Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/12/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Kollege Ortwin Runde feiert heute seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, dass die Kollegin Christine Scheel als ordentliches Mitglied aus dem Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ausscheidet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Antje Hermenau, die bisher stellvertretendes Mitglied war, vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll die Kollegin Kerstin Andreae werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Kollegin Antje Hermenau als ordentliches und die Kollegin Kerstin Andreae als stellvertretendes Mitglied für den Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vorgeschlagen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({2}) - Drucksache 15/2468 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dirk Niebel, Daniel Bahr ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Genfer Abkommen als Ausdruck zivilgesellschaftlicher Friedensinitiative unterstützen - Drucksache 15/2195 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung? ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny Mayer ({6}), Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von HIV/Aids verstärken - Drucksache 15/2465 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Markus Löning, Dr. Guido Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen - Drucksache 15/2469 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner ({9}), Brigitte Wimmer ({10}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Roth ({11}), Volker Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen - Drucksache 15/2479 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({13}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen im Iran - Drucksache 15/2481 Redetext Präsident Wolfgang Thierse Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Sodann sollen die Tagesordnungspunkte 6 und 8 getauscht sowie der Tagesordnungspunkt 10 b - Handelsregistergebühren-Neuordnungsgesetz - abgesetzt werden. Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Finanzausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen ({14}) - Drucksache 15/2328 überwiesen: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in Moldau unterstützen - Drucksache 15/1987 überwiesen: Auswärtiger Ausschuss ({16}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 2004 der Bundesregierung Leistung, Innovation, Wachstum - Drucksache 15/2405 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({17}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 2003/2004 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Drucksache 15/2000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18}) Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005291

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wichtigste Botschaft des Jahreswirtschaftsberichts klingt zwar sehr einfach, ist aber sehr wichtig: Das vor uns liegende Jahr wird besser als das hinter uns liegende. ({0}) Der Horizont reißt auf. Ich vermute, in wenigen Monaten werden wir und auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, anders über unser Land diskutieren als in den vergangenen Monaten und Jahren. ({1}) Vielleicht werden wir in einigen Monaten sogar mit etwas mehr Selbstbewusstsein als heute feststellen, dass wir in Deutschland die Kraft zum Turnaround gefunden haben. Das ist außerordentlich wichtig. ({2}) Ich sage Ihnen: Dann wird die Zeit des Mitmachens kommen und die Miesmacher werden gehen. Das ist die Phase, auf die wir uns freuen. ({3}) Dem möchte ich gleich zu Anfang etwas hinzufügen, was mich freut und was vermutlich - jedenfalls hoffe ich das - viele freut: In der letzten Nacht bzw. heute Morgen ist eine Einigung in der baden-württembergischen Metallindustrie zustande gekommen. Ich freue mich über diese Einigung von Herzen. ({4}) Ich möchte Ihnen auch sagen, warum mich das so freut: Durch die überraschend rasche Einigung dürfte die Streikgefahr gebannt sein. Das ist für unser Land in der gegenwärtigen Phase wichtig. Es wurde eine Einigung über einen Tarifabschluss erzielt, der 26 Monate gelten wird und - wenn man genau nachrechnet - Lohnerhöhungen von gut 2 Prozent vorsieht. Das heißt: Diese Tarifeinigung gibt allen Beteiligten Planbarkeit und Kalkulierbarkeit. Es ist ein Abschluss, der Flexibilität ermöglicht in Form einer betrieblichen Option, nämlich durch eine Vereinbarung zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat. In Zukunft ist es für sechs Monate möglich, dass nicht mehr nur 18 Prozent der Belegschaft, sondern 50 Prozent der Belegschaft auf die 40-Stunden-Woche gehen, wenn - es ist etwas komplizierter formuliert - die Auftragslage in dem jeweiligen Unternehmen das erfordert. Zugleich ist eine zweite Form einer tarifvertraglichen Option eröffnet, nämlich über den Beschäftigungssicherungstarifvertrag der Metallindustrie entsprechende Regelungen treffen zu können. Meine Damen und Herren, ich betrachte diese Einigung als einen echten Fortschritt der Metalltarifparteien. Sie ist eine Innovation der tariflichen Politik; ich begrüße sie deshalb ganz besonders. ({5}) Diese Einigung ist auch ein hervorragender Beweis, dass die Konsensfähigkeit in unserem Land doch noch vorhanden ist, und ein Beweis für die Bereitschaft der IG Metall und der Arbeitnehmer, auf die berechtigten Erwartungen der Wirtschaft zu mehr Flexibilität einzugehen. In diesem Fall war es die Bereitschaft der Arbeitnehmer und der IG Metall in Baden-Württemberg; aber ich gehe davon aus, dass diese Einigung, wie die IG Metall es nennt, Pilotfunktion für die Abschlüsse in der gesamten Bundesrepublik hat. Ich denke und hoffe, dass diese Tarifvereinbarung ein Vorbild für die anderen Tarifbezirke der Metall- und Elektroindustrie sein wird. Damit wäre die Streikgefahr in der Metallindustrie dann endgültig gebannt. Diese Einigung ist ebenso eine Bestätigung für das Vertrauen, das wir in die Tarifvertragsparteien gesetzt haben und setzen. ({6}) Sie können sich verständigen. Es bestätigt sich, was wir immer wieder gesagt haben und was auf diesem Feld, aber auch auf anderen Feldern gilt - ich sage das zu Ihnen, Herr Kollege Merz, aber auch zu anderen bei Ihnen -: Einigungen aus freien Stücken sind immer besser als gesetzliche Regelungen, im tariflichen Bereich erst recht! ({7}) Ich betrachte dies als eine Bestätigung des Weges, den der Bundeskanzler eingeschlagen hat und den wir mit ihm eingeschlagen haben. Für mich ist das ein glänzender Einstieg der Tarifvertragsparteien der Metallindustrie - glänzend und insbesondere überraschend. Es ist ein glänzender Einstieg in dieses Jahr, das ein Jahr der wirtschaftlichen Erholung werden soll und werden muss, ein Jahr des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs für Deutschland. Das können wir schaffen. Dazu bietet dieser Tarifvertrag eine weitere Voraussetzung. Meine Damen und Herren, der Aufschwung, den wir für dieses Jahr erwarten, kommt zunächst einmal im Schlepptau der Weltkonjunktur, die vor allem von den USA und von China getragen wird. Der Welthandel wird in diesem Jahr um 7 bis 8 Prozent wachsen, damit doppelt so stark wie im letzten Jahr. Davon wird auch die deutsche Wirtschaft profitieren; sie ist stark bei Ausrüstungs- und bei Investitionsgütern, die am Beginn eines Aufschwungs immer besonders gefragt sind. Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist - entgegen dem, was vielfach verbreitet wird, auch von Teilen dieses Hauses, aber nicht nur, sondern auch weit darüber hinaus - so gut wie seit langem nicht mehr. Die Auftragsbücher der deutschen Unternehmen sind, generell gesprochen, wieder gut gefüllt. ({8}) Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe zieht wieder an. Das Geschäftsklima bessert sich schon seit Monaten: Ungeachtet des hohen Eurokurses liegt der Ifo-Geschäftsklimaindex auf dem höchsten Stand der vergangenen drei Jahre. Auch im Ausland setzen wieder mehr Investoren auf unser Land: In den ersten drei Quartalen 2003 flossen 24,3 Milliarden Euro mehr Direktinvestitionen nach Deutschland herein als aus Deutschland herausgingen. Im gesamten Jahr 2002 betrug dieser Saldo nur 6,9 Milliarden Euro. 2001 war er sogar negativ. Dagegen sind wir jetzt deutlich im Plus. All das zeigt: Die Investoren im Ausland - wie vermutlich und hoffentlich auch die Menschen im Inland - fassen wieder Vertrauen in den Standort Deutschland. ({9}) Die strukturellen Reformen der Bundesregierung haben die Voraussetzungen verbessert, dass der in Gang gekommene Aufschwung eine gute Basis hat. Vor diesem Hintergrund ist es mir unbegreiflich, meine Damen und Herren - ich sage das ganz offen -, wie jemand heute davon reden kann, die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung sei gescheitert. ({10}) Sie wird vielmehr bestätigt, von den in- und ausländischen Experten genauso wie von den Fakten, die wir in Deutschland und darüber hinaus feststellen können. ({11}) Wir haben es Ihnen schon oft genug gesagt - es mag Ihnen nicht passen -: Die Zeiten ändern sich: Der Anstieg kommt langsam, aber er kommt. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Alles in allem erwarten wir ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von real 1,5 bis 2 Prozent, spitz gerechnet von 1,7 Prozent. ({12}) Das ist dann deutlich mehr als in den drei Jahren zuvor und mehr als das Durchschnittswachstum der 90er-Jahre, trotz des Booms durch die Einheit zu Beginn und des vermeintlichen Technologiebooms am Ende des vergangenen Jahrzehnts. Die rote Wachstumslaterne, die wir in Europa getragen haben, sind wir los, und das trotz diverser Sonderlasten, die wir in Deutschland durch den Aufbau Ost und durch die relativ hohen Realzinsen in der Europäischen Währungsunion zu tragen haben. Meine Damen und Herren, ich will nicht verschweigen, dass es, wie bei jeder Projektion, natürlich auch bei dieser Risiken gibt. Insgesamt stimmen aber eigentlich alle Fachleute mit uns überein, dass im Vergleich zum Vorjahr die Chancen deutlich größer sind als die Risiken. Die Lage am Arbeitsmarkt wird sich in diesem Jahr verbessern, der wirkliche Durchbruch steht allerdings erst 2005 bevor. Zumindest wird der seit langem anhaltende Beschäftigungsabbau allmählich zum Stillstand kommen. In der zweiten Jahreshälfte wird die Zahl der Erwerbstätigen wieder zunehmen, wenngleich sie im Jahresdurchschnitt annähernd auf dem Vorjahresniveau verharren dürfte. Die Arbeitslosenzahl wird weiter sinken. Das ist ein Ergebnis unserer Arbeitsmarktreformen. 250 000 Menschen haben sich in Deutschland im vergangenen Jahr aus der Arbeitslosigkeit heraus selbstständig gemacht, insgesamt waren es 500 000 Menschen. Aufgrund dieser und anderer Reformen wird die Arbeitslosenzahl weiter sinken. Ab Sommer wird sie sich aber auch im Zuge der konjunkturellen Belebung verringern. Wir rechnen im Jahresdurchschnitt 2004 mit einem Absinken der Arbeitslosenzahl im Jahresdurchschnitt um 100 000. Meine Hoffnung ist, dass wir im Spätsommer endlich die 4-Millionen-Marke berühren und sie vielleicht sogar unterschreiten können. Die Entwicklung, die wir absehen können, lässt keinen Zweifel: Der von uns eingeschlagene Kurs stimmt. Das Potenzial für Wachstum und Wohlstand ist vorhanden. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist allen Herausforderungen zum Trotz hoch. Anders als in den USA, die ich um ihre Wachstumsraten gelegentlich beneide, führen wir den Turnaround nicht durch exorbitante Überschuldung mit hohen langfristigen Risiken herbei ({13}) - ziehen Sie nur einmal einen Vergleich mit den USA! -, sondern durch eine verantwortungsvolle Nutzung der Spielräume, die konjunkturell gegeben sind, und durch die gleichzeitig eingeleiteten Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen, die vertretbar waren und sind. Ich füge hinzu: Dieses Potenzial dürfen wir nicht verspielen. Wir haben den Weg der Strukturreformen eingeschlagen und müssen ihn jetzt konsequent weitergehen, so wie es im Jahreswirtschaftsbericht beschrieben ist. Die Reformen im Rahmen der Agenda 2010 sind nicht beendet. Der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, und zwar europafähig, demokratiefest und sicher hinsichtlich der Globalisierung, ist noch in vollem Gange. Dabei gilt es, die wirtschaftlichen Risiken im Auge zu behalten, die ein hohes Maß an Verantwortung und Besonnenheit erfordern. ({14}) Zum einen muss der Wechselkurs, also das Verhältnis des Dollar zum Euro, in einem vernünftigen und für die Gesamtwirtschaft verträglichen Korridor gehalten werden. Es geht nicht an, dass die Eurozone die Lasten der notwendigen und überfälligen Anpassung des Dollar weltweit alleine trägt, ({15}) während zum Beispiel die japanische Notenbank den Druck auf den Yen zumindest teilweise kompensiert. Ich begrüße deshalb die Erklärungen der G-7-Finanzminister von Boca Raton, die die Verantwortung auch des fernöstlichen Wirtschaftsraumes hervorheben. Wichtig ist natürlich, dass zu gegebener Zeit den Worten auch Taten folgen. Zweitens. Die Lohnstückkosten müssen auch weiterhin moderat bleiben. Die Tarifpolitik muss die im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union immer schärfer werdende Kostensituation am Standort Deutschland durch erhöhte und zusätzliche Flexibilität ausgleichen. Dazu gibt es keine Alternative. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, dass es bei den Tarifverhandlungen in der Metallbranche zu einer Einigung kommt. Drittens. Wenn man über Risiken spricht, dann muss denjenigen, die in der Wirtschaft und in der Politik Verantwortung tragen, klar sein, dass auch sie ihren Beitrag leisten müssen, damit sich der beginnende Aufschwung Bahn brechen kann. Ja, es geht auch darum, psychologisch die Weichen für einen lang anhaltenden Aufschwung zu stellen, durch den ab 2004/2005 auch die festgefressene Langzeitarbeitslosigkeit gesenkt wird. Es geht in Deutschland um berechtigte Zuversicht statt um banges Zuwarten, Nörgeln und Nölen. Wir müssen endlich die Kraft zum Aufschwung finden. ({16}) Wir haben schon einiges erreicht. Insbesondere ist es gelungen, in der Steuerpolitik ein international wettbewerbsfähiges Einkommensteuerrecht zu entwickeln. Mit einer volkswirtschaftlichen Steuerquote von jetzt 20,9 Prozent liegen wir international im unteren Bereich. Noch 1995 waren es 23,1 Prozent. Steuervereinfachungen haben deshalb jetzt Vorrang vor vielleicht wünschbaren, aber nicht finanzierbaren weiteren Steuersatzsenkungen, deren Gegenfinanzierung in der Luft hinge. Es geht jetzt um verlässliche Rahmenbedingungen. ({17}) Offene und flexible Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmärkte sind genauso wie Klarheit und Verlässlichkeit im Hinblick auf die Finanzierung der sozialen Sicherung zentrale Voraussetzungen für eine höhere Beschäftigungsdynamik und für das Einschwenken auf einen dauerhaft höheren Wachstumspfad. Deswegen müssen die Reformen gemäß der Agenda 2010 fortgeführt werden. Angesichts der Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben - Abbau der Arbeitslosigkeit, Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Erweiterung der Europäischen Union, Aufbau Ost in Deutschland und demographische Entwicklung -, können und werden wir uns keinen Reformstopp leisten. Ansonsten würden wir kein höheres Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft erreichen, also ein Wachstum ohne inflationäre Verspannungen. Aber dieses Ziel verfolgen wir. Deshalb muss auch der Prozess der Absenkung der Lohnnebenkosten weitergeführt werden. Wir verfolgen weiterhin das Ziel, die Quote der Sozialversicherungsbeiträge in überschaubarer Zeit auf 40 Prozent des beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelts zu senken. ({18}) Zum höheren Wachstum der Produktivität tragen vor allem Investitionen in Bildung und Wissenschaft bei. Wir setzen auf das Wissen und die Kompetenz der Menschen und auf die Innovationskraft der Unternehmen. Das sind unsere wichtigsten Ressourcen. Derzeit geben Staat und Wirtschaft in Deutschland - die öffentlichen Hände und die Wirtschaft tun das gemeinsam - zusammen etwa 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aus. Gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäischen Union wollen wir diese Quote bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent erhöhen. Das ist eine große Herausforderung und erfordert ein enges Zusammenwirken aller verantwortlichen Gruppen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik und aller öffentlichen Hände. Das ist das Kernstück der Initiative „Partner für Innovationen“, die der Bundeskanzler auf den Weg gebracht hat. ({19}) Mir ist in diesem Zusammenhang ein Hinweis besonders wichtig: Aus meiner Sicht reden wir bei Innovationen nicht allein und nicht einmal in erster Linie über neue Produkte und neue Technologien, sondern wir reden über Menschen, Köpfe, Können und Qualifikationen. Deshalb reden wir auch über Motivation, Leidenschaft, Begeisterung und die Lust, Neues auszuprobieren und zu wagen und dabei auch Verantwortung zu übernehmen. Das kann die Politik nicht allein schaffen. Sie kann das aber anstoßen und voranbringen, indem sie beispielsweise den Generationen, die nach uns kommen und die zu den am besten qualifizierten Generationen in der Geschichte Deutschlands gehören, mehr materielle und administrative Freiräume für das Denken, Forschen und Kreieren sowie für das Gründen von Unternehmen gibt. Eigenverantwortung und Eigeninitiative sind wesentliche Antriebskräfte für die wirtschaftliche Dynamik, die wir jetzt entfachen müssen und auch können. ({20}) Wir wollen und wir müssen Deutschland in einem welt- und gesamtwirtschaftlichen Umfeld, das sich immer günstiger darstellt, auf dem Wachstumspfad weiter nach vorne in die Weltspitze bringen, wohin es auch gehört. Das ist neben anderem die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir die viel zu hohe Arbeitslosigkeit endlich überwinden können. Das ist der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme in unserem Land. Ich sage - so steht es auch im Jahreswirtschaftsbericht -: Wir sind endlich wieder auf dem Weg voran. Meine Bitte und meine Einladung ist: Gehen Sie mit auf diesem Weg für die Bundesrepublik Deutschland! Ich danke Ihnen sehr. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Rede des Bundeswirtschaftsministers war erkennbar in erster Linie nicht an die deutsche Öffentlichkeit, sondern an die eigene Fraktion und Partei gerichtet, ({0}) die ganz offensichtlich immer größere Schwierigkeiten haben, dem Kurs des Bundeswirtschafts- und -arbeitsministers zu folgen. Herr Clement, wenn Sie in Ihrer Rede von Innovationen sprechen - wer will Ihnen da widersprechen? - und dies mit dem Appell zu Lust und Leidenschaft verbinden, dann ist das wirklich bemerkenswert; denn auch das richtet sich an Ihre eigene Bundestagsfraktion und bei weitem nicht an die deutsche Wirtschaft. Diese ist weiter als große Teile Ihrer Fraktion. Das wissen Sie und das konnte man auch heute Morgen in Ihrem Beitrag sehr deutlich spüren. ({1}) Nun ist in der Bundesregierung niemand so sehr zum Optimismus geradezu verurteilt wie der Bundeswirtschaftsminister. Sie müssen sagen - das gehört zu Ihrer Aufgabe -, dass es gute Perspektiven und Chancen gibt. ({2}) - Zahlen lesen, das wollen wir gerne tun, Frau Kollegin. Lassen Sie uns doch einfach vergleichen, was der Bundeswirtschaftsminister im letzten Jahr zu ungefähr dieser Zeit von diesem Pult aus über die Entwicklung des Jahres 2003 erklärt hat. Ich habe heute Morgen übrigens einige Versatzstücke wiedergefunden; das ist ja an sich nicht zu kritisieren. Wie war die Situation im letzten Jahr, als Sie zum ersten Mal den Jahreswirtschaftsbericht - richtigerweise unterfiel er wieder Ihrer Zuständigkeit - vertreten haben, und wie ist das Jahr 2003 zu Ende gegangen? Sie haben ziemlich genau zu dieser Zeit im letzten Jahr vorausgesagt: Das Tal der Tränen ist durchschritten. Es wird im Jahr 2003 wieder ein stabiles wirtschaftliches Wachstum geben. Die Bundesregierung erwartet 1 Prozent. Ich persönlich - so haben Sie es dem Sinne nach gesagt könnte mir sogar vorstellen, dass es ein bisschen mehr als 1 Prozent Wachstum geben wird. - Am Ende des Jahres 2003 lag das Wachstum bei minus 0,1 Prozent. Das ist die Bilanz des Jahres 2003; ich habe Ihnen die Zahlen vorgetragen, Frau Kollegin. Sie sind in der Einschätzung der Lage zu optimistisch gewesen. Das war ein Stück Täuschung und auch ein Stück Selbsttäuschung über die Bedingungen für einen möglichen wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Leider haben Sie auch heute Morgen wieder diesen Zweckoptimismus vertreten. Ich will Ihnen etwas zur Lage auf dem Arbeitsmarkt sagen. Nicht nur die Wachstumslücke zu anderen Ländern in der Europäischen Union wird größer. Deutschland fällt weiter zurück. Es ist wahr: Wir werden im Jahr 2004 wahrscheinlich die rote Laterne abgeben. Aber wir sind weit davon entfernt, auch nur den Durchschnitt der Wachstumsraten der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu erreichen. Dies schlägt sich auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland nieder. Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, haben in der Arbeitsmarktpolitik im Grunde genommen nur die Statistik bereinigt. Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit im Jahr 2003 - saisonbereinigt ohnehin, aber in fast jedem Monat auch ohne die Saisonbereinigung - ständig weiter gestiegen. Hier auf der Regierungsbank sitzt ein Bundeskanzler - erkennbar angeschlagen -, der irgendwann einmal erklärt hat, er wolle sich jederzeit daran messen lassen, dass die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen absinkt. ({3}) Dann machen wir das heute einmal. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland liegt bei 4,6 Millionen. Über den Jahreswechsel haben wir es auch saisonbereinigt mit einer Steigerung der Arbeitslosigkeit zu tun. Die strukturelle Arbeitslosigkeit verfestigt sich. Sie sind von dem Ziel, das Sie sich selbst gesetzt haben - von der Halbierung der Arbeitslosigkeit, die Sie auch angekündigt haben, will ich gar nicht sprechen; reden wir nur über die 3,5 Millionen -, weit entfernt. ({4}) - Entschuldigung, es war doch Bestandteil Ihres Regierungsprogramms, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Sie waren es doch, die angekündigt haben, mit den HartzGesetzen könne die Arbeitslosigkeit in Deutschland in absehbarer Zeit halbiert werden. Davon will ich aber gar nicht sprechen. Reden wir darüber, was der Bundeskanzler immer wieder gesagt hat. ({5}) Er selbst wolle sich nicht erst bei der Wahl, sondern jederzeit daran messen lassen, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf unter 3,5 Millionen absinkt. Wir sind in der gesamten Regierungszeit von Rot-Grün von diesem Ziel weiter denn je entfernt. Das ist die traurige Wahrheit am heutigen Tag zum Jahreswirtschaftsbericht dieser Bundesregierung. ({6}) Nun sind Sie in der Tat veranlasst - das will ich zugestehen -, bei der Arbeitslosenstatistik einige Korrekturen vorzunehmen, sodass sie international vergleichbar wird. Das will ich nicht kritisieren. Das ist so in Ordnung. Das müssen Sie tun, damit die Arbeitslosenstatistik mit den Arbeitslosenstatistiken anderer Länder, die der Internationalen Arbeitsorganisation angehören, vergleichbar wird. Das ist richtig. Nun lassen Sie uns einen Blick auf die Beschäftigtenzahlen werfen. Die Beschäftigtenzahlen sind nach meiner Überzeugung ohnehin aussagekräftiger bezüglich der Frage, ob eine Industrienation oder eine Volkswirtschaft in der Lage ist, zusätzliche Beschäftigung zu generieren oder nicht. Wir haben es, seitdem Sie in der Regierungsverantwortung sind, mit einer kontinuierlichen Abnahme der Beschäftigtenzahlen in Deutschland zu tun. Wir haben gegenwärtig gerade noch 27 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Deutschland. Das ist für ein Volk von 82 Millionen Einwohnern zu wenig. Sie werden auch die sozialen Sicherungssysteme mit dieser abnehmenden Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland nicht aufrechterhalten können. Da liegt die eigentliche Ursache auch für die Krise unserer sozialen Sicherungssysteme. ({7}) Darüber haben Sie, Herr Clement, heute Morgen leider kaum ein Wort verloren. Sie haben darauf hingewiesen, es gebe eine sehr ermutigende Zahl von Unternehmensgründungen. Es ist wahr: Es gibt Unternehmensgründungen. Aber die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung, das der Bundesagentur für Arbeit angeschlossen ist, hat vor einigen Tagen eine höchst aufschlussreiche Statistik über die Unternehmensgründungen in Deutschland veröffentlicht. Wir hatten in den 90er-Jahren bis zum Regierungswechsel 1998 über lange Jahre kontinuierlich über 500 000 Unternehmensgründungen pro Jahr. Das war auch in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre der Fall. Auch im Jahr des Regierungswechsels, 1998, lag die Zahl der Unternehmensgründungen in Deutschland deutlich über 500 000. Im Jahre 2003 - das ist das Jahr, in dem Sie Ihre Instrumente erstmalig eingesetzt haben, insbesondere die so genannte Ich-AG - ist die Zahl der Unternehmensgründungen auf 450 000 zurückgegangen. Mehr als die Hälfte dieser 450 000 Unternehmensgründungen sind staatlich gefördert gewesen. Früher lag der Anteil der geförderten Unternehmen bei etwa 100 000 bei einer Gesamtzahl von 500 000. Mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Unternehmensgründungen staatlich gefördert. Von 452 000 Unternehmensgründungen im Jahre 2003 sind fast 250 000 staatlich gefördert gewesen. Herr Clement, an diesem Beispiel sehen Sie: Entweder gibt es bei den so genannten Ich-AGs und allen Instrumenten, die Sie geschaffen haben, gehörige Mitnahmeeffekte, die in der Gesamtbilanz der Unternehmensgründungen zu keiner Besserung geführt haben, oder aber, was noch schlimmer wäre, der Markt der Unternehmensgründungen bricht weiter zusammen und mittlerweile ist mehr als die Hälfte der Unternehmensgründungen von staatlicher Unterstützung abhängig. Das ist eine dramatische Entwicklung. Gleichzeitig haben Sie auch wegen der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung - ich will nicht sagen: nur - zu verantworten, dass wir im Jahr 2003 über 40 000 Insolvenzen in Deutschland gehabt haben. Damit wird die dramatische Lage der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland mit einem Schlag sichtbar. Da nützt es überhaupt nichts, dass Sie sich hierhin stellen und über Innovation, Lust und Leidenschaft reden und alle diejenigen, die kritische Anmerkungen machen, in die Ecke der Mäkler und der Meckerer stellen. Wir haben es unverändert mit einer strukturellen Krise der deutschen Volkswirtschaft zu tun. Diese strukturelle Krise der deutschen Volkswirtschaft hat unverändert etwas mit der Regierungspolitik von Rot und Grün zu tun. Das ist die Wahrheit, der Sie nicht ausweichen können. ({8}) Nun beklagt sich nicht nur jeder von uns - zu Recht -, dass die Arbeitslosigkeit steigt, die Beschäftigung sinkt und die Unternehmensinsolvenzen ein bedrohliches Maß erreicht haben; wir alle sind auch über die Lage auf den Ausbildungsmärkten zutiefst besorgt. Es ist in der Tat in Deutschland Jahr für Jahr schwierig für junge Menschen, Ausbildungsplätze zu finden. Natürlich hat die Zahl der Ausbildungsplätze etwas damit zu tun, wie groß die Zahl der Unternehmen in Deutschland ist. Wenn die Zahl der Insolvenzen steigt, dann nimmt naturgemäß auch die Zahl der Ausbildungsplätze ab. Glauben Sie denn im Ernst, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Partei - ich frage auch die grünen Kollegen; Herr Kuhn, Sie werden gleich reden, vielleicht können Sie dazu etwas sagen -, dass Sie die Lage bei den Ausbildungsstellen in dieser Republik um ein Jota verbessern, wenn Sie Ihren Plan in die Wirklichkeit umsetzen, in Kürze eine Ausbildungsplatzabgabe in Deutschland gesetzlich vorzuschreiben? Was geht in Ihren Köpfen eigentlich vor? Haben Sie die Realität völlig aus den Augen verloren? Sehen Sie nicht, was in den Betrieben los ist ({9}) und welche Anstrengungen seitens der Betriebe unternommen werden, zum Teil auch über den Bedarf hinaus auszubilden und qualifizierte Bewerber für offene Ausbildungsstellen zu finden? Glaubt irgendjemand von Ihnen im Ernst, dieses Problem mit einer Ausbildungsplatzabgabe lösen zu können? Sie verschärfen vielmehr das Problem auf den Ausbildungsmärkten und verstaatlichen auf diesem Wege schrittweise die berufliche Bildung in Deutschland. Mit dem, was Sie vorhaben, machen Sie die Ausbildungsmärkte kaputt. ({10}) Wenn sich der Bundeskanzler schon nicht selber äußert, dann hätte ich zumindest von Ihnen, Herr Clement, erwartet, dass Sie in Ihrer Rede zum Jahreswirtschaftsbericht 2004 auch im Angesicht der eigenen Bundestagsfraktion noch einmal so deutlich und klar darauf hinweisen, wie Sie es schon an anderer Stelle getan haben, dass Sie Ihr persönliches Schicksal damit verbinden, dass keine Ausbildungsplatzabgabe eingeführt wird. ({11}) Denn Sie sind zu Recht gegen diese Abgabe. Dabei können Sie sich auf unsere Unterstützung verlassen. ({12}) Herr Bundeskanzler, Sie sehen so fröhlich aus. Welche Meinung vertreten Sie zu diesem Thema? Bei wem liegt eigentlich die Richtlinienkompetenz für die Politik in Deutschland? Ist sie jetzt von der Regierungsbank zur SPD-Bundestagsfraktion übergegangen? Wenn Sie dieses Thema auf die Tagesordnung setzen, dann unterstützen wir den Bundeskanzler und den Bundeswirtschaftsminister dabei, die Einführung dieses Instruments in Deutschland zu verhindern. Sie können sich bei dieser Politik fest auf uns verlassen, Herr Clement. ({13}) Ich schließe mich in diesem Zusammenhang - jedenfalls im Grundsatz - ausdrücklich Ihren Äußerungen aus der vergangenen Nacht zum Thema Tarifabschluss in der Metallindustrie an. Es ist in der Tat zu begrüßen, dass es gelungen ist, einen Streik in der Metallindustrie abzuwenden und dass ein kleiner Schritt in die richtige Richtung erfolgt ist, auch Tarifverträge für die Möglichkeit zu öffnen, auf betrieblicher Ebene längere Arbeitszeiten zu vereinbaren. Ich unterstütze diesen Weg und die Tarifvertragsparteien haben gezeigt, dass sie ihn wenigstens mit kleinen Schritten beschreiten können. Ich fürchte aber, dass nach den in dem Tarifvertrag getroffenen Vereinbarungen längere Arbeitszeiten für die unteren und mittleren Lohngruppen in den Betrieben ohne zusätzlichen Lohnausgleich nicht möglich sind und dass die schleichende Aushöhlung bei den Arbeitsplätzen der mittleren und unteren Einkommensgruppen weiter voranschreitet. Denn das eigentliche Problem sind nicht die gut qualifizierten Beschäftigten und deren Arbeitszeiten. Sie arbeiten ohnehin längst stillschweigend und zum Teil auch durch die Gewerkschaften geduldet weit über die normale Arbeitszeit hinaus. Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen in Deutschland ist vielmehr, dass auch und gerade einfache Arbeitnehmer die Chance bekommen, für den gleichen Lohn mehr zu arbeiten und dadurch ihre Arbeitsplätze vor der zunehmenden Konkurrenz aus Osteuropa zu retten. Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Deutschland sind in den vergangenen Jahren nicht gewachsen; sie sind eher zu niedrig als zu hoch. ({14}) Aber die Bruttoarbeitskosten sind gerade in der Metallindustrie für die Betriebe zu hoch. Deswegen muss es eine Möglichkeit geben, die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen insbesondere - aber nicht nur - gegenüber der osteuropäischen Konkurrenz zu stärken. Das ist nicht durch Lohndrückerei zu schaffen - das wird niemand von uns befürworten -, aber es ist durch längere Arbeitszeiten und eine höhere Produktivität möglich. Deswegen bleibt der Tarifabschluss an dieser Stelle leider hinter dem zurück, was insbesondere für die mittleren und unteren Einkommensgruppen in den Belegschaften hätte erwartet werden können. ({15}) Auffällig an der Rede des Bundeswirtschaftsministers ist vor allem, worüber er nicht spricht. Lassen Sie mich zwei Themen ansprechen, die der zuständige Minister in einer so wichtigen Rede in einer so wichtigen Debatte praktisch mit keinem Wort berücksichtigt hat. Sie haben das Thema Aufbau Ost einzig und allein in dem Kontext erwähnt, Herr Clement, dass durch den Aufbau Ost zusätzliche Probleme im Zusammenhang mit dem Verbrauch des Bruttosozialprodukts bestehen und dass wir trotz der Probleme beim Aufbau Ost die rote Laterne abgeben. Niemand von uns will bestreiten - der Wirtschaftsminister des Freistaates Thüringen wird noch zu diesem Thema sprechen -, dass ein anhaltender Transferbedarf in den neuen Bundesländern besteht. Aber ist das ernsthaft alles, was Ihnen zum Thema Aufbau Ost einfällt, nämlich der Hinweis, dass Deutschland trotz seiner Probleme die rote Laterne beim Wachstum abgibt? Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie dazu etwas mehr sagen. Die Wachstumsschere zwischen Ost und West öffnet sich wieder. Die Wachstumsraten in den neuen Bundesländern sind geringer als die in den alten Bundesländern. Es gibt zwar nach wie vor jemanden, der sich Beauftragter des Bundeskanzlers für den Aufbau Ost nennt. ({16}) Aber dieser hat es noch nicht einmal nötig, an der heutigen Debatte teilzunehmen. ({17}) - Wo ist er? Ich sehe ihn noch immer nicht. Wenn er da sein sollte, dann bitte ich um Entschuldigung. ({18}) Wir sind uns aber darüber einig, dass in einer Debatte über die wirtschaftliche Lage Deutschlands mehr als nur das gesagt werden muss, dass das ein Problem sei. ({19}) Wo liegen die Chancen für den Aufbau Ost und insbesondere im Zuge der Osterweiterung vom 1. Mai 2004 an? Zu diesem Zeitpunkt wird die Europäische Union zehn neue Mitgliedstaaten bekommen. Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben kaum ein Wort darüber verloren. Wo liegen die Chancen und die Herausforderungen? Das Lohngefälle zwischen Ost und West wird wahrscheinlich zunehmen. So wird das Lohngefälle zwischen Brandenburg und Breslau möglicherweise 7 : 1 betragen. Welche Antwort gibt die Wirtschaftspolitik auf diese Herausforderung? - Bedauerlicherweise haben Sie darüber kein Wort verloren. ({20}) - Ich habe gesagt, dass Sie auch über die Chancen etwa im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäischen Union sprechen müssen. Dann können wir auch über Standortbedingungen diskutieren. ({21}) Man kann doch wohl erwarten, dass der Bundeswirtschaftsminister dazu mehr als nur das sagt, das sei ein Problem. Ich glaube, das erwarten wir alle zu Recht von ihm. ({22}) Ein weiteres großes Thema, das die deutsche Wirtschaft beschäftigt wie kaum ein anderes, ist die Energiepolitik. Herr Bundeswirtschaftsminister, warum haben Sie in Ihrer Rede heute Morgen kein Wort darüber gesagt, dass es ein zunehmendes Problem ist, dass die deutsche Wirtschaft mit Energiekosten belastet ist, die kontinuierlich steigen, und dass der deutschen Wirtschaft alle Wettbewerbsvorteile, die durch die Liberalisierung der Energiemärkte in der Europäischen Union hätten entstehen können, durch höhere administrative Preise sowie durch Steuern und Abgaben, die auf den Faktor Energie erhoben werden, genommen werden? Warum haben Sie ebenfalls kein Wort zu dem gesagt, was Ihr Kollege im Kabinett, der Bundesumweltminister, gegenwärtig im Bereich des Emissionshandels in Deutschland macht? ({23}) Die Probleme, die hier auf die deutsche Wirtschaft zukommen, dürfen wir nicht unterschätzen; denn das, was jetzt geplant ist, geht weit über das hinaus, was die Europäische Union von der Bundesrepublik Deutschland verlangt. Der Emissionshandel ist beschlossen. Ich weiß zwar, dass Sie anders als Ihr Kollege im Kabinett über die Tatsache denken, dass nur eine solch geringe Zahl von Zertifikaten ausgegeben werden soll, dass sämtliche Vorleistungen, die die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren bei der Energieeinsparung erbracht hat, praktisch nicht anerkannt werden, und dass in Zukunft zusätzliche Belastungen auf die deutschen Unternehmen durch den Emissionshandel und insbesondere durch die Zertifikate zukommen. Aber es wäre gut gewesen, wenn Sie heute Morgen wenigstens einen Satz dazu gesagt und darauf hingewiesen hätten, dass hier nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden darf. ({24}) Abschließend möchte ich noch Folgendes sagen: Herr Clement, Sie haben ziemlich genau vor einem Jahr, Ende Februar 2003, eine große Initiative zur Entbürokratisierung auf den Weg gebracht, die auch unsere Zustimmung gefunden hat. Sie haben diese Initiative - bei der Wortwahl ist die Regierung nie ohne Fantasie gewesen „Masterplan Entbürokratisierung“ genannt. Was ist eigentlich aus dem Masterplan Entbürokratisierung geworden? Warum haben Sie das, was Sie mit so großem Pomp angekündigt haben, heute Morgen nicht noch einmal vertreten und eine Zwischenbilanz vorgelegt? Ich sage Ihnen, was ich vermute, warum Sie das nicht getan haben: Sie können gar keine Zwischenbilanz über die im letzten Jahr angekündigte Initiative zur Entbürokratisierung vorlegen. Ich möchte Ihnen - ich habe mir das von einigen Kollegen auch der SPD, die dabei waren, berichten lassen - ein Beispiel nennen. Gestern hat es im Verkehrsausschuss des Bundestages eine Anhörung zur Verkehrsinfrastruktur gegeben. Unter anderem hat der Vorstandsvorsitzende der Flughafen Frankfurt AG dort berichtet, wie die Wirklichkeit der Bürokratie in Deutschland aussieht. ({25}) Airbus Industrie will ein neues, großes europäisches - es ist sehr erfolgreich - Flugzeug bauen, den A380. Dieses Flugzeug ist nun früher fertig als die dafür vorgesehene Wartungshalle auf dem Frankfurter Flughafen. Gegen diese Wartungshalle, eine schlichte Wartungshalle - meine Damen und Herren, ich will Ihnen einfach einmal die Lebenswirklichkeit in Bezug auf Bürokratie in Deutschland schildern -, ({26}) sind 40 000 Einwendungen erhoben worden. Damit diese 40 000 Einwendungen erörtert werden können, musste für 2,5 Millionen Euro eine neue Halle auf dem Gelände der Flughafengesellschaft gebaut werden - nur für eine einzige Erörterung, die da stattfindet! In dieser riesigen Halle mit über 1 000 Plätzen sitzen jetzt 30 Anwälte, die sich gegen die Flughafengesellschaft, gegen die Errichtung dieser neuen Wartungshalle für den A380 wenden. 2,5 Millionen Euro nur für eine Erörterung, meine Damen und Herren! Es wird Zeit, dass wir uns einmal über das Thema Verbandsklage und über die Exzesse, die hier stattfinden, unterhalten. ({27}) Der Bundeswirtschaftsminister müsste dies zum Gegenstand seiner Entbürokratisierungsoffensive machen und ein Jahr, nachdem sie gestartet worden ist, wenigstens eine Zwischenbilanz vortragen. Herr Clement, wir sprechen Ihnen den guten Willen nicht ab, wir bestreiten auch nicht, dass Sie manches auf den Weg gebracht haben, was richtig gewesen ist, was überfällig und notwendig gewesen ist, ({28}) aber Sie werden genauso wie der Bundeskanzler selbst in den nächsten Wochen und Monaten erleben, dass Sie mit Ihrer Politik an dieser Bundestagsfraktion zunehmend scheitern, dass Sie dort zunehmend auf Grund laufen, dass Sie dort zunehmend auf Widerstände von denen stoßen, die nicht mehr bereit sind, den Weg von Reformen, Innovation, Lust und Leidenschaft, wie Sie es hier gesagt haben, fortzusetzen. Deswegen wäre es gut, wenn nicht nur der Kanzler vom Vorsitz der SPD zurückträte. ({29}) Für das Land und für Wachstum und Beschäftigung wäre es das Allerbeste, wenn die Bundesregierung so schnell wie möglich gehen würde, meine Damen und Herren. ({30})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Werner Schulz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Merz, die politische Substanz Ihrer Rede passt auf jeden Bierdeckel. ({0}) Ich hatte zunächst noch die zarte Hoffnung, dass der Optimismus, der im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, den alle Forschungsinstitute und viele Branchen teilen, der auch im Werner Schulz ({1}) Ifo-Geschäftsklima-Index, im Konjunkturbarometer vom „Handelsblatt“, in den wichtigsten Indikatoren zum Ausdruck kommt, von Ihnen mitgetragen wird. Aber was wir von Ihnen zu hören bekamen, war dieses sauerländische Mantra der Miesepeterei und nichts anders. ({2}) Ich kann das nur unter „MMM“ abbuchen. Die drei Buchstaben standen früher für - manche, zum Beispiel Angela Merkel, werden sich erinnern - „Messe der Meister von morgen“. Heute steht es für die „MerzMerkel-Methode“, dieses Mitmachen, um mies zu machen. ({3}) Es gab doch nicht eine Entscheidung im vergangenen Jahr, nicht einen Reformprozess, an dem die Union nicht beteiligt gewesen wäre. Ich will von den Bremsspuren gar nicht reden, die Sie dabei hinterlassen haben, beispielsweise bei der Steuersenkung, beim Subventionsabbau. ({4}) Wo ist eigentlich Horst Seehofer geblieben, der zweite Gründungsvater oder Geburtshelfer der Gesundheitsreform? Er ist genau in dem Moment abgetaucht, als die „Bild“-Zeitung ihre Attacken gegen die von ihm mit eingeführte Praxisgebühr begonnen hat. ({5}) Von dem Moment an war plötzlich nichts mehr von ihm zu hören, von dem mutigen Kämpfer für die Bürgerversicherung. Er sollte sich nicht verdünnen. ({6}) Nehmen wir nur einmal die Zauberformel: Flexibilisierung beim Kündigungsschutz. Das haben Sie eingebracht und das rechnen Sie sich zu Recht an. Wenn ich das aber zu der hohen Arbeitslosigkeit ins Verhältnis setze, die Sie zu Recht beklagt haben, dann muss ich sagen: Auch hier ist die schnelle Lösung nicht in Sicht. Ich halte es für gefährlich, wenn von Ihnen diese InstantMentalität genährt wird: Wenn man etwas einrührt, bekommt man sofort die Lösung. Dann erwecken Sie auch noch den Eindruck, dass Sie eine viel, viel bessere AllUnions-Lösung zu bieten hätten. Im Grunde genommen gibt es momentan in keinem einzigen politischen Sachbereich eine Übereinstimmung zwischen CDU und CSU. Unter diesen Umständen fordern Sie Neuwahlen oder den Rücktritt des Bundeskanzlers. Was Sie da tun, ist abenteuerlich, kühn und unverantwortlich gegenüber unserem Land. ({7}) Die christlich-demokratische Konsensoffenbarung verweist jetzt auf den 7. März. Das klingt wie der siebte Versuch von Friedrich Merz, endlich die Widersprüche in Einklang zu bringen. ({8}) Ich bin sehr gespannt, wie Sie all die Ungereimtheiten - Stufenmodell oder linear-progressiver Tarif; Mehrwertsteuererhöhung, ja oder nein; Subventionsabbau oder, wie von Bayern gefordert, Erhaltung der Entfernungspauschale, die Stichworte „Kreditfinanzierung“ und „Kopfpauschale“ - zusammenbringen. ({9}) Ich hoffe nur, dass Sie bei der radikalen Steuervereinfachung, die Sie planen, auch den Willen zeigen, diese Initiative durch den Bundesrat zu bringen; denn das wird entscheidend sein. Hoffentlich wärmen Sie hier nicht nur ein Wahlkampfthema auf, obwohl Sie an der Lösung der Probleme überhaupt nicht interessiert sind. Wir sind bereit, die Steuervereinfachung mit Ihnen gemeinsam vorzunehmen, und zwar so, wie wir die Steuerreform im letzten Jahr beschlossen haben. Machen Sie sich also keine Sorge um das Reformtempo! Wir haben angefangen, den Reformstau aufzulösen, und wir lassen da nicht locker. Trotz meiner Kritik an manchen Details und trotz der Kritik, die geübt worden ist: Diese Reformen sind eine Chance für unser Land. Die Gewerkschaften haben in der vergangenen Nacht einen großen Beitrag dazu geleistet, die Beschäftigung in Deutschland zu sichern bzw. den betrieblichen Bündnissen für Arbeit ein ganzes Stück näher zu kommen. Jetzt sind auch die Unternehmen gefordert. Wenn man sich anschaut, was die Bundesregierung geleistet hat - Einschnitte im Sozialsystem; Lockerung des Kündigungsschutzes; Steuersenkungen -, dann erkennt man: Das alles entspricht Forderungen aus dem Arbeitgeberlager. Jetzt müssen die Arbeitgeber ihrem Namen aber auch gerecht werden und Arbeit geben, also Leute einstellen. ({10}) Das wird die Menschen in unserem Land motivieren und es wird deutlich machen, dass sich diese Reformen lohnen, weil klar wird, wofür sie durchgeführt werden. Die Motivation in der Bevölkerung wird steigen und man wird diese Einschnitte ertragen können, weil man sieht: Unterm Strich bringt das etwas Positives. Die eingeleiteten Maßnahmen können natürlich nur der Anfang sein. Das Jahr der Innovationen ist angesprochen worden. Wir verstehen unter Innovationen nicht nur den technischen Fortschritt oder technische Neuerungen, Produkt- oder Verfahrensinnovationen. Es geht eben auch um soziale, um kulturelle, um geistige und um gesellschaftliche Veränderungen; denn die Globalisierung, die demographische Entwicklung zwingen uns, das Verhältnis von individueller Selbstverantwortung und organisierter Solidarität neu zu bestimmen. Die soziale Gerechtigkeit selbst ist eine Innovationsaufgabe, in der Umverteilung, Chancengleichheit, GenerationenWerner Schulz ({11}) gerechtigkeit und Gender Mainstreaming zusammenkommen. ({12}) Das Motto unserer Reformen heißt „Fordern und Fördern“. Dieses Prinzip muss aber für alle gelten, nicht nur für einen Teil oder für eine Gruppe in der Gesellschaft. Die soziale Ausgewogenheit ist die Voraussetzung, um eine breite Akzeptanz dieser Reformen zu erreichen. Das heißt beispielsweise, dass man solche heißen Eisen wie Vermögensteuer, Erbschaftsteuer oder Ausbildungsplatzumlage anfassen muss. Viel wichtiger, als nur festzustellen, was in den Betrieben vor sich geht, ist, herauszubekommen, was in den Köpfen der jungen Leute, die keine Ausbildung bekommen, vor sich geht. Wir müssen dieses Problem vernünftig lösen. Diese Lösung sieht keine Abgabe, sondern eine Umlage vor, durch die diejenigen Betriebe belohnt werden, die ausbilden. Diejenigen Betriebe, die sich der verantwortlichen Aufgabe der Ausbildung verweigern, sollen diese Umlage finanzieren. ({13}) Das ist der Sinn der Ausbildungsplatzumlage. Ich sage ganz klar: Das Paradefeld der Innovation ist eine verbesserte Bildung in der Breite und in der Spitze. Die hohe Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein Vermittlungsoder ein Strukturproblem; vielmehr zeigen sich die Defizite, über die wir seit der Veröffentlichung der PISA-Studie diskutieren, auch auf dem Arbeitsmarkt: Ein Drittel der Arbeitslosen ist schlecht qualifiziert, hat keine Qualifikation oder ist nicht mehr zeitgemäß qualifiziert. Dort heißt „lebenslanges Lernen“ nicht nur persönliche Bereitschaft und nicht nur, dass der Staat Angebote zur Verfügung stellt, sondern auch, dass die Unternehmer gefordert sind, für die betriebliche Weiterbildung, für Qualifikation zu sorgen. Die zweite Chance, von der wir immer wieder reden, muss auch eine zweite Möglichkeit zur Berufsausbildung enthalten. Das muss nicht nur in unseren Köpfen, sondern auch in der Wirtschaft ankommen. Ich will auf die wichtigste Herausforderung des 21. Jahrhunderts eingehen: den ökologischen Aufbruch, das ökologische Umdenken, das Erneuern unserer Produktions- und Lebensweise, das Leitbild einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Wir wissen doch alle, dass die ökologischen und sozialen Folgekosten unserer Wirtschaftsweise die Wohlfahrtsgewinne längst übersteigen. Wenn man den Klimawechsel und seine Vorboten, die ab und zu ins Bewusstsein dringen, betrachtet, dann weiß man, was hier auf uns zukommt. Angesichts der sinkenden Wachstumsraten stellt sich immer stärker die Frage, ob das Bruttoinlandsprodukt überhaupt ein geeigneter Maßstab für die Ermittlung des Wohlstandes sein kann. Oder lässt sich die Binnennachfrage in einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung wirklich kontinuierlich erhöhen? Das sind doch Fragen, die wir in der Zukunft beantworten müssen. Wir müssen doch den Konsum viel stärker von der quantitativen zur qualitativen Seite, also zu mehr Werthaltigkeit, umsteuern. Die ökologische Modernisierung, also eine Ressourcen schonende Entwicklung auf den Weg zu bringen, ist eine nachhaltige Aufgabe und bietet beste Chancen für unsere Volkswirtschaft, Wettbewerbsvorteile zu erringen. Die Ökosteuer hat gezeigt, wie viel uns das nützt, was man auf diese Weise bewirken kann. Allen Unkenrufen und Horrorszenarien, die bezüglich der Situation an den Tankstellen an die Wand gemalt worden sind, zum Trotz ist die deutsche Automobilindustrie Spitze. Die Hightech-Autos mit niedrigem Spritverbrauch sind ein Renner. Damit hat sich VW den chinesischen Absatzmarkt erschlossen. Nehmen wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz: Das hat im Grunde genommen viele neue Arbeitsplätze geschaffen und gibt uns bei der enormen Aufgabe, die in den nächsten 20 bis 30 Jahren ansteht, nämlich bei der Erneuerung oder Ersetzung der Hälfte unserer Kraftwerksanlagen, die Möglichkeit, zu einem anderen Energiemix mit verstärkter Nutzung von regenerativer Energie, zu rationellerer Energieanwendung und zu Energieeinsparung zu kommen. Damit können wir der modernste Energiestandort der Welt werden, der dann seine Technik und sein Know-how verkaufen kann. Wir sollten uns doch nicht von Arnold Schwarzenegger schlagen lassen, der das Ziel ausgegeben hat, dass in Kalifornien ein Drittel der Energie durch Solarstrom erzeugt werden soll. Wir sind doch selbst auf dem besten Weg. ({14}) Noch liegen wir vor den USA. Diese Position, die wir durch unser 100 000-Dächer-Programm und vieles andere mehr erreicht haben, sollten wir nicht gefährden. Nachdem hier der Emissionshandel angesprochen worden ist, möchte ich hierzu abschließend sagen: Mit dem Emissionshandel haben wir der Wirtschaft ein marktwirtschaftliches Instrument in die Hände gegeben, damit sie selbst entscheiden kann, wie sie das selbst gesteckte Ziel der CO2-Reduzierung erreichen will. Wer hier von Öko-Stalinismus redet, Kollege Glos, der weiß weder, was Ökologie ist, noch, was Stalinismus war. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weltökonom Schulz, wenn die Rede von Herrn Merz auf einen Bierdeckel passte, dann passt Ihre auf eine Briefmarke. ({0}) Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion hatte heute eigentlich eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers erwartet. Der „Spiegel“ titelt: „Der halbierte Kanzler“. Das Sagen in der Partei und in der Fraktion haben jetzt andere. Wir wollen Klarheit über den Regierungskurs. Die Menschen im Land haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie es in Deutschland weitergeht. ({1}) Offenbar heißt das SPD-Programm jetzt: Ausbildungsplatzabgabe statt Bürokratieabbau, Erbschaftsteuererhöhung statt Steuersenkung, Bürgerversicherung statt Eigenverantwortung. Offensichtlich ist die Regierung Schröder/Clement jetzt Erfüllungsgehilfe sozialdemokratischer Rückwärtsrollen. ({2}) - Sie sollten die Sache lieber viel ernster nehmen. Das „Tata“ bringen Ihnen, Herr Heil, mit Ihrem tollen weltökonomischen Werdegang noch viele bei. ({3}) Zu alledem will der Bundeskanzler vor dem Parlament nichts erklären; zu alledem haben Sie, Herr Clement, nichts gesagt; zu alledem steht auch nichts im Jahreswirtschaftsbericht. Sie reden lautstark von Modernisierungskurs, doch Sie kämpfen im luftleeren Raum. ({4}) Die „FAZ“ schreibt: „Minister ohne Zukunft“. Die Flucht der Vernünftigen aus der SPD-Spitze geht weiter. ({5}) Ihre Rückzugsüberlegungen sind offensichtlicher Beleg dafür, dass Sie nicht mehr daran glauben, dass Sie die Wende mit Ihren Veränderungen hinbekommen. Den Kurs bestimmen jetzt wieder die Betonköpfe. ({6}) In der Theorie des Jahreswirtschaftsberichts heißt es: Der Schlüssel für mehr Wachstum und Beschäftigung liegt daher in strukturellen Reformen und gesamtwirtschaftlichen Bedingungen, die starke Anreize und Impulse für Innovationen und Investitionen geben, ohne die Preisstabilität zu gefährden. So weit, so nett. Sie formulieren auch hehre Ziele: Staatsquote unter 40 Prozent, Sozialversicherungsbeiträge ebenfalls unter 40 Prozent, Vollbeschäftigung bis 2010. Bei 6 bis 7 Millionen echten Arbeitlosen im Land ist es schon eine sehr mutige, vollmundige Ankündigung, bis 2010 Vollbeschäftigung erreichen zu wollen. Aber das Erstaunlichste ist: Umsetzungsvorschläge finden sich im Jahreswirtschaftsbericht so gut wie keine. Wie Sie das umsetzen wollen, bleibt Ihr Geheimnis. ({7}) Ein wirtschaftspolitisches Gesamtkonzept vermag ich beim besten Willen nicht zu erkennen. Nicht einmal Spurenelemente notwendiger Reformen sind in der Regierungspolitik erkennbar. Im Gegenteil, der Bundeskanzler - Entschuldigung, der Parteivorsitzende - in spe, Franz Müntefering, verkündet eine Reformpause nach dem Motto: keine Hektik. Den Stabilitätspakt hat Hans Eichel längst auf dem Altar seiner Haushaltslöcher geopfert. ({8}) Die Rentner werden am 1. April mit realen Kürzungen gefoppt. Die Reform der Pflegeversicherung wird gestoppt. Die Gesundheitsreform ist gefloppt. Gefoppt, gestoppt, gefloppt - das ist das grüne-rote Chaos der Sozialpolitik. ({9}) Die Lohnnebenkosten verbleiben bei über 42 Prozent und verhindern, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Nach dem Sachverständigengutachten liegt das Wachstumspotenzial, also die mittelfristigen Wachstumsmöglichkeiten, nur noch bei etwa 1,5 Prozent. Die Bundesbank spricht von 1 Prozent. Ich zitiere den Sachverständigenrat: Konjunkturelle Belebungstendenzen bleiben in einem solchen Umfeld … abhängig vom Ausmaß der Erholung in anderen Wirtschaftsräumen und sind insofern labil. Das heißt im Klartext: Das Miniwachstum, das wir erwarten können, wird von der Weltkonjunktur geliehen, Grün-Rot gibt sich mit den Brosamen der Weltwirtschaft zufrieden, weil sie selbst nichts Richtiges mehr gebacken bekommen. ({10}) Die Probleme der deutschen Volkswirtschaft sind weitgehend hausgemacht. Wir können am Beispiel Japans studieren, was die Folgen sind, wenn man Strukturprobleme nicht löst: jahrelang praktisch kein nennenswertes Wachstum; zehn Jahre der Stagnation und Deflation liegen hinter Japan. Das entscheidende Signal müsste darin liegen, dass der Staat sich zurückzieht. Wir haben eine Staatsquote von fast 50 Prozent, exakt 48,6 Prozent. Deshalb wird Hermann Otto Solms nachher für die FDP-Fraktion mit einem ausformulierten Gesetzesantrag konkret darlegen, wie wir die Steuerreform in Deutschland umsetzen können, wie wir vorankommen können, wie wir endlich die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum schaffen können. Das ist der richtige Weg, um voranzukommen. ({11}) Ich kann Herrn Kollegen Merz eigentlich nur sagen: Stimmen Sie mit uns! Ihre Kopie hat in den eigenen Reihen offensichtlich keine Chance. Sie haben heute die Gelegenheit, dem Original zuzustimmen. So könnte aus Friedrich Merz vielleicht doch noch Friedrich der Große werden. ({12}) Der Jahreswirtschaftsbericht atmet interventionistischen Geist. Aber in einer Marktwirtschaft soll der Staat nicht lenken, sondern ordnen, den Rahmen setzen. Der Staat hätte noch genug damit zu tun, einen vernünftigen Rahmen zu setzen. Doch Sie wollen den Staat als Planer, Lenker und Angreifer. Bei Ihnen sollen staatlich bestellte Innovationsräte Zukunftsfelder festlegen. ({13}) - Sie haben ja tolle Leute berufen, die gerade im Zusammenhang mit der LKW-Maut belegt haben, wie fähig sie sind. Doch der Wettbewerb bleibt das entscheidende Entdeckungsverfahren. Bei Ihnen sollen dem Kartellamt durch Megafusionen und Ministererlaubnisse die Zähne gezogen werden; aber Wettbewerb ist das beste Instrument der Entmachtung. Wettbewerb sorgt für Dynamik und Veränderung. Besonders fatal ist Ihr interventionistischer Ansatz beim Pressefusionsrecht. ({14}) Dort wollen Sie Strukturkrisenkartelle, egal welcher Größe, erlauben. Sie wollen quasi in der Presselandschaft einen GWB-freien Raum schaffen. Meinungsfreiheit und -vielfalt sind offenbar für Sie nicht wichtig. Eine weitere Pressekonzentration kann Freiheiten und Demokratie auch gefährden. ({15}) Doch für freiheitliche Ansätze ist bei Grün-Rot kein Platz. Anstatt mit einer maßvollen und vernünftigen Politik zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sieht Ihr Begriff von Freiheit so aus: hinter jeder Putzfrau am liebsten ein Polizeibeamter und Herr Eichel als der neue Blockwart der Nation, als haushaltspolitischer Spanner. ({16}) Im Jahreswirtschaftsbericht wird über die so genannte nachhaltige Energiepolitik fabuliert. Eine Energiepolitik muss, wenn sie erfolgreich sein will, technologieoffen sein. Aber auch hier wollen Sie planen und lenken. Man sieht es am aktuellen Streit zwischen Herrn Clement und Herrn Trittin in Sachen Emissionshandel. Der Emissionshandel nach der Art von Trittin wird kein Nullsummenspiel für die deutsche Wirtschaft werden. Im letzten Jahr hatten wir 20 Prozent höhere Stromkosten in Deutschland. Den Kurs der Verteuerung der Energie setzen Sie fort; denn mit der so genannten Energiewende werden die Weichen für höhere Energiekostenbelastungen in Deutschland gestellt, was zulasten der Arbeitsplätze geht. Der Atomausstieg ist für mich ein dunkles Kapitel energiepolitischer Planwirtschaft. ({17}) Heute wird noch immer ein Drittel des Stroms aus Kernenergie gewonnen. Sie wollen diesen Strom durch Strom aus erneuerbaren Energien ersetzen, indem Sie die Kernenergie verbieten und Windräder subventionieren. Doch für jede Kilowattstunde Windstrom muss eine Kilowattstunde Atomstrom oder Kohlestrom vorgehalten werden. Wenn wir sie selbst nicht vorhalten, tun es andere in Frankreich oder in Osteuropa. Aber auf jeden Fall gefährden wir die Versorgungssicherheit in Deutschland. ({18}) Das wissen auch Herr Clement und der Kanzler. Der Kanzler schickt deshalb seinen Lieblingsgewerkschafter, Herrn Schmoldt, vor, der anfängt, Atomstrom in Deutschland wieder hoffähig zu machen. Nach dem Motto „daheim aussteigen, auswärts einsteigen“ will der Bundeskanzler die Hanauer Brennelementefabrik nach China exportieren. Die Bundesregierung teilte uns auf Anfrage mit, die Anlage sei sicher. Von den Grünen hört man dazu kein Wort. Ihnen genügt es offenbar, wenn die Anlage grün angestrichen wird. Das ist Frau Sagers Beitrag zur Innovationsdebatte. ({19}) Seien wir doch ehrlich: Ohne Kernenergie kippt der deutsche Energiemix und wir werden extrem importabhängig. Das nutzt unserem Wirtschaftsstandort sicherlich nicht. Sie betreiben eine lupenreine grüne und rote Klientelpolitik: Windkraft und Steinkohle werden mit Milliardensubventionen in Deutschland hochgepäppelt. Es ist doch ein Stück aus dem Tollhaus, Herr Heil, wenn der Kanzler seinem früheren Wirtschaftsminister Müller, der bei der Ruhrkohle AG, einer Tochter von Eon und Ruhrgas - nach deren Fusion haben diese einen Marktanteil von 85 Prozent -, Vorstandsvorsitzender geworden ist, 16 Milliarden Euro Subventionen nach Gutsherrenart zusagt. Wir reden alle über Subventionsabbau, aber hier werden 16 Milliarden Euro zusätzliche Subventionen genehmigt. Das ist rote Kumpelwirtschaft übelster Art. ({20}) Ich zitiere aus den Reihen der Grünen: Angesichts der fehlenden Mittel in den Bereichen Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik ist es nicht zu rechtfertigen, einen dauerhaften Steinkohlesockel zu finanzieren. Das haben einige Ihrer grünen Kollegen formuliert. Aber nichts geschieht. Sie kleben wie Pattex an Ihren Stühlen. Rückgrat und Ordnungspolitik waren noch nie grüne Stärken. Sie stehen für Unordnungspolitik. ({21}) Wir wollen einmal über den Arbeitsmarkt reden. Wir sind immer froh, wenn es keinen Streik gibt. ({22}) Aber die Chance, Herr Kuhn, wirklich etwas für mehr Beschäftigung zu tun, hat das Tarifkartell versäumt. ({23}) Sie haben zwar eine Einigung mit kleinen Öffnungsklauseln gefunden, aber sie hatten nicht die Kraft, die Grundvoraussetzungen für betriebliche Bündnisse für Arbeit ohne Genehmigung des Tarifkartells zu schaffen. Deshalb muss es der Gesetzgeber tun. Wir fordern erneut: Wenn sich 75 Prozent der Mitarbeiter in freier und geheimer Entscheidung für eigene Regelungen aussprechen - es sind nämlich ihr Job und ihre Lebensperspektiven -, dann müssen sie das Recht haben, ohne Genehmigung der Kartellbrüder diese Entscheidung treffen zu können. Das ist die richtige Weichenstellung. ({24}) Ich darf dezent darauf hinweisen, dass man in Holland die Kraft gehabt hat, für zwei Jahre Nullrunden zu vereinbaren. Wir müssen über Arbeitszeiten sprechen, um die Voraussetzung zu schaffen, den 6 Millionen Arbeitslosen, die draußen stehen, den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dazu hat das Tarifkartell nicht die Kraft gehabt. Das zeigt mir, dass man die Zeichen der Zeit offensichtlich immer noch nicht erkannt hat. ({25}) Als Dank für die Gewerkschaften und als Valium für die Regierungsparteien gibt es jetzt die Ausbildungsplatzabgabe. Die Ausbildungsplatzabgabe ist die Praxisgebühr für den deutschen Mittelstand: Sie ist teuer, bürokratisch und bringt nichts. ({26}) Im Jahreswirtschaftsbericht wird eine Kampagne für Ausbildungsplätze beschrieben, aber, Herr Clement, ich lese keine Zeile über eine Ausbildungsplatzabgabe. Sie sprachen noch vor kurzem von der Gefahr, dass über die Ausbildungsplatzabgabe eine Verstaatlichung der Berufsausbildung herbeigeführt wird. Aber dazu schweigen Sie in diesem Bericht. ({27}) Offensichtlich ist dieses Lieblingsprojekt des neuen Parteivorsitzenden als Beruhigungspille für die Partei notwendig. Am Dienstag wollten Sie zumindest als Parteivize die Flinte ins Korn werfen. Offensichtlich haben Sie Zweifel am Reformwillen und an der Reformfähigkeit Ihrer Partei. Sie sagen immer wieder wie der Bundeskanzler: Erst das Land und dann die Partei! - Sie werden in der nächsten Zeit viel Gelegenheit haben, zu beweisen, dass Ihnen das Land wichtiger ist als die Partei, nämlich durch mutige Veränderungen. Mit dem, was Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht beschreiben, werden Sie es mit Sicherheit nicht schaffen. ({28}) Nur zu sagen: „Wir wollen in sechs Jahren Vollbeschäftigung haben“, ohne zu fragen, welcher Weg dafür eingeschlagen werden muss, damit kommen wir nicht weiter. Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Bericht der Ideenlosigkeit und der Kraftlosigkeit. Wir brauchen aber Veränderungsbereitschaft; statt festgefahrener Kartelle brauchen wir die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. ({29}) - Herr Kuhn, Sie als grünes Alibi zementieren alles. Ich freue mich schon auf Ihre weltpolitischen Ausführungen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Brüderle, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich bin bei meinen letzten Sätzen. Herr Kuhn möchte ja gerne Außenminister werden. Deshalb flüchtet er in die Weltökonomie. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Brüderle, Sie haben in Ihrer Rede die Formulierung „Blockwart der Nation“ verwandt. Ich möchte Sie ermahnen und daran erinnern, dass wir bestimmte Assoziationen an die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte in Bezug auf Personen dieses Hauses vermeiden wollten. ({0}) Ich erteile nunmehr das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion. ({1})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss zunächst dem Kollegen Schulz widersprechen. Er hat die Sauerländer im Allgemeinen mit einem negativen Touch verbunden. Ich sage Ihnen: Wenn ein Sauerländer sauertöpfisch ist, sind nicht alle Sauerländer es. Unser Sauerländer ist in Ordnung. ({0}) Dass dieser andere Sauerländer sauer ist und sich jetzt aufgrund der Doppelspitze sogar Sorgen über die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers macht, ist in seiner eigenen Biografie begründet. Er war in einer Doppelspitze und ist nach kurzer Zeit im Handtäschchen von Frau Merkel verschwunden. Dass er nichts von Doppelspitzen hält, ist völlig klar. Aber unser Sauerländer ist in Ordnung. ({1}) Herr Merz hat versucht, das alte Rezept anzuwenden. Wenn Sie seine Reden von vor einem Jahr nachlesen, dann geht es Ihnen wie mit dem Lungenhaschee: Habe ich es schon gegessen oder soll ich es noch essen? ({2}) Das ist die alte Methode: nur anklagen und Rezepte anmahnen, aber selber keine vorschlagen. Jetzt versuchen Sie noch, uns zu spalten, uns unserem Wirtschaftsminister zu entfremden. Meine Güte, da müssen Sie schon früher aufstehen, um damit Erfolg zu haben! Wir sind stolz, dass Wolfgang Clement der deutschen Wirtschaft wieder Mut zum Aufschwung gegeben hat, während Sie Trübsal geblasen haben. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns. ({3}) - Lieber Kollege Ernst Hinsken, dass eure Fraktion gewohnt ist, Edmund Stoiber zu sagen: „Du bist der Größte, Schönste und Beste“, und ihr euch nie mit euren Ministern angelegt habt oder anlegt, ist euer Problem. Dass sich eine selbstbewusste Fraktion auch einmal an einem so starken Minister reibt, ist klar. Aber Reibung ist eine alternative Energiequelle. Da entsteht nämlich Wärme. ({4}) Lassen Sie also diesen Versuch der Spaltung! Wir werden mit Wolfgang Clement rau und herzlich zusammenarbeiten. Entscheidend ist, dass er das Symbol für den Aufschwung in Deutschland geworden ist, während Sie das Symbol der Miesmacher, Unker und Klager sind. ({5}) Kommen wir noch einmal auf den Herrn Merz zu sprechen. Er hat letztes Jahr den Untergang beschworen. Wolfgang Clement hat gesagt: Im Jahresverlauf wird es einen Aufschwung geben. Wer hat denn nun Recht behalten? Wolfgang Clement hat damals auf die Entwicklung im Irak hingewiesen und deutlich gemacht, dass es langsamer gehen wird, dass wir aber im Laufe des Jahres wieder dynamische Kräfte haben werden. Ich verstehe ja, dass es Sie zur Verzweiflung bringt, dass der Ifo-Geschäftsklimaindex neun Monate hintereinander nach oben zeigt. Sie möchten, dass er in die Hölle zeigt, damit Sie mit Ihren Untergangsgesängen Gehör finden. Aber Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit, meine Damen und Herren. ({6}) Am allerdreistesten wird es, wenn ein Unionspolitiker es wagt, über den Arbeitsmarkt zu reden. Sie haben 5 Millionen Arbeitslose prophezeit, Sie falsche Propheten. Schauen Sie sich die wahre Entwicklung an und vergleichen Sie sie mit der Geschichte: Die höchste Arbeitslosigkeit in den Monaten Januar und Februar gab es unter der Regierung von CDU/CSU und FDP. Dabei mischte Herr Brüderle schon mit. Sie hatten die höchste Arbeitslosigkeit, die wir immer unterboten haben, ({7}) ohne dass wir Wahlkampf-ABM eingesetzt hätten, wie Sie es damals getan haben. Von Ihnen kann man in Sachen Arbeitsmarkt weiß Gott nichts lernen. Von Ihnen kann man auch im Hinblick auf Beschäftigtenzahlen wenig lernen. Sie haben einfach Behauptungen über die Zahl der Beschäftigten aufgestellt. Besser wäre es, wenn Sie die Güte hätten, die Gesamtzahl der Erwerbstätigen in Deutschland während Ihrer Regierungszeit mit der in unserer Zeit zu vergleichen. Dann sähen Sie, dass es in Ihrer Zeit zumeist 37 Millionen und weniger waren, zu unserer Zeit jedoch immer mehr als 38 Millionen. Jetzt ist zwar eine Ergänzung durch die Selbstständigen zu verzeichnen. Aber Sie fordern doch selbst immer die Kultur der Selbstständigkeit. Daher sollten Sie Herrn Clement danken, dass wir Menschen zur Selbstständigkeit ermutigt haben, und dies nicht als Mitnahmeeffekt denunzieren. Wir müssen alles tun, damit diese Menschen, die sich selbstständig machen, also für sich und andere einen Arbeitsplatz schaffen, unterstützt, beraten und gefördert werden, damit sie als Selbstständige Erfolg haben. Das ist unser Auftrag. ({8}) Meine Damen und Herren, Sie haben die Insolvenzen angesprochen. Die Analyse von Creditreform zeigt, dass 75 Prozent der Insolvenzen hausgemacht sind, also ein Problem der jeweiligen Unternehmer sind. Schönwetterkapitäne können bei boomender Konjunktur erfolgreich sein. Wir haben aber ein erhebliches Qualitätsproblem. Daran müssen wir arbeiten; es muss qualifiziert werden. Hinzu kommt, dass in Ihrer Regierungszeit alle Steuerberater die Unternehmen dazu verführt haben, ihre Eigenkapitalquote durch Entnahmen und Schütt-aus-holzurück-Verfahren so gering wie möglich werden zu lassen. Heute haben sie Angst vor den Ratings. Die Unternehmen müssen wieder lernen, aus eigener Kraft, aber auch mithilfe von Partnern Eigenkapital aufzunehmen, damit sie selbstständig bleiben. Das wäre hilfreich, wenn man Insolvenzen verhindern will, nicht aber eine allgemeine Anklage von Rot-Grün. ({9}) Ihre Ausreden, was die Ausbildungsplatzsituation angeht, haben wir lange genug gehört. Zehn Jahre hieß es, die Wirtschaft werde es schon schaffen. Aber sie hat es trotz aller Bemühungen, die wir anerkennen und fördern und deren Fortgang wir wünschen, nicht geschafft. Im Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber den Menschen sagen wir: Kein junger Mensch darf die Schule ohne Ausbildung verlassen. Wir dürfen nicht verlorene Jahrgänge und Menschen in Warteschleifen zulassen. ({10}) In Zukunft werden wir wieder einen Facharbeitermangel beklagen. Deshalb werden wir eine verträgliche Regelung finden, die dafür sorgt, dass die Menschen Ausbildung bekommen. Die Wirtschaft ist und bleibt in der Verantwortung. Sie ist ihr nicht gerecht geworden; darum werden wir ein Stück weit nachhelfen. Niemand wird glücklicher sein als wir, wenn es die Umlage nicht braucht. ({11}) Meine Damen und Herren, Ihre Angriffe auf das Tarifvertragsrecht - das gilt auch für Herrn Brüderle zeigen, dass Sie in Wahrheit eine andere Gesellschaft wollen. Wir wollen eine solidarische Leistungsgesellschaft. Sie hingegen wollen eine kalte liberale Marktgesellschaft durchsetzen, die die Arbeitnehmer um ihren Schutz bringt. Da werden wir Ihnen nicht folgen. Wir werden den Menschen erklären, dass die Gesellschaft, die Sie wollen, keine warme, sondern eine kalte Gesellschaft ist, die wir alle miteinander vermeiden müssen. Die Tarifpartner haben bewiesen, dass sie Interessen austarieren können, während Sie die Arbeitnehmerseite entwaffnen und zum Objekt des Handelns machen wollen. Wir sind für gleiche Augenhöhe und für Kooperation. Dabei wird es auch bleiben. Es wird noch schlimmer: Die CSU und Teile von CDU und FDP sind auf dem Programm von Professor Sinn gelandet und wollen die Stundenlöhne in Deutschland um 30 Prozent senken. Meine Damen und Herren, wir haben mit den Hartz-Gesetzen dafür gesorgt, dass auch die unteren Einkommensgruppen besetzt werden, indem eine Kombination von Staats- und Markteinkommen angeboten wird. Aber eine generelle Stundenlohnsenkung um 30 Prozent, die Professor Sinn, Ihr Hauptratgeber und -einflüsterer fordert, kann nicht unser Ziel sein. Wir stellen dagegen: Wir wollen Hochlohnland bleiben. Wie der Betriebsratsvorsitzende von Porsche gesagt hat: Es kann nicht sein, dass die Manager nach amerikanischen Maßstäben und die Arbeitnehmer nach chinesischen Maßstäben bezahlt werden. Das passt nicht zusammen. Deshalb kämpfen wir für eine solidarische Leistungsgesellschaft, die mit Augenmaß an die Probleme herangeht. ({12}) Meine Damen und Herren, die Daten dieses Jahres sind gut. Wenn Sie in Ihrer Regierungszeit die Preissteigerungsraten gehabt hätten, die wir vorlegen können, dann hätten Sie Dankfeste und große Kundgebungen veranstaltet. Wir haben Preisstabilität wie nie zuvor. Die Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor und bieten gute Investitionsbedingungen. Die Banken haben sich aus ihrer Krise herausgearbeitet. Viele große Unternehmen haben ihre Bilanzprobleme bereinigt und können wieder aktiv werden. Mit den neuen Kreditprogrammen der KfWMittelstandsbank können wir dem Mittelstand helfen. Die Rahmenbedingungen sind so gut wie lange nicht mehr. Deshalb kommt es darauf an, jetzt nicht in Miesepetrigkeit zu verharren, sondern nach vorn zu schauen. Wir warnen übrigens auch und gerade die CSU davor, den Aufschwung zu fordern, aber in Bayern durch die Haushaltspolitik ein halbes Prozent Wachstum zu vernichten. Das ist Ihre Situation. Manchmal könnte man meinen, Sie wollten diesen Aufschwung nicht, weil dann Ihre Klagegrundlage wegfiele. Meine Damen und Herren, es ist beklagt worden, dass der Aufbau Ost nicht angesprochen worden sei. Herr Merz verfährt nach dem Grundsatz: Kinder, recherchiert nicht so viel; es hetzt sich dann so schlecht. - Schauen Sie sich einmal den Jahreswirtschaftsbericht an! Dann sehen Sie, dass Manfred Stolpe und Wolfgang Clement dem Aufbau Ost die notwendige Aufmerksamkeit schenken. Wir werden dafür sorgen, dass die Investitionen in den neuen Ländern vorankommen. Wir werden auch dafür sorgen, dass die Infrastruktur weiter ausgebaut wird. Herr Brüderle, es ist wirklich ungehörig, dem armen Stolpe die Maut-Probleme in die Schuhe zu schieben, wenn zwei Topunternehmen, die an Sie spenden, so grässlich versagt haben. ({13}) Halten Sie sich bitte schön an Daimler-Chrysler und an die Telekom, statt hier einen Unschuldigen anzuklagen! Meine Damen und Herren, es ist unverkennbar: Am Anfang dieses Jahres zeigt die Stimmung nach oben. Sie müssen den Keller und Ihre Tieflage verlassen. Bewegen Sie sich mit nach oben! Dann wird auch dieses Land vorankommen. Wenn Sie nicht mitgehen, dann lassen wir Sie halt im Sumpf zurück. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Thüringer Minister für Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur, Jürgen Reinholz. ({0}) Jürgen Reinholz, Minister ({1}): Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wer meint, dass mit dem vor Weihnachten letzten Jahres verabschiedeten Reformpaket das Erforderliche getan sei, der irrt. Schlimmer noch: Er wird den Erfordernissen, denen sich unser Land zu stellen hat, nicht gerecht. Jürgen Reinholz, Minister ({2}) ({3}) Nach den nicht enden wollenden Diskussionen ist allenfalls der Einstieg in die dringend notwendigen Strukturreformen gelungen. Denn mit der Einigung im Vermittlungsausschuss war nur ein erster Schritt getan, nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Jetzt kommt es darauf an, den eingeschlagenen Reformweg konsequent weiterzugehen, nicht hektisch, aber ganz sicher schnell, konsequent, ohne Rücksicht auf diffuse Befindlichkeiten und Stimmungen und keinesfalls mit der schon in der Vergangenheit gescheiterten Politik der ruhigen Hand. Gerade aus Sicht der neuen Länder ist es zwingend erforderlich, dass der Reformprozess fortgesetzt wird. ({4}) Nur wenn wir die Standortbedingungen in ganz Deutschland verbessern, werden wir im internationalen Wettbewerb bestehen können. ({5}) Meine Damen und Herren, jedermann muss klar sein: Ohne einen erfolgreichen Aufbau Ost gibt es in unserem Land keinen Aufschwung. Daher halte ich Äußerungen, nach denen die wesentliche Reformarbeit erst einmal getan sei, für äußerst fatal. Es ist doch offenkundig, dass bei der Umsetzung der grundlegenden Reformen, durch die sowohl die Rentenversicherung als auch die Kranken- und Pflegeversicherung auf eine dauerhaft finanzierbare Grundlage gestellt werden müssen, keine Zeit zu verlieren ist. Das sind wir allein schon den Lebensperspektiven künftiger Generationen schuldig. Gleiches gilt für die Neugestaltung der Einkommensbesteuerung, die mehr Transparenz und eine Vereinfachung des Steuerrechts mit sich bringen muss. Diese Themen müssen wir jetzt anpacken, wenn wir in Deutschland aus eigener Kraft endlich wieder höhere Wachstumsraten und mehr Beschäftigung erreichen wollen. Voraussetzung dafür ist, dass der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Ländern endlich wieder an Fahrt gewinnt. Nichts liegt mir ferner, als die Erfolge beim wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder kleinzureden. In der Tat sind die Fortschritte beim Ausbau der Infrastruktur nicht zu übersehen. Auch die Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe bleibt erfreulich. Im vergangenen Jahr ist die Bruttowertschöpfung dieses Wirtschaftszweiges in den ostdeutschen Flächenländern trotz schlechter Konjunktur um real 5,7 Prozent gestiegen. In Thüringen betrug der Zuwachs sogar 8 Prozent. ({6}) Durch die dynamische Industrieentwicklung stehen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt im Ländervergleich auch beim Wachstum des Bruttoinlandsproduktes an der Spitze. Wenn aber die Bundesregierung im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit von einer - ich zitiere - „insgesamt zufrieden stellenden Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft“ spricht, halte ich das angesichts der rückläufigen Beschäftigungszahlen für nicht besonders angemessen. Das spricht eher für fortschreitenden Realitätsverlust. ({7}) Die politischen Schwerpunkte, die zur weiteren Unterstützung des Aufbaus Ost gesetzt werden müssen, sind uns allen klar. Wir müssen den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Verkehrsverbindungen, mit hoher Intensität fortsetzen, gewerbliche Investitionen, vor allem in überregional ausgerichteten Unternehmen, weiter wirksam fördern, in Bildung, Forschung und Technologie investieren und die Wettbewerbsfähigkeit vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen durch passgenaue Förderangebote stärken. Dabei geht es nicht darum, neue Wunderwaffen zu erfinden. Auch geht es nicht um die Frage, ob der Aufbau Ost „Chefsache“ ist. Diese Verbalakrobatik allein hat bis heute niemandem geholfen. Beim Aufbau Ost geht es um Wahrhaftigkeit, Vertrauensschutz und um Taten statt Worte. ({8}) Alle Räder, an denen wir drehen müssen, sind längst erfunden. Die entsprechenden Themen stehen seit Jahr und Tag auf der Agenda. Hier geht es zum Beispiel um den weiteren Ausbau der Infrastruktur. ({9}) An der Realisierung der im Bundesverkehrswegeplan als vordringlich eingestuften Vorhaben darf nicht herumgedeutelt und sie darf nicht immer wieder verschoben werden. Das gilt insbesondere für die noch nicht abgeschlossenen Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. ({10}) Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass die Durchführung eines für die Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraums so wichtigen Projekts wie der ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig je nach Kassenlage mal zugesagt und mal zur Disposition gestellt wird. ({11}) Das muss unbedingt aufhören. Auch erinnere ich daran, dass das Baurecht auf wesentlichen Teilen der Strecke im Jahr 2005 erlischt. Entscheidend ist auch, dass in den neuen Ländern eine schnelle Planung von Infrastrukturvorhaben möglich bleibt. Ich appelliere deshalb an Sie, meine Damen und Herren, die vom Bundesrat im Frühjahr vergangenen Jahres beschlossenen Gesetzesinitiativen zur Verlängerung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes und zur entsprechenden Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes als unumgänglich zu begreifen und endlich auch zu verabschieden. ({12}) Jürgen Reinholz, Minister ({13}) Wir brauchen auch Planungssicherheit für die Investoren. Ich begrüße es daher sehr, dass Bund und Länder sich auf die Fortführung des wichtigen Instrumentes der Investitionszulage verständigt haben. Auch das muss schnell verbindlich werden, ehe die Unternehmen ihre Investitionen wieder abblasen oder gar auf die lange Bank schieben. Wirklich katastrophal für die neuen Länder wäre aber, wenn bei der Fortführung der EU-Strukturpolitik eine europäische Relativitätstheorie zugrunde gelegt würde. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand der neuen Länder ändert sich nun wirklich nicht in der Nacht zum 1. Mai. Sie brauchen wirksame Fördermöglichkeiten auch für die Jahre nach 2006. Sie müssen Ziel-1-Gebiet bleiben. ({14}) Ebenso muss bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen unverrückbares Ziel sein, die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft zu stärken und sie nicht durch falsche Weichenstellungen zu beeinträchtigen. Aktuell muss daher zum Beispiel bei der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes eine Lösung gefunden werden, bei der sich die entstehenden zusätzlichen Kosten auf alle - ich betone: alle - Stromverbraucher verteilen. Die Netznutzungsentgelte liegen in Ostdeutschland schon heute um bis zu 50 Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. Wie soll eine weitere einseitige Belastung der Strompreise in den neuen Bundesländern verkraftet werden? Bei den Grundlagen für den Handel mit Emissionsrechten müssen die in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung erreichten CO2-Reduzierungen berücksichtigt werden. Wir haben die Emissionen in den 90erJahren bereits um 98 Prozent reduziert. Das kann doch heute nicht Schnee von gestern sein! ({15}) Der Aufbau Ost bleibt eine Aufgabe, bei der alle staatlichen Ebenen an einem Strang ziehen müssen, vor allen Dingen in eine Richtung. Der gesamtstaatliche Reformprozess und der Aufbau Ost haben nämlich eines gemeinsam: Wir sind noch keineswegs am Ziel. Wir müssen den begonnenen Weg entschlossen fortsetzen und dürfen weder aus Halbherzigkeit pausieren noch vor heiligen Kühen stehen bleiben oder plötzlich Angst vor der eigenen Courage zeigen. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Botschaft des heute Nacht erzielten Tarifabschlusses im Südwesten richtig deutet, dann heißt sie doch: Die Wirtschaft will, die Gewerkschaften wollen, alle am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten sind interessiert daran, dass in der Wirtschaft wieder mehr investiert wird. Deswegen haben sie einen vernünftigen Tarifabschluss vereinbart. Herr Merz, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, sage ich an die Union gerichtet: Jetzt spätestens ist die Stunde gekommen, in der Union und FDP aufhören müssen, zu versuchen, den Standort Deutschland schlechtzureden, wie sie es in ihren Jammerarien der letzten Jahre getan haben. Angesichts der positiven Stimmung derzeit haben Sie eine Verantwortung, aus der Sie nicht mehr herauskommen. ({0}) Ich will Ihnen an verschiedenen Beispielen aufzeigen, was Sie mit Ihren Reden in Bezug auf das Investitionsgeschehen anrichten. Was Sie, Herr Merz, zur Energiepolitik und insbesondere zu den Emissionszertifikaten gesagt haben, war nicht gerade von Sachkenntnis getrübt. Wir wollen, dass die Wirtschaft mit den Emissionszertifikaten ihrer Selbstverpflichtung nach dem marktwirtschaftlich besten Weg nachkommt. Da gibt es ein Problem, das ich Ihnen einmal schildern will - Sie können das heute auch im „Tagesspiegel“ nachlesen -: Die Wirtschaft hat von 2000 bis 2002 15 Millionen Tonnen CO2 zusätzlich emittiert, obwohl sie Selbstverpflichtung eingegangen ist, für den Zeitraum von 2000 bis 2005 20 Millionen Tonnen weniger auszustoßen. Genau darin besteht das Problem: Das Geschrei, dass der BDI jetzt veranstaltet, kommt ausschließlich daher, dass die Wirtschaft ihrer Selbstverpflichtung bisher nicht einmal im Ansatz nachgekommen ist. Es ist aber doch legitim, von demjenigen, der eine Selbstverpflichtung eingeht, zu verlangen, dass diese auch erfüllt wird. Nicht mehr und nicht weniger tun wir. ({1}) Herr Merz, wir von den Grünen sind der Überzeugung, dass die Reformen der Agenda und somit die Modernisierung Deutschlands weitergeführt werden müssen. Ein Revisionismus in Bezug auf die Agenda hat keinen Sinn. Wir müssen Deutschland modernisieren. Für uns ist aber auch das Thema soziale Gerechtigkeit elementarer Bestandteil bei der Modernisierung. Hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Das Thema Praxisgebühr wäre heute nicht auf dem Tisch, wenn Sie bereit gewesen wären - das richtet sich an die Adresse der Union -, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen zuzulassen. Hier liegen die Effizienzreserven. Dadurch, dass sie nicht genutzt werden, werden die Kosten nach oben getrieben. Sie von der CDU/ CSU und von der FDP waren nicht zu mehr bereit, weil Sie die Lobbys des Gesundheitssystems vertreten. ({2}) Wenn wir diese Aufgabe angegangen hätten, dann wäre die Praxisgebühr nicht notwendig gewesen. Deswegen sage ich: Bei der Modernisierung in Deutschland muss auch das Themenfeld soziale Gerechtigkeit einbezogen werden. Ich bin für Wettbewerb im Gesundheitssystem und für eine Bürgerversicherung. Frau Merkel, die von Ihnen vorgeschlagene Kopfprämie, sei sie mehrwertsteuerfinanziert, wie Herr Merz rät, sei sie kreditfinanziert, wie Sie raten, stellt keine soziale Modernisierung dar, sondern sozialen Kahlschlag. Das Ergebnis wäre, dass die kleinen Leute auch noch den Sozialausgleich finanzieren sollen, den das komische Merz-Modell vorsieht. So haben wir nicht gewettet! Das, was Sie machen, ist keine Modernisierung, sondern eine Reise in die Vergangenheit! ({3}) Da Sie die Stimmung bei den kleinen Leuten anfachen, möchte ich etwas dazu sagen. Was müssen sich die Menschen, die zusätzliche Belastungen zu tragen haben, zum Beispiel wenn sie zum Arzt gehen, nur denken, wenn sie in den Medien Berichte über Vorgänge in der Wirtschaft sehen! Es wird gezeigt, wie zum Beispiel ein Herr Ackermann und andere in einem Prozess triumphieren, obwohl sie mehr als Hundert Millionen Euro leichtfertig dafür ausgegeben haben, dass Konzerne kaputtgemacht werden, und nicht dafür, dass die Wirtschaft aufgebaut wird. Wenn die Menschen mit ansehen müssen, wie zum Beispiel Daimler-Chrysler und die Telekom bei Toll Collect auf der ganzen Linie versagt haben, dann müssen sie sich wirklich komisch vorkommen. Auch darüber muss im Deutschen Bundestag gesprochen werden. Herr Verkehrsminister, ich sage Ihnen klipp und klar: Das Angebot von Toll Collect, das jetzt auf dem Tisch liegt, halte ich persönlich für sittenwidrig. Es weist das Muster auf: Wir sind es nicht gewesen, die Risiken sollen politisch abgesichert werden. Ich bin der Meinung, dass wir schnell und konsequent aus diesem Vertrag heraus müssen. Es liegt ein klares Versagen eines Teils der Wirtschaft vor. Wir müssen Ross und Reiter nennen, wenn etwas schief geht. ({4}) An die CDU möchte ich klar appellieren: Herr Merz und Frau Merkel, ziehen Sie Ihre Mogelpackungen zurück, die Sie andauernd präsentieren. Herr Merz, Sie haben sich für Ihren Vorschlag einer Steuerreform feiern lassen, bei deren Umsetzung 10 Milliarden Euro fehlen würden. Sie haben keinen vernünftigen Vorschlag unterbreitet, wie Sie diese Summe finanzieren wollen. Frau Merkel unterstützt das so genannte Kopfprämienmodell, bei dessen Umsetzung 20 Milliarden Euro fehlen würden. Ihnen fällt nichts besseres ein, als dies über Mehrwertsteuererhöhung und über Schulden zu finanzieren. Ihr Vorgehen kann man wie folgt vergleichen: Sie halten den Leuten eine Wurst hin, müssen sie aber wieder zurückziehen, weil Sie sie nicht bezahlen können. Dann behaupten Sie aber, die Bundesregierung sei schuld, dass es keine Wurst gebe. Die Politik, die Sie machen, ist unseriös. Sie schüren Erwartungen, die Sie nicht erfüllen können. Es geschieht Ihnen ganz recht, dass Sie in der Union nun einen solchen Streit haben, weil Sie nicht richtig gerechnet haben. ({5}) Frau Merkel, was ist eigentlich aus den Ankündigungen in Ihrer Mutrede im Oktober des letzten Jahres geworden? Das sollten Sie sich einmal fragen. Sie haben damals heftig auf den Putz gehauen und wollten die große Reformerin und Modernisiererin in Deutschland sein. Inzwischen zaudern und schweigen Sie, ducken sich, sehen weg und wollen verschieben. Sie sagen immer, die Regierung sei es gewesen. Nein, Sie sind unfähig, ein Reformkonzept für dieses Land vorzulegen! Deswegen begnügen Sie sich mit billiger Kritik an der Regierung. Die Stimmung in diesem Hause macht aber deutlich, dass Sie damit nicht durchkommen werden. Wir werden die Wählerinnen und Wähler überzeugen, dass Sie nur Pseudoalternativen auf den Tisch legen und damit nichts für die Wirtschaft und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland tun. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Herr Kuhn, ich glaube, auch durch Schreien werden Ihre Worte in diesem Haus nicht wahr. ({0}) Der „Tagesspiegel“ hat vor einigen Tagen formuliert: Die ungefähr richtige Politik, handwerklich miserabel gemacht und dazu noch schlecht erzählt. - Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich das noch als eine nette Untertreibung empfinde. Erzählen können Sie, Herr Minister, hier gut. Das wissen wir aufgrund vieler Erfahrungen. Wenn man sich den Jahreswirtschaftsbericht des letzten Jahres und das, was Sie in ihm alles haben verlauten lassen, ansieht - Wachstumsdynamik beschleunigen, Arbeitsmarktstrukturen flexibler gestalten, soziale Sicherungssysteme zukunftsfest machen, Konsolidierung der Haushalte vorantreiben -, ({1}) dann fragt man sich, was aus diesen ganzen Versprechungen geworden ist. Was ist mit der Wachstumsdynamik? 2001 betrug das Wirtschaftswachstum schwache 0,8 Prozent. Im Jahre 2002 waren es noch schwächere 0,2 Prozent. Rechnet man die statistischen Arbeitstageeffekte heraus, dann werden wir in diesem Jahr an der Null-Komma8026 Grenze ankommen. Sie müssen auch sehen: Die ersten Wirtschaftsinstitute revidieren ihre Prognosen inzwischen nach unten. Nehmen wir den flexiblen Arbeitsmarkt: Es hat sich weder beim Betriebsverfassungsgesetz noch beim Tarifvertragsgesetz etwas getan. Gemäß der Statistik haben wir immer noch 4,3 Millionen Arbeitslose. ({2}) Wenn es Ihre Änderungen in der Statistik nicht gegeben hätte, dann sähen die Schreckensmeldungen bei weitem noch schlimmer aus als jetzt. ({3}) Viel wichtiger ist, dass wir uns die Beschäftigtenzahl anschauen. Diese weist eine sinkende Tendenz auf. Allein im letzten Jahr verringerte sich die Beschäftigtenzahl um 400 000. Auch laut Ihrem Jahreswirtschaftsbericht wird sie in diesem Jahr noch niedriger ausfallen. Was haben Sie noch versprochen? Ich nenne die zukunftsfesten sozialen Sicherungssysteme. Was liegt vor? Da ist zunächst das Defizit in der Pflegeversicherung. Allein hier belief sich der Minusbetrag im letzten Jahr auf 700 Millionen Euro. Daneben gab es bei der Rente kurzfristig Nullrunden und an die Bundesagentur für Arbeit wurde ein Milliardenzuschuss geleistet, der nicht eingeplant war. Im Gesundheitswesen sehen wir ein Umsetzungschaos, und versprochene Beitragssenkungen werden nicht durchgeführt. Bei den Sozialkassen gibt es ein einziges Desaster. Herr Kuhn, ich komme zur Praxisgebühr. Sie scheinen bei der Regierungserklärung Ihres Kanzlers nicht genau zugehört zu haben. Er hat in seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 als Erster von der Praxisgebühr gesprochen. ({4}) Dann sprechen Sie auch noch von Haushaltskonsolidierung. Es ist eine Farce und Unverschämtheit, 90 Milliarden Euro an neuen Schulden als Haushaltskonsolidierung zu bezeichnen. Die Verletzung des Stabilitätspaktes ist bei Ihnen inzwischen doch zur Routine geworden. ({5}) Herr Minister, Sie können mir wirklich glauben: Obwohl ich Oppositionspolitikerin bin, macht es mir keine Freude, dies alles aufzuzählen. Wir auf der rechten Seite des Hauses sind nämlich nicht nur Oppositionspolitiker, sondern auch Bürger dieses Landes. Wir haben Kinder, Freunde und Bekannte, die ebenfalls von Ihrer Misswirtschaft betroffen sind. Daher freut es mich wenig, dass Sie von der aktuellen Entwicklung in Ihrer Partei weiter geschwächt worden sind. Wir alle wissen doch eines: Wir befinden uns in sehr schwierigen Wirtschaftszeiten. Deshalb brauchen wir einen starken Wirtschaftsminister, der sich gegen Bremser, Blockierer und Bedenkenträger durchsetzen kann. ({6}) Wir brauchen einen Minister, der hier nicht nur unangenehme Wahrheiten sagt - das tun Sie ja -, sondern der auch eine konsistente Politik gestaltet und den seine Partei auch eine konsistente Politik gestalten lässt. ({7}) Das ist bei Ihnen leider nicht der Fall. ({8}) Deswegen ist der heute vorgelegte Jahreswirtschaftsbericht eine Farce. Er ist ein Ritual ohne jegliche Substanz. Wir waren so froh, dass die Grundsatzabteilung endlich wieder ins Wirtschaftsministerium zurückverlagert wurde; Sie bestimmen die Wirtschaftspolitik aber nicht mehr. Das beste Beispiel für Ihr parteiinternes Scheitern ist die Ausbildungsplatzabgabe. Sie stehen für Freiwilligkeit; das wissen wir doch. Aber Sie können sich auch hier nicht durchsetzen. Die Realität in der Regierung sieht leider ganz anders aus. Dass Herr Müntefering als Parteivorsitzender in spe quasi Ihr Vorgesetzter ist, muss Sie wirklich tief getroffen haben. Der Gesetzentwurf für die Ausbildungsplatzabgabe kommt. Mit der Freiwilligkeit ist jetzt Schluss. Stattdessen kommt nun wieder Staatszwang pur. Das einzig Positive daran ist, dass Sie auf dem Sonderparteitag damit Stimmung machen können. Es stellt sich die Frage: Welche ist denn in diesem Spiel Ihre Rolle, Herr Minister? Welchen Part spielen Sie hier überhaupt? Nehmen wir doch als Beispiel den Emissionshandel; er ist heute schon öfter angesprochen worden. Dieses Gesetz hat immens weit reichende Folgen für unsere Wirtschaft. Es ist bezeichnend, dass Ihnen dieses Thema im Wirtschaftsausschuss bis jetzt kein Wort wert gewesen ist. Ich habe zu diesem wichtigen wirtschaftspolitischen Thema um eine Stellungnahme gebeten: Die Auswirkungen des Emissionshandels auf die Wirtschaftspolitik. ({9}) - Lassen Sie mich ausreden, Herr Wend. - Die Stellungnahme ist gekommen. Sie bestand aus einer mageren dreiviertel Seite. Auch hier, Herr Minister Clement, können Sie sich gegen Herrn Trittin nicht durchsetzen. Herr Trittin missbraucht den Emissionshandel, um einen strukturpolitischen Steuermechanismus auf den Weg zu bringen. ({10}) Ihm ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen vollkommen egal. Er versucht, seine grüne Ideologiepolitik in die Industrie hineinzutragen. ({11}) Auch hier, Herr Minister Clement, haben Sie die rote Karte bekommen. Daher dürfen Sie nicht auf das Spielfeld. Herr Kuhn, was Sie gerade im Zusammenhang mit der Selbstverpflichtung der Wirtschaft gesagt haben, muss Ihnen doch wehtun. Dabei hat man gemerkt, dass Sie mit diesem Thema nicht vertraut sind. ({12}) Die Verpflichtung lautet, den Ausstoß der Emissionen bis 2012 um 21 Prozent zu senken. Bis heute hat es die Wirtschaft aufgrund einer Selbstverpflichtung - ich sage das noch einmal: Selbstverpflichtung - geschafft, den Ausstoß der Emissionen um 19 Prozent zu senken. ({13}) Wir würden das Ziel im internationalen Vergleich auch ohne den Emissionshandel erreichen; da können Sie sicher sein. Der Vorstandschef von Vattenfall hat zu Recht seine Sorge geäußert, dass durch die grün-rote Regulierungswut besonders in Ostdeutschland Tausende von Arbeitsplätzen in der Braunkohleindustrie vernichtet werden. Das ist nicht Aufbau Ost; was hier betrieben wird, ist vielmehr Abbau Ost. ({14}) Wie wollen Sie denn diese wichtigen und notwendigen Reformen in Gang bringen, wenn Ihr zukünftiger Parteichef erklärt: „Mehr für den Staat, weniger für den Konsum“? Ein anderes Beispiel: Der Bürger soll dem Staat das geben, was der Staat braucht. - So kann man ein Land nicht nach vorne bringen. Sie wissen genau, dass in der Wirtschaft gilt: Stillstand bedeutet Rückschritt. Bei Ihnen jedoch heißt es momentan: „Vorwärts, Genossen, es geht wieder zurück“ - nichts anderes. Wir müssen die Wachstumskräfte stärken; das wissen auch Sie. Der Mittelstand ist für die Wirtschaftspolitik wichtig; auch das wissen Sie. Sie kennen auch die Analyse der Bundesbank vom letzten Oktober. Darin wird festgestellt, dass sich der gesamte Mittelstand in Deutschland in einer Abwärtsbewegung befindet. Allein die Bruttojahresergebnisse sind in den letzten drei Jahren um 15 Prozent geschrumpft. Wir wissen, dass die ökonomische Katastrophe noch schlimmer gewesen wäre, wenn uns nicht die Exportwirtschaft davor bewahrt hätte. Unser Außenhandel zeigt uns, wie anfällig und wie abhängig wir inzwischen von der Weltwirtschaft geworden sind. Dies beweist, dass die Spaltung zwischen binnen- und außenwirtschaftlichen Kräften immer größer wird. Das ist eine fatale Entwicklung unserer Wirtschaftspolitik. ({15}) Das Thema Osterweiterung war Ihnen nur eine kurze Erwähnung wert. Wir wissen, dass sie nicht nur Risiken, sondern auch Chancen birgt. Wir versuchen, auf diese Chancen immer wieder hinzuweisen. Aber es muss vor allen Dingen auch den kleineren Firmen möglich sein, die Potenziale zu nutzen. Das heißt, sie müssen gut vorbereitet sein und faire Wettbewerbsbedingungen vorfinden. Sie aber haben bei der GA-Förderung eine beispiellose Salamitaktik an den Tag gelegt; einmal hin, einmal her. Man weiß überhaupt nicht mehr, wie es in Ihrer Wirtschaftspolitik zukünftig mit der regionalen Förderpolitik bestellt sein wird. All das zeigt, dass es in diesem Zusammenhang an allen Ecken und Enden hapert. Nehmen wir die Steuerbelastung. Ab Mai werden Länder der EU beitreten, deren Steuerlast bei weitem geringer ist als unsere: Litauen und Zypern 15 Prozent, Lettland 19 Prozent. Andere Länder planen Senkungen der Steuerlast: Polen von 27 Prozent auf 19 Prozent, die Slowakei von 25 Prozent auf 19 Prozent, die Tschechische Republik von 31 Prozent auf 24 Prozent ab dem Jahr 2006. ({16}) In diesem Hause muss man doch handeln. Man kann sich doch nicht zurücklehnen und sagen: Jetzt warten wir erst einmal ab, was überhaupt auf uns zukommt. Im abgelaufenen Jahr sind die Gewinne der deutschen Gesellschaften mit 40 Prozent belastet worden. Das ist der zweithöchste Wert. Nur marginal höher ist die Belastung in Japan mit 40,9 Prozent. Kein Land in Europa greift stärker auf die Unternehmensgewinne zu als Deutschland. Schauen Sie sich die zukünftigen Weichenstellungen an. Müntefering will mehr für den Staat. Wir wollen mehr Freiheit. Müntefering sagt: Bloß keine Hektik bei den Reformen. Wir sagen: 2004 darf kein verlorenes Jahr für Deutschland werden. Da zeigt sich, wo wir in Zukunft ansetzen müssen. Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister, muss zukünftig eine Schlüsselrolle zukommen. Wer soll denn Ihre Fraktion überhaupt auf notwendige Änderungen einstellen, wenn nicht Sie? Schröder kann es nicht. Herr Müntefering will es nicht. Wir sehen genau, dass er eine Vorliebe für Zwangsabgaben hat. Tarifverträge sind für ihn sakrosankt. So können wir erahnen, wo es in den nächsten Jahren unter Ihrer Regierung langgehen wird. Wir brauchen mehr private Initiative. Wir müssen den Menschen mehr zutrauen, anstatt mehr staatlichen Dirigismus zu entwickeln. Public-Private-Partnership wird ein ganz wichtiges Thema in der Zukunft werden. Wir brauchen endlich gesunde Staatsfinanzen. Darum müssen wir uns bemühen und wir dürfen nicht immer wieder in neue Schulden flüchten. Wir müssen endlich für neue Arbeitsplätze sorgen, anstatt die Erwerbslosen aus der Statistik zu streichen. Was passiert jetzt? Die Neiddiskussion ist neu aufgeblüht. Sie ist aberwitzig. Der linke Flügel der SPD freut sich jetzt schon auf die Erbschaftsteuererhöhung, die eingebracht werden soll, obwohl jeder Ökonom sagt, dass allein ein Drittel der Erbschaftsteuer für Verwaltungsausgaben verwendet werden muss. Sie wissen genau, dass durch eine Erbschaftsteuererhöhung Kapital aus dem Land getrieben wird. Ich frage mich schon: Ist es in der momentanen Situation sinnvoll, Betriebsübergaben durch höhere Erbschaftsteuern noch mehr zu erschweren? Viel wichtiger wäre es, die Erben, die sich bereit erklären, unternehmerisch tätig zu sein, zu entlasten, ihnen die Erbschaftsteuer zu stunden und nach zehn Jahren zu erlassen. Dann haben sie viel mehr für die Volkswirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze getan, als wenn sie einmalig Erbschaftsteuer zahlen, die vom aufgeblähten Staat wahrscheinlich nur verfrühstückt wird. ({17}) Lieber Herr Clement, ich weiß, dass Sie uns auch in dieser Sache zustimmen. Aber Sie werden sich auch hier bei Ihren eigenen Leuten nicht durchsetzen können. Ich habe sehr bedauert, dass außer dem Schlagwort „Innovation“, das in Ihrem Bericht vorkommt, keine konkreten Aussagen zu Bildung gekommen sind. Genau darin liegen doch die Grundlagen für die Aufwärtsentwicklung unseres Staates. Die „Financial Times“ hat diese Woche getitelt: „Das Land der Dichter, Denker und Erfinder hat abgewirtschaftet. Weil unser Bildungssystem verrottet, verschleudern wir unsere wichtigste Ressource: die Klugheit unserer Kinder.“ ({18}) Recht hat sie. 10 Prozent eines Jahrgangs verlassen inzwischen die Schulen ohne jeglichen Abschluss. Inzwischen haben wir 4 Millionen Mitbürger, die nicht lesen und nicht schreiben können. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. ({19}) Es gibt viele Kindergärten, in denen 90 Prozent der Kinder kein Wort Deutsch sprechen. Wie soll denn da die Integration stattfinden? Es ist zu wenig, nur das Jahr der Innovation auszurufen, wenn unsere Schüler nur Platz 21 von 32 Plätzen im internationalen Bildungsranking belegen. Ich habe bei Ihnen auch jeglichen konstruktiven Beitrag zum Thema Eliteuniversitäten vermisst. Das ist ein sehr wichtiges Wirtschaftsthema, das angegangen werden muss. Wir kennen Ihre Forderungen nicht. Fordern Sie mehr Freiheit und mehr Eigenverantwortung der einzelnen Hochschulen? Auch in dieser Frage herrscht wieder das berühmte Schweigen im Walde. ({20}) Ich möchte Sie zum Schluss noch auf zwei Schlagworte hinweisen, Herr Clement. Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht 2003 unter das Motto „Allianz der Erneuerung“ gestellt. In diesem Jahr heißt die Devise „Partner für Innovation“. ({21}) Wenn Sie es auch zukünftig nicht schaffen, sich durchzusetzen, und von Ihrem Parteichef ausgebremst werden, kann ich Ihnen nur einen Rat geben: Seien Sie ein Partner für Innovation, wie Sie es im Jahreswirtschaftsbericht formuliert haben! Räumen Sie gemeinsam mit dem Kanzler Ihren Platz und machen Sie damit Platz für eine Allianz der Erneuerung. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Kauder das Wort.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kuhn hat in seiner Rede versucht, den Eindruck zu erwecken, dass die Praxisgebühr eine Erfindung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewesen sei. Ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsidenten aus der Rede des Bundeskanzlers vom 14. März 2003: Gerade weil Eigenverantwortung gestärkt werden muss, sollten wir - ich komme jetzt zu den Instrumenten - Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen. Der Begriff „Praxisgebühr“ stammt also von Herrn Bundeskanzler. Davon sollten Sie nicht ablenken, Herr Kuhn, wenn wir fair miteinander umgehen wollen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kuhn, wollen Sie darauf reagieren?

