten und
strukturierten Land mit guter Ausbildung gebraucht haben, bis wir die Gleichberechtigung und Emanzipation
der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland zustande
gebracht haben. Jetzt zu meinen, dass dies in den afrikanischen Gesellschaften innerhalb von zwei oder drei Jahren umzusetzen ist, halte ich für Hybris, für Überheblichkeit. So kann man mit anderen Kulturen nicht
ernsthaft umgehen.
({0})
Wichtiger wäre es, endlich ernsthaft auf gleicher Augenhöhe miteinander zu reden. Das will ich anhand eines
Beispiels tun; denn wir reden hier ja nicht nur über Aids.
Wir sind uns einig, dass wir über dieses Thema aufklären
müssen. Kollege Helias und ich waren zusammen in
Afrika. Bei jedem Gespräch mit den dortigen Staatspräsidenten und auf allen Ebenen haben wir es immer wieder angeschnitten. Aber wir haben auch wahrgenommen,
dass die dortigen Kulturen einige Zeit benötigen, um etwas umzusetzen. Es wird nicht erwartet, dass wir sagen,
wie die Dinge laufen. Das heißt, wir müssen auch etwas
Geduld haben.
Heute haben wir unter anderem über den Kongo zu
debattieren. Hierbei spielt die Frage, wie man Entwicklungspolitik akzeptabler macht, eine Rolle. In diesem
Punkt kann ich Ihnen, Kollege Kraus, ein bisschen helfen. Der Kongo ist ja das Herz Afrikas. Man muss sich
erinnern: Er ist so groß wie ganz Westeuropa. Man muss
sich ein Gebiet vorstellen, dessen Hauptstadt Lissabon
ist. Dann gibt es zwei andere Städte, Warschau und Kopenhagen. Dazwischen fließt ein Fluss, sonst nichts.
Es handelt sich um ein Gebiet praktisch ohne Infrastruktur, das aber über sehr viele wertvolle Rohstoffe
verfügt. Das war auch der Grund, warum König Leopold
von Belgien dort vor knapp hundert Jahren ein privates
Kolonialregime aufgebaut hat, das nicht friedlich war
und durch das viele Afrikaner umgekommen sind. Damals gab es allerdings noch kein Fernsehen und auch
keine anderen Medien, die jeden Tag darüber berichtet
haben. Dann wurde die belgische Kolonialverfassung
entwickelt. 1960 wurde der Kongo unabhängig. Zu dieser Zeit war Patrice Lumumba Präsident, der heutzutage
übrigens von der dortigen Jugend - ob in Ruanda oder
wo auch immer - als Held wahrgenommen wird, während er bei uns schon längst vergessen ist.
({1})
- Dann sage ich: weitgehend vergessen. Wir Alt-68er
kennen ihn noch, sonst aber niemand mehr.
Dieses Land ist auch nach seiner Unabhängigkeit
vom Westen und vom Osten als Rohstoffquelle weiterhin ausgebeutet worden. Wir haben dort beispielsweise
eine deutsche Firma getroffen, die mit der alten Regierung in Kinshasa einen Vertrag über den Abbau von
Polychlorerzen abgeschlossen hat zu den Bedingungen:
15 Jahre steuer- und abgabenfrei, einmalig 97 Dollar
Hans Büttner ({2})
Lizenzgebühr. Diese Polychlorerze enthalten zu über
40 Prozent Tantal, was beispielsweise für die Elektronik
in unseren Handys gebraucht wird. Tantal wiederum
wird auf dem Weltmarkt zu Pfundpreisen zwischen
50 und 400 Dollar gehandelt. Davon bleibt dem Land
bei diesem Vertrag überhaupt nichts.
Die Mineure von uns und anderswo lassen diese Erze
von Ich-AGs, von Farmern abbauen, ohne entsprechende
Claims zu haben und ohne nennenswert dafür zu bezahlen. Das bringt Geld - für den Bauern, der sie abbaut,
vielleicht 5 Dollar. Vielleicht baut er illegal auf dem
Grundstück vom Nachbarn ab, weil er keinen abgesteckten Claim hat. Der wiederum wehrt sich dagegen. So
helfen wir letztlich mit, dass Rebellengruppen entstehen,
dass Kampf entsteht. Das organisieren wir mit. Und
dann beschweren wir uns darüber, dass dieser Staat
- dessen staatliche Strukturen 30 Jahre lang zerschlagen
worden sind - selber noch nicht in der Lage ist, von
heute auf morgen alle Rebellen zu entwaffnen, auch
nicht mithilfe der MONUC, die sehr Gutes dort tut, die
dort tut, was sie kann. Aber sie braucht Zeit dafür. Da
beschweren wir uns, dass sie nicht schnell genug Strukturen aufbaut. Ich meine, diese Hybris sollten wir ein
bisschen zurücknehmen.
Ich glaube, es wäre gut, wenn wir den Prozess der Befriedung des Kongos durch die afrikanischen Staaten
ernst nehmen würden, so wie es die Bundesregierung
seit 1998 getan hat. Die Initiativen von Pretoria, Lusaka
und anderswo waren die Auslöser dafür, dass das Land
überhaupt eine Chance hat, in eine friedliche Zukunft
gehen zu können. Diese friedliche Zukunft unterstützen
wir mit allem Nachdruck. Wir müssen dabei helfen, vor
allem auch bei der Bekämpfung von Aids.
Dieses Land und viele andere Länder brauchen vor allem staatliche Strukturen, die es ermöglichen, politische Entscheidungen auch umzusetzen. Was nützt es,
wenn es keine Verwaltung gibt? Was nützt es, wenn es
keine Polizei gibt, die auch bezahlt werden kann, weil es
keine Strukturen dafür gibt? Wir müssen endlich erkennen, dass der erste Punkt ist, mitzuhelfen, die staatlichen
Strukturen aufzubauen, die es ermöglichen, zum Beispiel Gesundheitsprogramme umzusetzen. Es wurde mit
Recht darauf hingewiesen: Man braucht eben ein Netzwerk. Nur Medikamente oder irgendwo eine Gesundheitsstation reichen nicht. Man muss auch dafür sorgen,
dass sie regelmäßig beliefert wird, dass sie angefahren
werden kann auf Straßen oder Wegen, die in Ordnung
sind, usw.
Wir haben zwei Anträge vorliegen, die bezüglich ihrer Zielsetzung im Grunde genommen nicht sehr weit
auseinander liegen; ich bin mir sicher, wir können uns in
den Beratungen auf einen gemeinsamen Weg einigen.
Aber wir sollten uns bei dieser Diskussion - das ist anlässlich dieser Rede meine Bitte - vielleicht dazu durchringen, den Wert, den der Dialog miteinander hat - mit
den afrikanischen Staaten und den neuen afrikanischen
Führern; so viele sind es ja noch nicht -, höher zu schätzen, als wir es im Moment noch tun.
Es ist gut, dass der Bundeskanzler und die Ministerin
für Entwicklungszusammenarbeit Präsident Kabila hier
empfangen haben. Ich glaube, der Mann ist es wert, dass
wir ihn unterstützen, auch in seinem Dialog mit seiner
Gesellschaft. Auch wir sollten lieber miteinander reden
als gegeneinander zu schweigen. Unser lieber Kollege
Helias hat das Prinzip aufgestellt: Lieber mit dem Teufel
reden, wenn es dem Frieden dient, als das nicht tun. Das
sollten wir auch tun, denn es spielt in Afrika, es spielt im
Kongo eine noch größere Rolle als vielleicht bei uns.
Vieles läuft dort noch nicht so rational wie bei uns,
auch in der Politik nicht. Die Politik im Kongo baut zum
Beispiel noch auf einer Vielzahl familiärer und persönlicher Strukturen auf. Mein Appell an Sie lautet daher:
Nehmen Sie den Antrag zum Thema Kongo zum Anlass,
im Rahmen der Afrikapolitik gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Initiativen, die die afrikanischen Staaten
selbst ergreifen, um in ihren Ländern stabile Strukturen
zu schaffen, Erfolg zeigen. Diese sind Voraussetzung für
die Bekämpfung von Armut und Aids. Dabei können
NGOs - das sage ich mit aller Vorsicht - durchaus Hilfestellung geben. Aber es muss auch die Frage erlaubt
sein, ob es für diese Staaten, die kaum über eine staatliche Bürokratie verfügen, gut ist, wenn sie zum Beispiel
für die Mitarbeiter von 4 000 NGOs und mehr, die in ihrem Land gleichzeitig tätig sind, Arbeitserlaubnisse ausstellen und verlängern müssen.
({3})
Diese Papiere verlangen wir von Ausländern, die bei uns
arbeiten, auch. Also haben auch diese Staaten das Recht
dazu.
Wir müssen überlegen, wie wir den Staaten dabei helfen können, ihre Strukturen selber aufzubauen, damit sie
die Aufgaben, die sie lösen müssen, auch lösen können.
Lassen Sie uns dabei zusammenarbeiten. Ich glaube, dadurch würden wir mehr zur Bekämpfung von Aids und
von Armut, zur Entwicklung der Länder und zur Kooperation zwischen unseren beiden Kontinenten beitragen
als durch wohlfeile Appelle.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Hartwig Fischer, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie ist die Ausgangslage zehn Jahre nach dem Genozid in Ruanda und nach fünf Jahren Bürgerkrieg im
Bereich der Großen Seen, der 3,5 Millionen Tote vor allem in der Demokratischen Republik Kongo gefordert
hat? Wir haben darüber im Mai eine intensive Debatte
geführt, haben Anträge beraten und Forderungen an die
Bundesregierung gestellt. Auf diese Weise haben wir in
diesem Parlament mit dafür gesorgt, dass über die
Medien die Situation der Menschen in der Demokratischen Republik Kongo in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden ist. Wir erleben, dass sich die
Hartwig Fischer ({0})
Übergangsregierung bemüht, die Situation in der DR
Kongo zu stabilisieren. Aber der Frieden, der dort derzeit herrscht, ist außerordentlich zerbrechlich.
Noch vor etwa einem Jahr hatte die MONUC nur
einen reinen Beobachterauftrag. Noch im Frühjahr waren Tausende von Toten zu beklagen. „MONUC steht
heute auf den Schultern von ARTEMIS“, so hat William
Lacy Swing, der Sonderbeauftragte der UNO, gesagt.
Die MONUC hat ein anderes, ein stabileres Mandat erhalten und kann nun zum Frieden in der Region beitragen. MONUC hat aber noch immer nicht genügend Personal, um den Ostkongo insgesamt zu befrieden. Wir
haben vor 14 Tagen erleben müssen, dass im Bereich des
Albertsees über 100 Familien auseinander gerissen wurden; 100 Männer wurden ermordet, die Frauen und die
Kinder haben das Martyrium einer Entführung erlebt
und sind seitdem verschwunden. Wir haben aber auch
erlebt, dass MONUC sofort flexibel reagiert hat und
zwei neue Garnisonen in Arhu und Mahagi aufgestellt
hat. Man agiert und reagiert also.
Im Ostkongo gibt es über 47 Brigaden von fünf verschiedenen Milizen mit circa 180 000 Kämpfern, die es
zu befrieden gilt. Damit ist MONUC derzeit noch überfordert. Wir können aber feststellen, dass es zum Beispiel eine Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und
der Regierung gibt. Vor zwei Tagen wurde mithilfe des
Bischofs dafür gesorgt, dass man in Bukavu den Gouverneur abgesetzt hat, nachdem 10 Tonnen Waffen auf
dem Grundstück des Gouverneurs gefunden und dann
entsorgt werden konnten.
({1})
Welches sind die notwendigen Schritte? - Der erste
notwendige Schritt ist die Demobilisierung der Soldaten,
insbesondere der Kindersoldaten. Eine Stabilisierung des
Ostkongo werden wir aber nur durch die Festigung von
rechtsstaatlichen Grundsätzen erreichen, wozu der Aufbau und die Ausbildung der Polizei und der Justiz unterstützt werden muss; der Kollege Büttner hat das kurz angesprochen. Der zweite notwendige Schritt ist der
Ausbau der Infrastruktur. Schließlich ist das Gebiet so
groß wie Europa und hat eine Grenze zwischen den verfeindeten Staaten von knapp 10 000 Kilometern, die es
zu sichern gilt, ohne dass es ausreichend Straßen gibt.
Wir müssen die Regierung der DR Kongo unterstützen, dass die illegale Ausbeutung der Bodenschätze auch
durch ein transparentes Konzessionsvergabeverfahren
unterbunden wird. Vielen ist gar nicht bewusst, dass die
DR Kongo die grüne Lunge Afrikas ist, die ähnlich wie
das Amazonasgebiet in Brasilien mit zum Weltklima
beiträgt.
Dies alles veranlasst uns natürlich, die Zusammenarbeit zu verstärken. Es existiert bereits ein Investitionsschutzabkommen. Wir brauchen dieses Investitionsschutzabkommen, damit wir gemeinsam handeln und
verhandeln können und damit die wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärkt wird. Die wichtige Arbeit der
NGOs und der Kirchen muss insbesondere im Bereich
der Grundbildung, der beruflichen Bildung und der Gesundheit weiter verstärkt werden. Parallel dazu müssen
Projekte gestützt und ausgebaut werden - wie zum Beispiel die Projekte der Welthungerhilfe -, durch die Hilfe
zur Selbsthilfe geleistet wird. In den nächsten Wochen
und Monaten benötigt die Demokratische Republik
Kongo eine besondere Unterstützung bei der Vorbereitung der demokratischen Wahlen. Insbesondere gilt es,
auch die Nichtregierungsorganisationen bei dieser Vorbereitung zu unterstützen.
Eine der zentralen Forderungen der Union ist allerdings auch, dass die DR Kongo wieder zum Partnerland
der deutschen Entwicklungsarbeit wird. Dies ist auch
mit Blick auf die Konferenz der Staaten in der Region
der Großen Seen wichtig. Die Verhandlungen dort dienen der Stabilisierung Zentralafrikas, wodurch auch die
Demokratische Republik Kongo auf gleicher Augenhöhe
mit anderen Partner- und Schwerpunktländern verhandeln können muss.
({2})
Insbesondere zwischen der EU, Deutschland und den anderen Geberländern brauchen wir dringend die Koordinierung der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit bei staatlichen und nicht staatlichen Aktivitäten.
Sicherheit und Stabilität liegen auch im deutschen Interesse.
Es stellt sich auch die Frage, wie wir mit den Flüchtlingslagern dort umgehen. Bilden wir dort einen Bodensatz, durch den Fundamentalisten in dieser Region eine
Chance für Terrorismus und Islamismus gegeben wird?
Aus einem Krieg resultieren Ströme von Flüchtlingen,
auch Wirtschaftsflüchtlingen. Diese schädigen die gesamte Entwicklung in Zentralafrika und später eventuell
auch in der Bundesrepublik Deutschland. Prävention ist
auf Dauer günstiger als Reparatur.
({3})
Herr Kollege Büttner, ich wende mich nun an Sie. Sie
haben die Aussage unseres Kollegen Kraus aufgegriffen,
nach der es in unserem Ausschuss sehr harmonisch zugeht. Das ist gut so; denn es liegt im gemeinsamen Interesse. Wir müssen aber aufpassen, dass die gemeinsame
Zielsetzung des Parlaments - entsprechende Forderungen werden durch Parlamentsbeschlüsse aufgestellt Berücksichtigung findet. Ich gehe gerne noch einmal auf
die strittigen Anträge ein. Im Mai des vergangenen Jahres lagen zwei Anträge vor, über die wir uns leider nicht
einigen konnten. Ich gehe jetzt nur auf den Antrag ein,
den Sie damals gestellt haben.
In Ihrem Antrag von damals stand, die Arbeit der
MONUC müsse finanziell und politisch - auch durch die
Entsendung von Führungskräften in den Stabsstellen unterstützt werden. Diese Forderung an die Bundesregierung kam auch von Ihrer Seite. In diesem Bereich hat
sich nichts getan.
({4})
Es gibt einen zweiten Bereich. In unserem Antrag forderten wir, die Luftüberwachung zu verstärken. Wir
Hartwig Fischer ({5})
wissen, dass 80 Prozent der Waffentransporte - derzeit
noch weitestgehend aus Uganda - auf dem Luftweg erfolgen. Wir haben die Bundesregierung damals dazu aufgefordert, eine Luftüberwachung mit aufzubauen. Das
Ganze ist fast ein Jahr her. Wie uns Herr Swing ausdrücklich noch einmal bestätigt hat, ist in dieser Frage
nichts passiert.
Wir haben auch gefordert, dass die Programme gemäß Ihrem Antrag, der durch das Parlament verabschiedet wurde, in Bezug auf die Kindersoldaten erweitert
werden. Ich bin dort gewesen. Ich habe mich über die Situation in Bunia informiert und mir ein Lager mit
100 Kindersoldaten angesehen. Bezüglich der Situation
vor Ort wurde uns gesagt: Wenn wir sie dazu aufrufen,
aus dem Wald zu kommen und sich entwaffnen zu lassen, um wieder resozialisiert zu werden, dann stehen
plötzlich 2 000 junge Leute bei uns in der Stadt. Die Programme greifen nicht, weil wir erst in dem Augenblick
handeln dürfen, wenn die Menschen da sind. Dann sind
wir jedoch nicht darauf vorbereitet, weil die Mittel erst
später zur Verfügung gestellt werden.
Das ist eine unbefriedigende Situation. Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung das, auf was wir uns
im Ausschuss verständigt haben und was hier im Parlament verabschiedet worden ist - das ist jetzt fast ein Jahr
her -, auch umsetzt, damit es eben nicht nur Gegenstand
einer Debatte bleibt, sondern auch ein Handeln zur Folge
hat.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig: Die Demokratische Republik Kongo gehört nicht nur zu den größten Ländern Afrikas, sondern auch zu den Ländern, die nach der Kolonialzeit zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben haben. Die Demokratische Republik Kongo hätte ein
Land sein können, das nach der Kolonialzeit keiner Entwicklungszusammenarbeit oder jedenfalls keiner Entwicklungshilfe mehr bedurft hätte, weil es ungeheuer
viele eigene Ressourcen in Form von Bodenschätzen wie
Diamanten, Kupfer, Coltan und Gold besitzt, die ausgebeutet wurden und viele Menschen - aber zuletzt die
Kongolesen selbst - haben reich werden lassen.
Die Demokratische Republik Kongo ist bis heute leider nicht das Land geworden, das es hätte werden können, nämlich ein Land mit unabhängiger Entwicklung
und Fortschritt für den Wohlstand der Menschen, ein
friedliches Land. Die Republik Kongo ist zu einem der
schlimmsten Orte des von Krieg, Vertreibung und Zerstörung geprägten Kontinents geworden. Ein solches
Land wird man in Afrika an anderer Stelle kaum finden.
Die Situation in den letzten Jahrzehnten in der Demokratischen Republik Kongo ist zu Recht mit der Situation in
Europa während des Dreißigjährigen Krieges verglichen
worden. Die staatlichen Strukturen sind fast völlig zerstört und die Lebensgrundlagen für große Teile der Bevölkerung vernichtet worden. Die Menschen in diesem
Land haben von dem Reichtum dieses Landes so gut wie
nichts abbekommen.
Welches sind dafür die Gründe? Die Gründe waren
wahrscheinlich auch - so zynisch das klingt - der Reichtum dieses Landes, weil die ökonomischen Interessen
vieler anderer Länder aus Europa, aber auch aus Afrika
an die Entwicklung dieses Landes geknüpft waren. Die
ehemaligen Kolonialherren wie auch andere europäische
Länder haben in der Folgezeit die Ausbeutung dieses
Landes fortgesetzt und zu Kriegen mit Millionen von
Toten beigetragen.
Nun dürfen wir aber nicht - darin unterscheidet sich
Ihr Antrag von dem Antrag der Koalition - vergessen,
dass auch Kongolesen an dem Entstehen der heutigen Situation im Kongo beteiligt gewesen sind. Schließlich ist
Lumumba im Kongo ermordet worden. Schließlich ist
Mobutu als Diktator in der Demokratischen Republik
Kongo zu einem ganz wesentlichen Anteil an der Unterdrückung der Bevölkerung und der Ausbeutung des Landes durch auswärtige Staaten beteiligt gewesen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Laurent Kabila, also der
Vater des jetzigen Präsidenten Joseph Kabila, der zunächst zu großen Hoffnungen Anlass gegeben hatte, ein
Regime errichtet hat, das bekämpft werden musste. Wir
wissen auch, dass im Kongo Konflikte der Region der
Großen Seen durch die Nachbarstaaten mit ausgetragen
werden. So stationierten beispielsweise Ruanda,
Uganda, Burundi, Simbabwe und Angola im Kongo Soldaten, die dort mit Waffengewalt nicht nur eigene Interessen, sondern ebenso die der jeweiligen Staaten wie
auch die einzelner Gruppen im Kongo durchzusetzen
versuchten.
Wir haben jetzt die Chance - darüber ist gesprochen
worden -, eine friedliche Entwicklung im Interesse der
Bevölkerung zu erreichen, bei der der Reichtum des
Kongos den Menschen dieses Landes zugute kommen
könnte. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Ich
sehe den wesentlichen Unterschied zwischen den Anträgen der CDU/CSU-Fraktion und der Koalition zunächst
darin, dass wir einiges aufgelistet haben, was in den letzten Jahren positiv geleistet wurde, und zwar nicht nur
von der Bundesregierung, sondern auch von den Abgeordneten dieses Parlaments.
Erinnern wir uns doch daran - es ist richtig, dass das
in dem Antrag steht -, dass die Aktion ARTEMIS dazu
beigetragen hat, das Völkermorden in diesem Lande zu
beenden, und dass diese Aktion vom deutschen Parlament mitgetragen worden ist. Erinnern wir uns an die
vielen Reisen, die von Abgeordneten dieses Parlaments
unternommen worden sind - auch in die Nachbarländer
des Kongo -, bei denen wir alle darauf gedrungen haben,
dass etwa Ruanda, Uganda oder Burundi ihre Soldaten
aus dem Kongo abziehen und damit helfen, eine friedliche Lösung zu erreichen. Nicht nur die Minister waren
dort, sondern auch Abgeordnete haben ihren Teil dazu
beigetragen. Stellen wir unser Licht nicht unter den
Scheffel. Die Gespräche, die wir heute noch führen, die
Gespräche, die wir letzte Woche mit Herrn Kabila und
seiner Crew geführt haben, und die Gespräche, die wir
im April auf unserer nächsten Reise in den Kongo und
nach Ruanda führen werden, können zu einer vernünftigen, friedlichen und im Interesse der Bevölkerung liegenden Entwicklung im Kongo beitragen.
Lassen Sie mich zuletzt auf einen wesentlichen Punkt
hinweisen,
Herr Kollege Ströbele, Ihre Redezeit ist überschritten.
der mir als Grünem, dem Kollegen Ruck und den
Kollegen von der SPD besonders am Herzen liegt. Der
Kongo ist auch ein Land, in dem die Natur, die Fauna
und die Flora, eine zentrale Rolle spielen können und
sollen. Lassen Sie uns dazu beitragen, dass das große
und wichtige Projekt der GTZ in Kahuzi-Biega erfolgreich fortgeführt wird. Wir haben es in all den Jahren des
Krieges erhalten können. Wir wollen, dass dieses Projekt
ausgeweitet wird und der Reichtum der Region und dem
Land zugute kommt.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Conny Mayer, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café am
Potsdamer Platz, am Brandenburger Tor oder irgendwo
in Ihrem Wahlkreis, und stellen Sie sich vor, jede fünfte
Frau und jeder fünfte Mann trägt die Aidsschleife. Ich
war am 1. Dezember des vergangenen Jahres, am Weltaidstag, in Kapstadt, Südafrika. Etwa jeder Fünfte in
dem Café und etwa jeder Fünfte, der an mir vorbeiging,
trug dieses Zeichen.
Derzeit sind nach Schätzungen von UNAIDS in Südafrika über 20 Prozent aller Menschen im erwerbsfähigen Alter, also jeder Fünfte, mit dem tödlichen Virus infiziert. Das ist Realität in Südafrika.
Laut aktuellem „Aids Epidemic Update“, der auf dem
New Yorker Gipfel - darüber wurde heute schon gesprochen - im vergangenen September vorgestellt wurde,
liegt die Zahl der infizierten Menschen bei rund
40 Millionen weltweit.
Kofi Annan hat in New York deutlich gemacht, dass
der Kampf gegen HIV/Aids mit dem bisherigen Engagement nicht gewonnen werden kann. Frankreichs Staatspräsident Chirac, der russische Staatspräsident Putin, der
amerikanische Außenminister Colin Powell, der niederländische Premierminister - alle haben in New York geredet. Wo war Bundeskanzler Schröder?
({0})
Wo war die im Kabinett zuständige Ministerin?
({1})
- Frau Eid, Sie waren da, ich weiß. Aber ich habe aufgezählt, welche hochrangigen Regierungsmitglieder der
anderen Länder anwesend waren. Wo war die Spitze der
Bundesregierung - lassen Sie es mich so sagen -, als es
darum ging, der Welt die dramatische Situation vor Augen zu führen und konkrete Pläne zur Bekämpfung von
HIV/Aids zu diskutieren?
Das Thema HIV/Aids braucht in Deutschland wieder
einen höheren Stellenwert. Ich meine das nicht nur, aber
auch politisch. Kollege Kraus hat es ebenso wie Kollegen von beiden Seiten angesprochen. Diesem Thema
muss in Deutschland wieder ein höherer politischer Stellenwert eingeräumt werden, und zwar nicht in der zweiten Reihe, sondern auf höchster politischer Ebene.
({2})
Wir müssen gemeinsam unseren Beitrag dazu leisten,
dass HIV/Aids wieder und noch stärker als bisher als gesellschaftliches Problem anerkannt und angegangen
wird. Die Krankheit - auch darauf wurde bereits hingewiesen - hat in einigen Ländern südlich der Sahara die
Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit der vergangenen Jahre, ja teilweise sogar Jahrzehnte, zunichte gemacht.
HIV/Aids hat gerade in Entwicklungsländern gravierende Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesundheit, auf
das Sozial- und Bildungssystem wie auch auf die Sicherheits- und Außenpolitik. Hinzu kommt - das erkennen
wir alle, es ist aber meines Wissens noch nicht so deutlich formuliert worden; deswegen will ich an dieser
Stelle darauf hinweisen -, dass die Seuche das Erreichen
der Millenniumsziele, die wir uns gemeinsam gesetzt haben, bedroht. Ich halte es deshalb für richtig, dass wir bei
unseren Partnerländern ein angemessenes Engagement
im Kampf gegen die Krankheit einfordern und das auch
zur Voraussetzung für die bilaterale Zusammenarbeit
machen.
({3})
Lassen Sie mich noch einmal auf die Zahlen zu sprechen kommen. Ich habe mich vorhin nicht in die Debatte
eingemischt, da ich jetzt die Gelegenheit habe, dazu
Stellung zu nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland
hat bisher 40 Millionen Euro in den Globalen Fonds
eingezahlt. Für dieses Jahr sind 38 Millionen Euro vorgesehen. Im Vergleich dazu hat Italien - das Beispiel
Frankreich wurde bereits erwähnt - bisher 172 Millionen Euro eingezahlt und wird in den kommenden beiden
Jahren noch 200 Millionen Euro in den Fonds einzahlen.
({4})
- Hören Sie erst zu, dann können wir darüber diskutieren!
Sie weisen zwar zu Recht darauf hin, dass wir uns
auch auf bilateraler Ebene stark engagieren. Entscheidend ist aber beides: die Einzahlungen in den Globalen
Fonds und die bilaterale Hilfe. Wir bleiben hinter dem
Conny Mayer ({5})
zurück, was unserer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung entspricht.
({6})
In der Diskussion um HIV/Aids ist eines wichtig: Bei
der Aidskonferenz der Vereinten Nationen im Juni 2001
war immer wieder von zusätzlichen 7 Milliarden bis
10 Milliarden US-Dollar die Rede, die notwendig sind,
um den Kampf gegen HIV/Aids zu gewinnen und die
Millenniumsziele zu erreichen.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Antrag
der Koalition machen. Wir sind uns in der Analyse in
vielen Punkten einig. Ich wundere mich aber, dass im
Koalitionsantrag festgestellt wird, dass die Bundesregierung jährlich 300 Millionen Euro für die Bekämpfung
von HIV/Aids ausgibt. Diese Zahl ist falsch, wir haben
darüber schon einmal in der Fragestunde gestritten. Ich
will auch begründen, warum ich die Zahl für falsch
halte.
Erstens. Der Globale Fonds gibt in seinem Jahresbericht an, dass 60 Prozent der Mittel in HIV/Aids-Projekte fließen. Die restlichen 40 Prozent der Mittel
werden zur Finanzierung von Tuberkulose- und Malariaprojekten verwendet. Diese Projekte sind wichtig - ich
will sie nicht geringschätzen -, aber warum werden die
gesamten Mittel aus dem Globalen Fonds in die Ausgaben für die HIV/Aids-Bekämpfung mit eingerechnet?
Zweitens. Warum rechnen Sie alle Mittel, die irgendetwas mit Gesundheit zu tun haben, mit 25 Prozent bei
den HIV/Aids-Ausgaben ein? Warum berücksichtigen
Sie nicht nur die Mittel, die den 25 Kategorien der „key
interventions“ von UNAIDS entsprechen? Warum
- wenn Sie denn so vorgehen - belegen Sie das nicht
wenigstens entsprechend? Die „community“ der mit
HIV/Aids-Beschäftigten fordert die Bundesregierung
immer wieder dazu auf.
Zum Ende meiner Rede komme ich noch einmal auf
das Café in Kapstadt zurück. Ich wünsche mir, dass ich
irgendwann in Südafrika im Café sitzen kann und niemanden oder nur sehr wenige Menschen sehe, die die
Aidsschleife tragen, weil die Zahl der HIV-Infizierten
und Aidskranken drastisch zurückgegangen ist.
Ich appelliere an die Bundesregierung und an uns alle
über die Fraktionsgrenzen hinweg: Lassen Sie uns den
Kampf gegen HIV/Aids angehen, und zwar noch engagierter als bisher!
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Schmidt, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie den Begriff „Wüste“ hören? - Wüste, das ist doch - weit entfernt - eine archaische Landschaft, in der wenige Lebewesen in gleißender
Hitze ihre karge Lebensform finden: Steinwüsten, Sandwüsten, irgendwo in fernen Regionen. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass die Problematik der zunehmenden Wüstenbildung, der Landverödung und der
Bodenerosion nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Wer weiß denn schon um das dramatische
Anwachsen verödender Landstriche weltweit, einer Fläche, die dreieinhalbmal so groß ist wie Europa? Die
Existenzgrundlage von mehr als 1 Milliarde Menschen
in 110 Ländern ist bedroht. Derzeit sind in 70 Prozent aller Trockengebiete Auswirkungen von Wüstenbildungen
festzustellen. Dies entspricht einer Fläche von 36 Millionen Quadratkilometern. Sollte dieser Prozess in den
kommenden zwei Jahrzehnten mit der gleichen Dynamik
weiter voranschreiten, ist gerade in den Ländern des Südens mit einem erheblichen Rückgang der landwirtschaftlichen Nutzfläche zu rechnen.
Die Folgen für die betroffene Bevölkerung in den
Ländern des Südens sind gravierend: Hunger, Migration,
der Zusammenbruch sozialer Strukturen und politische
Destabilisierung. Etliche Millionen Menschen, so viele,
wie in Deutschland und Frankreich leben, stehen vor der
Gefahr, durch Landverödung zu Flüchtlingen zu werden.
Langzeitstudien in Westafrika belegen einen konstanten
Migrationsfluss von der Sahelzone zu den Küstenregionen. Dort wird die Bevölkerung in einem Zeitraum von
20 Jahren auf das Dreieinhalbfache ansteigen.
In Megastädten und in anderen immer dichter besiedelten Regionen hat die Umwelt keine Chance und werden
Ressourcen unwiederbringlich verbraucht. Obwohl wir
das alles wissen, ist das Bewusstsein für die Dringlichkeit
der Bekämpfung der Wüstenbildung noch viel zu gering.
Ursache hierfür sind zwei verbreitete Fehleinschätzungen:
Erstens. Wüstenbildung wird vielfach lediglich auf die
Ausbreitung bereits bestehender Wüsten bezogen. Zweitens. Damit wird das Phänomen vor allem als Problem der
Länder des Südens wahrgenommen. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Wüstenbildung aber schon lange um
ein globales Umwelt- und Entwicklungsproblem. In
erster Linie geht es bei der Wüstenbildung gerade nicht
um die Ausbreitung vorhandener Wüsten, sondern vor
allem um von Menschen verursachte Landverödung und
Bodenerosion durch die Übernutzung von Böden und
Wäldern.
„Betonwüste“, den Begriff kennen wir alle. Aber wer
bringt die Versiegelung von Flächen in Zusammenhang
mit dem globalen Klimawandel? Wer sieht in benachteiligenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Ursachen für den Raubbau an Boden- und anderen Naturschätzen? Übrigens, betroffen sind nicht nur die Länder
in den Trockenzonen der Erde. In zunehmendem Maße
greifen Landverödung und Bodenerosion auch in Nordamerika und Europa um sich.
Mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur
Bekämpfung der Desertifikation steht uns seit 1996 ein
völkerrechtlich verbindliches Instrument zur Bekämpfung der Wüstenbildung zur Verfügung. Die Konvention hat neben dem Schutz der Böden in Trockengebieten ausdrücklich auch die Bekämpfung der Armut
zum Ziel. Armut ist sowohl Ursache als auch Folge von
Dagmar Schmidt ({0})
Landverödung und Bodenerosion. In einem nicht enden
wollenden Teufelskreis zwingt Existenznot viele Menschen, die natürlichen Ressourcen ihrer Länder um jeden
Preis auszubeuten - leider oft zu einem Dumpingpreis.
Die damit einhergehende Landverödung schafft Armut
und beschleunigt so den Prozess der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Mit dem Aktionsplan 2015 der rot-grünen Bundesregierung wollen wir diese Spirale des Verderbens stoppen. Die Bekämpfung der Wüstenbildung stellt seit langem einen Förderschwerpunkt der Bundesregierung dar.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert derzeit weltweit 250 Vorhaben, davon über die Hälfte in Afrika. Meine Damen
und Herren, es gibt eine Chance, Armut durch nachhaltige Entwicklung zu überwinden. Es gibt ein Wissen um
den Erhalt von Boden- und Wasserressourcen.
Dieses Wissen wird gebündelt im Sekretariat der UNWüstenkonvention in Bonn. Mit der Ansiedlung des Sekretariats hat Deutschland eine besondere Verantwortung in diesem Aktionsfeld übernommen und gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zum Ausbau des Zentrums
für internationale Kooperation in Bonn geleistet - eine
Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Land und der Stadt
Bonn. Für uns ist es wichtig, neben den bereits ansässigen nationalen und internationalen Organisationen weitere Institutionen, vor allem aus den Bereichen Umwelt
und Entwicklung, anzusiedeln. So wird nationale mit internationaler Politik besser vernetzt und werden die hervorragenden Konferenzmöglichkeiten, die Bonn bereitstellt, in Zukunft gesichert. Die Petersberg-Konferenzen
zu Afghanistan haben der friedensfördernden Rolle der
Bundesregierung, die eng mit dem Standort Bonn verknüpft ist, hohe internationale Anerkennung verschafft.
Meine Damen und Herren, trotz aller Unterstützung hat
die UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung
bisher noch nicht den gleichen Stellenwert wie die Konvention von Rio zum Klimaschutz und zur Biodiversität.
Deshalb begrüßen wir es außerordentlich, dass die 6. Vertragsstaatenkonferenz in Havanna im September 2003
beschlossen hat, die Globale Umweltfazilität als Finanzmechanismus für die Konvention anzuerkennen. Dadurch werden bis 2007 internationale Finanzmittel in
Höhe von 500 Millionen US-Dollar für Programme gegen Entwaldung und Desertifikation zur Verfügung gestellt.
Im Rahmen der Vertragsstaatenkonferenz in Havanna
im vergangenen September sind mehr als 100 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 43 Ländern zusammengekommen. Zwar war die Beteiligung aus Europa
insgesamt unzureichend, aber der Deutsche Bundestag
war mit einer fünfköpfigen Delegation vertreten.
Jetzt ein Lob, das ich wegen der Scheuklappen bei Ihrem Kollegen eigentlich streichen wollte, nun aber trotzdem bringe. Ich kann die Bewertung meines Kollegen
Heinrich gestern im Ausschuss, dass wir gerade mit
Blick auf die vor uns liegende Konferenz „Erneuerbare
Energien“ unser Gewicht als Parlamentarierinnen und
Parlamentarier in den jeweiligen Meinungsbildungsprozess einbringen müssen, wie in Havanna in der Frage der
Wüstenbildung, nur mit Nachdruck unterstützen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf an dieser
Stelle auch Professor Dr. Uwe Holtz für die gute Vorarbeit
und Moderation in Havanna danken. Dank für die nach lebendiger Diskussion zustande gebrachte Resolution der
Parlamentarierkonferenz! Damit haben wir eine demokratisch legitimierte Grundlage zum Kampf gegen
Landverödung und Wüstenbildung gewonnen. Aber vor
allem haben wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier
uns verpflichtet, in unseren nationalen Parlamenten die
Frage der Wüstenbildung zu thematisieren und dadurch
zur Bewusstseinsbildung über die globale Bedeutung des
Problems der Landverödung und Bodenerosion beizutragen.
Wir sind dieser Verpflichtung mit der Einbringung
des vorliegenden Antrags und der heutigen Debatte verantwortungsvoll nachgekommen. Wir machen damit
deutlich: Armutsbekämpfung, Krisenprävention, gerechte Gestaltung der Globalisierung und nachhaltige
Entwicklung bedingen sich gegenseitig und können nur
gemeinsam verwirklicht werden. Landverödung, Bodenerosion und Wüstenbildung sind längst nicht mehr weit
weg. Romantische Verklärung der Wüsten oder gar
Abenteuerlust dürfen den Zusammenhang der Problematik mit unserer Zukunft nicht vernebeln. Ich wünsche
mir daher, dass Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, sich dieser Einsicht und unserem Antrag anschließen. Damit könnten wir auch international ein Zeichen setzen, nämlich dafür, dass in Deutschland bei der
Bekämpfung der Wüstenbildung alle Kräfte an einem
Strang ziehen.
Schönen Dank.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Wüste. - Der weltweite Schutz der Böden ist ebenso
wichtig und verdient genauso viel Aufmerksamkeit, wie
sie dem Klimaschutz schon eine geraume Weile zukommt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Veränderungsgeschwindigkeit der Böden erheblich höher ist als
die des Klimas. Allerdings ist die emotionale Betroffenheit weitaus geringer als bei Epidemien oder Hungersnöten.
Durch das Anwachsen der Weltbevölkerung wird der
Druck auf die Ressource Boden besonders in den Entwicklungsländern immer stärker. Dies führt zu einer zunehmenden Gefährdung der Ernährungsgrundlage und
lässt großräumige Bevölkerungswanderungen erwarten.
Auch hier ist Afrika besonders betroffen. Letztlich berührt eine Destabilisierung in den betroffenen Regionen
Christa Reichard ({0})
auch die Interessen der Industrieländer, also auch die
Deutschlands.
Die sicherheitspolitische Relevanz von Wüstenbildung und Bodendegradierung in Entwicklungsländern
ist offensichtlich; deshalb fordern wir auch von der deutschen Außenpolitik eine verstärkte Beachtung der sicherheitspolitischen Aspekte der internationalen Umweltzerstörung.
({1})
In Ihrem Antrag erwecken Sie den Eindruck, als begännen wir im Bundestag gerade erst, uns mit diesem
Thema zu befassen. Dem ist nicht so. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen hat uns bereits 1994 einen umfassenden Bericht über den weltweiten Zustand der Böden vorgelegt
und den dringenden Handlungsbedarf deutlich gemacht.
Der Deutsche Bundestag hat sich 1999 und 2000 mit diesem Thema lange und intensiv befasst und mit großer
Mehrheit einen Antrag zum grenzüberschreitenden Bodenschutz verabschiedet.
Dabei kam dem Kampf gegen die Wüstenbildung und
der Unterstützung der Wüstenkonvention selbstverständlich eine besondere und herausragende Bedeutung zu.
Meine Vorrednerin hat bereits an die Vertragsstaatenkonferenz 2003 erinnert. Dem Bonner UN-Sekretariat der
Wüstenkonvention möchte ich im Namen meiner Fraktion für seine hervorragende Arbeit, die auch im vorliegenden Antrag deutlich wird, ausdrücklich Dank sagen.