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, dass Sie kurz auf das Thema eingegangen sind, Herr Kauder. Aus dem in dem Zitat erwähnten Begriff „differenzierte Praxisgebühr“ ergibt sich unschwer, dass es in diesem Zusammenhang um ein differenziertes Modell, aber keineswegs um eine Praxisgebühr beim Hausarzt ging. ({0}) Ich wollte Sie aber - das war der Sinn meiner Äußerungen - an etwas anderes erinnern. In den konkreten Gesprächen, als die Gesundheitsreform in vielen Nächten diskutiert und vereinbart wurde, war durchaus klar, dass entsprechende Maßnahmen zugunsten eines stärkeren Wettbewerbs im Gesundheitssystem zu einer Kostensenkung führen würden, sodass eine Praxisgebühr nicht notwendig wäre. Für die Zukunft ist völlig klar, Herr Kauder: Bei der nächsten Reform im Gesundheitswesen - ob Kopfprämie oder Bürgerversicherung - kommen wir um einen effektiven Wettbewerb in unserem Gesundheitswesen nicht herum. Ich verstehe nicht, dass diejenigen, die sich immer wieder für einen liberalen Wettbewerb aussprechen, die Hauptblockierer sind, wenn es um den echten Wettbewerb verschiedener Leistungsanbieter geht. Das ist der Sinn meiner Ausführungen. Ich finde es großartig, wie die FDP und die Union in diesem Hause immer wieder die Lobbys des alten Gesundheitssystems verteidigen, gerade so, als seien sie von ihnen abhängig und hätten den Kopf nicht frei für einen echten Wettbewerb. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Lothar Binding, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich ja nachher einmal probieren. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Clement hat vorhin festgestellt, dass das vor uns liegende Jahr besser werde als das vergangene Jahr. Ich glaube, wo der Minister Recht hat, hat er Recht. ({0}) Dieser Satz gilt meines Erachtens in einem viel tieferen Sinne, als er sich durch ein Jahresgutachten ergeben kann. Denn er beruht auf Strukturkomponenten, die bei nur kurzfristiger Betrachtung einzelner Parameter nicht erkennbar sind. Die Lasten für die Zukunft bestimmen sich aus verschiedenen Parametern, zum Beispiel aus den Staatsschulden, aber auch aus den künftigen Leistungsansprüchen. Daraus ergibt sich sozusagen eine Tragfähigkeitslücke, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt. Man muss sich den historischen Verlauf genauer anschauen, um zu erkennen, wo wir heute stehen. Wir alle wissen, dass das durchschnittliche Wachstum in den 70er-Jahren bei 2,8 Prozent, in den 80er-Jahren bei 2,3 Prozent und in den 90er-Jahren bei 1,6 Prozent lag. Vor dem Hintergrund des Niedergangs der Wachstumsraten möchte ich die Analyse eines CDUKollegen, die die Situation von 1998 beschreibt, als Beispiel nehmen - ich möchte die Vergangenheit nicht allzu lange bemühen -, um deutlich zu machen, wie Analysen erstellt werden. Danach gab es damals in wesentlichen politischen Bereichen „einen positiven Trend. Die Gemeinden verzeichneten hohe Überschüsse. Die Arbeitslosigkeit ging drastisch zurück. Die Energiepreise entwickelten sich positiv. Die gesamtstaatliche Verschuldung lag bei etwa einem Drittel.“ Der CDU-Kollege, der diese Analyse erstellt hat, hat sich anschließend gewundert, warum er kein zukunftsfähiges Modell zustande gebracht hat. Jetzt, einige Jahre später, gibt es zwei ernst zu nehmende Alternativen. Der erste Ansatz zur Lösung unserer Probleme stammt von der Bierdeckelfraktion. Natürlich kann man sich vorstellen, dass man zukünftig seine Steuererklärung auf einem Blatt Papier abgibt, das so viel Platz bietet wie ein Bierdeckel. Aber das ist nur möglich, wenn man entsprechend viele Bierdeckel nimmt. Wer dieser Fraktion angehört, wird niemals eine seriöse Steuerpolitik machen können. Jeder, der sich das Merz-Modell genauer anschaut, wird sofort feststellen, dass das in volkswirtschaftlicher Hinsicht zu kurz gesprungen ist; denn dieses Modell ist erstens mit Belastungen - je nachdem, wie man rechnet - in Höhe von 30 Milliarden bis 40 Milliarden Euro verbunden, die geschickterweise über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden sollen. Zweitens werden die Auswirkungen auf den Wirtschaftskreislauf nicht zu Ende gedacht. Wie kann man gleichzeitig die Mehrwertsteuer erhöhen und davon sprechen, dass man die Binnennachfrage ankurbeln wolle? Dieser Widerspruch wird von Merz nicht aufgelöst, ganz abgesehen davon, dass in seinem Modell die Integration der Unternehmensteuern völlig ungeklärt bleibt. Das birgt natürlich große Gefahren. ({1}) Um dies sozialpolitisch zu bewerten, sollte man sich vorstellen - hier möchte ich auf das eingehen, was mein Kollege Bernd Scheelen gesagt hat -, was es bedeutet, wenn eine Krankenschwester die Steuern des Chefarztes zu zahlen hat. Es ist klar, dass dies kein Modell für die Zukunft ist. Alle Fachleute haben sich an den Kopf gefasst, als sie dieses Modell näher untersucht haben. Vorhin wurde im Zusammenhang mit Steuern auch von Insolvenzen gesprochen. Vielleicht sollte man hier ebenfalls in die Geschichte zurückgehen. Ein Betrieb, der 1995 beispielsweise von einem Dachdeckermeister gegründet wurde mit der Aussicht, dass die Entwicklung des Baugewerbes sehr positiv verlaufen wird, zählte damals als Betriebsgründung. Jetzt hat aber jeder gemerkt, dass in den 90er-Jahren die Mittel, die nach den Fördergebietsgesetzen gewährt wurden, und die Subventionen im Baugewerbe zum Fenster hinausgeworfen wurden und dass das Baugewerbe seit 1995 im Niedergang begriffen ist. Was macht nun dieser Handwerker, der sich über viele Jahre von Kleinauftrag zu Kleinauftrag gerettet hat? Er geht jetzt natürlich in Konkurs. Wer hat Schuld daran? Angeblich nicht die langfristig fehl angelegte Politik der 90er-Jahre, sondern die aktuelle Steuerpolitik der jetzigen Bundesregierung, die die Steuern zugunsten des Handwerks gesenkt hat. Lothar Binding ({2}) Wir werden den Referenzwert des EU-Stabilitäts- und Wachstumspaktes sicherlich noch einmal überschreiten. Das ist nur eine kurzfristige Entwicklung. Aber es gibt zwei historisch bedeutsame, von Eichel, Clement und Schröder angelegte Strukturveränderungen, die langfristig zu einem Umbau unserer Volkswirtschaft führen werden, nämlich zu einem Übergang von einer reinen angebots- oder nachfrageorientierten Politik zu einem Kombimodell einer gesamtwirtschaftlich orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das ist eine Integration des SPD- und des CDU/CSU-Modells. Darüber hinaus gibt es eine sehr viel weiter gehende Überwindung von zwei Grundmodellen, die uns in der Vergangenheit große Probleme bereitet haben, nämlich des Keynesianismus und des Monetarismus. Ich glaube, dass wir - möglicherweise nicht in ein, zwei Jahren, wohl aber in größeren Zeiträumen - erkennen werden, welche tief liegende Erkenntnis wir der aktuellen Politik zu verdanken haben, die Hans Eichel mit dem Einsatz der automatischen Stabilisatoren beschreibt. Das stellt unsere Sozialsysteme, unser Wirtschaftssystem und unsere Steuerpolitik für die Zukunft auf eine gute Basis, sodass wir einzelnen Fehlentwicklungen in der weltweiten Finanzund Wirtschaftspolitik sehr gut die Stirn bieten können. Dennoch wagt Herr Merz zu fragen: Wo ist eigentlich ein Modell? Ich erkenne in diesem Bericht überhaupt kein Modell für die Zukunft. - Ich kann das kurz zusammenfassen: Herr Merz, lesen Sie nur einmal die Seite 10 des Jahreswirtschaftsberichts 2004! Dort steht eine ganze Liste konkreter Maßnahmen. ({3}) - Ja, Lesen ist nicht jedermanns Stärke, insbesondere wenn es gilt, mehr zu lesen, als auf einen Bierdeckel passt. Inhalte des Reformprozesses der Agenda 2010 sind unter anderem die Senkung von Steuern und die Sicherung der Sozialsysteme. Das ist ein Weg, den wir schweren Herzens gehen. Ihre Bedeutung, auch für die Leute, die wenig Einkommen haben, wird mit Sicherheit noch erkannt werden. Man wird erkennen, dass sie ein System der sozialen Sicherung, angelegt auf Jahrzehnte, beschreibt. Es geht um den Umbau der Arbeitsverwaltung und die Sanierung der Altersvorsorge - hier fließen Erkenntnisse ein, die man durchaus auch schon vor 20 Jahren hätte gewinnen können -: Die Riester-Rente ist der Schritt 1; die nachgelagerte Besteuerung ist der Schritt 2 und die noch zu planende Reform bei der Pflege ist der Schritt 3. Hieran kann man, denke ich, erkennen, wie zukunftsfähig das Modell der jetzigen Regierung eigentlich ist. Da braucht man noch nicht einmal etwas schönzureden. Jeder erkennt, dass dies keine Politik ist, die auf einen Wahltag bezogen ist. Wir muten den Leuten ja nicht ohne Grund schweren Herzens etwas zu, was wir ihnen eigentlich gar nicht zumuten wollen, aber die Spätfolgen einer Politik, die 20 Jahre versäumt hat, bestimmte Strukturen anzugreifen, müssen wir heute angehen. Langfristig wird auch der so genannte kleine Mann erkennen, dass wir das zu seinem Schutz machen. Wer einmal genauer darauf schaut, wie die konkurrierenden Steuermodelle, die jetzt vorgetragen werden, wirken, wird sehr wohl erkennen, dass wir dafür eintreten, dass die breiten Schultern mehr tragen müssen als die schwachen. ({4}) Jeder wird auch merken, dass das Modell von Herrn Brüderle „Zurück ins Private“ nicht funktioniert. Ich will an einem Beispiel deutlich machen, was ich damit meine. Wenn sich der Staat zurückzieht und etwas den Privaten überlässt, dann könnte es wie folgt aussehen: Man gibt Toll Collect einen Auftrag. Die Firma verspricht eine Technologie, kann sie aber nicht liefern. Sie vereinbart Zeitpläne, kann sie aber nicht einhalten. Die Projektplanung ist absolut dilettantisch. - So gut hätte das auch der Staat gekonnt. ({5}) Von daher ist Ihre Lösung keine Lösung. Das wäre eine Fehlentwicklung hin ins Private und hin zum Egoismus des Einzelnen, den wir hinlänglich kennen. Deshalb braucht eine vernünftige Sozialpolitik andere Parameter als die, die Sie vorgeschlagen haben. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht … unterstreicht, dass die bisher umgesetzten Reformmaßnahmen der Agenda 2010 … gute Grundlage und Triebfeder für den nachhaltigen Aufschwung sind. So weit das Selbstlob, das die SPD-Fraktion auf ihre Website gesetzt hat. Ein Blick ins Leben zeigt allerdings etwas ganz anderes, allemal aus Sicht der inzwischen vielen AgendaGeschädigten im Land. Ich war in den letzten Tagen im Saarland und in Rheinland-Pfalz unterwegs. Dort wurde ich immer wieder aufgefordert: Sagen Sie im Bundestag, was wir von den so genannten Reformen halten, nämlich nichts! - Ich wurde von Arbeitslosen, von Jungen, von Alten und von Bürgermeistern darum gebeten; die Leute wissen, wovon sie sprechen, und haben für die Personalwechsel im SPD-Vorstand nur ein müdes Lächeln übrig. Deshalb wiederhole ich: Solange Rot-Grün den Kurs nicht ändert, so lange bleibt Ihre Agenda 2010 ein Ladenhüter. ({0}) Das Hauptproblem, auch für die Sozialsysteme, ist die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit. Sie hat inzwischen fast das Endzeitniveau der CDU/CSU-Ära 1997/1998 erreicht. Ich betone das, damit die Opposition zur Rechten heute Vormittag nicht allzu vergesslich daherredet. ({1}) Der Kardinalfehler von Rot-Grün ist aber: Sie wiederholen die Fehler von CDU/CSU und FDP auf höherer Stufe; Sie entlasten die Vermögenden weiter und belasten die Schwachen. Dann behaupten Sie noch, das sei alles gerecht und alternativlos. Genau das ist es aber nicht. Deshalb hat die PDS Ihrer Agenda 2010 eine „Agenda sozial“ entgegengesetzt. Der Minister hat heute für 2004 ein Wirtschaftswachstum von bis zu 2 Prozent prophezeit. Sie hoffen auf die Weltkonjunktur und darauf, dass Ihre Steuerreform Impulse setzt. All das wird aber an der Arbeitslosigkeit und an der Finanzschwäche der Städte und Kommunen nichts ändern. Selbst der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit musste in diesen Tagen eingestehen, dass der Umbau der Agentur an der Arbeitslosigkeit ganz wenig ändern wird. Ich meine, zumindest das spricht für Herrn Weise; denn auch aus diesem Hause hörten wir schon Wundertöne über den angeblichen Segen der Agenda 2010. Für die Bundesagentur nach Gerster gilt aber dasselbe wie für die SPD nach Schröder: Ein neuer Chef kann ganz schnell alt aussehen, wenn er am falschen Konzept festhält. ({2}) Ich habe in der vergangenen Woche unter anderem die Jobbörse in Pirmasens besucht. Nach allem, was mir berichtet wurde, arbeitet sie mit Erfolg. Es gibt eine gute Vermittlungsquote, es gibt gute Kontakte zur einheimischen Wirtschaft und vor allem gibt es gute Mitarbeiter sowohl im Sozialamt als auch in der Bundesagentur und in der Jobbörse selbst. Zwei Tage später lese ich, die Jobbörse sei in Gefahr, weil die Bundesagentur für Arbeit sie nicht mehr wie bisher unterstütze, nicht mehr unterstützen dürfe. Das sind nämlich die Auswirkungen Ihrer Reformen. ({3}) Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern Sie bekämpfen die Arbeitslosen. Das können Sie gegenüber keinem, der von der Agenda betroffen ist, schönreden. Die Bundesrepublik hat auch 2003 einen erheblichen Exportüberschuss erwirtschaftet. Das Hauptdilemma - das wissen Sie alle - besteht auf dem Binnenmarkt. Das bestätigt übrigens auch das DIW in seinem aktuellen Gutachten. Gerade auf dem Binnenmarkt wirkt aber Ihre Agenda 2010 negativ. Das zusätzliche Geld, das Sie mit der Steuerreform versprachen, ziehen Sie den Menschen durch höhere Gebühren aus der Tasche, und zwar viel schneller als es hineinkommt. Die Kommunen, die investieren sollten, können es nicht, weil sie pleite sind. Ganze Regionen werden einfach ihrem Schicksal überlassen, als wären sie für RotGrün weiße Flecken auf der Landkarte. Die PDS im Bundestag fordert seit langem eine bessere Finanzausstattung der Kommunen, gerade zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitions- und Förderprogramme für kleine und mittlere Unternehmen und ein öffentliches Investitionsprogramm speziell für die neuen Länder. Das wollen Sie nicht und das können Sie umso weniger umsetzen, wenn Sie sich mit der CDU/CSU einen fatalen Wettlauf um noch niedrigere Steuern liefern. Zum Schluss noch eine Bemerkung: Ich habe in den letzten Tagen viel Post bekommen; oftmals beschweren sich Bürger aus den alten Bundesländern, dass die „PDS im Bundestag“ so viel über die neuen Bundesländer redet. Ihnen stehe in den alten Ländern schließlich auch das Wasser bis zum Halse. - Das wissen wir wohl. Allerdings muss es wenigstens noch eine Partei geben, die sich besonders der Belange des Ostens annimmt, insbesondere nachdem ich im Jahreswirtschaftsbericht 2004 diesbezüglich fast keine Lösungen gefunden habe und auch die Stimmen der Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten hier heute vermissen musste. Leider hat auch Werner Schulz nur die Agenda 2010 schöngeredet, anstatt sich zum Beispiel der besonderen Belange der ostdeutschen Länder anzunehmen. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht 2004 zeigt, unter welch starkem Realitätsverlust die Opposition leidet. ({0}) Im letzten Jahr hat sie eine Schlusslichtdebatte geführt. Herr Hinsken hatte seinen Auftritt mit der schönen Laterne. Heute geht es um die zusätzlichen Arbeitstage. Im Kern geht es darum, dass Sie die Vertrauenskrise aufrechterhalten, immer nur herumnörgeln, mäkeln und alles kleinreden wollen. Das ist Wirklichkeitsverweigerung. Das schadet unserem Land. ({1}) Unsere liebe Kollegin Wöhrl hat dazu eben einen deutlichen Beitrag geleistet. Sie sagte, es mache ihr keine Freude, immer herumnörgeln zu müssen. Ganz glaubwürdig war das nicht. Sie könnten sich diese Freude ganz schnell verschaffen, wenn Sie einfach zur Kenntnis nehmen würden, welche Verbesserungen es in diesem Land gegeben hat und weiterhin geben wird. Vielleicht würde es dazu beitragen, dass Sie freudiger in die Zukunft schauen, wenn Sie Ihre Haltung, die Wirklichkeit nicht wahrzunehmen, aufgeben und nüchtern anerkennen, was sich durch den Reformprozess getan hat. ({2}) Nun möchte ich ein Stichwort aufgreifen, das Herr Kauder hier noch einmal angesprochen hat, nämlich die Praxisgebühr. Er hat völlig richtig aus der Rede des Kanzlers vom 14. März zitiert, in der der Kanzler von einer differenzierten Praxisgebühr gesprochen hat. ({3}) Das Modell der Sozialdemokraten und der Grünen sah vor, dem Hausarzt eine Lotsenfunktion zukommen zu lassen und für Besuche bei ihm keine Praxisgebühr zu erheben. ({4}) Sie aber haben im Gesetzgebungsverfahren dafür gesorgt, dass auch dort die Praxisgebühr gezahlt werden muss. Machen Sie sich jetzt keinen schlanken Fuß. Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung. ({5}) Alles andere trägt dazu bei, dass die Glaubwürdigkeit der Politik in unserer Gesellschaft leidet. ({6}) Zur Erfolgsstory dieses Landes hat auch die funktionierende Tarifautonomie beigetragen, die die Opposition geschlossen zerstören will. Eine eindeutige Bestätigung dafür, dass die Tarifautonomie funktioniert, ist der jetzt gerade in Baden-Württemberg zustande gekommene Tarifabschluss. Indirekt wird damit auch die Position, die wir im Vermittlungsausschuss eingenommen haben, unterstützt. Ich finde, es ist wichtig, dass wir hier klarstellen: Die Tarifvertragsparteien selbst lösen die Probleme und stellen sich selbst den Fragen und Herausforderungen. Der erreichte Abschluss ist wirtschaftspolitisch vernünftig. Er verbindet Flexibilität und Sicherheit: Flexibilität für die Unternehmen, indem sie die Arbeitszeit in größerem Umfang flexibler bestimmen können, und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande, da sie sich auf die Tarifverträge verlassen können. Das ist eine wichtige Botschaft, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({7}) Verunsicherung schafft kein Vertrauen, drückt die Stimmung und sorgt damit dafür, dass kein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal entsteht. Mit dem Tarifvertrag wird die Binnennachfrage gestärkt werden. Genau solch ein konjunkturpolitisches Aufbruchssignal brauchen wir. Das unterstützt unseren Wachstums- und Konsolidierungsprozess. Insofern sind wir froh, dass im Zuge dieses Tarifvertrages auf der einen Seite der private Verbrauch wieder zunehmen wird, auf der anderen Seite die Unternehmen aber nicht überfordert werden. In der Tat ist der Tarifabschluss so maßvoll, dass er durch Produktivitäts- und Preissteigerungen allemal finanziert werden kann. Insofern ist er ein gutes Signal für unser Land. ({8}) Gut ist auch, dass durch eine Laufzeit von 26 Monaten Planungssicherheit erreicht worden ist. Insgesamt gesehen wird auch dieses Tarifergebnis, das in freien Verhandlungen erzielt worden ist, mit dazu beitragen, dass es in Deutschland aufwärts geht und der Wachstumskurs gestärkt wird. Somit ist es nicht richtig, diesen Abschluss nur als einen kleinen Schritt darzustellen, wie es Herr Merz getan hat, und den einzigen Erfolg darin zu sehen, dass dauerhaft Arbeit ohne Bezahlung möglich wird. Alles, was in diese Richtung geht, halten wir für einen Irrweg; den werden wir Sozialdemokraten nicht unterstützen. ({9}) Der Tarifabschluss ist ein Beispiel dafür, dass die Konjunkturaussichten besser werden. Die Wachstumsaussichten für dieses Jahr sind schon positiv: laut Jahreswirtschaftsbericht 1,5 bis 2 Prozent Wachstum. Ich denke, dies ist realistisch, da man sich mit dieser Größenordnung eher am unteren Ende bewegen dürfte. Das haben wir alle ja auch heute wieder erfahren; denn das wachsende Vertrauen seitens der Wirtschaft schlägt sich in Umfragen und Erhebungen nieder. So ist der Ifo-Geschäftsklimaindex neunmal hintereinander gestiegen. Aber auch die harten Indikatoren wie die Auftragseingänge und die Industrieproduktion, die für uns wichtig sind, zeigen nach oben; so sind die Ausrüstungsinvestitionen in den letzten Monaten um mehr als 4 Prozent gestiegen. Zudem konnte zum Ende des Jahres ein Rekordwert beim Export in die Euro-Länder erzielt werden, obwohl aufgrund des Wechselkursverhältnisses ein Rückgang des Exports in die USA zu verzeichnen ist. Das zeigt, dass die deutsche Exportwirtschaft, die ein starkes Standbein unserer Konjunktur darstellt, absolut wettbewerbsfähig ist. ({10}) Der Arbeitsmarkt, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist schon früher in Bewegung geraten. Wir alle wissen, dass es im letzten Jahr kein Wachstum gab. Trotzdem werden im Jahresdurchschnitt 100 000 Arbeitslose weniger zu verzeichnen sein. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt sogar um 7 Prozent unter dem Vorjahreswert. In den neuen Ländern ist der Vorjahresstand sogar insgesamt unterschritten worden. Das hätte der sehr geehrte Herr Minister aus Thüringen wissen müssen. Daran zeigt sich, dass auch mit harten Fakten belegt werden kann, dass wir durch unsere Politik nach vorne kommen. Kohl hatte den neuen Ländern blühende Landschaften versprochen. Er hat sie getäuscht, wie wir heute wissen. Er hat die Menschen mit ABM getäuscht und er hat die Sozialkassen geplündert. Damit hat er das Vertrauen in die Politik zerstört und so auch die Grundlagen für die Wachstumsschwäche in den vergangenen Jahren geschaffen. Das muss an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich gesagt werden. ({11}) Mit unserem Reformprozess, der Agenda 2010, haben wir kurzfristig Impulse für die Konjunkturerholung gesetzt. Darüber hinaus müssen eine mittelfristige Konsolidierung der Staatsfinanzen und langfristige Strukturreformen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum sorgen. Wir senken mit unseren Arbeitsmarktreformen die Beschäftigungsschwelle, zum Beispiel dadurch, dass durch Ich-AGs, Personal-Service-Agenturen, aber auch durch Minijobs bessere Anreize zur Arbeitsaufnahme organisiert werden. Auch eine effizientere Arbeitsvermittlung und die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe werden einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten. Effizientere Märkte sind natürlich auch durch die Novelle zur Handwerksordnung zu erreichen. Ich habe mich heute wieder sehr gewundert, als Herr Brüderle ein Plädoyer für den Wettbewerb abgegeben hat: ({12}) Der Wettbewerb sorge für Dynamik, er sei ein wichtiges Element. Wo aber saßen die Bremser? Die FDP und die CDU/CSU haben den Prozess der Novellierung der Handwerksordnung massivst behindert. Unserem nachhaltigen Wirken ist es zu verdanken, dass es eine vernünftige Handwerksordnungsnovelle gibt, die für Wachstumsimpulse in diesem Land sorgen wird. ({13}) Auch der Anstieg der Lohnnebenkosten ist im Rahmen der Sozialreformen ein wichtiges Thema. Dabei setzen wir auf mehr Wettbewerb, nicht in erster Linie auf Leistungskürzung. Das müssen die Menschen in diesem Lande wissen. Es sollen nicht einfach Leistungen herausgeschnitten oder gekürzt werden, sondern der Wettbewerb muss für günstigere Angebote, für qualitativ bessere Angebote genutzt werden. Auch dabei haben wir leider erleben müssen: Die Opposition sitzt im Bremserhäuschen. Sie hält Sonntagsreden für mehr Wettbewerb, aber wenn es dann ernst wird, schützt sie Apotheker, Ärzte und die Pharmaindustrie und ist nicht bereit, einen fairen Wettbewerb zuzulassen. Für uns steht fest, meine Damen und Herren: Die Reformen müssen weitergehen. Sie werden in unverminderter Geschwindigkeit weitergehen, aber sozial ausgewogen unter dem Gesichtspunkt, Innovation und Gerechtigkeit in ein entsprechendes Verhältnis zu bringen. ({14}) Unsere Leitlinie lautet: fördern und fordern. Das Fördern steht bei uns ganz obenan, es steht dem Fordern zuvor. Ihre politische Leitlinie lautet leider: fordern und mehr Druck. Damit entsteht keine Modernisierung, keine inhaltliche Verbesserung. Wir wollen mehr Eigenverantwortung, wir wollen eine Modernisierung des Sozialstaates und nicht einen Abbau des Sozialstaates. ({15}) Es gab schon Zwischenrufe, in denen unterstellt wurde, die durch uns vorgenommenen Veränderungen hätten zum Beispiel für den Arbeitsmarkt rein statistische Bedeutung. ({16}) Die Empörung von Herrn Laumann bezüglich der Anpassung der Arbeitsmarktstatistik an internationale Standards ist groß. „Ein Laumann ersten Ranges“ titelt die „Berliner Zeitung“ am 6. Februar 2004. Sie zitiert ihn mit gewichtigen Aussprüchen wie „Manipulation“ und „Skandal ersten Ranges“. In der Tat wollen wir die Arbeitsmarktstatistik an internationale Standards anpassen; denn wir sind es leid, dass Deutschland durch die Opposition im internationalen Bereich schlechtgeredet wird. ({17}) Wir wollen uns international messen lassen. Wir sind im internationalen Vergleich eben nicht schlecht, sondern gut und wir werden noch besser werden. ({18}) Lassen Sie mich klar sagen: Wenn Herr Fuchtel fordert, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf 2006 verschoben werden soll, dann zeigt er auch damit wieder deutlich, dass er in der Tat nicht will, dass eine wichtige Reform durchgeführt wird, die zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation beiträgt, die dazu beiträgt, dass es Fallmanager, eine systematische Arbeitsvermittlung, Jobcenter und Hilfen aus einer Hand geben wird, sondern dass dies alles den Arbeitslosen in diesem Land verweigert wird, dass man hinnimmt, dass die Arbeitslosigkeit länger verwaltet wird. Das ist mit den Sozialdemokraten und den Grünen nicht zu machen. ({19}) Es ist völlig klar, dass die ersten positiven Ergebnisse vorliegen. Fördern und fordern zahlt sich aus: Es gibt beispielsweise 250 000 mehr Existenzgründer. Die Wiedereingliederung, bessere Hilfen und individuelle Betreuung durch Fallmanager stehen im Vordergrund. Das ist ein ganz wichtiges Signal. Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass wir zu unserem Wort stehen, die Kommunen auch tatsächlich um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Wir wissen, dass die Kommunen in unserem Land wichtige Investitionsleistungen übernehmen. Deshalb werden wir im Ergebnis auch sicherstellen, dass die tatsächliche Entlastung bei den Kommunen ankommt. Darauf können die Kommunen vertrauen. ({20}) „Leistung, Innovation, Wachstum“ ist die Losung des Jahreswirtschaftsberichts 2004. Deutschland ist auf einem guten Weg. Blockieren Sie diesen Weg nicht! Räumen Sie die Steine aus dem Weg! Sorgen Sie mit dafür, dass das Land nicht weiter schlechtgeredet wird! Wir sollten vielmehr gemeinsam die Konjunktur ankurbeln. Sie haben allen Grund, dabei Ihren Beitrag zu leisten. Dann wird es auch gelingen, die Arbeitslosigkeit deutlich zurückzuführen. ({21})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2405 und 15/2000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer - Drucksache 15/2349 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die FDP zwölf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen heute den 200. Todestag des großen Freiheits- und Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant. Diese Debatte ist eine gute Gelegenheit, an ihn zu erinnern. Ich möchte ihn zitieren. Er hat in seiner „Metaphysik der Sitten“ gesagt: Nur solche Prinzipien, die diesem wechselseitigen, gesetzlich geschützten Respekt der Freien nicht gefährden, dürfen allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Was will er damit sagen? Er will damit sagen, dass wir vor den Freiheitsrechten der Bürger Respekt haben müssen und nur solche Regeln aufstellen dürfen, die diese Freiheitsrechte und die eigenverantwortlichen Handlungsmöglichkeiten respektieren. ({0}) Haben wir das mit unserer Gesetzgebung getan? Ich glaube, wir haben die Bürger eher entmündigt, sie zu Untertanen von Staat und Bürokratie gemacht und sie in ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. ({1}) Jedenfalls gilt das für das Steuerrecht. Wer sich das deutsche Steuerrecht, den deutschen Steuerdschungel, anschaut, der glaubt, wir seien verrückt geworden. Es ist ein absurdes System, das keiner mehr versteht und an dem selbst die Experten verzweifeln. Die Steuerberater wissen nicht mehr, wie sie ihre Mandanten beraten sollen; die Verwaltung weiß nicht, wie sie das Steuerrecht anwenden soll. Das Chaos ist allgemein. Der Bürger entzieht sich diesem System. Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung werden in Deutschland als Kavaliersdelikte angesehen. ({2}) - Natürlich gilt er für die Wahrheit. Über die Wahrheit rede ich doch jetzt. ({3}) Der Bürger entzieht sich durch Schwarzarbeit, durch Kapitalflucht, durch Investitionen im Ausland und durch komplizierte Arrangements, mit denen man Steuern vermeiden kann. Dieses Steuerrecht ist nicht reformierbar. Es muss abgeschafft werden. Wir müssen ein völlig neues, einfaches und bürgerfreundliches Steuerrecht dagegenstellen. Das ist unsere Aufgabe. ({4}) Es muss endlich Schluss sein mit der Ankündigung von Steuersenkungen, die in Wirklichkeit immer zu Steuererhöhungen geführt haben. Es muss endlich Schluss sein mit der angeblichen Steuervereinfachung, die zu immer mehr Verkomplizierungen geführt hat. Es muss Schluss sein mit den laufenden Forderungen nach neuen Steuererhöhungen und nach Einführung neuer Steuerarten. Gerade in den letzten Wochen konnten wir von Forderungen nach der Anhebung der Mehrwertsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Anhebung der Erbschaftsteuer lesen; alles Forderungen, wie sie gerade von den Grünen erhoben worden sind. ({5}) Was sagt denn der Bürger dazu? Der Bürger sagt: Ich glaube denen sowieso nicht. Ich weiß, dass die mir nur in die Tasche greifen wollen. Dies geht so nicht mehr. Dagegen können Sie nur ein einfaches, für jedermann verständliches Steuerrecht stellen. Das schlagen wir Ihnen heute vor. Um es Ihnen mit Ihrer Kritik nicht zu einfach zu machen, sage ich Ihnen: Wir haben uns strikt an die Grundprinzipien unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung, gehalten und versucht, diese in dem Einkommensteuerentwurf, den wir Ihnen vorgelegt haben, zu verwirklichen. ({6}) Fangen wir mit dem Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Grundgesetz an. Es ist doch selbstverständlich, dass der Bürger ein Gesetz, welches er befolgen soll, zunächst einmal verstehen können muss. ({7}) Das ergibt sich doch eindeutig aus dem Demokratieprinzip. Deswegen schlagen wir einen transparenten Stufentarif vor. Es wird immer gefragt: Warum ein Stufentarif? Technisch ist es egal, ob Sie einen linear-progressiven Tarif oder einen Stufentarif haben. Aber es geht um die Verständlichkeit. Der Bürger soll seine Steuerbelastung mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen können. Das kann er bei einem Stufentarif, nicht aber bei einem Formeltarif. Das Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung - das ist ebenfalls in Art. 20 Grundgesetz verankert - fordert Vertrauensschutz. Herr Bundesminister Eichel, wie haben Sie es mit dem Vertrauensschutz gehalten? Der Bundesfinanzhof hat ja gerade die Verlängerung der Spekulationsfrist bei Immobilienverkäufen als eine nicht verfassungsgemäße Rückwirkung bezeichnet. ({8}) Die Präsidentin des Bundesfinanzhofes hat ausdrücklich gesagt, der Gesetzgeber hätte erkennen können, dass wir es mit dem Verfassungsverbot der Rückwirkung ernst meinen. ({9}) Das gilt natürlich genauso - Herr Bundesfinanzminister, dafür sind nicht Sie zuständig; das haben die Gesundheitspolitiker veranlasst - für die Eingriffe im Hinblick auf die Betriebsrenten und die Direktversicherungen. ({10}) Hier ist in lang bestehende Altersversorgungsplanungen der Bürger eingegriffen worden. Darauf konnten sie sich nicht vorbereiten und damit konnten sie nicht rechnen. Das ist ein enteignungsgleicher Tatbestand und evident verfassungswidrig. Diese Regelung wird keinen Bestand haben. ({11}) Für uns heißt das auch, dass die Verwaltung in Zukunft keine Nichtanwendungserlasse mehr herausgeben darf. Die höchstrichterliche Rechtsprechung muss Rechtskraft haben. Nur der Gesetzgeber ist befugt, dies zu ändern. Meine Damen und Herren, der Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Grundgesetz besagt ganz eindeutig, dass gleiche Sachverhalte gleich behandelt werden müssen. Das führt doch zwingend dazu, dass die unterschiedliche Besteuerung nach unterschiedlichen Einkunftsarten aufgegeben werden muss. Wer den Gleichheitsgrundsatz ernst nimmt, muss sämtliche Lenkungsnormen und Ausnahmen im Steuerrecht beseitigen. Nur dann bekommen Sie ein einfacheres und gerechtes Steuerrecht zustande. Deswegen brauchen wir ein Steuergesetz, das auf einen einheitlichen Einkommensbegriff abstellt und in dem die Einkünfte nur nach der Höhe unterschiedlich belastet und alle anderen Dinge außen vor gelassen werden. Es geht nicht, dass sich die Politik über das Steuerrecht in die privaten oder wirtschaftlichen Entscheidungen der Bürger einmischt. Das muss endlich beendet werden. ({12}) Deswegen gehen wir in unserem Entwurf strikt von der Neutralität des Steuerrechtes aus. Die Besteuerung muss unabhängig davon erfolgen, aus welcher Quelle das Einkommen stammt, für welche Zwecke es verwendet wird oder in welcher Rechtsform es erwirtschaftet wird. Es gibt andere Vorschläge wie den des Sachverständigenrates: eine duale Besteuerung, die zu einer Begünstigung der Kapitaleinkünfte führt. Das ist zwar ein interessanter Vorschlag; aber er wird dem Prinzip der Gleichheit der Besteuerung und dem Neutralitätsprinzip nicht gerecht. Deswegen haben wir ihn verworfen. Die Steuererklärung muss einfach sein und ohne großen Zeit- und Kostenaufwand erstellt werden können. Deswegen mündet unser Steuerkonzept in ein einseitiges, einfaches Steuererklärungsformular, das selbstverständlich auch elektronisch an das Finanzamt geliefert werden kann. Eine Seite, so einfach ist es. Wir haben es vielfach ausprobieren lassen. Innerhalb einer halben Stunde hat es jeder bewältigt, dem ich das Formular vorgelegt habe. ({13}) Herr Bundesminister Eichel, ich zeige es Ihnen auch. ({14}) Selbstverständlich müssen Sie Ihre Daten vorher gesammelt haben. Im Übrigen ist die blau-gelbe Färbung rein zufällig. ({15}) Art. 14, der Eigentumsartikel, schreibt zwingend vor, dass Sie keine übermäßige Besteuerung durchführen dürfen. Dabei darf man nicht nur auf die direkten Steuern achten. Uns wird vorgeworfen, ein Steuersatz von 35 Prozent sei zu niedrig; die Bezieher höherer Einkommen würden zu niedrig besteuert. Sie müssen natürlich sehen, dass wir neben den direkten Steuern auch noch indirekte Steuern haben. Diese sowie vielfältige Sozialabgaben führen dazu, dass wir in Deutschland die bei weitem höchste Abgabenquote aller Industriestaaten haben. ({16}) Deswegen muss sie bei den leistungsdämpfenden direkten Steuern korrigiert werden. ({17}) Aus Art. 14 ergibt sich auch, dass Sie keine Doppelbesteuerung zulassen dürfen. Dies bedeutet, dass eine Vermögensteuer auf keinen Fall wieder eingeführt werden darf, weil das Vermögen, das Sparkapital der Bürger, längst schon mehrfach besteuert worden ist. ({18}) Das gilt auch für eine potenzielle Erhöhung der Erbschaftsteuer. Schließlich führt uns der Schutz von Ehe und Familie dazu, dass wir in unserem Stufentarif das Ehegattensplitting durch Verdoppelung der Einkommensgrenzen bei den Stufen beibehalten und auch den Kindern einen Freibetrag in der Höhe des Grundfreibetrags jedes Erwachsenen gewähren. ({19}) Erst dadurch kommen wir zu einer adäquaten Berücksichtigung der Kinder im Steuerrecht. Im Ergebnis werden Ehepaare mit zwei Kindern erst ab einem Jahreseinkommen von 37 000 Euro überhaupt Einkommensteuer zu zahlen haben. Deswegen kann von sozialer Schieflage überhaupt keine Rede sein. ({20}) Der normale Arbeitnehmer mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen bleibt also von einer Einkommensbesteuerung völlig frei. ({21}) - Heute ist die Besteuerung sehr viel höher. Meine Damen und Herren, nun sage ich noch etwas zur Finanzierung. Uns ist vielfach vorgeworfen worden, unsere Vorschläge seien unsolide und in Anbetracht der Haushaltslage nicht finanzierbar. Genau das Gegenteil ist der Fall: Eine solche Steuerreform muss mit einer Steuerentlastung verbunden sein, weil sonst die Bürger, die bisherige Vorteile verlieren, die Zeche bezahlen müssten. Aus einer solchen Steuerreform sollen aber alle einen Vorteil haben. Darüber hinaus sind nur durch eine Entlastung Wachstumsimpulse auszulösen, die wir brauchen, um unsere Wirtschaft zu dynamisieren und Arbeitslose in Arbeit und Brot zu bringen. ({22}) Dadurch machen wir aus Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldempfängern wieder Steuer- und Beitragszahler. Nur wenn Sie das erreichen, wird es Ihnen auch gelingen, Herr Bundesfinanzminister, die Haushalte zu sanieren. Ohne eine Dynamik der Wirtschaft und ohne einen Beschäftigungseffekt wird Ihnen dies nicht gelingen und ohne Steuersenkung erreichen Sie diesen Effekt nicht. Deswegen ist eine solche Nettoentlastung zwingend geboten. Im Übrigen - das sage ich nur nebenbei - haben Berechnungen ergeben, dass in den gut fünf Jahren der rotgrünen Regierung Belastungswirkungen und Entlastungswirkungen saldiert zu einer Mehrbelastung der Steuerbürger bzw. der Steuersubjekte insgesamt in Höhe von 8 bis 10 Milliarden Euro geführt haben. Dies schließt die dritte Stufe der Steuerreform von Rot-Grün bereits ein. Wenn wir nach unserem Vorschlag zu einer Steuerentlastung von 15 Milliarden Euro kommen, dann neutralisieren wir zunächst einmal den Zugriff der rotgrünen Regierung auf die Steuersäckel der Bürger. Darüber hinaus bleibt nur eine Nettoentlastung von 6 bis 8 Milliarden Euro übrig. Wenn dies nicht zu verantworten sein sollte, dann möchte ich wissen, was Sie sich noch leisten wollen. Meine Damen und Herren, dies ist ein Angebot an alle Parteien, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. ({23}) Wir können dies nicht alleine durchsetzen. Die rot-grüne Bundestagsmehrheit kann ihre Reform nicht alleine durchsetzen, weil es im Bundesrat eine andere Mehrheit gibt. Wir sind aufeinander angewiesen. Ich fordere Sie auf, sich an einem solchen konstruktiven Reformprozess zu beteiligen. Natürlich kann man immer über Einzelheiten reden. Das muss so sein. Aber das Grundkonzept einer EinDr. Hermann Otto Solms kommensteuer, die sich strikt an den Prinzipien unserer Verfassung orientiert, kann auf keinen Fall aufgegeben werden. ({24}) Deswegen sage ich Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss mit Immanuel Kant: Haben Sie den Mut, sich Ihres eigenen Verstandes zu bedienen! ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel. ({0})

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich haben wir den Mut, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen - auch über Ihren liberalen Verstand hinweg, Herr Solms. Darauf will ich gleich kommen. Zuallererst begrüße ich aber die unpolemische Art, mit der Sie Ihr Konzept hier vorgetragen haben. Verehrter Herr Merz, man kann einen Gesetzentwurf vorlegen. Sogar die FDP, eine kleine Fraktion in diesem Hause, kann das. Sie stellt nur einen einzigen Finanzminister in Deutschland, nämlich Herrn Professor Paqué in Sachsen-Anhalt. Umso mehr müsste es doch der Union, dieser großen Partei, möglich sein, einen Gesetzentwurf vorzulegen. ({0}) - Unser Gesetz steht längst im Gesetzblatt, Herr Merz. Parteifreunde von Ihnen leiten so leistungsfähige Finanzministerien wie die von Bayern und BadenWürttemberg. Haben Sie den Mut, auch einen Gesetzentwurf auf den Tisch zu legen! Dann kommen wir wieder ein kleines Stückchen weiter. Herr Solms, nun wollen wir gucken, was in Ihrem Konzept steht und was nicht darin steht. Ich will mit den aus meiner Sicht diskussionswürdigen Punkten anfangen und im zweiten Teil die kritikwürdigen Dinge ansprechen. Diskussionwürdig ist in der Tat der Abbau von Steuervergünstigungen. Er freut jeden Finanzminister. Jede Vergünstigung, jede Ausnahme von der allgemeinen Besteuerung animiert unsere 70 000 Steuerberater in Deutschland und auch die Bürger dazu, sie sich zunutze zu machen, um die Steuerlast zu senken. Ich rede jetzt nur von dem, was rechtens ist, und nicht von dem, was nicht rechtens ist. Ich kritisiere das gar nicht; die Kritik hat sich an den Gesetzgeber zu richten. Was das bedeutet, haben wir beim Thema Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge gesehen. Plötzlich - es hat Jahrzehnte gedauert; das hat mich wirklich gewundert - kam ein Fußballverein auf die Idee, dass man auch die Millionengehälter von Fußballern darunter subsumieren könnte. Ich nehme dieses Beispiel, weil es für uns Sozialdemokraten ein sensibles ist; wir wollen nicht - da haben Sie Recht - diejenigen den Abbau von Vergünstigungen bezahlen lassen, die kleine Einkommen haben und davon betroffen sind. Deswegen ist eine Reihe von flankierenden Maßnahmen zu treffen. Solange die Tarifvertragsparteien, deren Sache es wäre, das in Tarifverträgen zu regeln, dazu nicht bereit sind, werden wir den Krankenschwestern die Vergünstigung nicht wegnehmen, wenn damit verbunden wäre, dass sie mehr Steuern zahlen müssten. Das kann nicht sein. ({1}) Damit sind wir zum ersten Mal an dem Punkt, dass wir über die soziale Frage der Verteilungswirkung unserer Steuergesetzgebung reden müssen. Aber zunächst einmal ist Ihr Konzept grundsätzlich richtig. Ein Hinweis an Herrn Merz: Es ist relativ einfach, ein neues Einkommensteuerrecht zu schaffen. Herr Solms, Sie wissen so gut wie ich: Das neue Recht ist zunächst das alte ohne die Vergünstigungen; dann ist der Tarifverlauf zu wählen. Das Schöne ist: Wer ein ganz neues Einkommensteuergesetz schreibt, muss nicht explizit sagen, welche Vergünstigungen er abschafft. Das einzige, was Sie explizit erwähnen, ist der Wegfall der Vergünstigungen für Arbeitnehmer. ({2}) Aber ich unterstelle einmal, dass Sie - über diesen Punkt muss ja geredet werden - auch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage für Betriebe meinen. Wie wollen Sie denn Bewirtungskosten bzw. Spesen behandeln? Wie wollen Sie denn bei Betriebsjubiläen verfahren? Wie wollen Sie denn mit Dienstwagen umgehen? Weil ich weiß, wie Sie sich bei entsprechenden Vorschlägen meinerseits verhalten haben, frage ich Sie: Was wollen Sie wirklich? Sagen Sie den verschiedenen Lobbygruppen - hier liegt ja die Ursache der Zerstörung des Steuerrechts -, dass Sie all die bisherigen Regelungen nicht mehr wollen? ({3}) Oder sagen Sie nur den Arbeitnehmern, die Sie sowieso nicht wählen, dass Sie ihnen ihre Vergünstigungen wegnehmen? Das zu sagen gehört zur Redlichkeit dieser Debatte. ({4}) Meine Damen und Herren, wir wollen und müssen eine solche Debatte sehr redlich führen. Trotz aller Schwierigkeiten, die bestehen, sage ich Ihnen: Die Abschaffung von Steuervergünstigungen wird jeden Finanzminister freuen. Denn alle Finanzminister - ganz egal welcher Coleur -, die den Versuch unternommen haben, solche Ausnahmetatbestände zu reduzieren, haben sich - ich weiß, wovon ich rede - auf vielfältige Weise blutige Nasen geholt. Deswegen, sehr verehrter Herr Merz, liegt es nun an Ihnen, einen entsprechenden Versuch zu starten und einen Entwurf vorzulegen. Ich habe das schon dreimal gemacht bzw. war daran beteiligt. Der erste Versuch war das Steuerentlastungsgesetz vom Frühjahr 1999. Das konnten wir noch durchsetzen. Damit haben wir - gegen den wütenden Protest der rechten Seite dieses Hauses 70 Steuerausnahmetatbestände entweder ganz beseitigt oder eingeschränkt. ({5}) Dieses Gesetz konnten wir nur verabschieden, weil wir im Bundesrat noch eine Mehrheit hatten. Meine Stimme als hessischer Ministerpräsident, der, was Sie kritisiert haben, die Wahl schon verloren hatte, war damals mit ausschlaggebend. ({6}) Damals gab es bei jeder einzelnen Vergünstigung, die wir gestrichen oder eingeschränkt haben, wütenden Protest. ({7}) Der zweite Versuch war das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen, das uns wahlpolitisch sehr geschadet hat. Darin stand beispielsweise auch - das registriere ich im FDP-Konzept positiv und hoffe, Sie bleiben dabei -, wie wir mit den Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer umgehen. Wir wollten mit dem Abbau von Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer endlich Ernst machen. Auf europäischer Ebene wehre ich mich entschieden dagegen - in diesem Punkt auch gegen unsere französischen Freunde und zunächst einmal nur gemeinsam mit meinem dänischen Kollegen -, dass wir die Mehrwertsteuer genauso zerstören, wie wir es mit der Einkommensteuer durch zig Ausnahmetatbestände getan haben, die durch Lobbys durchgesetzt werden konnten und Mehrheiten gefunden haben. Dagegen wehre ich mich ganz entschieden. ({8}) Wir sollten uns mit Blick auf die Zukunft einig sein, dass keiner von uns versucht, neue Steuervergünstigungen einzuführen. Wenn wir - was ja nicht verkehrt sein muss - an der einen oder anderen Stelle auch einmal eine Subvention gewähren, dann sollte sie auf der Ausgabenseite nur noch eine Finanzhilfe darstellen, die direkt nachgewiesen werden muss, sodass ich jährlich überprüfen kann, ob sie etwas bringt oder ob sie gestrichen werden sollte. Aber, sehr verehrter Herr Merz, dann kann es nicht sein, dass Ihre Seite - in dieser Frage war es übrigens insbesondere der bayerische Ministerpräsident - im Vermittlungsausschuss erklärt, dass im Bereich der Landwirtschaft nicht nur keine einzige Steuervergünstigung beseitigt werde, ({9}) sondern dass auch keine einzige Finanzhilfe eingeschränkt werde; ansonsten sei die Veranstaltung zu Ende. Das ist noch im Dezember letzten Jahres passiert. Daher muss ich mich schon fragen, wie glaubwürdig Ihre Ankündigungen, das Steuersystem radikal zu vereinfachen und die Steuersubventionen abzubauen, sind. Das kann ja wohl nicht sein. ({10}) Das dritte Mal haben wir diesen Versuch mit dem Haushalt 2004 unternommen. Das Ergebnis kennen wir aus dem Vermittlungsausschuss. Ich will ausdrücklich anerkennen, dass wir einen Schritt vorangekommen sind. Aber ebenso ausdrücklich sage ich: Das abstrakte Konzept von Herrn Merz lag ja schon vor und war auf dem Bundesparteitag der CDU unter großem Beifall beschlossen worden. Aber Ihr Verhalten im Vermittlungsausschuss hatte damit nichts zu tun. Sonst hätten wir einen großen Schritt weiter sein können. ({11}) Das gilt auch für die FDP. Meine Damen und Herren, damals habe ich gesagt: Im Vermittlungsverfahren wird entschieden, wie gut die Plattform ist, die wir zimmern, damit wir bei der Vereinfachung des Steuerrechts vorankommen. In dieser Frage sind Sie viel hasenfüßiger gewesen als wir. Denn das, was ich vorgeschlagen habe, ist nur zu einem Teil verwirklicht worden. Hier könnten wir schon einen großen Schritt weiter sein. Wenn ich dann noch ein Jahr weiter zurückdenke, und zwar an das Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen, könnten wir auch schon ein großes Stück weiter sein. Positiv - ich sage das ausdrücklich - ist der Schritt bei der Besteuerung von Alterseinkünften. Ich will dazu auch ein Wort sagen, weil wir gegenwärtig eine Art von Kampagne in diesem Lande erleben. Diesmal hat der „Spiegel“ angefangen, dann erst kam die „Bild“-Zeitung hinterher; es ist ja manchmal sehr unterschiedlich. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat es dagegen präzise auf den Punkt gebracht. Bei den Betriebsrenten ändert sich steuerlich überhaupt nichts. Das Einzige, was insgesamt bei den Renten passiert - was in Ihrem Konzept auch steht; wozu das Verfassungsgericht uns verpflichtet hat -, ist, dass wir ganz vorsichtig, nach und nach, auf der einen Seite die Renten in dieselbe Besteuerung hereinführen, die für jeden Arbeitnehmer gilt. Das wird im Jahre 2040 vollendet sein; heute sind die Freibeträge für die Rente aus gutem Grund mehr als doppelt so hoch wie bei jedem normalen Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite stellen wir - wesentlich schneller, nämlich bis 2025 - die Vorsorgeaufwendungen der Arbeitnehmer von der Steuer frei. Daraus wird uns ein Einnahmeausfall erwachsen - bis 2025; erst danach wird er langsam zurückgehen -, der mir noch ziemliche Sorgen macht; ich komme darauf gleich zurück. Das Alterseinkünftegesetz ist also ein Gesetz zur Verminderung der Steuerlast in diesem Lande. Die öffentliche Debatte nimmt hingegen geradezu psychopathische Züge an. ({12}) - Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wenn die Bürger mehr Steuern zahlen müssen, regt sie das schon auf!) Wir werden uns fragen müssen - das geht übrigens an alle, ganz egal wer regiert -, ob in einem solchen Klima massiv veröffentlichter Meinung die notwendigen Veränderungsprozesse noch zu vollenden sind. Denn wir müssen die Staatsfinanzen, die sozialen Sicherungssysteme sanieren. Das geht überhaupt nicht anders. Das geht auch nicht - auch darauf komme ich gleich noch zurück -, ohne dass ich jemandem etwas wegnehme. Ich kann kein 86-Milliarden-Euro-Loch von vergangenem Jahr und kein 70-Milliarden-Euro-Loch in diesem Jahr schließen, ohne dass ich irgendwem etwas wegnehme. Wenn das nicht klar ist und wenn dann solche Kampagnen entfacht werden, muss man sich in der Tat fragen, ob wir die Kraft haben, das alles durchzustehen, ob dieses Land reformfähig ist. Das ist eine Frage nicht nur an die Politik, sondern auch an sehr viele andere. ({13}) Das zur positiven Seite. Da haben wir zurzeit offenbar auch keinen Streit; ich würde es auch begrüßen, wenn das so bliebe. Damit komme ich zu den kritikwürdigen Elementen. Zunächst einmal, verehrter Herr Solms: Das mit dem Grundgesetz klingt gut. Auf der Basis stehen wir alle. Es lässt allerdings ein paar Interpretationen zu und ist bei Ihnen selbst nicht widerspruchsfrei. Wenn Sie behaupten, dass alle Erträge, gleich welcher Herkunft, gleich besteuert werden müssen, dann dürfen Sie eine Abgeltungsteuer auf Zinserträge in Ihr System nicht einbauen. Das wäre ein Widerspruch zu Ihrem eigenen Argument. Dieser Widerspruch in Ihrer eigenen Argumentation lässt dann die Diskussion um die DualIncome-Tax zu. ({14}) - Natürlich. Deswegen sage ich: Es geht nicht an, wenn Herr Solms sagt, alle Einkünfte, egal woher, seien bei der Einkommensteuer gleich zu behandeln, und er selbst tut es nicht. Auf mehr habe ich nicht hingewiesen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Bundesminister, wegen der Kürze der Redezeit konnte ich auf diesen Punkt nicht eingehen. Wären Sie bitte bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Abgeltungsteuer nach unserem System für die Masse der Arbeitnehmer nicht zu einer ungerechten Besteuerung führt? Wir schlagen ja vor, 25 Prozent auf Zinseinkünfte zu erheben. Nach unserem Tarif erreicht der allein stehende Arbeitnehmer einen Durchschnittssatz von 25 Prozent erst ab einem Jahreseinkommen von etwa 70 000 Euro. Das ist mehr, als die Arbeitnehmer in der Regel verdienen.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Solms, das finde ich spannend. Halten wir einmal fest: Auf der einen Seite bezahlen diejenigen, die dem Spitzensteuersatz von 35 Prozent unterliegen, an der Stelle weniger. Auf der anderen Seite müssen diejenigen, die einem niedrigeren Steuersatz als den 25 Prozent unterliegen und keine Veranlagungsoption machen, mehr auf ihre Zinserträge zahlen. Das ist der Sachverhalt. Das heißt doch aber nichts anderes, als dass Sie an dieser Stelle im Widerspruch zu Ihrem eigenen Grundsatz stehen, nämlich dass alle Einkommen gleich zu besteuern sind. Eben das tun Sie nicht. Auf mehr wollte ich jetzt gar nicht hinweisen. ({0}) Aber, verehrter Herr Kollege Solms, jetzt komme ich zu der Verteilungswirkung. Das ist schon ein Problem. Damit Sie das Ziel erreichen können, dass alle entlastet werden, müssten Sie akzeptieren - Sie haben hier eingeräumt, dass Sie das tun -, dass ein großes Loch auf der Einnahmeseite entsteht. ({1}) - 20 Milliarden Euro ist 1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Ich finde, das ist in der Tat ein sehr großes Loch. Das würde übrigens dazu führen, dass wir das 3-Prozent-Kriterium weiterhin nicht erfüllen könnten. Das kann angesichts unserer Verpflichtungen auf europäischer Ebene so nun wirklich nicht gehen. Sehr verehrter Herr Solms, wie würde eigentlich die Verteilungswirkung aussehen? Die Wirkung wäre, dass bei den unteren Einkommen eine Steuererhöhung stattfinden würde. Ich habe Beispiele ausrechnen lassen. Nehmen wir zum Beispiel einen allein stehenden Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro, der zum Arbeitsort eine Entfernung von 20 Kilometern zurücklegen muss. Für ihn fällt die Entfernungspauschale nun weg, sodass er 44 Euro mehr bezahlen muss. Sie sagen, das sei nicht viel. Richtig. Aber die Entlastung eines Ledigen mit einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro beträgt dagegen 5 700 Euro bzw. 17 Prozent. Die Entlastung steigt bei den höheren Einkommen prozentual an und verharrt ab einem bestimmten Betrag. Noch ein Wort am Rande zum Wegfall der Entfernungspauschale. Man sollte noch einmal darüber nachdenken, ob ein Wegfall nicht ein verfassungsrechtliches Risiko birgt. Ich sehe es eher wie die CSU. Ich glaube, dass das verfassungsrechtlich nicht geht. Man kann die Entfernungspauschale der Höhe nach einschränken - das haben wir vorgeschlagen -, kann sie aber wahrscheinlich nicht ganz streichen. Das sei nun aber dahingestellt. Zu der Verteilungswirkung haben wir also eine ganz unterschiedliche politische Position. Nach Ihren Vorstellungen gilt: Je höher das Einkommen, desto höher ist nicht nur die tatsächliche Entlastung - das ergibt sich aus einer progressiven Einkommensteuer -, sondern desto höher ist auch die prozentuale Entlastung. Eine solche Steuerpolitik möchte ich nicht machen. Eher würde ich es umgekehrt machen, sehr geehrter Herr Solms. ({2}) Sie sprechen dauernd von einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Diesen haben wir im Gesetz vorgesehen; er gilt ab dem nächsten Jahr. ({3}) Sie hätten gerne einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Wir sehen ab nächstem Jahr einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent vor. Mit anderen Worten: Bei einem Aufbau eines Steuertarifs nach Ihren Vorstellungen würde im Ergebnis bei den unteren Einkommen auf längere Frist keine Entlastung erfolgen. Im Gegenteil: Durch den Abbau aller Vergünstigungen würde es eher zu einer Belastung führen. Aber je höher das Einkommen wäre, desto höher wäre die Entlastung. Sehr verehrter Herr Solms, ein solcher Tarif ist nicht nach unserer Vorstellung. ({4}) Sie haben hier im Hause auch schon ganz anders argumentiert. Ich bin nicht der Meinung, dass eine Absenkung des Spitzensteuersatzes auch dann noch Priorität hat, wenn er 42 Prozent beträgt; sie ergibt sich auch nicht aus einem internationalen Vergleich. Ich frage Sie allen Ernstes: Sind Sie wirklich der Meinung, dass schon Einkommen ab 40 000 Euro - das ist der Jahresverdienst eines gut verdienenden Facharbeiters mit dem Spitzensteuersatz besteuert werden sollen? Oder sollten wir nicht eher, wenn wir Geld hätten, an eine Verschiebung denken und den Spitzensteuersatz lieber etwas höher ansetzen und ihn dafür wesentlich später beginnen lassen? Eine solche Steuergesetzgebung wäre viel leistungsfördernder als die, die Sie vorsehen. Bei dieser wird nämlich schon dem Facharbeiter bescheinigt, er sei mit seinem letzten Euro bereits in der Spitzengruppe. Alle Personen mit höheren Gehältern zahlen, bis hin zu Herrn Esser, das Gleiche. Herr Solms, das halte ich nicht für gerecht, um das in aller Klarheit zu sagen. ({5}) Bei unserem Modell gilt der Spitzensteuersatz nicht schon bei 40 000 Euro, sondern erst wesentlich später. Ab nächstem Jahr gelten die 42 Prozent erst ab etwas über 52 000 Euro. So viel zur Verteilungswirkung. Ich komme nun auf Ihren Stufentarif zu sprechen. Ich spreche, so wie Herr Faltlhauser, von einem Stufengag. Jedermann kann das heute auf seinem Laptop oder seinem PC ausrechnen. Das lernen heute schon die Kinder in der Grundschule. ({6}) Herr Solms, auch Sie wissen doch, dass es um einen rein optischen Trick geht. Keiner kann die höheren Belastungen, die mit dem Stufentarif, im Gegensatz zum linearprogressiven Tarif, in bestimmten Bereichen verbunden sind, schnell beziffern. Gleichzeitig können die öffentlichen Haushalte die Einnahmeausfälle, die sich alleine aus dem Stufentarif ergeben, nicht verkraften. Für ein solches Modell werden Sie keinen Finanzminister und keine Freunde in Ihren eigenen Reihen finden. ({7}) Ich komme zur Finanzierung. Sie können nichts anderes - das machen Sie, damit Ihr Konzept ein bisschen attraktiver wird; das verstehe ich -, als den Menschen Steuersenkungen zu versprechen. Das, was Sie mit Ihrer Verteilungswirkung bewirken, können Sie nur dadurch abfedern, dass Sie einen riesigen Einnahmeausfall hinnehmen. Das geht angesichts der gegenwärtigen Situation nicht. Die Steuerquote in Deutschland ist die niedrigste der Mitgliedsländer der Europäischen Union und sogar der Beitrittsländer. Zurzeit sind der slowakische Ministerpräsident und der slowakische Finanzminister hier im Lande. Angesichts dessen wurde in den Nachrichten diskutiert, wie dort das Steuersystem aussieht. Wir haben ein anderes System. Darüber will ich nicht reden. Die Slowakei ist das einzige Land, dessen Steuerquote minimal unter unserer liegt. Die Flatrate liegt dort bei 19 Prozent. Während wir eine Steuerquote von 20,5 Prozent haben, hat sie 19,2 Prozent. Das muss man sich einmal vor Augen führen: In allen anderen Ländern nebenan, zum Beispiel in Tschechien, liegt sie darüber. Das gilt auch für die kombinierte Steuer- und Abgabenquote. Ich halte also fest: Die niedrigste Steuerquote in der Europäischen Union hat Deutschland. Mit anderen Worten: Auch beim internationalen Vergleich stellt man fest, dass weitere Ausfälle bei den Steuereinnahmen zurzeit nicht unser Thema sein können. Wer das Thema ernsthaft angehen will, der muss weiterschauen und die Steuer- und Abgabenquote betrachten. Herr Solms, Ihre Aussage, nach der wir mit dieser ganz oben liegen, war übrigens falsch. Im europäischen Vergleich liegen wir hier sogar unterhalb der Mitte. Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Norwegen, Österreich, Schweden und Tschechien haben beispielsweise eine höhere Steuer- und Abgabenquote als wir. Hieran liegt es also auch nicht. Man muss über die Lösung der Probleme in der Struktur nachdenken. Ich warne aber davor, zu schnell von der Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme, also dieser Art der Senkung der Lohnnebenkosten zu reden, weil wir dadurch zu schnell über die notwendigen Reformmaßnahmen in den Systemen hinweggehen würden. Ich glaube aber, es ist völlig unvermeidlich, dass sich auch diese Frage stellen wird. Reden wir über unsere europäischen Verpflichtungen. Wir haben uns im Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichtet ({8}) - sehr richtig -, zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen. Das ist noch nicht einmal die aktuelle Frage. Das heißt, bis wir das erreicht haben, müssen wir jedes Jahr 0,5 Prozent des strukturellen Defizits zurückfahren. Das sind 10 Milliarden Euro für den Gesamtstaat. Bedenken Sie, dass das bis weit über das Jahr 2007 hinausgeht! Hinzu kommen dann noch die Kosten für die Erweiterung der Europäischen Union. Ich bin übrigens für die Unterstützung dankbar, die ich in dieser Frage für die Position der Bundesregierung gestern im Europaausschuss erhalten habe. Somit könnten wir das durch Ihre Steuerreform entstehende Einnahmeloch - 20 Milliarden Euro pro Jahr in den nächsten Jahren finanziell überhaupt nicht verkraften. Dies wäre auch mit keiner europäischen Verpflichtung vereinbar. ({9}) Damit komme ich zur Frage, wo die Prioritäten der Finanzpolitik liegen. Diese liegen nicht bei der Steuerquote, sondern sie liegen bei der Steuerstruktur. Wir wollen Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung vorlegen. Diese müssen und werden umfangreicher sein als Ihre. Wir müssen nicht nur den Weg zu einem ausgeglichenen Haushalt, sondern auch zu einem Überschusshaushalt gehen, damit der Haushalt auch über den Konjunkturzyklus ausgeglichen ist. Das würden wir mit Ihren Vorschlägen lange nicht erreichen. Wir müssen auch Geld für das haben, was wir in Europa die Qualität des Budgets und in Deutschland die Zukunftsaufgaben nennen. In der Tat müssen die Ausgaben für Bildung, Forschung, Entwicklung, Kinderbetreuung und Innovation gesteigert werden. Auch darauf kommt es an. Auch das ist eine Aufgabe der Finanzpolitik. Ohne das werden wir die Zukunft nicht gewinnen. ({10}) Deswegen sagen wir Ja zu einer Debatte, die zu einem vereinfachten Steuerrecht führt, und Nein zu einer Debatte, die zu weiteren Einnahmeausfällen und sozialen Ungerechtigkeiten führt. Das sage ich für die Regierungskoalition ganz ausdrücklich. ({11}) Das wäre nämlich das Ergebnis Ihres Konzeptes. Vereinfachung ist ein wichtiges Element. Was haben wir in diesem Jahr zu tun? Unsere Steuerreform liegt in Gesetzesform vor. Die nächste Stufe kommt. Sie hätte schon zum 1. Januar dieses Jahres kommen können, wenn Sie sowohl bei der Steuersenkung als auch beim Subventionsabbau ein bisschen mutiger gewesen wären. ({12}) Die Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes steht auf der Steueragenda für dieses Jahr. Ich hoffe, dies wird durch uns gemeinsam geschehen. Auch die Kapitalertragsbesteuerung und die europäische Zinsrichtlinie sind Themen dieses Jahres. Gemeinsam mit den Ländern haben wir darüber hinaus Gott sei Dank mit dem Abbau von Vorschriften begonnen. Auch das Außensteuerrecht ist ein zentrales Thema. Es ist zwar nicht sehr publikumswirksam, in diesem Jahr aber sehr wichtig. Schließlich nenne ich die Vereinfachung der Steuererklärung sowohl für die Arbeitnehmer als auch für alle anderen. An diesen Dingen ist zu arbeiten. Da werden wir auch vorankommen. Das wird sich zeigen. Sehr verehrter Herr Solms, ich bedanke mich für eine unpolemische und sachliche Debatte. Ich würde mich freuen, wenn wir bei der Vereinfachung vorankommen würden. Aber bitte, wir haben unsere Kriterien genannt: keine weiteren Einnahmeausfälle und die Beachtung der sozialen Gerechtigkeit. Dann müssen wir aber auch den Mut haben, den Menschen deutlich zu machen, was das heißt. Es geht nicht an, die Regierung immer vorangehen zu lassen, sie dann jedes Mal zu verleumden und am Ende zu sagen: Wir wollen alles einfacher gestalten. Auch Sie müssen den Mut aufbringen, Ross und Reiter zu nennen. ({13}) Das erwarte ich insbesondere von Herrn Merz. Auf einer solchen Basis lässt sich eine vernünftige Diskussion führen. Ich bedanke mich sehr herzlich dafür, dass Sie mir so lang und geduldig zugehört haben. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Michael Meister, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erfreulich: Niemand in der Debatte bestreitet, dass das deutsche Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss. Dieses Ziel wird glücklicherweise von niemandem mehr in diesem Hause infrage gestellt. Bürger und Unternehmen beklagen zu Recht die zahlreichen Ausnahmeregelungen und die hohen Steuersätze im deutschen Steuerrecht sowie die Hektik und den Aktionismus, den wir in der Steuergesetzgebung gegenwärtig verspüren. Es werden Eingriffe in bereits bestehende Lebenssachverhalte vorgenommen, so genannte Rückwirkungen. Lieber Herr Bundesfinanzminister Eichel, die von mir beschriebenen Probleme haben massive negative ökonomische Auswirkungen auf unser Land. Dies müssen wir in der Debatte zur Kenntnis nehmen. ({0}) Nicht nur die Bürger verstehen nicht mehr, wie unser Steuerrecht aufgebaut ist, auch die Finanzverwaltungen haben ein riesiges Problem, die Steuergesetze anzuwenden. Nehmen wir einmal das Thema Zinsen bzw. Kapitalertragsbesteuerung. Dort besteht dringender Handlungsbedarf, den auch das Verfassungsgericht anmahnt. Nehmen wir das Thema Spekulationsgewinne. Auch dort wird deutlich, dass nicht nach Recht und Gesetz besteuert wird und daher Handlungsbedarf gegeben ist. Die Finanzverwaltung ist nicht in der Lage, die heutige Gesetzgebung umzusetzen. Ich will einen dritten Bereich ansprechen. Ich glaube, auch die Gerichtsbarkeit leidet unter dem, was heute in Gesetzen steht. So nimmt die Anzahl der Klagen gegen Steuergesetze permanent zu, und zwar sowohl in der deutschen Gerichtsbarkeit als auch auf europäischer Ebene. Wenn wir darin übereinstimmen, dass das deutsche Steuerrecht dringend vereinfacht werden muss, dann muss eine grundlegende Steuerstrukturreform vorgelegt werden. Darüber sind wir uns einig, daher würde ich mich sehr freuen, wenn die Bundesregierung - hier in Person des Bundesfinanzministers - einen Gesetzentwurf zur tatsächlichen Vereinfachung, besseren Transparenz und Vertrauensbildung im deutschen Steuerrecht vorlegen würde. Willensbekundungen reichen hier nicht, Herr Bundesfinanzminister. ({1}) In dieser Diskussion steht für uns - damit komme ich zum Punkt Finanzierung - nicht das Thema Entlastung im Vordergrund, sondern für uns sind Transparenz, Einfachheit und Vertrauensbildung in der Steuergesetzgebung maßgebend. Es ist vollkommen richtig - darin stimme ich Ihnen zu -: Diese müssen wir in eine vernünftige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und Sozialgesetzgebung einbetten, weil wir nur mit einer entsprechenden Finanzpolitik zu dem notwendigen Schub in der Wirtschaft beitragen und unsere Ziele vernünftig umsetzen können. Lieber Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie den Handlungsbedarf für eine Strukturreform erkennen, dann frage ich: Warum handeln Sie nicht? Wo bleibt der Gesetzentwurf dieser Bundesregierung zur Vereinfachung des deutschen Steuerrechts? ({2}) Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie in den vergangenen Jahren an dieser Stelle relativ viel Aktivismus entwickelt haben. ({3}) Sie haben allein im letzten Jahr sieben Steuergesetze vorgelegt, die wir im Deutschen Bundestag beraten haben. Aber Ihre Leitlinie bei der Steuergesetzgebung war leider nicht Vereinfachung, sondern das Stopfen von Haushaltslöchern. Darauf haben Sie bisher Ihre Steuerpolitik ausgerichtet. ({4}) Jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen Steuervergünstigungsabbaugesetz, das für die Menschen in Deutschland eine Mehrbelastung in Höhe von 17 Milliarden Euro bedeutet hätte. Der entscheidende Unterschied ist: Wir wollen - darin sind wir uns in der Opposition einig -, dass das Steuermehraufkommen durch die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage den Menschen über eine Tarifentlastung zurückgegeben wird. Ihre Politik jedoch ist es, die Bemessungsgrundlage zu erweitern, damit Steuern zu erhöhen, den Tarif aber nicht zu senken. Die Opposition will eine Steuerstrukturreform mit einer breiten Bemessungsgrundlage und niedrigen Tarifen. Sie hingegen reden ständig darüber, die Bemessungsgrundlage zu erweitern und den Tarif nicht abzusenken. Das aber gehört für uns zusammen. ({5}) Sie haben das Haushaltsbegleitgesetz 2004 angesprochen. Auch dort - das muss ich Ihnen sagen - haben Sie diesen Grundsatz nicht eingehalten. Sie haben wieder geplant, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern, und haben dies den Menschen als Steuerentlastung verkauft. Sie haben angekündigt, in Deutschland würden Steuern gesenkt, aber ab dem 1. Januar 2005 werden die Auswirkungen Ihrer Gesetze zu massiven Steuermehrbelastungen führen. Wir müssen, wenn wir um Vertrauen werben, endlich aufhören, auf die Pakete, die wir schicken, die falschen Etiketten zu kleben. ({6}) Wir müssen ehrlich sein. Das, was wir ankündigen, müssen wir auch tun. Wir dürfen nicht das Gegenteil von dem einpacken, was auf der Liste steht. ({7}) Ich glaube, wir waren im Jahr 1997 in der Steuerdebatte in Deutschland, was die Vereinfachung und Transparenz betrifft, bedeutend weiter, als wir es heute sind. Wir hatten nämlich hier im Deutschen Bundestag bereits die so genannten Petersberger Steuervorschläge beschlossen. Es gab einen Beschluss des Deutschen Bundestages zur Steuervereinfachung mit einer breiten Bemessungsgrundlage, wenigen Ausnahmen und niedrigen Steuersätzen. Warum ist er nicht Realität in Deutschland geworden, sondern ein Beschluss des Bundestages geblieben? - Weil Sie von der SPD mit Ihrem Vorsitzenden Oskar Lafontaine damals im Bundesrat aus machttaktischen Gründen ({8}) ein einfaches, transparentes Steuersystem in Deutschland blockiert haben. Das ist die Ursache, warum wir damals nicht weitergekommen sind. ({9}) Wenn man die Entwicklung der letzten Jahre anschaut, dann muss man feststellen, dass Ihr Bundeskanzler im vergangenen Jahr angekündigt hat, er wolle im Bereich der von mir vorhin angesprochenen Kapitalertragsbesteuerung eine Steueramnestie einführen und er wolle eine Neuregelung über die Abgeltungsteuer bei den Kapitaleinkünften. Was haben Sie gemacht? - Sie haben Vorschläge zur Steueramnestie vorgelegt. Die haben wir im Dezember beschlossen. Sie haben bis heute aber keine Regelung zur Kapitalertragsbesteuerung vorgelegt. Warum haben Sie keine Regelung vorgelegt? Weil die Fraktion der SPD sie blockiert. Diese Fraktion will nicht, dass Kapital günstiger als Arbeit besteuert wird. Deshalb sind Sie nicht handlungsfähig. Sie sind gelähmt. Sie haben nicht die Rückendeckung Ihrer eigenen Fraktion und Koalition. Deshalb bleibt es bei Ankündigungen und es kommt nicht zu tatsächlichen Vereinfachungen des Steuerrechts und der Lösung der Probleme. ({10}) - Liebe Frau Scheel, die Vorschläge zur Kapitalertragsbesteuerung erwarten wir mit großer Spannung. Wir warten auch vor dem Hintergrund der Amnestie darauf, was Sie zur Erbschaftsteuer sagen. Frau Simonis hat heute Morgen im Frühstücksfernsehen gesagt, die Erbschaftsteuer müsse dringend erhöht werden. ({11}) Wir sind auch gespannt, was Sie zur Vermögensteuer sagen. Sie glauben doch nicht, dass jemand von der Amnestie Gebrauch machen wird, wenn Sie die Erhöhung der Erbschaftsteuer, die Wiederbelebung der Vermögensteuer und eine offene Kapitalertragsteuer in den Raum stellen. Das, was Sie in den vergangenen fünf Jahren in der Steuerpolitik geleistet haben, ist ein Rückschritt. Sie sind weit hinter die Petersberger Beschlüsse von 1997 zurückgefallen. Deshalb sind wir von der Union der Meinung, dass wir uns in der Steuerpolitik wieder in die richtige Richtung bewegen müssen. Dies bedeutet einheitliche Grundfreibeträge für alle Menschen in Deutschland, gleich welchen Alters. Ein Freibetrag von 8 000 Euro soll auch für Kinder gelten. Wir sind der Meinung, dass, wenn wir zu dem Stufentarif von Friedrich Merz übergehen, jeder auf seinem Bierdeckel seine Steuerlast ausrechnen kann. Gehen Sie einmal von einer vierköpfigen Familie aus, die aus den Eltern und zwei Kindern besteht und die ein Jahreseinkommen in Höhe von 40 000 Euro hat, wobei nur ein Erwerbstätiger in der Familie ist. Dann können Sie relativ leicht mit dem Stufentarif die Steuerlast berechnen. 8 Prozent auf 7 000 Euro sind dann steuerpflichtig, wenn man die Freibeträge und den Grundfreibetrag vom Einkommen abzieht. Die Steuerlast beträgt dann 840 Euro. ({12}) - Ich habe eben 12 Prozent ausgerechnet, Herr Binding. Sie sind Mathematiker, Sie können das schnell nachvollziehen. Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Das ist eine riesige Leistung, auch in der Familienpolitik. Unser Ansatz des Ehegattensplittings, die Grundfreibeträge und der Stufentarif sind ein riesiges Plus für Familien in Deutschland. Sie reden darüber, wir wollen es tun. Wir machen Steuerpolitik für Familien in diesem Land. ({13}) Nun behaupten Sie, wir hätten ein Problem mit den Ausnahmetatbeständen, die wir beseitigen wollen. ({14}) Wir diskutieren über die Pendlerpauschale. Die haben Sie schon angesprochen. Wir wollen die Ausnahmetatbestände lückenlos streichen, weil wir sonst das Ziel eines einfachen Steuerrechts in Deutschland nicht erreichen werden. Wir sind aber auch der Meinung, dass man Aufwendungen anerkennen muss. Deshalb sollten Sie einmal einen Blick in unser Konzept werfen. Dort ist ein Arbeitnehmerpauschalbetrag von 1 000 Euro vorgesehen, der diese Aufwendungen pauschaliert erfasst und anzuerkennen versucht. Wir können darüber diskutieren, ob die Höhe richtig gewählt ist, aber die Anerkennung der Aufwendungen ist der richtige Ansatz. ({15}) Wenn wir tatsächlich die Basis eines völlig reformierten Einkommensteuerrechts mit niedrigen Steuersätzen und einer breiten Bemessungsgrundlage geschaffen haben - um diese Frage geht es schließlich -, dann können wir darauf aufbauend eine vernünftige Gemeindefinanzreform angehen. ({16}) - Das müssen Sie beantworten, Herr Spiller. Sie sind doch mit der Gemeindefinanzreform gescheitert. Es war doch Ihre Vorlage, deren Umsetzung Sie nicht zustande gebracht haben. Nicht die Opposition, sondern Sie sind in der Verantwortung. ({17}) Wir sind der Meinung, dass wir den Umdenkungsprozess, der am 19. Dezember eingesetzt hat, nutzen müssen, um die Kommunen in Deutschland an einem Prozess der Verstetigung ihrer Einnahmen zu beteiligen, indem wir ein Drei-Säulen-Modell schaffen und eine seriöse Beteiligung der Kommunen an der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer und damit an der wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land ermöglichen. Dies wollen wir gemeinsam mit den Kommunen erreichen. Wenn wir hier nicht nur Sonntagsreden halten wollen, Herr Poß, dann müssen wir endlich dem Rückschritt in der Steuerpolitik, den Sie in den vergangenen fünf Jahren bewirkt haben, ein Ende bereiten. ({18}) Wir brauchen an dieser Stelle einen Politikwechsel. ({19}) Das Steuerrecht darf nicht mehr der Fiskalpolitik unterliegen; es muss vielmehr dem Prinzip „niedriger, einfacher und gerechter“ folgen. Das Einkommensteuerrecht muss zudem - darin bin ich mit Herrn Solms einig - komplett neu verfasst werden. Ein Herumdoktern an dem bestehenden Recht wird uns nicht weiterhelfen. Notwendig ist der Entwurf eines neuen Einkommensteuerrechts. ({20}) Meine Damen und Herren, Sie können davon ausgehen, dass sich die Union mit einer eigenen parlamentarischen Initiative an dieser Debatte beteiligen wird. ({21}) Wir sagen Ihnen zu, Herr Solms, diesen Diskussionsprozess konstruktiv zu begleiten. Wir sind bereit, mit Ihnen in den Gremien über ein einfacheres, gerechteres und transparenteres Steuerrecht zu diskutieren. ({22}) Ich will allerdings auf einige Untiefen hinweisen. Ich glaube, es ist richtig, dass Sie in § 1 Ihres Gesetzentwurfs und damit an vorderster Stelle das Prinzip der Leistungsfähigkeit verankert haben. Es bedarf allerdings einer Erklärung, warum ein angestellter und ein selbstständig tätiger Handwerker unterschiedlich behandelt werden sollen. Der eine kann seine Aufwendungen in vollem Umfang absetzen; der andere kann dies nicht. Wenn wir uns zu dem Prinzip der Leistungsfähigkeit bekennen - Sie bekennen sich in Ihrem Gesetzentwurf dazu und auch wir sind dafür -, dann sollten wir dieses Prinzip auch konsequent umsetzen. Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. Sie haben das Thema Kapitalerträge und Dual Income Tax angesprochen. Ich glaube, wenn wir ehrlich sind, muss auch an dieser Stelle das Prinzip der Leistungsfähigkeit eingehalten werden. ({23}) Danach sind alle Markteinkommen steuerlich gleich zu behandeln. Was die Realisierung dieses Prinzips angeht, besteht, glaube ich, noch Diskussionsbedarf. Ein weiterer Punkt ist die Gewinnermittlung bei Unternehmen. In der Frage, wie man an die Gewinnermittlung herangeht, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Die FDP befürwortet ein Modell, das die Wahl zwischen Handelsbilanz und internationalen Rechnungsstandards zulässt. Ich glaube, bei der Gewinnermittlungsmethode ist auch zu berücksichtigen, was diese Standards bedeuten. Sie verfolgen nämlich unterschiedliche Ziele, und zwar zum einen eine Zahlungsbemessungsfunktion und zum anderen eine Informationsfunktion. Ob wir klug beraten sind, eine optionale Regelung als steuerrechtliche Basis zu schaffen, steht für mich infrage. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Gutachten von Herrn Professor Herzig, in dem er deutlich gemacht hat, dass die Anwendung von IAS, das heißt von internationalen Rechnungslegungsgrundsätzen, in Bezug auf das Steuerrecht durchaus verfassungsrechtliche Implikationen aufweisen kann. Insofern ist es fraglich, ob wir mit einer solchen Regelung gut beraten sind. ({24}) Ich möchte abschließend festhalten, dass trotz der bestehenden Untiefen, über die wir sicherlich im parlamentarischen Verfahren im Finanzausschuss diskutieren können, der Grundsatz, die Bemessungsgrundlage zu verbreitern und gleichzeitig die Steuersätze zu senken, richtig ist. Wir setzen uns gemeinsam mit der FDP für diesen Grundsatz ein. Ich halte es für dringend notwendig, dass der riesige Apparat, den Sie mit dem Finanzministerium und seinen mehreren tausend Mitarbeitern zur Verfügung haben, lieber Herr Spiller, in diesem Zusammenhang Vorleistungen bringt. ({25}) Darauf warten wir. Wir kommen in Kürze - am 1. Mai - in eine Situation, in der wir einer riesigen Konkurrenz ausgesetzt sein werden. Ich frage mich, ob Ihnen dann nicht das Lächeln relativ schnell vergehen wird, wenn plötzlich die Steuerbasis auf legale Weise erodiert, und ob es reicht, wenn der Herr Bundeskanzler von unpatriotischem Verhalten spricht, oder ob wir nicht unsere Verantwortung als Gesetzgeber wahrnehmen sollten. Ich bin der Meinung, wir sollten nicht nur Sonntagsreden halten, sondern unsere Verantwortung wahrnehmen. Vielen Dank. ({26})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Meister, wenn man das Wort „Wahrheit“ so oft in den Mund nimmt, wie Sie das gerade getan haben, dann kann ich nur bitten: Bleiben Sie auch bei der Wahrheit! ({0}) Zwischen dem, was Sie im Hinblick auf den Subventionsabbau gesagt haben, und dem, was Sie im Dezember letzten Jahres im Vermittlungsverfahren getan haben, liegen jedenfalls Welten. Jedes Mal, wenn es konkret geworden ist, hat die Union nicht Subventionsabbau betrieben, sondern begründet, warum einzelne Subventionen beibehalten werden müssten. Das ist die Wahrheit. ({1}) Sie haben gesagt, dass wir das, was wir ankündigten, auch umsetzen müssten. In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf hinweisen, dass Sie im letzten Jahr ebenfalls angekündigt haben, das Steuerrecht zu vereinfachen und Subventionen abzubauen. Wenn man Subventionen abbaut, dann führt das zumindest teilweise auch zu Vereinfachungen im Steuerrecht. Aber genau das haben Sie im Vermittlungsverfahren nicht mitgetragen, weil Sie wussten, dass Sie noch Spielraum für Ihren eigenen Gesetzentwurf benötigen werden. Es ging Ihnen also nicht um das Interesse der Bürgerinnen und Bürger sowie um wirkliche Vereinfachungen, sondern nur um parteipolitisches Kalkül. Das ist der andere Teil der Wahrheit. ({2}) Herr Dr. Solms, wenn Sie den 200. Todestag von Immanuel Kant ansprechen und hier die Freiheit beschwören - das tun Sie immer sehr gerne; die Begriffe „Wettbewerb“ und „Freiheit“ haben Sie bislang in jeder Rede verwendet, die ich kenne -, dann frage ich Sie, wie sich die FDP verhält, wenn es konkret wird. Was geschieht denn, wenn Vorschläge auf den Tisch kommen? Was haben Sie gemacht, als wir den Apotheken den Internethandel ermöglichen wollten? Was ist los gewesen, als wir die Handwerksordnung ändern wollten? Wie ist es denn um Ihre Liberalität bestellt, wenn es um eine Öffnung im Bereich der Rechtsberatung geht, die bislang den Anwälten vorbehalten ist? - Jedes Mal, wenn es konkret wird, betreiben Sie Klientelpolitik. ({3}) Ich finde es gut - das sage ich ganz offen -, dass Sie einen Steuergesetzentwurf vorgelegt haben. Wir werden uns mit Ihrem Gesetzentwurf im weiteren parlamentarischen Verfahren auseinander setzen und sehen, welche Fragen noch offen sind und wo gemeinsame Möglichkeiten liegen. Mich überrascht aber, dass Sie ein neues Modell verfechten, das - davon haben Sie immer gesprochen - zu einem radikalen Subventionsabbau führen soll, obwohl Sie im letzten Jahr Anträge auf Erhalt der Eigenheimzulage und auf Anhebung der Subventionen für Schifffahrtsbetriebe eingebracht haben. Das passt wirklich nicht zusammen, Herr Dr. Solms. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob Sie nicht ein beträchtliches Glaubwürdigkeitsproblem haben. Ich glaube, dass Sie eines haben. ({4}) Interessant ist auch, dass in den Bundesländern, in denen die FDP mitregiert - ich denke an Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt -, die Subventionen permanent angehoben worden sind. Ausgerechnet Herr Brüderle, der Obersubventionsabbauer, war derjenige, der in Rheinland-Pfalz dafür gesorgt hat, dass die Förderung des Weinbaus an Steillagen von 1 500 DM auf 5 000 DM angehoben worden ist. Jedes Mal, wenn es konkret wird, wollen Sie Subventionen eher anheben als abbauen. Auch das ist ein Teil der Wahrheit, dem Sie sich stellen müssen. ({5}) Sie verstricken sich permanent in Widersprüche. Das werden wir auch aufdecken, Herr Dr. Solms. ({6}) - Wer hat denn die Verträge abgeschlossen? Das war doch Ihre Regierung, nicht wir. Wer hat denn damals die Stahlindustrie gefördert? Sie waren doch 29 Jahre an der Regierung beteiligt. Sie haben doch alle Verträge abgeschlossen und Subventionen auf breiter Basis aufgebaut, die wir jetzt mühsam versuchen abzubauen. ({7}) Wir leiden heute darunter, dass Sie jahrelang dafür gesorgt haben, dass alles nach oben geswitcht ist. Dass es um die Staatsfinanzen heute so schlecht bestellt ist, ist leider auch Ihr Verdienst. Zu Ihrem Gesetzentwurf: Ich möchte gerne wissen, wie Sie sich vorstellen, wie wir die zu erwartenden Steuerausfälle, die in der Endstufe 15 Milliarden bis 20 Milliarden Euro ausmachen werden, gegenfinanzieren sollen. Sie wissen ganz genau, dass die Steuerausfälle in der Übergangsphase noch wesentlich höher sein würden. Auf der einen Seite fordern Sie hier immer mehr Geld für Bildung, mehr Geld für Forschung und die Einhaltung der Maastricht-Kriterien und auf der anderen Seite wollen Sie Steuerausfälle produzieren. Das hat mit dem, was Sie ansonsten fordern, überhaupt nichts mehr zu tun. Sie suggerieren den Leuten nur: Vereinfachung. Es fällt aber doch kein Manna vom Himmel! Woher soll es kommen? Sie müssen doch Finanzierungswege aufzeigen! „Maastricht“ ist für Sie anscheinend ein Fremdwort. Sie stellen sich nicht dem, was notwendig ist. Sie entziehen sich völlig der Notwendigkeit der Gegenfinanzierung und glauben, dass die Leute darauf hereinfallen. Die Leute sind doch nicht blöd. Sie wissen doch ganz genau, dass es nichts mehr zu verschenken und zu verteilen gibt, sondern dass wir versuchen müssen, eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik hinzubekommen. ({8}) Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen und die Ausfälle, die den Kommunen entstehen - den Kommunen fehlen ja dann Einnahmen in Höhe von rund 20 Milliarden Euro -, über einen höheren Umsatzsteueranteil der Kommunen und über eine Beteiligung der Kommunen am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer kompensieren. Damit schneiden Sie nur ein Stück aus dem gesamten Steuerkuchen heraus und verteilen das woandershin, sagen aber nicht, wie die Länder und der Bund mit dem Einnahmeausfall in Höhe von 20 Milliarden Euro klarkommen sollen. ({9}) Sie schichten einfach nur um. Das ist, finde ich, nicht in Ordnung. Das kann man so nicht machen, Herr Dr. Solms. ({10}) Herr Merz von der CDU ist da wenigstens ehrlich. Er sagt: Wenn uns irgendwo etwas fehlt, dann machen wir eine Mehrwertsteuererhöhung. ({11}) Sie ist auch bei Ihnen irgendwo im Hinterkopf. Alle Modelle, die vorgelegt worden sind, ob es nun Ihr Modell ist oder ob es das Modell von Professor Kirchhof ist, bei dem in der Übergangsphase auch hohe Steuerausfälle entstehen, oder ob es der Prosatext von der Union ist - etwas anderes gibt es bislang ja nicht -, haben ein Problem. Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorlegen, weil sie sich niemals auf einen Text einigen kann. ({12}) Der Punkt ist: Die CDU/CSU kann keinen Gesetzentwurf vorlegen, nicht deshalb, weil es nicht möglich wäre, sondern deshalb, weil sie sich nicht einigen kann. ({13}) Man muss fragen: Was ist denn nun mit der Finanzierung? Ich halte es für völlig falsch, dass Sie in einer Zeit, in der es - wir haben heute Morgen darüber debattiert mit der Wirtschaft mal wieder ein Stück aufwärts geht, ({14}) in der wir sagen können „Klasse, das Pflänzlein wächst; wir müssen es betreuen, damit es weiter wächst, was ja im Interesse aller Beteiligten richtig ist“, ({15}) Vorschläge machen, bei denen Sie Steuererhöhungen im Hinterkopf haben. Das ist schädlich für die Konjunktur. Das haben Sie uns immer vorgeworfen. Jetzt machen Sie solche Vorschläge selbst. Das ist unsolide und für die Zukunft, wirtschaftspolitisch gesehen, nicht gut. Deswegen werden wir uns mit Ihren Vorschlägen, Herr Dr. Solms, sehr genau auseinander setzen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie die Fragen beantworten werden, wenn es konkret wird. Da geht es auch um Unternehmensbesteuerung im weitesten Sinne; der Minister hat es angesprochen. Uns geht es darum, dass wir die Wirtschaft am Ende stärken. Wir wollen den Leuten nicht nur mit einer schönen Überschrift suggerieren, dass jetzt irgendwie etwas ganz Tolles kommt, und am Ende ist der Schaden groß und das Geflenne geht los. Das wollen wir nicht, sondern wir wollen eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik machen. ({16}) Wir beteiligen uns an Vereinfachungsvorschlägen! Wir sind für Vereinfachung immer offen. Das können wir auch gern gemeinsam machen, aber nicht so, wie Sie das jetzt vorschlagen, nicht in dieser Form. Danke schön. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es darf keinen Zweifel daran geben, dass eine Steuerstrukturreform mit Vereinfachungen in Deutschland dringend notwendig ist, damit das Steuerrecht einfacher und gerechter wird, damit Leistung wieder mehr belohnt wird, damit wieder mehr Investitionen möglich werden, damit unsere Betriebe wieder wettbewerbsfähiger werden und damit letztlich unsere gesamte Volkswirtschaft wieder zu ihrer alten Stärke zurückfindet. Es lohnt sich, für die Erfüllung dieser Aufgaben intensiv und konstruktiv zu arbeiten. Für mich ist es aber Drückebergerei, wenn sich ein Finanzminister einem Reformbedarf geradezu verweigert - wir haben es erlebt -, indem er selbst keinen Gesetzentwurf vorlegt. ({0}) Herr Eichel, warum moderieren Sie nur? ({1}) Sie fabulieren über diskussionswürdige und kritikwürdige Elemente. Ein Bundesfinanzminister hat doch - darum geht es - einen Wählerauftrag; deswegen müsste er in dieser Frage handeln. Herr Eichel hat mit der Steuerquote argumentiert. Daraus ersehen wir doch, dass es Handlungsbedarf gibt: ({2}) Ein gerechtes und einfaches Steuersystem muss eine breite Bemessungsgrundlage haben, damit keine Sondertatbestände entstehen. Zu sagen: „Wir haben eine niedrige Steuerquote; Schluss, aus, Ende!“, das ist doch völlig falsch und widersprüchlich. Das Steuerrecht umfasst mittlerweile mehr als 100 originäre Steuergesetze. Daneben gibt es eine nicht bezifferbare Anzahl von Gesetzen, die neben ihrem außersteuerlichen Inhalt steuerliche Vorschriften enthalten. Hinzu kommen 96 000 Verwaltungsvorschriften und allein 5 000 BMF-Schreiben zur näheren Auslegung dieser Gesetze. ({3}) Das Einkommensteuergesetz umfasst gegenwärtig nicht weniger als 182 Paragraphen. Es gibt immer wieder neue Rekorde: Das Altersvermögensgesetz, Stichwort RiesterRente, hat einen Zuwachs von 21 Paragraphen im Einkommensteuerrecht mit sich gebracht. Daran sieht man: In dieser Form kann es nicht weitergehen; es muss zu einer konstruktiven, neuen Steuerstrukturreform kommen, und zwar möglichst schnell, weil unsere Betriebe und unsere Arbeitsplätze - letzten Endes wir alle - aufgrund von Wachstumseinbrüchen, aufgrund einer geringeren volkswirtschaftlichen Dynamik und wegen der fehlenden Reformfähigkeit Schaden erleiden. Der Kollege Merz von der CDU, Herr Professor Faltlhauser von der CSU und Professor Kirchhof haben gut vergleichbare Steuerkonzepte vorgelegt. Mittlerweile hat auch die FDP einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht. Nur die Bundesregierung, die in dieser Angelegenheit eigentlich federführend sein sollte, hat nichts vorgelegt. Dazu kann man nur sagen: Standortverbesserung - Fehlanzeige! Das macht die Reformunfähigkeit von Rot-Grün deutlich. Nach den bisherigen Reden von Herrn Eichel gilt anscheinend wieder das alte Motto: Umverteilen, bremsen und blockieren. Darin hat man sich in der Vergangenheit geübt. ({4}) Wenn man nur mit sich selbst beschäftigt ist, kann man natürlich keine Reformfähigkeit beweisen. Reformunfähigkeit ist genau das, was unser Land nicht braucht. Nirgendwo wird der Reformwirrwarr der Koalition sichtbarer als in der Steuerpolitik. Ich möchte einmal einige Beispiele aufzeigen. Der Bundeskanzler verspricht großspurig mehr Innovationen, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung. Gleichzeitig will Herr Müntefering aber eine Ausbildungsabgabe, eine Erbschaftsteuererhöhung und die Wiedereinführung der Vermögensteuer. ({5}) Das passt nicht zusammen. Das ist Wachstums- und Innovationsvernichtung. Herr Poß, vielleicht kommt Ihnen ein solcher Linksruck entgegen. Herr Clement kündigt stärkere Förderungen des Wirtschaftsstandortes an. Gleichzeitig will Herr Eichel eine - leistungshemmende - Substanzbesteuerung in das Steuerrecht einfügen, zum Beispiel durch die Revitalisierung der Gewerbesteuer. Gott sei Dank haben wir das verhindert. Das wäre nämlich ein Kahlschlag für den Wirtschaftsstandort. ({6}) Ich erinnere auch an das - dieser im Vermittlungsverfahren erzielte Kompromiss ist eigentlich eine Zumutung -, was mit der Gesellschafterfremdfinanzierung passiert ist: Zinsen sind als Kosten der Betriebe nicht mehr abzugsfähig. Das kostet Arbeitsplätze. Ihre Steuerpolitik, meine Damen und Herren, ist in sich widersprüchlich; das kann in der Zukunft nicht mehr so bleiben, weil wir alle die Zeche dafür bezahlen. ({7}) Ehe Herr Eichel jetzt sofort wieder auf die Verteilungswirkungen abhebt, muss man deutlich machen, dass eine radikale Steuerreform natürlich letzten Endes eine Nettoentlastung für alle Bürgerinnen und Bürger mit sich bringen muss. Wer sofort wieder eine Neidkampagne bezüglich der Lage von Arbeitnehmern und Arbeitgebern anfängt, wird das deutsche Steuerrecht nie entrümpeln können. Er wird nämlich immer auf der jeweils falschen Seite stehen. Der Grundsatz muss vielmehr lauten: Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft. Hierfür brauchen wir eine Nettoentlastung für alle, die einfach nur über eine Steuerstrukturreform erreicht werden kann. Immer wieder Neid in der Gesellschaft schüren ist der völlig falsche Weg. ({8}) Es braucht einen entschlossenen Reformkurs. Die Reformunfähigkeit ist der Dieb unserer Zukunft. Wer nur auf einen Aufschwung von außen wartet, kommt unversehens ins Abseits, insbesondere dann, wenn sich aufgrund der EU-Osterweiterung der Wettbewerb in unserem Land verschärfen wird. Es ist natürlich ein Unding, wenn der Staat heute von der Summe aller Bruttoeinkommen, die in Deutschland verdient werden, bereits mehr als die Hälfte, nämlich genau 57 Prozent, für seine Zwecke absorbiert. Ich hebe hierbei natürlich auf die Gesamtbelastung ab; es ist nicht nur die Steuerquote zu betrachten. In Bezug auf die Gesamtbelastung liegen wir auf dem letzten Platz in der Europäischen Union. ({9}) Das ist die Wahrheit. Darin liegt letzten Endes auch ein Grund, warum nicht mehr Arbeitsplätze entstehen. Lassen Sie mich auf die Steuerreformkonzepte von CDU/CSU und FDP eingehen. Man könnte jetzt ein echtes Benchmarking bezüglich der Effekte auf Wachstum und Beschäftigung machen. Ein Wettbewerb um die bessere Reform des Steuerrechtes ist ein Hoffnungsträger für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zwischen CDU und CSU wird es im März zu einer Einigung kommen. Dann wird ein klares Konzept vorgelegt werden, ({10}) das viele Gemeinsamkeiten mit dem Gesetzentwurf der FDP aufweist. Wir werden dann sehen, was die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen dazu sagen werden. Die zielführenden Gemeinsamkeiten lauten: radikale Vereinfachung und Senkung der Steuersätze, völlige Neufassung des Einkommensteuergesetzes, grundsätzliche Orientierung am Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, lückenlose Erfassung und Besteuerung des Markteinkommens und Erhaltung des Nettoprinzips, Berücksichtigung des Familienstandes, rechtsformneutrale Unternehmensbesteuerung, einheitliche Besteuerung der Kapitaleinkünfte ({11}) und - was auch wichtig ist - Abschaffung der Gewerbesteuer. Das sind eindeutige Gemeinsamkeiten, die aufzeigen, von welcher Seite verlässliche Reformen für die Steuerpolitik in Deutschland kommen: CDU/CSU und FDP. Das muss hier deutlich gesagt werden, meine Damen und Herren. ({12}) Natürlich gibt es auch unterschiedliche Vorstellungen: So ist ein Kompromiss zwischen Verfechtern des Stufentarifs und Verfechtern des linear-progressiven Tarifs nötig. Dass das BMF Schwierigkeiten mit dem linear-progressiven Tarif hat, wird schon an dessen Internetseite deutlich. Hier steht kein funktionierendes Rechenmodul zur Verfügung, mit dem die Leute ausrechnen könnten, was ihnen letztendlich abgenommen wird. Vor diesem Hintergrund bietet sich der Stufentarif an, der wesentlich einfacher und leichter zu kommunizieren ist. Die CDU/CSU wird in dieser Frage auch Kompromissfähigkeit zeigen. Die Steuerschuld ist dann zwar auf einem Bierdeckel auszurechnen, aber für die Steuererklärung wird schon eine Seite nötig sein; das hat der Kollege Solms ja hier auch dargestellt. Mir ist es noch wichtig darzustellen, dass neben der Tariffrage auch die Frage der so genannten kalten Progression in der Diskussion eine Rolle spielen muss. Wir müssen auch über einen „Tarif auf Rädern“ zur Bekämpfung der so genannten kalten Progression diskutieren. Durch eine regelmäßige Anpassung der Einkommensgrenzen müssen wir letzten Endes der allgemeinen Preisentwicklung Rechnung tragen. Das gilt auch für das Existenzminimum. Der persönliche Grundfreibetrag von circa 8 000 Euro ist insbesondere vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Vorgaben richtig und notwendig. Zum Ausgleich der so genannten kalten Progression sollte aber auch der Grundfreibetrag - ebenso wie alle anderen Freibeträge - in regelmäßigen Abständen der Preisentwicklung angepasst werden. Wir haben das Problem, dass es Freibeträge gibt, die 20 Jahre oder länger nicht mehr angepasst wurden. Das ist Betrug am Steuerzahler. ({13}) Bei den Freibeträgen, die vor 20 Jahren entstanden sind, muss berücksichtigt werden, dass sich im Laufe der Zeit einiges verändert hat. Allein das ist ein Argument für eine neue Steuerreform. Auch bei den Einkunftsarten haben wir eine Gemeinsamkeit. Eine Abkehr von der steuerlichen Trennung in sieben Einkunftsarten ist zu begrüßen. Denn die Unterscheidung zwischen Einkünften aus Gewerbebetrieb, Land- und Forstwirtschaft und freiberuflicher Tätigkeit ist nur historisch bedingt und führt zu einer unnötigen Verkomplizierung. Hier liegt ein echter Vereinfachungsgewinn. Ebenso haben wir Gemeinsamkeiten bei der Verlustrechnung, den steuerfreien Einnahmen, den Veräußerungsgewinnen, der Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen und den Kapitaleinkünften. Es ist notwendig, dass wir den Kommunen durch den Wegfall der Gewerbesteuer und eine Beteiligung an der Körperschaft-, Einkommen- und Umsatzsteuer eine neue Chance eröffnen. Auch bei der Erbschaftsteuer müssen wir einen Weg finden. Die Erbschaftsteuer gehört mit in ein zielführendes Reformpaket, weil wir unsere Betriebe erhalten müssen; wir dürfen sie nicht immer mehr besteuern und dadurch vernichten. Darum geht es, meine Damen und Herren. Dagegen ist alles, was vom Bundesfinanzminister hier gesagt wurde, nur ein alter Ladenhüter, den unsere Bürger nicht mehr sehen wollen. Sie können es einfach nicht; deshalb geben Sie den Wählerauftrag zurück! Deutschland braucht eine neue Steuerpolitik, damit es aufwärts geht. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Pinkwart hat sich bei der Rede der Kollegin Scheel zu einer Kurzintervention gemeldet. Ich habe das übersehen. Herr Kollege Pinkwart, ich gebe Ihnen jetzt das Wort.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Scheel, es ist eigentlich sehr bedauerlich, dass Sie sich als Vorsitzende des Finanzausschusses vergleichsweise unsachlich - wenn ich das als Mitglied des Finanzausschusses so sagen darf - zu dem vorliegenden Gesetzentwurf geäußert haben. Sie haben meine Fraktion in drei Punkten sehr massiv angesprochen und dazu möchte ich hier Stellung nehmen. Erstens haben Sie von der Blockade von Steuerreformen gesprochen. Ich möchte Sie noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass Sie es mit Ihren von Rot-Grün geführten Landesregierungen waren, die unter Federführung von Herrn Lafontaine 1997 eine der grundlegenden Steuerreformen verhindert haben, ({0}) die schon jetzt einen Tarif von 15 bis 39 Prozent gebracht hätte. Dafür tragen Sie Mitverantwortung. ({1}) Sie haben das Land Rheinland-Pfalz angesprochen. Das Land Rheinland-Pfalz war es, das die Steuerreform, die Sie mit eingebracht haben, dank der FDP im Bundesrat möglich gemacht hat, was zeigt, dass gerade die FDP jedem vernünftigen Versuch, in Sachen Steuervereinfachung, Steuerklarheit und niedrigere Steuern in Deutschland weiterzukommen, den Weg ebnet, egal von welcher Fraktion, von welcher Partei Vorschläge kommen. Wichtig ist, dass das Ziel stimmt. Die FDP hat - das möchte ich hier ausdrücklich betonen - auch im Vermittlungsverfahren im Dezember letzten Jahres dazu beigetragen, ({2}) dass es zu vernünftigen Ergebnissen gekommen ist. Auch das hätte von Ihnen hier angesprochen werden müssen. Im Übrigen haben Sie deutlich gemacht, dass wir in Anbetracht der konjunkturellen Rahmenbedingungen keine Steuererhöhungen brauchen, vor allen Dingen im Unternehmenssektor nicht. Deswegen war es so wichtig, dass es im Vermittlungsverfahren gelungen ist, die von Ihnen, Frau Scheel, maßgeblich mitzuverantwortende Erhöhung der Gewerbesteuer für die mittelständische Wirtschaft abzulehnen. Sie haben in einem zweiten Punkt über die Steinkohlesubventionen gesprochen. Es ist tatsächlich richtig: Dank des Handelns der FDP zu ihrer Regierungszeit ist es möglich geworden, dass die Steinkohlesubventionen jetzt einen degressiven Verlauf nehmen. ({3}) Das ist, wie gesagt, erst durch uns möglich geworden. ({4}) Es war Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender Joschka Fischer, der mit Herrn Lafontaine die Demonstrationen in Bonn angeführt hat und gegen einen Abbau der Steinkohlesubventionen zu Felde gezogen ist. ({5}) Frau Scheel, jetzt hat Ihre Fraktion die einmalige historische Chance, dazu beizutragen, dass die Steinkohlesubventionen nicht noch weiter verlängert werden. Das könnten Sie im Deutschen Bundestag und ebenfalls in Nordrhein-Westfalen, wo Sie mitregieren, durchsetzen. Warum tun Sie nicht das, was Sie hier von anderen einfordern? ({6}) Frau Scheel, Sie haben drittens die Klientelpolitik angesprochen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie haben nur drei Minuten Redezeit.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist meine letzte Bemerkung. - Sie haben in diesem Zusammenhang das Land Rheinland-Pfalz genannt. Ich bitte Sie herzlich, doch einmal mit Ihrer Kollegin aus Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, zu sprechen. Dort könnte man viele Klientelprogramme der Grünen kürzen. Stattdessen wird dort eine weitere Steuer, die Wassersteuer, eingeführt, um Klientelprogramme am Laufen zu halten. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Scheel, bitte.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Professor Pinkwart, die Blockade, von der ich gesprochen habe, hat sich auf ganz konkrete Sachverhalte hinsichtlich des Vermittlungsverfahrens im Dezember bezogen. Der Gesetzentwurf von Rot-Grün, den wir im Deutschen Bundestag verabschiedet hatten, fand im Bundesrat keine Zustimmung. Deshalb haben wir im Vermittlungsverfahren mühsam versucht, die Subventionen, die wir vorher teilweise zu 100 Prozent streichen wollten, wenigstens um 50 Prozent zu streichen. Aber auch das war Ihnen schon zu viel. Genau das ist das Problem gewesen. Sie sprechen immer die Petersberger Beschlüsse an. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese Beschlüsse einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einen Spitzensteuersatz von 39 Prozent vorsahen. Unser Gesetz sieht einen Steuertarif - er tritt nächstes Jahr in Kraft; wenn es nach uns gegangen wäre, dann gäbe es diesen Tarif schon dieses Jahr, aber das haben Sie nicht mitgetragen - mit einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 42 Prozent vor. ({0}) Ich frage Sie: Ist es wirklich so tragisch, einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent ab einem Einkommen von rund 52 000 Euro zu haben? Wäre es für die Wirtschaft wirklich besser, wenn der Spitzensteuersatz in der von Ihnen vorgeschlagenen Höhe schon ab einem Einkommen von 40 000 Euro greifen würde? Ich glaube, das, was wir vorgeschlagen haben, ist im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit auf alle Fälle der bessere Weg. ({1}) Zweiter Punkt. Wenn das, was Sie da machen, so gut ist - Sie haben Ihre Regierungsbeteiligungen, auch die in Rheinland-Pfalz, angesprochen -, dann muss ich fragen: Warum reicht das Land Rheinland-Pfalz den Gesetzentwurf der FDP eigentlich nicht im Bundesrat ein? Warum reicht Baden-Württemberg den Gesetzentwurf der FDP nicht im Bundesrat ein? Sie tun es nicht, weil diese Länder wissen, dass die Finanzierung nicht steht, und weil sie wissen, welche finanziellen Probleme auf sie zukommen. Was Sie hier über die Zustimmung zu Ihrem Gesetz sagen, ist Prosa. Schauen Sie zu, dass Ihre Landesregierungen im Bundesrat eine Mehrheit für Ihren Gesetzentwurf bekommen! Ich kenne allerdings kein einziges Bundesland, das den Gesetzentwurf der FDP unterstützt. ({2}) Dritter Punkt. Ich möchte kurz noch etwas zur Steinkohle sagen. Es ist schon toll, Herr Professor Pinkwart: Erst schrauben Sie die Subventionen auf ein hohes Niveau und dann sind Sie auf einen Vertrag stolz, mit dem sie ein bisschen abgebaut werden. ({3}) Wer die Subventionen hochgeschraubt hat - ich habe schon gesagt: Sie haben 29 Jahre mitregiert -, war die FDP. Ich muss sagen, dass es nicht besonders mutig ist, eine Subvention, die man hochgeschraubt hat, ein Stück zurückzufahren. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPDFraktion.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sollten jetzt von der Propaganda wieder in die Wirklichkeit dieses Landes eintauchen ({0}) und sollten nicht versuchen, die Bürgerinnen und Bürger systematisch zu täuschen, wie das in den Beiträgen der Opposition geschehen ist. ({1}) Herr Michelbach, wenn Sie von Betrügereien am Steuerbürger sprechen, dann müssen Sie auch erwähnen, dass zu Ihrer Regierungszeit das Verfassungsgericht mehrfach geurteilt hat, ({2}) dass Sie den Steuerbürgern, den Erwachsenen und den Kindern, das steuerfreie Existenzminimum vorenthalten haben. Wir haben in der Opposition Druck gemacht, dass das steuerfreie Existenzminimum angehoben wird. ({3}) - Hören Sie zu! Sie können nicht durch Schreien die Fakten übertünchen. - Zu Ihrer Regierungszeit hatten wir einen Grundfreibetrag unter 13 000 DM. Wir haben jetzt einen Grundfreibetrag von 7 664 Euro. Das ist die Wirklichkeit; das ist die Wahrheit. ({4}) Sie haben ebenso wie die FDP getäuscht. Das hat die FDP, haben dieser famose Herr Solms und diejenigen, die jetzt das große Wort führen - Herr Pinkwart war zu dieser Zeit noch nicht im Bundestag -, genauso mit zu vertreten. Sie wollen jetzt folgende Arbeitsteilung: Sie zeigen der Bevölkerung die schönen neuen Steuertarife und die politische Schwerstarbeit der Finanzierung soll die Koalition machen. Auf diese Arbeitsteilung lassen wir uns nun wahrlich nicht ein; das haben wir nicht nötig. ({5}) Wir haben eine Erfolgsstory vorzuweisen. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger um 60 Milliarden Euro. Das steuerfreie Existenzminimum habe ich ja schon erwähnt. Zudem haben wir im nächsten Jahr einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Zu Ihrer Verantwortungszeit betrug er 25,9 Prozent. Sie haben die Bürgerinnen und Bürger leistungsfeindlich hoch besteuert. Wir haben das Umgekehrte gemacht. ({6}) Bei uns lohnt sich Leistung wieder. Das ist die Wahrheit und nichts anderes. ({7}) - Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Sie machen Propaganda. Wenn ich manchmal sehe, wie Herr Westerwelle im Fernsehen über die Steuerpolitik redet, dann kommt es mir vor, als spräche ein Blinder über Farbe. Es ist erschreckend, auf welchem Niveau sich die politische Auseinandersetzung abspielt. ({8}) Wir haben zudem den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent heruntergebracht. Es gab in diesem Zusammenhang im letzten Dezember ein Vermittlungsverfahren. Einige von Ihnen hier waren Zeugen, zum Beispiel Herr Michelbach und Herr Meister, der jetzt leider nicht mehr anwesend sein kann. Wer hat beim Abbau von Steuersubventionen gebremst? Die CDU und die CSU noch schlimmer. Herr Michelbach, ich verstehe gar nicht, dass Sie jetzt dem Herrn Stoiber so in den Rücken fallen, indem Sie das FDP-Konzept bzw. die CDU-Vorstellungen loben. Herr Stoiber und Herr Faltlhauser haben deutlich gemacht, was sie davon halten. Herr Faltlhauser hat schriftlich gefordert: Weg mit dem Stufentarif! Er hat einen lesenswerten Artikel darüber verfasst. Herr Faltlhauser hat gesagt, dass diese Vorstellungen nicht mit einem sozialen Rechtsstaat vereinbar seien und dass die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungskraft ausgehöhlt werde. Warum sagen Sie das nicht im Namen der CSU im Deutschen Bundestag? Das wäre doch erwähnenswert gewesen. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Poß, ich will Ihnen einmal die Gelegenheit geben, Luft zu holen. Der Herr Kollege Westerwelle möchte eine Zwischenfrage stellen.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, zunächst einmal meinen kollegialen Respekt dafür, dass Sie fünf Minuten sprechen können, ohne einmal einzuatmen.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Langes Training.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das sollte über die Parteigrenzen hinweg hohe Anerkennung genießen. ({0}) Da Sie augenscheinlich, wie Sie in Ihrer Rede zum Ausdruck bringen, meine Fernsehauftritte genauestens verfolgen Joachim Poß ({1}): Gelegentlich.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- das unterstütze ich ({0}) und da Sie, wie Sie es gerade getan haben, das Niveau unserer steuerpolitischen Beiträge bestreiten, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass immerhin der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages am heutigen Tage in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ alle Parteien aufgefordert hat, sich dem Entwurf eines Gesetzes für ein vereinfachtes Steuerrecht der Freien Demokraten anzuschließen? ({1}) - Es ist übrigens spannend, dass Sie nach der Agenda2010-Diskussion schon bei dem Wort „Deutscher Industrie- und Handelskammertag“ so reagieren. Sehr bemerkenswert! ({2}) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Präsident einer der am höchsten angesehenen Institutionen, die wir in Deutschland in der Wirtschaftspolitik haben, erklärt hat, endlich einmal lege eine Partei einen Entwurf vor, der ein einfaches und verständliches Steuerrecht wolle?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Westerwelle, sind Sie denn bereit, dem Publikum hier zu sagen, dass dieser Präsident FDP-Mitglied ist, und halten Sie angesichts dieses Umstandes diese Aussage für verwunderlich? ({0}) Das war typisch für Sie, was die Ernsthaftigkeit Ihrer Beiträge hier in diesem Parlament angeht. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sind Sie denn bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass viele vernünftige Leute in Deutschland FDP-Mitglied sind? ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Westerwelle, das ist eine Überzeugung, die Sie Gott sei Dank mit nicht so vielen Menschen in dieser Republik teilen. ({0}) - Wir wissen ja auch um unsere Schwierigkeiten und wollen nichts schönreden, Herr Kollege Solms. ({1}) Aber wir wollen doch einmal zu den Fakten kommen. Wenn der Kollege Meister sagt, wir hätten verhindert, dass die Kommunen weiter entlastet werden, dann war dies eine glatte Lüge. Alle, die im Vermittlungsausschuss dabei waren, wissen, dass Sie unseren Gewerbesteuerentwurf unterminiert haben. Wäre es nach uns gegangen, wäre die Gewerbesteuer weiter gefestigt worden. Die Kollegin Scheel hat Ihnen zu Recht vorgeworfen, dass Sie überhaupt keine Antwort für die Kommunen haben. Sie machen kommunalfeindliche Politik, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP. ({2}) - Das ist die Wahrheit. ({3}) Jetzt habe ich einige Klarstellungen vorgenommen, was hier Realität und was Propaganda ist. Ich hoffe, dass dies auch einmal beachtet wird. Allerdings muss man Ihnen zugestehen, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mit beträchtlichem Geschick hinter die Fichte führen. Nun komme ich zum Gesetzentwurf der FDP. Dazu sagte der bayerische Ministerpräsident am 2. Februar wörtlich: ({4}) besteht nur aus Grundsätzen, damit kann die Steuerverwaltung nicht arbeiten. Herr Michelbach, warum haben Sie hier nicht vorgetragen, was er zu dieser Gesetzesvorlage gesagt hat? Herr Stoiber hat Recht; denn eine radikale Steuervereinfachung ist viel komplizierter, als viele Steuervereinfachungsfanatiker uns glauben machen wollen. Sie haben einen interessanten Paragraphen in Ihrem Entwurf. Ich zitiere einmal § 4: Anrufungsauskunft Das zuständige Finanzamt … hat auf Anfrage eines Steuerbürgers darüber Auskunft zu geben, wie in seinem Fall die Vorschriften dieses Gesetzes anzuwenden sind. So viel zur Klarheit Ihres Gesetzentwurfes und zur Qualität Ihrer Arbeit. ({5}) Den Maßstab, den Herr Stoiber an das FDP-Konzept gelegt hat, sollte man nicht nur an diesen Entwurf - hier gebe ich Herrn Westerwelle Recht -, sondern auch an andere Reformkonzepte legen, die unter der Überschrift „Einfaches und überschaubares Steuersystem“ derzeit diskutiert werden. Das Steuerrecht zu vereinfachen ist das angebliche Ziel aller Entwürfe, die unter dieser Überschrift kreisen. Das wirkliche, verschleierte Ziel all dieser Konzepte ist jedoch eine Umverteilung der Steuerlast von oben nach unten. Dazu hat Herr Eichel Ihnen eben ein Beispiel geliefert. Mit gewissen Abstrichen gilt dies selbst für das bekannte CSU-Modell. Aber wir werden einmal sehen, was nach dem 7. März von dem CDUModell oder dem CSU-Modell übrig geblieben sein wird. Wir sind gespannt, ja, richtig närrisch auf diesen 7. März. Vor allem interessiert uns, wie aussagefähig die CDU/CSU an diesem Tage sein wird. Ich sage es schon an dieser Stelle ganz deutlich und ganz ruhig: Für eine unsoziale Steuerumverteilung sind Sozialdemokraten nicht zu haben. Dies ändert sich auch nicht. ({6}) Wer nach einem einfachen und durchschaubaren Einkommensteuerrecht ruft, dem werden wir immer wieder zwei Fragen vorhalten: Wer soll das bezahlen? Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Zu diesen Fragen besteht auch Grund und Anlass. Wenn sich die Vertreter dieser Besteuerungsmodelle dann auch einmal zu der Finanzierung äußern, dann erst wird deutlich, wie sie sich ihr Gesamtkonzept wirklich vorstellen: Finanzierung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - Herr Merz ist in den letzten Tagen diesbezüglich erfrischend offen gewesen - oder über eine höhere Staatsverschuldung. Das ist die Konsequenz, die aber den Steuerbürgerinnen und -bürgern auch gesagt werden muss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin kein Doktor, aber es schmeichelt mir, dass Sie mich so ansprechen.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Poß, würden Sie mir bestätigen, dass meine Erinnerung nicht trügt, dass Sie nach der Vorstellung des CSU-Konzeptes sinngemäß gesagt haben, dieses Konzept sei zumindest eine vernünftige Gesprächsgrundlage?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe dazu gesagt, dass von den vorhandenen Konzepten das CSU-Konzept sicherlich dasjenige sei, auf dessen Grundlage man noch am ehesten miteinander reden könnte. Daran habe ich keine Abstriche zu machen; dies habe ich vorhin auch so ähnlich zum Ausdruck gebracht. Ich habe nur festgestellt, dass Herr Michelbach die CSU-Vorstellungen hier in seiner Rede verschwiegen ({0}) oder verschleiert hat. ({1}) - Auch dies kann ich Ihnen bestätigen. Aber gerade bei einer so straff geführten Kaderpartei wie der CSU erwartet man doch eine Sprachregelung, die dazu führt, dass sich Herr Michelbach dem anschließt, was Herr Stoiber sagt. ({2}) Die Grundfragen sind also: Wer soll das bezahlen? Wie sehen die Umverteilungswirkungen aus? Solange Sie diese Fragen nicht beantworten, täuschen Sie die Bürgerinnen und Bürger. Wir machen diese Täuschung nicht mit, meine Damen und Herren. ({3}) Die Einkommensteuer ist das Instrument, mit dem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit am besten erfasst werden kann. Nach diesem Prinzip der Leistungsfähigkeit muss auch Umverteilung erfolgen. Mit den von uns bislang beschlossenen Steuersenkungen ist der Spielraum des finanziell Machbaren ausgeschöpft. Was wir an finanziellem Spielraum noch haben, müssen wir einsetzen, um die wirklichen Schwächen des Standortes zu bekämpfen. Wir haben Innovationsschwächen; um sie zu beseitigen, brauchen Bund und Länder Geld. Dafür müssen wir das Geld ausgeben. Das ist die Alternative, die wir deutlich machen wollen. ({4}) Zur Gerechtigkeitsfrage. Natürlich schmerzen die SPD die Umfragezahlen und die Debatte, die wir aushalten müssen. Das ist doch gar keine Frage. Aber, Herr Michelbach, wir haben durchgesetzt, dass Einkommensmillionäre wieder Einkommensteuer zahlen. In der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung in den 90er-Jahren - da haben wir einschlägige Zahlen - war das kaum noch der Fall. Sie hatten solche Gestaltungsmodelle, dass sie sich der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entziehen konnten. Wir haben in den letzten Jahren wesentlich mehr Steuergerechtigkeit durchgesetzt. Das gilt für die Grünen und für die SPD. Darauf sind wir stolz. ({5}) Steuerliche Gerechtigkeit und die Berücksichtigung der Finanzierbarkeit von Konzepten sind zwingende Leitlinien jeder Steuerreform. Daran muss sich jedes Modell messen lassen. Es ist zudem irrational, im Zentrum der wirtschaftspolitischen Diskussion eine Steuerdebatte zu führen. Die volkswirtschaftliche Steuerquote - der Herr Minister hat gesagt: 20,7 oder 20,9 Prozent - ist nicht unser Problem. Wir haben andere Schwächen. ({6}) Darauf sollten wir uns konzentrieren. Die Steuerfrage ist angesichts der historisch niedrigen Steuerquote in Deutschland überhaupt nicht relevant, wenn es um mehr Wachstum und Beschäftigung geht. Herr Michelbach, zusätzliche Steuerentlastungen würden bedeuten, dass wichtige öffentliche Mittel für mehr Innovation und Wachstum fehlen würden. ({7}) - Das muss sich einmal setzen. ({8}) Auch die Zahlen müssen sich setzen. Das FDPKonzept kommt im ersten Jahr auf Steuermindereinnahmen von 20,3 Milliarden Euro, im Jahr der vollen Wirksamkeit sogar auf fast 30 Milliarden Euro. Allein diese Zahlen verdeutlichen: Hier sind Fantasten am Werk, die den Bürgern eine Welt vorgaukeln wollen, die mit der finanzpolitischen Wirklichkeit nichts zu tun hat. ({9}) Frau Merkel hat den CDU-Parteitag mit dem hochgejubelten Drei- oder Vierstufentarif getäuscht. Das sind Tarife ohne Substanz. Tarife aufs Papier zu malen fällt uns allen nicht schwer. Das verlangt keine große Kreativität. Aber das gegenzufinanzieren ist in der Tat die Schwierigkeit.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Poß, mich würde interessieren, wie Sie auf solche Zahlen kommen. Es gibt bis jetzt keine abschließenden Berechnungen. Der Herr Bundesfinanzminister hat mir gerade selber gesagt, dass das Bundesfinanzministerium in Zusammenarbeit mit den Landesfinanzministerien dabei ist, die verschiedenen Vorschläge zu berechnen. ({0}) - Er hat „20 Milliarden Euro“ gesagt; Sie redeten eben von 30 Milliarden Euro. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, im Jahr der vollen Wirksamkeit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe die Information, dass das bayerische Finanzministerium bei dem FDP-Entwurf auf 14,5 Milliarden Euro gekommen sei. Auch das kann ich nicht bestätigen. Wir haben selbst gesagt: Die Entlastung wird etwa zwischen 15 und 20 Milliarden Euro liegen. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, dass Sie jetzt die Beträge in die Höhe treiben.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Berechnungen des Finanzministeriums, die mir bekannt sind, gehen bei Ihrem Konzept - ich wiederhole das - im ersten Jahr von Steuermindereinnahmen von 20,3 Milliarden Euro aus, im Jahr der vollen Wirksamkeit von fast 30 Milliarden Euro. Das sind die Zahlen, die mir bekannt sind. Ich bin davon ausgegangen, dass das - bei allen Schwierigkeiten, die wir kennen, ganz genaue Beträge zu ermitteln - eine seriöse Schätzung ist. ({0}) Sie haben einen Entwurf vorgelegt, der viel verschleiert. Sie haben bewusst die ausdrückliche Nennung all der Steuerausnahmetatbestände, die Sie streichen wollen, ausgespart, weil Sie den Zorn der Wählerinnen und Wähler fürchteten. Das gilt auch für die CDU. Dort einen Bierdeckel hoch zu halten, der für die Steuererklärung genügen soll, und so zu tun, als hätten Sie den Stein der Steuerweisen entdeckt, hat mir Seriosität nichts zu tun. Das war ein politischer Rohrkrepierer. ({1}) Obwohl die CDU nur Leitsätze vorlegt, kann man genauere Zahlen berechnen. Die Schätzer sagen, dass das Merz-Modell im ersten Jahr zu Ausfällen von 31,5 Milliarden Euro führen würde. Dazu kommen noch die 18 Milliarden Euro für die Kinderkomponente, die auf dem Parteitag beschlossen wurde, und die ungeklärte Frage, wie die von der Herzog-Kommission vorgeschlagene Kopfpauschale mit Steuermitteln überhaupt erst sozial erträglich ausgestaltet werden soll. Das hat die CSU, namentlich der Kollege Glos, der an dieser Debatte nicht teilnimmt, als nicht finanzierbar und nicht sozial gerecht bezeichnet, was Sie, Herr Michelbach, nicht vorgetragen haben. Das CDU-Konzept geht nur auf, wenn Sie die Mehrwertsteuer um vier oder fünf Punkte erhöhen. Seien Sie doch so ehrlich und sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern das! Das ist die Konsequenz Ihrer Vorstellungen. ({2}) Alle so genannten Einfachsteuermodelle, auch das der FDP, sind sozial ungerecht. Ihr eindeutiges Ziel ist die Senkung der Steuerlast von Spitzenverdienern. Der Spitzensteuersatz würde dann auch für Normalverdiener mit einem Jahreseinkommen von 40 000 Euro gelten, sowohl für Arbeitnehmer als auch für Manager. Dazu sagt die CSU: Wir wollen den Trend brechen, dass schon Bürger, die nur etwas mehr als der Durchschnitt verdienen, mit dem höchsten Steuersatz belastet werden; denn das ist leistungsfeindlich. In diesem Punkt hat die CSU Recht. Aber setzen Sie Ihre Vorstellungen bitte auch um! Wir machen eine solche leistungsfeindliche Gesetzgebung hier im Deutschen Bundestag nicht mit. Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern auch noch nachhaltiger, als es bisher geschehen ist, verdeutlichen. Was Sie wollen, ist eine Umverteilung von oben nach unten; wir wollen das nicht. ({3}) Sagen Sie den Leuten doch, dass Sie die Übungsleiterpauschale, die Steuerfreiheit von Feiertags-, Nachtund Schichtzuschlägen, den Sparerfreibetrag und vieles mehr, was insbesondere Arbeitnehmer betrifft, streichen wollen. Gerade vonseiten der FDP bzw. von Herrn Westerwelle wird immer so getan, als habe die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft etwas mit der Beibehaltung der Entfernungspauschale zu tun. Das ist Wählertäuschung oder aber Sie wissen es nicht besser, weil Ihre ökonomischen Kenntnisse nicht ausreichen, Herr Westerwelle. ({4}) Man muss es deutlich sagen: Diese Subventionen, die wir abgebaut haben und weiter abbauen wollen, haben mit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nichts zu tun. Auch bei der Vereinfachung des Steuerverfahrensrechts sind wir ein gutes Stück weitergekommen. Lesen Sie einmal im Steueränderungsgesetz nach, was hier mit Mehrheit beschlossen wurde! Das müssen die Länder - und zwar alle Länder, auch die CDU-geführten - jetzt umsetzen. Wir können Millionen von Arbeitnehmern schon in diesem und im nächsten Jahr mit einer vereinfachten Steuererklärung helfen. Hier sind Ihre Taten gefordert. Aber Sie sollten den Leuten keine Versprechen machen und populistische Bierdeckelfantasien entwickeln. Meine Damen und Herren, die SPD steht für die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und nicht für eine Umverteilung der Steuerlast von oben nach unten unter dem Deckmantel der Steuervereinfachung. Das ist auch gerecht. Die SPD steht für die Finanzierungsfähigkeit des Staates und nicht für Steuergeschenke, die die öffentlichen Kassen noch leerer machen, als sie es ohnehin schon sind, und eine künftige Belastung unserer Kinder bedeuten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die FDP will sich wieder einmal als Steuersenkungspartei profilieren. ({0}) Ihr Pech ist, dass Sie sich zwar mit allen etablierten Parteien in einen Wettbewerb um neue Steuersenkungskonzepte begeben haben, dass Sie im Augenblick aber kaum wahrgenommen werden. ({1}) - Nicht mit uns, das ist richtig. Sie greifen meinem nächsten Satz schon vor; denn wir als PDS nehmen an diesem ruinösen Wettbewerb nicht teil. ({2}) Manchmal hat man ja den Eindruck, man müsse erst einmal erklären, warum Steuern überhaupt erhoben werden. Wir brauchen Steuereinnahmen zum Beispiel, um Krankenhäuser, Schulen, Schwimmbäder und Straßen zu erhalten und zu bauen und um Lehrer, Wissenschaftler und Polizisten zu bezahlen. Wer die Steuern aber unentwegt senken will, der muss den Menschen auch sagen, worauf sie im öffentlichen Leben verzichten sollen. Das FDP-Steuermodell hätte massive Steuerausfälle für Bund, Länder und Gemeinden in insgesamt zweistelliger Milliardenhöhe zur Folge; das ist hier schon angesprochen worden. Die FDP will einen Stufensatztarif einführen. Was bedeutet das? Das bedeutet eine massive Steuerentlastung für die Bezieher hoher Einkommen. Der FDP geht es also um eine gravierende Senkung des Spitzensteuersatzes. Das ist reine Klientelpolitik. ({3}) Ein Kollege von der CDU hat davon gesprochen, hier werde eine Neiddebatte geführt. Dazu kann ich aber nur sagen: Wenn man sich gegen diese Klientelpolitik zur Wehr setzt, wird eine Gerechtigkeitsdebatte geführt. Ein Kernstück Ihres Gesetzentwurfs ist die Abschaffung der Gewerbesteuer. Das ist aus unserer Sicht wirklich verantwortungslos. Die Kommunen befinden sich unter Rot-Grün in der schwersten Finanzkrise ihrer Geschichte: Das Defizit der Kommunen beträgt 10 Milliarden Euro. Wie soll das nach Meinung der FDP kompensiert werden? - Die FDP will einen örtlichen Zuschlag auf die Lohn- und Einkommensteuer bzw. auf die Körperschaftsteuer einführen und zugleich den Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer von jetzt 2,2 Prozent auf fast 12 Prozent erhöhen. Wir sollten uns vielleicht daran erinnern, dass in den letzten 20 Jahren der Anteil der Unternehmens- und Vermögensteuer am gesamten Steueraufkommen dramatisch verringert wurde: von 28 Prozent auf 16 Prozent. Gleichzeitig aber stieg der Anteil der Lohnsteuer der Arbeitnehmer am gesamten Steueraufkommen; er liegt jetzt bei fast 40 Prozent. - Diese Entwicklung würde nach dem Modell der FDP weitergehen. Das heißt also: Die kleinen Leute sollen noch mehr belastet werden und noch mehr zahlen. - Die FDP hat vorgeschlagen, den entsprechenden Beitrag der Körperschaften um 8 Prozent zu senken und den Beitrag der Personengesellschaften um 10 Prozent. Ich finde, diese wenigen Zahlen sind klare Belege dafür, dass es der FDP eben nicht um eine solide Finanzbasis für die Kommunen geht, sondern um den massiven Rückzug vor allem der Kapitalgesellschaften aus der Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur. Ich finde, das ist nicht hinzunehmen. ({4}) Völlig unrealistisch ist der Vorschlag der FDP, den Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer auf einen Schlag von 2,2 Prozent auf beinahe 12 Prozent zu erhöhen. Das hätte massive Steuerausfälle für Bund und Länder zur Folge. Was würde geschehen? - Die Länder würden nichts anderes tun, als massive Kürzungen an die Kommunen durchzureichen. Der kommunale Finanzausgleich würde weiter geschwächt. Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Kommunen insbesondere in Ostdeutschland, wo rund 70 Prozent der kommunalen Einnahmen aus dem Finanzausgleich kommen. Mir soll mal jemand erklären, wie die Kommunen nach diesem Modell der FDP weiterhin Schulen und Kitas erhalten sollen. Wir als PDS sind für ein sehr einfaches, aber sehr gerechtes und solidarisches Steuersystem. Davon ist die FDP mit ihrem Gesetzentwurf leider weit entfernt. ({5}) Zwar haben Sie mit Ihrem Antrag Rot-Grün heute die Gelegenheit geboten, sich als Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Balance darzustellen. Ich denke aber, die überzeugendste Darstellung von sozialer Gerechtigkeit wäre, wenn Sie von Rot-Grün die Agenda 2010 korrigieren würden. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was will die FDP? - Ein einfaches Einkommensteuersystem mit breiter Bemessungsgrundlage und niedrigen Steuersätzen - das klingt gut -, ({0}) ein Hebesatzrecht der Gemeinden auf Einkommen- und Körperschaftsteuer und die Erhöhung des Umsatzsteueranteils der Kommunen auf fast 12 Prozent; das klingt nicht so gut. Was aber bedeuten die Vorschläge konkret? Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, Bezieher sehr hoher Einkommen möglichst umfassend zu entlasten, mit einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Das bedeutet eine deutliche soziale Schieflage, nichts anderes. ({1}) Der Arbeitnehmer-Pauschbetrag soll für niedrige Einkommen nur noch 200 Euro betragen, aber mit zunehmendem Einkommen auf 5 000 Euro ansteigen. Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sollen voll steuerpflichtig werden, Sozialleistungen mindern den Grundfreibetrag. Vorgesehen ist ein hoher Kinderfreibetrag - wiederum interessant für Bezieher höherer Einkommen -, Kindergeld dagegen wird Nebensache. Dafür sollen hauswirtschaftliche Beschäftigungsverhältnisse bis 12 000 Euro abziehbar werden. Für Alleinerziehende ist keinerlei Entlastung vorgesehen, aber das Ehegattensplitting ist heilig. Kurzum: Die Gewinner des FDP-Konzepts wären Einkommensmillionäre, die Verlierer wären Familien und Menschen mit kleinem Einkommen. ({2}) Verlierer wären auch die zukünftigen Generationen; denn zusätzliche Steuerentlastungen heute im Umfang von zwischen 15 und 20 Milliarden Euro bedeuteten höhere Steuern von morgen. Eines, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, verraten Sie uns jedoch nicht, nämlich wie Sie ihr Konzept finanzieren wollen. Wie soll die Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle in Milliardenhöhe aussehen? Sie wollen den Gemeinden beinahe 12 Prozent von der Umsatzsteuer zukommen lassen, Gelder - Frau Scheel hat es gesagt -, die vom Bund und von den Ländern abgingen. Zusätzlich kostete der Wegfall der Gewerbesteuer rund 20 Milliarden Euro. Das ist unseriös. Es ist nicht gegenfinanziert. Sie stellen damit Versprechungen von massiven Steuerentlastungen in den Raum, ohne die Gegenfinanzierung wirklich zu thematisieren. Nun zum Thema Gewerbesteuer. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie hier wiederholt keine echte Alternative anbieten. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Kommunen Ihren Vorschlag hierzu nicht umgesetzt haben wollen. Sie wollen auch nicht gegen ihren Willen bei der Umsatzsteuer an dem Tropf von Bund und Ländern hängen. Sie sehen sich weiterhin in die Abhängigkeit von erhöhten Zuweisungen getrieben. Zudem haben die Ergebnisse der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen deutlich gezeigt, worauf das von Ihnen geförderte Modell mit Hebesatz auf Einkommensteuer und Körperschaftsteuer hinausläuft: auf eine Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf eine Entlastung Ihrer Klientel. Mit Ihrem heutigen Vorschlag präsentieren Sie sich überdeutlich als Partei der Besserverdienenden. Bezieher hoher Einkommen werden entlastet, die Kleinverdiener verlieren. ({3}) Die Kommunen erhalten keine echte Alternative. Sie schlagen keine Kompensation für massive Steuerausfälle vor. Wir brauchen - darin gebe ich Ihnen Recht - eine konsequente Steuervereinfachung. Wir sind bereit, über alle sinnvollen Vorschläge zu diskutieren. Die finanziellen Spielräume durch den Abbau von Steuervergünstigungen sollten vor allem genutzt werden, um den Grundfreibetrag anzuheben und einfache und umfassende Pauschalen für alle Steuerbürger zu schaffen. Das wäre ein wirklich durchgreifender Beitrag zur Vereinfachung, von dem alle Bürger etwas hätten. Zudem würde die Finanzverwaltung deutlich entlastet. Es ist aber auch klar: Diese Vereinfachung kostet etwas. Für eine weitere Nettoentlastung ist zurzeit kein Spielraum vorhanden. Eine weitere massive Senkung des Spitzensteuersatzes ist wirklich nicht vordringlich. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Peter Rzepka, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nur ein einfaches Steuerrecht ist auch ein gerechtes Steuerrecht. Bürger, Unternehmer, Wissenschaftler, Steuerberater, Finanzbeamte und Finanzrichter klagen über die zunehmende Chaotisierung des deutschen Steuerrechts, dessen Auswirkungen auf die Steuerbelastung auch von Experten nicht mehr zuverlässig beurteilt werden können. Ein Steuerrecht aber, das Grund und Höhe der Belastung nur unzureichend erkennen lässt, ist verfassungsrechtlich problematisch, weil dem Eingriff des Fiskus die hinreichende gesetzliche Grundlage fehlt und gegen den Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstoßen wird. Ein solches Steuerrecht ist ungerecht und unsozial, weil es denjenigen mehr nutzt, die sich teure Steuerberatung leisten können. ({0}) Es ist wachstumsfeindlich und wettbewerbsverzerrend, weil viele Ausnahmetatbestände die Marktpreise beeinflussen und Investitionen in unproduktive Verwendungen lenken. Es ist schließlich Anlass zu Ausweichreaktionen und Rechtsverweigerung durch Standortverlagerung und Kapitalflucht, durch Steuerhinterziehung und Abtauchen in die Schattenwirtschaft. ({1}) Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt im Jahresgutachten 2003/2004 zu folgendem Befund - meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, wenn Sie uns nicht glauben wollen, dann sollten Sie wenigstens auf die Sachverständigen hören -: Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig erhebliche Defizite. Das deutsche Einkommensteuerrecht wird zunehmend als chaotisch wahrgenommen. Steuerpolitische Einzelmaßnahmen fügen sich nicht in eine erkennbare Systematik ein: ({2}) Der deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an dem sich die Haushalte und Investoren in ihrer Einkommensdisposition langfristig ausrichten könnten. ({3}) Demnach ist die Steuerpolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden rot-grünen Koalition eine der Ursachen für die anhaltende Wachstums- und Beschäftigungskrise. ({4}) Noch im Jahr 2000 hatte diese Bundesregierung die Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch ein tragfähiges und gerechtes Steuer- und Abgabensystem als eine ihrer beiden finanzpolitischen Leitplanken bezeichnet. „Das Steuersystem des Jahres 2003 ist weit entfernt von diesen Zielen“, lautet die ernüchternde Erkenntnis des Sachverständigenrates. Statt sich den selbst gesteckten Zielen zu nähern, entfernt sich diese Bundesregierung immer weiter davon. Als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens vom Dezember 2003 sind umfangreiche Gesetzesänderungen bezüglich der Körperschaftsteuer, Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer, Tabaksteuer, Erbschaftsteuer, Biersteuer, Mineralölsteuer und Stromsteuer mit zum Teil erheblichen Komplizierungen vorgenommen worden. ({5}) Ich will in diesem Zusammenhang nur auf die Neuregelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung und zur Beschränkung der Verlustverrechnung hinweisen. ({6}) Die Union hat im Vermittlungsverfahren viele Mängel der ursprünglichen Gesetzentwürfe der Regierungskoalition korrigieren können, musste aber im Kompromiss und um die Erwartung der Menschen hinsichtlich des Vorziehens der Steuerreform nicht zu enttäuschen, weitere Fehlentwicklungen hinnehmen. Angesichts der Sprunghaftigkeit und des Verlusts der Glaubwürdigkeit bei der Steuerpolitik dieser Bundesregierung richten sich die Hoffnungen der Deutschen auf die Opposition. Nach Vorlage der Leitsätze für eine radikale Vereinfachung und eine grundlegende Reform des deutschen Einkommensteuersystems durch unseren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz trauen 50 Prozent der Deutschen der Union, aber nur 24 Prozent der SPD die besseren Steuer- und Finanzkonzepte zu. ({7}) Wir lassen uns in unserer Steuerpolitik von der Erkenntnis leiten, dass die Steuerlast gesenkt und das Einkommensteuerrecht einer Runderneuerung unterzogen werden muss, bei der die steuerliche Bemessungsgrundlage durch den weit gehenden Abbau von Sondertatbeständen verbreitert wird und die Steuersätze deutlich gesenkt werden. Die FDP-Fraktion beschreibt in ihrem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer das Problem der deutschen Einkommensbesteuerung ähnlich und legt ähnliche Lösungsvorschläge vor. ({8}) Auch die FDP sieht die Streichung bzw. Rückführung zahlreicher Sondertatbestände, einen neuen Einkommensteuertarif mit niedrigeren Steuersätzen, hohe Grundfreibeträge pro Person - einschließlich der Kinder -, die Beibehaltung des Ehegattensplittings, die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte, die unbeschränkte Verlustverrechnung und die Verminderung der Einkommensarten vor. Es war schon Thema der Diskussion, dass die Ersetzung der Gewerbesteuer durch eine verlässliche Steuerquelle, die den Städten und Gemeinden in Deutschland die Erfüllung ihrer Aufgaben auf Dauer sichert, ebenfalls ein gemeinsames Ziel ist. ({9}) Die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen Form, die zunehmend zu einer Großbetriebssteuer mit allen daraus folgenden Aufkommensschwankungen degeneriert ist, hat keine Zukunft mehr. ({10}) Daran werden auch diejenigen, die, wie Herr Poß, daran arbeiten, diesen Fremdkörper in unserem Steuersystem zu revitalisieren, nichts ändern können. ({11}) Bei der Umstellung der Gemeindefinanzierung durch eine Beteiligung an den Gemeinschaftssteuern mit eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen müssen natürlich die Stadtumlandproblematik, das Verhältnis zwischen aufkommensschwachen und -starken Gemeinden und die Administrierbarkeit hinreichend berücksichtigt werden. Frau Kollegin Andreae, nichtsdestotrotz nimmt die Zustimmung zu dieser Form der Ersetzung der Gewerbesteuer auch bei den Kommunen zu. ({12}) Dass Zinsen auf Steuernachzahlungen nach Ihrem Konzept wieder abziehbar sein sollen, findet meine Zustimmung. Es ist nicht zu verstehen, dass der Fiskus Nachzahlungszinsen in Höhe von 6 Prozent aus dem steuerlichen Netto verlangt, andererseits aber die an den Steuerpflichtigen gezahlten Zinsen auf Steuererstattungen in vollem Umfang besteuert. Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf in einigen Punkten noch nicht ausgereift. Für Arbeitnehmer sehen Sie eine Abgeltungspauschale für berufsbedingte Kosten in Höhe von 2 Prozent der steuerpflichtigen Einnahmen - höchstens 5 000 Euro - vor. Zum einen vermag ich nicht einzusehen, dass mit steigenden Einnahmen automatisch auch die Werbungskosten steigen sollen, zum anderen stellen Sie nicht nur auf die Einnahmen aus der Betätigung als Arbeitnehmer ab, sondern auf sämtliche steuerpflichtigen Einnahmen, sodass diese steuerlich absetzbare Pauschale auch dann ansteigt, wenn der Arbeitnehmer Einnahmen aus anderen Einkommensquellen erzielt. Eine solche pauschale Begünstigung von Großverdienern mit Einnahmen bis zu 250 000 Euro findet nicht unsere Zustimmung und dürfte einer verfassungsgerichtlichen Prüfung kaum standhalten. Bei beschränkter Steuerpflicht soll generell der Spitzensteuersatz von 35 Prozent gelten. Eine solche Besteuerung von in Deutschland tätigen Arbeitnehmern, die in anderen EU-Staaten ansässig sind, dürfte meines Erachtens mit dem EU-Recht kaum vereinbar sein. Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgesehene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern eingehen, die einer wirtschaftlichen Betätigung gedient haben. Ich glaube, Ihr Entwurf berücksichtigt nicht ausreichend die Gefahr einer Scheingewinnbesteuerung, die mit inflationären Preisentwicklungen verbunden ist, und dürfte deshalb in diesem Punkte Anlass zu Veränderungen geben. In Ihrem Steuerkonzept lassen Sie sich von dem Grundsatz einer einheitlichen Besteuerung der unterschiedlichen Einkünfte leiten und sehen deshalb nur noch eine Einkunftsart vor. Die Körperschaftsteuer wird in diesem Konzept dadurch in die Einkommensteuer integriert, dass der Spitzensatz der Einkommensteuer dem Körperschaftsteuersatz mit 35 Prozent entspricht. Konsequent stellen Sie Ausschüttungen inländischer Kapitalgesellschaften, die nach Ihrem Konzept auf der Ebene der Kapitalgesellschaft mit 35 Prozent vorbelastet wurden, beim Anteilseigner steuerfrei mit der Möglichkeit, im Wege einer Antragsveranlagung den Körperschaftsteuersatz durch den persönlichen Einkommensteuersatz des Anteilseigners zu ersetzen. Dagegen sollen Dividenden ausländischer Kapitalgesellschaften, die im Ausland bereits mit Körperschaftsteuer vorbelastet sind, zusätzlich der Einkommensteuer des inländischen Anteilseigners unterworfen werden. Dies dürfte zumindest mit dem EU-Recht unvereinbar sein. Eine solche Zusatzbelastung ergibt sich übrigens auch nach dem Wortlaut Ihres Gesetzentwurfs bei mehrstufigen Inlandskonzernen, was Sie nicht ernsthaft beabsichtigt haben können. Kapitalerträge, die nicht Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften sind, sollen nach Ihrem Modell mit einer Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden. Abgesehen davon, dass Sie den Leser Ihres Gesetzentwurfs darüber im Unklaren lassen, was Kapitalerträge im Einzelnen sind, handelt es sich um eine Ausnahme von der grundsätzlich angestrebten Gleichbehandlung aller Einkünfte und damit um einen Systembruch. Ihr Entwurf enthält damit Elemente einer so genannten dualen Einkommensteuer, die Kapitaleinkommen niedriger besteuert als Arbeitseinkommen. Dieser systematische Schönheitsfehler hat aber erhebliche praktische Auswirkungen, da er die Fremdkapitalfinanzierung von Kapitalgesellschaften gegenüber der Eigenkapitalfinanzierung begünstigt,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich möchte in meinen Ausführungen erst einmal fortfahren -, Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet und Personenunternehmen benachteiligt. Ihr Konzept widerspricht damit den Zielsetzungen einer finanzierungs- und rechtsformneutralen Besteuerung. ({0}) Jetzt möchte ich gerne die Zwischenfrage zulassen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben gerade auf die Uhr geschaut und wahrscheinlich festgestellt, dass sich Ihre Redezeit dem Ende zuneigt. Unser Konzept beinhaltet einen starken familien- und frauenpolitischen Teil. Ich möchte Sie bitten, mir die Frage zu beantworten, ob es auch das Ziel der CDU/ CSU ist, die Steuerklasse V abzuschaffen. In unserem Steuerkonzept haben wir andere Steuerklassen vorgesehen. Wir wollen das Gender-Prinzip in unserem neuen Steuerkonzept durchsetzen. Sie haben von ähnlichen bzw. gleichen Zielen gesprochen und darauf verwiesen, worin sich Ihr Konzept von dem der anderen unterscheidet. Meine Frage ist: Werden auch Sie von der CDU/ CSU sich dafür einsetzen, dass die Steuerklasse V abgeschafft wird?