({2})
Der vorliegende Antrag lässt bei mir trotzdem noch
einige Fragen offen, die ich hier ansprechen möchte. Es
beginnt mit der Überschrift: Dort vermisse ich den Bezug zur Bodendegradation in den Entwicklungsländern
insgesamt, der uns vor vier Jahren besonders wichtig erschien. Frau Schmidt, Sie haben dies in Ihrer Rede besonders betont. Warum nehmen wir eine Beschränkung
vor? Selbst die Wüstenkonvention wurde in den Anhängen für andere Bodenschäden geöffnet.
({3})
- Ich habe die Überschrift angesprochen. Sie soll deutlich machen, was im Antrag steht.
Mich interessiert, was die Bundesregierung konkret
getan hat, seit die Aufträge des Parlaments von 2000 auf
dem Tisch liegen. Die Ausführungen im Bodenschutzbericht der Bundesregierung von 2002 zu den Aktivitäten
in den Entwicklungs- und Schwellenländern sind mehr
als dürftig und beziehen sich primär auf die Aufzählung
der verschiedenen internationalen Konventionen. Das
reicht nicht aus!
({4})
Die gute Arbeit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Desertifikation wird in diesem
Bericht nicht einmal erwähnt. Liegt das an Abstimmungsproblemen in der Bundesregierung? Nach meiner
Auffassung sind Umwelt und Entwicklung zwei Seiten
einer Medaille; sie gehören zusammen.
Die Vorlage dieses Berichts zum Ende der Legislaturperiode hat sich auf die Befassung im Bundestag ungünstig ausgewirkt. Der Bericht liegt nun ohne Parlamentsbefassung in der Schublade. Eine Bitte an die
Bundesregierung: Legen Sie den nächsten Bericht rechtzeitig und vor allem umfassend vor, damit er auch im
Parlament genügend Aufmerksamkeit finden kann!
({5})
Eine weitere Frage: Welche neuen Erkenntnisse gibt
es inzwischen zu den Wechselbeziehungen zwischen
Desertifikation und Bodendegradation, Trinkwasserschutz, Klimaveränderung, Tropenwaldvernichtung, Artenvielfalt, Bevölkerungswachstum und weiteren Faktoren? Ist die Struktur der deutschen Forschung zum
globalen Wandel interdisziplinär geworden? Ist die internationale Verflechtung und damit die Problemlösungskompetenz - wie vom Wissenschaftlichen Beirat gefordert seit 1994 gewachsen?
Ich schlage vor, dass wir uns vor der Beratung des
Antrags in den Ausschüssen erst einmal die noch offenen Fragen zum Thema von der Bundesregierung beantworten lassen. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Ich
kann mir bei der Berücksichtigung einiger Anregungen
von unserer Seite eine breite Unterstützung durch das
Parlament vorstellen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2408, 15/2396, 15/2395, 15/2335,
15/2465, 15/2469 und 15/2479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 15/2408 - Tagesordnungspunkt 5 a - soll zusätzlich an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen im Iran
- Drucksache 15/2481 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit großer Sorge blicken wir in diesen Tagen in
Richtung Iran. 25 Jahre, nachdem Ajatollah Khomeini
einen Gottesstaat im Iran ausgerufen hat, spitzt sich der
Konflikt zwischen reformorientierten und klerikal-konservativen Kräften zu.
Aktueller Auslöser ist die Aufstellung der Kandidaten
für die Parlamentswahlen am 20. Februar. Alle Kandidatinnen und Kandidaten müssen sich einer Überprüfung
durch den klerikal-konservativen Wächterrat unterziehen, der nach islamischen Gesichtspunkten darüber entscheidet, ob sie als Abgeordnete geeignet sind. Durch
seine Entscheidung, von den insgesamt 8 200 Bewerbern
über 2 000 abzulehnen, versucht der Wächterrat, die Reformkräfte zu schwächen und zugleich den Reformprozess zu stoppen, den der vom Volk gewählte Präsident
Chatami und die reformorientierte Mehrheit im Parlament eingeleitet haben.
Die klerikal-konservativen Kräfte stützen ihre Machtposition hauptsächlich auf den von ihnen dominierten
Wächterrat und das Justizsystem. Die Mitglieder des
Wächterrates sind nicht vom Volk gewählt, sondern auf
Lebenszeit ernannt. Bereits bei den vorangegangenen
Parlamentswahlen 1996 und 2001 hatte der Wächterrat
durch die Ablehnung von Bewerbern versucht, die Reformkräfte zu schwächen. Dennoch konnte das reformorientierte Lager seine Position deutlich ausbauen. Auch
Präsident Chatami erhielt bei seiner ersten Wahl
69 Prozent und bei seiner Wiederwahl 78 Prozent der
Stimmen. Diese Ergebnisse zeigen den starken und gewachsenen Willen der iranischen Bevölkerung und insbesondere der Jugend, das erstarrte politische System zu
verändern.
({0})
Inzwischen haben sich allerdings Enttäuschung und
Ernüchterung im Land breit gemacht. Intellektuelle, Studenten, Frauen und Jugendliche zweifeln an der Reformierbarkeit des Systems durch die Teilnahme am politischen Prozess und an Wahlen. Der Grund liegt darin,
dass das Parlament zwar Reformgesetze beschließen
kann, jedoch alle Gesetze der Bestätigung durch den
Wächterrat bedürfen; und dieser hat seine Macht intensiv genutzt. Etwa 80 Prozent aller Gesetzesvorschläge
des Parlaments sollen zurückgewiesen worden sein.
Kein Wunder, dass dies bei der Bevölkerung und bei den
Wählern zu Enttäuschung und Ernüchterung geführt hat.
Wie soll man für Wahlen und für politische Inhalte eintreten, wenn die gewählten Gremien und sogar der gewählte Präsident an einem erzkonservativen Klerus
scheitern, der nicht gewählt ist, aber faktisch unangefochten seine Macht ausübt?
Der Wächterrat hat selbst die Empfehlung des geistigen Oberhauptes Chamenei unbeachtet gelassen, bei der
Zulassung von Kandidaten davon auszugehen, dass bei
den bisherigen Abgeordneten die politische und islamische Eignung zu vermuten sei. Trotzdem hat der Wächterrat die erneute Kandidatur von mehr als 80 Abgeordneten nicht zugelassen.
Bei der Auseinandersetzung zwischen Reformern und
Konservativen geht es mittlerweile um einen Kampf
zwischen unvereinbaren politischen Systemen. Dies
wird deutlich, wenn ein Abgeordneter aus dem Reformerlager sagt: Die Konservativen im Wächterrat wollen
den hässlichen Körper der Diktatur mit dem schönen Gewand der Demokratie bedecken. Umgekehrt behaupten
konservative Geistliche, dass die demokratischen Institutionen des Parlaments bereits wieder von Feinden der
islamischen Revolution beherrscht würden; dies müsse
beendet werden.
Der konservative Klerus sieht die Feinde der Revolution aber nicht nur im Parlament. Auch an den Universitäten, in Verlagen und Zeitungsredaktionen, in Anwaltskanzleien und zahlreichen zivilgesellschaftlichen
Organisationen werden Befürworter der Reformpolitik
verfolgt. Ihr einziges Vergehen ist oft, dass sie ihr Recht
auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen.
Viele von ihnen wurden verhaftet und wegen Gefährdung der Sicherheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Für alle, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber
den radikal-islamischen Kräften innerhalb des Regierungssystems in ständiger Bedrohung leben, ist die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Menschenrechtsverteidigerin Schirin Ebadi ein Zeichen der
Anerkennung für ihren Mut.
({1})
Tief besorgt verfolgen wir die Entwicklung in den
letzten Tagen. Die Wahlen am 20. Februar sollen durchgeführt werden, obwohl rund 2 000 Kandidaten ihr passives Wahlrecht genommen wurde, darunter auch prominenten und erfahrenen Abgeordneten. Bei den
Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Revolution hat
Präsident Chatami davor gewarnt, die Demokratie unter
dem Deckmantel des Islam zu untergraben, und gelobte,
den Reformprozess trotz aller Widerstände voranzutreiben. Eine Trennung von Religion und Politik lehnte aber
auch er ab.
Es bleibt also unklar, ob und wie der Reformprozess
in Iran künftig gestaltet werden kann. Er ist bereits bisher an den Strukturen und Widersprüchen des Systems
weitgehend aufgelaufen. Auch die Parteien des Reformlagers verfolgen unterschiedliche Strategien: Die Parteien des Präsidenten und des Parlamentspräsidenten
wollen an den Wahlen trotzdem teilnehmen. Dagegen
will die vom Präsidentenbruder geführte Islamische Partizipationsfront die Wahlen ebenso boykottieren wie die
Organisation der Kämpfer für die Revolution.
Wir deutsche Abgeordnete, die wir in freien Wahlen
gewählt worden sind, sehen die politische Entwicklung
in Iran, die Behinderung der politischen Arbeit der Abgeordneten sowie die Einschränkung des passiven Wahlrechts nach religiösen Kriterien mit tiefer Sorge. Der
Deutsche Bundestag hat sich erst unlängst mit der Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ dazu
verpflichtet, bedrohten Kolleginnen und Kollegen beizustehen. Dies tun wir auch gerne und überzeugt für die
iranischen Parlamentskandidatinnen und -kandidaten.
Bereits in der Frühphase des Konfliktes haben die MitRudolf Bindig
glieder der Deutsch-Iranischen Parlamentariergruppe
des Bundestages den streikenden Abgeordneten ihre Solidarität bekundet und sie in ihrem Anliegen auf freie
Wahlzulassung unterstützt.
({2})
Wir haben den Wächterrat aufgefordert, das elementare demokratische Recht, sich zur Wahl zu stellen, nicht
weiter zu behindern. Wir haben dazu aufgerufen, dass
Iran seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt,
denn mehrere internationale Konventionen, die er ratifiziert hat, garantieren das freie Wahlrecht, das aktive
wie das passive. Auch Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse hat die freie Zulassung aller Bewerber zu den
Wahlen gefordert.
Heute wollen wir nun in einer gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen unsere Auffassung unterstreichen, dass Iran nur mit einem Parlament, das den
positiven Willen der Bevölkerung unverfälscht repräsentiert, die schwierigen Herausforderungen meistern kann,
die vor ihm liegen. Neben dem allgemeinen und gleichen aktiven Wahlrecht ist dafür ein volles passives
Wahlrecht erforderlich. Wir erwarten von den iranischen
Autoritäten, dass sie die einschränkenden Entscheidungen korrigieren und alle Kandidatinnen und Kandidaten
zur Wahl zulassen.
Dieser Appell kommt einmütig aus dem ganzen
Hause. Wir hoffen, dass er Gehör findet. Zumindest soll
er zeigen, dass der Deutsche Bundestag eine klare Position für die Grund- und Menschenrechte im Iran bezieht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
nicht schwer vorherzusagen, dass die iranischen Autoritäten den Appell des Bundestages verärgert als, wie sie
sagen werden, Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückweisen werden. Vielleicht verweisen sie
auch noch darauf, dass es völlig verfassungsmäßig gewesen sei, dass der Wächterrat von den 8 000 Kandidaten für die Parlamentswahl mehr als 2 000 endgültig ausgeschlossen hat, darunter auch 82 Mitglieder des
derzeitigen Parlaments.
Aber die iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin
Ebadi verweist in einem „Stern“-Interview darauf:
Der Wächterrat wurde ins Leben gerufen, damit er
die Wahlen beaufsichtige und politische Einmischung in die Kandidatenauswahl verhindere. Anschließend hat ein konservatives Parlament jenes
Gesetz verabschiedet, mit dem der Wächterrat jeden Kandidaten einfach von Wahlen ausschließen
kann. Aber dieses Gesetz steht im Widerspruch
zum Geist unserer Verfassung. Entweder es gibt
freie Wahlen und jeder kann wählen, wen er will,
oder das Ergebnis ist nicht respektabel.
Nahezu wörtlich dieselbe Auffassung hat Großayatollah Hossein Ali Montazeri vertreten, immerhin selbst einer der Väter der iranischen Verfassung. In einem Interview mit der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“
stellt er darüber hinaus fest:
Folglich haben wir heute anstelle von freien Wahlen eine Auswahl, die von einer einzelnen Fraktion
des Wahlwettbewerbs durchgeführt wurde. Dies alles ist illegal und gegen die Verfassung.
Es ist also keine unzulässige Einmischung in die inneren
Angelegenheiten des Irans, wenn der Deutsche Bundestag diese inneriranische Kritik aufgreift und die Vorgehensweise der iranischen Autoritäten nicht einfach auf
sich beruhen lässt.
({0})
Dies gilt insbesondere für die Ablehnung unserer
Kolleginnen und Kollegen im iranischen Parlament, denen nicht nur eine erneute Kandidatur verboten wurde,
sondern die darüber hinaus auch noch befürchten müssen, wegen ihrer Rücktrittserklärung kriminalisiert zu
werden. Sie hätten damit, so heißt es, eine religiöse
Sünde begangen. Aus dem Justizministerium wird dafür
bereits die Todesstrafe gefordert.
Die Verabschiedung unseres gemeinsamen Antrages
ist das Mindeste, was wir für diese Kolleginnen und Kollegen tun können. Ich denke, wir alle erwarten auch von
der Bundesregierung, dass sie hier die weitere Entwicklung nicht nur mit größter Aufmerksamkeit beobachtet,
sondern auch alles in ihren Kräften Stehende tut, um
diese Parlamentarier wenigstens vor weiterer politischer
Verfolgung zu schützen.
({1})
Nach diesen Vorkommnissen wird man von Wahlen
im Iran, die diesen Namen verdienen, erst wieder sprechen können, wenn sie unter internationaler Aufsicht
der Vereinten Nationen stattfinden.
Auf was müssen wir uns in der Zukunft einrichten?
Mit der Manipulation der Wahlen wird keines der drängenden Probleme des Irans gelöst. Im Gegenteil: Die Lösung wird erschwert, weil das demokratische Element in
der iranischen Verfassung weiter geschwächt wird. Die
notwendige allgemeine Aufbruchstimmung zur Überwindung der tiefen wirtschaftlichen Stagnation und zur
Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere
der Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen, lässt sich so
nicht erzeugen. Im Gegenteil: Die schon heute zu beobachtende Apathie wird zunehmen. Das ist kein gutes
Klima für Investitionen aus dem Ausland, auf die der
Iran so dringend angewiesen ist.
Zu befürchten ist, dass die Presse- und Meinungsfreiheit weiter unter Druck gerät, dass weiter unliebsame
Zeitungen geschlossen werden, diesmal aber auf lange
Zeit, weil es keine Regierungsstelle mehr geben wird,
die eine Neueröffnung erlaubt. Der Justizapparat wird
nicht mehr durch gewählte Regierungsvertreter gemäßigt werden. Für die Menschenrechte im Iran befürchte
ich deshalb erhebliche Verschlechterungen.
Außenpolitisch wird der Iran weiterhin grundsätzlich an
Stabilität in Afghanistan und im Irak interessiert bleiben
und insoweit seine bisherige durchaus konstruktive Rolle
nicht verändern. Gleiches dürfte für die Nuklearpolitik gelten. Schließlich hat der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Rowhani, die iranische Zustimmung zum Ergänzungsprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag selbst
verhandelt. Rowhanis Einfluss dürfte ja nach dem
20. Februar 2004 eher weiter wachsen. Es könnte sogar
sein, dass die so genannten pragmatischen Konservativen vorsichtig auf eine Verbesserung des Verhältnisses
zu den USA hinarbeiten. Das läge auch in unserem Interesse. Deshalb sollte die Bundesregierung sondieren, ob
und inwieweit sie dabei behilflich sein kann.
Damit bin ich bei ein paar Schlussfolgerungen für die
deutsche Politik. Präsident Chatami hat die bevorstehenden Wahlen wiederholt als unfair kritisiert. Die Friedensnobelpreisträgerin Ebadi ist deutlicher geworden und
hat gesagt, dass das kommende Parlament unter diesen
Umständen keine Legitimation besitzen wird. Das muss
auch in der Art und Weise unserer künftigen Kontakte
seinen Niederschlag finden. Natürlich werden wir auch
in Zukunft mit Abgeordneten des Madschlis sprechen;
wir tun dies ja auch mit Mitgliedern anderer Parlamente,
die nicht aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen
sind. Aber gleichzeitig müssen wir die Kontakte zu Vertretern von Gruppen außerhalb des Parlaments intensivieren, wenn wir uns ein realistisches und repräsentatives Bild von der Lage im Iran machen wollen.
({2})
Die Gesprächsthemen werden sich nicht verändern.
Wir bleiben an guten deutsch-iranischen Beziehungen interessiert und wollen sie in wirtschaftlicher und kultureller
Hinsicht weiter ausbauen. Aber wir behalten auch die
schwierigen Themen auf der Tagesordnung: die Lage der
Menschenrechte, das Thema Massenvernichtungswaffen,
den Nahost-Friedensprozess und die iranische Haltung
dazu sowie das Thema Terrorismus; es wirft schließlich
viele Fragen auf, dass nach einer Meldung in der „Zeit“
diese Woche ein Treffen der Hisbollah, des Islamischen
Dschihad, der Hamas und des Ansar al-Islam im Iran
stattfindet. Nein, wir dürfen nicht den Eindruck aufkommen lassen, als würden wir über unsere Sicherheitsinteressen das Reformverlangen vergessen. Denn die Erfahrung hat uns gelehrt, dass ohne Demokratie und
Menschenrechte auch unsere Sicherheitsinteressen nicht
dauerhaft gewahrt werden können.
({3})
Nicht zuletzt deshalb hat die Europäische Union auf
ihrem Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 festgeschrieben, dass Fortschritte in den Verhandlungen über das
Handels- und Kooperationsabkommen wechselseitig
von Fortschritten im politischen und im Menschenrechtsdialog abhängig sind. An diesem Grundsatz gilt es
festzuhalten. Nach den Ereignissen, die uns zur Verabschiedung des vorliegenden Antrages veranlasst haben,
möchte ich hinzufügen: Jetzt erst recht!
({4})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute erheben wir hier gemeinsam - ich betone: gemeinsam - die Stimme, um unsere Solidarität mit den
Kolleginnen und Kollegen im iranischen Parlament
kundzutun, die eine ganz zentrale Forderung haben: freie
und faire Wahlen, die in jeder Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein müssen, freie und faire Wahlen, die
die Weltöffentlichkeit und vor allem die überwältigende
Mehrheit der Iraner und Iranerinnen von ihrer Republik
erwarten.
Der Wächterrat hat mit einer unglaublichen Dreistigkeit und Unverschämtheit Tausende Bürger - darunter
auch amtierende Parlamentarier - ausgeschlossen. Der
Wächterrat, der sich nie dem Votum der Wähler stellen
muss, verkündet, die Wahllisten seien endgültig und die
Fristen für Änderungen abgelaufen. Die Vorgehensweise
des Wächterrats bedeutet, Wahlen durch Vorsortieren zu
manipulieren und das passive Wahlrecht komplett außer Kraft zu setzen.
Ein Parlament, das auf diese Weise zustande kommt,
wird mit dem Makel der offensichtlichen Manipulation
leben müssen. Das vom Wächterrat auf dem Schachbrett
ersonnene Parlament kann nur als dessen Marionette
agieren. Präsident Chatami hat trotz seiner Kritik am
Verfahren die Durchführung der Wahlen angekündigt.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend, noch kann man
Fehler korrigieren, weil es um sehr viel geht. Eine Verschiebung des Wahltermins und die Garantie von freien
Wahlen wären die wichtigste Voraussetzung, damit die
Menschen im Iran überhaupt einen Grund haben, wählen
zu gehen. Es ist eine bittere Erfahrung für die meisten
Iraner, erleben zu müssen, dass der Wächterrat gerade
die Abgeordneten ausschließt, die vor vier Jahren mit
überwältigenden Ergebnissen ins Parlament gewählt
wurden.
Die Resignation und die Abwendung der Bevölkerung von ihrem hoffnungsvoll ins Amt geschickten Präsidenten und das Desinteresse an den Auseinandersetzungen zwischen den Reformern und den totalitären
Kräften sind nachvollziehbar. Der jungen iranischen Gesellschaft kann man aber nicht vorwerfen, dass sie zulässt, dass eine solche Entrechtung stattfindet; denn
Chatami hat in mehreren Konfliktfällen nicht auf Rückendeckung der Bevölkerung, sondern auf Konsens mit
Claudia Roth ({0})
konservativen Machtmonopolisten gesetzt. Mit seiner
Nachgiebigkeit hat er bisweilen den Machthungrigen
Appetit auf mehr gemacht.
Positiv bleibt, dass die Auseinandersetzungen um Reformen nachhaltige Spuren im politischen und demokratischen Bewusstsein der Iraner hinterlassen haben. Der
Wächterrat kann ein ihm genehmes Parlament installieren; aber dieses öffentliche Bewusstsein und diese Sensibilität können nicht rückgängig gemacht werden. Er
hat es mit einer wachgerüttelten, aufmerksamen Öffentlichkeit zu tun, die dringende Antworten auf ihre Probleme erwartet. Er hat es mit einer Zivilgesellschaft zu
tun, die wir kraftvoll unterstützen müssen.
Sicherlich wird unsere heutige Debatte, wie Ruprecht
Polenz gesagt hat, in einigen Medien Irans als unzulässige Einmischung bewertet und beschimpft. Die Islamische Republik hat die Regeln des friedlichen Zusammenlebens und die von ihr ratifizierten Konventionen
und Abkommen einzuhalten. Geschieht dies nicht, ist es
unsere Pflicht, es zu fordern und anzusprechen, also uns
im Sinne der Umsetzung von Konventionen positiv einzumischen.
({1})
Der Iran wähnt sich, wie wir wissen, in der weltweiten Antiterrorkoalition. Aber den Lippenbekenntnissen
der iranischen Staatsführung müssen Taten folgen, indem sie zum Beispiel alles tut, um die Serienmorde in
den 90er-Jahren und den Mord an der iranisch-kanadischen Journalistin Zahra Kazemi aufzuklären, und indem sie eine Gedenktafel für die Mykonos-Opfer in
Berlin-Wilmersdorf nicht als Beleidigung diffamiert.
Unüberhörbar sind in diesen Tagen die Signale der
iranischen Autoritäten, dass sie in Zukunft außen- und
regionalpolitisch den sicheren Kantonisten abgeben wollen. Das können wir aber zum Preis von Unterdrückung
und Verhinderung der Demokratisierung im Inneren
nicht akzeptieren. Wir werden nach diesem Putsch gegen
das Parlament - so wird es im Iran bezeichnet - allem
Anschein nach Gesprächspartner haben, die auch Regierungsmacht haben. Aber das Ziel mancher iranischer
Machthaber, eine Spaltung der internationalen Gemeinschaft, wird nicht erreicht werden. Wir begrüßen jede
Entspannung in den iranisch-amerikanischen Beziehungen und hoffen, dass auch die USA die Möglichkeit erhalten und wahrnehmen werden, in direkten Kontakten
mit dem Iran die Bedeutung und Universalität der Menschenrechte zu betonen.
({2})
Nicht nur Menschenrechtler haben negative Erfahrungen mit Staaten gemacht, die sich außenpolitisch zwar
einbinden lassen, innenpolitisch aber jegliche Demokratisierung brutal und schamlos verhindern. Ein erweiterter
Sicherheitsbegriff - er ist die Basis unseres EU-Iran-Dialogs - schließt die Hinnahme und Duldung von Menschenrechtsverletzungen sowie die Einschränkung bürgerlicher politischer Freiheitsrechte aus. Darauf werden
wir als Parlament und Regierung achten - in Anteilnahme im Blick auf die Menschen im Iran und ihr Streben nach einer demokratischen Gesellschaft und in
Sorge um die Sicherheit und Stabilität im Nahen und
Mittleren Osten.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir
fordern hier heute alle gemeinsam die Zulassung aller
Kandidatinnen und Kandidaten zu den Wahlen im Iran.
Ich denke, von hier geht ein wichtiges Signal aus. Es ist
zum einen ein Signal der Solidarität sowohl mit unseren
Kolleginnen und Kollegen als auch mit all denen, die
kandidieren wollen und jetzt nicht kandidieren können.
Es ist zum anderen ein Zeichen der Unterstützung für die
Kräfte im Iran, die sich für die Demokratisierung einsetzen, die die Demokratie im Iran wollen, die sie fordern und fördern. Es ist sicher auch ein Signal an die
Machthaber in Teheran.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir hier betonen - das
ist schon mehrfach passiert -: Wir sind an einem ernsthaften Dialog, an einer ernsthaften Zusammenarbeit mit
dem Iran interessiert; aber wir sind nicht bereit, hinzunehmen, dass Menschenrechte verletzt werden, dass
Frauenrechte mit Füßen getreten werden oder dass die
Demokratie im Iran ausgehöhlt wird.
Meine Damen und Herren, der Iran bietet ein großes
Potenzial für einen wichtigen Dialog. Er bietet ein wirtschaftliches Potenzial für uns und auch für sich selbst.
Es kommt darauf an, dass der Iran sich selbst befreit und
so seiner eigenen Bevölkerung - darunter 70 Prozent
junge Leute, die seine Stärke sind, weil sie über einen
hohen Bildungsstandard verfügen und eine große Dynamik verkörpern - eine Chance bietet. Er ist ein sehr interessanter Partner für uns und hat das Potenzial, sich zu
entwickeln. Vor allem hat der Iran - das ist noch wichtiger - das Potenzial, eine regionale Ordnungsmacht zu
sein. Er hat das Potenzial, im Nahen Osten, in dem er schon
sehr lange unterschiedliche Rollen gespielt hat - teilweise
sehr gute Rollen -, eine große Rolle für Frieden und für
eine stabile Entwicklung zu spielen.
Dazu gehört - das ist angesprochen worden -, dass er
seine Politik gegenüber Israel endlich ändert. Dazu gehört, dass er die Unterstützung von Organisationen wie
der Hisbollah endlich aufgibt.
Aber der Iran und wir haben durchaus auch gleich gelagerte Interessen. Im Hinblick auf Stabilität im Irak
und in Afghanistan könnte eine Kooperation sicherlich
einiges Gutes bewegen. Es liegt also sowohl im deutschen als auch im europäischen Interesse, dass sich der
Iran stabil entwickelt.
Dazu gehört, dass er endlich die Menschenrechte respektiert, dass er Journalisten nicht mehr verfolgt, umbringt oder ins Gefängnis sperrt, dass die Meinungen frei
geäußert werden können. Dazu gehört, dass die Frauenrechte respektiert werden, dass die Demokratie nicht
mehr ausgehöhlt wird und dass endlich alle Kandidaten
zu dieser Wahl zugelassen werden.
Wir sollten versuchen, den konstruktiven und kritischen Dialog mit dem Iran fortzusetzen, aber auch von
hier aus ein klares Signal senden: Wir sind an dem Dialog interessiert, werden ihn aber nicht um jeden Preis
fortsetzen. Wir werden auf dem Thema Menschenrechte
und auf dem Thema Demokratie bestehen und sie immer
wieder ansprechen.
Vielen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweimal hat
sich der Deutsche Bundestag im letzten Jahr mit dem
Schicksal verfolgter und inhaftierter Parlamentarier beschäftigt. Im Juni haben wir einstimmig eine Resolution
zur sofortigen Freilassung der burmesischen Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi beschlossen. Am
12. Dezember - Herr Kollege Bindig hat darauf hingewiesen - haben wir anlässlich der Debatte zum Tag der
Menschenrechte ebenfalls einstimmig im Rahmen der
Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ unserer Sorge über die Situation verfolgter Abgeordneter
Ausdruck verliehen und dabei in großer Zahl eine Petition zugunsten der in der Türkei inhaftierten Kurdin
Leyla Zana unterzeichnet.
Heute haben wir es nicht mit Einzelfällen von Verfolgung oder Behinderung von Parlamentariern zu tun. Mit
dem Ausschluss von über 2 000 Kandidaten - 82 von ihnen bereits Abgeordnete - von den Parlamentswahlen,
die jetzt wohl am 20. Februar im Iran stattfinden, werden
in einem bisher nicht bekannten Maße nicht nur passive
Wahlrechte eingeschränkt. Vielmehr wird ein gesamtes
Volk an der Ausübung seiner demokratischen Rechte gehindert.
Sicherlich hat es im Iran bereits im Vorfeld der vorangegangenen Parlamentswahlen bei der Zulassung von
Kandidaten zwischen dem Wächterrat, dem Parlament
und der Regierung von Präsident Chatami immer wieder
Auseinandersetzungen gegeben. Neu ist allerdings ihre
Qualität. Der Wächterrat ist ganz offensichtlich nicht bereit, die Zulassung aller Kandidaten ernsthaft zu erlauben. Die Regierung hat ebenso offensichtlich resigniert.
Präsident Chatami hat erklärt, die Wahlen zwar durchführen zu wollen. Er erwartet aber keine freien und fairen Wahlen, die demokratischen Standards entsprechen.
Wenn wir als in vielerlei Hinsicht privilegierte Abgeordnete unserer Verpflichtung gerecht werden wollen,
andere, die eben nicht über diese sichere Rechtsstellung
verfügen, zu schützen, dürfen wir diese Vorkommnisse
im Iran nicht kommentar- und schon gar nicht tatenlos
passieren lassen.
({0})
Deshalb begrüßen wir, die CDU/CSU, es ausdrücklich,
dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag des gesamten Hauses vorzulegen. Wir verurteilen die Geschehnisse im Iran und fordern die zuständigen Gremien auf,
Wahlen durchzuführen, die demokratischen Anforderungen genügen und die den Namen Wahl auch tatsächlich
verdienen.
({1})
Die Folgen der jetzigen Ereignisse für den gerade aus
menschenrechtlicher Sicht so wichtigen Reformprozess sind kurz- und auch langfristig verheerend. Kurzfristig zeigen Umfragen bereits jetzt, dass nur noch etwa
20 Prozent aller Wahlberechtigten an den bevorstehenden Wahlen überhaupt teilnehmen wollen. Insbesondere
diejenigen, die die Reformen vorantreiben wollen, werden die Wahlen boykottieren. Langfristig werden die reformorientierten Kräfte innerhalb der offiziellen iranischen Politik - dies geschieht auch jetzt schon - die
anfänglich begeisterte Unterstützung verlieren. Dies
wiederum hat Folgen, die weit über den aktuellen Anlass
hinaus reichen; Kollege Polenz hat bereits darauf hingewiesen.
Die Wahlen am 20. Februar dieses Jahres werden in
den Augen sowohl der Weltöffentlichkeit als auch der
Iraner diskreditiert. Der Reformprozess im Iran erleidet
einen herben Rückschlag. Der Zorn der Bevölkerung
richtet sich nicht nur gegen die Beharrungskräfte, sondern auch gegen diejenigen, die nicht in der Lage zu sein
scheinen, die Reformen voranzutreiben. Dadurch verlieren die so genannten Reformer ihre wichtigste Unterstützungsbasis. Schließlich werden die gesellschaftspolitischen Gegensätze, die über die eigentliche Frage der
Wahlen noch weit hinausgehen, weiter verschärft.
Aus menschenrechtlicher Sicht, aber auch aus originärem deutschen und europäischen Interesse kann und
darf es im Deutschen Bundestag nicht bei Lippenbekenntnissen und Resolutionen bleiben. Eine weitere
Destabilisierung der Nahostregion muss aus menschenrechts-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Perspektiven verhindert werden. Hierbei ist die Situation im Iran
von wirklich entscheidender Bedeutung. Deshalb gilt es,
alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um auf
die Durchführung von tatsächlich freien und geheimen
Wahlen im Iran zu drängen.
Deutschland hat dazu auf bi- wie auch auf multilateraler Ebene vielfältige Möglichkeiten. Hier nenne ich
den schon angesprochenen Menschenrechtsdialog der
Europäischen Union und die Zusammenarbeit in den
Bereichen Polizei und Justiz.
({2})
Meine Fraktion fordert die Bundesregierung nachdrücklich auf, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen und
sich für die Einhaltung der demokratischen Regeln im
Iran einzusetzen.
Gestern, am 11. Februar, wurde im Iran der
25. Jahrestag der Revolution begangen. Das Land sollte
dieses Datum nicht verstreichen lassen, ohne die Chance
zu nutzen, zur politischen und sozialen Stabilisierung
der ganzen Region beizutragen. Wir sollten unsererseits
hier und heute gemeinsam unserer Verantwortung gerecht werden, Parlamentarier zu schützen und zur
Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie im
Iran und weltweit beizutragen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 15/2481 mit dem Titel
„Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den
Wahlen im Iran“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt
es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Der Antrag ist
einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine neue Beteiligungskultur - Eigenkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitarbeiterbeteiligungen verbessern
- Drucksachen 15/815, 15/2367 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Rainer Wend.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Fraktion der CDU/CSU hat selbstverständlich Recht: Die Eigenkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen gibt weiterhin Grund zur Sorge. Es
finden sich immer weniger Kapitalgeber, die jungen Unternehmern und Existenzgründern am Standort Deutschland helfen. Forscher und Ingenieure wagen den Schritt
in die Selbstständigkeit nicht mehr in dem gewünschten
Umfang, weil ihnen die finanziellen Risiken zu groß geworden sind.
Nur 40 Prozent der geförderten Unternehmen haben
nach dem Start eine Anschlussfinanzierung gefunden.
Von daher ist die Zustandsbeschreibung im Antrag der
Union nicht völlig falsch. Auch für die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen ist die Mobilisierung
von Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen nach wie vor ein wichtiges wirtschaftspolitisches
Ziel. Ich sage das deswegen vorweg, weil wir es so vermeiden können, kontrovers über Dinge zu reden, die
nicht kontrovers sind.
Wir und Sie als Opposition liegen wahrscheinlich
auch nicht weit auseinander, wenn ich sage, dass der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieunternehmen noch immer in einer schweren Krise steckt. Das ist
allerdings keine deutsche Besonderheit, sondern ein globales Phänomen in den Industrienationen. Ein großer
Teil der Unternehmen, die mit Beteiligungskapital finanziert wurden, ist in Bedrängnis gekommen oder insolvent geworden. Die Beteiligungskapitalgeber haben
nicht selten hohe Schäden zu verkraften und sind manchmal nicht mehr in der Lage, Anschlussfinanzierungen
zur Verfügung zu stellen. Deswegen überrascht es nicht,
dass sich die Kapitalgeber bei neuen Engagements sehr
zurückhalten.
Entsprechend rückläufig ist bedauerlicherweise auch
die Förderung der öffentlichen Hand, die auf die frühen
Phasen der Unternehmensentwicklung konzentriert ist
und die ein anteiliges Engagement privater Kapitalgeber
voraussetzt, was aus den eben genannten Gründen nicht
mehr in dem Umfang gegeben ist.
Die Gründe für die Krise des Beteiligungskapitalmarktes sind sicherlich vielfältig. Auch nicht tragfähige
Geschäftsmodelle gehören natürlich dazu, aber auch enttäuschte Erwartungen, der Verfall bei den Unternehmensbewertungen, die Krise und die Auflösung des
Neuen Marktes, die eingetrübte Konjunktur, vor allen
Dingen aber die so genannte konservative Geldpolitik
der Banken, die über Risikominimierung in anderen Bereichen verlorene Kredite wieder hereinbekommen wollen.
In der Zustandsbeschreibung liegen wir nicht weit
auseinander. Die Frage ist: Was tun wir in einer solchen
Situation? Im Antragd der CDU/CSU werden im Wesentlichen zwei Dinge angeboten: mehr Geld oder mehr
Steueranreize. Wenn man sich das im Einzelnen ansieht,
gerät man fast - aber natürlich nur fast - in Versuchung,
sich wieder nach Oppositionszeiten zu sehnen. Für eine
Opposition ist es nämlich leicht, Forderungen aufzustellen, wenn sie für die Finanzierung dieser Forderungen
keine Verantwortung tragen muss. Die ganze Sache ist,
wie ich finde, allerdings nicht mehr ganz anständig,
wenn Sie einer Debatte dem Finanzminister vorwerfen,
er sei nicht mehr in der Lage, den Haushalt auszugleichen, bzw. verletzte Maastricht-Kriterien, in einer anderen Debatte einige Stunden später aber massive Forderungen in Bezug auf den Haushalt stellen, die natürlich
nicht zu erfüllen sind.
Versuchen wir uns also einmal mit dem auseinander
zu setzen, was die Bundesregierung real getan hat. Ich
finde, das ist eine ganze Menge. Wir begrüßen sehr, dass
die Bundesregierung einen Hightech-Masterplan für
Innovationen und Zukunftstechnologien im Mittelstand aufgelegt hat.
({0})
Ein Schwerpunkt dieser Initiative ist es, zusammen mit
dem Europäischen Investitionsfonds einen neuen Dachfonds für Beteiligungskapital einzurichten. Gemeinsam
mit privaten Kapitalgebern wird man in deutsche Beteiligungskapitalfonds für innovative Gründungen und
junge, technologieorientierte Unternehmen investieren.
Das Kapital wird je zur Hälfte vom ERP-Sondervermögen und vom EIF aufgebracht. Es werden über einen
Zeitraum von fünf Jahren von beiden Partnern insgesamt
rund 500 Millionen Euro bereitgestellt.
({1})
Die Bundesregierung setzt damit ein Gegengewicht zur
momentan stark rückläufigen Bereitstellung von Beteiligungskapital für diese Unternehmen. Ich glaube, das ist
ein wichtiger und richtiger Schritt.
Technologieförderung wird zudem stärker auf den
Bedarf des Mittelstandes ausgerichtet. Dazu wurden
Programme zur Förderung von Forschungskooperationen und Vernetzungen zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen noch effizienter gestaltet. Das
Programm INNOWATT wird die bisherige FuE-Projektförderung ablösen und die FuE-Unterstützung stärker
auf innovative Wachstumsträger konzentrieren. Die Innovationsförderung in den neuen Ländern bleibt ein Förderschwerpunkt.
Wir können aber auch heute schon mit einem weiteren Bereich recht zufrieden sein. Experten sind sich darüber einig, dass wir bereits heute bei Ausgründungen
an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in
Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz einnehmen. Die aktuellen schwierigen Rahmenbedingungen führen allerdings auch bei Unternehmensausgründungen zu einem Rückgang. Die Dynamik wurde
aus konjunkturellen Gründen gebremst. Um diese Gründungsdynamik wieder steigern zu können, sind eine
Reihe von Maßnahmen ergriffen worden. Über die Fördermaßnahme EXIST-Seed wurden in den ersten fünf
EXIST-Regionen bisher über 100 Gründungsvorhaben
mit mehr als 150 Gründerinnen und Gründern gefördert.
Mit der BMBF-Pilotmaßnahme „Erleichterung von
Existenzgründungen aus Forschungseinrichtungen“ wurden in den Jahren 2001 bis 2003 viele Ausgründungen
realisiert und neue Arbeitsplätze geschaffen.
({2})
Sie sehen daran: Die Bundesregierung ist nicht untätig. Im sachlichen Bereich, wo etwas getan werden kann,
passiert etwas. Natürlich spielt auch die Steuerpolitik
für die Bereitstellung von Venturecapital eine beträchtliche Rolle. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass wir
uns schwer damit tun, in diesem Bereich noch weiter gehende Lösungen zu finden.
Sie fordern viel in Ihrem Antrag: Freibeträge bei
Stock Options, pauschale Versteuerung des Veräußerungsgewinnes bei Stock Options, Freibeträge mit festem niedrigen Steuersatz für Business Angels und Steuerfreiheit für Business Angels bei Reinvestitionen. Alle
diese Dinge sind für sich genommen plausibel. Nur,
wenn Herrn Rauen, der heute Morgen in einem Interview im Fernsehen zur Steuerpolitik befragt wurde, auf
die Frage: „Wollen Sie denn wirklich alle Ausnahmetatbestände beseitigen?“ antwortet: „Jawohl, wir wollen
alle Ausnahmetatbestände beseitigen“, Sie dann aber am
Nachmittag einen Antrag stellen, der ein halbes Dutzend
neue Steuerausnahmetatbestände vorsieht, dann setzen
Sie sich in Widerspruch zu Ihrer eigenen Steuerlinie,
meine Damen und Herren.
({3})
Das ist allerdings schon ein Euphemismus; denn die
Wahrheit ist natürlich, dass Sie keine eigene steuerpolitische Linie haben.
({4})
Das muss ich zum Abschluss doch noch kurz erwähnen.
Sie sagen, Sie hätten in der Union Einigung in der Steuerpolitik erzielt. Die Einigung besteht darin, dass Sie
sich nicht geeinigt haben über den Eingangssteuersatz,
dass Sie sich nicht geeinigt haben über den Spitzensteuersatz, dass Sie sich nicht darüber geeinigt haben, ob es
einen progressiven Verlauf oder einen Stufentarif geben
soll, und dass Sie nicht darüber geeinigt haben, welche
Ausnahmetatbestände entfallen sollen. Mit anderen Worten: Über die Substanz Ihrer Steuerpolitik besteht bei Ihnen keine Einigung. Ihr Antrag zeigt für mich an einem
kleinen Beispiel deutlich, dass Sie hin- und hergerissen
sind und nicht wissen, wohin Sie in der Steuerpolitik sollen.
Die Bundesregierung ist mit ihren Maßnahmen auf einem guten Weg, der nicht spektakulär ist, aber seine
Wirkungen zeigen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz
Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Lieber Herr Wend, jetzt wollen
wir es hier einmal in aller Friedlichkeit einzeln aufdröseln.
({0})
Erstens bin ich sehr beglückt über das, worüber wir
uns seit Beginn der Debatte immer einig gewesen sind.
Wir waren uns einig über den Vorrang von Ausgründungen, welche die einzige Chance für einen wirklich
schnellen und effizienten Technologietransfer aus den
Instituten darstellen. Wir waren uns auch in der EinDr. Heinz Riesenhuber
schätzung der ziemlich miserablen Situation einig. Die
Blase am Neuen Markt ist geplatzt. Auch mit sehr viel
Optimismus betrachtet, muss man sagen, dass sich der
Markt bis jetzt nur ganz zart erholt hat. Schließlich waren wir uns darin einig, dass der Staat zwar nicht alles
richten kann, dass er an einigen Stellen aber durchaus tätig werden kann und soll.
Nun hatten wir die gemeinsame Hoffnung, dass wir
hier gemeinsam etwas erreichen können. In der Debatte
von vor etwa acht Monaten haben Sie zu meiner großen
Überraschung gesagt, Ihr Wunsch sei es, dass wir in diesem Bereich gemeinsam etwas voranbringen. Wir haben
es versucht und haben abgewartet. Uns wurde gesagt,
wir müssten auf den Antrag warten, den die SPD vorbereitet. Danach haben Sie uns gesagt, wir müssten leider
den Perspektivantrag, der auf dem Parteitag im November gestellt wird, abwarten. Mit der Stellung des Perspektivantrages mussten Sie dann wiederum auf die Innovationsoffensive warten, die jetzt mit großer Kraft
rollt. Zu unserer Begeisterung gibt es bereits einen Rat
und eine Geschäftsstelle. Die zündende Idee fehlt jedoch
noch. Vielleicht kommt die aber auch noch. Herr
Matschie, die Eliteuniversitäten scheinen es im Moment
nicht zu sein. Wie man es auch dreht: Sie veranstalten
hier eine großartige Welle. Es wird aber nichts erkennbar, wodurch die Leute zu einer leidenschaftlichen Sicht
in die Zukunft hingerissen würden. Diese Leidenschaft
ist zurzeit eher gedämpft.
({1})
Wir haben es also nicht gemeinsam hinbekommen.
Schauen wir einmal, was Sie auf der linken Seite des
Hauses mit Ihrer großen Kompetenz und Tüchtigkeit getan haben. Die Entwicklung der Gründerei an sich ist
schon eine ziemlich schwierige Angelegenheit. - Frau
Präsidentin, Sie müssen mir einmal ein Knopflochmikrofon besorgen. Es ist wirklich ein mühsames Geschäft,
hier hinter einer Barrikade vor den Kollegen zu stehen
und sich zu verteidigen.
({2})
Wir halten die Rechte der einzelnen Abgeordneten
sehr hoch. Sie sind aber wirklich der Einzige, der ein
solches Mikrofon braucht.
Sie sollten auch den Bedürftigen Unterstützung zukommen lassen.
({0})
Es gibt den Bereich der Gründerei insgesamt. In diesem müssen wir noch genauer schauen, was passiert.
Friedrich Merz hat heute früh in der Debatte gesagt, dass
sich die Zahl der Betriebsgründungen vom vorletzten
bis zum letzten Jahr, also von 2002 bis 2003, überhaupt
nicht verändert hat; das war wirklich interessant. Die
Zahl der öffentlich geförderten Gründungen ist demgegenüber von einem Viertel auf die Hälfte gestiegen. Das
muss man erst einmal begreifen. Gibt es einen solch riesigen Einbruch, dass er nur durch öffentliche Subventionen aufzufangen ist? Befinden wir uns in einer Situation,
in der es überall zu Mitnahmeeffekten kommt? Die Lage
ist seltsam. Im eigentlich entscheidenden Bereich, also
bei der Gründung von technischen Innovationsunternehmen, wie es die Bildungsministerin bezeichnet hat,
scheint es aber zu dümpeln.
Wir haben in einer früheren Debatte schon respektvoll
anerkannt, dass wir den 500-Millionen-ERP/EIF-Fonds
sehr gut finden. Das ist eine gute Sache.
({1})
- Ich freue mich immer, wenn ich die Regierung loben
kann. Selten genug ist es möglich. Deshalb tue ich es
umso beglückter.
({2})
Es war vernünftig von Ihnen, das als Dachfonds auszugestalten. Auch die Tatsache, dass die Investitionen
durch die private Seite erfolgen sollen, halte ich für gut.
Schließlich finde ich es auch gut, dass wir bei der Fondsbesteuerung weitergekommen sind. Der Brief des Finanzministers ist jetzt endlich herausgegangen. In ihm
wird zwischen gewerblichen und vermögensverwaltenden Arbeiten unterschieden. Das ist gut.
Dass wir aber hinsichtlich der Carry-Besteuerung
noch nichts geregelt haben - dies ist nur für die Altfälle
bis November des vergangenen Jahres der Fall -, ist
vielleicht etwas weniger befriedigend. Es war schlecht,
dass das Ganze zwei Jahre gedauert hat. In dieser Zeit
sind eineinhalb Dutzend deutsche Fonds im Ausland und
nicht in Deutschland gegründet worden. Wenn man nicht
weiß, wie man besteuert wird, dann kommt man doch
nicht hierher. Hier verschiebt sich eine Kultur und die
Chancen für einen Standort schwinden. - Sie fragen:
Wie soll man das bezahlen? Lieber Herr Kollege, in dem
Moment, in dem im Ausland ein Unternehmen gegründet wird, verzichtet der Finanzminister auf gar nichts,
weil er nichts bekommt. Wenn er in Deutschland die Unternehmungsgründung zulässt, dann hat er die Chance,
dass er dieses Unternehmen einmal besteuern kann.
({3})
Nach einer alten Legende soll es ein Gespräch zwischen Michael Faraday und dem Finanzminister gegeben
haben. Der Finanzminister fragt Michael Faraday: Warum soll ich Ihre Erfindung bezahlen? Die Antwort von
Michael Faraday: Damit Sie sie besteuern können. - Der
Finanzminister muss endlich verstehen: Wenn er das
Saatgut wegbesteuert, dann bekommt er keine Kartoffeln. Hier passiert Folgendes: Die Chance, dass sich etwas Neues schnell entwickeln kann, wird von der Bundesregierung nicht ergriffen. Ich weiß schon, dass in
dieser Sache alle Finanzminister eigen sind; auch bei anderen Regierungen war das immer schwierig. Aber dass
wir uns in dieser Situation, in der wir die Not sehen, alle
einig sind und die Chance nicht ergreifen, ist ärgerlich.
Bei den Aktienoptionen sind wir überhaupt nicht
weitergekommen. Dazu fällt mir gar nichts mehr ein. Ich
erinnere daran, wie Ihre Staatssekretärin in der vergangenen Legislaturperiode voller Begeisterung davon gesprochen hat, dass die Aktienoption kommen wird, weil
sie notwendig ist.
Hinsichtlich der Business Angels finde ich es prima,
dass Sie auf dem SPD-Parteitag mit List und Tücke in
Ihren Perspektivantrag eine Zeile hineingebracht haben
- die meisten haben das wahrscheinlich gar nicht bemerkt -, wonach die Wesentlichkeitsgrenze für Veräußerungsgewinne bei Beteiligungen in Wagniskapitelfonds
wieder auf 10 Prozent angehoben werden sollte. Jetzt
machen Sie etwas aus diesem Parteitagsbeschluss! Ich
baue darauf, dass Sie jetzt eine kraftvolle Initiative starten.
({4})
Herr Müntefering als zukünftiger Parteivorsitzender in
neuer Pracht und Herrlichkeit hat schon vor einem Jahr
begeistert über Technik gesprochen. Er soll die Sache
nun richten und mit seinen großartigen Eigenschaften,
die wir alle sehr bewundern, entschlossen umsetzen.
Es ist eines der gängigen Probleme, das etwas beschlossen, aber nicht umgesetzt wird. Alle gebildeten
Leute zitieren heute Kant, weil es sich so gehört. Ich
möchte einen anderen großen deutschen Philosophen,
den ich sehr verehre, zitieren. Karl Valentin hat gesagt:
Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir
uns leider nicht getraut. - Wir haben hier eine schöne
Fülle von Ankündigungen erlebt.
Sie fragen: Wer soll all das bezahlen? Glücklicherweise haben wir einen Masterplan. Das BMBF, das hier
in leiblicher Gestalt des Herrn Matschie unter uns weilt,
hat bereits vor einem Jahr einen ersten Entwurf des
Masterplans mit dem wunderbaren Titel „Higtech-Masterplan für neue Arbeitsplätze durch Gründung und
Wachstumsförderung junger Innovationsunternehmen“
vorgelegt. Alles, was gut und teuer ist, ist bereits im Titel
enthalten.
Die Idee beinhaltete auch einige softe Geschichten.
Jetzt möchte ich einmal wissen, was aus den wirklich
harten Geschichten geworden ist. Herr Wend, dieser
Plan enthielt auch Regelungen zur Besteuerung. Der
große Hammer war, dass die Steuern für junge Innovationsunternehmen, also die Körperschaftsteuer und andere Unternehmenssteuern, in den ersten acht Jahren
nach der Gründung auf null gesetzt werden sollten. Die
Forderung war, dass die Fonds, die diesen Unternehmen
in den ersten beiden Jahren Kapital zur Verfügung stellen, ihre Veräußerungsgewinne aus diesen Beteiligungen
nicht versteuern müssen. Die Mitarbeiter dieser Unternehmen sollten Aktienoptionen als Teil ihres Gehaltes
nicht versteuern müssen. Das war ein wunderbares und
vielfältiges Konzept. Dies ist aber in dem neuen Masterplan überhaupt nicht vorhanden.
Sie haben eine Grundsatzdebatte angefangen, die ich
gerne aufgreife. Sie haben uns vorgeworfen: Wie könnt
ihr am Vormittag den Abbau von Präferenzen verlangen
und am Nachmittag Steuersubventionen fordern? Lieber Herr Wend, eine schlichte Wahrheit ist hier offenkundig: Es ist viel leichter, alle Steuersubventionen abzuschaffen als nur einige. Wenn Sie einige Subventionen
abschaffen, wird in der Debatte immer die Frage gestellt:
Warum trifft es ausgerechnet mich?
({5})
Das, was Friedrich Merz hier vorgeschlagen hat und
was wir genauso majestätisch wie Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben, ist nichts anderes als die Aussage: Schaffen wir alle Ausnahmen ab! Ich bin gerne bereit, alles zu streichen, was das Steuersystem für neue
Unternehmen an Präferenzen enthält. Dann würden sie
nämlich niedrig besteuert und wären frei von Bürokratie.
Was aber nicht möglich ist, ist, ein System, das alle möglichen Präferenzen für irgendwelche alten Techniken wie
Steinkohle oder Containerschiffe enthält, zu subventionieren und neue Techniken davon auszunehmen.
Wir hatten vor 15 Jahren - da hat noch eine andere
Regierung amtiert; ältere Leute erinnern sich ({6})
einen erheblichen Streit. Damals hieß es: Freunde, andere Länder arbeiten mit Tax Credits für Forschung. Das
heißt, die Firmen können ihre Forschungsausgaben zu
mehr als 100 Prozent von der Steuer absetzen. Dies ist
eine großartige Geschichte, die auch dem Mittelstand
enorm hilft. Damals hat man uns gesagt: Freunde,
schafft keine Ausnahmetatbestände. Wir werden alle
Steuern senken. - Seit 15 Jahren haben wir diese Debatte. 1997 haben Sie unseren Vorschlag abgeschossen.
({7})
Wenn wir alle Subventionen abschaffen und das MerzModell durchsetzen, dann ist das prima. Wir dürfen nicht
nach wie vor alle möglichen „alten Hüte“ subventionieren, sondern wir müssen die Zukunftschancen für junge
Unternehmen nutzen.
Ich komme zu meinem letzten Punkt.
Aber Sie achten auf die Zeit, ja?
Ich bin schon beim Schlusswort. Zur Verkürzung der
Zeit übernehme ich das prächtige Schlusswort des Kollegen Brandner. Er hat nämlich am Schluss seiner großartigen Rede, die wir alle bewundert haben, gesagt: Macht
den Weg frei! Schafft die Steine aus dem Weg! - Das hat
er zu uns gesagt. Es fiel ihm nicht mehr ein, dass er selber regiert. Die Idee, dass er regiert und er die Aufgabe
hat, den Laden voranzubringen, ist wirklich ein origineller Einfall, den man gelegentlich ins Körbchen unserer
verehrten Koalition setzen sollte, damit sie mit fröhlichem Unternehmungsgeist etwas tut und nicht nur redet.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn. Er
wird vermutlich Immanuel Kant zitieren.
Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man einmal, Herr Riesenhuber, nüchtern hinschaut, dann muss man doch feststellen, dass
systematisch und auch gut überlegt Schritt für Schritt die
Bedingungen für die Innovationsfinanzierung verbessert
werden. Es gibt eine breite Innovationsdiskussion, die an
der einen oder anderen Stelle noch konkreter werden
muss; das ist logisch. Sie braucht vor allem Ziele und
eine Richtung, wohin das Innovationsgeschehen gehen
soll, und es gibt Instrumente der Finanzierung, die systematisch aufgebaut werden.
Der Dachfonds ist übrigens nichts, was man mit einer
riesenhuberschen Verbeugung wegwischen kann, sondern das ist ein Riesenhammer.
({0})
Das ist etwas, was die innovativen Betriebe voranbringen wird, weil jetzt leicht die Möglichkeit besteht, an
Mittel zu kommen, und auch private Beteiligungen in
den Fonds eingehen. Das belebt die Szene. Die Regierung hat das ordentlich gemacht und damit ist jetzt ein
Einstieg geschaffen.
({1})
Dass wir vermögensverwaltende und gewerbliche
Fonds gut abgrenzen, hilft. Das war eine Frage, die die
Unternehmen immer an uns herangetragen haben. Die ist
jetzt geklärt. Auch bei den Carried Interests sind wir bis
zum Jahr 2005 in der Übergangsregelung weiter. Ich
glaube, dass wir auch über 2005 hinaus eine gute Regelung finden werden.
Ich finde, dass hinsichtlich der Seed Fonds noch
mehr getan werden muss. Es geht um die Phase, in der
ein innovatives Unternehmen den Prototyp eines Produktes oder einer Dienstleistung entwickelt. In dieser
Phase sind die Finanzierungen besonders schlecht, übrigens nicht zuletzt, weil sich unsere Banken, private wie
öffentlich-rechtliche, zu stark aus der Finanzierung zurückgezogen haben. Während sie früher in dem einen
oder anderen Fall zu leichtfertig waren, sind sie jetzt
überkritisch geworden. Die Sparkassen nehmen damit
ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag, der in den Sparkassengesetzen formuliert ist, oft nicht richtig wahr.
Richtig ist natürlich, dass sich die Unternehmen bis
zu der Phase der Entwicklung eines Prototyps schwer
tun. Deswegen ist mir die Formulierung, die ich von der
Bundesregierung gehört habe, nämlich dass man prüfen
will, wie man einen Seed Fonds auflegen will, zu
schwach.
Ich bin mit unserer Fraktion der festen Überzeugung,
dass der Bundesfinanzminister - richten Sie ihm das
aus! - die Passivität aufgeben muss. Es wäre schon eine
große Hilfe, wenn beispielsweise ein Seed Fonds für
5 bis 6 Jahre mit einem Volumen von 250 Millionen
Euro aufgelegt würde. Man könnte mit 10 Millionen bis
15 Millionen Euro in diesem Jahr beginnen und viel Positives bewirken. Wir werden seitens meiner Fraktion
darauf drängen, dass ein solcher Seed Fonds aufgelegt
wird.
Ich komme jetzt auf die Frage der steuerlichen Regelungen zu sprechen, die noch strittig ist, und zwar
- wenn ich das richtig sehe - in allen Fraktionen. In diesem Zusammenhang waren Ihre Auslassungen schwach,
Herr Riesenhuber, weil Sie im Kern zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie nicht an das Merz-Konzept glauben. Das ist eine erstaunliche Einstellung. Sie haben einerseits ausgeführt, dass sich im Falle der Umsetzung
des Merz-Konzepts und des Wegfalls aller Subventionen Ihre Forderungen erledigen würden,
({2})
aber Sie gehen andererseits offensichtlich davon aus
- ich hoffe, dass Ihnen Ihr Fraktionsvorstand und Herr
Merz das nicht übel nehmen -, dass die Merz-Vorschläge nur zum Spaß gemacht worden sind und dass sowieso nichts daraus wird.
Daher sagen Sie dann: Im alten System fordern wir
Ausnahmen für innovative Betriebe. - Ich will Ihnen erläutern, welche Probleme wir in diesem Zusammenhang
sehen. Es geht nicht an, für die Abschaffung aller Subventionen und Sondertatbestände einzutreten, aber Ausnahmen für einzelne Bereiche zu fordern. Sie haben bereits zugegeben, dass das schwierig ist.
Ein weiteres Problem sehen wir darin, dass definiert
werden muss, was ein innovativer Betrieb ist. Wenn Sie,
wie es die Franzosen versucht haben, eine solche Definition anhand des F-und-E-Anteils vornehmen wollen
- beispielsweise ab einem F-und-E-Anteil von 15 Prozent; auf eine solche Idee kann man durchaus kommen -, dann werden Sie im zweiten oder dritten Jahr
nach dem In-Kraft-Treten eines entsprechenden Gesetzes mit dem Problem konfrontiert, dass plötzlich sehr
viele Firmen einen F-und-E-Anteil bis zu 15 Prozent
aufweisen, dass aber keine Firma mehr einen höheren
Anteil erreicht. Dann verkehrt sich das Instrument ins
Gegenteil.
Das ist der Grund, warum wir sehr zögerlich vorgehen und gründlich prüfen, welche steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten man an der Stelle versehen sollte.
Das gilt, glaube ich, für die SPD genauso wie für meine
Fraktion.
Eines war in Ihrer Rede nicht konsequent, Herr
Riesenhuber. Es geht nicht an, Regelungen nach dem alten Recht anzustreben und gleichzeitig davon auszugehen: Wenn neues Recht kommt, fallen alle Subventionen
weg. Es wäre regelrecht albern, entsprechende Regelungen für ein oder zwei Jahre einzuführen, um sie dann
wieder aufzugeben.
Widersprüchlich waren Ihre Ausführungen auch, als
Sie das Merz-Konzept in den Zusammenhang mit
Unternehmensgründungen gebracht haben. Es trifft
durchaus zu, dass die Zahl der staatlich geförderten Unternehmensgründungen zugenommen hat. Das ist eine
logische Folge des Zusammenbruchs der Börsenkurse
von Hightechunternehmen. Es war auch vor allem deshalb notwendig, weil die Banken stark auf die Bremse
getreten haben.
Ich will Ihnen aber eine Zahl nennen, die belegt, dass
die direkte Unterstützung von Betrieben in der Projektförderung ein sehr wichtiger Schritt ist, den Sie nicht
schlechtreden sollten. Eine Studie hat ergeben, dass pro
1 Euro Unterstützung in der Projektförderung für Forschung und Entwicklung zusätzliche private Finanzierungsmittel für Innovationen in Höhe von je 1,40 Euro
ausgelöst werden, und zwar - das ist interessant - mit
abnehmender Tendenz, je größer der Betrieb ist. Es handelt sich dabei also um eine spezifisch auf kleine und
mittlere Betriebe ausgerichtete Wirkungsweise. Deswegen sollte man die Projektförderung nicht schlechtreden,
wie Sie es getan haben, Herr Riesenhuber.
({3})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines festhalten, Herr Riesenhuber. Sie vertreten Ihre Fraktion immer
wieder kurventechnisch interessant und wortgewaltig.
({4})
Das freut uns alle. Aber in Ihrer Rede waren spöttische
Bemerkungen, die dem Handeln der Regierung nicht gerecht werden. Sie geht mit Geduld und Genauigkeit vor.
Denn Schnellschüsse in der Innovationsfinanzierung, die
nur kurzfristig wirken oder zu Abgrenzungsproblemen
führen, richten viel Unheil an. Stattdessen nimmt die Regierung Punkt für Punkt Verbesserungen bei der Finanzierung von innovativen Betrieben vor.
Wir richten unsere Politik auf die Kleinbetriebe aus,
sodass das Geld die richtigen Stellen erreicht und Mitnahmeeffekte vonseiten großer Betriebe keine allzu
große Rolle spielen. Dieser Weg ist richtig. Wenn Sie ihn
positiv begleiten, dann soll uns das recht sein. Ich hoffe,
dass Sie diese Richtung in Ihrer Arbeit weiter verfolgen
werden. Dann verbeugen wir uns sicherlich auch gelegentlich einmal vor Ihnen. Aber wenn Sie anfangen, herumzuspötteln, nach dem Motto „Die Koalition tut
nichts; sie redet nur“, dann sind Sie schief gewickelt. In
diesem Fall müssen wir wohl noch einmal auspacken,
wie es unter der früheren Regierung um die Innovationsförderung bestellt war. Dann wird man sich sicherlich
nicht so fröhlich einigen können wie heute.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In
der Tat werden dringender als je zuvor Kapitalgeber gerade für junge Technologieunternehmer gesucht. Aber
woher nehmen? Ich möchte daran erinnern, dass wir den
eben angesprochenen 500-Millionen-Euro-Dachfonds
fraktionsübergreifend gutgeheißen haben.
({0})
Aber wir müssen jetzt auch fragen, wie es mit den passenden Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen,
insbesondere für junge, innovative und kleine Unternehmen, am Standort Deutschland aussieht. Ich kann diesbezüglich nur feststellen, dass die Lage absolut finster
ist.
Heute Morgen ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Zahl der Firmeninsolvenzen im Jahr 2003
mit über 40 000 ein weiteres Mal sehr hoch war. Wenn
man sich klar macht - das sage ich gerade in Richtung
der rot-grünen Koalition -,
({1})
dass das statistisch gesehen den Verlust von mindestens
80 000 Ausbildungsplätzen bedeutet - das ist gerade vor
dem Hintergrund der derzeitigen Debatte über eine Ausbildungsplatzabgabe
({2})
besonders bedrohlich und bedauerlich -, dann erkennt
man, dass falsche Rahmenbedingungen den Firmen das
Leben insgesamt enorm schwer machen.
({3})
Uns fehlen - das ist völlig klar - vernünftige Rahmenbedingungen, damit die Wirtschaft wirtschaften
kann. Das ist gar keine Frage. Es fehlt uns bis heute außerdem die Definition dessen, was in Zukunft noch Aufgabe des Staates und was Aufgabe des privaten Sektors
sein soll. Hier helfen die ständigen Debatten von RotGrün über Steuererhöhungen wirklich nicht weiter. Ich
erinnere nur an die von Ihnen geführten Debatten über
die Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine Erhöhung der Erbschaftsteuer und die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe.
({4})
- Ich sage bewusst „Abgabe“.
({5})
Ich nenne als weiteres negatives Beispiel den Emissionshandel, der in der geplanten Ausgestaltung den Wirtschafts- und insbesondere den Energiestandort Deutschland erheblich belasten wird. Beim Thema Masterplan
fällt mir der Masterplan für Bürokratieabbau ein. Auch
das war ein totaler Flop. Ich denke an den Stillstand in
den so genannten Innovationsregionen. Dort ist gar
nichts geschehen.
({6})
Nicht zu vergessen ist auch das totale Chaos in der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung.
({7})
Ich sehe nicht, dass Rot-Grün in der Lage ist, dem Standort Deutschland Perspektiven zu geben. Die Minireformen, die am Ende des Jahres 2003 beschlossen worden
sind und zu deren Zustandekommen das gesamte Haus
konstruktiv beigetragen hat, reichen bei weitem nicht
aus. Schlimmer noch: Wir meinen, dass die rot-grüne
Regierung derzeit eigentlich am Ende ist.
Ich möchte jetzt auf den Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu sprechen kommen, in dem sehr treffend die augenblickliche desolate Lage beschrieben wird. In der Tat
ist es gerade um die innovativen Unternehmen in unserem Land sehr schlecht bestellt.
({8})
Sie wissen, dass die Eigenkapitalquote durchweg besorgniserregend niedrig ist. Je kleiner die Unternehmen
sind, desto niedriger ist die Eigenkapitalquote. Das gilt
insbesondere für Unternehmen mit einem Jahresumsatz
von unter 500 000 Euro.
({9})
Wir brauchen, wie gesagt, passende Rahmenbedingungen. Das bedeutet eine Senkung der Staatsquote sowie der Steuern und Abgaben. Ich komme jetzt zu einem
Punkt, den die FDP-Fraktion bei allem Wohlwollen für
den CDU/CSU-Antrag kritisch sieht. Wir haben heute
Morgen in dieses Parlament unseren Entwurf eines Gesetzes für ein einfaches und konsequent unbürokratisches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen eingebracht. Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der
sehr stringent sagt, wohin wir steuerlich wollen.
({10})
Wir möchten nämlich ohne Sondertatbestände auskommen. Vor diesem Hintergrund tun wir uns wirklich
schwer damit, jetzt weitere Steuerausnahmetatbestände
oder Steuervergünstigungen zu fordern,
({11})
gerade auch was Stock Options oder sonstige steuerliche
Erleichterungen in dem Bereich betrifft. Den Teil möchten wir nicht mittragen,
({12})
sagen aber, dass die Richtung dieses Antrags der Union
insgesamt stimmt, dass er absolut stimmig ist.
({13})
Man kann natürlich nicht sagen: Wir wursteln, wie
Rot-Grün das derzeit macht.
({14})
Wir wursteln im Chaos so weiter und kommen dann zielgenau nicht zu dem Punkt, dass Unternehmen in
Deutschland, egal ob junge oder ältere Unternehmen,
egal welcher Größe, überhaupt eine Chance haben, hier
in Zukunft mit den Arbeitsplätzen und den Ausbildungsplätzen zu bestehen.
({15})
Also die klare Ansage: Schwenken Sie ein auf das
wirklich stringente Steuersystem, das die FDP-Fraktion
heute vorgelegt hat! Dann ginge es am Wirtschafts- und
Sozialstandort Deutschland besser und dann kämen wir
ein Riesenstück voran.
({16})
Dafür wünsche ich uns allen Mut.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Matschie.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Bei Ihnen von der FDP ist es ja so, dass Sie immer dann
von der großen Steuervereinfachung reden, wenn Sie gerade nicht regieren. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in
denen Sie mehr Möglichkeiten hatten, so etwas durchzusetzen. Wir haben die Steuervereinfachung damals
nicht erlebt.
Im Übrigen haben wir hier eine interessante Auseinandersetzung - Herr Riesenhuber und Herr Wend haben das schon angesprochen -, nämlich zwischen den
großen Steuervereinfachern und denen, die sagen: Wir
wollen aber auch ganz gezielt Vorteile für bestimmte
Unternehmen oder Kapitalbeteiligungen vorhalten.
({0})
Herr Riesenhuber, es war aber schon eine etwas seltsame Steuerlogik, die Sie hier vorgetragen haben. Das
war nach dem Motto: Wir wollen zwar alle Subventionen abschaffen, aber weil es halt ein paar gibt, schaffen
wir noch ein paar mehr; dann können wir nachher umso
mehr abschaffen. - Die Logik erschließt sich mir nicht
ganz.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Riesenhuber?
({0})
Aber selbstverständlich.
({0})
Gestatten Sie, lieber Kollege Matschie, dass ich diesem intellektuellem Problem ein wenig abhelfe? In der
Sache geht es um Folgendes: Wenn wir uns jetzt hier gemeinsam verabreden, die Sondertatbestände abzuschaffen, und uns für das Merz- oder das FDP-Konzept entscheiden, dann bin ich mit Leidenschaft dabei. Aber ich
habe Sie mit bescheidender Zurückhaltung darauf hingewiesen,
({0})
dass wir vor 15 Jahren eine Diskussion hatten, in der es
darum ging, endlich auch Forschung und neue Technologien über das Steuersystem zu fördern. Damals ist gesagt
worden: Das machen wir nicht, weil die große Steuerreform kommt.
Ich sage: In der Hölle ist der Teufel eine positive Figur. Solange wir hier noch eine verquere Situation haben, müssen wir mit diesen Instrumenten leben. Insofern
sollten wir uns gemeinsam aufmachen, die Subventionen
abzuschaffen. Dann folge ich auch Herrn Eichel in seiner entschlossenen Aussage, er werde dann nicht mit
Steuern, sondern mit Finanzbeihilfen arbeiten. Auf dieser Grundlage werde ich mit Vergnügen sehen, was der
BMF in seiner umfassenden Weisheit an konkreten Finanzbeihilfen als Ersatz für die eigenen Steuervorschläge in die Diskussion bringt.
({1})
Ich habe den fragenden Ton bei Herrn Riesenhuber
schon herausgehört. Ich weiß auch, warum.
({0})
Ich bewundere ja Ihre Leidenschaft für die Steuervereinfachung, nur, Herr Kollege Riesenhuber: Einige Kollegen in Ihrer Fraktion haben sich in den letzten Wochen
- ich erinnere nur an die heftigen Auseinandersetzungen
im Vermittlungsausschuss - mit vielleicht noch größerer
Leidenschaft dafür eingesetzt, dass eben Ausnahmetatbestände erhalten bleiben,
({1})
dass es nicht an die Pendlerpauschale geht, dass es nicht
an die Eigenheimzulage geht und dass es nicht an die
Subventionen in der Landwirtschaft geht. Herr
Riesenhuber, meine Bitte lautet also: Verwenden Sie wenigstens einen Teil der Leidenschaft, die Sie hier gezeigt
haben, darauf, Ihre Kolleginnen und Kollegen davon zu
überzeugen, dass wir beim Subventionsabbau an anderer
Stelle ein paar Schritte weiterkommen!
({2})
Es ist kein Geheimnis - der Bundesverband deutscher
Kapitalbeteiligungsgesellschaften hat es in seinen letzten
Veröffentlichungen noch einmal deutlich gemacht -: Der
Markt für Venturecapital in Deutschland ist nach wie vor
in der Krise. Wir können hiermit nicht zufrieden sein.
Die Finanzierungssituation für junge Technologieunternehmen ist - das wird von niemandem bestritten - entsprechend schwierig. Bevor man jetzt darangeht, die
ganze Verantwortung bei der Politik abzuladen und dort
möglicherweise eine Lösung für alles suchen zu wollen
- es wird nicht möglich sein, sie dort zu finden -, muss
man fragen: Warum ist diese Situation so? Ich will einige Gründe nennen, warum die Situation so schwierig
ist.
Nicht nur die Börse, sondern auch der Markt für
Wagniskapital war in den letzten Jahren, gerade 1999
und 2000, überhitzt. Wir hatten so enorme Zuwächse
- Sie erinnern sich vielleicht -, dass sich beispielsweise
die Investitionen im Frühphasensegment in Deutschland
von 1996 bis 2000 fast verzehnfacht haben. Selbst Länder wie Großbritannien, traditionell ein Risikokapitalland, haben wir im Zuge dieser enormen Entwicklung
abgehängt. Allerdings besteht die Gefahr einer Überreaktion in die andere Richtung; in genau so einer Entwicklung befinden wir uns zurzeit.
Natürlich spielt auch eine Rolle, dass sich viele Investoren mit ihrem Engagement die Finger verbrannt haben.
Die Statistik des Europäischen Beteiligungskapital-Verbands besagt, dass es im Jahr 2002 eine negative Rendite
von fast 30 Prozent gegeben habe. Auch das wirkt auf
diesem Markt selbstverständlich noch heute nach. Dazu
kommt der Ausfall der Börse, was Neuemissionen angeht. 1999 und 2000 wurden jeweils über 100 Unternehmen am Neuen Markt untergebracht. Seit weit mehr als
einem Jahr hat überhaupt kein Technologieunternehmen
den Gang an die Börse gewagt. Ich bin allerdings froh,
dass auch auf diesem Gebiet langsam neue Signale erParl. Staatssekretär Christoph Matschie
kennbar sind. Ich habe in der „Thüringer Allgemeinen“
vom vergangenen Dienstag gelesen:
X-Fab bricht Börsen-Bann
Erfurter Chiphersteller wagt nach einem Jahr als einer der Ersten Gang aufs Parkett
Ich finde, es ist ein positives, ein ermutigendes Signal,
dass wieder Aufbruchzeichen zu sehen sind.
({3})
- Herr Riesenhuber, man sollte mit solchen Äußerungen
vorsichtig sein. Ich glaube, das hat weniger mit der Regierung in Thüringen zu tun als vielmehr damit, dass
sich die Situation an den Börsen insgesamt wieder entspannt und dass neue Möglichkeiten entstanden sind.
Wir haben dort, wo man es tun kann, gehandelt und
gegengesteuert. Der Beteiligungskapitalfonds ist hier genannt worden. Ich will in diesem Zusammenhang darauf
hinweisen, dass der Bundesverband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften neue Impulse für den Markt
durch den von uns eingerichteten Dachfonds erwartet.
Mit den jüngsten finanzpolitischen Entscheidungen
seien für 2004 gute Voraussetzungen geschaffen worden.
Natürlich seien damit - auch das hat er in seiner Pressemitteilung deutlich gemacht - nicht alle Wünsche erfüllt.
Ich finde, wir sollten die Schritte, die wir gegangen
sind und die die Situation für die Technologieunternehmen und für Beteiligungen verbessern, hier nicht kleinreden, sondern wir sollten sie herausstellen, um Unternehmen und Beteiligungskapital zu ermutigen.
({4})
Darauf kommt es in dieser schwierigen Situation doch
an.
Ich glaube, dass über die steuerlichen Rahmenbedingungen und über diesen Fonds hinaus natürlich auch im
Bereich der Forschungspolitik einiges in Angriff genommen worden ist. Ich will hier nicht sämtliche infrage
kommenden Programme aufzählen. Man kann das nachlesen. Herr Kuhn, Sie haben sich zu Seed-Finanzierungen geäußert. Auch ich meine: Wir müssen noch einmal
darüber nachdenken, welche neuen Instrumente wir entwickeln können. Im Moment gehört es wohl zu den
schwierigsten Aufgaben, Seed-Kapital zu finden. Wir
müssen uns etwas einfallen lassen, um Unterstützung für
diesen sensiblen Bereich zu erhalten.
({5})
Ich komme zum Schluss. Wir sollten in dieser ganzen
Diskussion nicht vergessen, dass der Wagniskapitalmarkt sehr zyklisch ist. Ich glaube, dass im Rahmen des
sich abzeichnenden wirtschaftlichen Belebungsprozesses des sich abzeichnenden Aufschwungs insgesamt bessere Bedingungen für die Innovationsfinanzierung geschaffen werden können. Wir sollten diese Entwicklung
gemeinsam unterstützen und nicht kleinreden, denn in
dieser Phase ist jetzt Mut gefragt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander
Dobrindt.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
ist außerordentlich erfreulich, feststellen zu können, dass
in dieser Debatte zumindest die aktuelle Problemlage, in
der sich viele Unternehmen aufgrund der mangelnden
Finanzierungsmöglichkeiten befinden, von allen Anwesenden ähnlich gesehen wird. Ich denke, dass man das
wohl so sagen kann.
Das Thema des Eigenkapitaldefizits in der deutschen Wirtschaft ist ja nicht wirklich ein neues Thema,
das etwa erst nach dem Zusammenbruch des Neuen
Marktes oder im Zusammenhang mit dem Rekord an
Unternehmensinsolvenzen akut geworden wäre. Im Vergleich zu anderen Industriestaaten haben unsere Unternehmen die niedrigste Eigenkapitalquote; und diese
sinkt weiter. Dabei ist das Eigenkapitaldefizit nicht in
erster Linie ein Problem der Großunternehmen in
Deutschland,
({0})
sondern insbesondere eines des breiten Mittelstandes.
Die Finanzreserven sind zurzeit vielfach schon erschöpft. Sie alle kennen aus Ihrem Wahlkreis Beispiele
für Firmen, deren Rücklagen aufgrund der schlechten
Konjunktur und der mangelnden Unterstützung durch
die Politik der letzten Jahre - auch das muss man um der
Wahrheit willen betonen - aufgebraucht sind.
Gerade im Mittelstand ist die Luft raus. Es fehlt das
nötige Geld, um Investitionen zu tätigen, die Maschinenparks zu erneuern und in Forschung und Weiterentwicklung zu investieren. Über Wachstum braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht mehr reden, Wachstum
können viele aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren.
Wenn man genau hinschaut, dann stellt man im konkreten Fall häufig fest, dass in vielen Bereichen schon jetzt
das Kapital fehlt, um wenigstens das magere prognostizierte Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent in diesem Jahr
mit konkreten Aufträgen zu erreichen.
Meine Damen und Herren, was ist schlimmer, als
wenn ein Unternehmen Marktchancen hat, wenn Unternehmer Ideen haben, wenn Aufträge vorhanden sind,
aber das nötige Kapital, um zu handeln, fehlt? Es ist
keine sonderlich ermutigende Vorstellung, wenn Banken
den Unternehmen mitteilen, dass es zwar gut sei, wenn
sie Aufträge hätten, aber wenn sie diese nicht finanzieren könnten, dann dürften sie sie eben nicht annehmen.
Das ist keine Zukunftsfiktion, das findet tagtäglich in
Deutschland so statt.
({1})
- Das sind nicht nur die rot-grünen Banken, aber Ihre
Politik hat mit Sicherheit maßgeblich damit zu tun. Das
kann man, wie ich glaube, schon so feststellen.
Die Banken entziehen sich immer mehr dem Thema
Mittelstandsfinanzierung. Kreditlinien wurden in den
vergangenen Jahren großzügig eingeengt. Sie finden
kaum noch einen Mittelständler, der nicht darüber klagt,
dass die Bedingungen der Kreditvergabe restriktiv gehandhabt wurden und er dadurch in seinen unternehmerischen Entscheidungen drastisch eingeengt wurde.
Es ist richtig - das wurde hier schon gesagt -, dass
vonseiten der KfW und der DtA eine Reihe von Programmen aufgelegt wurden, die hier eine Lücke füllen
sollen. Aber das gelingt in vielen Fällen nicht. Die Gelder aus diesen Programmen werden entweder nicht in
ausreichendem Umfang weitergereicht oder können
auch gar nicht weitergereicht werden, weil deren Zuteilung oft an ähnlich schwierige Hürden geknüpft ist wie
zum Beispiel die so genannten banküblichen Besicherungen. All dieses kann eine Nutzung im konkreten Fall
verhindern. Hier muss mehr Bereitschaft insbesondere
zu einer größeren Risikoübernahme gezeigt werden,
wenn diese Instrumente in vollem Umfang für den Mittelstand nutzbar werden sollen.
Die entscheidende Rolle, die der Mittelstand für die
bisherige und zukünftige wirtschaftliche Entwicklung
hat, macht es dringend erforderlich, diese Finanzierungsschiene zu stärken. Dies gilt im Besonderen für so genannte Start-ups, die auch gerade unter beschäftigungspolitischer Hinsicht von enormer Bedeutung sind. Im
Jahr 2002 waren, wie Sie wissen, allein 9 Prozent aller
Beschäftigten in Unternehmen tätig, die in den Jahren
1998 bis 2002 neu gegründet wurden. Hier steht ein
enormes Potenzial von innovativen Technologieunternehmen bereit, die in der Lage sind, Wachstum zu erzeugen. Aber diese Unternehmen brauchen das nötige Geld,
die nötige Anschub- und Weiterfinanzierung.
Ein Teil dieses notwendigen Geldes kann in diesem
speziellen und in vielen anderen Bereichen von den Mitarbeitern - und zwar nicht ausschließlich von den leitenden Mitarbeitern, sondern von allen Beschäftigten kommen. Die Mitarbeiterbeteiligung liegt in Deutschland noch immer im Dornröschenschlaf, weil wir die nötigen Rahmenbedingungen dafür nicht vorhalten. Wir
müssen uns aus meiner Sicht die Frage stellen, warum
sich ein Mitarbeiter, der sich finanziell an seinem Unternehmen beteiligt, beispielsweise in Form einer stillen
Gesellschaft, steuerlich genauso stellt, wie wenn er das
Geld zur Bank bringt. Da gibt es doch einen entscheidenden Unterschied.