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich habe in meinem Beitrag bereits darauf hingewiesen, dass wir von ähnlich hohen Grundfreibeträgen ausgehen, und zwar für alle Familienmitglieder, also einschließlich der Kinder. Wir sind uns auch in der Fortführung des Ehegattensplittings einig. Insofern wird sowohl in Ihrem als auch in unserem Entwurf die familienpolitische Komponente berücksichtigt. Lassen Sie mich fortfahren - meine Redezeit geht zu Ende -: Nach alledem weist der FDP-Entwurf im Grundsatz in die richtige Richtung. Die CDU/CSU-BundesPeter Rzepka tagsfraktion wird sich konstruktiv in die Beratung einbringen, um den Entwurf zu verbessern und bestehende Mängel zu beheben. In der vorliegenden Fassung jedenfalls ist er noch nicht beschlussreif. Während sich die Regierungsfraktionen an der Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe mit all ihren negativen Arbeitsmarkt- und Ausbildungsplatzeffekten abarbeiten, leisten die Oppositionsfraktionen einen Beitrag zu einem radikalen Neuanfang im Steuerrecht, mit dem den Anforderungen an die steuerliche Gerechtigkeit entsprochen wird, die Leistungsbereitschaft gefördert wird und Deutschland im Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze wieder bestehen kann. Wir fordern die Regierungskoalition auf, klar zu sagen, ob sie bereit ist, einen solchen radikalen Neuanfang im Steuerrecht mitzutragen und beratungsfähige Gesetzentwürfe vorzulegen. Die Unionsfraktion ist bereit, ein solches Steuerrecht noch in diesem Jahr zu beraten und zu verabschieden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 15/2349 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 d sowie die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf: 28 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Manzewski, Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Siegfried Kauder ({0}), Dr. Norbert Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck ({1}), Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes § 201 a StGB ({2}) - Drucksache 15/2466 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll betreffend die Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon ({4}) vom 30. November 1999 im Rahmen des Übereinkommens von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung - Drucksache 15/2410 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fischer ({6}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Planung und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschall- und Weidendammer Brücke vorlegen - Drucksache 15/2157 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2003 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung ({8}) - Drucksache 15/2020 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({9}) Innenausschuss Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten HansMichael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen ({10}) - Drucksache 15/2468 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dirk Niebel, Daniel Bahr Vizepräsident Dr. Norbert Lammert ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Genfer Abkommen als Ausdruck zivilgesellschaftlicher Friedensinitiative unterstützen - Drucksache 15/2195 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({13}) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 j sowie 27 auf. Hier handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 29 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes, des Geflügelfleischhygienegesetzes und des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes und sonstiger Vorschriften - Drucksache 15/2293 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({15}) - Drucksache 15/2480 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Ursula Heinen Hans-Michael Goldmann Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2480, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Seeverkehrsabkommen vom 10. Dezember 2002 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Regierung der Volksrepublik China andererseits - Drucksache 15/2284 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17}) - Drucksache 15/2444 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({18}) Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/2444, diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung - Drucksache 15/2254 ({19}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20}) - Drucksache 15/2445 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Dr. Jürgen Gehb Jörg van Essen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/ 2445, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. Möchte jemand gegen den Gesetzentwurf stimmen? Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 d: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die ErgänVizepräsident Dr. Norbert Lammert zung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung - Drucksache 15/2255 ({21}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({22}) - Drucksache 15/2446 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Siegfried Kauder ({23}) Jörg van Essen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2446, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Tagesordnungspunkt 29 e: Beratung der Dritten Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu 20 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 15. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 15/2400 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Hermann Bachmaier Hans-Joachim Hacker Petra-Evelyne Merkel Dr. Hans-Peter Friedrich ({24}) Manfred Grund Thomas Strobl ({25}) Jürgen Koppelin Der Wahlprüfungsausschuss empfiehlt, die aus den Anlagen 1 bis 16 ersichtlichen Beschlussempfehlungen zu diesen Wahleinsprüchen anzunehmen. Hierzu ist getrennte Abstimmung verlangt. Ich rufe zunächst die in den Anlagen 1 bis 10 aufgeführten Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen auf. Wer stimmt diesen Anlagen mit den darin aufgeführten Beschlussempfehlungen zu? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprüchen in den Anlagen 1 bis 10 sind damit einstimmig angenommen. Wer stimmt für die aus der Anlage 11 ersichtliche Beschlussempfehlung zu dem diesbezüglichen Wahleinspruch? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung zu dem Wahleinspruch in der Anlage 11 ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Wer stimmt für die aus den Anlagen 12 bis 16 ersichtlichen Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses zu weiteren Wahleinsprüchen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlungen sind einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 29 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 90 zu Petitionen - Drucksache 15/2449 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist angenommen. Tagesordnungspunkt 29 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 91 zu Petitionen - Drucksache 15/2450 Wer stimmt dafür? - Wer möchte dagegen stimmen? - Wer enthält sich? - Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 92 zu Petitionen - Drucksache 15/2451 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 93 zu Petitionen - Drucksache 15/2452 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 29 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 94 zu Petitionen - Drucksache 15/2453 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Sammelübersicht gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Vizepräsident Dr. Norbert Lammert zu dem Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ({31}) - Drucksache 15/2285 ({32}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({33}) - Drucksache 15/2486 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Ingo Wellenreuther Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2486, diesen Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt gegen diesen Gesetzentwurf? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir bleiben bei Tagesordnungspunkt 27: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr - Drucksache 15/2359 ({34}) Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2486, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer dieser Beschlussempfehlung und damit dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Ich bedanke mich für die große Disziplin bei dem Abarbeiten dieser Tagesordnungspunkte. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur nachträglichen Sicherungsverwahrung? Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als Erstem dem Kollegen Dr. Norbert Röttgen, CDU/CSUFraktion. ({35})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Dienstag, über die wir heute im Bundestag debattieren, ist eine Niederlage für die Bundesregierung. ({0}) Entscheidend ist, dass es nicht nur eine juristische, sondern auch eine politisch-moralische Niederlage ist, die daraus erwachsen ist, dass Sie sich vor der Verantwortung gedrückt haben. Das ist nun auch durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden. Sie haben sich vor der Beantwortung einer Frage gedrückt - das ist nicht irgendeine Frage -, bei der es um den Schutz der Bevölkerung, der Bürger, von Männern, Frauen und Kindern, vor gefährlichen Gewaltverbrechern geht. Hier waren Sie aufgefordert, zu entscheiden. ({1}) Aber Sie haben sich nicht entschieden. Vielmehr haben Sie sich hinter einer fadenscheinigen Alibiausrede versteckt. Sie haben behauptet, dass Sie gar nicht entscheiden dürften; denn dies zu regeln sei nicht Sache des Bundes, sondern der Länder. Das ist nun eindeutig klargestellt worden: Mit 8 : 0 Stimmen hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das natürlich Bundessache ist. Es war auch abwegig, zu behaupten, dass dies Ländersache sei. Wir werfen Ihnen vor, dass Sie das genau gewusst haben; denn so schlecht können die Juristen im Bundesjustizministerium gar nicht sein. Im Gegenteil: Sie sind gut. Deshalb haben Sie gewusst, dass es sich hier um eine Reaktion des Staates auf Straftäter handelt, dass es also um das Strafrecht und damit um Bundesrecht geht. Sie im Bundestag waren gefordert, zu entscheiden. Aber Sie haben sich versteckt und nicht gehandelt. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen. ({2}) Der Grund, warum Sie sich versteckt haben, ist, dass Sie sich in der Koalition - das ist ein Musterbeispiel für die Handlungsunfähigkeit rot-grüner Rechtspolitik nicht einig sind. Viele von Ihnen teilen die Meinung von Herrn Stünker, dem rechtspolitischen Sprecher der SPDFraktion. Er hat vor sechs und noch einmal vor drei Monaten im Bundestag zur Sicherungsverwahrung ausgeführt - mir liegen die entsprechenden Stenografischen Berichte vor -: Sie ist verfassungswidrig. In der Sache wollen wir sie nicht. - Das ist Ihre Position, Herr Stünker. ({3}) Andere in der Koalition teilen diese Meinung nicht. Der Bundesinnenminister zum Beispiel sagt: Wir wollen sie haben. - Sie waren also nicht handlungsfähig, weil Sie nicht einig waren. Sie hatten weder den Mut, zu sagen, die Gesellschaft solle das Risiko eingehen, noch den Mut, zu entscheiden, dass die Gesellschaft vor solchen Verbrechern geschützt werden muss. Deshalb haben Sie sich versteckt, und das, obwohl es um den Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Gewaltverbrechern geht, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Wiederholungstäter sein werden. Sie haben sich versteckt und nicht gehandelt, obwohl eine Mehrheit in diesem Hause - wir haben einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht - handeln wollte. Das, was die politisch-moralische Niederlage ausmacht, ist diese Verantwortungsverweigerung. Das ist ein Tiefpunkt in der politischen Kultur unseres Landes. In dieser Frage haben Sie abgewogen und schließlich entschieden, das Koalitionswohl vor das Gemeinwohl, das Parteiwohl vor das Bürgerwohl zu stellen. Ihnen war also das Wohl der Koalition näher als das der Bürger. Das ist der Vorwurf, den wir Ihnen machen. ({4}) Niemand, auch wir nicht, hat aber Grund, sich über die Niederlage, die Sie erlitten haben, zu freuen. Auch das Fehlen politischer Kultur und die Folgen Ihrer Entscheidung bieten keinen Anlass zur Freude; denn das wird man in Zukunft nicht einfach korrigieren können, auch wenn das Bundesverfassungsgericht bis an seine Grenzen gegangen ist. Es ist nicht einfach korrigierbar. Stellen Sie sich einmal vor, die beiden Inhaftierten, die geklagt haben, hätten nicht in Bayern oder Sachsen-Anhalt gelebt, sondern in Nordrhein-Westfalen oder in einem der elf Länder, die solche im Notstand, sozusagen, erlassenen Landesregelungen nicht getroffen haben! Sie wären schlicht und ergreifend freigelassen worden! Sie wären auf die Gesellschaft losgelassen worden! - Wer weiß, in wie vielen Fällen so etwas stattgefunden hat? Wer weiß es? Es sind immerhin Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht mit Mehrheit entschieden hat: Die Betroffenen sind so gefährlich, dass sie selbst auf verfassungswidriger Grundlage weiter inhaftiert bleiben müssen, weil wegen der konkreten Gefahr für die Bürger ihre Entlassung nicht zu verantworten ist. In anderen Ländern findet das aber statt. Da gilt die von Ihnen befürwortete und zu verantwortende Rechtslage. Der Staat entlässt solche Straftäter sehenden Auges. Er weiß um die Gefährlichkeit der Straftäter, die ja schon Verbrechen begangen haben. Er sagt aber: Wir können keine Sicherungsverwahrung anordnen. Die Grundlage ist verweigert worden. - Er wartet also darauf, dass ein weiteres Verbrechen begangen wird. Im nächsten Urteil kann dann nach der jetzigen Rechtslage die Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Meine Damen und Herren, diese Absurdität, ({5}) diese Ungeheuerlichkeit des geltenden Bundesrechts können Sie keinem Bürger verständlich machen. ({6}) Sie können keinem Bürger verständlich machen, dass der Staat geradezu zusieht, wie Verbrechen begangen werden, ({7}) und erst dann in der Lage ist, zu entscheiden. Diese Entscheidung hat Konsequenzen. Wir sind bereit, diese Konsequenzen zu ziehen. Wir hatten Gesetzentwürfe eingebracht. Sie haben sie abgelehnt. Wir werden sie erneut in den Bundestag einbringen. Wir sind bereit, zu handeln.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine letzte Bemerkung, eine letzte Warnung an Sie, ({0}) weil ich wieder feststelle, dass Ihre Handlungsunfähigkeit und Ihre Uneinigkeit geblieben sind. ({1}) Ich warne Sie davor, erneut einer bundeseinheitlichen Regelung auszuweichen und eine Länderregelung zu versuchen, nur weil Sie das im Bund nicht hinbekommen. Sie sind nun durch das Bundesverfassungsgericht aufgefordert, endlich Ihre Pflicht zu tun. ({2}) Werden Sie Ihrer Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger gerecht und schaffen Sie eine bundeseinheitliche Regelung! ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort erteile, weise ich noch einmal auf etwas hin, was nicht so gänzlich neu ist, nämlich dass die Redezeit in Aktuellen Stunden jeweils genau fünf Minuten beträgt. ({0}) Frau Ministerin, bitte.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Röttgen, diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist keine Niederlage für diese Bundesregierung, ({0}) sondern sie ist eine Niederlage für den Gesetzgeber der 13. Legislaturperiode. ({1}) Der Gesetzgeber der 13. Legislaturperiode ({2}) wurde mehrheitlich von Ihrer Partei zusammen mit der FDP gebildet. ({3}) Das Bundesverfassungsgericht schreibt auf Seite 69 des Umdrucks - da geht es um die Frage der Kompetenzen; ich darf zitieren -: Die Länder sind zu ergänzenden Regelungen nicht befugt, denn das Recht der Sicherungsverwahrung ist im Strafgesetzbuch umfassend und abschließend geregelt. ({4}) Dies folgt zunächst aus einer Analyse der letzten großen Reform dieses Rechtsgebiets vor der Verabschiedung des Bayerischen Straftäterunterbringungsgesetzes und des Sachsen-Anhaltischen Unterbringungsgesetzes. Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ({5}) sollte dem gesamten damals geäußerten Reformbedarf Rechnung tragen und verzichtete bewusst ({6}) auf einen weiter gehenden Ausbau der Maßregel der Sicherungsverwahrung. ({7}) Das zeigt, weshalb die Länder keine Gesetzgebungskompetenz haben. Es wurde schon 1998 abgelehnt. ({8}) Ich mache jetzt nur einen historischen Abriss, damit wir hier nicht immer so geschichtslos darüber reden; ({9}) das ist der Punkt; darum geht es jetzt. ({10}) Sie haben damals im Ausschuss auch den Antrag der SPD abgelehnt, eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung einzuführen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Hauptsächlich hat die Bundesministerin der Justiz das Wort. ({0})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Nachdem wir uns darüber verständigt haben, dass der Anteil, den Ihre Partei an dieser Entscheidung trägt, doch ein ganz überwiegender ist, sollten wir jetzt gemeinsam nach vorn gucken und feststellen, was aufgrund dieser Entscheidung nun zu tun ist. ({0}) Tatsache ist nämlich - Karlsruhe hat so entschieden -, dass der Bund eine Gesetzgebungskompetenz hat. Es ist nur eine theoretische Möglichkeit, diese Gesetzgebungskompetenz nicht wahrzunehmen. Das werden wir nicht tun. Die andere Variante, Länderöffnungsklauseln aufzunehmen - auch sie wird durch diese Entscheidung nahe gelegt -, halte ich auch nicht für einen guten Weg. ({1}) Man hat gesehen, dass es - auch weil man schnell handeln muss - in der Tat sinnvoller ist, eine einheitliche Regelung zu finden. Eine Länderöffnungsklausel mit entsprechenden Ländergesetzen lässt sich vom Ablauf her bis zum 30. September überhaupt nicht verwirklichen. ({2}) - Ich sage nur, welche Handlungsmöglichkeiten es nach der Entscheidung - ich habe sie gelesen; ich weiß nicht, ob Sie sie gelesen haben - gibt. ({3}) Wir sehen uns in der Pflicht, jetzt zu handeln, um genau das zu tun, was notwendig ist: die Bevölkerung vor schweren Straftaten schützen. Wir werden deshalb in den nächsten Tagen einen Gesetzentwurf vorlegen, der eine nachträgliche Sicherungsverwahrung vorsieht. ({4}) Dieser Gesetzentwurf wird den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in dieser Entscheidung und in der Entscheidung von letzter Woche Rechnung tragen. Die Zeit drängt; ({5}) deshalb bin ich froh, dass ich Ihnen bereits heute skizzieren darf, verehrter Herr Abgeordneter, was wir uns vorstellen. ({6}) Sie werden sehen: Wir haben schon Überlegungen angestellt. Ich sagte bereits, dass das Gesetz in wenigen Tagen fertig sein wird. Da sich das Hohe Haus mit den Details befassen muss, sage ich schon jetzt, was wir uns ungefähr vorstellen, damit wir dann alle gemeinsam schnell in die Sacharbeit einsteigen können. ({7}) Was wollen wir machen? Das bestehende System der Sicherungsverwahrung und der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung werden wir um eine weitere Vorschrift ergänzen, die dem Umgang mit den wenigen Tätern, um die es hier geht, Rechnung trägt. Das sind nämlich die Täter, für die - wie in Sachsen-Anhalt - aus rechtlichen Gründen oder aus tatsächlichen Gründen bislang nicht Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte, weil sich erst im Vollzug herausgestellt hat, dass von ihnen eine erhebliche Gefährdung ausgeht. Eine Regelung, die sich in dieses System einpasst, muss im Großen und Ganzen dasselbe Verfahren wie bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung beinhalten. Das heißt, es gelten die Überprüfungsfristen wie bei der Unterbringung nach § 66 StGB oder nach § 66 a StGB. Das sichert zum einen die Rechte der Betroffenen und ihre Chance darauf, entlassen zu werden, wenn eine Person als nicht mehr gefährlich gilt. Auf der anderen Seite ermöglicht es aber auch, einen Betroffenen gegebenenfalls, also wenn es erforderlich ist, unbefristet in Sicherungsverwahrung zu behalten. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass es hierbei um das überragende Schutzinteresse der Bürger im Hinblick auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung geht. Wir unterhalten uns deshalb - so meine wenigstens ich nicht über kleine Diebe oder kleine Betrüger und deren nachträgliche Sicherungsverwahrung. Eine solche Ausdehnung wäre mit den Vorgaben, die das Gericht gemacht hat, wohl kaum zu vereinbaren. ({8}) Wir müssen die Entscheidung - das werden wir im Gesetz so vorsehen -, ob eine nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anzuordnen ist, an eine umfassende Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit, seiner Taten und seines Verhaltens im Vollzug knüpfen. Karlsruhe hat ganz eindeutig erkennen lassen, dass beispielsweise allein eine Therapieverweigerung als Begründung für die Verhängung der Sicherungsverwahrung nicht ausreicht. Wesentlich ist vielmehr - das wurde in den Entscheidungen mehrfach betont - das Gesamtbild, das sich aus der Anlasstat und dem Verhalten im Vollzug ergibt. Wir werden zu diskutieren haben, ob wir nicht in die Regelung auch diejenigen einbeziehen müssen, die sich nicht in einer Strafhaft, sondern im Vollzug einer Maßregel nach § 63 StGB befinden, wenn sich nämlich herausstellt, dass die psychische Störung nicht mehr besteht und sie damit aus der Psychiatrie zu entlassen wären, gleichwohl aber ihre Gefährlichkeit festgestellt wird. Dazu ist bisher noch von niemandem ein Vorschlag vorgetragen worden. Diese Überlegung ist neu. Wir müssen uns gemeinsam darüber verständigen, wie wir diesen Fall regeln wollen. Zudem müssen wir eine Übergangsregelung - das werden wir auch tun - für diejenigen schaffen, die jetzt aufgrund dieser für verfassungswidrig erklärten Gesetze einsitzen und die erst einmal überprüft werden müssen, ehe eine neue Sicherungsverwahrung gegebenenfalls verhängt werden kann. Das heißt, wir müssen uns gemeinsam überlegen, wie wir es schaffen, dass diejenigen, die aufgrund der Landesgesetze jetzt noch einsitzen, so lange in Gewahrsam bleiben, bis sie erneut begutachtet worden sind und ein Gericht darüber entschieden hat, ob die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung vorliegen oder nicht. Um diese Punkte geht es aufgrund dieser Entscheidung hier. Sie sind überschaubar. Dadurch, dass diese Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode schon das Instrument der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung eingeführt hat, auf das wir in der Systematik zurückgreifen können, bin ich auch sehr zuversichtlich, dass wir erstens sehr schnell einen Gesetzentwurf werden vorlegen können und ihn zweitens auch sehr schnell beraten können. Ich hätte die herzliche Bitte, dass die anfänglichen Quisquilien darüber, wer denn nun mehr Schuld als der andere habe, zurückgestellt werden, damit wir gemeinsam auf alle Fälle wenigstens sicherstellen ({9}) - ich habe ja gesagt, was ich davon halte; ich glaube nicht, dass Sie dabei besser abschneiden -, den von Karlsruhe ({10}) - es redet überwiegend immer noch die Bundesjustizministerin, Herr Röttgen - gesetzten Termin zu erreichen. Eines ist doch klar: Es liegt im Interesse dieses Hauses und auch im Interesse der Bundesländer, dass die Menschen, um die es hier geht, nicht freigelassen werden. ({11}) Daran kann doch auch aller politischer Dissens nichts ändern. Deswegen bitte ich sehr darum, dass das Gesetz mit der gebotenen Eile, aber gleichzeitig mit der notwendigen Gründlichkeit hier im Hause beraten wird. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen, FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, dass es hier nicht, wie es die Bundesjustizministerin gerade gesagt hat, um Quisquilien geht, sondern Fragen zur Entscheidung anstehen, die ganz außerordentlich wichtig sind und auch sorgfältig geprüft und debattiert werden müssen. ({0}) - Hören Sie doch überhaupt erst einmal zu, bevor Sie sich aufregen. Sie müssen ja offensichtlich sehr nervös sein. Ich habe auch großes Verständnis dafür, dass Sie so nervös sind. Ich werde darauf nämlich noch eingehen. Auf der einen Seite haben wir das Verfassungsrecht zu beachten, und zwar streng. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat dazu Anhörungen durchgeführt, die uns klare Aussagen gebracht haben, übrigens auch von Sachverständigen, die von der CDU/CSU benannt worden sind. Auf der anderen Seite haben wir hochgefährliche Täter. Das hat offensichtlich das Bundesverfassungsgericht dazu veranlasst, eine Übergangsregelung vorzusehen, in der der Gesetzgeber die Chance hat nachzubessern. Man hat wohl eine Gefahr darin gesehen, wenn diese Personen unmittelbar in die Freiheit entlassen würden. ({1}) Das ist ungewöhnlich. Hieraus ergibt sich damit auch eine Verpflichtung für uns. Trotzdem muss ich hier den Sachverhalt ansprechen, dass ich bei kaum einer Frage während der Zeit, in der ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin, so viele rechtliche Volten vonseiten der Koalitionsfraktionen wie bei dieser erlebt habe. Als die CDU/CSU, übrigens wie auch die FDP, die Auffassung vertrat, dass hier der Bundesgesetzgeber gefragt ist, hat der Kollege Stünker uns vorgeworfen, wir befänden uns im strafrechtlichen Mittelalter. ({2}) Er hat ebenso klar wie damals der Vertreter des Bundesjustizministeriums gesagt, dass es bei dieser Frage um Gefahrenabwehr gehe. Deshalb habe das Ganze im Bundesrecht nichts zu suchen. All diesen Auffassungen und auch Ihnen persönlich, Herr Kollege Stünker, ist vom Bundesverfassungsgericht eine schallende Ohrfeige verpasst worden. ({3}) Ich erkenne ja an, dass Sie irgendwann Ihre Meinung geändert haben und plötzlich auch für eine bundesrechtliche Regelung der Sicherungsverwahrung waren. Diese haben wir dann ja auch im Jahre 2002, übrigens mit den Stimmen der FDP, ({4}) verabschiedet. Die Lösung, die wir damals gefunden haben, haben wir nach sorgfältiger Prüfung beschlossen. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Ich persönlich wäre bereit gewesen, weiter zu gehen, aber die Argumente der Verfassungsrechtler, dass das der Rahmen sei, in dem wir uns bewegen könnten, haben mich ganz außerordentlich überzeugt. Ich habe jetzt von der Bundesjustizministerin keine neuen Argumente gehört, die uns gegen die damaligen Auffassungen der Verfassungsrechtler die Freiheit geben, das Ganze so zu regeln, wie es jetzt gerade hier skizziert worden ist. Ich will deshalb ankündigen, dass wir sehr sorgfältig und sehr genau als eine dem Rechtsstaat und der Verfassung verpflichtete Partei prüfen werden, ob der Weg, der vom Bundesjustizministerium vorgeschlagen wird, gangbar ist. Eines will ich aber auch deutlich machen - damit komme ich auf den Beginn meiner Rede zurück -: Wir haben es hier mit hochgefährlichen Tätern zu tun. Nach meiner Kenntnis sind im Augenblick fünf Personen in dieser besonderen Form der Verwahrung. Deshalb werden wir natürlich erneut und sorgfältig in die Prüfung eintreten müssen, wie wir hier zu einer Lösung kommen können. Aber eines ist für die Liberalen ganz klar: Es muss eine verfassungsfeste Lösung sein. Denn es hilft uns nichts, wenn wir hier irgendetwas beschließen, was hinterher einer Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhält. ({5}) Ich muss sagen: So klar das Urteil gewesen ist, es hat mir nicht gefallen, dass diese Täter auch noch vom höchsten deutschen Gericht Recht bekommen haben. Das hätten wir vermeiden können. Deshalb müssen wir die einzelnen Fragen bei den anstehenden Diskussionen sehr sorgfältig prüfen. Das wird die Linie sein, mit der die FDP in diese Beratungen geht. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieses Urteil bietet nun wahrlich keinen Grund, von einer Ohrfeige zu sprechen, die die Bundesregierung oder die Parlamentsmehrheit von Rot-Grün bekommen hätten. Das Gericht hat sich große Mühe gegeben und in erster Linie eine Zuständigkeitsfrage entschieden, indem es festgestellt hat, dass - dafür spricht tatsächlich vieles - nicht die Länder zuständig sind, sondern der Bundesgesetzgeber. Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht gesagt, dass wir eine nachträgliche Sicherungsverwahrung brauchen; es hat nicht einmal gesagt, dass diese mit Sicherheit zulässig ist. Die Mehrheit der Richter des Bundesverfassungsgerichts hat ausdrücklich betont, dass eine solche Regelung nicht von vornherein das Verdikt der Verfassungswidrigkeit trägt. Das heißt, selbst dieses Gericht kommt zu dem Schluss, dass ganz genau überlegt werden muss, ob nicht beispielsweise das Rückwirkungsverbot und andere verfassungsrechtlich sehr wichtige Grundsätze gegen eine solche Regelung sprechen, wie sie beispielsweise Bayern und Sachsen-Anhalt geschaffen haben. Das heißt, hier ist ein ganz wichtiger Abwägungsprozess vorzunehmen. Das haben wir vor. Eine Entscheidung ist zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht sagt nicht mehr, als dass der Bundesgesetzgeber entscheiden soll, ob er selbst für eine Regelung sorgt, ({0}) ob er überhaupt ein zusätzliches Eingreifen für erforderlich hält oder ob der Bund den Ländern die Kompetenz dafür überträgt. Es wäre durchaus denkbar, dass überhaupt nichts geschieht, weil - so haben es die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts, die die Minderheitsmeinung vertreten haben, formuliert - die Maßnahmen, die schon heute möglich sind, ausreichen, zum Beispiel Führungsaufsicht, Weisungen, Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt und Ähnliches, um vor gefährlichen Tätern die Sicherheit zu wahren und die Bevölkerung vor ihnen zu schützen. ({1}) Das sind alles wichtige Fragen, die wir prüfen müssen. Wir können nicht einfach ohne Prüfung wie Bayern und Sachsen-Anhalt vorgehen, wie Sie es vorschlagen. Meine Bedenken gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung - das sage ich Ihnen ganz deutlich - sind durch die beiden Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht mit zu entscheiden hatte, eher bestätigt worden. Wir wissen - auch das Bundesverfassungsgericht hat das ausdrücklich festgestellt - dass die Sicherungsverwahrung und die nachträgliche Sicherungsverwahrung Regelungen sind, die die Nazis im November 1933 ins Strafgesetzbuch eingeführt haben. Das sollte für uns alle ein Grund sein, ganz genau hinzuschauen. Jeder Gefangene - auch Sie haben ja hin und wieder mit ihnen zu tun - empfindet die Sicherungsverwahrung natürlich als Strafe ohne Schuld, die er zu erleiden hat, ({2}) denn die strafrechtliche Schuld hat er ja bereits verbüßt. Wenn die Gerichte in Bayern und in Sachsen-Anhalt die Gefährlichkeit der beiden Männer, die jetzt weiterhin in Sicherungsverwahrung sitzen, damit begründet haben, dass sie sich keiner Therapie unterziehen wollten, ({3}) dann bestätigt das meine Bedenken. Gutachter dürfen nicht zu dem Ergebnis der Gefährlichkeit kommen, weil das Fehlen einer Therapie nicht ausreicht. Selbst dem Bundesverfassungsgericht war offensichtlich sehr unwohl, denn es hat gesagt, die Instanzgerichte seien aufgefordert, die Entscheidung zu überprüfen und festzustellen, ob die Gesamtwürdigung der Täter und der Taten eine längere Unterbringung in der Sicherungsverwahrung überhaupt rechtfertigt. Wenn ich all das berücksichtige, dann kann ich nur zu dem Ergebnis kommen: Wir haben nicht nur die Aufgabe, eine Entscheidung zu fällen, sondern auch, nochmals sehr gründlich abzuwägen. Insbesondere müssen wir das beachten, was uns die drei Richter des Bundesverfassungsgerichts in ihrem Dissenting Vote mit auf den Weg gegeben haben, nämlich dass es nach dem Rückwirkungsverbot, das aus guten Gründen Verfassungsrang hat, eine äußerst problematische Angelegenheit ist - es ist fraglich, ob, in welchem Maße und mit welchen Einschränkungen so etwas passieren kann -, wenn der Gesetzgeber eine Regelung erlässt, die für Menschen, die ihre Strafe bereits verbüßt haben, bedeutet, dass sie weiterhin jahrelang, möglicherweise ein ganzes Leben lang, in der Haft bleiben müssen. ({4}) Diese Entscheidung werden wir uns nicht leicht machen. Bei dieser Entscheidung sind alle Möglichkeiten offen. Ich kann nur sagen: So wie es die beiden Länder Sachsen-Anhalt und Bayern geregelt haben, so kann eine Regelung jedenfalls nicht aussehen und so darf sie nicht aussehen, weil sie mit den Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht in das Urteil geschrieben hat, inhaltlich nicht zu vereinbaren ist. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation ist viel zu ernst, um unlautere Argumente zuzulassen, wie sie beispielsweise der Kollege Ströbele verbreitet; denn er weiß ganz genau, dass eine Maßregel der Besserung und Sicherung keine Strafe ist und dass das Verbot der Doppelbestrafung ihr nicht entgegensteht. ({0}) Es brennt lichterloh. Was mich am meisten ärgert, ist nicht, dass die Bundesjustizministerin versucht, den schwarzen Peter im Kreis herumzutragen. Was mich auch ärgert, ist der Umstand, dass wir unnötig sehr viel Zeit verloren haben. ({1}) Dass die landesrechtlichen Regelungen verfassungsrechtlich bedenklich sind, wissen wir nicht erst seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004. Man braucht nur bei Kinzig in der NJW 2001 auf Seite 1455 nachzulesen. Dort sind genau die verfassungsrechtlichen Bedenken, wie sie sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben, aufgeführt. Wir müssen auch über konkrete Fälle sprechen. Der Fall aus Sachsen-Anhalt betraf einen damals 17-Jährigen, der die Schwägerin seiner Freundin mit einem Hammer erschlagen hat, weil sie ihm nicht willfährig war. Die Tat wurde zwei Tage später entdeckt. Der 2-jährige Sohn des Tatopfers saß blutverschmiert, verstört und völlig unterkühlt neben seiner Mutter. Der Täter bekam damals in der alten DDR eine Jugendstrafe von 15 Jahren. Die Hälfte davon musste er absitzen. Zwei Monate nach der Haftentlassung hat er versucht, eine 20-jährige Frau, die ihm ebenfalls nicht willfährig war, zu erstechen. Diese Frau leidet noch heute an Nervenstörungen und an einer Gehbehinderung. Ich sage das nur, damit jeder weiß, wovon wir sprechen. Frau Justizministerin, es ist vielleicht geboten, nicht mit Häme auf eine zurückliegende Legislaturperiode zu verweisen, sondern das Gesetz aus dem Jahre 1998, mit dem in § 66 Abs. 3 StGB eine neue Vorschrift eingeführt wurde, zu analysieren. Denn die beiden Fälle, über die das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat, sind so genannte Altfälle, weil die Taten vor dem Jahr 1998 liegen. Wären sie heute geschehen, könnten sie nach dem jetzt bestehenden § 66 Abs. 3 StGB - das ist eine Leistung nicht Ihrer, sondern unserer damaligen Regierung ({2}) sehr wohl gelöst werden. Die Sicherungsverwahrung, die damals nach altem Recht nicht möglich war, wäre jetzt nach § 66 Abs. 3 StGB möglich. Aber wir dürfen uns nicht hinter diesen Fällen verstecken. Es geht hier nämlich nicht allein um die Regelung von zwei Altfällen. Es geht schlicht und ergreifend um die Problematik, dass sich manchmal erst im Strafvollzug Persönlichkeitszüge eines Täters zeigen, die nach der Prognose des erkennenden Gerichts noch nicht feststellbar waren. Was liegt näher, als die Entwicklung des Straftäters in der Strafhaft bei der Prognoseentscheidung über seine Gefährlichkeit mit einzubeziehen? Also schreit doch genau das, was der Gesetzgeber früher schon wollte, nämlich eine sichere Prognoseentscheidung treffen zu können, nach der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Ich räume natürlich ein: Dies ist kein einfach zu lösendes Problem, ({3}) weil sich hier die Sicherheit der Allgemeinheit und die grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte eines Straftäters und Verurteilten gegenüberstehen. ({4}) Das ist ein Konflikt, den der Gesetzgeber zu lösen hat. Nur, da hat das Justizministerium schändlich versagt, Zeit wurde verschenkt, die man jetzt aufholen muss. Denn haben wir dies bis zum 30. September dieses Jahres nicht geschafft, erhält die Bundesjustizministerin die rote Karte und die zwei Straftäter - einen Fall habe ich Ihnen geschildert; dieser Straftäter hat eine Frau umgebracht und versucht, eine zu töten - sind dann auf freiem Fuß. Das werden wir nicht wollen. ({5}) Unsere Unterstützung haben Sie. Wir helfen mit, zu einer sachlichen Lösung zu kommen. Aber wir lassen uns nicht gefallen, dass Sie uns Dinge vorwerfen, die rechtlich nicht haltbar und politisch nicht vertretbar sind. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Uwe Benneter, SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss eines klar sein: Wir haben die gemeinsame Verantwortung, schnell dafür zu sorgen, dass die Täter, um die es hier geht, nicht zum 1. Oktober dieses Jahres freigelassen werden. ({0}) Deshalb macht es keinen Sinn, Herr Kollege Kauder, sich wechselseitig vorzuhalten, dass man die größere Verantwortung wahrnehmen würde. Für uns gibt es in dieser Frage kein Verstecken. Es gab gute Gründe, dieses Problem zum Bereich der präventiven Gefahrenabwehr zu zählen und es deshalb landesgesetzlich zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dies jetzt anders gesehen und hat uns andere Gründe vorgegeben. Anhand dieser Gründe werden wir nun rasch, präzise, umfassend und vor allen Dingen rechtzeitig ein entsprechendes Gesetz vorzulegen haben. Eines jedenfalls ist uns klar: Diese Täter dürfen nicht in Freiheit kommen. Die Gesellschaft muss die Sicherheit haben, dass solche Täter in staatlichem Gewahrsam bleiben. ({1}) Die CDU/CSU hat dies 1998 - darauf ist wiederholt hingewiesen worden - selbst so gesehen. Deshalb macht es wenig Sinn, dem Kollegen Ströbele vorzuhalten, er nehme hier eine unkorrekte Abwägung vor. ({2}) Ich halte es wirklich für eine Frechheit, wenn Sie meinen, Sie müssten uns davor warnen, diese Verfassungsgerichtsentscheidung nicht korrekt zu deuten. Wir deuten sie so, wie sie uns vorgegeben worden ist. In wenigen Tagen wird uns die Bundesjustizministerin - das hat sie schon angekündigt - einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen, einen Gesetzentwurf, in dem das Verfahren genau so ausgestaltet sein wird, wie wir es bereits für die vorbeugende Sicherungsverwahrung vorgesehen haben. Wir jedenfalls lassen keine Zweifel daran zu, dass schwerstkriminelle Mörder und Sexualstraftäter nicht in Freiheit kommen dürfen. Herr Kauder, Sie haben die Scheußlichkeiten eines Falles dargestellt. Sie können sicher sein, dass keiner der hier Anwesenden dies anders sieht. Deshalb besteht die gemeinsame Verantwortung, das, was das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, in der Abwägung zwischen einerseits der Menschenwürde, die sicher auch für Straftäter gilt, und andererseits der Sicherung der Allgemeinheit umzusetzen. Dafür sind wir bzw. ist der Staat zuständig. Wir haben diese Abwägungen vorzunehmen, wobei es einerseits um hochgefährliche Täter und andererseits um eine verfassungsgerechte Lösung geht. Dies werden wir - darauf können Sie sich verlassen leisten. Wir in dieser Koalition werden dies bei allen Schattierungen, unterschiedlichen Ansätzen und bei allen Diskussionen, die darüber in der Vergangenheit stattgefunden haben, umsetzen und keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass solche Täter auch für uns auf Dauer hinter Schloss und Riegel gehören. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Michaela Noll, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Tage, da macht das Zeitunglesen Spaß. Einer war gestern, denn jetzt herrscht Klarheit. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Frau Ministerin: Sie sind jetzt an der Regierung. ({0}) So sieht es auch die Öffentlichkeit. ({1}) In den Zeitungen hieß es: „Eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung“ - „Die Welt“, „Danke, ihr Richter“ „Bild“-Zeitung, „Nun muss der Bund sich rühren“ - „Berliner Zeitung“. Durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts können die Menschen in Deutschland aufatmen und ich auch. ({2}) Endlich haben wir Rückendeckung für eine Rechtspolitik bekommen, die Opferschutz höher als Täterschutz gewichtet. ({3}) Im letzten Jahr haben wir hier an dieser Stelle immer wieder eine Debatte über den Umgang mit gefährlichen, nicht therapierbaren Gewalt- und Sexualtätern geführt. „Wegschließen, und zwar für immer“ forderte Kanzler Schröder vor einiger Zeit, als in kurzen Abständen gleich mehrere Sexualmorde an Kindern verübt worden waren. Das Thema wurde besetzt und es wurde auf Vergessen gesetzt. Ich frage mich daher immer wieder, warum SPD und Grüne das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht ernst nehmen. Bei den Grünen fällt mir die Antwort leicht: Geht es Ihnen, Herr Ströbele, vielleicht nur darum, Ihr politisch relevantes Klientel zu bedienen? ({4}) - Sie müssen sich gar nicht so aufregen. - Generelles Misstrauen und Widerwillen gegen Polizei, Staatsanwaltschaft und geschlossenen Vollzug sind die Handschrift grüner Rechts- und Innenpolitik. Wie oft haben wir dies in der Vergangenheit bereits erlebt! Sprechen wir einmal Graffiti an, ({5}) sprechen wir die Verschärfung des sexuellen Missbrauchs an. Warum fiel es Ihnen damals so schwer, die Grundtatbestände nach § 176 Abs. 1 und Abs. 2 StGB bei Kindern als Verbrechen einzustufen? Deshalb fordere ich Sie jetzt auf: Schluss mit falscher Toleranz; denn Toleranz hat dort ein Ende, wo Gefährdung der öffentlichen Sicherheit anfängt. ({6}) Mit diesem Urteil wird die Bundesregierung gezwungen umzudenken. Räumen Sie endlich dem Opferschutz Vorrang vor dem Täterschutz ein. Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, lassen Sie den vielen Worten, die bereits gefallen sind, jetzt Taten folgen. Es gilt, schnellstmöglich ein Bundesgesetz zu erlassen. Deshalb sage ich an dieser Stelle: besser spät als nie. Bis heute hat die Bundesregierung alle Vorschläge - es waren viele - hartnäckig mit der Begründung blockiert, die Länder seien zuständig. Weit gefehlt! Diese Begründung wurde mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts widerlegt. So haben auch Sie, sehr geehrter Herr Kollege Stünker, eine kleine Nachhilfestunde bekommen. Müssen wir von der Opposition denn der Bundesregierung immer wieder ihre Verantwortung für den Schutz der Allgemeinheit ins Bewusstsein rufen? Anscheinend ja. Die Opfer mahnen uns zu handeln. Die Schicksale ermordeter Kinder wie Kim, Natalie, Tom und Sonja werden uns begleiten. ({7}) Erwarten Sie bitte kein Verständnis von betroffenen Eltern, wenn Sie in dieser Frage immer wieder verzögern oder blockieren. Die Sicherungsverwahrung trifft keine Unschuldslämmer. Darum geht es. In Sicherungsverwahrung kommen nur schwere Straftäter. Zurzeit sitzen 300 schwere Sexualverbrecher und Gewalttäter in Sicherungsverwahrung, davon allein ein Drittel bei mir in Nordrhein-Westfalen. Ich hatte vor kurzem selbst Gelegenheit, einen Sicherungsverwahrungstrakt in meinem Wahlkreis in Langenfeld zu besuchen. ({8}) Die dort einsitzenden Rückfalltäter werden hoffentlich keinem Unschuldigen mehr etwas tun. Die Frist läuft. Sie haben bis zum 30. September Zeit. So lange müssen die in den unterschiedlichen Bundesländern inhaftierten Sexualstraftäter in Haft bleiben. Ich sage Ihnen: Das ist gut so. ({9}) Aber es ist ein Armutszeugnis für die Regierung, dass das Bundesverfassungsgericht trotz Verfassungswidrigkeit der Landesgesetze darauf bestehen muss, dass die Straftäter in Haft bleiben. Damit war sich das Bundesverfassungsgericht seiner Verantwortung bewusst. Anderenfalls würden sich die hier viel zitierten „tickenden Zeitbomben“ wieder unter das Volk mischen. Ich werde nicht lockerlassen, bis wir in Deutschland ein Gesetz haben, mit dem besonders gefährliche Straftäter weggesperrt werden können, und zwar notfalls für immer. Sie, Herr Ströbele, haben wieder nur für die Täter gesprochen und nicht für die Opfer. Gebetsmühlenartig wiederhole ich deshalb meine alte Forderung: Opferschutz vor Täterschutz! ({10}) Nun sind Sie am Zug. Nach Ihrem Vortrag, Frau Ministerin, habe ich die Hoffnung, dass sich endlich etwas tut. Es ist höchste Zeit. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/ Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Noll, vor fünf Minuten hat Ihr Kollege Kauder die Hand zu einer sachlichen Diskussion ausgestreckt. Nach Ihrer Rede ist alles schon wieder vorbei. Bei solcher bodenlosen Phraseologie, solchem Populismus und solchen Angriffen gegen den Kollegen Ströbele persönlich ({0}) werden wir es offensichtlich nicht schaffen, mit Ihnen sachlich über diese ganz schwierige Frage zu reden. Natürlich hat das Bundesverfassungsgericht uns eine enge Frist gesetzt, zu handeln. Wir werden auch handeln, wie es der Kollege Ströbele beschrieben hat. ({1}) Wir werden uns ganz genau überlegen, was zu tun ist, und werden in der gebotenen Frist und Eile das Richtige tun. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat aber eine noch eiligere Entscheidung angemahnt. Es hat die Gerichte, die nach Landesrecht die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die noch fünf Betroffenen angeordnet haben, aufgefordert, unverzüglich ihre Entscheidungen zu überprüfen, und zwar nicht anhand der materiell verfassungswidrigen Kriterien der Landesgesetze, sondern nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. ({3}) Es ist durchaus möglich, dass diese Menschen von den Gerichten freigelassen werden, wenn die verfassungsgeJerzy Montag mäßen Kriterien des Verfassungsgerichtsurteils auf diese Fälle angewendet werden. ({4}) Warten wir ab, wie diese Entscheidungen aussehen werden. Meine Damen und Herren, wir Grüne und auch die Kollegen der SPD hatten schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung. Ich persönlich kann sagen: Wir haben sie weiterhin. Das Bundesverfassungsgericht hat nun gesagt, eine nachträgliche Anordnung einer präventiven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter sei „bei entsprechend enger Fassung nicht von vornherein“ verfassungswidrig. Einen engeren Korridor kann ich mir kaum vorstellen. ({5}) Deswegen gilt es, diesen engen Korridor, innerhalb dessen eine verfassungsmäßige Regelung überhaupt nur möglich ist, jetzt schnell auszuloten. ({6}) Dazu will ich an dieser Stelle in der gebotenen Kürze drei Gedanken vortragen. Erstens. Das Gericht hat gesagt, dass die Bindung der Sicherungsentscheidung an die Straftat weiterhin das entscheidende Element ist. ({7}) Das bedeutet, dass die Bindung an das Bundesrecht nicht nur formal - über das Strafrecht -, sondern auch verfahrensmäßig und materiell ist: Auch die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ist in erster Linie an die Straftat zu binden, die begangen worden ist. ({8}) - Jetzt sagen Sie es hier: Ja, so ist es. - Aber in den Gesetzen, die für verfassungswidrig erklärt worden sind, ist genau dies nicht beachtet worden. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehr als deutlicher Art und Weise gesagt, dass das bayerische Gesetz nicht nur formal - wegen Unzuständigkeit -, sondern auch inhaltlich verfassungswidrig ist, weil es im Wesentlichen auf das Nachtatverhalten, insbesondere auf das Verhalten in der Strafhaft und eine angeblich verweigerte Teilnahme an einer Resozialisierungsmaßnahme, abzielt. Das werden wir nicht tun; denn das wäre tatsächlich verfassungswidrig. ({9}) Auch bei einer nachträglichen Anordnung bleibt es dabei, dass die Straftat der Ausgangspunkt der Überlegungen sein muss und dass das Verhalten danach lediglich als ergänzendes Argument, wie das Verfassungsgericht schreibt, herangezogen werden kann. Deswegen bin ich persönlich im Übrigen auch gegen eine Öffnungsklausel. Denn ich will nicht, dass die Bayerische Staatsregierung ihr verfassungswidriges Gesetz noch einmal aus der Tasche ziehen und mittels einer Öffnungsklausel als Landesgesetz einführen kann. ({10}) Der zweite Punkt, zu dem ich etwas sagen möchte, ist: Das Bundesverfassungsgericht sagt, dass eine nachträgliche Sicherungsverwahrung die umfassende Würdigung der Täterpersönlichkeit voraussetzt. Das bedeutet, dass eine umfassende Begutachtung notwendig ist. Es wäre sogar besser - hier übernehme ich gern eine Idee aus dem bayerischen Landesgesetz -, wenn dabei zwei Sachverständige eingesetzt würden und wenn sie externe Sachverständige und nicht solche, die aus dem Vollzug kommen, wären. ({11}) Auch sagt das Bundesverfassungsgericht, dass sehr hohe Maßstäbe an die Qualität dieser Gutachten anzulegen sind, weil in den Gutachten immer Unschärfen in der Prognosebildung vorhanden sind. ({12}) Ich bin dafür, dass wir uns tatsächlich Gedanken darüber machen, wie wir die hohe Qualität gerade dieser Ausnahmeentscheidungen verfassungsfest im Gesetz verankern. ({13}) Mein dritter Punkt. Ein rechtsstaatliches Verfahren muss der Tatsache Rechnung tragen, dass auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung keine isolierte Strafvollstreckungsentscheidung, sondern eine echte Ergänzung des Sachurteils im Erkenntnisverfahren ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Ich komme zu meiner letzten Bemerkung.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wie schön. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, dass es sich um eine öffentliche Verhandlung handeln wird, dass eine umfassende Beweisaufnahme durchgeführt wird, dass eine volle Verteidigungsmöglichkeit gegeben wird und dass die Rechtsmittel auch in diesem Verfahren aufrechterhalten werden. ({0}) Das sind meiner Meinung nach die drei Punkte,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie hatten aber Ihre letzte Bemerkung angekündigt.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- die in die Debatte eingebracht werden müssen. Dann werden wir schnell ein gutes und verfassungsgemäßes Gesetz zustande bringen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Röttgen, auch wenn ein Redner nach Auffassung der Opposition etwas Richtiges sagt, wird deswegen nicht seine Redezeit verlängert. Das gilt im Übrigen auch bei umgekehrter Rollenverteilung. ({0}) Nun hat die Kollegin Dorothee Mantel, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({1})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Sicherungsverwahrung wird nicht nur in Deutschland diskutiert. Am vergangenen Wochenende gab es in der Schweiz eine Volksabstimmung zu diesem Thema. 56 Prozent der Bevölkerung stimmten für die Möglichkeit einer Anordnung der Sicherungsverwahrung und 24 der 26 Kantone sprachen sich mehrheitlich dafür aus. Auch in Deutschland besteht dringender Handlungsbedarf. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dienstag dieser Woche hat eines gezeigt: Die Bundesregierung hat jahrelang falsche Tatsachen über die Zuständigkeit verbreitet. Jetzt hat die Bundesregierung die Quittung für ihre Untätigkeit bekommen. ({0}) Vergangene Woche hat die Bundesjustizministerin eine Rückfallstatistik vorgelegt. Diese Untersuchung sollte eine Grundlage für künftige Vorhaben im Justizbereich schaffen. Ich hoffe sehr, dass sich die Bundesregierung auch bei der Sicherungsverwahrung zum Handeln aufgefordert sieht. ({1}) Denn die Union hat schon oft genug darauf hingewiesen, dass der Bund in diesem Bereich ein Gesetz auf den Weg bringen muss. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist für die Bundesregierung daher eine klare Niederlage. ({2}) Diese hat es bislang abgelehnt, bundesweit eine einheitliche Regelung zu schaffen. ({3}) - Liebe Frau Kollegin, wenn einem die Sorgen und Probleme der Bevölkerung am Herzen liegen, dann, so glaube ich, ist es nicht nur Juristen gestattet, über dieses Thema zu sprechen. ({4}) Eine meiner Kolleginnen, die dort hinten Platz genommen hat, sagt immer, dass auch wir, die wir nicht Juristen sind, gesunden Menschenverstand haben. Ich möchte noch einmal auf die Rückfallstatistik eingehen. Denn die Erklärung, die das Bundesjustizministerium zur Rückfallstatistik vorgelegt hat, stimmt mich weniger positiv. Die Verfasser der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass die Rückfallquote bei Strafen mit Freiheitsentzug höher ist als bei zur Bewährung ausgesetzten Strafen. ({5}) - Auf Sie beide komme ich später noch zu sprechen. - Das Bundesjustizministerium interpretiert dies so, dass leichtere Strafen zu weniger Rückfällen führen. Tatsächlich aber werden Bewährungsstrafen eher bei schon positiven Sozialprognosen ausgesetzt. Man sollte also sehr vorsichtig sein, wenn man hier mit Ursache und Wirkung argumentiert. Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass im Einzelfall eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe sinnvoller wäre. Die Sicherungsverwahrung ist eine notwendige und sinnvolle Regelung, denn nicht immer können mögliche Gefahren, die von Tätern ausgehen, schon im Zuge einer Verurteilung erkannt werden. Wer dem nicht zustimmen kann, sollte sich fragen, ob er nicht an einem falschen Menschenbild festhält. Leider gibt es in Ihren Reihen noch immer viele Anhänger der Theorie, dass ein Mensch immer Opfer der gesellschaftlichen Umstände sei, demnach auch ein Sexualstraftäter Opfer der gesellschaftlichen Umstände sei. Das ist doch eine verkehrte Welt, meine Damen und Herren, vor allem, wenn die wirklichen Opfer den Eindruck haben müssen, dass sich die Politik mehr um die Täter sorgt als um sie. ({6}) Ich will die Dinge ganz offen beim Namen nennen: Ihre falsche Täter-Opfer-Einstellung führt in vielen Bereichen des Strafrechts und der Innenpolitik zu großen Problemen. Immer steht der falsch verstandene Schutz Einzelner im Vordergrund, aber nicht der Schutz der Bevölkerung, der Schutz der Menschen in unserem Land. ({7}) Wenn ich mit jungen Müttern diskutiere, wie soll ich ihnen das erklären? Es geht nämlich um die richtige Balance zwischen Schutz und Freiheit. Doch leider ist die Linke in einem falschen Menschenbild verhaftet. ({8}) Anders kann ich auch mir selbst die Aussagen einiger Kollegen nicht erklären. Herr Montag, Sie machen immer ganz erhebliche verfassungsrechtliche Vorbehalte gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung geltend. ({9}) Da stimmt doch etwas nicht! Der Schutz der Bevölkerung kann und darf doch nicht weniger hoch wiegen als die Sorge um die Täter! ({10}) Die ersten Reaktionen der Bundesregierung machen nicht den Eindruck, als wolle man aus dieser Niederlage lernen. Bundesinnenminister Schily hat das Urteil zwar begrüßt. Es bleibt aber zu hoffen, dass er nicht schon ein Unheil ahnt, nämlich dass bis September nichts passieren wird. Mit der Aussage, er begrüße, dass Frau Zypries die ersten Schritte schon eingeleitet habe, macht er hoffentlich nicht klar, dass er die Verantwortung dem Justizministerium alleine überlässt. Ich möchte daher die Bundesregierung auffordern, mitzuhelfen, dass bis September dieses Jahres eine gesetzliche Regelung geschaffen wird. Die Zeit drängt: Bis zum 30. September muss der Bund eine Regelung schaffen. Einfach wird das nicht. Frau Zypries, ich setze meine Hoffnungen auch auf Sie! Doch selbst wenn Sie es wollten - mit einem Ströbele an dem einen Bein und einem Montag an dem anderen Bein, da kann man keinen Schritt nach vorne machen. ({11}) Die Verhinderer werden weiterhin im Stillen ihr Werk betreiben. Jeder in der Koalition, der sich nicht dagegen wehrt, handelt verantwortungslos! Stellen Sie sich jetzt Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren von der Koalition! Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass Sie nicht mehr länger untätig bleiben dürfen. Die Bevölkerung hat ein Recht darauf, vor Gefahren geschützt zu werden. Herzlichen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die verzweifelten Bemühungen insbesondere der CDU-Damen sehe, dieses Gerichtsurteil in eine Niederlage für die Regierung umzudeuten, habe ich erhebliche Zweifel, ob es zu der Gemeinsamkeit, die Herr Kauder in Aussicht gestellt hat, kommen kann und kommen wird. ({0}) Ich glaube, auf die Reden, die Sie hier gehalten haben, muss man nicht näher eingehen. Ich will mich auch nicht darauf einlassen, wer nun wem eine schallende Ohrfeige verpasst hat; ich glaube, das wird der Sache nicht gerecht. ({1}) Ich werde mich an dem rechtspolitischen Exkurs nicht beteiligen, sondern will einige Gedanken als Innenpolitiker beitragen. Nachdem ich in meinem ersten Leben mehr als 30 Jahre mit der Verbrechensbekämpfung in der Praxis zu tun hatte, nämlich als Polizeibeamter täglich mit ihr konfrontiert war, widme ich mich nämlich seit nunmehr über zehn Jahren politisch der inneren Sicherheit. Wir haben bei der inneren Sicherheit zwei Grundsäulen zu beachten. Da ist zum einen die Repression: Wir müssen begangene Straftaten aufklären, den Täter ermitteln und der Bestrafung zuführen, und zwar nicht allein, um dem Strafanspruch des Staates gerecht zu werden. Nein, ich habe die Erfahrung gemacht, dass es auch dem Opfer und den Angehörigen der Opfer ein wichtiges Anliegen ist, dass Straftaten aufgeklärt und die Täter bestraft werden. Hier brauchen wir von Ihnen keinen Nachhilfeunterricht; das machen wir seit Jahren, da gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten. ({2}) Die zweite Grundfeste ist die Prävention. Bei der Prävention geht es in erster Linie darum, Straftaten zu verhindern. Dazu gehört, dass Straftäter, die in hohem Maße gefährlich sind, in Sicherungsverwahrung kommen können. Die Strafen reichen oftmals nämlich nicht aus. Eine lebenslange Freiheitsstrafe dauert bei uns kein Leben lang; das ist allen bekannt. Es gibt ein Leben nach dem Lebenslänglich. Es muss uns nun darum gehen, die wenigen Lücken, die bestehen, zu schließen. Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil die Frage geklärt, wer zuständig ist. Jetzt geht es darum, dass wir das Richtige tun. Wir werden das angehen. Ob Sie, Herr Kauder, mitmachen oder nicht, bleibt Ihnen überlassen. Ich finde aber, es wäre gut, wenn wir in dieser wichtigen Frage gemeinsam etwas auf den Weg bringen würden. ({3}) Es steht grundsätzlich völlig außer Frage: Jeder Straftäter hat eine Chance auf Rehabilitation, eine zweite Chance verdient. Ob er diese Chance aber bekommt, muss bei erkennbaren Risiken ganz besonders geprüft werden. Es kann nicht angehen, dass Menschen auf freien Fuß kommen, die erkennbar eine Gefahr für potenzielle Opfer darstellen. Das wollen wir nicht. Deswegen werden wir handeln. Es gibt - das wissen wir alle - keinen Rundumschutz und keine hundertprozentige Sicherheit, bei Ersttätern sowieso nicht. Über das mögliche Verhalten von Ersttätern gibt es keine Erkenntnisse, es hilft also auch keine Sicherungsverwahrung. Wir können bestenfalls die allgemeine Prävention, die Primärprävention stärken, was wir im Übrigen auch tun werden. Wir müssen aber alles tun, um gefährliche Triebtäter mit extrem ungünstiger Prognose, die Wiederholungstäter sind, nicht wieder in die Freiheit entlassen zu müssen. Diese Täter sind in der Regel Karrieretäter, ihre Tötungs- und Sexualdelikte waren nicht ihre erste Straftat. Sie haben eine kriminelle Karriere hinter sich. Darauf müssen wir reagieren. Die Menschen erwarten von uns, dass sie in Sicherheit leben und ein Leben ohne Angst führen können. Sie haben einen Anspruch darauf, vor gefährlichen Tätern geschützt zu werden. Hierzu werden wir alle legalen Mittel ausschöpfen, die wir haben. Dabei spanne ich den Bogen von der Ausschöpfung der Möglichkeiten bei der DNA-Analyse bis zur Sicherungsverwahrung. ({4}) Das kann auch bedeuten, dass Straftäter nach Verbüßung ihrer Taten noch lange Zeit in Sicherungsverwahrung bleiben müssen. Dabei spielt natürlich auch ihre Entwicklung in der Haftanstalt eine Rolle. Wir werden auf Bundesebene also kurzfristig das jetzt entstandene Vakuum schließen. Das werden wir entschlossen tun. Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen, bei dem wir keinen Nachhilfebedarf haben. Es kann gelegentlich Zielkonflikte bei der Beurteilung von Täter und Opfer geben. Jeder von uns neigt dazu, zunächst einmal die Karriere eines Täters zu beleuchten. Dabei kommt man vielleicht zu dem Schluss, dass derjenige eine schwere Kindheit und es in seinem Leben nicht leicht gehabt hat und dass man ihm helfen müsse. Das sollten wir auch tun. Aber wo es einen Zielkonflikt zwischen der Beurteilung der Vergangenheit des Täters und der Beurteilung der Zukunft der potenziellen Opfer gibt, entscheiden wir in der Koalition uns ganz eindeutig zugunsten der Zukunft der potenziellen Opfer. Ich fordere Sie auf: Machen Sie mit! Wir haben keinen Nachholbedarf an Ihren Ratschlägen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Darauf kann Kollege Kemper nicht mehr eingehen, da seine Redezeit abgelaufen ist. Das muss im Ausschuss nachgeholt werden. Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht bestätigt mit seinem Urteil die Rechtsauffassung von CDU und CSU. Wir haben schon mehrfach auf die gefährliche Gesetzeslücke hingewiesen und uns wiederholt dafür eingesetzt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung bundesgesetzlich geregelt wird. Die Hoffnung der Bundesregierung, die Zuständigkeit in dieser für sie heiklen Frage auf die Länder abzuwälzen und damit ihre koalitionsinterne Uneinigkeit zu verbergen, wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zunichte gemacht. Das Meinungsspektrum von Rot-Grün zum Umgang mit gefährlichen Gewaltverbrechern weist nämlich ein beachtliches Ausmaß auf. Dies wurde auch heute wieder deutlich. Da haben wir zum einen die öffentlichkeitswirksam in der „Bild“-Zeitung vorgebrachte Forderung des zürnenden Kanzlers, Sexualverbrecher gehörten für immer weggesperrt. Zum anderen haben wir den Kommentar des grünen Abgeordneten Christian Ströbele, die nachträgliche Sicherungsverwahrung sei Freiheitsentzug für Unschuldige. ({0}) Dies ist im „Neuen Deutschland“ vom 5. Februar 2004 nachzulesen. Herr Ströbele hat gerade „richtig“ dazu gesagt. ({1}) Keine der beiden Positionen wird dem Problem, um das es heute geht, auch nur im Entferntesten gerecht. ({2}) Ein pauschales Wegsperren für immer kommt nicht infrage, weil dem das Grundrecht auf Freiheit entgegensteht. ({3}) Die Abwägung der kollidierenden Prinzipien - Grundrecht auf Freiheit einerseits und Schutz der Bevölkerung andererseits - kann nämlich niemals pauschal, sondern immer nur im Einzelfall erfolgen. Kristina Köhler ({4}) ({5}) Nicht jeder Straftäter wandert automatisch in die Sicherungsverwahrung, sondern nur diejenigen, bei denen Umstände und Motive der Tat sowie die individuelle Entwicklung während der Haft einen solchen Schritt als Ultima Ratio notwendig machen. Herr Ströbele glaubt nun andererseits aber, es sei seine Pflicht, „unschuldige“ entlassene Schwerverbrecher vor Freiheitsentzug zu schützen. Ihm muss ebenso entschieden widersprochen werden. ({6}) Wer die Sicherungsverwahrung als letztes Mittel ausschließt, riskiert wissentlich neue Opfer. Zur Erinnerung: Wir sprechen hier über Sexual- und Gewaltverbrecher, die sich in der Haft jeder Therapie und jedem Versuch einer Resozialisierung gegenüber resistent gezeigt haben. Darunter sind Mörder und Vergewaltiger, die bereits im Gefängnis ankündigen, wie sie ihr nächstes Opfer zu quälen gedenken und welche Richter und Vollzugsbeamten auf ihrer Todesliste stehen. Wer hier von Freiheitsentzug für Unschuldige spricht, der macht Täter zu Opfern und blendet den Schutzanspruch der Bevölkerung völlig aus. ({7}) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil über die nachträgliche Sicherungsverwahrung dem Umgang mit Gewaltverbrechern enge verfahrensrechtliche Grenzen gesetzt. Danach ist ein leichtfertiger Umgang mit der Sicherungsverwahrung ausgeschlossen. Auch verurteilte Gewaltverbrecher in Sicherungsverwahrung müssen die reelle Chance haben, durch eine persönliche Veränderung wieder in Freiheit zu gelangen. Dass es eine kleine Gruppe gibt, die sich in Freiheit vermutlich sofort wieder neue Opfer suchen wird, ist eine bittere Erkenntnis. Daraus Konsequenzen zu ziehen und vernünftig zwischen dem Schutzanspruch der Bevölkerung und den Freiheitsrechten der Täter abzuwägen ist sehr viel schwieriger, als es die Äußerungen von Gerhard Schröder und Christian Ströbele vermuten lassen. ({8}) In Anbetracht dieser stark divergierenden Rechtsverständnisse der Koalitionsfraktionen, die uns heute wieder deutlich gemacht wurden, habe ich erhebliche Zweifel, dass es die Regierung schafft, dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes nachzukommen und bis zum 30. September 2004 eine bundesgesetzliche Regelung auf den Weg zu bringen. Rot-Grün hat den berechtigten Schutzanspruch der Bevölkerung lange genug ignoriert. Heute haben Frau Ministerin Zypries und Herr Benneter angekündigt, ein entsprechendes Gesetz vorzulegen. Das ist zwar eine späte, aber auch eine gute Einsicht. Mit Ihrem grünen Koalitionspartner werden Sie hier aber nicht weit kommen. Deswegen wäre die SPD gut beraten, in diesem Punkt mit der Fraktion der CDU/CSU zusammenzuarbeiten. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Simm, SPDFraktion. ({0})

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Mantel, ich bin nicht der Meinung, dass zu diesem Thema nur Juristen oder Juristinnen sprechen sollten. ({0}) - Nein, das habe ich nicht gesagt. Da haben Sie etwas missverstanden. - Ich erwarte aber schon, dass sich Politikerinnen und Politiker - ich verallgemeinere und beziehe das nicht nur auf Sie - der verfassungsrechtlichen Implikationen der hier zu treffenden Entscheidungen einigermaßen bewusst sind, sich dieser also vergewissern, und dass sie nicht leichtfertig darüber hinwegreden. ({1}) Ich hatte den Eindruck, dass einige Kollegen der Union - nicht alle - so tun, als könne man dieses Gesetz mal schnell nebenbei erarbeiten, als habe dieses Thema bestenfalls den Stellenwert der Herabsetzung der innerstädtischen Geschwindigkeit von 50 auf 40 Stundenkilometer, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass dann die Aufregung größer wäre. Einige Redner sind sich in ihren Beiträgen offenbar der Tatsache, dass wir uns hier in einem schwierigen verfassungsrechtlichen Abwägungsprozess zwischen Freiheitsrechten, verfassungsrechtlichen Garantien für das Strafverfahren und das Strafrecht sowie dem berechtigten Anspruch der Bevölkerung, vor äußerst gefährlichen Straftätern geschützt zu werden, befinden, den wir leisten müssen und dem wir gerecht werden müssen, nicht hinreichend bewusst bzw. haben sich um der plakativen Wirkung willen leichtfertig darüber hinweggesetzt. ({2}) Ich bin darüber etwas unglücklich, weil wir in der Vergangenheit - ich habe alte Diskussionen mit vollzogen, da ich die ganze Zeit Mitglied des Rechtsausschusses war - im Rechtsausschuss in den Anhörungen über weite Strecken sehr viel seriöser, gewissenhafter und verantwortungsvoller darüber diskutiert haben, ob es Möglichkeiten gibt, die Sicherungsverwahrung auszudehnen und den Schutz vor besonders gefährlichen Gewaltverbrechern zu verbessern. ({3}) Ich bin auch nicht der Meinung, dass diese Diskussionen ohne Ergebnis geblieben sind. Ich darf Sie daran erinnern: Wir haben beiläufig eine Bestandsaufnahme gemacht und festgestellt, dass es im Vollzug einen eklatanten Mangel an Therapieangeboten und besonders an qualifizierten Therapieangeboten gibt. Wir haben miteinander darüber diskutiert, wie schwierig es ist, auf diesem Gebiet richtige Prognosen zu stellen. Wir haben darüber gesprochen - das hat auch Konsequenzen gehabt -, dass die Ausbildungsmöglichkeiten und -angebote im Bereich der universitären Ausbildung und der Forensik unzureichend sind. Wir haben über die Frage der Qualifikation von Gutachtern geredet. Da ist einiges verändert und viel an Problembewusstsein erzeugt worden. Ich bin deswegen unglücklich darüber, dass wir durch die Art und Weise, wie diese Diskussion hier geführt wird, das, was wir auf diesem Felde an Arbeit geleistet haben, ein Stück weit selber entwerten. ({4}) Ich appelliere an uns alle, dass wir uns nicht gegenseitig den ernsthaften Willen absprechen, den Schutz vor gefährlichen Straftätern zu verbessern. Dieser ernsthafte Wille verbindet uns. Daran sollten wir festhalten und gemeinsam nach Lösungen suchen. ({5}) Das Finden von Lösungen ist nicht so einfach, wie manchmal in den Reden der Eindruck erweckt wird. Gerade das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat bei mir eine Menge Fragen aufgeworfen. ({6}) Ich frage mich, wie wir dem gerecht werden sollen. ({7}) Ich darf daran erinnern: In dem Urteil steht, dass die Entscheidung darüber, ob es sich um einen entsprechend gefährlichen Straftäter handelt, von dem weitere Taten zu erwarten sind, auf ein sorgfältig substanziiertes Prognosegutachten gestützt werden muss. Es gibt den Hinweis, dass die Verweigerung der Therapie kein Anknüpfungspunkt sein darf; das ist schon erwähnt worden. Es wird postuliert, dass das Gericht, das letztlich darüber zu entscheiden hat, mit hinreichender Gewissheit zu dem Ergebnis kommen muss, dass von dem Betroffenen weitere, entsprechend schwerwiegende Taten zu erwarten sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss, wie fassen wir eine Prognoseentscheidung, geknüpft an hinreichende Gewissheit, in ein Gesetz? Ich halte das schon für die Quadratur des Kreises; das ist etwas, was sich begrifflich ausschließt. ({8}) Ich darf darauf hinweisen: Ich habe das Minderheitenvotum gelesen. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies alle getan haben. Die Verfasser des Minderheitenvotums weisen darauf hin, dass die Mehrheit des Senates keinen Anlass hatte, nach Maßstab des Art. 104 Grundgesetz zu prüfen, nämlich des Rückwirkungsverbots im Strafrecht. Diese Garantie in unserer Verfassung ist ebenfalls zu beachten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, bitte denken Sie an Ihre Redezeit.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fertig, Herr Präsident. Ich meine, dass wir gut daran tun, ernsthaft und seriös über dieses Thema zu diskutieren und uns gemeinsam um angemessene Regelungen zu bemühen, die gegebenenfalls vor einer neuen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Bestand haben. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Simm, wir haben 1997/98 neben der Verschärfung des Sexualstrafrechts auch die Frage beraten, inwieweit es möglich und verfassungskonform sein kann, die Sicherungsverwahrung zu erleichtern und eine Entscheidung darüber zu treffen, ob gegen den Täter, der gefährlich ist und von dem man, durch Prognosegutachten bestätigt, weiß, dass er nach Verbüßung seiner Tat weiterhin für die Menschheit gefährlich sein wird, unter bestimmten Voraussetzungen eine Sicherungsverwahrung verhängt werden kann. Wir waren uns damals einig, dass dies möglich sein soll. All diese Fragen, die jetzt wieder diskutiert werden, haben wir damals mit großer Sorgfalt - da pflichte ich Ihnen bei - diskutiert und wir haben uns wirklich ernsthaft Gedanken darüber gemacht und machen müssen, ob es möglich ist, einen Täter, Herr Ströbele, der seine Strafe verbüßt hat und eigentlich ein freier Mann ist, dennoch im Interesse der Sicherheit der Bevölkerung festzuhalten. Das war ein wichtiges Thema, Frau Ministerin. Wir haben uns auch die Frage gestellt, ob das für die nachträgliche Sicherungsverwahrung Geltung haben kann. Das war ein Thema innerhalb der Anhörung, wobei die Fragen von beiden Seiten, von Frau DäublerGmelin und mir, gestellt wurden. Die Sachverständigen haben uns damals geantwortet, dass der Strafrichter die Entscheidung darüber, ob gegen jemanden die Sicherungsverwahrung verhängt wird, treffen muss, der über die Strafe selbst zu entscheiden hatte. Sie haben damals durch die Bank abgelehnt, die nachträgliche Sicherungsverwahrung schon 1998 mit zu regeln. Aber der Gedanke, dass hier eine Sicherheitslücke entstanden ist, hat uns nie verlassen. Wir haben überlegt und es gab entsprechende Überlegungen im Bundesrat. Die Bayerische Staatsregierung hat einen Gesetzentwurf im Bundesrat eingebracht, dort aber keine Mehrheit gefunden. Dann kam der berühmte Ausspruch des Kanzlers, der heute schon zweimal zitiert worden ist. Der Appell ist bei Ihnen leider verhallt. Wir haben diesen Appell aufgenommen und im Oktober 2001 einen Gesetzentwurf für die nachträgliche Sicherungsverwahrung vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf wurde von Ihnen - das muss man allerdings sagen -, auch mit den entsprechenden Anmerkungen von Ihnen, Herr Stünker, abgelehnt. ({0}) Wir sind an dieser Mehrheit gescheitert. Damals war das schon auf dem Tisch. Dann wurde in dieser Legislaturperiode der ungefähr gleiche Gesetzentwurf noch einmal von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegt und Sie haben ihn wiederum abgelehnt. Gute Argumente aber setzen sich durch, auch wenn das nur mithilfe des Bundesverfassungsgerichts geschieht. Aber das ist ja schon etwas. Ich bin ganz sicher, dass Sie jetzt einen Gesetzentwurf vorlegen werden, der verfassungskonform sein wird, wobei nicht nur der Aspekt der Prävention eine Rolle spielen darf - das hat uns das Verfassungsgericht ganz ausdrücklich gesagt -, sondern an die Anlasstat angeknüpft werden muss, nämlich an die Straftat, derentwegen der Täter im Gefängnis sitzt. Es muss die Möglichkeit bestehen, für den Täter, der seine Strafe abbüßt und bei dem sich im Strafvollzug herausstellt, dass er ein gefährlicher Täter ist, was der entscheidende Richter noch nicht wissen konnte - sonst hätte er die Sicherungsverwahrung ausgesprochen -, nachträglich die Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erneut gefährliche Straftaten begehen wird, sobald er die Strafvollzugsanstalt verlässt. Das ist, glaube ich, uns allen klar gemacht worden. Manche haben es früher gemerkt, andere etwas später. Jetzt aber kommt es darauf an, dass wir schnell beraten und eine gute Entscheidung fällen. Sie, Frau Ministerin, haben dem Bundesrat angeboten, im Benehmen mit ihm eine schnelle Lösung zu finden. Ich meine, es wäre auch gut, wenn Sie die CDU/ CSU in die Beratungen mit einbeziehen würden. Denn bis zum 30. September ist es nicht allzu lange hin und bis dahin muss die Entscheidung gefällt worden sein. Ich danke Ihnen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieser Aktuellen Stunde erteile ich dem Kollegen Joachim Stünker, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Implementierung der Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung im materiellen Strafrecht bedarf einer großen rechtspolitischen, verfassungsrechtlichen und rechtsstaatlichen Sensibilität. Dies wird beim Studium der zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Monat Februar deutlich, die sich mit dieser Frage grundsätzlich auseinander gesetzt haben. Ich meine, das wird insbesondere in dem Minderheitenvotum der drei Verfassungsrichter Groß, Osterloh und Gerhard zu der Frage der befristeten Fortgeltung der entsprechenden Ländergesetze deutlich. Frau Simm hat bereits darauf hingewiesen. Ich habe selten ein Minderheitenvotum von Richtern eines obersten deutschen Gerichts, nämlich des Bundesverfassungsgerichts, gelesen, in dem die Kolleginnen und Kollegen in einem Senat mit einer derartigen verbalen Radikalität argumentativ umgegangen sind. Daraus wird deutlich, welche grundsätzlichen rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Fragen sich hinter dem Thema verbergen und gelöst werden müssen. Herr Kollege Röttgen, es tut mir Leid: Diesen Ansprüchen sind Sie in dieser Aktuellen Stunde ebenso wie die Redebeiträge der anderen Mitglieder Ihrer Fraktion nicht gerecht geworden. ({0}) - Auf Sie komme ich gleich zu sprechen, Herr van Essen. - Ich danke dem Kollegen Geis für den wirklich sachlichen Beitrag, den er eben zu diesem Thema geleistet hat. ({1}) Nun zu Ihnen, Herr van Essen: Sie haben vorhin die Meinung geäußert, das Bundesverfassungsgericht habe mir mit seiner Entscheidung eine schallende Ohrfeige versetzt. Herr Kollege van Essen, ich hätte Ihnen eigentlich mehr Redlichkeit und Niveau zugetraut. ({2}) Ich habe in der von Ihnen gemeinten Diskussion gegen bestimmte Gesetze mit bestimmten Inhalten argumentiert. Ich glaube, dass ich bei den Inhalten, um die es ging - die Beschlussverfahren vor der Strafvollstreckungskammer und Ähnliches -, richtig gelegen habe. Das wird auch aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts deutlich, wenn man sie zu Ende liest. Denn das beschleunigte Schnellverfahren wird nicht möglich sein. Das habe ich gemeint. Wichtig ist, dass mit der abschließenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als höchstem deutschen Gerichts - der Kollege Geis hat darauf hingewiesen - ein jahrelanger Streit der Fachjuristen aus der Praxis und der Wissenschaft zu diesem Thema beendet worden ist, indem klargestellt worden ist, dass das absolute Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz auf die Sicherungsverwahrung nicht anwendbar ist. Ich hätte mir noch gewünscht, dass in dem Urteil auch zu Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention Stellung genommen wird. Das ist aber nicht der Fall. Vielleicht erfolgt auch zu dieser Frage irgendwann eine Klarstellung. Ich gehöre zu denen, die in dieser Frage eine andere Meinung vertreten haben. Auch das muss man ertragen können; das ist durchaus in Ordnung. Aber als eine schallende Ohrfeige empfinde ich das nicht. Ich möchte noch auf eines hinweisen - das wird sicherlich in den Beratungen, die wir zu führen haben, sehr deutlich werden -: Das Bundesverfassungsgericht hat dafür, wie eine nachträgliche Sicherungsverwahrung im Detail erfolgen soll, sehr hohe Hürden aufgestellt. Ich glaube, ich bin der Einzige in diesem Hohen Hause, der beruflich - als Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer über mehrere Jahre hinweg - damit befasst war, über Sicherungsverwahrung zu entscheiden. Die Schwierigkeiten, eine sichere Prognose zu treffen, die im Ergebnis im Extremfall bedeutet, dass der Mensch auf der Anklagebank, der auch seine verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte hat, möglicherweise sein Leben lang nicht mehr aus der Sicherungsverwahrung herauskommen wird, sind in der Praxis sehr groß. Das haben uns auch alle Sachverständigenanhörungen im Rechtsausschuss gezeigt. Daher meine ich, dass wir eine große Verantwortung haben, den Streit der Vergangenheit zu begraben und jetzt ein Gesetz zu erarbeiten, das den hohen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügt, und zwar zum einen um des Rechtsstaats willen und zum anderen im Interesse der Gerichte in Deutschland - vom Bayerischen Wald bis nach Flensburg -, die mit diesem Gesetz in der Praxis arbeiten müssen. Angesichts dessen ist sorgfältige Arbeit dringend notwendig. Herr Kollege Röttgen, wir reichen Ihnen nach wie vor die Hand zu einer gemeinsamen vernünftigen Arbeit. Aber die heutigen Reden - entschuldigen Sie, dass ich Sie direkt anspreche - waren teilweise unsäglich und taten weh. Danke schön. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf: 5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Erika Ober, Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Globale Bekämpfung von HIV/Aids intensivieren - Drucksache 15/2408 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Ulrich Kelber, Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Center for International Cooperation ({3}) stärken und weiter ausbauen - Drucksache 15/2396 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Schmidt ({4}), Karin Kortmann, Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wüstenbildung wirksam bekämpfen - Armut überwinden, Ernährung sichern, Konflikte verhindern - Drucksache 15/2395 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({6}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert Pflüger, Hartwig Fischer ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umdenken in der Kongopolitik - Drucksache 15/2335 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conny Mayer ({9}), Dr. Christian Ruck, Annette Widmann-Mauz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Entwicklungspolitik muss Bekämpfung von HIV/Aids verstärken - Drucksache 15/2465 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({10}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Vizepräsident Dr. Norbert Lammert ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Markus Löning, Dr. Guido Westerwelle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bekämpfung von HIV/Aids zu einem Hauptanliegen in der Entwicklungspolitik machen - Drucksache 15/2469 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({11}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner ({12}), Brigitte Wimmer ({13}), Detlef Dzembritzki, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marianne Tritz, Claudia Roth ({14}), Volker Beck ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den Stabilisierungsprozess in der Demokratischen Republik Kongo nachhaltig unterstützen - Drucksache 15/2479 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({16}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Da an dieser Beratung offenkundig nicht alle Kolleginnen und Kollegen teilnehmen können oder wollen, die gerade die Aktuelle Stunde bestritten haben, wäre es schön, wenn wir zu einem zügigen Austausch der jeweiligen Debattenbesetzungen kommen könnten, damit die jetzt beginnende Diskussion in einer angemessenen Form stattfinden kann. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Dr. Erika Ober, SPD-Fraktion.