Gerade in jungen Unternehmen haben wir eine Beteiligungskultur: Mitarbeiter sind bereit, durch eine finanzielle Beteiligung ein Risiko auf sich zu nehmen und damit für ihren eigenen Arbeitsplatz und den von anderen
zu sorgen, ohne in einer unternehmerischen Gesamtverantwortung zu stehen. Diese neue Kultur des Selbstverständnisses der Mitarbeiter in neuen Technologieunternehmen muss eine besondere Berücksichtigung
erfahren, um der Risikobehaftung des Engagements gerecht zu werden.
({2})
Das kann man nicht unter dem Thema Sparerfreibetrag
abhandeln; damit würde man dem sicher nicht gerecht
werden. Das Gleiche gilt im Wesentlichen für Aktienoptionen, die selbstverständlich ein taugliches Instrument
zur Stärkung des Eigenkapitals von jungen Unternehmen
sind, die sich hierdurch hohe Kosten durch Gehälter ersparen können.
Aber wir müssen sicherstellen, dass dieses Instrument, das eine hohe Anreizfunktion hat, in seiner Wirkung erhalten bleibt und nicht durch Ungleichbehandlung zum Standortnachteil für deutsche Unternehmen
mutiert. Gerade in der New Economy, bei der nach der
Überhitzungsphase nicht nur Träume und Visionen zerplatzt sind, sondern auch die ohnehin geringe wirtschaftliche Substanz der übrig gebliebenen Unternehmen stark
beschädigt ist, bei der man von der Euphorie von zweibis dreistelligen Wachstumsraten auf realistische Entwicklungsziele gekommen ist, sind zur Stabilisierung
dringend Mitarbeitermodelle notwendig, die echte Anreizfunktionen für die Beschäftigten bieten und gleichzeitig Wachstumspotenziale für das Unternehmen schaffen.
({3})
Meine Damen und Herren, Wirtschaftsminister
Clement hat heute Vormittag in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gesagt, man setze auf die Innovationen unserer Unternehmen; von „Lust“ und „Leidenschaft“, etwas zu unternehmen, und von mehr
Eigenverantwortung war die Rede. Dazu gehört meines
Erachtens auch eine neue Beteiligungskultur. Ich nehme
Ihre Bemühungen durchaus ernst. Die Schaffung eines
Dachfonds ist löblich, ebenso Ihr Ziel der Anpassung der
Wesentlichkeitsgrenze. Allerdings muss man feststellen,
dass der Titel für Projektförderung im Bundesministerium für Bildung und Forschung gleichzeitig um
8 Prozent gekürzt wird. Immerhin weisen die Dinge in
die richtige Richtung, aber sie werden bei weitem nicht
ausreichen, um in Deutschland eine Kultur von Business
Angels zu etablieren, wie wir das anderenorts bereits
kennen.
Ganz selbstverständlich stellt sich da regelmäßig die
Frage nach der steuerlichen Behandlungen von Veräußerungsgewinnen. Es wäre dringend notwendig, andere
Maßstäbe anzuwenden, wenn die Mittel beispielsweise
als Risikokapital reinvestiert werden, als wenn sie andere Verwendungen finden. Gerade diese steuerlichen
Fragen haben sich in der „Phase der großen Blase“ nicht
in dem Umfang gestellt, wie das jetzt der Fall ist, weil
die Aussichten auf die außerordentlichen Wachstumsraten sie zweitrangig erscheinen ließen. Allerdings bekommen diese Fragen in der jetzt sicherlich noch länger
anhaltenden Phase der normalen bis unterdurchschnittlichen Gewinnaussichten naturgemäß wieder eine größere
Bedeutung.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Der Mittelstand ist finanziell ausgeblutet, die Versorgung mit
Risikokapital mehr als zurückhaltend. Unsere Aufgabe
und vor allem die Aufgabe der Bundesregierung ist es
hier, das Angebot an Kapital zu stärken und die Verbindung zwischen Nachfrage und Angebot zu erleichtern,
damit Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist nicht schlecht, dass wir beim Thema Innovationsförderung und finanzielle Unterstützung für
junge Unternehmen einer Meinung sind. Genauso wichtig ist aber auch die Frage - das ist die andere Seite der
Medaille -, wie man Forschung und Entwicklung von
staatlicher Seite unterstützen kann.
Ein Blick auf den Mittelstand zeigt, dass es dort eine
ganze Reihe von Innovationen und neuen Produkten
gibt. 200 000 Unternehmen sind in diesem Bereich aktiv; aber darunter sind nur 35 000 Unternehmen, die kontinuierlich Forschung und Entwicklung betreiben. Man
würde also zu kurz springen, wenn man dieses Thema,
wie in dem Antrag der CDU/CSU geschehen, nur auf
den Bereich der Finanzen reduziert. Man muss daneben
auch die staatliche Förderung im Bereich der Forschung
und Entwicklung betrachten.
Lieber Kollege Riesenhuber, Sie haben eine fulminante Rede gehalten. Mit Leidenschaft haben Sie die
Bundesregierung aufgefordert, nun endlich etwas zu tun.
Darauf möchte ich Ihnen erwidern, dass Sie elf Jahre
lang - ich habe im Handbuch nachgeschaut - Forschungsminister waren, auch in den Jahren 1991 bis
1993.
({0})
Mich erstaunt daher sehr, dass Sie sich nicht kritisch damit auseinander setzen, dass Sie in dieser Zeit die Ausgaben für Forschung und Entwicklung reduziert haben.
({1})
Die Ausgabenkürzungen gingen noch nach Ihrer Zeit als
Minister weiter.
Das Problem war, dass bis 1998 die Ausgaben für
Forschung und Entwicklung zum Nachteil der kleinen
Unternehmen und des Wirtschaftsstandortes Deutschland ständig reduziert wurden.
({2})
Das haben Sie, Herr Riesenhuber, mit zu verantworten.
Ein bisschen mehr Leidenschaft wäre damals gut gewesen. Ihre jetzige Leidenschaft sehe ich Ihnen nach.
Trotzdem sollten Sie ein bisschen Augenmaß zeigen,
wenn es um die Kritik an der Bundesregierung geht.
Jetzt zum Thema Hightech-Masterplan. Ich finde es
sehr gut, dass die Bundesregierung diesen Plan vorgelegt
hat,
({3})
um im internationalen Wettbewerb, was die Forschung
und Entwicklung angeht, aufzuholen. Der entsprechende
Anteil am Bruttosozialprodukt muss erhöht werden. Wir
brauchen eine konzertierte Aktion im Bereich der Technologieförderung, insbesondere für kleine Unternehmen.
Ich bin sehr froh, dass das Forschungsprogramm Anreize zum Ausbau von Forschungs- und Innovationsstrategien schafft. Die entstehenden Netzwerke sind aus
meiner Sicht wichtig, um die Forschung und Entwicklung in den kleinen Unternehmen zu unterstützen. Die
Bundesregierung hat die Mittelstandsförderung auf dem
Gebiet der Forschung und Entwicklung um 32 Prozent
gesteigert, was sich schon positiv ausgewirkt hat.
Der Bund und auch die Länder unterstützen Unternehmen insbesondere darin, zukunftsorientierte Produkte für den internationalen Markt zu entwickeln. Ich
finde es sehr wichtig, dass die Innovationsnetzwerke
ausgebaut werden, dass es Ausgründungen aus den
Hochschulen gibt und dass vor allen Dingen Forschungsergebnisse schneller in marktfähige Produkte
umgesetzt werden. Wir tun also etwas. Aber ich denke,
dass es - keine Frage - noch besser werden muss. Das
steht bei uns ganz oben auf der Tagesordnung.
Nach wie vor ist die Mitarbeiterausgründung zu gering entwickelt. Deshalb haben wir eine entsprechende
Förderung vorgesehen. Frau Kopp, es stimmt natürlich
- das ist unstrittig -, dass in Deutschland die kleinen Unternehmen eine viel zu geringe Eigenkapitalquote haben. In anderen Ländern - das ist allerdings kein Trost ist die Situation besser. Wir müssen unsere Hausaufgaben auf diesem Gebiet machen.
({4})
Es ist wichtig, dass der Strukturwandel auf den Finanzmärkten und im Bankensektor dazu führt, dass das
Risikokapital als Chancenkapital erkannt wird. Wir müssen an die Banken appellieren, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und den kleinen und mittleren Unternehmen das notwendige Kapital zur Verfügung stellen.
({5})
Im Ratingverfahren bleiben diese jungen Unternehmen
oft auf der Strecke, weil es bisher keine geeigneten Rahmenbedingungen gab.
Die Bundesregierung hat, bezogen auf die Förderkonzepte, eine Menge getan. Als Mitglied des Unterausschusses ERP-Wirtschaftspläne, in dem wir im Konsens
über diese Fragen diskutieren, wissen Sie, dass wir einen
leichteren Zugang zu Krediten ermöglichen wollen.
Durch die Gründung der Mittelstandsbank haben wir
eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen. Wir
stellen im Jahre 2004 rund 4 Milliarden Euro für die
Karin Roth ({6})
Gewährung langfristiger und zinsgünstiger Kredite an
kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung.
Darüber hinaus bietet der neue Beteiligungsdachfonds, für den aus dem ERP-Sondervermögen und dem
Europäischen Investitionsfonds ab 1. März 2004
500 Millionen Euro bereitgestellt werden, die große
Chance, Technologieunternehmen zu fördern und privates Kapital mit diesem Fonds zu kombinieren. Dadurch
können insgesamt 1,7 Milliarden Euro mobilisiert werden. Wir waren uns im Ausschuss einig darüber, dass
dies eine große Chance ist, Existenzgründungen - auch
die aus den Hochschulen heraus - zu fördern. Wir waren
uns auch einig darin, dass das seitens der Europäischen
Union eine wichtige Initiative war, die wir unterstützen.
Kurzum: Wir müssen alles dafür tun, um Risikobereitschaft zu unterstützen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist!
Wir müssen all denjenigen die Türen öffnen, die bereit sind, Innovationen zu wagen und ein Risiko einzugehen. Ich wünsche mir, dass das Engagement der großen
Banken auf diesem Gebiet genauso groß ist wie zum
Beispiel das der Sparkassen und Volksbanken. Sie sind
immer noch besser als die großen Banken. Ich hoffe und
wünsche mir, dass die Banken die Verantwortung wahrnehmen, die sie in diesem Land wahrzunehmen haben,
nämlich dass sie die Menschen bei Existenzgründungen
und vor allen Dingen kleine und mittlere Unternehmen
in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit unterstützen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck-
sache 15/2367 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Für eine neue Beteiligungskultur - Ei-
genkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen
durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitar-
beiterbeteiligungen verbessern“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/815 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des
Ausschusses? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei
Enthaltung der FDP angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({0}), Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Peter Hettlich, Volker
Beck ({1}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Deutsche und europäische Raumfahrtpolitik
zukunftsorientiert gestalten
- Drucksache 15/2394 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Georg Nüßlein, Katherina Reiche, Thomas
Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Stärkung der wissenschaftlichen Zukunftsund wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit
des Raumfahrtstandorts Deutschland in Europa
- Drucksache 15/2334 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
Militärische Nutzung des Weltraums und
Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im Weltraum - Sachstandsbericht
- Drucksache 15/1371 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Swen Schulz.
({6})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die RaumSwen Schulz ({0})
fahrt ist in Deutschland und in Europa ein erfolgreiches
Innovationssystem. Gemeinsam mit vielen Akteuren ist
es uns gelungen, in die absolute Weltspitze vorzudringen. Das hat zum Beispiel die außergewöhnlich erfolgreiche europäische Marsmission gezeigt: Mit deutscher
Technologie ist etwa zum ersten Mal Wasser auf dem
Mars nachgewiesen worden.
({1})
SPD und Bündnis 90/Grüne legen einen Antrag vor,
mit dem wir die erfolgreiche Raumfahrtpolitik der Bundesregierung unterstützen und Akzente zu ihrer Fortentwicklung setzen. Bei aller Faszination, die von der
Raumfahrt ausgeht, besteht doch viel Skepsis. Häufig
wird - auch hier im Bundestag - gefragt: Welchen Nutzen ziehen wir eigentlich aus der Raumfahrt? Wir haben
so viele Probleme auf der Erde, können wir uns das leisten? Raumfahrt ist mehr als nur etwa ein Flug zum
Mond oder zum Mars. Raumfahrt ist Motor des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Darüber
hinaus hilft sie, ganz konkret Probleme auf der Erde zu
lösen.
({2})
Mit satellitengestützter Technologie wird Wetterbeobachtung gemacht, helfen wir bei Katastrophenschutz,
Umweltschutz, in der Landwirtschaft, bei Kommunikation und Navigation. Damit tun sich auch enorme wirtschaftliche Möglichkeiten auf.
An dieser Stelle wird deutlich, dass Europa unbedingt
einen eigenen und unabhängigen Zugang zum Weltraum
benötigt. Wenn wir bei den Trägersystemen vom Goodwill anderer Staaten abhängig wären und zum Beispiel
die USA, Russland oder China sagen könnten, bestimmte Satelliten brächten sie uns Europäern nicht in
den Orbit, könnten wir die Versuche, mit Raumfahrt Probleme zu lösen und Geld zu verdienen, gleich einstellen.
({3})
Trotz der Bedeutung der Raumfahrt ist ein sorgsamer
Umgang mit Steuermitteln selbstverständlich notwendig. Wir müssen gerade angesichts der schwierigen
Haushaltslage genau überlegen, wie viel Geld wir wofür
ausgeben. Natürlich müssen wir Forschung fördern, für
die es kein unmittelbares Verwertungsinteresse gibt; anderenfalls würden wir eine wichtige Quelle des Fortschritts verschließen. Darüber hinaus wollen wir einen
Schwerpunkt auf anwendungsorientierte Raumfahrtprojekte setzen. Für deren Finanzierung sind die Interessenten, die Nutzer, ins Boot zu holen. Des Weiteren wollen
wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen und uns auf die
Projekte konzentrieren, in denen wir wirklich Spitze sind
oder werden können. Es hat keinen Sinn, mit der Gießkanne über alle Bereiche zu gehen; dann wird aus allem
nichts Richtiges. Im Rahmen dieser Konzentration müssen wir darauf achten, dass in Deutschland Unternehmen
und Einrichtungen gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen
werden. Wir müssen sicherstellen, dass Deutschland die
Technologieführerschaft übernimmt und Märkte erschließt.
Das führt zum Thema Wahrung deutscher Interessen
gegenüber unseren Partnern. Häufig hatte man ja den
Eindruck, die Deutschen seien die besten Europäer: Sie
zahlen brav und lassen sich ansonsten von anderen über
den Tisch ziehen. Wir können heute feststellen, dass
diese Bundesregierung Schluss damit gemacht hat.
({4})
Bei den Verhandlungen über die Ariane wurde eine
Überstrapazierung des deutschen Budgets verhindert
und darüber hinaus der Abbau des Rückflussdefizits erreicht. Es wird ja gelegentlich über handwerkliche Mängel in der Politik geklagt. Darum betone ich: Frau Ministerin, das war eine Meisterleistung!
({5})
- Meisterinnenleistung, Entschuldigung!
({6})
Angesichts der zukünftigen Herausforderungen ist
trotz aller Sparsamkeit und Konzentration eine Erhöhung der Aufwendungen aus dem Bundeshaushalt für
die Raumfahrt notwendig. Wir können uns auch nicht
ganz auf die europäische Ebene zurückziehen - nach
dem Motto: Wenn sich Europa darum kümmert, müssen
wir nicht noch in Deutschland extra Geld dafür ausgeben. Das wäre eine Milchmädchenrechnung. Denn erstens sind deutsche Initiativen, deutsche Entwicklungen
als Motor der europäischen Raumfahrt nötig
({7})
und zweitens können nur die Staaten von europäischen
Erfolgen profitieren, die dazu beitragen und die vorne
mitspielen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Raumfahrt ohne uns stattfindet. Anderenfalls wäre Deutschland nur Zahlmeister.
({8})
Darum ist es notwendig, perspektivisch auch das nationale Raumfahrtprogramm zu stärken.
({9})
Was wir jedoch nicht benötigen, ist ein neues Programm für die bemannte Raumfahrt. Unserer Auffassung nach stehen Kosten und möglicher Nutzen bemannter Raumfahrt zum Mond oder zum Mars in keinerlei
akzeptablem Verhältnis.
({10})
Swen Schulz ({11})
Uns geht es nicht um teure und fragwürdige Prestigeprojekte, sondern um effiziente Forschung, Technologieentwicklung und -anwendung.
({12})
Ein Wort zur Internationalen Raumstation ISS:
Aus heutiger Sicht war die Verpflichtung, die die Bundesregierung eingegangen ist - ich formuliere es
vorsichtig -, nicht der Weisheit letzter Schluss.
({13})
Aber wir stehen zum Vertrag. Wenn jedoch unsere Partner ihren Pflichten nicht nachkommen, müssen und werden wir unser Engagement für die ISS überdenken.
({14})
Ich spreche als einen weiteren Aspekt noch kurz die
Raumfahrt in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Eine Militarisierung und Bewaffnung des
Weltraums lehnen wir kategorisch ab. Waffensysteme
haben im Weltraum nichts zu suchen.
({15})
Der TAB-Bericht macht sehr deutlich, wie wichtig eine
klare Positionierung an dieser Stelle ist. Zugleich benötigen wir für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik satellitengestützte Technologie für Aufklärung, Navigation, Kommunikation et cetera. Vor allem
die Soldaten benötigen optimale technische Unterstützung. Wenn wir die Leute ins Ausland - teilweise in riskante Einsätze - schicken, müssen sie zu ihrer Sicherheit
eine optimale Ausrüstung erhalten.
({16})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der knappen Zeit konnte ich nur einige Aspekte streifen. Ich würdige ausdrücklich, dass die Opposition differenzierte und
diskutable Anträge vorgelegt hat. Der Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen ist an wichtigen Stellen realistischer und klarer. Ich freue mich aber auf die weitere
Debatte.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Forschungsergebnisse der Raumfahrt haben
unstrittig viele Anwendungen im Alltag gefunden. Der
Kollege Schulz hat einige davon angesprochen. Deshalb
ist Raumfahrt nicht nur ein forschungs-, sondern auch
ein wirtschaftspolitisches Thema. Dass voraussichtlich
am 26. Februar wieder eine Ariane-Rakete startet, ist ein
Grund zur Freude und ein Zeichen dafür, wie wichtig
und aktuell die heutige Debatte ist.
({0})
Im Weißbuch der EU wird festgestellt, dass Investitionen in die Raumfahrt einen sieben- bis achtmal so
hohen Nutzen für zivile Zwecke bringen. Die EU-Kommission geht schon heute von Wachstumsraten von
25 Prozent in der Raumfahrt aus. Die Raumfahrt könnte
zum Schrittmacher der Technologie wie der Ökonomie
des 21. Jahrhunderts werden.
Meine Damen und Herren, bei allen Anwendungsmöglichkeiten dürfen wir jedoch die Grenzen der Kommerzialisierbarkeit nicht außer Acht lassen. Raumfahrt
ist von der Forschung und Entwicklung bis hin zu vielen
Umsetzungen staatlich dominiert. Raumfahrt gehört zu
den wenigen Bereichen, wo wir das akzeptieren, weil
wir wissen, dass Grundlagenforschung nicht in KostenNutzen-Kategorien gepresst werden kann.
Raumfahrt ist ein visionenbasiertes Wissenschaftsfeld. Deshalb wollen wir von der CDU/CSU im Gegensatz zu dem, was wir gerade von Ihnen, Herr Schulz, gehört haben, an der bemannten Raumfahrt festhalten.
({1})
Wir wissen, dass Frau Bundesministerin Bulmahn hier
seit Amtsantritt skeptisch ist.
Roboter können viel, aber eben nicht alles. Von der
bemannten Raumfahrt geht - wir erleben das zurzeit eine Faszination aus, die wir wieder brauchen, der
Glaube an die technische Zukunft, der Glaube an das
„Made in Germany“.
({2})
Ich habe in der letzten Sitzungswoche schon einmal gesagt: Mit einem Dosenpfand zum Wegwerfen, mit einer
Maut, über die Österreich lacht, und mit einem Transrapid, der nur in China fährt, werden wir den Stolz auf das
„Made in Germany“ nicht aufpolieren.
({3})
Wir brauchen eine neue Technologieverliebtheit, Faszination, Fortschrittswillen. Nur dann wird es wieder
junge deutsche Ingenieure und Forscher geben, die ihren
Beruf hier im Lande ausüben wollen und nicht ins Ausland gehen. Das brächte bei weitem mehr als eine Eliteuniversität.
({4})
Ein Bremsklotz in Sachen Technik sind und bleiben
die Grünen. Die Grünen wollen vom Mars nichts mehr
wissen, seit sie auf den Bildern von Spirit gesehen haben, dass es dort keine Kollegen, keine grünen Männchen, wohl aber Wasser gibt. Es ist uns natürlich nicht
entgangen, dass es eine lange Diskussion zwischen SPD
und Grünen darüber gegeben hat, wie sie sich zum
Thema ISS positionieren wollen.
({5})
Ich hoffe, dass sie jetzt nicht ihre Technologiefeindlichkeit unter dem Deckmantel schöner Worte verborgen haben - nach dem Motto: Lieber hinter dem Mond leben
als auf dem Mond landen.
({6})
Ihre Technologiefeindlichkeit ist eine der Gründe für
den wirtschaftspolitischen Misserfolg dieser Regierung
({7})
und einer der Gründe dafür, warum die Wähler Rot-Grün
am liebsten auf den Mond schießen würden.
({8})
Das ist eine schöne Vision. Aber eigentlich heißt Visionen nachzuhängen etwas anderes: Unmögliches möglich
zu machen. Die Regierung wählt meist den umgekehrten
Weg und macht Mögliches unmöglich.
({9})
- Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hätte mir ein deutlicheres Bekenntnis zur Internationalen Raumstation ISS gewünscht.
({10})
Außerdem sollte die Bundesrepublik bei so visionären
Programmen wie Aurora, der bemannten europäischen
Mond- und Marsmission, nicht außen vor bleiben.
({11})
Das hieße nämlich, dass auch unsere Industrie und Forschung am Schluss außen vor blieben.
Herr Schulz, ich will Ihren Vorschlag gerne aufnehmen und keine unnötige Schärfe in die Debatte bringen.
({12})
- Dann ist es auch nicht schlecht. - Es besteht schon
weitgehend Einigkeit, was die Zielsetzungen im Bereich der Raumfahrt angeht. Für mich wird aber das
Schicksal Ihres Antrages spannend. Sie haben es immerhin geschafft, Kanzler und Parteivorsitz zu trennen. Vielleicht machen Sie jetzt die Trennung zwischen dem Willen der Fraktion auf der einen Seite und dem
Regierungshandeln auf der anderen Seite. Wir alle sind
gespannt, was von dem, was Sie in Ihrem Papier schreiben, letztendlich kommen und umgesetzt wird.
({13})
Es stellt sich die Frage - bei diesem Punkt bin ich
wirklich gespannt -, ob es zu einer ressortübergreifenden Raumfahrtpolitik, die wir gemeinsam fordern, kommen wird. Auch bin ich gespannt, ob wir eine wirkliche
Strategie entwickeln, wie wir das gemeinsam verlangen.
({14})
- Herr Tauss, die Realität sieht aber anders aus - ich
kenne das Raumfahrtprogramm sehr wohl -: Denn auf
der einen Seite wird von einer Strategie gesprochen, aber
auf der anderen Seite leben wir von der Hand in den
Mund. Wir essen unsere Saatkartoffeln auf, und zwar
überall und insbesondere im Bereich der Forschung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss?
Nein, die gestatte ich nicht. Herr Tauss äußert sich
lang, oft, ausführlich und laut genug, sodass er - zusätzlich zu seinen Zwischenrufen - nicht auch noch eine
Zwischenfrage stellen muss.
({0})
- Das glaube ich.
Meine Damen und Herren, für uns besteht die Strategie darin,
({1})
den Technologiebedarf für die nächsten Jahrzehnte frühzeitig zu ermitteln und unsere zugegebenermaßen knappen Finanzmittel - jetzt können wir auch noch darüber
diskutieren, wer daran schuld ist - auf bestimmte Zukunftsfelder und Kompetenzen zu konzentrieren. Der
CDU/CSU ist es wichtig, dass sich kleine und mittlere
Unternehmen - von denen war ja heute auch schon
mehrfach die Rede - am Thema Luft- und Raumfahrt beteiligen können.
({2})
- Herr Tauss, ich weiß natürlich, dass man bei RotGrün eher in den Kategorien von Großkonzernen und
Gewerkschaftsmitgliedern denkt.
({3})
Aber die deutsche Wirtschaft lebt vom Mittelstand. Für
diesen Mittelstand brauchen wir verlässlich angelegte
Public Private Partnerships.
({4})
Hören Sie sich einmal in der Wirtschaft um. Wir müssen
die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für
die Zusammenarbeit zwischen Privaten und Staat schaffen - auch hier besteht noch Nachholbedarf - und das
nationale Programm stärken.
({5})
Ich bin froh, dass Sie, Herr Schulz, das so deutlich angesprochen haben. Wenn Sie aber von uns, der Opposition, fordern, diese Vorhaben mit Zahlen zu unterlegen,
dann frage ich Sie: Warum haben Sie das nicht getan?
({6})
Auch das wurde heute schon deutlich gesagt: Sie sind an
der Regierung und müssen diese Vorhaben beziffern.
Tun Sie es also bitte auch, und zwar in der richtigen
Richtung und nicht immer in der falschen.
({7})
Meine Damen und Herren, Raumfahrt ist ein internationales Thema. Das wiedervereinigte Deutschland allein kann in diesem Bereich wenig ausrichten. Trotzdem
müssen wir an erster Stelle unsere nationalen Interessen vertreten und durchsetzen. Das heißt: Sicherung der
nationalen Zuständigkeiten statt einer ausschließlichen
Kompetenzübertragung auf die EU - auch in diesem
Punkt gab es im Rahmen des europäischen Konvents bestimmte Begehrlichkeiten -, Erhöhung des Anteils der
deutschen Mitarbeiter und Entscheider innerhalb der
ESA und der Europäischen Union, Erhalt und Ausbau
einer Wertschöpfung in Deutschland, die dem deutschen
ESA-Beitrag entspricht, Beibehaltung eines geographisch ausgewogenen Mittelrückflusses entgegen den
Vorschlägen der EU-Kommission und eine nicht nur einmalige, sondern dauerhafte und konsequente Verringerung des Rückflussdefizits.
({8})
Das nationale Raumfahrtprogramm wird über unsere
Wettbewerbsfähigkeit entscheiden.
({9})
Das nationale Raumfahrtprogramm wird über unsere
Kapazitäten - qualitativ wie quantitativ - entscheiden.
Frankreich investiert rund das Dreifache, Italien etwa
das Doppelte des bundesdeutschen Budgets für nationale
Aktivitäten.
({10})
Ursprünglich belief sich das Verhältnis von deutschem
ESA-Beitrag zu den Aufwendungen für das nationale
Programm auf 65 zu 35; jetzt beträgt dieses Verhältnis
80 zu 20.
({11})
Auch Sie, Herr Schulz, haben heute die Bedeutung des
nationalen Programms angesprochen. Ich hoffe, dass Sie
mit Ihrem Antrag in dieser Hinsicht etwas bewegen.
({12})
National richtig aufgestellt, müssen wir, um wirklich
voranzukommen, auch die internationale Zusammenarbeit anstreben. Dazu gehören internationale Kooperationen, zum Beispiel im Rahmen von Galileo, Kooperationen mit allen Raumfahrtnationen, ganz besonders aber
mit den USA. Dazu gehört die Verschmelzung der
Raumfahrtpolitik von Europäischer Union und ESA.
Dazu gehört aber auch, dass neben den zivilen Zwecken
sicherheits- und verteidigungspolitische Bereiche in die
künftige Raumfahrtpolitik einbezogen werden. Ich bin
dankbar, dass Sie auch das so deutlich angesprochen haben.
({13})
Gerade diese sicherheitspolitischen Bereiche darf
man aus meiner Sicht nicht ausklammern. Was ich in
diesem Zusammenhang allerdings bemerkenswert finde,
sind die oft ideologisch betriebenen rigiden Exportkontrollen in Deutschland.
({14})
- Das ist so, fragen Sie die Wirtschaft!
Seit Rot-Grün die Exportbürokratie in der Hand hat,
wird der Export von Dual-use-Gütern unangemessen beeinträchtigt. Das führt dazu, dass viele Hersteller Produktion oder Vertrieb zu unseren EU-Nachbarn verlagern wollen.
({15})
Dabei gilt, wahrscheinlich wie immer, der Grundsatz:
Quod licet Jovi, non licet bovi - der Kleine hat das
Nachsehen, die Fabrik in Hanau dagegen wird exportiert.
({16})
Sie sehen also, meine Damen und Herren: Es kommt auf
das Detail an, auf die politische Umsetzung, nicht auf
das, was auf dem Papier steht.
Vielen herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hettlich.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Nüßlein, von Ihrer Rede hatte ich
mir eigentlich ein bisschen mehr erwartet. Ich muss sagen: Über die Anträge kann man sich ja unterhalten, aber
das war eine wirklich schwache Rede. Ich fand die Polemik absolut unnötig und absolut unproduktiv.
({0})
Wir können uns gerne inhaltlich über die Dinge unterhalten. Aber ich denke, ich belasse es dabei; ich will
auch gar nicht inhaltlich auf Ihre Rede eingehen.
Ich wollte meine Rede eigentlich mit einer Frage beginnen: Können Sie sich noch an die Mondlandung von
Apollo 11 am 20. Juli 1969 erinnern? Ich habe es gerade
einmal nachgeschlagen: Herr Nüßlein lag da gerade seit
zwei Monaten in den Windeln; er kann sich also sicher
nicht mehr daran erinnern. Aber ich kann es: Ich war damals 9 Jahre alt und kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich zum ersten Mal die ganze Nacht aufbleiben durfte und fasziniert auf den Bildschirm gestarrt
habe, als irgendwann die schemenhaften Gestalten von
Armstrong und Aldrin die ersten Gehversuche auf dem
Mond machen konnten.
Die Begeisterung für die bemannte Raumfahrt war
damals noch riesengroß. Die Besiedlung von fernen Planeten oder Reisen zu fernen Welten schienen damals
greifbar nahe und eigentlich nur noch eine Frage der
Zeit. Im Dezember 1972, bei der letzten Mondlandung
von Apollo 17, interessierte sich dagegen gar keiner
mehr für das Thema; die Euphorie war verflogen. Die
Amerikaner hatten festgestellt, dass die Kosten für das
Programm nicht mehr zu kontrollieren waren. Die Sowjetunion hatte sich bereits lange aus dem Wettrennen
zum Mond verabschiedet und konzentrierte sich nur
noch auf den Bau von Orbitalstationen wie zum Beispiel
der Saljut. Das Wettrüsten befand sich nicht nur auf der
Erde auf einem Höhepunkt: Eine zunehmende Militarisierung des Weltraums war schon lange vor Ronald
Reagan traurige Realität.
Befragte man die Menschen auf der Straße nach den
Vorzügen der Raumfahrt, so fiel den meisten als größte
Errungenschaft zunächst nur die Teflonpfanne ein. Die
technologischen Fortschritte durch die Raumfahrt
wurden und werden auch heute noch etwas überschätzt.
({1})
Aufgrund der langen Entwicklungsphasen kamen vor allen Dingen in der bemannten Raumfahrt, selbst heute noch
im Spaceshuttle, Computertechnologien zum Einsatz,
über deren Leistungsfähigkeit heutige PC-User nur mitleidig lächeln können. Innovationen waren hier weniger gefragt als vielmehr Robustheit und Zuverlässigkeit von
elektronischen Bauteilen unter extremen Bedingungen.
Ganz anders hat sich die Situation in der unbemannten Raumfahrt dargestellt. Schon bald war es - beinahe
unbemerkt - selbstverständlich geworden, dass Wetter-,
Telekommunikations- und Fernsehsatelliten einen unverzichtbaren Platz in unserem täglichen Leben einnehmen. Länder wie Indien oder China erkannten schon
früh die großen Chancen, mithilfe von Satellitentechnologien Infrastrukturlücken zu schließen. Heute ist zum
Beispiel das landesweite Telefonieren in Indien beinahe
ausschließlich mit Telekommunikationssatelliten möglich, die im Land selbst entwickelt und gebaut wurden.
Nationale und internationale Fernsehprogramme werden
dort vor allem über Satellitenschüsseln empfangen.
Die Raumfahrt ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres alltäglichen Lebens geworden und die deutsche
Raumfahrtindustrie hatte einen großen Anteil an dieser
Entwicklung. Mit HEOS 1, bei Junkers in München
1968 gebaut und gestartet, begann die Ära deutscher Satellitentechnologie im Weltall relativ spät. Seitdem hat
sich Satellitentechnik mit dem Siegel „Made in Germany“ aber einen ganz hervorragenden Ruf verdient.
Denken wir zum Beispiel an die Eigenentwicklungen
oder maßgeblichen Mitwirkungen am Nachrichtensatelliten Symphonie, an die qualitativ nach wie vor konkurrenzlosen Wettersatelliten der Typenreihe Meteosat, an
die Forschungssatelliten Helios oder Hipparcos oder an
den Umweltsatelliten Envisat.
Viele internationale Raumfahrtmissionen waren und
sind nur unter Beteiligung deutscher Forschungsinstitute
und Unternehmen möglich. Ich erinnere an die legendäre
Kamera aus der Schmiede des Max-Planck-Institutes für
Aeronomie von Professor Neukum, die 1986 beim Vorbeiflug der europäischen Sonde Giotto am Halley’schen
Kometen dabei war. Heute beeindruckt uns eine Fortentwicklung dieser Kamera auf der europäischen Sonde
Mars Express mit fantastischen Stereobildern vom Roten
Planeten. Oder schauen wir einmal auf die amerikanischen Mars Rover: Diese sind mit den für die Mission
sehr wesentlichen deutschen Mössbauer-Massenspektrometern der Universität Mainz ausgestattet. Das zeigt
ganz deutlich den hohen Stellenwert der deutschen Ingenieurkunst und der deutschen Wissenschaftler.
({2})
- Warten Sie einmal ab.
Schon früh wurde in Europa erkannt, dass nur eine
gemeinsame Raumfahrtpolitik erfolgreich sein kann. An
diesem Prozess war und ist Deutschland maßgeblich beteiligt. So gelang es zunächst mit der Ariane IV, deren
Komponenten unter anderem in Bremen und in Ottobrunn hergestellt wurden, und später mit der Ariane V,
Europa eine international konkurrenz- und leistungsfähige Trägerrakete zu geben.
Um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein, sind allerdings einige Weichenstellungen
notwendig geworden. Die Probleme bei Arianespace infolge des misslungenen Starts der Ariane V ECA haben
uns deutlich gemacht, dass Verpflichtungen für die europäische und nationale Raumfahrt nicht ausschließlich bei
den nationalen Regierungen und der EU liegen können.
Die Rolle der Industrie muss zukünftig einen höheren
Grad an Mitverantwortung und Selbstverpflichtung aufweisen. Die ESA-Ministerkonferenz hat daher schon im
Mai 2003 - das hat Swen Schulz eben auch gesagt - die
richtigen Weichen für eine Rettung und Restrukturierung
des Trägerprogramms Ariane gestellt.
Außerdem ist es unverzichtbar, den Wandel der
Raumfahrtpolitik hin zu einer stärkeren Anwenderorientierung zu fördern. Die Projekte Galileo und GMES stehen hier als Beispiele für einen Paradigmenwechsel.
Große Potenziale für die Zukunft stecken in einer Erweiterung der Kooperation mit Russland, zum Beispiel
über das Programm „Sojus in Kourou“ hinaus, in der
eventuell gemeinsame zukünftige Trägersysteme entwickelt werden könnten.
Es ist wichtig, dass die Kompetenz kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Raumfahrtindustrie
erhalten bleibt, besonders auch in Deutschland. Deshalb
setzen wir uns dafür ein, dass ihre Interessen bei der Vergabe von Entwicklungsprogrammen und Aufträgen im
europäischen Rahmen angemessen berücksichtigt werden.
({3})
Mit der gemeinsamen Initiative für einen starken
Luft- und Raumfahrtstandort in Ostdeutschland wollen
wir deutlich machen, dass es ein großes Potenzial für ein
drittes Zentrum der Raumfahrtindustrie neben Hamburg/
Bremen und München an den Standorten Berlin-Adlershof oder im Raum Dresden gibt. Hier gilt es, eine
übergreifende Zusammenarbeit und eine stärkere Vernetzung der bestehenden Kompetenzzentren anzuregen und
zu organisieren.
Mir persönlich liegt besonders am Herzen, junge
Menschen für die Raumfahrt und die damit verbundenen
ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengänge
zu interessieren. Ihnen müssen wir mit unserer nationalen wie europäischen Raumfahrtpolitik echte und verlässliche Zukunftsperspektiven bieten. All dies nützt
aber wenig, wenn nicht bereits in den Schulen das Interesse an Astronomie geweckt und gefördert wird. Noch
gibt es vor allem in den neuen Bundesländern Astronomie als Pflichtfach. Es wäre höchst bedauerlich, wenn
sich - wie jetzt in Sachsen - die Bestrebungen durchsetzten, die Unterrichtung dieses wichtigen und interessanten Schulfaches dem Rotstift zu opfern.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte ansprechen.
Allerhöchstens einen Punkt.
Okay. - Ich wollte noch kurz etwas zur ISS sagen.
Wir leisten einen großen Beitrag und wir stehen zu den
Verträgen. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Damit ist
es auch genug. Wir werden in Zukunft unsere Schwerpunkte auf die unbemannte Raumfahrt legen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie kennen vielleicht den Song der Gruppe Karat, in dem es
heißt: „Über sieben Brücken musst du gehen, sieben
dunkle Jahre überstehen.“ Die Brücken, die die FDPBundestagsfraktion mit ihrem Antrag „Stärkung der europäischen Raumfahrtpolitik - Gewinn für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland“ vom
Juni 2003 geschlagen hat, tragen offensichtlich, sonst
würden heute nicht Ihre Anträge vorliegen. Wenn auch
nicht sieben Jahre, so doch sieben Monate mussten wir
warten - auch im für die Forschung zuständigen Ausschuss -, um das Thema überhaupt diskutieren zu können.
({0})
Aber, Herr Tauss, wir wissen es zu schätzen, dass das
Thema jetzt auf der Tagesordnung steht.
Vielleicht noch eine Parallele zu dem deutschlandweit
erfolgreichen Lied von Karat: Es wurde zweimal erfolgreich gecovert, einmal von den Puhdys und dann von
Peter Maffay. „Erfolgreich gecovert“ ist das richtige Urteil über die Anträge von SPD und Grünen sowie von
der Union, die uns heute vorliegen. SPD und Grüne haben die Analysefähigkeit der FDP-Opposition genutzt
({1})
und einen forschungspolitisch betrachtet guten Antrag
formuliert. Herr Schulz, ich bitte Sie, zuzuhören. Herr
Tauss, kommen Sie im Ausschuss bitte nicht auf die
Idee, zu sagen, der Antrag der FDP sei in Teilen überholt. Er ist immer noch weitaus aktueller als Ihrer.
({2})
Das Jahr der Technik und der Innovation hat gerade
begonnen. Die Fraktionen von SPD und Grünen haben
offensichtlich gerade noch zur rechten Zeit erkannt, dass
es an der Zeit ist, die Triebwerke zu zünden, damit diese
Bundesregierung endlich abhebt und Raumfahrtpolitik
aktiv gestaltet.
({3})
Was nutzt aber die Zündung, wenn es uns nicht gelingt,
die Projekte auf die Schiene zu setzen?
({4})
Nehmen wir Galileo. An welcher Stelle können wir in
den Verhandlungen mit den USA über die Sendefrequenzen des Galileo-Systems die deutsche Position erkenCornelia Pieper
nen? Ja, wir wollen eine Public Private Partnership bei
der Umsetzung von Galileo, des weltweit besten und genauesten Satellitennavigationssystems. Seine Genauigkeit von 1 Meter gründet sich auf der verwendeten Frequenz. Die Amerikaner wollen unsere Verwendung der
Signalstruktur BOC 22, wodurch wir eine Genauigkeit
von 1 Meter erreichen, verhindern. Wenn wir uns nicht
durchsetzen, wir also eine andere Signalstruktur verwenden, ist unser Wettbewerbsvorteil gegenüber dem amerikanischen GPS-System verspielt. Heute, mit einem dreijährigen Vorlauf, sind wir auf dem Markt interessant.
Genau dieser Markt ist jedoch die Bedingung dafür, dass
PPP überhaupt funktionieren kann.
Nehmen wir den Trägerbereich, also alles, was wir
unter Ariane V, dem europäischen Trägersystem für einen freien und unabhängigen Zugang zum Weltraum,
verstehen. Völlig zu Recht stellen Sie fest, dass die Rolle
der Industrie beim Trägersystem gestärkt worden und
dass die EADS Hauptauftragnehmer geworden ist. Sie
kommen an dieser Stelle aber über ein allgemeines Lob
der Bundesregierung nicht hinaus. Ich vermisse die Aufforderung an die Bundesregierung - dies soll an dieser
Stelle von unserer Fraktion aus geschehen -, das Ergebnis nicht zu verspielen. Ich sehe nämlich die Gefahr,
dass die Führungsrolle der EADS, die 51 Prozent betragen sollte, durch die italienische Position bereits wieder
infrage gestellt ist.
({5})
In Ihrem Antrag erwähnen Sie unseren nationalen
Haushalt und somit auch die Ausgaben für Forschung
und Entwicklung dieser rot-grünen Bundesregierung mit
keinem Wort.
({6})
Das Signal von Rot-Grün für das Jahr der Technik, weniger Treibstoff für das nationale Programm auszugeben,
was fatale Folgen für den Kompetenzerhalt der deutschen Industrie vor allem im mittelständischen Bereich
hat, ist arbeitsplatzgefährdend.
({7})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Leistungskraft der deutschen Raumfahrtindustrie ist eine
wesentliche Bedingung für die Vergabe von lukrativen
Aufträgen aus den europäischen ESA-Programmen.
Deswegen sollten Sie hier die richtige Weichenstellung
vornehmen. Wir freuen uns jedenfalls auf die Diskussion
im Ausschuss und bedauern, dass es so lange gedauert
hat, bis Sie Ihre Anträge vorgelegt haben. Aber besser
spät als nie!
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin
Edelgard Bulmahn.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Wettlauf zum Mars zwischen Amerika und Europa
hat die Raumfahrt in den Mittelpunkt des öffentlichen
Interesses und der öffentlichen Debatte katapultiert. Ich
finde, das war gut.
({0})
Das hat nämlich gezeigt, dass die europäische Raumsonde Mars Express, die uns die fantastischsten Bilder,
die wir jemals sehen konnten, geliefert hat, wirklich ein
Erfolg ist.
({1})
Durch die Bilder wurde deutlich, dass deutsche Wissenschaft und Ingenieurkunst ein wirklich brilliantes Meisterstück geliefert haben;
({2})
denn die Kamera, die uns diese Bilder geliefert hat,
wurde von einem deutschen Wissenschaftler an einem
deutschen Forschungsinstitut entwickelt. Wichtige Instrumente - auch darauf will ich hinweisen -, auch bei
der amerikanischen Marsmission, stammen aus
Deutschland. Lassen Sie mich hier ganz unbescheiden
sagen, dass beide Marsmissionen, die europäische und
die amerikanische, für Deutschland ein voller Erfolg waren.
({3})
Deutsche Forscher und Forscherinnen gehören in der
Raumfahrt zur Weltspitze. Das ist eine Bestätigung für
unsere Weltraum- und Raumfahrtpolitik. Das ist auch
eine Bestätigung für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft und Forschung. Im Vordergrund
steht für die Bundesregierung der konkrete Nutzen für
den Menschen. Das beinhaltet sowohl den ökonomischen als auch den Nutzen an neuen Erkenntnissen und
Fortschritten in der Wissenschaft. Wir setzen bei der Erkundung des Weltalls auf modernste Robotik, nicht auf
Science-Fiction.
({4})
Lieber Kollege Nüßlein, ich freue mich schon darauf,
wenn der erste Amerikaner den Mond betritt und ihm ein
europäischer Roboter die Tür öffnet. Das zeigt, wer die
Nase vorn hat.
({5})
Unser Land braucht einen kräftigen Innovationsschub. Raumfahrt schafft einen solchen Innovationsschub. Bereits heute ist die raumfahrtgestützte Infrastruktur die Grundlage für kommerzielle Anwendungen
auf Hochtechnologiemärkten, die weiter wachsen werden und in naher Zukunft eine Wertschöpfung von vielen
Milliarden Euro erwarten lassen. Navigationssysteme aller Art für den Personen- und Güterverkehr, Wetterdienste oder Erdbeobachtungssysteme - das ist hier
schon genannt worden - dienen einer effektiveren Mobilität und einem besseren Verkehrsfluss. Sie dienen auch
dazu, neue Rohstoffquellen zu erschließen. Sie dienen
weiterhin dazu, dass wir zum Beispiel frühzeitig über
Unwetter informieren und damit Menschenleben schützen können. Diese wenigen Beispiele zeigen deutlich,
welche Rolle Weltraumtechnologie inzwischen in unserem täglichen Leben spielt.
({6})
Die Bundesregierung setzt ihre Schwerpunkte genau
dort, wo wir eine sehr große Hebelwirkung auf Beschäftigung und wirtschaftliches Wachstum erwarten können. Deshalb spielt für uns das europäische Satellitennavigationssystem Galileo eine große Rolle. Wir erwarten
- das sind die Schätzungen - bis 2008 europaweit über
100 000 Arbeitsplätze. Das war einer der Gründe, warum sich die Bundesregierung nachdrücklich für eine
deutsche Führungsrolle eingesetzt hat.
({7})
Mit Erfolg: Wir haben in harten Verhandlungen die Systemführung und den Sitz von Galileo Industries nach
Deutschland geholt.
Galileo ist aber nur ein Projekt. Mit dem Satelliten
TerraSAR und anderen Vorhaben, die mein Ministerium
fördert, steigen wir in die Kommerzialisierung der Erdbeobachtung ein. Dabei gehen wir den Weg der Public
Private Partnership, der hier gefordert worden ist. Diesen Weg gehen wir sowohl bei Galileo als auch bei dem
Projekt TerraSAR.
({8})
Wir schlagen damit Brücken zwischen öffentlicher und
privater Finanzierung und setzen so Mittel effektiver und
besser ein. Gleichzeitig sorgen wir mit Public Private
Partnership dafür, dass die Ergebnisse aus Wissenschaft
und Forschung schneller Zugang zu den Märkten finden.
Das ist unsere Politik und unsere Strategie.
Ich komme zu dem Trägersektor, der hier angesprochen worden ist. Es ist richtig: Wir haben leider erleben
müssen, dass die Konstruktion der Ariane V einen Fehler aufwies. Deshalb mussten wir unsere Anstrengungen
darauf konzentrieren, das europäische Trägersystem
wieder funktionsfähig und zukunftssicher zu machen.
Das hat zur Folge, dass wir in den kommenden Jahren
mehr Mittel in die ESA investieren müssen, um die
Ariane V wieder flottzumachen. Wir in Europa wollen
einen eigenständigen Zugang zum Weltraum erhalten. Es
ist eine richtige Politik, dass wir darauf nicht verzichten,
sondern dass wir die Ariane zukunftsfähig machen wollen.
Der ESA-Ministerrat hat im Mai 2003 die Weiterentwicklung der neuen Ariane-V-Version auf den Weg gebracht und gleichzeitig - dieses Ziel habe ich seit vier
Jahren konsequent verfolgt - den europäischen Trägersektor neu geordnet. Ich teile die Bedenken, die Sie,
Frau Pieper, genannt haben, nicht. Wir haben eine klare
Verantwortlichkeit aufseiten der Industrie
({9})
und eine eindeutige, verbindliche Festlegung bei den
Preisen erreicht. Wir haben es auch geschafft, dass es
künftig nur noch einen industriellen Hauptauftragnehmer für Entwurf, Entwicklung und Fertigung der ArianeRaketen geben wird. Das ist das Ziel, das ich seit vier
Jahren konsequent Schritt für Schritt verfolgt und jetzt
erreicht habe. Es ist ein Erfolg, dass wir das endlich geschafft haben.
({10})
Eine erfolgreiche Raumfahrt erfordert große finanzielle Anstrengungen. Die öffentliche Hand in Deutschland investiert jetzt bereits rund 1 Milliarde Euro in
Raumfahrttechnologie. Die hohen Investitionen, die wir
für den weiteren Erfolg auf diesem Gebiet aufbringen
müssen, werden wir nur gemeinschaftlich in Europa aufbringen können. Zwischen der Europäischen Raumfahrtagentur und der EU muss es daher eine enge Zusammenarbeit, aber auch eine klare Aufgabenteilung geben. Die
EU muss die Raumfahrt für ihre Politik nutzen. Die ESA
muss dafür die technologischen Grundlagen schaffen.
Ich würde mich sehr freuen, wenn das gesamte Parlament diese Position unterstützen würde, denn das sind
die Aufgaben, die wir jetzt in den Verhandlungen erfüllen müssen.
({11})
Die Bundesregierung richtet ihre Raumfahrtförderung
darauf aus, wirtschaftlich und wissenschaftlich interessante Felder stärker zu besetzen und die deutsche Industrie in strategisch wichtigen Bereichen noch besser zu
positionieren. Das ist für mich auch eine wichtige
Standortpolitik. Ich bin stolz darauf, dass es mir gelungen ist, in den Verhandlungen durchzusetzen, dass
Deutschland jetzt Aufträge in Höhe von rund
110 Millionen Euro beim Bau der Ariane-Rakete zusätzlich erhält.
({12})
Damit haben wir unsere Position in der ESA deutlich
verbessert. Das heißt in der Konsequenz, dass wir Arbeitsplätze in Deutschland gesichert haben. Diese Arbeitsplätze wird es auch in Zukunft in Deutschland geben.
Kurz gesagt, meine sehr geehrten Damen und Herren:
Ich hoffe, dass wir gemeinsam sowohl hier im Parlament
als auch in allen Verhandlungen dafür streiten, dass
Deutschland in Zukunft ein wichtiges Land in der Raumfahrtforschung und Raumfahrttechnologie bleiben wird.
Wenn uns dieser Wunsch eint, dann wird uns das auch
gelingen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz.
({0})
- Alle Parlamentarier sind Multitalente.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
kein Multitalent wie der Kollege Tauss. Ich spreche zu
der Vorlage über die militärische Nutzung des Weltraums und die Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im
Weltraum, also zu dem Bericht, für den ich Ihren Ausschuss loben und für den ich mich bedanken wollte. Es
war etwas voreilig, Ihr Multitalent, Herr Kollege Tauss,
auch anderen zu unterstellen.
({0})
Ich bedanke mich für die umfassende Darstellung
über den gegenwärtigen Stand und die weiteren Entwicklungstendenzen und die damit verbundenen erheblichen Probleme, nämlich die Gefahr eines ungebremsten
Rüstungswettlaufs im Weltraum. Der Bericht kommt
zu sehr realistischen Einschätzungen der leider nicht
sehr großen Chancen, die vorhandenen Lücken in den
Rüstungskontrollregimen für den Weltraum zu schließen
und das drohende Wettrüsten zu vermeiden. Er macht einige konkrete Vorschläge, wo angesetzt werden könnte,
um wenigstens die Diskussion über eine Begrenzung
und Kontrolle der Weltraumrüstung wieder in Gang zu
bringen.
Wir müssen nüchtern - vielleicht: ernüchtert - feststellen: Ein militarisierter Weltraum ist schon lange eine
Tatsache. Zwar ist derzeit die Stationierung von Nuklear- und anderen Massenvernichtungswaffen im Weltraum verboten - auch die Einrichtung von militärischen
Stützpunkten oder die Erprobung von Waffen -, aber es
bleiben große Lücken, die genutzt wurden und werden.
So gibt es Satelliten zur Aufklärung, Navigation und
Kommunikation mit der Absicht, die Effizienz militärischer Operationen auf der Erde zu steigern. Zwar befinden sich noch keine Waffensysteme im Weltraum, mit
denen unmittelbar auf andere Ziele im Weltraum oder
auf der Erde eingewirkt werden könnte, aber an der Entwicklung solcher Weltraumwaffen wird gearbeitet, vor
allem in den USA, aber auch in Russland und China.
Das ist das Besorgnis Erregende. Weder die Entwicklung
dieser Weltraumwaffen noch eine spätere Stationierung
im Weltraum sind bisher durch irgendwelche rüstungsbeschränkenden Vereinbarungen untersagt.
Auch wenn derzeit nur ein kleiner Kreis von Staaten
technologisch und ökonomisch in der Lage ist, derartige
Waffensysteme zu entwickeln, droht ohne Vereinbarungen zur Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle
mittel- bis längerfristig ein allgemeines Wettrüsten im
Weltraum mit heute nicht vorhersehbaren Auswirkungen
für die Stabilität des internationalen Staatensystems und
die globale Sicherheit.
({1})
Seitens der USA besteht eine technologische und
ökonomische Überlegenheit über praktisch alle anderen
Staaten. Amerika strebt nach der von ihm so genannten
Space Control, um Bedrohungen auf der Erde und aus
dem Weltraum abzuwehren, auch im Zusammenhang
mit den Überlegungen zu einer Raketenabwehr vor dem
Hintergrund von Failed States, ballistischen Raketen,
Massenvernichtungswaffen und Terroristen.
({2})
- Ich habe Verständnis für diese Bemühungen, Herr Kollege Tauss. Ich bin mir sicher, dass wir uns ähnlich verhalten würden, wenn wir die technologischen Möglichkeiten hätten, um uns zu schützen. Allerdings - jetzt
kommt die Einschränkung - werden diese Anstrengungen längerfristig wenig erfolgreich sein, wenn sie nicht
durch Rüstungskontrollvereinbarungen flankiert werden.
Denn andere Länder werden nichts unversucht lassen,
um sich eigene militärische Potenziale im Weltraum aufzubauen. Das mag zwar länger dauern, es ist ihnen aber
- das ist der springende Punkt - ohne Rüstungskontrollvereinbarungen nicht zu verwehren. Es liegt also auch
im Interesse der USA, diese Entwicklung zu verhindern.
Es bleibt unrealistisch, anzunehmen, der Weltraum
werde jemals wieder ohne militärische Bedeutung sein.
Deshalb sollte die Raketenabwehr zumindest zunächst
von Rüstungskontrollüberlegungen ausgenommen werden, nicht zuletzt deshalb, weil wir ein eigenes Interesse
an solchen Raketenabwehrsystemen haben.
Die bisherigen Rüstungskontroll- oder Abrüstungsvereinbarungen kamen - das macht das Problem aus entweder zwischen gleichstarken Gegnern im Kalten
Krieg oder als Vereinbarungen zwischen Staaten, denen
sich Schwächere angeschlossen haben - wie im Atomwaffensperrvertrag - zustande.
Jetzt geht es darum, dass stärkere Staaten - insbesondere die USA, aber auch Russland und China - auf Möglichkeiten zur Entwicklung und Stationierung von Weltraumwaffen verzichten sollen, über die derzeit nur sie
verfügen, die aber auf längere Sicht nicht so exklusiv
bleiben werden.
Was kann getan werden? Seit der zweiten Hälfte der
90er-Jahre ist die Genfer Abrüstungskonferenz nicht
zuletzt wegen eines Streites über diese Fragen blockiert.
Bis dahin hatte die Konferenz jedes Jahr wenigstens ein
Ad-hoc-Komitee zur Verhinderung eines Wettrüstens im
Weltraum eingerichtet. Seit 1995 wollen viele Staaten
dieses Komitee wieder einrichten, damit wenigstens
wieder Gespräche über diese Thematik möglich sind.
Dies zu erreichen ist die dringendste politische Aufgabe.
Anschließend könnte man sich der schwierigen Aufgabe zuwenden, die bestehenden Definitionsschwierigkeiten zu klären, die es bei verschiedenen weltraumrechtlichen Begriffe und Sachverhalten noch gibt. Diese
Klärung ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass
man in einem nächsten Schritt präzise Verbotstatbestände angehen kann.
Angesichts der aktuellen nuklearen Proliferationsgefahr, die sich an Staaten wie Pakistan festmacht, und der
Diskussion um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen auf der Erde mag die Diskussion über eine
Kontrolle und Begrenzung der Weltraumrüstung als eher
nachrangig erscheinen. Aber das wäre eine gravierende
Fehleinschätzung. Die Bundesregierung sollte deshalb alles in ihren Kräften Stehende tun, um die internationale Arbeit zugunsten der Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle im Weltraum wieder in Gang zu bringen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dem Film „Good bye, Lenin!“ übernimmt der
Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn die Führung der DDR
und bereitet die Menschen behutsam auf die Vereinigung
beider Länder vor. Das war nicht nur witzig, sondern
auch klug. Sigmund Jähn und die Raumfahrt spielten in
der DDR eine besondere Rolle. Abgesehen von dem
Medienrummel, den heute nur noch Popstars wie
Jeanette Biedermann erfahren, waren viele Menschen
stolz darauf, dass die DDR es geschafft hatte, auf einem
Hochtechnologiefeld wie der Raumfahrt Spitzenleistungen zu erbringen.
({0})
Die Multispektralkamera MKF 6, die nur noch Multispektakelkamera genannt wurde, galt seinerzeit als das
beste Weltraumauge. Mehr als 100 Geräte in den Kontrollzentren am Boden sowie Technik für Satelliten und
Wetterraketen waren „Made in GDR“. Ich rede darüber
so ausführlich
({1})
- ich sehe, dass das seine Wirkung nicht verfehlt -,
({2})
weil es eine Entwicklung von Hochtechnologie auf dem
Gebiet der Raumfahrt in der DDR gab, die jetzt fast vom
Aussterben bedroht ist.
In dem Antrag der Koalition steht geschrieben, dass
Sie die Wettbewerbsfähigkeit der Raumfahrtindustrie
insbesondere in Ostdeutschland verbessern wollen. Allerdings erklären Sie nicht, wie die Bundesregierung
diese Forderung umsetzen soll. Sie sagen auch nichts
- in keiner Rede ist darauf eingegangen worden - zur
Entwicklung der Raumfahrtforschung in den neuen Ländern. Also wieder nur ein Lippenbekenntnis? Wir beobachten jedenfalls mit großer Sorge, dass immer mehr
Spitzenwissenschaftler aus dem Osten nach Bayern abgeworben werden und dass die Forschungsstandorte im
Osten langsam austrocknen. Wir sind mit der absurden
Situation konfrontiert, dass über den Solidarpakt zwar
viel Geld in die neuen Länder fließt, dass aber gleichzeitig immer mehr kreative Menschen in die alten Länder
auswandern müssen. Ich kann nur davor warnen, die
Wissenschaftspolitik dem freien Spiel der Kräfte zu
überlassen.
({3})
Dass Bayern in der Raumfahrtforschung und -industrie so gut dasteht, ist kein Ergebnis des Wettbewerbs der
Länder, sondern ein Ergebnis massiver politischer Einflussnahme.
({4})
Im Berliner Institut des Deutschen Zentrums für Luftund Raumfahrt arbeiten noch 350 Menschen, Tendenz
fallend, und in Oberpfaffenhofen sind es 1 500, Tendenz
steigend. Die Max-Planck-Gesellschaft hatte bis Ende
1996 noch eine Außenstelle in Berlin-Adlershof mit
35 Mitarbeitern - Adlershof wird ja als Technologiezentrum immer hochgelobt -, die sich mit kosmischer Plasmaphysik beschäftigten. Die Außenstelle sollte ein eigenes Institut werden. Aber daraus wurde nichts. Der
Osten wird in der Raumfahrtforschung also abgehängt.
Ich denke, das ist ein schlechtes Zeichen.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch darauf eingehen, dass
wir, die PDS, natürlich die friedliche Nutzung der
Raumfahrt unterstützen. Ich habe mit Wohlgefallen vernommen, dass Herr Polenz in seiner Rede deutlich gemacht hat, internationale Abkommen für eine friedliche
Nutzung des Weltraums seien unbedingt erforderlich. Er
hat zwar dargestellt, dass er ein gewisses Verständnis für
die Entwicklung einer Raketenabwehr hat. Dies habe ich
nicht mit so viel Wohlgefallen gehört. Aber die Bundesregierung sollte die Forderung nach internationalen Abkommen für eine friedliche Nutzung des Weltraums aufgreifen und alles für ihre Erfüllung tun. Der Weltraum
muss waffenfrei werden. Ich glaube nicht, dass er es ist.
Das ist ein Ziel, für dessen Erreichung wir uns gemeinsam einsetzen sollten.
Vielen Dank.
(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD]
und des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ditmar Staffelt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zuerst ein Wort zu Frau Dr. Lötzsch: Im Gegensatz zu dem, was Sie hier vorgetragen haben, bemühen
wir uns - das gilt auch für die ostdeutschen Bundesländer -, die Forschungslandschaft in der Luft- und Raumfahrt in Ostdeutschland, die es übrigens schon vor der
Gründung der DDR gegeben hat, wieder in stärkerem
Maße zu vernetzen und einzubinden sowie dort zu fördern, wo es möglich ist.
({0})
Realität in Deutschland ist aber derzeit, dass die leistungsfähigen Zentren im Norden und im Süden der Republik zu finden sind.
Es ist viel Richtiges gesagt worden. Ich habe mich
hier eigentlich nur in meiner Rolle als Koordinator der
Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt
zu Worte gemeldet. Ich freue mich darüber, dass es neben der Kritik großes Einvernehmen darüber gibt, dass
die Raumfahrt für Deutschland in technologischer, wirtschaftlicher und auch in strategisch-politischer Hinsicht
eine ganz wichtige Rolle einnimmt, die wir allesamt unterstützen wollen.
({1})
Wir wollen Abhängigkeiten vermeiden. Wir wollen
Wettbewerb in der Welt - das ist von einigen Rednern zu
Recht angemerkt worden -, auch in Fragen, die die Zukunft und damit die Raumfahrt betreffen.
Wir werden natürlich auch im Wettbewerb mit den
Vereinigten Staaten von Amerika bestehen müssen.
Die Zahlen sind wie folgt: In den Vereinigten Staaten
sind rund 120 000 Menschen in der Raumfahrt beschäftigt und steht ein Budget von 12 Milliarden Euro bereit.
Bei uns in Europa sind es etwa 33 000 Beschäftigte und
ein Budget von 4,5 Milliarden Euro. Wir werden einen
Fördermittelwettlauf - das müssen wir sehen - nicht gewinnen können. Wir müssen deshalb andere Qualitäten
in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen unsere Potenziale
noch effizienter nutzen. Wir müssen uns konzentrieren.
Wir müssen Schwerpunkte setzen. Wir müssen unsere
Industrie motivieren, in diesem Bereich noch stärke Anstrengungen zu unternehmen.
({2})
In einer Phase, in der es der Raumfahrt in Europa
nicht sehr gut geht, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich die außerordentlich positive und
konstruktive Rolle der Ministerin Bulmahn hervorheben.
Anders, als in den Anmerkungen der Opposition zum
Ausdruck kam, wird von der deutschen Industrie immer
wieder klargestellt - das ist völlig unumstritten -: Ohne
die begleitende Intervention durch Frau Bulmahn
({3})
wäre die Konsolidierung der Ariane-Programme in Europa nicht möglich gewesen.
({4})
Ob man mit der EADS oder mit wem auch immer in diesem Bereich redet: Das ist unumstritten.
Lassen Sie mich noch eines sagen. Wir brauchen in
der Zukunft - das ist sehr wichtig - diesen Kern an
Kompetenzen. Wir müssen sehen, dass unsere Workshares auch in der Zukunft für Deutschland im europäischen Konzert stehen. Dazu gehören die entsprechenden
Unternehmen in und rund um München, in Bremen, in
Friedrichshafen und anderswo. Es muss mit Argusaugen
immer darüber gewacht werden - dafür müssen wir jedenfalls meines Erachtens Sorge tragen -, dass durch unsere Aktivitäten das unterlegt wird, was wir hier am
Standort können.
({5})
Ich glaube, dass wir auch sehr erfolgreich dabei gewesen sind, Rückflussdefizite zu kompensieren und damit unsere Industrie weiter zu stärken. Auch das ist ein
Punkt, den hier niemand bestreiten kann; im Gegenteil.
Ein allerletzter Punkt von meiner Seite. Er betrifft die
mittelständische Industrie in diesem Bereich. Wir
müssen alles daransetzen, dass diese sehr leistungsfähigen Unternehmen - dazu gehören auch sehr leistungsfähige Mittelständler in Ostdeutschland - als Zulieferer,
als Ausrüster in die Gesamtpakete der Beauftragung eingebunden werden. Ich glaube, dass wir gerade mit diesen
sehr leistungsfähigen mittelständischen Hochtechnologieunternehmen das notwendige Know-how für die
Raumfahrtprogramme der ESA liefern können und so
letztlich technologischer Motor bleiben. Wir sollten
nicht diejenigen sein, die die großen Teile herstellen und
versuchen, darüber ihr Geld zu verdienen. Bei großen
Teilen gibt es oft ruinösen Wettbewerb. Deshalb müssen
wir uns in besonderer Weise den Sophisticated Products widmen. Das ist letztlich die Aufgabe der Politik,
die wir betreiben, die Frau Bulmahn in ihrem Kompetenzbereich betreibt und die begleitend die anderen Ressorts betreiben. Im Gegensatz zu dem, was vorhin ein
Redner behauptet hat, gibt es sehr wohl eine gut koordinierte und abgestimmte Politik der Bundesregierung für
den Bereich Luft- und Raumfahrt.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2394, 15/2334 und 15/1371 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Hans-Joachim Otto ({1}), Daniel Bahr
({2}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wirtschaftliche und soziale Entwicklung der
künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs
in Deutschland
- Drucksachen 15/1402, 15/2275 ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Der
Berg kreißte und gebar eine Maus.“ Dieser Vers von
Horaz drängt sich nach der Lektüre der Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage auf. Horaz
war ein Satiriker. Die Satire ist an ihrem Platz reizvoll;
aber die Politik sollte ihr keine Bühne geben. Nur hat die
Bundesregierung dies in diesem Fall getan.
Ihre Antworten sind durchweg kleine und leider an
allzu vielen Stellen auch keine. So war nach dem durchschnittlichen Einkommen angestellter Künstlerinnen und
Künstler gefragt. Antwort: „Der Bundesregierung liegen
hierzu keine Erkenntnisse vor.“ Gefragt war nach der
derzeitigen Rentensituation bei selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern. Antwort: Es „liegen der Bundesregierung keine gesicherten Erkenntnisse vor“. Gefragt
war nach der Höhe der Einkünfte von Kunstverwertern.
Antwort: „Der Bundesregierung liegen hierüber keine
Angaben vor.“ Gefragt wurde nach der wirtschaftlichen
und sozialen Lage von Restauratoren und Restauratorinnen. Antwort: „Besondere Erkenntnisse … hat die Bundesregierung nicht.“
Nur die Begrenzung der Redezeit hindert mich daran,
diese Aufzählung fortzuführen. Es gab eine Serie von
Fehlanzeigen. Dabei versteht es die Bundesregierung
doch als ihre Aufgabe, „die wirtschaftliche und soziale
Lage im Kulturbereich zu beobachten, …“. Beobachten
wollen und sich dann mit der stereotypen Formel „Es liegen keine Erkenntnisse, keine Angaben, keine Informationen vor“ begnügen, das ist Satire. Diese Leerformeln
sind nämlich kein einmaliger Kunstfehler im Programm;
sie sind das Programm. Dies bekennt die Bundesregierung ganz offen.
Zweck der Anfrage war, aussagekräftige Daten zur
Kulturstatistik zu erhalten. Antwort der Bundesregierung:
Eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen
und sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler … hätte … umfassende Ermittlungen und Erhebungen erfordert, …
- Ja, richtig: „umfassende Ermittlungen und Erhebungen“. Was, wenn nicht diese, waren denn Sinn und
Zweck der ganzen Übung?
({0})
Offensichtlich hat die Bundesregierung nie an eine ernsthafte Beantwortung der Großen Anfrage gedacht. Große
Anstrengungen hierfür hat sie jedenfalls nicht unternommen.
Alle Experten auf dem Gebiet der Kulturstatistik haben im Rahmen eines öffentlichen Hearings im Dezember erklärt, von der Bundesregierung nicht befragt worden zu sein. Wer nicht fragt, der erhält keine Antworten
und hat dann natürlich auch keine Erkenntnisse.
({1})
- Sehr richtig, Herr Otto.
Wenn die Bundesregierung gefragt hat, dann nimmt
sie es mit der Wiedergabe der Antworten nicht so genau.
Gefragt war unter anderem, wie deutschen Künstlern
und Galerien der Zugang zum ausländischen Kunstmarkt erleichtert werde. Die Bundesregierung deutet
blumenreich eigene Initiativen an. Das hört sich aber
beim Bundesverband Deutscher Kunstverleger vollkommen anders an: „Derartige Initiativen gibt es bedauerlicherweise nicht.“ Ist das die getreue Wiedergabe einer
Antwort? Wohl nicht!
Im Übrigen kommt die Bundesregierung zu ganz verblüffenden Erkenntnissen. Gefragt war nach den Plänen
zur Einrichtung von speziellen Berufsberatungsprogrammen für Künstlerinnen und Künstler. Solche
gibt es bei der Bundesagentur für Arbeit nicht. Nach
dem Willen der Bundesregierung wird sich das auch
künftig nicht ändern, weil sich derartige Programme
„einschränkend auf die berufliche Neuorientierung auswirken könnten“. - Alle Achtung! Nach der Erkenntnis
der Bundesregierung steht also eine Berufsberatung
durch die BA einer beruflichen Neuorientierung im
Wege.
Was uns hier von der Regierung geboten wird, kann
nicht ernst gemeint sein. Es kann von uns auch auf keinen Fall ernst genommen werden.
({2})
Dazu passt auch der wiederholte Hinweis, im Übrigen
erwarte die Bundesregierung mit Interesse die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Wir alle wissen, dass der Bericht der Kommission erst in zwei Jahren vorliegen wird. Unsere Arbeit in
der Enquete-Kommission entlässt Sie, verehrte Frau
Staatsministerin Dr. Weiss, nicht aus Ihrer VerantworGitta Connemann
tung. Denn durch die Beantwortung der Großen Anfrage
sollte ja gerade eine Grundlage für unsere Arbeit in der
Kommission geschaffen werden.
({3})
Wenn die Bundesregierung die Kulturschaffenden
und ihre Interessen wirklich so ernst nehmen will wie
wir, dann sind wir in der Enquete-Kommission gerne zu
einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Ich biete Ihnen, Frau Staatsministerin, insoweit einen offenen Dialog an. Wir alle stehen ja in der Pflicht, für eine nachhaltige Entwicklung von Kunst und Kultur in Deutschland
Sorge zu tragen. Darum müssen wir uns gemeinsam und
ernsthaft bemühen. Die Bundesregierung wird diesem
Anspruch mit ihrer Antwort jedenfalls nicht gerecht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Barthel?
Nachdem ich die letzten zwei Sätze gesprochen habe
und mit meiner Rede fertig bin, gerne. Aber dann wäre
das ja keine Zwischenfrage mehr.
Nein, dann ist es keine Zwischenfrage mehr. Lassen
Sie also die Zwischenfrage zu?
Ich lasse die Zwischenfrage zu.
Frau Connemann, ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst
ist, dass Sie hier die Dinge ein bisschen durcheinander
bringen. Sie erwarten von der Bundesregierung Daten
und Informationen. Dabei waren wir uns doch alle einig,
dass, nachdem die vorhandenen Daten seit 30 Jahren
nicht mehr überprüft oder gar neu erfasst worden waren,
die Enquete-Kommission unter anderem deswegen eingesetzt wurde, um diese Daten zu erfassen. Jeder weiß,
wie schwierig das ist. Als wir uns darüber verständigten,
die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen
({0})
- ich frage, ob sie das weiß; das ist die schlichte Frage -,
war dies als eine der Grundsäulen der Arbeit der Enquete-Kommission vorgesehen. Ich frage mich nun,
wozu wir eine Enquete-Kommission benötigt hätten
({1})
- das frage ich Sie -, wenn die Daten, die Sie gerne hätten, schon existierten. Glauben Sie nicht, dass es vielmehr Aufgabe der Enquete-Kommission ist, diese Arbeit
zu erbringen? Denn das geht über das hinaus, was die
Bundesregierung bewältigen kann. Somit können Sie
jetzt nicht von der Bundesregierung etwas erwarten, was
eigentlich die Aufgabe der Enquete-Kommission ist.
({2})
Die Frage war interessant für eine Frage. Ich weiß das
nicht, weil ich den Auftrag bei Einsetzung der EnqueteKommission nicht nur anders verstanden habe, sondern
ihr Programm
({0})
- darf ich jetzt auch ausreden? - nach dem Einsetzungsbeschluss auch völlig anders verstehen muss. Sie wissen,
dass wir in der Enquete-Kommission häufig über die
Große Anfrage gesprochen haben. Sie wird auch Thema
der Sitzung am 1. März sein, an der die Frau Staatsministerin teilnehmen wird. Sie wissen auch, dass die
Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet wurde,
um das vorhandene Datenmaterial zu sichten. Dann
muss man sich aber auch ernsthaft bemühen, es zu sichten. Gerade diese ernsthafte Bemühung ist nicht zu erkennen. Als schlichte Abgeordnete in diesem Fall finde
ich, dass die Bundesregierung meine Rechte, die ich als
souveräne Abgeordnete habe und in Form einer Großen
Anfrage mit der Bitte um Information wahrnehmen
kann, einfach missachtet hat. Das bringe ich hiermit zum
Ausdruck.
({1})
Ich darf dann auch als schlichte Abgeordnete mit folgender Beurteilung schließen.
({2})
- Ich bin zwar Vorsitzende der Enquete-Kommission,
aber in diesem Fall auch schlichte Abgeordnete. - Die
Bundesregierung wird aus meiner Sicht den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht. Die Kritik an diesem Opus kann deshalb nicht besser als mit einem Ausspruch von Marcel Reich-Ranicki auf den Punkt
gebracht werden: Vorhang zu, wir sind betroffen und alle Fragen offen!
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Frau Staatsministerin Dr. Christina
Weiss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn der Deutsche Bundestag über die Lage
von Künstlerinnen und Künstlern in diesem Lande
debattiert, so hat dies immer noch den Hauch des
Ungewöhnlichen - leider, muss man hinzufügen. Dabei
wären wir gehalten, gerade in diesem Hohen Hause in
selbstverständlicher Regelmäßigkeit einen Bericht zur
geistigen Lage der Nation zu erstatten.
({0})
Dabei darf es nicht um Zuständigkeiten gehen. Die Entwicklung der Kultur in Deutschland muss auch ein Anliegen des Deutschen Bundestages sein.
Es war deshalb nur folgerichtig - Eckhardt Barthel
hat darauf hingewiesen -, dass die Regierungsfraktionen
den Anstoß dafür gegeben haben, endlich eine EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen.
Frau Connemann, wir warten natürlich gespannt auf die
Ergebnisse dieser Kommission. Sie ist unendlich wichtig
für die Erstellung eines relevanten Befundes über den
Zustand der Kulturlandschaft Deutschlands. Dabei wird
vor allem über die wirtschaftliche und soziale Lage
von Künstlerinnen und Künstlern zu berichten sein.
Statistik ist hier nicht in jedem Fall besonders sinnvoll. Künstler/Künstlerin ist keine Berufsbezeichnung.
Die Berufe, die sich hinter dieser Bezeichnung verbergen können, sind so zahlreich wie alle anderen Berufe.
Für Kreative gibt es auch keine sozialen Mindeststandards. Künstlerinnen und Künstler leben und arbeiten
naturgemäß nach anderen Prämissen, nach Werten und
Grundsätzen, die sich nicht einfach in ein gewohntes Sozialraster fügen. Künstlerinnen und Künstler benötigen
Freiräume, die ihnen erlauben, kreativ zu arbeiten, die
Gesellschaft zu befruchten, Anstöße zu geben. Das ist
der Bundesregierung bewusst. Dies zu erreichen ist auch
eine meiner Aufgaben.
Seit einigen Jahren sind wir dabei, bürokratische
Hürden, die die wirtschaftliche und soziale Lage der
Künstlerinnen und Künstler tangieren, systematisch aus
dem Weg zu räumen. Zu nennen ist hier sicher an erster
Stelle das Projekt der Kulturverträglichkeitsprüfung,
die auf neue Gesetze angewendet wird und die sich
bereits in den ersten anderthalb Jahren mehrmals segensreich bewährt hat. Außerdem ist es vor vier Jahren
gelungen, die Novelle des Künstlersozialversicherungsgesetzes auf den Weg zu bringen. Im Sinne der
Kreativen ist auch, dass die Besteuerung ausländischer
Künstler reformiert werden konnte,
({1})
dass das neue Urhebervertragsrecht in Kraft trat und
das Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft zustande kam. Mit all diesen wichtigen Gesetzeswerken haben Regierung und Parlament erfolgreich einen Teil des Reformstaus aufgelöst. Vor
allem aber haben sie die Sorgen und Nöte der Künstlerinnen und Künstler ernst genommen.
Die wirtschaftliche Situation von Künstlerinnen und
Künstlern ist nach wie vor alarmierend. Nach Angaben
der Künstlersozialkasse lag das durchschnittliche Jahreseinkommen der Freiberufler im vergangenen Jahr - hören Sie genau zu! - bei 11 144 Euro. Selbst wenn eine
solche Zahl natürlich Unsicherheiten in sich birgt, weil
sie nur auf eigenen Einschätzungen der Künstlerinnen
und Künstler beruht, zeigt diese Zahl doch sehr beeindruckend, dass wir es hier mit einer unterdurchschnittlichen Einkommensentwicklung zu tun haben. Zyniker
würden wohl von auskömmlicher Armut sprechen. Das
kann uns nicht beruhigen, das treibt uns um und das verlangt nach weiteren Modellen der Hilfe zur Selbsthilfe.
Glauben Sie mir: Die Stars, die alle kennen und von
denen wir glauben, wir wüssten, wie hoch ihre Honorare
sind, sind weitaus rarer, als wir alle vermuten.
Die Bundesregierung wird zielgenau das ihr Mögliche tun, um Künstlerinnen und Künstler weiter zu entlasten. Wir werden ein Zweites Gesetz zur Regelung des
Urheberrechts in der Informationsgesellschaft in den
Deutschen Bundestag einbringen. Wir denken dabei
auch über die seit langem geforderte Ausstellungsvergütung und das Künstlergemeinschaftsrecht nach.
Wie Sie wissen, setzt sich diese Koalition dafür ein, dass
für bildende Künstlerinnen und Künstler auch ein Modell für Ausstellungshonorare entwickelt wird. Gleichwohl wird dabei natürlich zu klären sein, wie das praktisch aussehen kann, ohne zum Beispiel Museen in
Probleme und Nöte zu stürzen. Hier suchen wir das intensive Gespräch mit privaten und öffentlichen Ausstellungsmachern. Niemand hat ein Interesse daran, dass
Ausstellungspläne durch zusätzliche Belastungen zunichte gemacht werden.
({2})
Aber die künstlerische Leistung ist ein Wert an sich und
die, so meine ich, sollte auch durch ein angemessenes
Honorar belohnt werden.
Wenn wir das Urheberrecht neu justieren, dann tun
wir dies auch deshalb, weil wir den Künstlern eine angemessene Vergütung sichern wollen. Hier hinkt im Übrigen das geltende Recht den technischen Möglichkeiten
hinterher.
Die jetzige Bundesregierung hat weitere steuerliche
Vergünstigungen für Künstlerinnen und Künstler
durchgesetzt. Ich erinnere an die existenziell wirklich
notwendigen und weitreichenden Verbesserungen bei
der Besteuerung ausländischer Künstler. Weiterhin
konnte der Übungsleiterfreibetrag ermöglicht und konnten Erleichterungen bei der Umsatzsteuer verankert werden.
({3})
Für weitere steuerliche Vergünstigungen im künstlerischen Bereich zu kämpfen ist in dieser Zeit - das wissen
Sie alle - natürlich besonders schwer. Die Lage der öffentlichen Haushalte ist angespannt wie nie. Wir können
also nur langsam vorankommen. Mit dem Heraufsetzen
des Grundfreibetrages zu Beginn dieses Jahres ist dies
beispielhaft geschehen.
Wenn wir die Rahmenbedingungen des Kunstmarkts
gestalten, dann muss auch auf internationale Belange
Rücksicht genommen werden. Das gilt in besonderer
Weise für die UNESCO-Konvention über Maßnahmen
zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr,
Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut. Dieses Abkommen stammt aus dem Jahre 1970 und muss in
Deutschland schleunigst ratifiziert werden.
({4})
Dazu wird ein entsprechendes Ausführungsgesetz nötig
sein. Mein Haus verfasst derzeit einen Referentenentwurf, der auch den Interessen und Belangen des Kunstmarktes gerecht wird.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich der
deutsche Kunstbetrieb keinesfalls in einer desaströsen
Lage befindet; es geht ihm aber auch nicht gut. Bund
und Länder sind hier gehalten, einen Wahrnehmungssprung zu vollführen. Wir brauchen einen Bewusstseinswechsel, wenn wir es mit Deutschland als Kulturnation
ernst meinen. Es geht nicht allein um staatliche Förderung, es geht darum, zu erkennen, welchen Wert die Kultur in einer Gesellschaft besitzt, welchen Platz sie einnimmt und was sie in dieser Gesellschaft bewegt.