Dr. Erika Ober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Weltweit haben sich seit dem Ausbruch von HIV/Aids 65 Millionen Menschen infiziert. Circa 23 Millionen Menschen sind bereits verstorben. Für Ende 2002 wird die Zahl der infizierten Menschen weltweit auf 42 Millionen geschätzt, davon über 3 Millionen Kinder unter 15 Jahren. 95 Prozent aller Menschen mit HIV/Aids leben in Entwicklungsländern. Mittlerweile ist die Hälfte der Betroffenen weiblich. Das hat weit reichende gesellschaftliche Folgen. Die Folgen von Aids sind erschreckend. Insbesondere in Afrika sieht man, mit welcher fürchterlichen Macht die Pandemie in die Gesellschaften eingreift. Über Staatsgrenzen hinweg und in allen gesellschaftlichen Gruppen, egal welcher Hautfarbe, zeigen sich die Folgen. Die Lebenserwartung sinkt deutlich. In vielen Regionen sinkt sie bei der Geburt zum Beispiel auf bis zu 20 Jahre. In manchen Ländern liegt die Lebenserwartung heute bei 40 Jahren. Familienstrukturen zerfallen, da die Bevölkerung im produktiven Alter vorrangig betroffen ist. Daraus erwächst eine erschreckende Zunahme von Aidswaisen. Die Wirtschaftsleistung sinkt. Es kommt zu innenpolitischen Instabilitäten, sicherheitspolitischen Problemen und einer zunehmenden Abhängigkeit von Hilfe von außen. Besonders Kinder sind durch die hohe Infektionsrate bei Frauen im reproduktiven Alter betroffen. 95 Prozent der Aidswaisen weltweit, rund 11 Millionen Kinder, leben in Afrika. In Uganda hat es früh und mit großem Einsatz Bemühungen gegen die Ausbreitung der Infektion gegeben. Trotzdem gibt es mittlerweile allein in Uganda 2 Millionen Aidswaisen. Diese Kinder haben einen oder beide Elternteile durch Aids verloren. Sie werden in Uganda teilweise in Schulen über Nacht beherbergt. Während in den Häusern ihrer Familien fremde Menschen wohnen, schlafen sie in kommunalen Gebäuden. Dort finden sie ein wenig Schutz. Dies ist besonders in den Gegenden wichtig, in denen viele Kinder als Kindersoldaten verschleppt werden, zum Beispiel im Norden Ugandas. Aidswaisen haben schlechte Aussichten auf Schulbildung. Viele sind auf sich allein gestellt oder müssen bereits in jungen Jahren auf ihre jüngeren Geschwister Acht geben und ihnen die Eltern ersetzen. Große Teile der Elterngeneration fallen als Bezugspersonen, Erzieher und Ernährer aus. Die folgende Generation ist durch den Ausfall an Bildung und durch die fehlende menschliche Zuwendung geschwächt. Dies ist meines Erachtens ein denkbar schlechter Ausgangspunkt für eine friedliche Entwicklung und macht auch auf anderen Gebieten Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit zunichte. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle besonders auf die Situation von Frauen und Mädchen hinweisen; denn zum einen sind Frauen und Mädchen aus physiologischen und sozialen Gründen stärker gefährdet und zum anderen stehen sie im Zentrum von Entwicklungsprozessen. Sie ziehen die Kinder groß, pflegen Kranke und Alte und leisten einen Großteil der Erwerbs- und Hausarbeit. Gerade die persönlichen Rechte von Mädchen sind weniger stark ausgeprägt und ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung ist schwächer als die von Jungen und Männern. Die Schlechterstellung von Mädchen und Frauen führt konkret auch zu einem Mangel an sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung. Auch haben Frauen aus physiologischen Gründen eine vielfach höhere Infektionswahrscheinlichkeit als Männer. Südlich der Sahara sind mittlerweile 58 Prozent aller Infizierten weiblich. Botswana hat die Aidsepidemie zur nationalen Krise erklärt. Dort wurde festgestellt, dass in ländlichen Gebieten in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen auf einen infizierten Mann fünf neu infizierte Frauen kommen. Medikamente zur Behandlung von HIV-Infektionen stehen zur Verfügung und werden in den Industrieländern auch umfangreich eingesetzt. Sie sind aber in den Entwicklungsländern, vor allem unter Bedingungen einer fehlenden oder zumindest unzureichenden basismedizinischen Versorgung, de facto oft nicht verfügbar und zu teuer. Dabei hat sich zum Beispiel erwiesen, dass bei perinatalem Einsatz von Medikamenten die Übertragung des Virus von der Mutter auf das Kind mit großem Erfolg vermieden werden kann. Laut Weltgesundheitsorganisation haben trotz der spürbaren Kostensenkungen nur 1 Prozent der Bevölkerung, die die lebensverlängernde antiretrovirale Therapie benötigen, Zugang zu einer Behandlung. Nach dem Ausbruch von Aids liegt die Lebenserwartung unter solchen Umständen und ohne Zugang zu medikamentöser Behandlung bei durchschnittlich circa sieben Monaten. Im Vorfeld der WTO-Konferenz in Cancun gab es einen kleinen Erfolg. Das TRIPS-Abkommen erlaubt den Entwicklungsländern neuerdings, nicht nur selbst Aidsmedikamente herzustellen, sondern auch Generika zu importieren, wenn sie keine eigenen Produktionsstellen haben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass dies nicht ausreichen wird, um eine flächendeckende therapeutische Versorgung zu erreichen. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass es dringend notwendig ist, die Suche nach einem Impfstoff zu intensivieren. Die Entwicklung der Pandemie in Afrika ist erschreckend. Aids verändert ganze Gesellschaften - trotz einiger erfreulicher Beispiele mit regional stagnierenden oder sogar sinkenden Infektionsraten. Hinschauen ist hier nur der erste Schritt. Es genügt nicht, das Problem nur zur Kenntnis zu nehmen. Aids spielt eine entscheidende Rolle für die friedliche Entwicklung der Welt und ist damit auch sicherheitspolitisch relevant. Wir müssen diesem Anspruch - es handelt sich um eine Querschnittsaufgabe - angesichts unserer eigenen menschlichen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Erwartungen und Ziele noch stärker gerecht werden. HIV/Aids ist kein afrikanisches Problem allein. Auch in anderen Teilen der Welt steigen die Infektionszahlen. In Osteuropa und Russland sind die Steigerungen dramatisch. Wir haben hierbei auch an die Probleme zu denken, welche durch die Resistenzentwicklung auf uns in Europa zukommen. Virusresistenzen entwickeln sich unter inkonsistenter Einnahme von Aidsmedikamenten schneller als bei allen anderen bekannten Therapien, zum Beispiel bei Antibiotikatherapien. Die regelmäßige Einnahme von Aidsmedikamenten ist aber in vielen Teilen der Welt nicht zu gewährleisten. Kofi Annan bezeichnet Aids als eine Krise, die „eine Gefahr für die gesamte Zivilisation“ darstellt. Bis 2010 erwartet man, dass weltweit zu den bisher circa 42 Millionen infizierten Menschen 45 Millionen Neuinfizierte hinzukommen. Der Höhepunkt der Pandemie wird für das Jahr 2050 erwartet. Die Bundesregierung macht sich mit ihrem Engagement für UNAIDS gegen die Ausbreitung von Aids stark. Unser Beitrag zum Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria liegt bei 300 Millionen Euro bis zum Jahr 2007. Ich möchte auch den Einsatz der Bundesregierung für die Bereitstellung preisgünstiger bzw. kostenloser Medikamente erwähnen. Deutschland stellt jährlich circa 300 Millionen Euro für die Bekämpfung von HIV/Aids bereit. Die Bekämpfung von HIV/Aids - sie wurde als prioritäres Handlungsfeld der Entwicklungszusammenarbeit definiert - hat bei der Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Der Bundeskanzler hat das Interesse am afrikanischen Kontinent kürzlich mit seinem Besuch in Äthiopien, Kenia, Ghana und Südafrika unterstrichen. Er hat deutlich gemacht, dass wir Afrika nicht vergessen dürfen. ({1}) Dieser Antrag soll dem hohen Stellenwert gerecht werden. Weil diese Bemühungen und die betroffenen Menschen in den Entwicklungsländern und überall auf der Welt unterstützt werden müssen, fordern wir in unserem Antrag dazu auf, dass sich Deutschland verstärkt auf internationaler Ebene - in den Vereinten Nationen, bei der Weltbank und in der EU - für die Umsetzung der Millenniumsziele einsetzt. Deutschland soll sich in den internationalen Gremien und bei internationalen Diskussionen noch intensiver dafür einsetzen, von Nichtregierungsorganisationen, von privaten Spendern und von der Privatwirtschaft zusätzliche Beiträge für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria einzuwerben. Daneben soll die HIV/Aids-Bekämpfung als multisektoraler Ansatz in die nationalen Armutsbekämpfungsstrategien der Entwicklungsländer integriert werden. Aids ist zu einer der größten Bedrohungen unserer Zeit für eine friedliche Entwicklung geworden. In der Bekämpfung von Aids sehe ich einen Schlüssel für nachhaltige Entwicklung. Prävention und Behandlung sind zwei zentrale Ansätze. Sie sind mit den Aufgaben, Frauen und Mädchen zu stärken, sich gegen Stigmatisierung und Diskriminierung einzusetzen und weiter für den vermehrten Einsatz von und für den besseren Zugang zu Medikamenten zu ringen, verzahnt. Es liegen nun drei Anträge aus den verschiedenen Fraktionen vor, die alle vergleichbare Forderungen beinhalten. In diesen Anträgen sind deutlich mehr Gemeinsamkeiten zu erkennen, als es in der öffentlichen Diskussion bisher der Fall zu sein schien. Deshalb wäre es doch sicher möglich, sich im Ausschuss auf eine gemeinsame Beschlussempfehlung zu einigen. Lassen Sie uns dies gemeinsam angehen, im Sinne der Betroffenen und diesem Thema angemessen! Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Kraus, CDU/ CSU-Fraktion.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von meiner Vorrednerin wurde bereits darauf hingewiesen, dass die vorliegenden Anträge vieles gemeinsam haben. Das ist überhaupt ein gewisses Kennzeichen der Arbeit unseres Ausschusses: ({0}) Wir verfolgen bei relativ vielen Punkten gleich gerichtete Ziele. ({1}) Häufig muss man sich über den Weg streiten, insbesondere über die Intensität, mit der die Regierung diese Ziele verfolgt, und über die finanziellen Möglichkeiten. Wir wissen heute, dass Entwicklungspolitik ein Instrument zur Bewahrung von Stabilität, zur langfristigen Krisenprävention, zur Eindämmung von Extremismus, Kriminalität, Terrorismus und Umweltzerstörung sein kann. Sie trägt dazu bei, die richtigen Rahmenbedingungen für eine gesunde politische und wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen sowie tragfähige, demokratische, rechtsstaatliche und effiziente Strukturen in den Entwicklungsländern aufzubauen. Es gab in den letzten Jahren auch große Erfolge. Zwischen 1990 und 2000 soll der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, immerhin von 29 Prozent auf 23 Prozent gesunken sein. Angeblich ist es auch so, dass erstmals seit vielen Jahren die Zahl derjenigen, die mit weniger als 1 Dollar am Tag auskommen müssen, gesunken ist. Tatsache ist aber auch, dass die Zahl der schlechten Nachrichten nicht abreißt. Ich nenne beispielhaft die erhebliche Zahl von Kriegen und Konflikten, die weltweit geführt werden, und die wachsende Ungleichheit sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen den Staaten; und dies, obwohl die Armut abnimmt. Hierhin gehört auch, dass nach Berechnungen der Weltbank die weltweiten Wachstumsraten nicht ausreichen, um das Millenniumsziel der Armutshalbierung bis zum Jahre 2015 zu erreichen. Betroffen von all diesen Dingen ist vor allem Afrika. Hier spielt insbesondere das Problem Aids eine Rolle. Meine Vorrednerin hat die Zahlen ja schon genannt; ich kann mir das also ersparen. Die Lebenserwartung ist, wie sie sagte, um drei Jahre bis zu zehn Jahren rückläufig. Es gibt Berichte aus Ländern wie beispielsweise Botswana, wo die Lebenserwartung sogar um 20 Jahre zurückgegangen sein soll. Dieser Wegfall der Brücke zwischen den Generationen stellt in der Tat eine menschliche Katastrophe dar; hierdurch werden die Erfolge der Entwicklungspolitik auf dramatische Weise infrage gestellt. Die vorliegenden Anträge geben die Möglichkeit, auf die wohl größte Katastrophe, die wir derzeit erleben, in der Öffentlichkeit hinzuweisen. In Wahrheit wird dieses Thema nämlich viel zu wenig beachtet. Man überlege sich einmal, dass Aids in wenigen Jahren so viele Opfer gefordert haben wird wie die Weltkriege des letzten Jahrhunderts. Der Vergleich mit der Pest ist bezogen auf das südliche Afrika ja keineswegs abwegig. Pest und Aids unterscheiden sich vielleicht dadurch, dass die Pest des Mittelalters die Schwächeren hinweggerafft hat, während Aids vor allem die Aktiven in einer Gesellschaft ergreift und es bei Aids vielleicht ein bisschen länger als bei der Pest dauert, bis die Leute wegsterben. 9 000 Tote pro Tag ist eine erschreckende Zahl. Man wundert sich, dass diese Zahl und die ihr zugrunde liegenden Verhältnisse in der Öffentlichkeit, in den Medien nicht stärker erwähnt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mich heute vor allem einem Thema im Bereich Aids zuwenden. Ich hatte ein Gespräch mit Vertretern der Organisation Sant’Egidio; dieses Gespräch hat mich sehr beeindruckt, weil sie geradezu ein Musterbeispiel für eine NGO darstellt. Wir sollten bei der Gelegenheit den NGOs wirklich einmal herzlich dafür danken, dass sie es schaffen, mit einem Budget auszukommen, das sich zu 90 und mehr Prozent aus Spenden und Beiträgen speist, dass so gut wie keine Gehälter bezahlt werden, kaum Verwaltungskosten anfallen und die Hilfe zu 100 Prozent dorthin kommt, wo sie hingehört. Es ist beeindruckend, mit welch großem Engagement sie ihre Arbeit machen. ({2}) Es war für mich ganz besonders beeindruckend, mit welcher Freude die Leute erzählt haben, was sie empfinden - es ist fast wie ein Wunder -, wenn Menschen, die schwerst krank sind, bei regelmäßiger Einnahme von Medikamenten nach einigen Wochen körperlich und geistig wieder aufblühen und wieder in die Lage versetzt werden, selber zu laufen und zu arbeiten und sich um ihre Familien zu kümmern. Das kostet natürlich eine ganze Menge Geld. Wenn auch die Kosten für die Medikamente dramatisch zurückgegangen sind, was gut ist, bleiben doch viele Kosten übrig, insbesondere für die sinnvolle Betreuung, Diagnosemöglichkeiten und dergleichen. Wir müssen in diesem Bereich einfach mehr tun. Ich denke, dass es richtig ist, dabei die Netzwerke und Organisationsstrukturen von solchen Einrichtungen, wie ich sie erwähnt habe, auch wirklich zu nutzen. Aids ist also etwas, was sicher unsere Aufmerksamkeit erfordert. Auch wenn wir in vielen Punkten übereinstimmen, hat mir eines in dem Antrag weniger gefallen: Das ist die Forderung bzw. der Appell an die US-Regierung, ihre Versprechungen einzuhalten. Es wäre gut, wenn auch wir unsere eigenen Versprechungen einhalten würden. Dann könnten wir das umso glaubwürdiger fordern. ({3}) Es ist sowieso unser Problem, dass von dieser Regierung vieles versprochen wurde, was die Finanzen anbelangt, aber nicht eingehalten wurde. ({4}) - Sie wissen, dass ich Recht habe. ({5}) Man kann nicht oft genug daran erinnern; vielleicht hilft es etwas. Ich glaube es zwar nicht, aber die Hoffnung darf man auch in dieser Frage nicht aufgeben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich etwas sagen, was mir schon seit geraumer Zeit am Herzen liegt, und zwar zur Akzeptanz der Entwicklungshilfe in Deutschland. Ich glaube, dass wir die gemeinsame Aufgabe haben, etwas zu tun. Ich stelle immer wieder fest, dass sich Einzelpersonen und kleine Gruppen - jeder von uns hat im Wahlkreis solche Gruppen - in ganz rührender Weise um einzelne Länder, einzelne Gruppen und auch Einzelpersonen in der Dritten Welt kümmern, dass die Entwicklungshilfe aber gleichzeitig - wie ich in Versammlungen, die ich halte, feststellen kann -, auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, nicht mehr besonders gut akzeptiert wird, und zwar von einer großen Anzahl von Menschen. Auf der einen Seite ist die deutsche Bevölkerung ganz ungewöhnlich hilfsbereit und spendenfreudig, wenn es um aktuelle Notfälle und Katastrophen geht. Auf der anderen Seite gibt es schreckliche Bemerkungen, wenn es um die langfristige staatliche Entwicklungszusammenarbeit geht; das geht von ausgesprochener Skepsis bis zur brutalen Abwendung. Es gibt viele Gründe dafür: Gründe im eigenen Land, so etwa die wirtschaftliche Entwicklung, und sicher ebenso Gründe in den betroffenen Ländern, die teilweise von korrupten und kriminellen Regierungen und Oberschichten beherrscht werden, von denen so viel Geld auf die Seite geräumt wird - was in der Öffentlichkeit immer wieder publiziert wird -, dass sie selber eigentlich die größten Geber sein könnten. Wir müssen uns einmal überlegen, wie man an das Geld von solchen Leuten herankommt; das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt. Die Unrechtmäßigkeit, wenn ein Präsident innerhalb weniger Jahre ein Vermögen in der Größenordnung des Millionenfachen von dem, was ein Normalbürger dieses Landes verdient, ansammelt, liegt eigentlich auf der Hand. Aber das ist ein anderes Thema; vielleicht sollten wir es an anderer Stelle einmal aufgreifen. Ich denke jedenfalls, dass es unsere gemeinsame Aufgabe sein muss, das Thema Entwicklungshilfe in der Bevölkerung wieder populärer zu machen. ({6}) Das ist schwierig. Aber weil der Normalbürger hilfsbereit ist, wenn der menschliche Aspekt einer solchen Hilfe und die Erfolge, die damit erreicht werden, entsprechend herausgestellt werden, können wir für die Akzeptanz sicher etwas tun. Gleichzeitig dürfen wir es den Regierungen dieser Länder nicht ersparen, dass die Hilfen, die sie von uns bekommen - mit Ausnahme der Nothilfe -, daran gemessen werden, wie gut oder schlecht diese Regierungen sind. Das ist zwar nicht schön für die betroffenen Menschen, aber es gibt wohl keine andere Möglichkeit für uns, einen Beitrag zu leisten und für dieses Thema wieder mehr Akzeptanz zu erreichen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie, dass ich mich bei der Fülle der Themen auf das Thema Aids beschränke. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Dinge, die mein Vorredner eben eingefordert hat, zum Teil richtig stellen, aber auch klar machen, dass wir die Dinge bereits umsetzen. Es ist gut, dass sich vor einigen Jahren - leider viel zu spät; da sind wir uns alle einig - die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Aids neben der Tatsache, dass die Erkrankung ein furchtbares persönliches Schicksal ist, auch ein Entwicklungsproblem darstellt, das alle Lebensbereiche berührt und in vielen Ländern in eine tiefe Entwicklungskrise zu münden droht. Es war allerhöchste Zeit, dass im Jahr 2000 das Thema HIV/Aids bei der UNO ganz oben auf die internationale Tagesordnung gesetzt wurde und sich die Staaten - die Bundesrepublik mit der Unterschrift von Bundeskanzler Schröder - in der Millenniumserklärung verpflichtet haben, alles zu tun, um der Ausbreitung dieser Krankheit bis 2015 Einhalt zu gebieten. ({0}) In der Folge wurde als neues Finanzierungsinstrument der globale Gesundheitsfonds eingerichtet, der 2002 seine Arbeit aufgenommen hat und in den die Bundesrepublik bis zum Jahr 2007 300 Millionen Euro einzahlen wird. Die begonnene Arbeit des Fonds lässt hoffen, dass wir in einer großen, gemeinsamen Kraftanstrengung den todbringenden Trend der HIV-Infektion noch umkehren. Welches aber sind - diese Frage ist wichtig - die Voraussetzungen? Erstens. Die nationalen Regierungen in den betroffenen Ländern müssen eine sachgerechte, wirksame und offensive Aidspolitik betreiben. ({1}) Aufklärungsarbeit - und damit Prävention durch Sexualbildung und Verhaltensänderungen - ist das A und O, um die weitere Ausbreitung einzudämmen. Kampf gegen Hexenglauben, Aufbrechen sexueller Tabus und damit das Brechen der Macht der Männer über den weiblichen Körper müssen ganz oben stehen. ({2}) - Ja, Herr Vorsitzender. In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass sich vor zehn Tagen die „Koalition von Frauen gegen Aids“ gegründet hat. Auslöser dafür war die Erkenntnis, dass die bisherigen Bemühungen um Prävention viel zu wenig Frauen und Mädchen erreichen und nur unzulänglich die Situation der Frauen in der Familie und ihr Unterordnungsverhältnis zum Mann berücksichtigen. ({3}) Eine Studie in Sambia hat zutage gefördert, dass nur 11 Prozent der interviewten Frauen meinen, das Recht zu haben, ihren Mann um die Benutzung eines Kondoms zu bitten. 11 Prozent! Diese Zahl fordert ebenso zum Handeln auf wie die anderen Zahlen, die Frau Ober genannt hat. Zweitens. Das Gesundheitswesen in den betroffenen Ländern muss ausgebaut werden. Denn gute ländliche und städtische Gesundheitszentren und Erste-Hilfe-Stationen sind für Prävention ebenso wie für die Versorgung der Erkrankten unabdingbar. An dieser Stelle ist unsere Entwicklungskooperation ganz stark. Drittens. Der politische Dialog mit unseren Partnerländern und mit internationalen Organisationen ist wichtig für die Verständigung auf Prioritäten, auf koordiniertes Handeln und auf gemeinsame Bekämpfungsstrategien. Aus diesem Grund und um uns mit anderen Gebern besser zu vernetzen, um die internationale Diskussion mitzugestalten, aber auch um mit unseren Partnern in der Aidsbekämpfung kritische Fragen zu erörtern - das ist nicht immer einfach; ich habe vorhin die Themen genannt -, habe ich im vergangenen September in New York an der Aidssondersitzung der VN-Generalversammlung teilgenommen, auf die im CDU/CSU-Antrag Bezug genommen wird. Viertens. Es müssen neue Kooperationen mit starken Partnern in der Forschung, in den Heilberufen, in den Medien, in bürgergesellschaftlichen Organisationen und in der Wirtschaft eingegangen werden. Wir haben große Schritte in diese Richtung gemacht. Beispielhaft möchte ich hier nennen: unsere Unterstützung der Nelson-Mandela-Stiftung, die in Südafrika Meinungsführer einer aktiven HIVPolitik ist, die Kooperation mit deutschen Firmen, um Aidsaufklärungs- und Verhaltensänderungsprogramme in den Betrieben zu verankern und zu verbreiten sowie - das ist das dritte Beispiel - unsere Unterstützung der Herstellung von Antiretroviralia für die Armen in der Demokratischen Republik Kongo, worüber heute in der „FAZ“ berichtet wird. Fünftens. Die Behandlungsmöglichkeiten müssen verbessert werden, insbesondere durch Zugang zu kostengünstigeren Medikamenten. Genau hierfür hat sich die Bundesregierung im Rahmen der WTO erfolgreich eingesetzt, auch wenn die im TRIPS-Abkommen gefundene Regelung in Bezug auf grenzüberschreitende Zwangslizenzen für manche nicht ganz zufriedenstellend ist. Trotzdem muss man sagen: Es ist bereits ein Erfolg zu verzeichnen. ({4}) Ich freue mich sehr, dass wir gerade bei der Behandlung von HIV-infizierten Menschen zum Beispiel mit der christlichen Laienorganisation Sant’Egidio sehr gut und erfolgreich zusammenarbeiten und das Projekt in Mosambik die Anerkennung der AWZ-Delegation gefunden hat, die dieses Projekt im letzten Jahr besucht hat. ({5}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Diese fünf Aspekte, die ich skizziert habe, sind Säulen unserer Aidspolitik. Allein im Jahr 2003 hat das BMZ insgesamt 339 Millionen Euro zur Aidsbekämpfung in den Entwicklungsländern eingesetzt. Damit der Mythos ein Ende hat, sage ich: Dieses Geld ist ganz gezielt für die Aidsbekämpfung eingesetzt worden. Wir hoffen, dass damit den Kranken Linderung verschafft und dass diese tödliche Krankheit eingedämmt wird. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat besteht in der Analyse und vor allen Dingen auch in der Beurteilung der Dramatik, wie die Krankheit Aids zur Geißel der Menschheit geworden ist, eine große Übereinstimmung. Wir sind deshalb dazu aufgerufen, unsere entwicklungspolitischen Anstrengungen daran auszurichten. Ob unsere Entwicklungspolitik erfolgreich ist, wird ganz wesentlich daran zu messen sein, ob wir mit der Krankheit Aids fertig werden, ob wir bei der Bekämpfung Erfolge zu vermelden haben. Denn ganze Generationen bzw. ganze Bereiche der aktiven Bevölkerung fallen aus. So sterben zum Beispiel jährlich 17 Prozent der Lehrer eines Staates weg. Eine Regierung kann jedoch gar nicht so schnell wieder eine ausreichende Zahl ausgebildete Lehrer für die Schulen zur Verfügung stellen. Dann ist höchste Alarmstufe. Man muss auch über die 13 Millionen Aidswaisen sprechen, die es hier gibt. Hier geht es an die Substanz eines ganzen Kontinents. Der Erhaltung dieser Substanz haben wir uns mit unserer Entwicklungspolitik verschrieben. Herr Kraus hat einen etwas weiteren Bogen gezogen. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Entwicklung wird teilweise weit unterschätzt, aber auch die Tatsache, dass die demokratischen Strukturen dieser Länder kaputtgehen, wenn solche Entwicklungen nicht gestoppt werden können und wir nicht erfolgreich sind. Das liegt, glaube ich, auf der Hand. Wir müssen endlich einen Masterplan bzw. eine klar ausformulierte Strategie entwickeln, indem wir Bedingungen formulieren, um den Kampf gegen Aids erfolgreich führen zu können. ({0}) Da gibt es viele gute Ansätze. An vorderster Stelle ist die Gründung des Global Aids Fund durch die G 8 zu nennen. Dies möchte ich überhaupt nicht kleinreden. Aber ich möchte klar und deutlich herausstellen, dass es nicht reicht, einmal eine Entscheidung zu treffen und auf lange Sicht hin eine gewisse Summe Geld zur Verfügung zu stellen. Der Vergleich der Summen, die die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich dem Global Aids Fund zur Verfügung gestellt haben, spricht eine eigene Sprache. ({1}) Von Frankreich wurden 2002 und 2003 je 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Bundesrepublik hat 2002 12 Millionen Euro und 2003 32 Millionen Euro gezahlt. 2004 stehen für den Global Aids Fund 38 Millionen Euro zur Verfügung; Frankreich hat 150 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. ({2}) Wir können hier über viele Hilfsmöglichkeiten reden. Aber was nützt das, wenn Sie den Inhalten und Analysen, die Sie richtigerweise vorgetragen haben, nicht auch konsequenterweise das Aufstocken der finanziellen Mittel gegenüberstellen? ({3}) - Hier haben wir definitiv einen Dissens. Ich freue mich, dass die Frau Staatssekretärin Eid so offen war. Als wir bei der Nelson-Mandela-Stiftung waren, haben Sie offen und klar gesagt, dass Sie froh sind, dass das deutsche Parlament die Regierung immer wieder treibt, die entsprechenden finanziellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Da haben Sie sehr wahr und sehr offen gesprochen. Ich möchte dies heute fortsetzen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie trotzdem eine Zwischenfrage der Kollegin Wimmer?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Brigitte Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003265, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, würden Sie mir zugestehen, dass die Bekämpfung von Aids nicht nur den Global Fund im Blick hat, sondern dass die Bundesregierung über diesen Fund hinaus sehr viel mehr Mittel zur Bekämpfung von Aids einsetzt?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gestehe Ihnen das gern zu; das ist gar keine Frage. Aber auch dann, wenn wir die Summe insgesamt nehmen, stellen wir fest, dass Deutschland keinen seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprechenden Beitrag leistet. Nicht weniger und nicht mehr fordere ich hier ein. Jeder, der noch ein bisschen mit Zahlen umgehen kann und sich nicht nur in ein verwirrendes, in langen Fristen gedachtes Zahlenspiel einlässt, sondern die Fakten, die tatsächlichen Zahlen aus dem vorletzten und letzten Jahr sowie aus diesem Jahr klar und deutlich sieht, wird mir zustimmen müssen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Wimmer?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte. Wenn Sie in Ihrer Frage einen neuen Inhalt brächten, wäre ich sehr dankbar.