({5})
Darüber müssen wir uns viel stärker verständigen,
nicht nur in Großen Anfragen, sondern jedes Jahr erneut.
Ich hoffe, Frau Connemann, dass wir dies ganz besonders in der Enquete-Kommission tun werden, die genau
das zum Ziel hat.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Frau Dr. Weiss, ich habe Ihren Worten - wie immer - mit großem Genuss gelauscht.
({0})
Ich habe mich allerdings gefragt, worüber wir hier eigentlich debattieren. Sie haben zehn Minuten gesprochen. Aber das, worüber Sie gesprochen haben, findet
sich nicht in der Tagesordnung.
({1})
- Ich habe es genossen. Es war eine künstlerische Leistung. Auf dem Spielplan stand das Stück „Camouflage“.
Ich muss meinen Respekt dafür aussprechen, wie die
recht bescheidene Antwort der Bundesregierung in mustergültiger Weise sozusagen versteckt worden ist.
Was mir immer wieder auffällt und was mir nicht gefällt, ist die große Diskrepanz zwischen Worten und Taten.
({2})
Sie sagen, Deutschland brauche einen Bewusstseinswechsel. Meine Güte! In der Vorbemerkung ihrer Antwort auf die Große Anfrage - nur dies steht auf der Tagesordnung -, teilt uns die Bundesregierung mit, dass
die Lage der Kulturschaffenden von ihr kontinuierlich
beobachtet werde. Auf immerhin zehn Fragen weiß die
Bundesregierung aber überhaupt keine Antwort.
({3})
Der Satz, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse
vorliegen, ist der mit Abstand am meisten verwendete
Satz in dieser Antwort auf die Große Anfrage. Für die
übrigen Antworten, die uns die Bundesregierung gibt,
bedient sie sich im ersten Teil der Künstlersozialkasse
und im zweiten Teil der einschlägigen Fachverbände als
Informationslieferant.
Besonders gut, liebe Frau Dr. Weiss, gefällt mir Ihre
Antwort auf die Frage 49. Man muss sie sich wirklich
auf der Zunge zergehen lassen. Die Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP hatten gefragt:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über
den Anteil von Menschen an der Bevölkerung in
Deutschland, die in Kunst investieren?
Diese Frage ist im Hinblick auf die Finanzierung von
Kunst und Kultur in Deutschland nicht ganz unwichtig.
Jetzt bitte genau hinhören - Originalton Frau
Dr. Weiss -:
Die Bundesregierung verfügt weder über gesicherte
Erkenntnisse über den Anteil von Menschen, die in
Deutschland Finanzmittel in Kunst als Sachgut in
der Erwartung eines Gewinns und/oder als Wertbzw. Kapitalanlage investieren, noch über den dadurch getätigten Kapitaleinsatz.
Nun gut, das ist typisch für die Antwort. Aber jetzt
kommt es
({4})
- jetzt hören Sie doch einfach einmal zu; das ist Originalton Frau Dr. Weiss -:
Sofern der Kauf von Kulturgütern als Gebrauchsgegenstände zum Zweck der geistigen Erbauung oder
Freizeitgestaltung gemeint sein sollte, wie z. B. Bücher, CDs oder Theater- und Kinokarten, wäre ein
sehr guter Prozentsatz zu erwarten, da augenscheinlich die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung derartige Produkte nachfragt.
Witzig! Liebe Freunde, wenn das Thema nicht so ernst
wäre, würde ich sagen: Veralbern kann ich mich selber.
Das ist nun wirklich ein Nullsummenspiel.
Ich will jetzt aber zum Kern des Problems zurückkehren. Diesen haben Sie erwähnt, nämlich die Tatsache,
dass das Durchschnittseinkommen der selbstständigen
Hans-Joachim Otto ({5})
Kulturschaffenden in Deutschland bei jährlich circa
11 100 Euro liegt. Wenn ein solcher Künstler dieses
durchschnittliche Einkommen 40 Jahre lang bezieht und
brav in die Künstlersozialkasse einzahlt, dann bekommt
er wie viel Rente? - 400 Euro monatlich. Das ist in der
Tat ein alarmierender Befund.
Liebe Frau Kollegin, jetzt sage ich Ihnen: In einer solchen Situation kann man nicht die Arbeit, die man selber
erledigen müsste, nämlich gesichertes Datenmaterial zu
erarbeiten, auf eine Enquete-Kommission verschieben,
wenn gleichzeitig - das muss man wissen - den Mitgliedern der Enquete-Kommission ständig Mittel gestrichen
werden. Diese sind gar nicht in der Lage, ein so umfangreiches Datenmaterial zu erarbeiten. Aufgabe der Enquete-Kommission kann es nicht sein - jedenfalls nicht
in erster Linie -, diese erschreckenden Datenlücken auszufüllen. Das muss von demjenigen geleistet werden, der
über geeignete Finanzmittel verfügt. Das ist in erster Linie die Bundesregierung.
({6})
Was die Enquete-Kommission leisten muss und auch
kann - dafür sind wir alle angetreten -, ist, auf der Basis
gesicherten Datenmaterials Handlungsempfehlungen
zu erörtern und diese dann an die Bundesregierung weiterzuleiten. Das wollen wir alle tun.
Liebe Frau Dr. Weiss, abschließend dazu: Ich bin jetzt
seit zehn Jahren im Parlament. Ich habe einige Antworten auf Große Anfragen gelesen, manche mit Zustimmung, manche mit Kopfschütteln. Ich habe, glaube ich,
in meiner parlamentarischen Laufbahn noch nie eine
Antwort auf eine Große Anfrage erlebt, die so wenig Erkenntnisse signalisiert hat wie diese. Ich ziehe aus diesem Nullbefund der Großen Anfrage die Erkenntnis: Wir
müssen - das ist jetzt ein Angebot zur Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg - und nicht erst dann, wenn
die Enquete-Kommission ihre Arbeit beendet hat - dafür
Sorge tragen, dass wir in Deutschland schnellstens über
die erforderlichen Datensätze in Bezug auf diesen enorm
wichtigen Bereich, in dem es Not und Handlungsbedarf
gibt, verfügen. Das kann man nicht auf die EnqueteKommission abschieben. Das ist Aufgabe des Parlamentes insgesamt und vor allen Dingen auch der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Otto, manchmal wundere ich mich über den
Freiheitsgehalt in den Gedankengängen von Liberalen.
Wenn Sie in einem freien Markt und einem freien Austausch zwischen Künstlern und an Kunst Interessierten
jeden Geschäftsgang erfassen wollten, dann hätten wir
sicherlich keine freiheitliche Gesellschaft mehr.
({0})
In einem kleinen Kreis wie diesem lieben wir alle die
Künstler; das setze ich jedenfalls voraus. Manchmal aber
gibt es auch so etwas wie eine Verklärung des Künstlerdaseins. Beim Blick auf die Chancen von Freiheit und
Selbstverwirklichung im künstlerischen Beruf wird aber
nur zu oft die Lebenswirklichkeit übersehen, die gerade
bei Künstlern oft von materieller Not und auch von prekären Fragen gesellschaftlicher Anerkennung geprägt
ist.
In der von der Opposition gestellten Großen Anfrage
zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der
künstlerischen Berufe sind wichtige Probleme aufgegriffen worden; das wird hier sicherlich niemand bestreiten.
Allerdings kam sie - das ist schon mehrfach gesagt worden - zu einem ganz ungewöhnlich merkwürdigen Zeitpunkt. Bereits vor der Anfrage der Opposition war doch
klar, dass die wirtschaftliche und soziale Lage der
Künstler ein wesentlicher Grund für die Einsetzung der
Enquete-Kommission gewesen ist, die wir ja mit großer
Kraft durchgesetzt haben. Immerhin gibt es in dieser
Legislaturperiode überhaupt nur zwei Enquete-Kommissionen. Dies zeigt den großen Vorrang, den wir dieser
Frage - auch bereits in der Koalitionsvereinbarung - eingeräumt haben. Deshalb sollte eine Anfrage an die Anfrage erlaubt sein: Geht es hier nicht um einen etwas
merkwürdigen Aktivismus, mit dem ein schon fahrender
Zug noch angeschoben werden soll? Wenn ich mir dies
im Bild vorstelle, dann wäre diese slapstickhafte Szene
gut mit Charlie Chaplin zu besetzen gewesen: Der Zug
fährt und Sie rollen hinterher, um ihn tüchtig anzuschieben.
({1})
Die Regierung hat, wie ich glaube, auf diese Anfrage
in korrekter Weise, nämlich mit Respekt vor dem Parlament, reagiert.
({2})
Wir haben es oft kritisiert, dass die Regierung noch eine
Kommission eingesetzt und so getan hat, als sei im Parlament gar kein Sachverstand vorhanden. In diesem Fall
hat die Regierung einmal anerkannt, dass sie zu vielen
Fragen die Debatte in der Enquete-Kommission abwarten sollte. Wir haben auch gesagt, dass die Arbeit der
Enquete-Kommission sehr konzentriert verlaufen und
nach zwei Jahren abgeschlossen sein soll. Respekt vor
dem Parlament ist auch so etwas wie demokratische Kultur. Dieser Respekt ist dadurch bewiesen worden.
({3})
Es ist schon von vielen gesagt worden - deswegen
kann ich an diesem Punkt meine Rede kürzen -, dass das
geringe Einkommen von freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern besorgniserregend ist, sodass viele
von ihnen, bevor sie Künstler sein können, erst einmal
Lebenskünstler und Überlebenskünstler sein müssen.
Tatsächlich liegt ein Durchschnittseinkommen von etwa
11 000 Euro weit unter dem anderer Erwerbstätiger. Von
einer Rente von 400 Euro im Monat - Sie haben das zusammengerechnet, Herr Otto - kann niemand leben; die
Mindestrente in Berlin beträgt 693 Euro.
Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen?
Ich nenne hier einige Einzelmaßnahmen, die zusammen
wirken müssen; denn einen Königsweg gibt es bei einer
so komplizierten Lage weder in diesem Fall noch in den
vielen anderen Fällen, mit denen sich das Parlament, die
Regierung und die Koalitionsfraktionen herumschlagen
müssen.
Erstens. Mit Blick auf das Rentenproblem ist zu prüfen, ob die Riester-Rente in besonderer Weise auf den
Künstlerbereich zugeschnitten werden kann. Auch Modelle von Künstlerfonds und Lösungsversuche aus anderen europäischen Ländern können Anregungen bieten.
Die Enquete-Kommission eruiert einen entsprechenden
Maßnahmenkatalog. Es gehört gerade zu unseren Aufgaben, solche Ideen aus anderen Ländern zu transportieren.
Ich wünsche mir allerdings manchmal, dass wir in der
Enquete-Kommission nicht so viele Formalitäten besprechen, sondern unsere kostbare Zeit sehr viel eher für
diese Modelle und Anregungen aus anderen Ländern
verwenden.
Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Selbstvermarktungsanteil der Künstler könnte sich für die
Künstlersozialkasse ein Problem ergeben. Dies ist besorgniserregend. Der Rechnungsprüfungsausschuss des
Haushaltsausschusses im Bundestag stellt gegenwärtig
eine Untersuchung zu diesem Thema an. Dazu ist zu sagen, dass der Bundeszuschuss zur Künstlersozialkasse
inzwischen vom Selbstvermarktungsanteil der Künstler
abgekoppelt wurde. Die Bundesmittel sind also nicht
vom Umfang der Selbstvermarktung abhängig, die die
Künstlerinnen und Künstler betreiben. Eine Senkung des
Bundesanteils darf es nach unserer Meinung hier nicht
geben. Dies sage ich auch im Namen der Bundesregierung.
({4})
Drittens. Die Verbesserung der Einkommensmöglichkeiten ist ein zentraler Baustein in diesem Problembereich. Im komplizierten Geflecht zwischen Urhebern
und Verwertern wurde von Rot-Grün hier schon manches erreicht; die Frau Staatsministerin hat es dargestellt.
Im Zusammenhang mit dem anstehenden Zweiten Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft prüfen wir, was wir noch zusätzlich tun
können. Ich denke an die Ausstellungsvergütung - da
haben wir schon vorgearbeitet - und an das Künstlergemeinschaftsrecht.
Viertens. Gerade in der Enquete-Kommission spielt
der Bereich der künstlerischen Bildung und der Zusammenarbeit von freien Künstlern mit den Schulen eine
große Rolle. Ich glaube, dass wir hier sehr innovativ sein
können. Es gibt sehr viele Künstler - ich denke etwa an
die sehr vielen ausgebildeten Orchestermusiker, die niemals alle einen bezahlten Vollzeitplatz in einem Orchester haben werden -, denen wir zum Beispiel im Rahmen
der Ganztagsschule eine Perspektive geben könnten, pädagogisch tätig zu sein. Wie bei vielen anderen auch sind
kombinierte Lebensmodelle denkbar, wo man einerseits
in einem selbst gewählten Ensemble spielen und andererseits als Pädagoge in der Schule tätig werden kann. In
einem Bereich, der die Schulausbildung am Nachmittag
auszeichnen könnte - der Förderung der Kreativität von
Jugendlichen -, könnten ganz neue Berufsperspektiven
und Berufsbilder entstehen.
Ich glaube, dass wir in dieser Richtung eine ganze
Menge neu denken müssen, und ich hoffe, dass wir das
da tun, wo es hingehört, nämlich in der Enquete-Kommission.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
bisherigen Reden ist deutlich geworden, dass die wirtschaftliche und soziale Situation der Mehrheit der
Künstler in Deutschland wahrlich alarmierend ist. Der
Ausdruck „brotlose Kunst“, den man zurzeit in der Bevölkerung des Öfteren mit Bezug auf die Bundesregierung hört, erhält dabei wirklich eine praktische Bedeutung.
({0})
- Ich will keinesfalls künstlerische Kreativität mit der
Arbeit der Bundesregierung vergleichen. Damit würde
ich allen Künstlern im Lande Unrecht tun. Denn Kunst
und Kultur sind interessant, was man von der Arbeit der
Bundesregierung absolut nicht sagen kann.
({1})
Eigentlich wären beim Thema „soziale Lage von
Künstlern“ SPD und Grüne mit ihrer Kulturstaatsministerin gefordert gewesen, sich der wirtschaftlichen Belange der künstlerischen Berufe anzunehmen. Hier hätte
doch die Staatsministerin mit neuen Ideen punkten können. Aber Fehlanzeige! Sie kümmert sich stattdessen lieber um die Präsentation der Sammlungen Flick und
Newton und vernachlässigt dabei junge Künstlerinnen
und Künstler.
({2})
Die Antworten der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage sind - das wurde schon gesagt - sehr enttäuschend. In der Einleitung betont die Bundesregierung
zwar, dass sie die Lage der Kulturschaffenden kontinuierlich beobachtet und durch die Kulturverträglichkeitsprüfung sicherstellen will, dass sich Gesetzesvorhaben
nicht nachteilig auf den Kulturbereich auswirken. Aber
das ist auch schon alles. Wenn man das Thema vernachlässigt, hat man halt keine Zahlen und Fakten. Außerdem
vermisse ich die Bereitschaft, auf unsere Fragen einzugehen.
Nur mit der Frage 20 - Bereich Hochschulen - hat
man sich lange befasst. Obwohl man keine Zuständigkeiten hat, wurde ausführlich geantwortet. Das ist typisch: keine Bundeszuständigkeit, aber immer den Versuch unternehmen, den Ländern in die Kulturhoheit
hineinzureden.
({3})
Das Ziel der Bundesregierung sollte doch sein, nur dort,
wo der Bund die Zuständigkeit besitzt, zeitgemäße Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Kunst- und
Kultureinrichtungen erlauben, im Sinne der freien künstlerischen Gestaltung zu arbeiten.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist schon erstaunlich,
dass die Bundesregierung es entschieden ablehnt, die soziale Lage der Künstler durch Maßnahmen in der Sozialgesetzgebung zu verbessern. Wir haben gehört, dass das
Jahreseinkommen gerade 11 000 Euro beträgt. Demgegenüber verdienen in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte rund 29 000 Euro. Viele Künstler haben
schon während ihrer aktiven Berufszeit zum Leben zu
wenig und zum Sterben zu viel. Als Rentner werden sie
dann, wie die Bundesregierung bestätigt, auf die soziale
Grundsicherung angewiesen sein. Zudem wird die Zahl
der arbeitlosen Künstler immer größer.
({5})
- Kollege Barthel, darüber sollten wir uns unterhalten.
Das wäre die Antwort auf unsere Anfrage gewesen. Da
hätten Sie Ideen entwickeln können.
({6})
Frau Staatsministerin, in unserer Großen Anfrage haben wir die Sparte Literatur nicht ausdrücklich erwähnt. Aber dass Sie Ihr Lieblingsthema Literatur mit
keinem Wort erwähnen, stimmt schon bedenklich. Bei
Ihrer Vorliebe für Literatur müssten Sie doch mit den
Sorgen und Nöten dieser Branche vertraut sein. Gerade
Frau Dr. Weiss darf auf diesem Auge nicht blind sein.
Sie hätte zumindest die bei der Künstlersozialkasse verfügbaren Daten wortreich nutzen können.
({7})
- Herr Kollege, wir haben sie nicht vergessen, sondern
wir haben gewartet, ob die Bundesregierung darauf eingeht.
({8})
- Wir haben viel gefragt und keine Antwort bekommen.
Die wirtschaftliche Lage der Schriftsteller, Übersetzer
und der Autorinnen und Autoren sowie die Entwicklung
des Buchmarktes wurden von Ihnen leider vollkommen
außen vor gelassen. Die Regierung Schröder ist doch mit
dem Grundsatz angetreten, der Kultur einen neuen Stellenwert zu geben.
({9})
- Das Gegenteil ist der Fall.
({10})
Man könnte es aber auch so formulieren: Deutschland
versteht sich zwar als Kulturnation - wir werben weltweit mit unserer kulturellen Vergangenheit
({11})
und mit den Namen unserer großen Künstler -, aber wir
achten nicht darauf, dass diejenigen, die in unserem
Lande heute künstlerisch tätig sind, auch nur halbwegs
ein Auskommen haben.
({12})
Ihnen genügt offenbar der Bezug auf die große Geschichte; denn mit ihr muss man sich ja nicht auseinander setzen, weil ihre Anerkennung weltweit gesichert ist.
Meine Damen und Herren, nachdenklich stimmen allerdings die boulevard-spektakulären TV-Demoskopien
des ZDF vom November vergangenen Jahres.
({13})
Dabei ging es um die Frage: Wer ist der beste Deutsche?
Als geborene Nürnbergerin fiel mir auf, dass Albrecht
Dürer, der Weltkünstler der Renaissance, bei diesem
Kulturevent nur auf Platz 91 der 100 meistgenannten
Deutschen zu finden war.
({14})
Die Boulevardjury der Deutschen repräsentierte das
klägliche Niveau der an der Auswahl beteiligten Fernsehkonsumenten. Denn diese hielten Beate Uhse und
Dieter Bohlen für bedeutsamer und besser als den
Meister der Apokalypse und der Aposteltafeln. Hier
wäre die Kulturstaatsministerin dringend gefordert,
Kunst und Kultur unter die Leute zu bringen. Denn es ist
ihre Aufgabe, der Allgemeinheit Kunst und Kultur näher
zu bringen.
({15})
- Sie lachen zwar, aber ich glaube, hinter Ihrem Lachen
verbirgt sich die ernste Erkenntnis, dass Sie dies in den
letzten Jahren versäumt haben.
({16})
Trotz der gleichen Startbedingungen, was die Spielregeln des Kunstmarktes angeht, stehen Künstlerinnen im
Unterschied zu ihren Kollegen jedoch sehr schnell
schlechter da. Die Gründe hierfür zu erforschen wäre
auch die Aufgabe der Ministerin, und zwar in Zusammenarbeit mit der Bundesfrauenministerin.
Kunst braucht aber auch Gunst - die Gunst des Publikums und die der Förderer. Das bedeutet nicht, den Staat
aus seiner Verantwortung zu entlassen. Aber Kulturförderung ist in erster Linie Aufgabe des Staates. Kulturpolitik ist mehr als die direkte Kulturförderung. Kulturpolitik wird in entscheidendem Maße auch vom
Finanzminister und vom Wirtschafts- und Arbeitsminister geprägt. Denn Kunst und Kultur sind mehr als nur
weiche Standortfaktoren. Kunst und Kultur sind die Kulissen unseres Lebens
({17})
und bestimmen maßgeblich unsere Sozialisation. Deshalb braucht unsere Gesellschaft den schöpferischen
Geist der Künstler. Denn Kunst und Kultur sind keine
Zutat, sondern der Sauerstoff einer Nation. Ihre Förderung sollten wir parteiübergreifend anpacken.
({18})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika KrügerLeißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den bisherigen Redebeiträgen habe ich eines entnommen: Wir brauchen die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Gerade im Kulturbereich besteht
ganz offensichtlich Nachholbedarf. Sowohl was die Datenlage auf Bundesebene als auch was vor allem die Erkenntnisse über die Bewertung der Rahmenbedingungen
von Kunst und Kultur in Deutschland betrifft. Dies hat
die Antwort auf die Große Anfrage mehr als deutlich gemacht.
Wir wissen zu wenig über die soziale und wirtschaftliche Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland. Wir wissen zu wenig über die öffentliche und private Kulturförderung. Wir wissen zu wenig über die
wirtschaftliche Situation des Kunstbetriebes. Darüber hinaus haben wir, was die finanzielle Ausstattung insbesondere der Kommunen im Kulturbereich oder auch die
Qualität der Entscheidungsstrukturen in diesem Bereich
betrifft, zu geringe Kenntnisse.
Ich will durchaus kritisch mit der Beantwortung der
Großen Anfrage umgehen.
({0})
- Das bin ich eigentlich immer. - Wie ich festgestellt
habe, haben wir über die Einkünfte angestellter Künstlerinnen und Künstler keine Kenntnisse. Eine Ausweisung
von befristet oder unbefristet beschäftigten Künstlern
findet in der Statistik nicht statt. Deshalb wissen wir
nichts über das Verhältnis von kunstbezogenen zu nicht
kunstbezogenen Einkünften am Gesamteinkommen.
Entsprechend fehlen uns Erkenntnisse über die Auswirkung von Veränderungen im Steuerrecht auf Kulturschaffende.
({1})
Aufgrund der vorliegenden Daten lässt sich der Anteil
des Kunstmarktes am Bruttosozialprodukt in Deutschland nicht berechnen. Die Einkünfte von Kunstverwertern sind nicht bekannt.
Ich könnte die Reihe fortsetzen, Nur - jetzt müssen
Sie zuhören, Herr Otto -, wenn Sie ganz ehrlich sind,
sind diese Erkenntnisse nicht das Ergebnis der Großen
Anfrage, die uns vorliegt. Denn das - wenn auch zu Ihrer
Verwunderung, Herr Otto - wussten wir eigentlich schon
vorher.
({2})
So ist es kein Wunder, dass die Antwort auf diese Große
Anfrage äußerst unbefriedigend ausfällt. Ebendiese Situation - daran möchte ich alle Kollegen erinnern - hat
uns ja dazu gebracht, eine Enquete-Kommission zu fordern, die hier Abhilfe schafft. Während wir uns aber mit
Aufgabenstellungen, Fragen und Zielvorstellungen der
Kommission beschäftigten, stellten Sie von der Opposition eine Große Anfrage, obwohl von vornherein klar
sein musste, dass die Antwort in vielen Teilen dünn ausfallen würde. Man hat das Gefühl, die Opposition meint,
dass sich, wenn man nach einer Sache, von der man
weiß, dass sie nicht beantwortet werden kann, nur oft genug fragt, die Antwort von selber einstellt. Anders ist
mir der Zweck der Anfrage nicht erklärbar.
Anlässlich des Versuches der Opposition, die Bundesregierung mit dünnen Ergebnissen vorzuführen,
({3})
möchte ich eines klarstellen: Das wird Ihnen nicht gelingen. Denn ich muss Sie daran erinnern - möglicherweise
hat Ihr Gedächtnis in dieser Frage etwas nachgelassen -,
dass es vor allem die Kohl-Regierung war, die eine bessere statistische Erhebung für den Kunst- und Kulturbereich verhindert hat.
({4})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Tatsache,
dass eine bessere Erhebung von Daten im kulturellen
Bereich 1994 und 1998 von der damaligen Bundesregierung unter dem Stichwort „Schlanker Staat“ abgelehnt
wurde.
({5})
- Sie müssen zuhören. Sie können sich nämlich nicht daran erinnern.
Hinzu kommt die Tatsache, dass eine Erhebung auf
Bundesebene nicht durchgeführt wurde, weil die Kulturkompetenz nun einmal bei den Ländern liegt. Wir sind
daher auf die Unterstützung der Länder angewiesen,
wenn wir mehr wissen wollen. Ich erinnere an unsere
Diskussion in den letzten Wochen. Wir haben uns bei einem öffentlichen Expertengespräch zur Kulturstatistik
im Rahmen der Enquete-Kommission darüber unterhalten, wie wir zukünftig mit Kulturstatistik umgehen wollen, welche Daten wir brauchen und auf welche vorhandenen Ressourcen wir zurückgreifen können.
Große Anfragen helfen uns kein Stück weiter. Was
wir brauchen, ist eine gemeinsam mit den Ländern und
den Verbänden abgestimmte Linie, der wir dann auch
folgen - und das als Ergebnis der Arbeit der EnqueteKommission.
Frau Blank hat es nebenbei erwähnt, aber ich denke,
es ist eine Bemerkung von mir wert: Ihre Anfrage ist,
finde ich, nicht sehr sorgsam ausgearbeitet.
({6})
- Quatsch! Offensichtlich entstand die Anfrage unter einem wahnsinnigen Zeitdruck. Ich kann mir jedenfalls
nicht erklären, aus welchem Grund Sie den Bereich
Wort, der ja zweifellos zu Kunst und Kultur gehört, ausgespart haben. Wenn man schon eine Anfrage stellt, die
unsere Arbeit weiterbringen soll, dann sollte das wenigstens sorgfältig geschehen.
({7})
Eines wird in der heutigen Debatte deutlich - ich bin
Christina Weiss für Ihre Ausführungen sehr dankbar - :
Diese Bundesregierung hat den Stellenwert der Kultur
auf Bundesebene in den letzten Jahren deutlich aufgewertet.
({8})
Gerade die Reform der Künstlersozialkasse ist hierfür
beispielhaft. Wir haben eine langfristige Absicherung
geschaffen mit Verbesserungen, die dringend erforderlich waren, besonders für ältere Künstlerinnen und
Künstler. Das sind wichtige Rahmenbedingungen für
heute Selbstständige in Kunst, Kultur und Publizistik.
Wir haben die Kulturverträglichkeitsprüfung eingeführt. Jeder Gesetzentwurf wird nun von der Kulturstaatsministerin daraufhin überprüft, ob er nachteilig für
den Kulturbereich sein kann.
({9})
Wir wollen damit verhindern, dass Gesetze verabschiedet werden, mit denen die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler verschlechtert würde. Aber - wir
merken es heute wieder - die Opposition hat das offensichtlich bisher noch nicht zur Kenntnis genommen.
Lassen Sie mich noch an die Ausführungen von Antje
Vollmer anknüpfen und einige Worte zum Forschungsvorhaben „Ermittlung des Selbstvermarktungsanteils
in der Künstlersozialversicherung“ sagen. Ich finde es
ganz wichtig, dass wir uns dazu auch hier äußern. Aus
meiner Sicht dürfte dieses Forschungsvorhaben nicht
mehr nötig sein. Es ist mir überhaupt ein Rätsel, warum
der Rechnungsprüfungsausschuss darauf besteht.
({10})
Wir haben mit der Novelle 2001 beschlossen, dass wir
den Bundeszuschuss auf 20 Prozent festschreiben, um
Planungssicherheit zu schaffen. Das ist eine verlässliche
Größe. Wir haben eine Verbindung mit dem Selbstvermarktungsanteil nicht zwingend festgelegt. Daher wäre
auf die Durchführung der Studie aus meiner Sicht ganz
einfach zu verzichten.
({11})
In diesem Zusammenhang müssen wir uns die letzten
Entwicklungen bei der Künstlersozialversicherung anschauen. Ich glaube, wir müssen uns - gerade auch in
der Enquete-Kommission - große Gedanken um die
Zukunft dieser Versicherung machen. Abgrenzungsprobleme bei neuen Berufen, zwischen abhängig Beschäftigten
und Selbstständigen, gezwungene Unternehmungsgründungen von Künstlern und vor allen Dingen die Entwicklung der Wirtschaft zwingen uns unter Umständen,
die Situation zu überdenken. Wir müssen die Frage klären, ob angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung die
Künstlersozialversicherung zukunftssicher ist und was
wir gegebenenfalls verbessern müssen.
Wir wissen außerdem, dass die Rentenversicherung
der wunde Punkt der Künstlersozialversicherung ist; da
erzählt uns Herr Otto nichts Neues. Bei den niedrigen
Beiträgen aufgrund niedriger Einkommen sind auch
niedrige Renten die Folge. Gerade hier muss die Enquete-Kommission alternative Wege für eine zusätzlicher Absicherung aufzeigen.
Zusammenfassend muss die genaue Bestandsaufnahme der Situation des gesamten Kulturbetriebes in
Deutschland das Ziel unserer weiteren Arbeit sein. Die
Anfrage der Opposition ist nichts Weiteres als eine Steilvorlage für die Arbeit der Enquete-Kommission.
({12})
Wir müssen Erkenntnisse gewinnen, aus denen wir
Handlungsempfehlungen für die Politik auf allen Ebenen
entwickeln; denn wir alle sind daran interessiert, unseren
Künstlerinnen und Künstlern ein gutes und gesichertes
Umfeld zu schaffen. Das ist nur zu einem Teil Sozialpolitik; es ist zum Teil auch Wirtschaftspolitik, die wir gemeinsam mit den Ländern gestalten müssen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Darf ich noch einen Satz sagen?
Noch einen Satz.
({0})
Sie merken, dass die Erwartungen an die EnqueteKommission unheimlich groß sind. Sie können aber sicher sein, dass unsere Staatsministerin ganz auf unserer
Seite ist und uns in dieser Arbeit unterstützen wird.
({0})
Das Wort hat der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Krüger-Leißner, gerade wir Mitglieder des
Kulturausschusses sollten hier doch nicht Weisheiten,
die schon lange in unserem Volke und auch in anderen
Völkern gewachsen sind, infrage stellen. Eine Volksweisheit sagt: Es gibt keine dummen Fragen, es gibt
höchstens dumme Antworten.
({0})
Hier wird so getan, als wenn das umgekehrt gesagt werden könnte.
({1})
- Frau Vollmer, ich komme gleich zu Ihnen.
Sie sagten in dieser Debatte - und ich fand das
richtig -, dass die Situation, in der sich Künstlerinnen
und Künstler befinden, häufig verklärt wird. Gerade
wenn sie häufig verklärt wird, wäre es doch richtig, sehr
viel konkretes Datenmaterial über Künstlerinnen und
Künstler zu sammeln und über dieses Datenmaterial zu
verfügen. Ich weiß gar nicht, inwieweit das der Arbeit
der Enquete-Kommission widersprechen würde. Ich
glaube vielmehr, dass die Arbeit der Enquete-Kommission auf diesem Datenmaterial fußen könnte und dass
man daraus entsprechende Rückschlüsse ableiten
könnte.
({2})
Nun wird hier von Rot-Grün - das ist ja Ihr Rückzugsgefecht - immer viel von der Kulturverträglichkeitsprüfung gesprochen. Sie mag ja richtig sein. Wir wollen
aber auch wissen, wie erträglich die Kultur, der Kunstbetrieb für die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland
ist.
({3})
Das ist auch eine wichtige Frage. Deshalb hätte man für
Aufklärung über das sorgen müssen, was die Bundesregierung hier nicht gesagt hat, wobei man gar nicht sagen
kann, dass sie überhaupt etwas gesagt hat. - Sie sehen,
meine Krücken fallen schon um.
({4})
- Herr Otto ist sehr bemüht, wie wir sehen.
({5})
- Herr Otto, Sie wissen, Deutschland geht an Krücken.
Deswegen tue ich es auch.
Es wäre jetzt ungemein wichtig, daraus ein Stück Bestimmung abzuleiten. Wir haben aber nur eine konkrete
Antwort erhalten: Die soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler wird durch das Einkommen bestimmt.
Das ist schlecht genug.
Nun kann man sagen, dass wir vorher auch nicht über
Datenmaterial verfügt haben. Ich sage hier ganz deutlich: Ich finde, es hat sich gelohnt, dass wir für diesen
Bereich einen Staatsminister bzw. eine Staatsministerin
bekommen haben.
({6})
- Ich habe gar nichts dagegen, dass Sie klatschen. - Da
wir diese Institution jetzt schon einmal haben, hielte ich
es für selbstverständlich, dass man über die Situation der
Künstlerinnen und Künstler in Deutschland auch etwas
erfährt und dass man in einem solchen Hause über das
entsprechende Informationsmaterial verfügt.
Nun könnte man es einem Staatsminister ja noch zugestehen, ein halbes Jahr nachdem das Staatsministerium geschaffen worden ist, zu erklären, er habe keine
Informationen. Nach fünf Jahren müsste es der Staatsministerin aber gelingen, die entsprechenden Informationen hier zu präsentieren.
({7})
Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung, dass sie so geantwortet hat, wie sie es getan hat.
Ich rede in diesem Zusammenhang gar nicht von den
Koalitionsfraktionen, weil es nicht ihre Aufgabe ist, dieses Datenmaterial herbeizuschaffen.
({8})
Frau Connemann, Herr Otto und Frau Blank haben entsprechende Beispiele gebracht. Frau Krüger-Leißner, Sie
selbst sind darauf eingegangen und haben versucht, das
im Nachhinein zu kaschieren.
Bezogen auf die Künstlerinnen und Künstler in
Deutschland sage ich: Ihr Stellenwert für unsere Nation
wird nicht richtig erfasst, wenn man über kein entsprechendes Datenmaterial verfügt. Frau Weiss Sie haben argumentiert, es gehe doch um Freiräume. Natürlich geht
es um Freiräume. Der Mensch überschreitet ständig
Grenzen. Ich bin den Künstlerinnen und Künstlern dankbar, dass sie diese Grenzen ausloten und sie nicht in der
Weise überschreiten, wie es andere in der Geschichte der
Menschheit getan haben. Das ist etwas Wertvolles.
Wir haben nach der sozialen und wirtschaftlichen
Stellung der Künstlerinnen und Künstler gefragt. Es ist
wichtig, das zu erfahren. Gerade dann, wenn man Freiräume wahrnehmen muss, ist es wichtig, wie man wirtschaftlich in diesen Freiräumen gestellt ist. Insofern
kann ich nur sagen: Es müsste jetzt schnellstens gelingen
- dabei kann man sich nicht alleine auf die EnqueteKommission verlassen -, über dieses Datenmaterial zu
verfügen, damit wir alle gemeinsam - ich sage das für
das ganze Haus - die richtige Politik für die Künstlerinnen und Künstler und ihre soziale und wirtschaftliche
Stellung betreiben können.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({9})
Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat ihre Rede zu
Protokoll gegeben.1)
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tierschutzbericht 2003
Bericht über den Stand der Entwicklung des
Tierschutzes
- Drucksachen 15/723, 15/2231 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wilhelm Priesmeier
Ulrike Höfken
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Gitta
Connemann, Peter H. Carstensen ({2}),
Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermög-
lichen
- Drucksachen 15/1210, 15/2233 -
1) Anlage 2
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Ulrike Höfken
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/1494 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({3})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Praxisgerechte Novelle des Tierarzneimittelgesetzes verbessert Tier- und Verbraucherschutz
- Drucksache 15/1596 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Tierhaltung in Europa und in Deutschland steht auf
dem Prüfstand, und zwar nicht erst seit BSE oder anderen Krisen in diesem Bereich. Innerhalb einer breiten
Öffentlichkeit wird heute die Haltung von Nutztieren intensiv diskutiert. Wenn man allein die Mitgliederzahl des
Deutschen Tierschutzbundes von etwa 800 000 und das
Engagement in diesem Bereich sieht und die Diskussionen zum Tierschutz verfolgt, dann zeigt sich, welch
große Relevanz und nachhaltige Auswirkungen diese
Diskussion auf das politische Handeln hat.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die
Veredelungsproduktion beim Verbraucher und beim gemeinen Bürger in besonderer Weise latente negative Assoziationen hervorruft. Die Verbraucherinnen und Verbraucher verlangen zunehmend, dass die Produktion von
Lebensmitteln tierischer Herkunft an Tierschutzstandards
ausgerichtet wird. Die Forderung an uns Politiker ist in
diesem Zusammenhang, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen, um einen umfassenden Tierschutz
zuverlässig zu gewährleisten. Der Tierschutzbericht der
Bundesregierung, über den wir heute sprechen, macht
deutlich: Die Regierungskoalition kommt den berechtigten gesellschaftlichen Anforderungen nach und wird ihrer
Verpflichtung in diesem Zusammenhang gerecht.
({0})
Anstatt wie die Opposition immer nur die Umsetzung
längst überholter Standards zu fordern, haben wir die
Vorreiterrolle übernommen und wesentliche Entwicklungen initiiert und vorangetrieben. Die Neuordnung der
Agrarpolitik und nicht zuletzt der zusätzliche Handlungsspielraum, den wir mit der Umsetzung der Luxemburger Beschlüsse gewonnen haben, wird von uns beim
Tierschutz konsequent genutzt werden, und zwar - wie
kann es anders sein - zusammen mit den Ländern, um so
eine größtmögliche Übereinstimmung zu erzielen.
Die Zukunft wird es bringen, dass Prämienzahlungen an Tierschutzstandards gebunden werden. Das
macht deutlich, dass hier berechtigte Forderungen der
Gesellschaft zum Zuge kommen; denn diese Prämienzahlungen müssen vor der Gesellschaft gerechtfertigt
werden. Neben ökologischen Nachhaltigkeitsstandards
ist der Tierschutz selbstverständlich ein besonderer Standard, der einbezogen werden muss. Wir behalten dabei
aber auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte
im Auge; denn nur wettbewerbsfähige Betriebe mit entsprechenden Gewinnen im Wirtschaftsjahr sind in der
Lage, unter Umständen die eine oder andere zusätzliche
Forderung bei den Tierschutzstandards zu finanzieren.
({1})
- Ich glaube nicht, dass wir für bestimmte Wettererscheinungen im letzten Jahr verantwortlich sind.
({2})
Wenn wir einen guten Draht nach oben hätten, dann hätten wir ihn zu passender Zeit sicher schon genutzt. Das
ist aber wohl nicht der Fall.
Es gilt, die zu setzenden Standards im Rahmen von
Globalisierungsprozessen nicht nur auf der europäischen
Ebene, sondern auch auf der internationalen Ebene in
hohem Maße zu harmonisieren und voranzutreiben, sodass auch die nicht tarifären Belange im Rahmen der
WTO-Verhandlungen, die den Beschlüssen aus 2000 und
2001 der EU-Kommission entsprechen, zum Tragen
kommen. Als Beispiel für das Engagement der Bundesregierung erwähne ich die Konferenz der OIE in zwei
Wochen in Paris. Dort wird es das erste Mal darum gehen,
auf internationaler Ebene über Transportbedingungen,
aber auch über andere Bereiche der Tierschutzstandards
zu diskutieren, diese unter Umständen perspektivisch
festzuschreiben und letztendlich umzusetzen. Wir wollen gar nicht den Anschein erwecken, als sei in den vergangenen Jahren bereits das Optimum erreicht worden.
Die heftigen Auseinandersetzungen über die Legehennenhaltungsverordnung und über die Schweinehaltungsverordnung haben uns gezeigt, dass wir keinesfalls am Ende des Weges der Entwicklung des
Tierschutzes angekommen sind, sondern uns irgendwo
mittendrin befinden.
Wir werden weiterhin tragfähige Kompromisse mit
allen Beteiligten erarbeiten, mit Landwirten, Produzenten, Verbraucherschutzorganisationen und Verbraucherinnen und Verbrauchern. Eines muss klar sein: Nur gesellschaftlich akzeptierte Tierproduktion hat in dieser
Gesellschaft langfristig eine Chance und Bestand.
({3})
Die Tierschutzpolitik reicht also weit darüber hinaus,
nur rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen. Es ist unsere Aufgabe, einen öffentlichen Dialog zu moderieren
und zu begleiten. Langfristige Perspektiven sind für die
Zukunft gerade unserer intensiven Tierhaltung ganz
entscheidend. Diese werden wir von der Regierungskoalition gemeinsam mit Landwirten, unabhängigen Wissenschaftlern, Tierschutzverbänden und Verbraucherschutzorganisationen entwickeln. Uns sind die breite
Akzeptanz und ein Höchstmaß an Transparenz sehr
wichtig.
Was weiß der Verbraucher, was weiß die Politik denn
darüber, wie die Tierproduktion konkret im einzelnen
Betrieb vonstatten geht?
({4})
Am Beispiel der Legehennen wird deutlich: Wir haben
Betriebe mit Verlustraten von 20 Prozent bei bestimmten
Haltungsformen, ohne dass das im Augenblick nennenswerte Konsequenzen hätte. Aus diesem Grunde fordere
ich als Tierschutzbeauftragter meiner Fraktion eine Meldepflicht für Legehennenbetriebe mit einer Mortalitätsrate jenseits von 15 Prozent. Bei anderen Haltungsformen
und Masthaltungsformen im Bereich der Putenhaltung
müsste man Ähnliches überlegen, um einmal die konkreten Daten zu bekommen, damit man sich nicht auf das
verlassen muss, was durch Studien erhoben werden
muss, die dann von irgendwelchen Seiten wieder infrage
gestellt werden.
Legehennen sind nicht die einzigen Tiere, die in serienmäßig hergestellten Systemen gehalten werden. Das
gilt fast für alle Nutztiere. In meinen Augen ist derzeit
den Haltungssystemen und ihrer Entwicklung eine viel
größere Bedeutung zuzumessen, als das bisher der Fall
gewesen ist. Die Diskussion über die Legehennenhaltungsverordnung und die Schweinehaltungsverordnung
schafft Rahmenbedingungen. Es ist aber viel wichtiger,
gerade diesen Bereich wissenschaftlich zu bearbeiten
und einen - das mag man so nennen - Tierschutz-TÜV
zu installieren, der dafür sorgt, dass die in Serie hergestellten, neu entwickelten oder eingesetzten Haltungssysteme einem einheitlichen Prüfungs- und Zulassungsverfahren unterzogen werden. Ich betone: Sie müssen
diesem unterzogen werden. Eine solche obligatorische
Zulassung und Zertifizierung wäre für uns unter Tierschutzaspekten ein großer Fortschritt.
({5})
§ 13 des Tierschutzgesetzes gibt dazu die Grundlage.
Das Bundesministerium hat gehandelt. Bei der KTBL
und der FAL sind bereits entsprechende Kommissionen
eingesetzt worden, um die Grundlagen zu erarbeiten.
Wir sind uns mit dem Präsidenten des Deutschen Tierschutzbundes, Wolfgang Apel, einig, dass die Hauptursache vieler Tierschutzprobleme in unzureichenden
Haltungssystemen liegt und diese unter Berücksichtigung der entsprechenden wissenschaftlichen Forschungen auch im Rahmen der Prüfungs- und Zulassungsverfahren den Bedürfnissen der Tiere anzupassen
sind. Da gehen wir mit den Forderungen des Deutschen
Tierschutzbundes Hand in Hand.
Ich glaube, dass gerade die Signale, die in den letzten
Wochen und Monaten aus Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern zu vernehmen waren - ein entsprechender Antrag liegt vor -, uns in dieser Richtung bestärken. Mit großer Freude habe ich heute einer
Pressemitteilung des Kollegen Bleser entnommen, dass
auch er schon auf den fahrenden Zug gesprungen ist und
kräftig mithelfen will, das umzusetzen.
({6})
Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir in der landwirtschaftlichen Produktion zu mehr Information und Transparenz kommen. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande wollen informiert werden. Bislang wird die
Tierhaltung häufig danach beurteilt, wie man selbst
Tiere zu Hause hält. Das ist im Regelfall nicht die
Nutztierperspektive, sondern die Kuscheltierperspektive.
Insofern sind weitere Informationen dringend notwendig.
Dass ein entsprechendes Interesse vorhanden ist, hat
der Erlebnisbauernhof auf der Grünen Woche gezeigt.
Auch auf dem Schulbauernhof in meinem Wahlkreis
- dafür sammele ich Spenden - ist erkennbar, mit welcher Begeisterung gerade Kinder alle Informationen aufnehmen, die ihnen geboten werden. Dadurch werden die
Kinder letztendlich zu bewussten Verbraucherinnen und
Verbrauchern, die unter Umständen bereit sind, höhere
Preise für höhere Standards zu bezahlen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Deutschen sind tierlieb. Nicht umsonst haben wir in
Deutschland eines der strengsten und ältesten Tierschutzgesetze der Welt. Insofern ist es umso verwerflicher, dass diese Bundesregierung und insbesondere die
Grünen die Tierliebe zur Mobilisierung ihrer Wählerschaft missbrauchen.
({0})
Gerade in diesem Bereich - das lässt sich leicht belegen - liegen Anspruch und Wirklichkeit Lichtjahre auseinander. Das belegt nicht zuletzt Ihr eigener Tierschutzbericht aus dem Jahr 2003, der aufzeigt, dass die Zahl
der Tierversuche 2002 auf 2 Millionen angestiegen ist.
Ich erinnere daran, dass es 1997 nur 1,5 Millionen Tierversuche gab, nachdem diese Zahl über viele Jahre hinweg ständig gesunken ist. Insofern ist eine Steigerung
von 31 Prozent zu verzeichnen.
Noch viel schlimmer ist, dass die Zahl der Tiertötungen zu Versuchszwecken um 67 Prozent angestiegen ist.
Das ist die leider nicht sehr schöne Wahrheit über die
Tierschutzpolitik dieser Bundesregierung.
({1})
Mit der Hennenhaltungsverordnung und den damit
verbundenen Kostenerhöhungen hat die Bundesregierung die Eierproduktion fast aus Deutschland hinausgetrieben. Der Trend ist ungebrochen.
({2})
- Sie werden gleich erfahren, was das mit Tierliebe zu
tun hat. Wenn Sie sich die Bilder aus Südostasien in Erinnerung rufen, die Sie in den vergangenen Tagen im
Fernsehen gesehen haben, und an die Umstände denken,
unter denen die Tiere dort dahinvegetieren müssen, dann
kommt Ihnen der Ekel hoch.
({3})
Mit der Vertreibung der Eierproduktion aus
Deutschland wird der Tierschutz nicht erweitert, sondern
verringert. Denn die Eierproduktion erfolgt in anderen
Ländern in ähnlichen Stallanlagen wie in Südostasien.
({4})
Deshalb meine ich, dass wir in der Frage des Tierschutzes - insbesondere in landwirtschaftlichen Betrieben ohne eine Versachlichung der Diskussion nicht weiterkommen.
({5})
Es hat mich deshalb gefreut, dass der Deutsche Tierschutzbund mit Präsident Apel, die Schweisfurth-Stiftung, der Bundesverband der Verbraucherzentralen und
der BUND eine Initiative unter dem Titel „Allianz für
Tiere in der Landwirtschaft“ gestartet haben. Dass diese
Organisationen eine wissenschaftliche Bewertung von
Ausstallungssystemen verlangen, ist eine Ohrfeige für
die Bundesregierung, die ihre Entscheidung in dieser
Frage eher aus einem ideologischen Blickwinkel getroffen und damit auch danebengelegen hat.
In der „Allianz für Tiere in der Landwirtschaft“ wird
von den sie tragenden Verbänden die Schaffung von
zwei Behörden - einer Prüfungs- und einer Zulassungsbehörde - gefordert. Das allerdings lehne ich entschieden ab,
({6})
und zwar deswegen, weil wir schon 1998 die DLG mitbeauftragt haben, bei der Prüfung von Stallanlagen
auch die Tiergerechtheit zu prüfen. Dem Ministerium ist
zugute zu halten, dass seit September vergangenen Jahres bei der KTBL und bei der Bundesforschungsanstalt
für Tierschutz und Tierhaltung in Celle ein Modellprojekt in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt
läuft,
({7})
in dem die Bewertung von 100 Stallanlagen oder Haltungssystemen vorgenommen werden soll. Mich wundert nur, dass die Bundesregierung die Bewertung nicht
abwartet, bevor sie - gerade in der Hennenhaltung endgültige Entscheidungen trifft.
Deshalb fordere ich als Tierschutzbeauftragter der
CDU/CSU, das Instrument der Prüfung von neuen, in
Serie hergestellten Tierhaltungssystemen für die Weiterentwicklung des Tierschutzes und zur Versachlichung
der Diskussion in Deutschland zu nutzen. Ich schlage
deshalb vor, dass man tiergerechten Haltungssystemen
einen Grünen Engel verleiht.
({8})
Die Verleihung ist allerdings an acht verschiedene Bedingungen geknüpft. Erstens. Ein solcher Grüner Engel
sollte durch eine Bewertungskommission für Tierhaltungssysteme möglichst auf europäischer Ebene verliehen werden. Solange dies auf Europaebene nicht machbar ist, sollte das Vorhaben im Rahmen der Umsetzung
von EU-Richtlinien in nationales Recht realisiert werden. Zweitens. Die Bewertungskommission sollte - das
ist wichtig - mit Wissenschaftlern, Ethologen, Tiermedizinern sowie Tierhaltern, Ingenieuren und Vertretern von
Tierschutzverbänden ausgewogen besetzt sein. Drittens.
Die vorhandenen Einrichtungen sind zur Durchführung
von Prüfungs- und Testverfahren zu nutzen. Viertens.
Für die Landwirtschaft und die Hersteller von Tierhaltungssystemen müssen die Prüfungen kostenlos sein;
denn sonst gehen Standortvorteile verloren. Fünftens.
Forschung und Weiterentwicklung dürfen nicht behindert werden. Sechstens. Auch serienmäßig hergestellte
Einrichtungen für Haus- und Freizeittiere - diesen Punkt
müssen wir ebenfalls den Tierschutzvereinen näher bringen - sollten einer solchen Prüfung unterzogen werden.
({9})
Siebtens. Die ökonomischen Aspekte müssen natürlich
hierbei Beachtung finden. Achtens. Die Bewertungsergebnisse sollten der Politikberatung und der Konsensfindung in der Gesellschaft dienen. Fazit: Der Grüne Engel
könnte für die Verbraucher ein einprägsames Markenzeichen für das Erkennen tiergerechter Lebensmittelproduktion sein.
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Die
Regierung hat auch in den Fragen des Tierschutzes ihre
Glaubwürdigkeit verloren. Die Zahl der Tierversuche
nimmt zu. Der Regierung wird die Bewertung von Nutztierhaltungssystemen sogar von den Tierschutzverbänden vorgeschlagen und damit auch Untätigkeit unterstellt. Letztlich schaden wirklichkeitsfremde Ideologien.
Wissen, Erfahrung und die Bereitschaft, die Bedingungen des Marktes ins Kalkül einzubeziehen, nutzen allen:
den Menschen und den Tieren.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenigstens in einem Punkt ist die CDU/CSU auf dem richtigen Weg. Ihr
fallen Grüne Engel ein! Das finde ich gut.
({0})
Aber damit hat es sich schon. Beim Wort „Tierschutz“
fallen einem momentan ganz andere Dinge ein, nämlich
die schon beschriebenen Bilder von der Geflügelpest in
Asien. Daran sieht man, wie gut es ist, dass die Bundesregierung und insbesondere die Bundesministerin Frau
Künast eine entschiedene Position eingenommen haben
und bei den WTO-Verhandlungen darauf gedrungen haben, die Anforderungen an den Tierschutz und an Hygiene in diesem Bereich nicht als nicht tarifäre Handelshemmnisse abzutun, und darauf hingewiesen haben, dass
es wichtig ist, entsprechende Standards international zu
verankern.
({1})
Alle zwei Jahre zieht die Bundesregierung Bilanz.
Der Tierschutzbericht 2003 macht deutlich, dass die rotgrüne Regierung enorme Fortschritte im Bereich des
Tierschutzes erzielen konnte. Es ist mit den Stimmen aller Fraktionen im Juli 2002 endlich gelungen, eine
Grundgesetzänderung vorzunehmen. Tierschutz ist
seitdem als Staatsziel verankert. Das ist ein Meilenstein
für den Tierschutz. Mit der neuen Legehennenhaltungsverordnung ist außerdem die tierquälerische Haltung von
Legehennen vom 1. Januar 2007 an verboten. Daran ändert im Übrigen auch der Bundesratsbeschluss vom November letzten Jahres nichts, der durch maßgebliche
Lobbyaktivität der Geflügelindustrie zustande kam.
Tierschutzargumente sind ja schön und gut, aber in diesem Zusammenhang ziemlich heuchlerisch, wenn man
bedenkt, dass schon über 30 Millionen Euro zur Förderung besserer Tierhaltungssysteme eingestellt waren,
diese Mittel allerdings nicht abgerufen worden sind. Wir
haben nichts gegen die Verbesserung von Haltungssystemen. Aber sie muss auf legale Weise, also im Rahmen
der bestehenden Gesetze geschehen. Die Unterstützung
von Boden- und Freilandhaltung ist also durchaus erwünscht.
({2})
Deutschland will weiter Vorreiter im Tierschutz sein.
Dafür steht im Übrigen unsere grüne Fraktion im Europaparlament.
({3})
Es wird jetzt eine neue europäische Transportrichtlinie vorgelegt. Das ist positiv. Wir plädieren aber weiterhin für eine Begrenzung der Transportzeiten auf maximal acht Stunden - es darf da keinen Turnus geben -,
weitere Verbesserungen bei den Transportbedingungen
und verschärfte Kontrolle.
Eine weitere Aufgabe - da gebe ich dem Kollegen
Bleser Recht - ist die Minimierung der Zahl der Tierversuche.
Wir haben zum REACH-System, also zur Chemikalienrichtlinie, hier entsprechende Anträge formuliert,
({4})
in denen deutlich wird, dass das deutsche Chemikaliengesetz zum Vorbild genommen und auch europäisch verankert werden sollte.
Wir werden weiterhin dafür kämpfen, dass die Nutztierhaltung in Deutschland noch verbessert wird.
Schweine, Hähnchen, Puten, Pelztiere und Kaninchen
sind in der Diskussion. Wer zukünftig auf den Märkten
bestehen will, muss jetzt in moderne und tiergerechte
Haltungssysteme investieren. Deswegen appellieren
wir auch an die Länder, sich nicht länger zum Handlanger industrieller Lobbyisten zu machen, die für ihre im
Ausland erzeugten Eier aus Käfighaltung - das steckt
doch hauptsächlich dahinter - Akzeptanz erhalten wollen.
Verbraucher und Verbraucherinnen entscheiden. Die
Tierschutzverbände sagen gerade in einer neuen Aktion:
Drei ist Quälerei. - Das bezieht sich auf die neuen Kennzeichnungsmöglichkeiten bei der Eierproduktion. Ich
wende mich an die Verbraucher und Verbraucherinnen:
Tun Sie das Ihre dazu! Nehmen Sie die Fastenzeit und
Ostern zum Anlass, keine Eier aus Käfighaltung, auch
nicht verarbeitet in anderen Produkten, zu kaufen!
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann,
FDP-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Alle zwei Jahre - jetzt immerhin zum
achten Mal, lieber Matthias Weisheit; das ist also keine
Erfindung von Rot-Grün; das gibt es schon länger - besteht die Notwendigkeit, über einen Tierschutzbericht zu
diskutieren. Ich freue mich darüber, dass die Rahmenbedingungen für den Tierschutz verbessert worden sind.
Natürlich freue ich mich besonders über die Passagen in
diesem Bericht, in denen die Rolle der FDP besonders
gewürdigt wird,
({0})
nämlich dabei, den Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.
({1})
Wir waren dabei Motor. Es ist gut, wenn man für die
Tiere in bestimmten Bereichen solche Erfolge erzielt.
Wir werden das fortsetzen. Es ist ganz klar: Wir müssen
noch Verbesserungen der Haltungs- und Transportbedingungen erreichen.
Sie haben sich sicherlich auch erschrocken, als Sie die
Zahlen zu den Tierversuchen gesehen haben, die in den
Kapiteln XIV und XV genannt werden. Man muss da genau hinschauen. Die Statistik ist auch ein bisschen geändert worden. Aber im Grunde ist jedes Tier, das in diesem Bereich eingesetzt wird, schon fast ein Tier zu viel.
Wir werden uns sehr schnell darüber einigen können,
dass wir Alternativen zu den Tierversuchen entwickeln
müssen.
Ich habe mich natürlich auch gefreut, als ich die Ausführungen zur EU-Agrarreform gelesen habe; denn unsere Kulturlandschaftsprämie ist genau das, was hier
angesprochen wird.
({2})
Kriterien, die Umweltschutz, Landschaftsschutz und
Tierschutz bringen, sind in Ordnung.
Wir wollen das machen, was mein geschätzter Parteifreund als Umweltminister in Niedersachsen im Umweltbereich macht. Wir wollen Tierschutzpolitik zum
Nutzen der Menschen und der Tiere betreiben.
Wir müssen aber auch vorsichtig sein. Herr Schmidt,
wir hatten eben schon einen Bereich am Wickel, in dem
die Dinge sehr schnell kippen können.
({3})
Das haben die Beispiele aus dem Bereich der Geflügelgrippe oder Geflügelpest, die von den Kollegen genannt
wurden, gezeigt. Wir alle, glaube ich, sind von den Bildern erschüttert.
({4})
Das gilt zum Beispiel auch für Cross Compliance.
Wer in diesen Bereichen zu viel tut, wird eher dazu beitragen, dass die Dinge nicht gelingen. Wenn man zu
hohe staatliche Hürden und zu viele staatliche Hindernisse aufbaut, dann reagiert leider der eine oder andere
in der Weise, dass er sie zu umgehen versucht.
Wir sollten die Dinge miteinander betreiben und einen anspruchsvollen Tierschutz ausgestalten - das ist
überhaupt keine Frage -, aber die Verlagerung von Produktion, die Verlagerung von guter NahrungsmittelherHans-Michael Goldmann
stellung ins Ausland - da sind wir uns wohl auch wieder
einig - kann nicht Ziel unser Politik sein.
({5})
Ich will ein paar Bereiche ansprechen, die mir auffielen.
Tierschutzvereine leisten - ich finde das prima hervorragende Arbeit; das wurde auch im Bericht zum
Ausdruck gebracht. Wir haben vor kurzem ein Gespräch
mit einer europäischen Tier- und Naturschutzorganisation geführt. Es ist genau der richtige Weg, nicht nur die
nationale und die europäische, sondern auch die internationale Ebene zu beschreiten. Frau Künast setzt sich dafür ein, dass in anderen Ländern bestimmte Tierquälereien beseitigt werden. Dafür sind natürlich auch wir.
Unseren gemeinsamen Standpunkt haben wir auch bei
den Gesprächen in Cancun gemeinsam zum Ausdruck
gebracht.
Ein anderer Bereich hat mich amüsiert. Herr
Berninger, vielleicht denken Sie einmal darüber nach,
dass es um Öffentlichkeitsarbeit ging. In diesem Zusammenhang wurde zu Recht der Erlebnisbauernhof erwähnt. Sie haben unter www.freiheit-schmeckt-besser.de
eine Kampagne durchgeführt. Ich habe mir die Frage gestellt, ob wir das eigentlich noch dürfen. Ich erinnere daran, dass wir aufgrund der EU-Werbeverordnung nicht
mehr „Nimm 2“ und „Milch macht müde Männer munter“ sagen dürfen. Angesichts dessen bin ich ziemlich sicher, dass wir auch nicht mehr „Freiheit schmeckt besser“ sagen dürfen; denn die Verbindung zwischen
„Freiheit“ und „schmecken“ ist für den Konsumenten
nicht ganz einfach herzustellen.
({6})
Wer die Latte so hoch legt, wie Sie, meine Damen und
Herren von Rot-Grün, es in diesem Bereich immer wieder tun, der darf nicht selbst darunter durchgehen.
({7})
In diesem Punkt steuern Sie haarscharf an der Wirklichkeit vorbei.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Zirkustieren sagen; denn sie liegen mir traditionell besonders am Herzen. Ich bin für Zirkuskultur; aber ich bin auch für Lebenskultur von Zirkustieren. Ich finde es gut, dass eine
neue Leitlinie auf den Weg gebracht worden ist, die
Orientierungshilfen gibt. Das macht das Angebot kleiner
Zirkusse sicherlich schwieriger; aber wir müssen diesen
Weg gehen. Besonders gefreut habe ich mich über den
Abschnitt „Tiere im Sport/Doping“ im Tierschutzbericht. Dort wird das besondere Engagement der Deutschen Reiterlichen Vereinigung - sie hat den Weg der
Selbstkontrolle beschritten - dargestellt. Das hat mir gut
gefallen. Es muss nämlich nicht immer alles von oben
bestimmt werden; vielmehr müssen wir auch diejenigen
stärken, die den Tierschutz von unten her ausgestalten.
({8})
Das Erlassen von noch so vielen Gesetzen und Verordnungen bringt nichts. Nebenbei gesagt: Das gilt genauso
für das Fangen von Fischen. Ich finde, es ist richtig, dass
die hervorragende Arbeit der vielen Vereine in diesem
Bereich gestärkt wird.
Wir haben hier auch über das Tierarzneimittelgesetz
zu reden. Ich bin froh, dass wir alle heute Morgen wieder
einmal an einem Tisch saßen. Wir hätten schon viel weiter sein können, lieber Kollege Priesmeier und lieber
Kollege Ostendorff, wenn wir wirklich Ernst damit gemacht hätten, den Tierschutzgedanken auch über das
Tierarzneimittelgesetz und über fachlich gute Tierärzte
zum Tragen kommen zu lassen.
({9})
Ich schlage weiterhin vor: Lassen Sie uns in dieser
Frage zusammenarbeiten! Lassen Sie uns eine gute Lösung für die Landwirte, für die Tiere, für die Lebensmittelwirtschaft, aber auch für die in besonderer Weise in
diesem Bereich Tätigen, nämlich die Tierärzte, finden!
Gute Tierärzte ärgern sich über schwarze Schafe in ihrem Beruf mindestens so sehr wie gute Politiker über
schwarze Politikerinnen- und Politikerkollegen.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Thema Tierversuche hat uns schon in der letzten Tierschutzdebatte im September beschäftigt. Wir sprechen
heute darüber und es wird uns auch noch in der Zukunft
verfolgen.
Die Statistik weist heute wieder mehr Tierversuche
als noch 1997 aus - trotz inzwischen entwickelter Ersatzmethoden. Sie, Herr Kollege Bleser von der CDU/
CSU-Fraktion, machen die rot-grüne Bundesregierung
dafür verantwortlich. In der letzten Debatte haben Sie in
diesem Zusammenhang Frau Ministerin Künast Scheinheiligkeit vorgeworfen.
({0})
Jetzt wollen wir einmal sehen, Herr Kollege Bleser,
wer hier tatsächlich scheinheilig ist.
({1})
Wie sieht es wirklich aus? Bei der Entwicklung neuer
Medikamente setzt die Pharmaindustrie verstärkt genmanipulierte, so genannte transgene Tiere ein.
({2})
Wir kennen den Begriff „Krebsmaus“. Diese Aktivitäten
haben die Zahl der Tierversuche wieder weiter nach
oben getrieben. Sie, Herr Bleser, wollen der Bundesregierung doch wohl nicht allen Ernstes die verstärkte
Grundlagenforschung zum Vorwurf machen? Das wäre
doch geradezu aberwitzig und hätte mit seriöser Politik
nichts, aber auch rein gar nichts zu tun.
({3})
Wir dürfen die Forschung in Deutschland nicht behindern, wir müssen aber gleichzeitig tierversuchsfreie Verfahren voranbringen. Die Bundesregierung unterstützt
diese Forderung und ist in diesem Bereich aktiv. Ich
freue mich, meine Damen und Herren, dass es zum Beispiel der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes gelungen ist, ein tierversuchsfreies Verfahren zur Erkennung erbgutgeschädigter Stoffe in
Wasserproben zu entwickeln. Dieses Verfahren kann den
Einsatz von 80 000 Fischen im Jahr überflüssig machen.
Das ist der richtige Weg; den müssen wir weitergehen.
({4})
Wenn man den Anstieg der Zahl der Tierversuche beklagt, darf man dabei allerdings nicht außer Acht lassen,
dass die Bundesregierung eine neue Meldestatistik für
Versuchstiere eingeführt hat. In der Zeit als Sie, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU und von der FDP,
an der Regierung waren, sind viele Versuchstiere überhaupt nicht statistisch erfasst worden; sie sind schlichtweg nicht mitgezählt worden.
({5})
Das ist ein weiterer Grund, warum heute höhere, aber
dafür auch genauere Tierversuchszahlen als zu Ihrer Zeit
vorliegen.
({6})
Sich jetzt hier hinzustellen und der Bundesregierung
vorzuwerfen, dass die Zahl der Versuchstiere steigt, ist
scheinheilig, Herr Bleser.
({7})
Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Die
neue Chemikalienverordnung der EU ist mit dem
Thema Tierversuche eng verknüpft. Es gibt weit über
30 000 marktrelevante Altstoffe. Nur ein ganz kleiner
Bruchteil ist überhaupt abschließend bewertet worden;
nur zu einem ganz kleinen Bruchteil liegt eine abschließend Risikobeurteilung vor. Die EU hat sich deshalb mit
der neuen Chemikalienverordnung zum Ziel gesetzt, diesen Missstand zu beseitigen und für mehr Sicherheit in
Europa zu sorgen. Mehr Sicherheit bedeutet aber auch,
dass mehr Tests notwendig werden. Mehr Tests ziehen
wiederum mehr Tierversuche nach sich. Das sieht auch
die EU; sie hat dieses Problem erkannt. Sie will deshalb
ganz verstärkt Prüfmethoden voranbringen und einsetzen, die ohne Tierversuche auskommen. Das ist der richtige Weg.
Die neue Chemikalienverordnung kann auch eine
Chance für die Tiere bieten: weg von den Tierversuchen,
hin zu Alternativmethoden, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern europaweit. Wir unterstützen diesen Weg. Ich bin sehr gespannt, wie sich die CDU/CSU
in dieser Frage verhalten wird. Mitunter habe ich den
Verdacht, dass Ihr Engagement für den Tierschutz gerade an dieser Stelle nur vorgeschoben ist, um die Initiative der EU insgesamt zu torpedieren und die chemische
Industrie von Kosten für das geplante Chemikalienmanagement freizuhalten.
({8})
Vielleicht wollen Sie aber auch nur von fehlender Bereitschaft zu mehr Tierschutz in anderen Bereichen ablenken.
({9})
Tiere werden ja nicht nur zu Forschungszwecken verbraucht. Alleine im Jahre 2002 wurden in Deutschland
50 Millionen Schweine, Rinder und Schafe geschlachtet.
({10})
Hinzu kamen 850 Millionen Kilogramm Geflügel, die
der Nahrungskette zugeführt wurden. Das, meine Damen
und Herren, ist eine gigantische Zahl. Wir haben
2,1 Millionen Tierversuche,
({11})
aber weit über 50 Millionen geschlachtete Tiere pro Jahr.
Wie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sieht
Ihr Engagement im Nutztierbereich aus? Was tun Sie,
um die Haltungsbedingungen der Tiere in diesem Bereich zu verbessern?
({12})
Wo zum Beispiel ist Ihr Engagement für die Legehennen? Die wollen Sie in Käfige wegsperren, eine dringend notwendige Schweinehaltungsverordnung torpedieren Sie. Das ist die traurige Wahrheit; so sieht Ihre
Politik für den Tierschutz aus.
({13})
Die Hauptursache vieler Tierschutzprobleme liegt in
unzureichenden Haltungssystemen. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das wir hier überhaupt noch
nicht diskutiert haben. Jährlich werden in Deutschland
30 Millionen Kaninchen verspeist. Die meisten dieser
Mastkaninchen fristen ihr Dasein bis zur Schlachtung in
viel zu kleinen Drahtkäfigen ohne festen Boden.
({14})
- Lachen Sie ruhig darüber, Frau Connemann. - Das
Platzangebot für ein Kaninchen beträgt - vielleicht wissen Sie es ja gar nicht - weniger als die Größe eines
DIN-A4-Blattes; von artgerechter Haltung keine Spur.
Hier müssen und können wir etwas tun.
({15})
Mein Kollege Wilhelm Priesmeier hat schon darauf
hingewiesen: Wir brauchen dringend einen TierschutzTÜV, wir brauchen ein verbindliches Prüf- und Zulassungsverfahren für Haltungseinrichtungen für alle landwirtschaftlichen Nutztierarten. Der Grüne Engel, den Sie
hier angeführt haben, wird uns da wenig weiterhelfen.
({16})
Machen Sie Ernst mit dem Tierschutz und unterstützen
Sie unser Anliegen! Millionen von Tieren werden es Ihnen danken.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Hiller-Ohm, es war wirklich sehr erbaulich, Ihrer Rede
zuzuhören, wobei mir allerdings nicht ganz klar war, ob
Sie gegebenenfalls das Rednerpult mit einer Bütt verwechselt haben.
({0})
Es war aber auf jeden Fall nicht unspannend.
Wenn Sie über Schein und Sein im Bereich des Tierschutzes sprechen, dann denken Sie sicherlich auch an
eine effektive Tierseuchenbekämpfung, denn das gehört immer zum Tierschutz dazu. Vor Ort ist das längst
bekannt. So gibt es zum Beispiel in meinem Heimatlandkreis, nämlich dem Landkreis Leer, seit kurzem eine
Vereinbarung mit den Nachbarkreisen über die Bildung
eines gemeinsamen Tierseuchenkrisenzentrums.
({1})
Die Begründung für diese Initiative lautet übrigens parteiübergreifend, Tierseuchenbekämpfung könne nur erfolgreich sein, wenn die Nachbarn in gleicher Weise
konsequent vorgehen. Vollkommen richtig: Tierseuchen
machen weder an Kreisgrenzen noch an anderen Grenzen Halt, nicht im Bund, nicht innerhalb Europas und
auch nicht zwischen den Kontinenten. Das erleben wir
aktuell in Asien. Dort grassiert die aviäre Influenza inzwischen in zehn Staaten.
Der letzte Seuchenzug in Europa liegt noch nicht einmal ein Jahr zurück. Dabei zeigte sich, dass Veterinäre,
Humanmediziner und Vollzugsbehörden in NordrheinWestfalen nicht wie ihre Kollegen in Niedersachsen handeln können, denn es fehlen ausreichende Ermächtigungen, die bundesweit greifen. Das deutsche Tierseuchenrecht ist lückenhaft. Deshalb hat unsere Fraktion im Juni
letzten Jahres den vorliegenden Antrag eingebracht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier?
Nein.
({0})
Meine Damen und Herren, dieser Antrag ist im Ausschuss mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden, ohne Aussprache, also ohne jede Begründung.
({1})
Was hat dieses Schweigen zu bedeuten? Versetzen wir
uns für die Auslegung doch einmal in die Situation eines
Bürgers, der der Bundesregierung geneigt ist - sofern es
ihn denn überhaupt noch gibt.
({2})
Dieser darf annehmen, dass zwingende Gründe für die
Ablehnung des Antrages vorgelegen haben - seien es
auch falsche Fakten oder fehlerhafte Rechtsannahmen.
Denn - jetzt hören Sie zu ({3})
er darf das Vertrauen haben, dass die Abgeordneten von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag nicht nur
aus einer Blockadehaltung heraus ablehnen, insbesondere in einer Frage, die die Menschen so bewegt wie das
Auftreten von Seuchen.
Meine Damen und Herren, genau das ist aber in diesem Fall passiert: Wider besseres Wissen wurde hier blockiert.
({4})
Der Beweis liegt vor: ein Referentenentwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes, der jetzt aufgetaucht
ist.
({5})
Er ist in den Ministerien der Länder aufgetaucht und
setzt unseren Antrag um. Das Bundestierseuchenrecht
weist Rechtslücken bei der Bekämpfung hochkontagiöser Tierseuchen auf. Auch im Referentenentwurf wird
das festgestellt. Deshalb haben wir im vorliegenden Antrag unter anderem eine Ermächtigung gefordert,
Einschränkungen „für den außerlandwirtschaftlichen
Wirtschaftsgüter- und Personenverkehr in Verdachtssperrbezirken, Sperrbezirken und Beobachtungsgebieten“ zu ermöglichen.
({6})
Man reibt sich die Ohren - so ist auch der Tenor in
dem Referentenentwurf der Bundesregierung. Es fehlten
Ermächtigungen für Reglementierungen für „den außerlandwirtschaftlichen Personen- und Wirtschaftsgüterverkehr
in Vieh haltenden Betrieben sowie in Verdachtssperrbezirken, Sperrbezirken und Beobachtungsgebieten“. Die
Übernahme unserer Forderung erfolgte nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich eins zu eins, unisono nicht nur in diesem Fall, sondern durchgängig.
({7})
Ich beglückwünsche die Koalitionsfraktionen zu ihrer
Einsichtsfähigkeit. Die Einsicht kam spät, aber immerhin.
({8})
Auch in diesem Fall ist die Bundesregierung ihrem
Motto treu geblieben, das da lautet: erst negieren, dann
blockieren, schließlich kopieren.
({9})
Aber wenn Sie schon kopieren, dann machen Sie es doch
bitte richtig.
Leider haben Sie eine wesentliche unserer Forderungen nicht aufgenommen, nämlich die Ermächtigung zu
einem „stand still“.
({10})
Das wäre wirklich wichtig gewesen. Zurzeit müssen
Eingriffe wie ein „stand still“ in den amtlichen Verkündungsblättern bekannt gemacht werden. Das bedeutet einen Zeitverzug von mehreren Tagen. Wäre die Veröffentlichung über Medien wie Fernsehen oder Radio bei
uns erlaubt, könnte sofort reagiert werden. Bei einer
Seuche ist es nun einmal erforderlich, schnellstmöglich
zu reagieren.
Ein weiterer Unterschied: Sie wollen in dem Referentenentwurf neun Gesetze und Verordnungen auf Bundesebene ändern, um aus der Bundesforschungsanstalt für
Viruskrankheiten der Tiere das Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, zu
machen. Es ist zwar beruhigend, zu lesen, dass die Bundesregierung in diesem Fall einmal nicht auf kostenpflichtige Berater zurückgegriffen hat.
({11})
Aber ich frage Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition: Haben Sie wirklich keine anderen Probleme?
Mit diesen Formalismen ist wirklich nichts zu bewegen,
insbesondere kann man damit keine Tierseuche bekämpfen.
({12})
Wenn Sie wirklich eine wirksamere Tierseuchenbekämpfung wollen, dann können Sie nur eines tun: unseren Antrag unterstützen.
({13})
Damit helfen Sie auch den Tieren. Stimmen Sie zu!
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Matthias Berninger.
({0})
- Entschuldigung. Herr Berninger, zuerst gibt es die
Kurzintervention des Kollegen Priesmeier.
({1})
Bitte schön, Herr Kollege Priesmeier.
Verehrte Kollegin Connemann, ich glaube, Sie sind
da einigen Missverständnissen aufgesessen. Die Begründung, warum Ihr Antrag im Ausschuss berechtigterweise
abgelehnt worden ist, ist Ihnen bereits damals gegeben
worden. Es gibt in diesem Zusammenhang gar nichts
mehr zu diskutieren. Wenn Sie den Entwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes richtig gelesen hätten,
dann hätten Sie erkannt, dass dort eine Forderung von
Ihnen enthalten ist, die man aber wegen des Grundgesetzes nicht so einfach umsetzen kann. Hätten Sie mich
vorhin zu Wort kommen lassen, dann hätte ich gefragt,
ob Sie diese Forderung nicht einmal hätten erwähnen
können.
Alle anderen Punkte sind so umgesetzt, wie Sie es
vorgetragen haben. Ich glaube, wir haben ein Optimum
an zusätzlicher Sicherheit bei der Tierseuchenbekämpfung erreicht, wenn dieser Änderungsentwurf verabschiedet wird.
In Bezug auf die Namensänderung muss ich sagen,
dass Herr Loeffler für die Tierseuchenbekämpfung genauso wichtig ist wie Herr Professor Koch für die Humanmedizin. Ich glaube, es ist legitim, ein Institut nach
jemandem zu benennen, der sich entsprechende Verdienste erworben hat. Wenn das im Rahmen einer Gesetzesänderung geschieht, dann kann man das doch wohl
nur unterstützen und darf es hier nicht lächerlich machen.
Danke schön.
({0})
Frau Kollegin Connemann, Sie können antworten.
({0})
Sehr verehrter Herr Kollege Priesmeier, Sie haben gesagt, im Ausschuss sei über diesen Antrag debattiert
worden. Das ist leider nicht der Fall gewesen.
({0})
Ich habe das im Ausschussprotokoll nachgelesen. Dieser
Antrag ist ohne Aussprache - Sie können das im Protokoll gerne nachlesen; ich habe es dabei - mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Sie hatten es nicht nötig, auch nur ein einziges Wort zum
Thema Tierseuchen zu sagen.
({1})
Daher ist es umso verblüffender, dass Sie unseren Antrag - also nicht nur diese eine Forderung - unisono
übernehmen.
({2})
- Beruhigen Sie sich wieder, Herr Kollege. Ich zitiere
bei solchen Gelegenheiten gerne aus dem Alten Testament: Dass ihr endlich schweigen würdet, das würde
Wahrheit für euch sein. - Das wäre sicherlich einmal
ganz angebracht.
({3})
Es gibt eine Menge Überschneidungen des Referentenentwurfs, der Ihnen sicherlich vorliegen wird, mit unserem Antrag. Ich nenne unter anderem: Unter Spiegelstrich zwei - es geht um den außerlandwirtschaftlichen
Personen- und Wirtschaftsgüterverkehr - wird Ziffer 3
unseres Antrages übernommen. Unter Spiegelstrich drei
- es geht um die Reglementierung der Verbringung und
Einführung von Tieren und von ihnen stammenden Erzeugnissen - wird Ziffer 2 unseres Antrages übernommen. Unter Spiegelstrich vier - dort geht es um die
Anordnung vorbeugender Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen an den Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland, also an Flug- und Schiffshäfen - wird
Ziffer 5 unseres Antrages übernommen. Die Anordnung
vorbeugender Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen bei regelmäßig verkehrenden Fahrzeugen bedeutet
die Übernahme von Ziffer 8 unseres Antrages. Dies setzt
sich so fort. Ich könnte Ihnen viele weitere Übereinstimmungen nennen.
Von daher bleibe ich dabei: Sie haben unseren Antrag
übernommen. Das spricht für Sie; Sie besitzen Einsichtsfähigkeit. Es wäre schön, wenn Sie dies auch durch Ihr
Abstimmungsverhalten zum Ausdruck bringen würden.
({4})
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Matthias
Berninger das Wort.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht heute um den Tierschutzbericht und
nicht um Spiegelstriche. Lassen Sie mich deswegen zunächst einmal ein paar ganz grundsätzliche Bemerkungen machen. Die Debatte hat bisher eines sehr deutlich
gezeigt: Es gibt in diesem Hause den großen Konsens,
im Tierschutzbereich voranzukommen. Es ist aber auch
sehr deutlich geworden, dass dieser Konsens leider an
einer Stelle endet, nämlich immer dann, wenn es um
Nutztiere geht. Immer dann, wenn mit der millionenfachen Nutzung dieser Tiere ökonomische Interessen verbunden sind, wird der Bundesrat, der beispielsweise in
Bezug auf Zirkustiere dankenswerterweise die Initiative
ergriffen hat, ganz schnell zum Verhinderungsgremium.
Dann werden Tierschutzinteressen einem Hürdenlauf
unterzogen. Das erleben wir seit Jahren.
({0})
Der Kollege Goldmann freut sich darüber, dass die
FDP-Fraktion erreicht hat, den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen. Man sollte sich auch in einer Tierschutzdebatte nicht mit fremden Federn schmücken. Im
Hinblick auf das Gebot des Tierschutzes hat in allen
Fraktionen Konsens bestanden und es ist deshalb in das
Grundgesetz aufgenommen worden.
({1})
Eines ist ganz deutlich geworden: Die Debatte darüber, den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen,
hat in dem Moment an Fahrt gewonnen, in dem die rotgrüne Bundesregierung dieses Thema vorangebracht hat.
In den 16 Jahren davor mag es zwar aus den Reihen der
FDP entsprechende Forderungen gegeben haben. Diese
sind allerdings allesamt an der Unionsfraktion gescheitert.
({2})
Hier ist auch das Thema der Tierversuche angesprochen worden. Man hat ja fast den Eindruck, der Kollege
Bleser freue sich über die ansteigende Zahl von Tierversuchen.
({3})
Denn in jeder seiner Reden glaubt er, die Milchbubenrechnung aufmachen zu müssen, dass die Steigerung der
Zahl der Tierversuche eine Art Lackmustest und Beweis
dafür ist, dass wir uns nicht um das Thema Tierschutz
kümmern.
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
({4})
Das ist falsch. Die Zahl der Tierversuche ist gestiegen,
weil es insbesondere im Bereich der Biotechnologie eine
ganze Reihe neuer Forschungsaktivitäten gegeben hat,
die entsprechende Tierversuche nach sich gezogen haben. Die gleiche Fraktion, die uns in diesem Bereich
Vorwürfe macht, steht, wenn es um die Förderung der
Biotechnologie geht, ganz vorne an der Spitze.
Ich halte dieses Aufrechnen für nicht sonderlich
glücklich. Ich glaube vielmehr, dass uns die hohe Anzahl
von Tierversuchen veranlassen sollte, uns noch stärker
um Alternativmethoden zu kümmern.
({5})
Die Bundesregierung wird hier verstärkte Anstrengungen unternehmen. Es gibt sehr viele Alternativen zu
klassischen Tierversuchen; das wissen auch Sie. Auch
die Biotechnologie, insbesondere neue Zellkulturen, also
gentechnisch veränderte Organismen, werden von uns in
Betracht gezogen, um die Zahl der Tierversuche in den
nächsten Jahren spürbar zu senken. Das müssen wir unter anderem wegen der neuen Chemikalienpolitik tun.
Die Bundesregierung wird in den nächsten Monaten
in Bezug auf Mastgeflügel, die Geflügel- und Schweinehaltung, den Transport von Tieren, die Pelztierhaltung,
die Reform des Bundesjagdgesetzes, die Verbesserung
der Lebensbedingungen von Zirkustieren, aber auch in
Bezug auf das Thema „Mehr Transparenz über Tierhaltungsformen“ Initiativen ergreifen, die am Ende die Lebenssituation von Tieren verbessern werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss etwas zum Tierseuchengeschehen sagen. Ich halte wenig davon, sich über
die Bilder anderenorts zu freuen und so zu tun, als könnten diese Bilder nicht auch uns schnell einholen. Sie alle
wissen, dass Europa bei der Maul- und Klauenseuche
ähnlich widerwärtige Bilder auf die Bildschirme gebracht hat, wie wir es jetzt in Asien erleben. Andersherum wird ein Schuh daraus: Nicht nur die Vogelgrippe, sondern auch BSE ist ein globales Tierproblem.
Tierseuchen müssen stärker global angegangen werden.
({6})
Sie müssen ein elementares Thema bei den WTO-Verhandlungen werden. Bundesministerin Künast wird gerade das in ihrer Rede auf der OIE-Tagung, die sich erstmals in aller Deutlichkeit um Tierschutzfragen kümmert,
nach vorne tragen.
Die Kollegin Connemann, auch wenn sie gerade nicht
zuhört,
({7})
ist ja ganz glücklich darüber, dass sie vor einiger Zeit einen Antrag gestellt hat, der sich mit der Änderung des
Tierseuchengesetzes beschäftigt. Sie wissen auch, dass
wir vonseiten der Bundesregierung bereits im Sommer
hinsichtlich der Vogelgrippe sowie der Probleme, die
wir in Europa hatten, im Ausschuss angekündigt haben,
hier tätig zu werden.
({8})
- Wir sind tätig geworden. Am 18. Februar wird die Novelle des Tierseuchengesetzes im Kabinett behandelt
werden. Bei vielen Punkten herrscht Übereinstimmung
der Fachleute aller Länder, dass wir hier vorankommen
müssen. In einem Punkt liegen sie völlig falsch. Auch
hinsichtlich eines „stand still“, wo es darum geht, möglichst schnell dafür zu sorgen, dass keine Tiertransporte
mehr erfolgen, wird die Bundesregierung eine Beschleunigung vornehmen. Wenn wir uns in der Sache einig
sind, sollten wir uns darüber freuen, weil dies ein Instrument sein kann, um Tierseuchenprobleme schnell zu vermeiden. Das ist unser aller Ziel, denn die beste Seuchenbekämpfung ist dann gegeben, wenn es gelingt, eine
Verbreitung entsprechender Erreger durch entschlossenes und konzertiertes Handeln zu verhindern. Wir werden mit dem Gesetzentwurf am 18. Februar auch dazu
einen wichtigen Beitrag leisten.
Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit.
({9})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Neben dem Tierschutzbericht und der Tierseuchenbekämpfung stehen heute der Initiativantrag Bayerns aus
dem Bundesrat und der Antrag der FDP zum Tierarzneimittelgesetz auf der Tagesordnung. Es geht um die
Nachbesserung des geltenden Arzneimittelgesetzes
nicht zuletzt unter Tierschutzaspekten.
({0})
Es freut mich, dass die Kollegen aus den anderen Fraktionen zustimmen.
({1})
Es ist schon sehr ungewöhnlich, dass eine Novelle,
die gerade ein Jahr alt ist, schon wieder nachgebessert
werden muss. Im Grunde ist es eher eine „olle Kamelle“
als eine Novelle. Im Ernst: Der Druck aus der Praxis
machte innerhalb kurzer Zeit klar, dass das, was sich in
der Theorie so wunderbar anhörte, einfach nichts mit der
Arbeit vor Ort zu tun hat. Wer das heute nicht wahrhaben möchte, hat einen wunderbaren Verdrängungsmechanismus. Das Künast-Ministerium ist darin gar nicht
schlecht.
({2})
- Ja, Matthias, ich erkläre es auch dir noch.
Die Ziele, denen wir uns heute noch verpflichtet fühlen, ein verbesserter Verbraucher- und Tierschutz, sind
mit dem geltenden Arzneimittelgesetz nicht zu erreichen. Im Gegenteil.
({3})
Die meisten der hier Anwesenden waren bei unserer
Ausschussanhörung, die relativ schnell ziemlich deutlich
zeigte, dass hier nachgebessert werden muss. Vor allen
Dingen müssen die Rechtsunsicherheit, die kaum zumutbaren Mehrbelastungen für Tierärzte und -halter und vor
allem der mangelnde Tierschutz Änderungen erfahren.
({4})
Die Frage ist hier, warum wir so lange warten, bis es zu
Nachbesserungen kommt.
Das zentrale Problem ist die Siebentageregelung. Mal
ehrlich: Welche Krankheit hält sich an eine willkürliche
Vorgabe von sieben Tagen? Es gibt keine Krankheit, die
am siebten Tag aufhört. Aber es lässt sich einfach bis
sieben zählen. Am achten Tag hat der Tierarzt gegen das
geltende Recht verstoßen. Dies hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist einfach für die Kontrolleure, aber unpraktikabel für die Betroffen und vor allen Dingen sehr
leidvoll für die Tiere.
({5})
Um nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, müsste der
Tierarzt jedem kranken Tier einen persönlichen Krankenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Behandlungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter die
nötige Behandlung durchführen darf. Würde der Tierarzt
dann noch vor und nach jedem Stallbesuch durch die
Hygieneschleuse geführt, geduscht und umgekleidet, um
nicht mehr Krankheiten zu verschleppen als zu bekämpfen, dann wäre das Unterfangen endgültig undurchführbar. Das Ergebnis ist das, was wir alle nicht wollen: eine
himmelschreiende Tierquälerei. Angesichts dessen kann
man sich auch einen Tierschutzbericht schenken.
({6})
Wenn ein Arzneimittelgesetz - ohne Tierquälerei,
eben durch unterlassene Behandlung - mehr Verbraucherschutz bringen soll und wenn die Landwirte und die
Tierärzte nicht unter polizeilicher Überwachung stehen
sollen, dann muss das Gesetz folgendermaßen aussehen:
Die Siebentageregelung ist zu streichen. Eine starre
Frist, von welcher Länge auch immer, kann der Vielfalt
der Tiererkrankungen und deren Verläufen überhaupt
nicht gerecht werden.
({7})
- Das ist sehr praxisfremd.
Die fünfstufige Umwidmungskaskade für Lebensmittel liefernde Tiere ist durch die auf EU-Ebene gültige
dreistufige Kaskaderegelung zu ersetzen.
Mit Blick auf den Verbraucherschutz empfiehlt sich
eine klare Grenzziehung zwischen Lebensmittel liefernden Tieren und reinen Gesellschafts- und Sporttieren. - Das wird auch Ulla Heinen und ihr Pferd
freuen.
({8})
Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarzneimitteln zu gewährleisten, sollte es den Tierärzten nicht
länger verboten werden, Arzneien aus fertigen Gebinden
umzufüllen, fachgerecht neu zu verpacken und dann an
den Tierhalter abzugeben.
Lassen wir die Kirche im Dorf! Schauen wir doch,
was praktikabel ist und dass wir den Tieren und dem
Verbraucherschutz gerecht werden! Seien wir nicht heiliger, als wir sein sollten! Das bringt hier nun wirklich
nichts.
Ich möchte unterstreichen: Die Siebentageregelung
muss weg. Die Abgabe von Arzneimitteln muss endlich
den praktischen Bedürfnissen angepasst werden. Die
Union und die FDP schlagen vor, drei Behandlungsformen als alternative Voraussetzungen für die Arzneimittelabgabe zuzulassen. Sie sollen gleichrangig nebeneinander stehen. Das wäre den Bedürfnissen der Praxis
angebracht.
Es geht erstens um die konventionelle Behandlung,
zweitens um den Behandlungsplan und drittens - je nach
Bedürfnis - um die tierärztliche Bestandsbetreuung. So
kann flexibel auf die verschiedenen Krankheitsgeschehen reagiert und gleichzeitig schon im Vorfeld die Gefahr der Erkrankung des Tierbestandes gemindert werden. Nichts anderes soll der Tierarzt regeln und nichts
anderes will auch der Tierhalter.
({9})
Ich glaube, so weit liegen wir gar nicht auseinander.
Man muss aber etwas tun; es reicht nicht, nur zu wollen.
Ich betone, dass wir alle - ich hoffe, ich darf den Kollegen zur Rechten einschließen - bereit sind, zusammenzuarbeiten.
({10})
Wir sind bereit, eine praktische Lösung mit Hand und
Fuß zu erarbeiten, vor allem an den Brennpunkten, die
wir schon angesprochen haben.
Jetzt wird es spannend. Die Kollegin Connemann
hatte einen Antrag gestellt, den man gerne umgesetzt
hat. Wir Berichterstatter aller Fraktionen haben uns in
der Sommerpause zusammengesetzt und die Punkte aufgelistet, die wir als die nachbesserungswürdigsten ansehen. Es bestand interfraktionelle Einigkeit. Jetzt aber
spielen politische Eitelkeiten eine Rolle; Frau Künast
lässt die Zusammenarbeit verbieten.
({11})
- Wilhelm, du warst doch nach der Diskussion auch
nicht ganz entspannt. ({12})
Das hat uns wirklich um einiges zurückgeworfen. Wir
könnten heute viel weiter sein.
Wir sind bereit, zusammenzuarbeiten. Aber dann
muss man auch miteinander reden und vor allen Dingen
bereit sein, etwas zu tun.
({13})
Es ist zwar schön, wenn ihr sagen könnt - unser Mitleid
habt ihr -: Mögen würden wir schon wollen, aber dürfen
haben wir uns nicht getraut.
({14})
Ich biete allen Kollegen und auch Ihnen, Herr Berninger,
herzlich an, zusammen das Arzneimittelgesetz so zu
überarbeiten, dass es praktikabel wird und jeder etwas
davon hat, dass der Tierschutz und der Verbraucherschutz gewahrt sind, dass die Tierärzte ihrer Arbeit nachgehen können - sie haben studiert und wissen, was sie
tun -, dass die Tierhalter Spaß an ihrem Beruf haben und
dass wir letztlich relativ schnell zu einer Novelle kommen, die diesen Namen verdient.
Herzlichen Dank.
({15})
- Ich kümmere mich um die Länder.
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 9 a. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er-
nährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/2231
zum Tierschutzbericht 2003, dem Bericht über den Stand
der Entwicklung des Tierschutzes. Der Ausschuss emp-
fiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung auf Drucksache 15/723 eine Entschließung an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft auf Drucksache 15/2233 zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wirksamere
Tierseuchenbekämpfung ermöglichen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1210 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkte 9 c und 9 d. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
15/1494 und 15/1596 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 a auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Kostenrechts
({0})
- Drucksache 15/1971 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts ({2})
- Drucksache 15/2403 ({3})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 15/2487 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Christoph Strässer
Rainer Funke
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/2488 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Heinz Köhler
Norbert Barthle
Alexander Bonde
Otto Fricke
Die Redner Christoph Strässer, Andreas Schmidt ({6}), Hans-Christian Ströbele, Rainer Funke und die
Ministerin Brigitte Zypries haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.1)
Wir kommen deshalb sofort zur Abstimmung über
den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Modernisierung des Kostenrechtes,
Drucksache 15/1971. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/2487, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? -
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Modernisierung des Kostenrechts. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2487,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/2403 für erledigt
zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom
6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur
Änderung des Hypothekenbankgesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksache 15/1853 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 15/2485 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Uwe Benneter
Bernhard Brinkmann ({9})
Marco Wanderwitz
Rainer Funke
Die Redner Bernhard Brinkmann ({10}),
Marco Wanderwitz, Leo Dautzenberg, Jerzy Montag,
Rainer Funke und der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Umsetzung der Richtlinie vom 6. Juni 2002 über Finanz-
sicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankge-
setzes und anderer Gesetze, Drucksache 15/1853. Der
Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2485, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
1) Anlage 4
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes
- Drucksache 15/2253 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({12})
- Drucksache 15/2492 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Die Redner Christine Lambrecht, Michaela Noll, Ute
Granold, Irmingard Schewe-Gerigk, Sibylle Laurischk
und Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des
Kindes, Drucksache 15/2253. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2492, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalition und der FDP
gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mögliche Interessenüberschneidungen bei der
Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundes-
anstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig
vermeiden
- Drucksachen 15/771, 15/2483 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hermann Kues
Die Redner Hans-Werner Bertl, Dr. Hermann Kues,
Markus Kurth und der Parlamentarische Staatssekretär
2) Anlage 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gerd Andres haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Nicht zu Protokoll gegeben hat seine Rede der Kollege
Dirk Niebel. Deshalb gebe ich ihm jetzt das Wort.
({14})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich verlässt die SPD den Saal, aber auch die Union und die Grünen wollen ja nicht zu dem Thema reden.
Die Skandale der Bundesagentur für Arbeit in den
letzten Wochen und Monaten haben gezeigt, dass die
Auswechslung des Kopfes an der Spitze einer Mammutbehörde nicht ausreicht, wenn das System das gleiche
bleibt. Ich habe - im Gegensatz zu meiner normalen
Art - heute einmal ein Redemanuskript mitgebracht, das
ich Ihnen zeigen möchte. Das Bild zeigt unter der Überschrift „Das Kartell der Blockierer“ Frau Dr. Ursula
Engelen-Kefer. Um nichts anderes als das geht es: Es
geht hier darum, ob das Kartell der Blockiererinnen und
Blockierer aufgelöst werden kann, um die Mittel der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler effizient zu verwenden. Dieses Bild ist aus der „Welt“ vom 27. Januar
2004; es trifft, glaube ich, den Kern des Themas.
Nach § 16 SGB X sind Interessenverquickungen
Ehrenamtlicher und Hauptamtlicher auseinander zu halten.
({0})
Auch wir sind der festen Überzeugung, dass man in den
Sozialversicherungssystemen allein den bösen Anschein
wahren muss.
({1})
Der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit umfasst fast
54 Milliarden Euro in diesem Jahr. Er enthält einen Eingliederungstitel von allein über 20 Milliarden Euro; das
ist so viel, wie die gesamte Bundeswehr bekommt. Über
die Jahre hinweg hat sich da eine Arbeitslosenindustrie
etabliert, die es gewohnt ist, dass immer mehr Milliarden
in das System gepumpt werden
({2})
und dass diese Milliarden dann innerhalb des Systems
- zwischen Arbeitgeberfunktionären, Gewerkschaftsfunktionären und öffentlichen Händen - immer wieder
verteilt werden, sodass faktisch eine Hand die andere
wäscht und alle schmutzig bleiben. Da muss man dem
bösen Schein entgegentreten und zumindest die übelsten, öffentlich für jeden nachvollziehbaren Verquickungen beenden.
({3})
Das wollen wir durch eine Änderung des Sozialge-
setzbuches sicherstellen. Wir wollen gesetzlich regeln,
1) Anlage 6
dass der Umstand, dass jemand ehrenamtlich bei Sozialversicherungsträgern tätig ist und eine hauptamtliche
Funktion innehat, bei der er die gleichen Interessen vertritt, ein Hinderungsgrund ist. Hier nennen wir explizit,
als Beispiel für viele andere, auch von der Arbeitgeberseite, Frau Dr. Ursula Engelen-Kefer, die seit 1978
- seit über einem Vierteljahrhundert - in führenden
haupt- und ehrenamtlichen Funktionen in dieser größten
deutschen Behörde tätig ist.
({4})
Die Dame war schon Vizepräsidentin, ist jetzt ehrenamtlich Verwaltungsratsvorsitzende und war noch bis zu
Beginn des letzten Jahres, Herr Schmidt, Aufsichtsratsvorsitzende des BFW des DGB, des Berufsfortbildungswerks des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des zweitgrößten Bildungsträgers in Deutschland.
Das Gleiche kann ich Ihnen auch für die Arbeitgeberseite aufzeigen. Nehmen Sie das Bildungswerk der
Bayerischen Wirtschaft und den Hauptgeschäftsführer
der Bayerischen Arbeitgeberverbände, der im Verwaltungsrat der BA ist, ebenso wie ein CSU-Staatssekretär
für Arbeitsmarktpolitik in Bayern, der natürlich qua Amt
schon die Aufgabe hat,
Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich
lasse jetzt auch keine Überschreitungen mehr zu.
- ich bin sofort am Ende; ich bin im letzten Satz -,
sich um die bayerische Wirtschaft zu kümmern.
Wir müssen dafür sorgen, dass derartige Verquickungen aufhören. Eine Dame, die - auch wenn Sie dem
nicht zustimmen wollen - ohnehin Fan der Frühverrentung ist, sollte uns den Gefallen tun, dieses Instrument
irgendwann für sich selbst einmal in Anspruch zu nehmen, damit wir hier klarmachen können: Die Mittel der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden vom
Parlament geschützt.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck-
sache 15/2483 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit
dem Titel „Mögliche Interessenüberschneidungen bei
der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt
für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig vermeiden“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/771
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ange-
nommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verena
Butalikakis, Annette Widmann-Mauz, Andreas
Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Früherkennung, Behandlung und Pflege bei
Demenz verbessern
- Drucksache 15/2336 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Gudrun Schaich-Walch, Helga KühnMengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Petra Selg,
Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demenz früh erkennen und behandeln - für
eine Vernetzung von Strukturen, die Intensivierung von Forschung und Unterstützung
von Projekten
- Drucksache 15/2372 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Redner Hilde Mattheis, Verena Butalikakis, Petra
Selg und Detlef Parr haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2336 und 15/2372 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Konsequenzen aus Dresdener Bombenfund
ziehen
- Drucksache 15/1238 -
1) Anlage 7
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
Die Redner Frank Hofmann ({5}), Günter
Baumann, Silke Stokar von Neuforn, Dr. Max Stadler
und Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1238 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Türk, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft AG erhalten
- Drucksache 15/817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Redner Christian Müller ({7}), Klaus
Hofbauer, Werner Schulz ({8}), Jürgen Türk und der
Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern
- Drucksache 15/2155 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({9})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Die Redner Annette Faße, Heidi Wright, Jürgen
Klimke, Klaus Brähmig, Winfried Hermann und Ernst
Burgbacher haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4)
2) Anlage 8
3) Anlage 9
4) Anlage 10
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann
Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Venezuela unterstützen - Freiheit der Medien und
wirtschaftliche Prosperität wiederherstellen
- Drucksache 15/2389 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Der Redner
der SPD, der Kollege Lothar Mark, hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1)
({11})
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort KlausJürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie würde
man einen Mann bezeichnen, der am 4. Februar 1992 genau 56 Menschen - nach der offiziellen Statistik - hat
umbringen lassen?
({0})
Dieser Mann ist heute der Präsident von Venezuela.
Vor dem Hintergrund eines solchen Vorganges und zu
einem Zeitpunkt, zu dem ein Land an der Schwelle zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Demokratie und
Diktatur steht, ist es schon bemerkenswert, dass sich für
einen Redebeitrag heute Abend zum Beispiel niemand
von der Bundesregierung verantwortlich fühlt.
({1})
Ich kann nur feststellen - man kann es ja nur so
interpretieren -: Die Bundesregierung macht einen Kotau vor einem autoritären Regierungschef.
({2}) Anlage 11
- Wieso nicht?
({3})
- Lieber Herr Kollege Ströbele, ich darf hier vorweg sagen: Ich habe Frau Müller heute Nachmittag, als sie hier
war, für die nächsten Tage gute Besserung gewünscht
und ihr auch gesagt, sie solle sich ruhig ein bisschen zurückhalten.
({4})
Der Punkt ist nur: Wenn der Redebeitrag der Bundesregierung von einem einzigen Mitglied abhängt, dann ist
das schon ein Armutszeugnis. Es muss doch ein paar
mehr Leute geben.
({5})
- Lieber Herr Kollege Ströbele, ich stelle mir so Ihren
Wortbeitrag zu einem umgekehrten Vorgang vor.
({6})
Der geschätzte Kollege Mark von der SPD kann - aus
welchen Gründen auch immer - nicht hier sein. Dass
sich die Kenntnisbreite der doch altehrwürdigen SPDBundestagsfraktion über Lateinamerika auf ein einziges
Mitglied konzentriert, ist ebenfalls ein bemerkenswerter
Vorgang.
({7})
Ich will noch etwas sehr Kritisches sagen: Vor kurzem
hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine große Solidaritätskundgebung für Chávez durchgeführt. Es sind zwar
nur zwei Abgeordnete, aber es ist doch bemerkenswert,
dass sie nicht bereit sind, für ihre antidemokratischen
Positionen hier im Deutschen Bundestag einzutreten.
Auch das sollte man den Bürgern sagen.
Worum geht es eigentlich? Ich kann mich hier nur
wiederholen: In unserer augenblicklichen Situation stehen wir an einem Scheideweg. Heute hat die Vorsitzende
einer neu gegründeten Partei des Regierungslagers der
Presse mitgeteilt, man sei bewaffnet, man werde die
Straße mobilisieren und ein Referendum - Peter Weiß
wird sich zu diesem Thema noch äußern - werde auf keinen Fall stattfinden. Das ist die gegenwärtige Politik in
diesem Land.
Es gibt darüber hinaus noch ein weiteres Problem. Venezuela wirkt im Augenblick destabilisierend auf die gesamte Region. Sie haben vielleicht verfolgt, dass der
Staatspräsident von Kolumbien heute und morgen in
Deutschland ist. Wie sich das gehört, wird er mit allen
Ehren von den Mitgliedern der Bundesregierung behandelt und empfangen.
({8})
Der Bundeskanzler wird für ihn morgen Mittag ein Arbeitsessen ausrichten. Auch die Vertreter aller Fraktionen, die hier in diesem Deutschen Bundestag vertreten
sind, werden mit Uribe sprechen.
({9})
Fakt in der Region ist, dass wir es mit einer Verknüpfung von Terrorismus, internationaler Kriminalität
und Drogenmafia zu tun haben. Diese wird weitestgehend durch die Guerilla-Strukturen in Kolumbien verkörpert. Das ist schon lange kein lokales Problem mehr.
Inzwischen ist es auch ein regionales und sogar darüber
hinausgehendes Problem, weil diese Fragen auch uns in
Europa unmittelbar berühren.
({10})
Mittlerweile arbeiten fast alle Nachbarn - Ecuador
mit seiner instabilen Regierung, aber nichtsdestotrotz,
Peru, das große und wichtige Land Brasilien und Panama - bei der Bekämpfung der Guerilla und der Eindämmung des Terrorismus in dieser Region aufs Engste
mit der kolumbianischen Regierung zusammen. Das einzige Land, das sich dieser Zusammenarbeit entzieht, ist
Venezuela mit seinem Staatschef Chávez.
({11})
- Nein, ich habe gesagt, dass das wichtige Land Brasilien aufs Engste mit Kolumbien zusammenarbeitet.
({12})
- Brasilien arbeitet bei der Bekämpfung der Guerilla
aufs Engste mit Kolumbien zusammen. Chávez verweigert sich dieser Zusammenarbeit und macht sich damit
nicht nur am eigenen Lande schuldig. Er macht sich damit gleichzeitig auch schuldig, destabilisierend auf die
gesamte Region zu wirken und damit die radikalen und
extremistischen Kräfte in der Region zu unterstützen.
Dies ist eine inakzeptable Vorgehensweise.
({13})
Es wäre angemessen gewesen, wenn die Bundesregierung diesem Plenum deutlich gemacht hätte, dass sie in
keiner Weise bereit ist, so etwas zu dulden.
Ich will mit einem durchaus leicht versöhnlichen Aspekt schließen. Es hat lange genug gedauert, bis die Bundesregierung überhaupt etwas zu der Situation gesagt
hat. Man kann nur empfehlen, darauf zu achten, die internationalen Institutionen, das Carter-Zentrum und die
Organisation Amerikanischer Staaten zu unterstützen,
damit die Demokratie in Venezuela jetzt eine faire
Chance erhält. Bis heute - so können wir feststellen befindet sich das Land in Turbulenzen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass keine diktatorischen Strukturen
marxistischer, bolivarischer und sonstiger spleeniger Art
die Oberhand gewinnen. Es geht um die Frage: Hat die
Demokratie in Venezuela eine Chance oder nicht? Hier
sollte der Bundestag Farbe bekennen.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beeile mich, weil es schon sehr spät ist.
Herr Kollege Hedrich, Sie verlangen von der Bundesregierung, die böse Regierung in Venezuela, die Sie
gerade in die Nähe einer Diktatur gestellt haben,
({0})
zu bewegen, zu ermahnen, zu etwas zu drängen, ihr etwas zu verdeutlichen und was sonst noch alles. Soweit
ich gehört habe, war Herr Kollege Hedrich, waren Sie
vor ein paar Monaten, nämlich im Oktober vergangenen
Jahres, hier in Berlin zu einer Konferenz des Ibero-Amerikanischen Instituts eingeladen. Dort waren sowohl Anhänger von Herrn Chávez als auch der gesamten Opposition in Venezuela vertreten. Sie, Herr Hedrich, haben
dort Ihre Vorstellungen vorgetragen. Daraufhin ist der
Wortführer nicht der Regierung in Venezuela, sondern
der venezolanischen Opposition, Teodoro Petkoff, aufgestanden und hat unter mächtigem Applaus der gesamten Versammlung erklärt, dass die Sichtweise der Situation in Venezuela, wie Sie sie dargestellt haben, eine
Beleidigung für alle Versammelten und das Volk in Venezuela darstellt.
({1})
Sie sollten sich das einmal hinter die Ohren schreiben
und einen Antrag einbringen, der der Situation in Venezuela gerecht wird.
({2})
Ich bestreite nicht, dass die Lage dort problematisch
und besorgniserregend ist. Ich bestreite auch nicht, dass
Herr Chávez ein Populist ist,
({3})
der es mit der Pressefreiheit in weiten Bereichen nicht
so genau nimmt
({4})
und für deutsche Demokraten wahrlich kein Sympathieträger ist. Das ist völlig richtig. Sie aber argumentieren
einseitig. Sie kritisieren zum Beispiel in Ihrem Antrag,
dass der Präsident an vielen Sonntagen mehrere Stunden
lang im staatlichen Fernsehen redet und wie ein Conférencier oder ein Star die ganze Sendezeit für seine Zwecke missbraucht. Sie erwähnen jedoch nicht, dass es in
Venezuela vier private Kanäle und zehn Zeitungen gibt.
Von den zehn Zeitungen stehen neun und von den vier
privaten Kanälen alle aufseiten der Opposition und sind
Chávez-kritisch. Deshalb kann von einem Meinungsmonopol überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich gibt es
dort eine sehr kräftige und lautstarke Opposition.
Was ich Ihnen aber am meisten vorwerfe, ist, dass Sie
sich mit der Opposition überhaupt nicht auseinander setzen. Chávez konnte seine großen Wahlsiege nur erzielen,
weil die Opposition im ökonomischen und demokratischen Sinne völlig versagt hat. Herr Chávez hat nach seiner ersten Wahl zunächst einmal eine Verfassung in diesem Land installiert, die von allen anerkannt und nicht
einmal von der Opposition kritisiert wird. Das Referendum, das jetzt angestrebt wird, steht zum ersten Mal in
dieser Verfassung. Herr Chávez selbst hat es möglich gemacht, dass ein Referendum über die Präsidentschaft
stattfinden kann.
Die Opposition in Venezuela hat genauso versagt wie
die Regierung selber. Deshalb können Sie sich nicht einseitig auf die Seite der Opposition stellen, ohne auch
dort Kritik anzuwenden. Sie sollten es mit dem ehemaligen US-Präsidenten Carter halten, der deutlich gesagt
hat, das Referendum und Chávez’ sofortige Machtentziehung sei in der gegenwärtigen Situation wahrscheinlich das Falsche. Sie dürfen nicht vergessen, wie die Situation nach dem Putsch im April letzten Jahres gewesen
ist. Damals hat sich die Opposition ganz deutlich diskreditiert. Nachdem sich der Vorsitzende der Arbeitgebervereinigung selbst zum Präsidenten ernannt hatte, war
seine erste Amtshandlung die Auflösung des Parlaments.
Die Behauptung, dass Chávez’ selber auf sein Präsidentenamt verzichtet habe, war gelogen. Die Massen
sind damals auf die Straße gegangen und haben die
Rückkehr Chávez’ in die Regierung erzwungen. Das
heißt, er hat nach wie vor eine sehr breite Unterstützung
im Land. Nach Umfragen beträgt sie etwa 30 Prozent.
Der Führer der Opposition, der Präsident werden will,
hat vielleicht 1 Prozent der Stimmen hinter sich. Das
muss doch Gründe haben.
Die Opposition, die vorher an der Regierung war, hat
total versagt, gerade im sozialen Bereich. Sie hat das
Volk arm gemacht und dazu beigetragen, dass das Einkommen der Bevölkerung im Durchschnitt um 1 Prozent
pro Jahr gefallen ist. Deshalb ist die Lösung, die Sie vorschlagen, genau die falsche.
Die sehr angesehene „Neue Zürcher Zeitung“ hat
vor anderthalb Monaten dazu geschrieben:
Chávez sitzt wohl deshalb noch im Sattel, weil die
Opposition nicht als bessere Alternative angesehen
wird. Sie ist in den Augen vieler noch immer die
Nachhut der alten Kasten, die ihre Unfähigkeit hinreichend bewiesen haben, das Land sozial ausgeglichen voranzubringen.
Immerhin sinkt das Pro-Kopf-Einkommen nicht erst seit
Chávez, sondern schon vorher.
({5})
Wenn Sie keine Alternative aufzeigen können, sollten
Sie es mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten
halten, der vorgeschlagen hat, dass man die Amtszeit des
Präsidenten in Venezuela einschränkt und jetzt kein Referendum macht, sondern der Opposition die Möglichkeit gibt, einen eigenen Kandidaten aufzubauen und ein
inhaltliches Profil zu entwickeln. Dann hätten sie auch
den sehr populären und von ihnen geschätzten Präsidenten Lula aus Brasilien auf ihrer Seite, von dem sie wissen,
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
- dass er bei Chávez ein- und ausgeht und zwar nicht
diesen Präsidenten, aber eine Dialoglösung in diesem
Lande unterstützt. Ihr Antrag ist überhaupt nicht hilfreich. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Löning,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir uns mit Venezuela
auseinander setzen. Es ist ein potenziell sehr reiches
Land und im Begriff, von seinem Präsidenten ruiniert zu
werden. Das muss man ganz klar festhalten.
({0})
- Herr Ströbele, ich finde, es ist ein dickes Ding, wie Sie
ihn hier verteidigen.
({1})
Das ist ein Mann, der dabei ist, die Ressourcen seines
Landes zu verschleudern.
({2})
Das ist ein Mann, der den Mittelstand in seinem Land
zerstört hat. Es gibt keinen Mittelstand mehr in diesem
Land. Sie verteidigen diesen Mann hier. Sie müssen sich
auch einmal von Schimären verabschieden, wenn die
Entwicklung so offensichtlich ist.
({3})
Statt die Armut zu bekämpfen, hat Chávez den Mittelstand zerstört. Statt den Ölreichtum Venezuelas einzusetzen, hat er den Ölreichtum verschwendet.
({4})
Statt die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, spielt
er Arm gegen Reich aus. Anstatt sein Land vernünftig zu
entwickeln, spielt er die Leute gegeneinander aus. Sie
stellen sich hierhin und verteidigen das. Das ist doch
keine Art, Herr Ströbele. Ich verstehe das nicht.
({5})
Ein Punkt ist die Devisenbewirtschaftung. Das Land
hat einen großen Bestand an Devisenreserven.
({6})
- Nein, es hat einen großen Bestand an Devisenreserven. - Die Devisen werden nicht für das eingesetzt, was
das Land braucht. Sie werden nicht eingesetzt, um die
Armut zu bekämpfen. Stattdessen wird das, was an potenziellem Reichtum da ist, nach außen hin abgeschottet.
Venezuela ist das klassische Beispiel für ein Land, das
viele Ressourcen hat und dessen Volk einen vernünftigen
Bildungsgrad hat, das aber nicht davon profitieren kann,
weil es von den Weltmärkten abgeschottet wird. Venezuela ist ein Beispiel für ein Land, das nicht an der Globalisierung teilnimmt und sich dadurch selbst zugrunde richtet. Und Sie verteidigen den Mann, der dafür
verantwortlich ist und versucht, das Land zu ruinieren.
({7})
Lassen Sie mich auf das Referendum zurückkommen, Herr Ströbele. Ich finde sehr interessant, dass Sie,
der bei jeder Gelegenheit Referenden und Volksbefragungen propagiert,
({8})
jetzt, da ein Referendum stattfinden soll, sagen, das sei
ein falsches Signal und wir brauchten kein Referendum.
Natürlich brauchen wir ein Referendum und wir werden
sehen, wie Herr Chávez damit umgeht und ob er akzeptiert, dass ein Referendum stattfinden soll.
({9})
Es sollte von hier ein Aufschrei der Empörung losgehen,
wenn er das nicht akzeptiert. Wir werden in den nächsten
Tagen sehen, ob er es akzeptiert.
Wenn er es nicht akzeptiert, Herr Ströbele, dann erwarte ich gerade von Ihnen, den Grünen, dass Sie aufstehen und deutlich sagen, dass es eine Mehrheit für das
Referendum gibt, das wir dann auch von hier aus unterstützen sollten. Wir werden Sie daran erinnern.
({10})
Ich denke, es geht nicht an, bei jeder Gelegenheit
Volksbefragungen zu fordern, aber in diesem Fall die
Meinung zu vertreten, dass das Referendum nicht unbedingt nötig sei.
({11})
Letzter Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Venezuela ist in der Tat - darauf deutet alles hin ein Land, das politisch und wirtschaftlich am Abgrund
steht. Das ist nicht nur eine Frage der Innenpolitik Venezuelas; vielmehr hat das, was dort geschieht, weit reichende regionale und internationale Auswirkungen.
Deswegen kann es kein Verständnis für Ihre abwiegelnde Rede geben, Herr Kollege Ströbele.
Richtig ist: Chávez wäre nie ins Amt gekommen,
wenn nicht frühere Regierungen und politische Gruppierungen in diesem Land versagt hätten, vor allem in der
sozialen Frage.
({0})
Das ist richtig. Aber das Versagen früherer Regierungen
kann und darf niemals eine Legitimation dafür sein, dass
nun ein Regierungschef wie Chávez zusehends antidemokratisch und autoritär regiert und die Demokratie in
Venezuela - ich sage das so deutlich - abschaffen will.
({1})
Dagegen muss sich unser deutlicher Protest erheben.
({2})
Natürlich ist ihm die von Ihnen angesprochene oppositionelle Presse ein Dorn im Auge. Deswegen will er
die Pressefreiheit einschränken. Natürlich ist ihm die
Opposition ein Dorn im Auge. Deswegen will er die parlamentarischen Rechte aushebeln.
Als der Kollege Hedrich und ich in der vergangenen
Woche in Venezuela waren, haben uns venezolanische
Oppositionsabgeordnete eine Resolution überreicht, in
der sie die Parlamentarier in Deutschland und in Europa
dringend um Hilfe bitten, weil Chavéz erreichen will,
dass selbstverständliche parlamentarische Rechte, die
bei uns gelten, vor allem die Minderheitenrechte der
Opposition, beschnitten werden. So soll die Zusammensetzung des obersten Gerichts künftig mit einfacher
Mehrheit beschlossen werden können. Sie haben uns angerufen, ihnen zu helfen, dass dieses Attentat auf die
Peter Weiß ({3})
parlamentarische Demokratie in Venezuela verhindert
wird.
({4})
So unterschiedliche Auffassungen wir auch vertreten
und so unterschiedlich wir Chávez und seine Politik bewerten, so sollten wir uns doch um der Selbstachtung als
Parlamentarier willen über alle Fraktionen hinweg in
einem Punkt einig sein: Wenn uns Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen um Hilfe bitten, wenn ihre selbstverständlichen parlamentarischen Rechte, wie sie jeder
von uns im Bundestag hat und wie sie sich jeder für das
Parlament eines demokratischen Landes wünscht, beschnitten werden sollen, dann sollte ihnen unsere eindeutige und uneingeschränkte Solidarität gelten.
({5})
Chávez war in der Tat in politischer Hinsicht eine
Hoffnung für die Armen. Deshalb ist er ins Amt gekommen. Aber Chávez ist längst zu einem Risiko für die Armen in seinem Land geworden. Mittlerweile leben
36 Prozent der Venezolaner unterhalb der Armutsgrenze;
sie haben also täglich weniger als 1 US-Dollar zum Leben. Insgesamt 81 Prozent der Venezolaner müssen als
arm oder kritisch arm bezeichnet werden.
Auf den Straßen von Caracas und in den Städten und
Dörfern Venezuelas ist mit Händen zu greifen und zu erleben, wie die Zahl der fliegenden Händler in den vergangenen Monaten dramatisch zugenommen hat. Das
heißt, die Schwarzarbeit breitet sich aus, während die legale Beschäftigung im offiziellen Sektor dramatisch
sinkt. Kollege Löning hat bereits erwähnt, dass vor allem
die kleinen und mittleren Unternehmen massiv in ihrer
Existenz gefährdet sind.
Politisch ist das Land tief gespalten. Durch alle gesellschaftlichen Schichten und durch die Familien geht
ein immer tieferer Riss zwischen Chávinisten und
Gegnern des derzeitigen Präsidenten. Aufgabe eines Präsidenten wäre es, das Volk zusammenzuführen und einen
Konsens zu bilden. Dieser Präsident aber macht das
Gegenteil: Er spaltet das Land weiter zuungunsten der
Lebensbedingungen der Menschen in Venezuela.
({6})
Er heizt den politischen Konflikt zusätzlich an, schafft
Parallelstrukturen zu den bestehenden Institutionen und
- ich habe es bereits erwähnt - setzt dazu an, die Rechte
des Parlaments auszuhebeln.
Eine Lösung des tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Konflikts in Venezuela mit seinen negativen
Auswirkungen auf die gesamte Region kann das Referendum bringen. Morgen ist eigentlich der Tag, an dem
die Zulassung des Referendums offiziell festgestellt werden soll. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Debatte
führen. Das Referendum ist in der Verfassung vorgesehen. Die Opposition hat dafür 3,5 Millionen Unterschriften gesammelt. Das ist ein ausreichendes Quorum. Derzeit prüft der unabhängige Wahlrat die Unterschriften.
Wie wird die Regierung Chávez damit umgehen? Die
von ihren Anhängern inszenierte Begleitmusik lässt
Schlimmstes befürchten. Öffentlich erklären Mitglieder
der Regierung Chávez, dass das Referendum auf keinen
Fall zustande kommen dürfe, dass man notfalls
2 Millionen der 3,5 Millionen Unterschriften für ungültig erklären müsse, dass man sogar mit Gewalt gegen ein
mögliches Referendum vorgehen müsse. Die von der
Opposition gestellten Mitglieder des Wahlausschusses
werden von der politischen Polizei bespitzelt. Ihre Telefonate werden abgehört.
Wenn es nicht zu diesem Referendum kommt, dann
verliert die Regierung Chávez, so behaupte ich, den letzten Anschein demokratischer Legitimation und beschreitet Venezuela den Weg einer autoritären Diktatur. Wir
sollten gemeinsam versuchen, das zu verhindern.
Herr Kollege Weiß, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Natürlich, Frau Präsidentin. - Alle Beobachter sagen
uns, das Einzige, worauf Chávez reagiere, sei internationaler Druck. Unsere Verantwortung als Europäer und als
Deutsche ist, einen solchen Druck aufzubauen, durch
den vielleicht Chávez und Venezuela noch kurz vor dem
Abgrund auf den Weg der Besserung gebracht werden
können.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.