Brigitte Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003265, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege. Ist Ihnen bekannt, welche Mittel Frankreich für bilaterale Bemühungen aufbringt? Wenn ja, dann hätten wir eine Vergleichsmöglichkeit zwischen dem, was die Bundesrepublik, und dem, was Frankreich macht. Wenn Sie fair sind, müssen Sie sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland bei aller Notwendigkeit zum Sparen enorm viel Geld einsetzt und mit an der Spitze aller vergleichbaren Länder steht.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, das führt uns nicht weiter. ({0}) - Sie wollen doch eine Antwort -. Wir haben es hier mit einer Krankheit zu tun, bei der Prophylaxe nicht mehr ausreicht. Heute müssen wir einen massiven zusätzlichen finanziellen Aufwand treiben, um zu verhindern, dass, wie es von Herrn Kraus und mir, aber zum Teil auch von Ihrer Seite gesagt wurde, Strukturen zusammenbrechen. Hier ist Behandlung statt Prophylaxe vonnöten. Sie müssen massiv Geld in die Hand nehmen, damit entsprechende Versorgungszentren aufgebaut werden können, damit eine Schulung derjenigen vorgenommen werden kann, die die Medikamente verteilen, und damit die hohen Investitionen im Bereich der Labortechnik getätigt werden können. ({1}) Insbesondere die Diagnostik bedingt einen sehr hohen Investitionsbedarf; er macht etwa dieselbe Summe aus, die für Medikamente aufgewandt werden muss. ({2}) Liebe Frau Kollegin, Sie laufen jetzt weg; es tut mir Leid. Ich fahre daher in meiner Rede fort. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen natürlich auch darauf achten, dass es bei dem erfolgreichen Kampf gegen Aids die richtigen Infrastrukturen gibt. Hier ist bereits Sant’ Egidio angeführt worden. Wir haben uns dies vor Ort selbst angesehen. Von solchen NGOs kann man eigentlich nur lernen. Hier zeigt sich wieder, dass sich unsere Entwicklungszusammenarbeit im Wesentlichen darauf konzentrieren muss, die Infrastrukturen herzustellen und zu helfen, die großen Investitionen mit zu finanzieren. Die Arbeit vor Ort, die den Einsatz von viel Humankapital erfordert, können wir von hier aus nicht leisten; sie wird von den NGOs geleistet. ({3}) Aber sie sind bisher allein gelassen worden. Es hat sehr lange gedauert, bis unsere Aufmerksamkeit auf diese ganz besonderen Engagements gelenkt worden ist. Ich unterstreiche nochmals, dass wir hier denjenigen helfen müssen, die heute schon vor Ort eine großartige Arbeit leisten. ({4}) Hinzu kommt, dass wir im Zentrum unserer Aufgaben das Thema der HIV-Übertragung von der Mutter auf das Kind sehen sollten. Es ist ganz sicher richtig, dass schon während der Schwangerschaft, aber auch bei der Geburt und in der Stillzeit Verhaltensänderungen vorgenommen werden müssen. Hierfür sind Information und Aufklärung, aber auch eine entsprechende Infrastruktur erforderlich. Es reicht nicht aus, den Menschen zu sagen, sie sollten ihre Kinder nicht stillen, sondern man muss auch dafür sorgen, dass sauberes Wasser zur Verfügung steht, um den Kindern aufbereitete Nahrung geben zu können. Diese Infrastruktur aber können die NGOs vor Ort nicht aufbauen. Hier müssen wir für eine verbesserte Infrastruktur arbeiten. Gestern kam eine Tickermeldung, wonach Swasiland künftig für das Schulgeld von 60 000 Aidswaisen aufkommt, die sonst einfach nicht mehr zur Schule gehen könnten, weil sie es nicht zahlen könnten. Wenn Aidswaisen nicht zur Schule gehen, haben Rebellen, die Kinder zu Soldaten machen wollen, ganz besonders leichtes Spiel, weil sie in der Regel Nahrungsmittel und ein kleines bisschen Fürsorge gewähren. Dieser Kreislauf muss unterbrochen werden. Darum wollen wir uns dafür einsetzen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland bei der Versorgung der Aidswaisen stärker engagiert. Wir halten es für notwendig, zu überprüfen, ob wir zum Beispiel Swasiland, das wirklich eines der ärmsten Länder ist und es sich eigentlich überhaupt nicht leisten kann, das Schulgeld von Staatsseite zu übernehmen, helfen können. ({5}) Gleichzeitig ist es notwendig und wichtig - auch darauf legen wir besonderen Wert -, die Forschung im Impfstoffbereich voranzutreiben. Vor allen Dingen muss die besondere Situation in Afrika berücksichtigt werden, wo man andere Virenstämme als in Europa kennt. Hier sind begleitende Forschungen nötig. Auch ist noch so gut wie gar nicht erforscht, wie sich eine Kombination von Malaria oder Tuberkulose mit Aids auswirkt. Hier ist ein breites Feld noch nicht bearbeitet. Ich möchte die Bundesregierung nachdrücklich aufrufen, sich hier stärker zu engagieren. Ich bleibe dabei: Wenn wir bei der Bekämpfung von HIV/Aids nicht erfolgreich sind, wird unsere gesamte Entwicklungszusammenarbeit sehr stark infrage gestellt und - so weit möchte ich gehen - fast nutzlos. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde wichtig, dass in dieser Debatte deutlich wird, dass uns allen dieses Thema auf der Seele lastet und dass wir alle Kräfte mobilisieren, um dazu beizutragen, dass Menschenleben gerettet werden. Die Zahl der Waisen im südlichen Afrika ist so groß wie die Zahl der Kinder in Deutschland. Das macht die Dramatik deutlich. Deshalb sollten wir keinen Streit um die Frage führen, ob zu wenig getan werde. Ich bin selbstverständlich für jede Unterstützung dankbar. Damit niemand Missverständnissen unterliegt: Wir leisten einen Riesenbeitrag, der übrigens, seit wir die Regierung übernommen haben, dramatisch gesteigert worden ist. Wir haben damals 19 Millionen im Haushalt vorgefunden; wir sind heute, wenn man alles zusammennimmt, bei 339 Millionen Euro, die wir bilateral und multilateral zur Verfügung stellen. Herr Heinrich, die Zahlen, die Sie nennen, hängen damit zusammen, dass manche Länder nur in den Globalen Aidsfonds einzahlen. Er ist aber viel später eingerichtet worden. Wir haben 1998 angefangen, gegen Aids zu powern. Ich bin froh, dass wir das getan haben. Deshalb stecken wir viel, rund 100 Millionen Euro, in die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Rechnen Sie es einfach zusammen! Ich weiß noch, wie die Notenbankgouverneure bei der Weltbank mich angeguckt haben, als ich erklärte, wir müssten Programme gegen Aids auflegen. Heute geben wir zum Beispiel 77 Millionen Euro nur für die Zuschussprogramme über die Weltbank. Es gibt einfach Bereiche, in denen es keinen Zweck hat, Regierung und Opposition gegeneinander zu stellen. Lassen Sie uns vielmehr gemeinsam kämpfen! Lassen Sie solche Rechnereien, die belegen sollen, dass wir schlechter seien, beiseite! Das stimmt nicht. Wir sind in diesem Bereich wirklich gut. Aber wir können und müssen noch besser werden. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Heinrich, bitte.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich für Ihre Kurzintervention. Ich sehe, dass ich einen Punkt angesprochen habe, der uns beide berührt. Sie fühlen sich missverstanden. Ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Ich achte die Leistung der Bundesregierung. Sie ist überhaupt nicht gering. Sie liegt in der Aufklärung und Prävention und ist in einer Zeit erbracht worden, bevor der Global Aids Fund zur Bekämpfung von Aids eingerichtet worden ist. Das ist gar keine Frage. Hier sind wir uns völlig einig. Aber mir geht es darum, dass wir den Global Aids Fund jetzt stärker fördern sollten, um bei der Behandlung erfolgreich zu sein. Das ist der Punkt, den ich meine. Außerdem, Frau Wieczorek-Zeul, sage ich Ihnen in diesem Zusammenhang eines: Ich war sehr enttäuscht von der Tatsache, dass der Bundeskanzler, als er vor der Afrikanischen Union eine große Rede gehalten hat, keinen einzigen Satz zum Thema Aids gesagt hat. Die Führer aller afrikanischen Staaten waren anwesend. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, die entsprechenden Positionen und die Wichtigkeit des Themas darzustellen und die Regierungschefs aufzufordern, ihre Falschmeldungen und ihren Hexenglauben, den Frau Eid zu Recht erwähnt hat, endlich zu unterlassen. Leider Gottes müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass der Kanzler hier eine große Chance verpasst hat. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans Büttner, SPD-Fraktion.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich muss mich schon ein bisschen über die Verve bzw. die Art wundern, mit der wir hier über die Entwicklung in den afrikanischen Ländern debattieren. Einerseits wird gesagt, dass wir auf gleicher Augenhöhe mit ihnen sprechen wollen. Andererseits aber tun wir - und wenn wir ehrlich sind, stellen wir das fest - genau das Gleiche, was wir schon hundert Jahre lang getan haben: den armen schwarzen Männern und Frauen in Afrika zu sagen, was sie zu tun haben, anstatt sie auf ihrem Weg in Richtung Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, den sie seit 1990 vehement gegangen sind, zu unterstützen und sie dafür zu loben. Kollege Heinrich, ich unterstütze das, was Sie zum Thema Aufklärung gesagt haben. Wenn wir aber all diese Forderungen stellen, sollten wir nicht vergessen, wie lange wir selbst in unserem hoch entwickelten und strukturierten Land mit guter Ausbildung gebraucht haben, bis wir die Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland zustande gebracht haben. Jetzt zu meinen, dass dies in den afrikanischen Gesellschaften innerhalb von zwei oder drei Jahren umzusetzen ist, halte ich für Hybris, für Überheblichkeit. So kann man mit anderen Kulturen nicht ernsthaft umgehen. ({0}) Wichtiger wäre es, endlich ernsthaft auf gleicher Augenhöhe miteinander zu reden. Das will ich anhand eines Beispiels tun; denn wir reden hier ja nicht nur über Aids. Wir sind uns einig, dass wir über dieses Thema aufklären müssen. Kollege Helias und ich waren zusammen in Afrika. Bei jedem Gespräch mit den dortigen Staatspräsidenten und auf allen Ebenen haben wir es immer wieder angeschnitten. Aber wir haben auch wahrgenommen, dass die dortigen Kulturen einige Zeit benötigen, um etwas umzusetzen. Es wird nicht erwartet, dass wir sagen, wie die Dinge laufen. Das heißt, wir müssen auch etwas Geduld haben. Heute haben wir unter anderem über den Kongo zu debattieren. Hierbei spielt die Frage, wie man Entwicklungspolitik akzeptabler macht, eine Rolle. In diesem Punkt kann ich Ihnen, Kollege Kraus, ein bisschen helfen. Der Kongo ist ja das Herz Afrikas. Man muss sich erinnern: Er ist so groß wie ganz Westeuropa. Man muss sich ein Gebiet vorstellen, dessen Hauptstadt Lissabon ist. Dann gibt es zwei andere Städte, Warschau und Kopenhagen. Dazwischen fließt ein Fluss, sonst nichts. Es handelt sich um ein Gebiet praktisch ohne Infrastruktur, das aber über sehr viele wertvolle Rohstoffe verfügt. Das war auch der Grund, warum König Leopold von Belgien dort vor knapp hundert Jahren ein privates Kolonialregime aufgebaut hat, das nicht friedlich war und durch das viele Afrikaner umgekommen sind. Damals gab es allerdings noch kein Fernsehen und auch keine anderen Medien, die jeden Tag darüber berichtet haben. Dann wurde die belgische Kolonialverfassung entwickelt. 1960 wurde der Kongo unabhängig. Zu dieser Zeit war Patrice Lumumba Präsident, der heutzutage übrigens von der dortigen Jugend - ob in Ruanda oder wo auch immer - als Held wahrgenommen wird, während er bei uns schon längst vergessen ist. ({1}) - Dann sage ich: weitgehend vergessen. Wir Alt-68er kennen ihn noch, sonst aber niemand mehr. Dieses Land ist auch nach seiner Unabhängigkeit vom Westen und vom Osten als Rohstoffquelle weiterhin ausgebeutet worden. Wir haben dort beispielsweise eine deutsche Firma getroffen, die mit der alten Regierung in Kinshasa einen Vertrag über den Abbau von Polychlorerzen abgeschlossen hat zu den Bedingungen: 15 Jahre steuer- und abgabenfrei, einmalig 97 Dollar Hans Büttner ({2}) Lizenzgebühr. Diese Polychlorerze enthalten zu über 40 Prozent Tantal, was beispielsweise für die Elektronik in unseren Handys gebraucht wird. Tantal wiederum wird auf dem Weltmarkt zu Pfundpreisen zwischen 50 und 400 Dollar gehandelt. Davon bleibt dem Land bei diesem Vertrag überhaupt nichts. Die Mineure von uns und anderswo lassen diese Erze von Ich-AGs, von Farmern abbauen, ohne entsprechende Claims zu haben und ohne nennenswert dafür zu bezahlen. Das bringt Geld - für den Bauern, der sie abbaut, vielleicht 5 Dollar. Vielleicht baut er illegal auf dem Grundstück vom Nachbarn ab, weil er keinen abgesteckten Claim hat. Der wiederum wehrt sich dagegen. So helfen wir letztlich mit, dass Rebellengruppen entstehen, dass Kampf entsteht. Das organisieren wir mit. Und dann beschweren wir uns darüber, dass dieser Staat - dessen staatliche Strukturen 30 Jahre lang zerschlagen worden sind - selber noch nicht in der Lage ist, von heute auf morgen alle Rebellen zu entwaffnen, auch nicht mithilfe der MONUC, die sehr Gutes dort tut, die dort tut, was sie kann. Aber sie braucht Zeit dafür. Da beschweren wir uns, dass sie nicht schnell genug Strukturen aufbaut. Ich meine, diese Hybris sollten wir ein bisschen zurücknehmen. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir den Prozess der Befriedung des Kongos durch die afrikanischen Staaten ernst nehmen würden, so wie es die Bundesregierung seit 1998 getan hat. Die Initiativen von Pretoria, Lusaka und anderswo waren die Auslöser dafür, dass das Land überhaupt eine Chance hat, in eine friedliche Zukunft gehen zu können. Diese friedliche Zukunft unterstützen wir mit allem Nachdruck. Wir müssen dabei helfen, vor allem auch bei der Bekämpfung von Aids. Dieses Land und viele andere Länder brauchen vor allem staatliche Strukturen, die es ermöglichen, politische Entscheidungen auch umzusetzen. Was nützt es, wenn es keine Verwaltung gibt? Was nützt es, wenn es keine Polizei gibt, die auch bezahlt werden kann, weil es keine Strukturen dafür gibt? Wir müssen endlich erkennen, dass der erste Punkt ist, mitzuhelfen, die staatlichen Strukturen aufzubauen, die es ermöglichen, zum Beispiel Gesundheitsprogramme umzusetzen. Es wurde mit Recht darauf hingewiesen: Man braucht eben ein Netzwerk. Nur Medikamente oder irgendwo eine Gesundheitsstation reichen nicht. Man muss auch dafür sorgen, dass sie regelmäßig beliefert wird, dass sie angefahren werden kann auf Straßen oder Wegen, die in Ordnung sind, usw. Wir haben zwei Anträge vorliegen, die bezüglich ihrer Zielsetzung im Grunde genommen nicht sehr weit auseinander liegen; ich bin mir sicher, wir können uns in den Beratungen auf einen gemeinsamen Weg einigen. Aber wir sollten uns bei dieser Diskussion - das ist anlässlich dieser Rede meine Bitte - vielleicht dazu durchringen, den Wert, den der Dialog miteinander hat - mit den afrikanischen Staaten und den neuen afrikanischen Führern; so viele sind es ja noch nicht -, höher zu schätzen, als wir es im Moment noch tun. Es ist gut, dass der Bundeskanzler und die Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit Präsident Kabila hier empfangen haben. Ich glaube, der Mann ist es wert, dass wir ihn unterstützen, auch in seinem Dialog mit seiner Gesellschaft. Auch wir sollten lieber miteinander reden als gegeneinander zu schweigen. Unser lieber Kollege Helias hat das Prinzip aufgestellt: Lieber mit dem Teufel reden, wenn es dem Frieden dient, als das nicht tun. Das sollten wir auch tun, denn es spielt in Afrika, es spielt im Kongo eine noch größere Rolle als vielleicht bei uns. Vieles läuft dort noch nicht so rational wie bei uns, auch in der Politik nicht. Die Politik im Kongo baut zum Beispiel noch auf einer Vielzahl familiärer und persönlicher Strukturen auf. Mein Appell an Sie lautet daher: Nehmen Sie den Antrag zum Thema Kongo zum Anlass, im Rahmen der Afrikapolitik gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Initiativen, die die afrikanischen Staaten selbst ergreifen, um in ihren Ländern stabile Strukturen zu schaffen, Erfolg zeigen. Diese sind Voraussetzung für die Bekämpfung von Armut und Aids. Dabei können NGOs - das sage ich mit aller Vorsicht - durchaus Hilfestellung geben. Aber es muss auch die Frage erlaubt sein, ob es für diese Staaten, die kaum über eine staatliche Bürokratie verfügen, gut ist, wenn sie zum Beispiel für die Mitarbeiter von 4 000 NGOs und mehr, die in ihrem Land gleichzeitig tätig sind, Arbeitserlaubnisse ausstellen und verlängern müssen. ({3}) Diese Papiere verlangen wir von Ausländern, die bei uns arbeiten, auch. Also haben auch diese Staaten das Recht dazu. Wir müssen überlegen, wie wir den Staaten dabei helfen können, ihre Strukturen selber aufzubauen, damit sie die Aufgaben, die sie lösen müssen, auch lösen können. Lassen Sie uns dabei zusammenarbeiten. Ich glaube, dadurch würden wir mehr zur Bekämpfung von Aids und von Armut, zur Entwicklung der Länder und zur Kooperation zwischen unseren beiden Kontinenten beitragen als durch wohlfeile Appelle. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hartwig Fischer, CDU/ CSU-Fraktion.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie ist die Ausgangslage zehn Jahre nach dem Genozid in Ruanda und nach fünf Jahren Bürgerkrieg im Bereich der Großen Seen, der 3,5 Millionen Tote vor allem in der Demokratischen Republik Kongo gefordert hat? Wir haben darüber im Mai eine intensive Debatte geführt, haben Anträge beraten und Forderungen an die Bundesregierung gestellt. Auf diese Weise haben wir in diesem Parlament mit dafür gesorgt, dass über die Medien die Situation der Menschen in der Demokratischen Republik Kongo in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden ist. Wir erleben, dass sich die Hartwig Fischer ({0}) Übergangsregierung bemüht, die Situation in der DR Kongo zu stabilisieren. Aber der Frieden, der dort derzeit herrscht, ist außerordentlich zerbrechlich. Noch vor etwa einem Jahr hatte die MONUC nur einen reinen Beobachterauftrag. Noch im Frühjahr waren Tausende von Toten zu beklagen. „MONUC steht heute auf den Schultern von ARTEMIS“, so hat William Lacy Swing, der Sonderbeauftragte der UNO, gesagt. Die MONUC hat ein anderes, ein stabileres Mandat erhalten und kann nun zum Frieden in der Region beitragen. MONUC hat aber noch immer nicht genügend Personal, um den Ostkongo insgesamt zu befrieden. Wir haben vor 14 Tagen erleben müssen, dass im Bereich des Albertsees über 100 Familien auseinander gerissen wurden; 100 Männer wurden ermordet, die Frauen und die Kinder haben das Martyrium einer Entführung erlebt und sind seitdem verschwunden. Wir haben aber auch erlebt, dass MONUC sofort flexibel reagiert hat und zwei neue Garnisonen in Arhu und Mahagi aufgestellt hat. Man agiert und reagiert also. Im Ostkongo gibt es über 47 Brigaden von fünf verschiedenen Milizen mit circa 180 000 Kämpfern, die es zu befrieden gilt. Damit ist MONUC derzeit noch überfordert. Wir können aber feststellen, dass es zum Beispiel eine Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und der Regierung gibt. Vor zwei Tagen wurde mithilfe des Bischofs dafür gesorgt, dass man in Bukavu den Gouverneur abgesetzt hat, nachdem 10 Tonnen Waffen auf dem Grundstück des Gouverneurs gefunden und dann entsorgt werden konnten. ({1}) Welches sind die notwendigen Schritte? - Der erste notwendige Schritt ist die Demobilisierung der Soldaten, insbesondere der Kindersoldaten. Eine Stabilisierung des Ostkongo werden wir aber nur durch die Festigung von rechtsstaatlichen Grundsätzen erreichen, wozu der Aufbau und die Ausbildung der Polizei und der Justiz unterstützt werden muss; der Kollege Büttner hat das kurz angesprochen. Der zweite notwendige Schritt ist der Ausbau der Infrastruktur. Schließlich ist das Gebiet so groß wie Europa und hat eine Grenze zwischen den verfeindeten Staaten von knapp 10 000 Kilometern, die es zu sichern gilt, ohne dass es ausreichend Straßen gibt. Wir müssen die Regierung der DR Kongo unterstützen, dass die illegale Ausbeutung der Bodenschätze auch durch ein transparentes Konzessionsvergabeverfahren unterbunden wird. Vielen ist gar nicht bewusst, dass die DR Kongo die grüne Lunge Afrikas ist, die ähnlich wie das Amazonasgebiet in Brasilien mit zum Weltklima beiträgt. Dies alles veranlasst uns natürlich, die Zusammenarbeit zu verstärken. Es existiert bereits ein Investitionsschutzabkommen. Wir brauchen dieses Investitionsschutzabkommen, damit wir gemeinsam handeln und verhandeln können und damit die wirtschaftliche Zusammenarbeit verstärkt wird. Die wichtige Arbeit der NGOs und der Kirchen muss insbesondere im Bereich der Grundbildung, der beruflichen Bildung und der Gesundheit weiter verstärkt werden. Parallel dazu müssen Projekte gestützt und ausgebaut werden - wie zum Beispiel die Projekte der Welthungerhilfe -, durch die Hilfe zur Selbsthilfe geleistet wird. In den nächsten Wochen und Monaten benötigt die Demokratische Republik Kongo eine besondere Unterstützung bei der Vorbereitung der demokratischen Wahlen. Insbesondere gilt es, auch die Nichtregierungsorganisationen bei dieser Vorbereitung zu unterstützen. Eine der zentralen Forderungen der Union ist allerdings auch, dass die DR Kongo wieder zum Partnerland der deutschen Entwicklungsarbeit wird. Dies ist auch mit Blick auf die Konferenz der Staaten in der Region der Großen Seen wichtig. Die Verhandlungen dort dienen der Stabilisierung Zentralafrikas, wodurch auch die Demokratische Republik Kongo auf gleicher Augenhöhe mit anderen Partner- und Schwerpunktländern verhandeln können muss. ({2}) Insbesondere zwischen der EU, Deutschland und den anderen Geberländern brauchen wir dringend die Koordinierung der bilateralen und multilateralen Zusammenarbeit bei staatlichen und nicht staatlichen Aktivitäten. Sicherheit und Stabilität liegen auch im deutschen Interesse. Es stellt sich auch die Frage, wie wir mit den Flüchtlingslagern dort umgehen. Bilden wir dort einen Bodensatz, durch den Fundamentalisten in dieser Region eine Chance für Terrorismus und Islamismus gegeben wird? Aus einem Krieg resultieren Ströme von Flüchtlingen, auch Wirtschaftsflüchtlingen. Diese schädigen die gesamte Entwicklung in Zentralafrika und später eventuell auch in der Bundesrepublik Deutschland. Prävention ist auf Dauer günstiger als Reparatur. ({3}) Herr Kollege Büttner, ich wende mich nun an Sie. Sie haben die Aussage unseres Kollegen Kraus aufgegriffen, nach der es in unserem Ausschuss sehr harmonisch zugeht. Das ist gut so; denn es liegt im gemeinsamen Interesse. Wir müssen aber aufpassen, dass die gemeinsame Zielsetzung des Parlaments - entsprechende Forderungen werden durch Parlamentsbeschlüsse aufgestellt Berücksichtigung findet. Ich gehe gerne noch einmal auf die strittigen Anträge ein. Im Mai des vergangenen Jahres lagen zwei Anträge vor, über die wir uns leider nicht einigen konnten. Ich gehe jetzt nur auf den Antrag ein, den Sie damals gestellt haben. In Ihrem Antrag von damals stand, die Arbeit der MONUC müsse finanziell und politisch - auch durch die Entsendung von Führungskräften in den Stabsstellen unterstützt werden. Diese Forderung an die Bundesregierung kam auch von Ihrer Seite. In diesem Bereich hat sich nichts getan. ({4}) Es gibt einen zweiten Bereich. In unserem Antrag forderten wir, die Luftüberwachung zu verstärken. Wir Hartwig Fischer ({5}) wissen, dass 80 Prozent der Waffentransporte - derzeit noch weitestgehend aus Uganda - auf dem Luftweg erfolgen. Wir haben die Bundesregierung damals dazu aufgefordert, eine Luftüberwachung mit aufzubauen. Das Ganze ist fast ein Jahr her. Wie uns Herr Swing ausdrücklich noch einmal bestätigt hat, ist in dieser Frage nichts passiert. Wir haben auch gefordert, dass die Programme gemäß Ihrem Antrag, der durch das Parlament verabschiedet wurde, in Bezug auf die Kindersoldaten erweitert werden. Ich bin dort gewesen. Ich habe mich über die Situation in Bunia informiert und mir ein Lager mit 100 Kindersoldaten angesehen. Bezüglich der Situation vor Ort wurde uns gesagt: Wenn wir sie dazu aufrufen, aus dem Wald zu kommen und sich entwaffnen zu lassen, um wieder resozialisiert zu werden, dann stehen plötzlich 2 000 junge Leute bei uns in der Stadt. Die Programme greifen nicht, weil wir erst in dem Augenblick handeln dürfen, wenn die Menschen da sind. Dann sind wir jedoch nicht darauf vorbereitet, weil die Mittel erst später zur Verfügung gestellt werden. Das ist eine unbefriedigende Situation. Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung das, auf was wir uns im Ausschuss verständigt haben und was hier im Parlament verabschiedet worden ist - das ist jetzt fast ein Jahr her -, auch umsetzt, damit es eben nicht nur Gegenstand einer Debatte bleibt, sondern auch ein Handeln zur Folge hat. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig: Die Demokratische Republik Kongo gehört nicht nur zu den größten Ländern Afrikas, sondern auch zu den Ländern, die nach der Kolonialzeit zu den größten Hoffnungen Anlass gegeben haben. Die Demokratische Republik Kongo hätte ein Land sein können, das nach der Kolonialzeit keiner Entwicklungszusammenarbeit oder jedenfalls keiner Entwicklungshilfe mehr bedurft hätte, weil es ungeheuer viele eigene Ressourcen in Form von Bodenschätzen wie Diamanten, Kupfer, Coltan und Gold besitzt, die ausgebeutet wurden und viele Menschen - aber zuletzt die Kongolesen selbst - haben reich werden lassen. Die Demokratische Republik Kongo ist bis heute leider nicht das Land geworden, das es hätte werden können, nämlich ein Land mit unabhängiger Entwicklung und Fortschritt für den Wohlstand der Menschen, ein friedliches Land. Die Republik Kongo ist zu einem der schlimmsten Orte des von Krieg, Vertreibung und Zerstörung geprägten Kontinents geworden. Ein solches Land wird man in Afrika an anderer Stelle kaum finden. Die Situation in den letzten Jahrzehnten in der Demokratischen Republik Kongo ist zu Recht mit der Situation in Europa während des Dreißigjährigen Krieges verglichen worden. Die staatlichen Strukturen sind fast völlig zerstört und die Lebensgrundlagen für große Teile der Bevölkerung vernichtet worden. Die Menschen in diesem Land haben von dem Reichtum dieses Landes so gut wie nichts abbekommen. Welches sind dafür die Gründe? Die Gründe waren wahrscheinlich auch - so zynisch das klingt - der Reichtum dieses Landes, weil die ökonomischen Interessen vieler anderer Länder aus Europa, aber auch aus Afrika an die Entwicklung dieses Landes geknüpft waren. Die ehemaligen Kolonialherren wie auch andere europäische Länder haben in der Folgezeit die Ausbeutung dieses Landes fortgesetzt und zu Kriegen mit Millionen von Toten beigetragen. Nun dürfen wir aber nicht - darin unterscheidet sich Ihr Antrag von dem Antrag der Koalition - vergessen, dass auch Kongolesen an dem Entstehen der heutigen Situation im Kongo beteiligt gewesen sind. Schließlich ist Lumumba im Kongo ermordet worden. Schließlich ist Mobutu als Diktator in der Demokratischen Republik Kongo zu einem ganz wesentlichen Anteil an der Unterdrückung der Bevölkerung und der Ausbeutung des Landes durch auswärtige Staaten beteiligt gewesen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Laurent Kabila, also der Vater des jetzigen Präsidenten Joseph Kabila, der zunächst zu großen Hoffnungen Anlass gegeben hatte, ein Regime errichtet hat, das bekämpft werden musste. Wir wissen auch, dass im Kongo Konflikte der Region der Großen Seen durch die Nachbarstaaten mit ausgetragen werden. So stationierten beispielsweise Ruanda, Uganda, Burundi, Simbabwe und Angola im Kongo Soldaten, die dort mit Waffengewalt nicht nur eigene Interessen, sondern ebenso die der jeweiligen Staaten wie auch die einzelner Gruppen im Kongo durchzusetzen versuchten. Wir haben jetzt die Chance - darüber ist gesprochen worden -, eine friedliche Entwicklung im Interesse der Bevölkerung zu erreichen, bei der der Reichtum des Kongos den Menschen dieses Landes zugute kommen könnte. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Ich sehe den wesentlichen Unterschied zwischen den Anträgen der CDU/CSU-Fraktion und der Koalition zunächst darin, dass wir einiges aufgelistet haben, was in den letzten Jahren positiv geleistet wurde, und zwar nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von den Abgeordneten dieses Parlaments. Erinnern wir uns doch daran - es ist richtig, dass das in dem Antrag steht -, dass die Aktion ARTEMIS dazu beigetragen hat, das Völkermorden in diesem Lande zu beenden, und dass diese Aktion vom deutschen Parlament mitgetragen worden ist. Erinnern wir uns an die vielen Reisen, die von Abgeordneten dieses Parlaments unternommen worden sind - auch in die Nachbarländer des Kongo -, bei denen wir alle darauf gedrungen haben, dass etwa Ruanda, Uganda oder Burundi ihre Soldaten aus dem Kongo abziehen und damit helfen, eine friedliche Lösung zu erreichen. Nicht nur die Minister waren dort, sondern auch Abgeordnete haben ihren Teil dazu beigetragen. Stellen wir unser Licht nicht unter den Scheffel. Die Gespräche, die wir heute noch führen, die Gespräche, die wir letzte Woche mit Herrn Kabila und seiner Crew geführt haben, und die Gespräche, die wir im April auf unserer nächsten Reise in den Kongo und nach Ruanda führen werden, können zu einer vernünftigen, friedlichen und im Interesse der Bevölkerung liegenden Entwicklung im Kongo beitragen. Lassen Sie mich zuletzt auf einen wesentlichen Punkt hinweisen,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Ströbele, Ihre Redezeit ist überschritten.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

der mir als Grünem, dem Kollegen Ruck und den Kollegen von der SPD besonders am Herzen liegt. Der Kongo ist auch ein Land, in dem die Natur, die Fauna und die Flora, eine zentrale Rolle spielen können und sollen. Lassen Sie uns dazu beitragen, dass das große und wichtige Projekt der GTZ in Kahuzi-Biega erfolgreich fortgeführt wird. Wir haben es in all den Jahren des Krieges erhalten können. Wir wollen, dass dieses Projekt ausgeweitet wird und der Reichtum der Region und dem Land zugute kommt. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Conny Mayer, CDU/CSUFraktion.

Dr. Conny Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003590, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café am Potsdamer Platz, am Brandenburger Tor oder irgendwo in Ihrem Wahlkreis, und stellen Sie sich vor, jede fünfte Frau und jeder fünfte Mann trägt die Aidsschleife. Ich war am 1. Dezember des vergangenen Jahres, am Weltaidstag, in Kapstadt, Südafrika. Etwa jeder Fünfte in dem Café und etwa jeder Fünfte, der an mir vorbeiging, trug dieses Zeichen. Derzeit sind nach Schätzungen von UNAIDS in Südafrika über 20 Prozent aller Menschen im erwerbsfähigen Alter, also jeder Fünfte, mit dem tödlichen Virus infiziert. Das ist Realität in Südafrika. Laut aktuellem „Aids Epidemic Update“, der auf dem New Yorker Gipfel - darüber wurde heute schon gesprochen - im vergangenen September vorgestellt wurde, liegt die Zahl der infizierten Menschen bei rund 40 Millionen weltweit. Kofi Annan hat in New York deutlich gemacht, dass der Kampf gegen HIV/Aids mit dem bisherigen Engagement nicht gewonnen werden kann. Frankreichs Staatspräsident Chirac, der russische Staatspräsident Putin, der amerikanische Außenminister Colin Powell, der niederländische Premierminister - alle haben in New York geredet. Wo war Bundeskanzler Schröder? ({0}) Wo war die im Kabinett zuständige Ministerin? ({1}) - Frau Eid, Sie waren da, ich weiß. Aber ich habe aufgezählt, welche hochrangigen Regierungsmitglieder der anderen Länder anwesend waren. Wo war die Spitze der Bundesregierung - lassen Sie es mich so sagen -, als es darum ging, der Welt die dramatische Situation vor Augen zu führen und konkrete Pläne zur Bekämpfung von HIV/Aids zu diskutieren? Das Thema HIV/Aids braucht in Deutschland wieder einen höheren Stellenwert. Ich meine das nicht nur, aber auch politisch. Kollege Kraus hat es ebenso wie Kollegen von beiden Seiten angesprochen. Diesem Thema muss in Deutschland wieder ein höherer politischer Stellenwert eingeräumt werden, und zwar nicht in der zweiten Reihe, sondern auf höchster politischer Ebene. ({2}) Wir müssen gemeinsam unseren Beitrag dazu leisten, dass HIV/Aids wieder und noch stärker als bisher als gesellschaftliches Problem anerkannt und angegangen wird. Die Krankheit - auch darauf wurde bereits hingewiesen - hat in einigen Ländern südlich der Sahara die Erfolge der Entwicklungszusammenarbeit der vergangenen Jahre, ja teilweise sogar Jahrzehnte, zunichte gemacht. HIV/Aids hat gerade in Entwicklungsländern gravierende Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesundheit, auf das Sozial- und Bildungssystem wie auch auf die Sicherheits- und Außenpolitik. Hinzu kommt - das erkennen wir alle, es ist aber meines Wissens noch nicht so deutlich formuliert worden; deswegen will ich an dieser Stelle darauf hinweisen -, dass die Seuche das Erreichen der Millenniumsziele, die wir uns gemeinsam gesetzt haben, bedroht. Ich halte es deshalb für richtig, dass wir bei unseren Partnerländern ein angemessenes Engagement im Kampf gegen die Krankheit einfordern und das auch zur Voraussetzung für die bilaterale Zusammenarbeit machen. ({3}) Lassen Sie mich noch einmal auf die Zahlen zu sprechen kommen. Ich habe mich vorhin nicht in die Debatte eingemischt, da ich jetzt die Gelegenheit habe, dazu Stellung zu nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher 40 Millionen Euro in den Globalen Fonds eingezahlt. Für dieses Jahr sind 38 Millionen Euro vorgesehen. Im Vergleich dazu hat Italien - das Beispiel Frankreich wurde bereits erwähnt - bisher 172 Millionen Euro eingezahlt und wird in den kommenden beiden Jahren noch 200 Millionen Euro in den Fonds einzahlen. ({4}) - Hören Sie erst zu, dann können wir darüber diskutieren! Sie weisen zwar zu Recht darauf hin, dass wir uns auch auf bilateraler Ebene stark engagieren. Entscheidend ist aber beides: die Einzahlungen in den Globalen Fonds und die bilaterale Hilfe. Wir bleiben hinter dem Conny Mayer ({5}) zurück, was unserer Größe und wirtschaftlichen Bedeutung entspricht. ({6}) In der Diskussion um HIV/Aids ist eines wichtig: Bei der Aidskonferenz der Vereinten Nationen im Juni 2001 war immer wieder von zusätzlichen 7 Milliarden bis 10 Milliarden US-Dollar die Rede, die notwendig sind, um den Kampf gegen HIV/Aids zu gewinnen und die Millenniumsziele zu erreichen. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zum Antrag der Koalition machen. Wir sind uns in der Analyse in vielen Punkten einig. Ich wundere mich aber, dass im Koalitionsantrag festgestellt wird, dass die Bundesregierung jährlich 300 Millionen Euro für die Bekämpfung von HIV/Aids ausgibt. Diese Zahl ist falsch, wir haben darüber schon einmal in der Fragestunde gestritten. Ich will auch begründen, warum ich die Zahl für falsch halte. Erstens. Der Globale Fonds gibt in seinem Jahresbericht an, dass 60 Prozent der Mittel in HIV/Aids-Projekte fließen. Die restlichen 40 Prozent der Mittel werden zur Finanzierung von Tuberkulose- und Malariaprojekten verwendet. Diese Projekte sind wichtig - ich will sie nicht geringschätzen -, aber warum werden die gesamten Mittel aus dem Globalen Fonds in die Ausgaben für die HIV/Aids-Bekämpfung mit eingerechnet? Zweitens. Warum rechnen Sie alle Mittel, die irgendetwas mit Gesundheit zu tun haben, mit 25 Prozent bei den HIV/Aids-Ausgaben ein? Warum berücksichtigen Sie nicht nur die Mittel, die den 25 Kategorien der „key interventions“ von UNAIDS entsprechen? Warum - wenn Sie denn so vorgehen - belegen Sie das nicht wenigstens entsprechend? Die „community“ der mit HIV/Aids-Beschäftigten fordert die Bundesregierung immer wieder dazu auf. Zum Ende meiner Rede komme ich noch einmal auf das Café in Kapstadt zurück. Ich wünsche mir, dass ich irgendwann in Südafrika im Café sitzen kann und niemanden oder nur sehr wenige Menschen sehe, die die Aidsschleife tragen, weil die Zahl der HIV-Infizierten und Aidskranken drastisch zurückgegangen ist. Ich appelliere an die Bundesregierung und an uns alle über die Fraktionsgrenzen hinweg: Lassen Sie uns den Kampf gegen HIV/Aids angehen, und zwar noch engagierter als bisher! Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dagmar Schmidt, SPDFraktion.

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was fällt Ihnen ein, wenn Sie den Begriff „Wüste“ hören? - Wüste, das ist doch - weit entfernt - eine archaische Landschaft, in der wenige Lebewesen in gleißender Hitze ihre karge Lebensform finden: Steinwüsten, Sandwüsten, irgendwo in fernen Regionen. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass die Problematik der zunehmenden Wüstenbildung, der Landverödung und der Bodenerosion nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht. Wer weiß denn schon um das dramatische Anwachsen verödender Landstriche weltweit, einer Fläche, die dreieinhalbmal so groß ist wie Europa? Die Existenzgrundlage von mehr als 1 Milliarde Menschen in 110 Ländern ist bedroht. Derzeit sind in 70 Prozent aller Trockengebiete Auswirkungen von Wüstenbildungen festzustellen. Dies entspricht einer Fläche von 36 Millionen Quadratkilometern. Sollte dieser Prozess in den kommenden zwei Jahrzehnten mit der gleichen Dynamik weiter voranschreiten, ist gerade in den Ländern des Südens mit einem erheblichen Rückgang der landwirtschaftlichen Nutzfläche zu rechnen. Die Folgen für die betroffene Bevölkerung in den Ländern des Südens sind gravierend: Hunger, Migration, der Zusammenbruch sozialer Strukturen und politische Destabilisierung. Etliche Millionen Menschen, so viele, wie in Deutschland und Frankreich leben, stehen vor der Gefahr, durch Landverödung zu Flüchtlingen zu werden. Langzeitstudien in Westafrika belegen einen konstanten Migrationsfluss von der Sahelzone zu den Küstenregionen. Dort wird die Bevölkerung in einem Zeitraum von 20 Jahren auf das Dreieinhalbfache ansteigen. In Megastädten und in anderen immer dichter besiedelten Regionen hat die Umwelt keine Chance und werden Ressourcen unwiederbringlich verbraucht. Obwohl wir das alles wissen, ist das Bewusstsein für die Dringlichkeit der Bekämpfung der Wüstenbildung noch viel zu gering. Ursache hierfür sind zwei verbreitete Fehleinschätzungen: Erstens. Wüstenbildung wird vielfach lediglich auf die Ausbreitung bereits bestehender Wüsten bezogen. Zweitens. Damit wird das Phänomen vor allem als Problem der Länder des Südens wahrgenommen. In Wirklichkeit handelt es sich bei der Wüstenbildung aber schon lange um ein globales Umwelt- und Entwicklungsproblem. In erster Linie geht es bei der Wüstenbildung gerade nicht um die Ausbreitung vorhandener Wüsten, sondern vor allem um von Menschen verursachte Landverödung und Bodenerosion durch die Übernutzung von Böden und Wäldern. „Betonwüste“, den Begriff kennen wir alle. Aber wer bringt die Versiegelung von Flächen in Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel? Wer sieht in benachteiligenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Ursachen für den Raubbau an Boden- und anderen Naturschätzen? Übrigens, betroffen sind nicht nur die Länder in den Trockenzonen der Erde. In zunehmendem Maße greifen Landverödung und Bodenerosion auch in Nordamerika und Europa um sich. Mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Desertifikation steht uns seit 1996 ein völkerrechtlich verbindliches Instrument zur Bekämpfung der Wüstenbildung zur Verfügung. Die Konvention hat neben dem Schutz der Böden in Trockengebieten ausdrücklich auch die Bekämpfung der Armut zum Ziel. Armut ist sowohl Ursache als auch Folge von Dagmar Schmidt ({0}) Landverödung und Bodenerosion. In einem nicht enden wollenden Teufelskreis zwingt Existenznot viele Menschen, die natürlichen Ressourcen ihrer Länder um jeden Preis auszubeuten - leider oft zu einem Dumpingpreis. Die damit einhergehende Landverödung schafft Armut und beschleunigt so den Prozess der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Mit dem Aktionsplan 2015 der rot-grünen Bundesregierung wollen wir diese Spirale des Verderbens stoppen. Die Bekämpfung der Wüstenbildung stellt seit langem einen Förderschwerpunkt der Bundesregierung dar. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung fördert derzeit weltweit 250 Vorhaben, davon über die Hälfte in Afrika. Meine Damen und Herren, es gibt eine Chance, Armut durch nachhaltige Entwicklung zu überwinden. Es gibt ein Wissen um den Erhalt von Boden- und Wasserressourcen. Dieses Wissen wird gebündelt im Sekretariat der UNWüstenkonvention in Bonn. Mit der Ansiedlung des Sekretariats hat Deutschland eine besondere Verantwortung in diesem Aktionsfeld übernommen und gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zum Ausbau des Zentrums für internationale Kooperation in Bonn geleistet - eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Land und der Stadt Bonn. Für uns ist es wichtig, neben den bereits ansässigen nationalen und internationalen Organisationen weitere Institutionen, vor allem aus den Bereichen Umwelt und Entwicklung, anzusiedeln. So wird nationale mit internationaler Politik besser vernetzt und werden die hervorragenden Konferenzmöglichkeiten, die Bonn bereitstellt, in Zukunft gesichert. Die Petersberg-Konferenzen zu Afghanistan haben der friedensfördernden Rolle der Bundesregierung, die eng mit dem Standort Bonn verknüpft ist, hohe internationale Anerkennung verschafft. Meine Damen und Herren, trotz aller Unterstützung hat die UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung bisher noch nicht den gleichen Stellenwert wie die Konvention von Rio zum Klimaschutz und zur Biodiversität. Deshalb begrüßen wir es außerordentlich, dass die 6. Vertragsstaatenkonferenz in Havanna im September 2003 beschlossen hat, die Globale Umweltfazilität als Finanzmechanismus für die Konvention anzuerkennen. Dadurch werden bis 2007 internationale Finanzmittel in Höhe von 500 Millionen US-Dollar für Programme gegen Entwaldung und Desertifikation zur Verfügung gestellt. Im Rahmen der Vertragsstaatenkonferenz in Havanna im vergangenen September sind mehr als 100 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus 43 Ländern zusammengekommen. Zwar war die Beteiligung aus Europa insgesamt unzureichend, aber der Deutsche Bundestag war mit einer fünfköpfigen Delegation vertreten. Jetzt ein Lob, das ich wegen der Scheuklappen bei Ihrem Kollegen eigentlich streichen wollte, nun aber trotzdem bringe. Ich kann die Bewertung meines Kollegen Heinrich gestern im Ausschuss, dass wir gerade mit Blick auf die vor uns liegende Konferenz „Erneuerbare Energien“ unser Gewicht als Parlamentarierinnen und Parlamentarier in den jeweiligen Meinungsbildungsprozess einbringen müssen, wie in Havanna in der Frage der Wüstenbildung, nur mit Nachdruck unterstützen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf an dieser Stelle auch Professor Dr. Uwe Holtz für die gute Vorarbeit und Moderation in Havanna danken. Dank für die nach lebendiger Diskussion zustande gebrachte Resolution der Parlamentarierkonferenz! Damit haben wir eine demokratisch legitimierte Grundlage zum Kampf gegen Landverödung und Wüstenbildung gewonnen. Aber vor allem haben wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier uns verpflichtet, in unseren nationalen Parlamenten die Frage der Wüstenbildung zu thematisieren und dadurch zur Bewusstseinsbildung über die globale Bedeutung des Problems der Landverödung und Bodenerosion beizutragen. Wir sind dieser Verpflichtung mit der Einbringung des vorliegenden Antrags und der heutigen Debatte verantwortungsvoll nachgekommen. Wir machen damit deutlich: Armutsbekämpfung, Krisenprävention, gerechte Gestaltung der Globalisierung und nachhaltige Entwicklung bedingen sich gegenseitig und können nur gemeinsam verwirklicht werden. Landverödung, Bodenerosion und Wüstenbildung sind längst nicht mehr weit weg. Romantische Verklärung der Wüsten oder gar Abenteuerlust dürfen den Zusammenhang der Problematik mit unserer Zukunft nicht vernebeln. Ich wünsche mir daher, dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sich dieser Einsicht und unserem Antrag anschließen. Damit könnten wir auch international ein Zeichen setzen, nämlich dafür, dass in Deutschland bei der Bekämpfung der Wüstenbildung alle Kräfte an einem Strang ziehen. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion.

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wüste. - Der weltweite Schutz der Böden ist ebenso wichtig und verdient genauso viel Aufmerksamkeit, wie sie dem Klimaschutz schon eine geraume Weile zukommt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Veränderungsgeschwindigkeit der Böden erheblich höher ist als die des Klimas. Allerdings ist die emotionale Betroffenheit weitaus geringer als bei Epidemien oder Hungersnöten. Durch das Anwachsen der Weltbevölkerung wird der Druck auf die Ressource Boden besonders in den Entwicklungsländern immer stärker. Dies führt zu einer zunehmenden Gefährdung der Ernährungsgrundlage und lässt großräumige Bevölkerungswanderungen erwarten. Auch hier ist Afrika besonders betroffen. Letztlich berührt eine Destabilisierung in den betroffenen Regionen Christa Reichard ({0}) auch die Interessen der Industrieländer, also auch die Deutschlands. Die sicherheitspolitische Relevanz von Wüstenbildung und Bodendegradierung in Entwicklungsländern ist offensichtlich; deshalb fordern wir auch von der deutschen Außenpolitik eine verstärkte Beachtung der sicherheitspolitischen Aspekte der internationalen Umweltzerstörung. ({1}) In Ihrem Antrag erwecken Sie den Eindruck, als begännen wir im Bundestag gerade erst, uns mit diesem Thema zu befassen. Dem ist nicht so. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen hat uns bereits 1994 einen umfassenden Bericht über den weltweiten Zustand der Böden vorgelegt und den dringenden Handlungsbedarf deutlich gemacht. Der Deutsche Bundestag hat sich 1999 und 2000 mit diesem Thema lange und intensiv befasst und mit großer Mehrheit einen Antrag zum grenzüberschreitenden Bodenschutz verabschiedet. Dabei kam dem Kampf gegen die Wüstenbildung und der Unterstützung der Wüstenkonvention selbstverständlich eine besondere und herausragende Bedeutung zu. Meine Vorrednerin hat bereits an die Vertragsstaatenkonferenz 2003 erinnert. Dem Bonner UN-Sekretariat der Wüstenkonvention möchte ich im Namen meiner Fraktion für seine hervorragende Arbeit, die auch im vorliegenden Antrag deutlich wird, ausdrücklich Dank sagen. ({2}) Der vorliegende Antrag lässt bei mir trotzdem noch einige Fragen offen, die ich hier ansprechen möchte. Es beginnt mit der Überschrift: Dort vermisse ich den Bezug zur Bodendegradation in den Entwicklungsländern insgesamt, der uns vor vier Jahren besonders wichtig erschien. Frau Schmidt, Sie haben dies in Ihrer Rede besonders betont. Warum nehmen wir eine Beschränkung vor? Selbst die Wüstenkonvention wurde in den Anhängen für andere Bodenschäden geöffnet. ({3}) - Ich habe die Überschrift angesprochen. Sie soll deutlich machen, was im Antrag steht. Mich interessiert, was die Bundesregierung konkret getan hat, seit die Aufträge des Parlaments von 2000 auf dem Tisch liegen. Die Ausführungen im Bodenschutzbericht der Bundesregierung von 2002 zu den Aktivitäten in den Entwicklungs- und Schwellenländern sind mehr als dürftig und beziehen sich primär auf die Aufzählung der verschiedenen internationalen Konventionen. Das reicht nicht aus! ({4}) Die gute Arbeit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Desertifikation wird in diesem Bericht nicht einmal erwähnt. Liegt das an Abstimmungsproblemen in der Bundesregierung? Nach meiner Auffassung sind Umwelt und Entwicklung zwei Seiten einer Medaille; sie gehören zusammen. Die Vorlage dieses Berichts zum Ende der Legislaturperiode hat sich auf die Befassung im Bundestag ungünstig ausgewirkt. Der Bericht liegt nun ohne Parlamentsbefassung in der Schublade. Eine Bitte an die Bundesregierung: Legen Sie den nächsten Bericht rechtzeitig und vor allem umfassend vor, damit er auch im Parlament genügend Aufmerksamkeit finden kann! ({5}) Eine weitere Frage: Welche neuen Erkenntnisse gibt es inzwischen zu den Wechselbeziehungen zwischen Desertifikation und Bodendegradation, Trinkwasserschutz, Klimaveränderung, Tropenwaldvernichtung, Artenvielfalt, Bevölkerungswachstum und weiteren Faktoren? Ist die Struktur der deutschen Forschung zum globalen Wandel interdisziplinär geworden? Ist die internationale Verflechtung und damit die Problemlösungskompetenz - wie vom Wissenschaftlichen Beirat gefordert seit 1994 gewachsen? Ich schlage vor, dass wir uns vor der Beratung des Antrags in den Ausschüssen erst einmal die noch offenen Fragen zum Thema von der Bundesregierung beantworten lassen. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Ich kann mir bei der Berücksichtigung einiger Anregungen von unserer Seite eine breite Unterstützung durch das Parlament vorstellen. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2408, 15/2396, 15/2395, 15/2335, 15/2465, 15/2469 und 15/2479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/2408 - Tagesordnungspunkt 5 a - soll zusätzlich an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen im Iran - Drucksache 15/2481 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rudolf Bindig, SPD-Fraktion.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit großer Sorge blicken wir in diesen Tagen in Richtung Iran. 25 Jahre, nachdem Ajatollah Khomeini einen Gottesstaat im Iran ausgerufen hat, spitzt sich der Konflikt zwischen reformorientierten und klerikal-konservativen Kräften zu. Aktueller Auslöser ist die Aufstellung der Kandidaten für die Parlamentswahlen am 20. Februar. Alle Kandidatinnen und Kandidaten müssen sich einer Überprüfung durch den klerikal-konservativen Wächterrat unterziehen, der nach islamischen Gesichtspunkten darüber entscheidet, ob sie als Abgeordnete geeignet sind. Durch seine Entscheidung, von den insgesamt 8 200 Bewerbern über 2 000 abzulehnen, versucht der Wächterrat, die Reformkräfte zu schwächen und zugleich den Reformprozess zu stoppen, den der vom Volk gewählte Präsident Chatami und die reformorientierte Mehrheit im Parlament eingeleitet haben. Die klerikal-konservativen Kräfte stützen ihre Machtposition hauptsächlich auf den von ihnen dominierten Wächterrat und das Justizsystem. Die Mitglieder des Wächterrates sind nicht vom Volk gewählt, sondern auf Lebenszeit ernannt. Bereits bei den vorangegangenen Parlamentswahlen 1996 und 2001 hatte der Wächterrat durch die Ablehnung von Bewerbern versucht, die Reformkräfte zu schwächen. Dennoch konnte das reformorientierte Lager seine Position deutlich ausbauen. Auch Präsident Chatami erhielt bei seiner ersten Wahl 69 Prozent und bei seiner Wiederwahl 78 Prozent der Stimmen. Diese Ergebnisse zeigen den starken und gewachsenen Willen der iranischen Bevölkerung und insbesondere der Jugend, das erstarrte politische System zu verändern. ({0}) Inzwischen haben sich allerdings Enttäuschung und Ernüchterung im Land breit gemacht. Intellektuelle, Studenten, Frauen und Jugendliche zweifeln an der Reformierbarkeit des Systems durch die Teilnahme am politischen Prozess und an Wahlen. Der Grund liegt darin, dass das Parlament zwar Reformgesetze beschließen kann, jedoch alle Gesetze der Bestätigung durch den Wächterrat bedürfen; und dieser hat seine Macht intensiv genutzt. Etwa 80 Prozent aller Gesetzesvorschläge des Parlaments sollen zurückgewiesen worden sein. Kein Wunder, dass dies bei der Bevölkerung und bei den Wählern zu Enttäuschung und Ernüchterung geführt hat. Wie soll man für Wahlen und für politische Inhalte eintreten, wenn die gewählten Gremien und sogar der gewählte Präsident an einem erzkonservativen Klerus scheitern, der nicht gewählt ist, aber faktisch unangefochten seine Macht ausübt? Der Wächterrat hat selbst die Empfehlung des geistigen Oberhauptes Chamenei unbeachtet gelassen, bei der Zulassung von Kandidaten davon auszugehen, dass bei den bisherigen Abgeordneten die politische und islamische Eignung zu vermuten sei. Trotzdem hat der Wächterrat die erneute Kandidatur von mehr als 80 Abgeordneten nicht zugelassen. Bei der Auseinandersetzung zwischen Reformern und Konservativen geht es mittlerweile um einen Kampf zwischen unvereinbaren politischen Systemen. Dies wird deutlich, wenn ein Abgeordneter aus dem Reformerlager sagt: Die Konservativen im Wächterrat wollen den hässlichen Körper der Diktatur mit dem schönen Gewand der Demokratie bedecken. Umgekehrt behaupten konservative Geistliche, dass die demokratischen Institutionen des Parlaments bereits wieder von Feinden der islamischen Revolution beherrscht würden; dies müsse beendet werden. Der konservative Klerus sieht die Feinde der Revolution aber nicht nur im Parlament. Auch an den Universitäten, in Verlagen und Zeitungsredaktionen, in Anwaltskanzleien und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen werden Befürworter der Reformpolitik verfolgt. Ihr einziges Vergehen ist oft, dass sie ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit wahrnehmen. Viele von ihnen wurden verhaftet und wegen Gefährdung der Sicherheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Für alle, die mit ihrer kritischen Haltung gegenüber den radikal-islamischen Kräften innerhalb des Regierungssystems in ständiger Bedrohung leben, ist die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Menschenrechtsverteidigerin Schirin Ebadi ein Zeichen der Anerkennung für ihren Mut. ({1}) Tief besorgt verfolgen wir die Entwicklung in den letzten Tagen. Die Wahlen am 20. Februar sollen durchgeführt werden, obwohl rund 2 000 Kandidaten ihr passives Wahlrecht genommen wurde, darunter auch prominenten und erfahrenen Abgeordneten. Bei den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der Revolution hat Präsident Chatami davor gewarnt, die Demokratie unter dem Deckmantel des Islam zu untergraben, und gelobte, den Reformprozess trotz aller Widerstände voranzutreiben. Eine Trennung von Religion und Politik lehnte aber auch er ab. Es bleibt also unklar, ob und wie der Reformprozess in Iran künftig gestaltet werden kann. Er ist bereits bisher an den Strukturen und Widersprüchen des Systems weitgehend aufgelaufen. Auch die Parteien des Reformlagers verfolgen unterschiedliche Strategien: Die Parteien des Präsidenten und des Parlamentspräsidenten wollen an den Wahlen trotzdem teilnehmen. Dagegen will die vom Präsidentenbruder geführte Islamische Partizipationsfront die Wahlen ebenso boykottieren wie die Organisation der Kämpfer für die Revolution. Wir deutsche Abgeordnete, die wir in freien Wahlen gewählt worden sind, sehen die politische Entwicklung in Iran, die Behinderung der politischen Arbeit der Abgeordneten sowie die Einschränkung des passiven Wahlrechts nach religiösen Kriterien mit tiefer Sorge. Der Deutsche Bundestag hat sich erst unlängst mit der Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ dazu verpflichtet, bedrohten Kolleginnen und Kollegen beizustehen. Dies tun wir auch gerne und überzeugt für die iranischen Parlamentskandidatinnen und -kandidaten. Bereits in der Frühphase des Konfliktes haben die MitRudolf Bindig glieder der Deutsch-Iranischen Parlamentariergruppe des Bundestages den streikenden Abgeordneten ihre Solidarität bekundet und sie in ihrem Anliegen auf freie Wahlzulassung unterstützt. ({2}) Wir haben den Wächterrat aufgefordert, das elementare demokratische Recht, sich zur Wahl zu stellen, nicht weiter zu behindern. Wir haben dazu aufgerufen, dass Iran seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt, denn mehrere internationale Konventionen, die er ratifiziert hat, garantieren das freie Wahlrecht, das aktive wie das passive. Auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die freie Zulassung aller Bewerber zu den Wahlen gefordert. Heute wollen wir nun in einer gemeinsamen Entschließung aller Fraktionen unsere Auffassung unterstreichen, dass Iran nur mit einem Parlament, das den positiven Willen der Bevölkerung unverfälscht repräsentiert, die schwierigen Herausforderungen meistern kann, die vor ihm liegen. Neben dem allgemeinen und gleichen aktiven Wahlrecht ist dafür ein volles passives Wahlrecht erforderlich. Wir erwarten von den iranischen Autoritäten, dass sie die einschränkenden Entscheidungen korrigieren und alle Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl zulassen. Dieser Appell kommt einmütig aus dem ganzen Hause. Wir hoffen, dass er Gehör findet. Zumindest soll er zeigen, dass der Deutsche Bundestag eine klare Position für die Grund- und Menschenrechte im Iran bezieht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass die iranischen Autoritäten den Appell des Bundestages verärgert als, wie sie sagen werden, Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückweisen werden. Vielleicht verweisen sie auch noch darauf, dass es völlig verfassungsmäßig gewesen sei, dass der Wächterrat von den 8 000 Kandidaten für die Parlamentswahl mehr als 2 000 endgültig ausgeschlossen hat, darunter auch 82 Mitglieder des derzeitigen Parlaments. Aber die iranische Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi verweist in einem „Stern“-Interview darauf: Der Wächterrat wurde ins Leben gerufen, damit er die Wahlen beaufsichtige und politische Einmischung in die Kandidatenauswahl verhindere. Anschließend hat ein konservatives Parlament jenes Gesetz verabschiedet, mit dem der Wächterrat jeden Kandidaten einfach von Wahlen ausschließen kann. Aber dieses Gesetz steht im Widerspruch zum Geist unserer Verfassung. Entweder es gibt freie Wahlen und jeder kann wählen, wen er will, oder das Ergebnis ist nicht respektabel. Nahezu wörtlich dieselbe Auffassung hat Großayatollah Hossein Ali Montazeri vertreten, immerhin selbst einer der Väter der iranischen Verfassung. In einem Interview mit der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ stellt er darüber hinaus fest: Folglich haben wir heute anstelle von freien Wahlen eine Auswahl, die von einer einzelnen Fraktion des Wahlwettbewerbs durchgeführt wurde. Dies alles ist illegal und gegen die Verfassung. Es ist also keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Irans, wenn der Deutsche Bundestag diese inneriranische Kritik aufgreift und die Vorgehensweise der iranischen Autoritäten nicht einfach auf sich beruhen lässt. ({0}) Dies gilt insbesondere für die Ablehnung unserer Kolleginnen und Kollegen im iranischen Parlament, denen nicht nur eine erneute Kandidatur verboten wurde, sondern die darüber hinaus auch noch befürchten müssen, wegen ihrer Rücktrittserklärung kriminalisiert zu werden. Sie hätten damit, so heißt es, eine religiöse Sünde begangen. Aus dem Justizministerium wird dafür bereits die Todesstrafe gefordert. Die Verabschiedung unseres gemeinsamen Antrages ist das Mindeste, was wir für diese Kolleginnen und Kollegen tun können. Ich denke, wir alle erwarten auch von der Bundesregierung, dass sie hier die weitere Entwicklung nicht nur mit größter Aufmerksamkeit beobachtet, sondern auch alles in ihren Kräften Stehende tut, um diese Parlamentarier wenigstens vor weiterer politischer Verfolgung zu schützen. ({1}) Nach diesen Vorkommnissen wird man von Wahlen im Iran, die diesen Namen verdienen, erst wieder sprechen können, wenn sie unter internationaler Aufsicht der Vereinten Nationen stattfinden. Auf was müssen wir uns in der Zukunft einrichten? Mit der Manipulation der Wahlen wird keines der drängenden Probleme des Irans gelöst. Im Gegenteil: Die Lösung wird erschwert, weil das demokratische Element in der iranischen Verfassung weiter geschwächt wird. Die notwendige allgemeine Aufbruchstimmung zur Überwindung der tiefen wirtschaftlichen Stagnation und zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere der Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen, lässt sich so nicht erzeugen. Im Gegenteil: Die schon heute zu beobachtende Apathie wird zunehmen. Das ist kein gutes Klima für Investitionen aus dem Ausland, auf die der Iran so dringend angewiesen ist. Zu befürchten ist, dass die Presse- und Meinungsfreiheit weiter unter Druck gerät, dass weiter unliebsame Zeitungen geschlossen werden, diesmal aber auf lange Zeit, weil es keine Regierungsstelle mehr geben wird, die eine Neueröffnung erlaubt. Der Justizapparat wird nicht mehr durch gewählte Regierungsvertreter gemäßigt werden. Für die Menschenrechte im Iran befürchte ich deshalb erhebliche Verschlechterungen. Außenpolitisch wird der Iran weiterhin grundsätzlich an Stabilität in Afghanistan und im Irak interessiert bleiben und insoweit seine bisherige durchaus konstruktive Rolle nicht verändern. Gleiches dürfte für die Nuklearpolitik gelten. Schließlich hat der Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Rowhani, die iranische Zustimmung zum Ergänzungsprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag selbst verhandelt. Rowhanis Einfluss dürfte ja nach dem 20. Februar 2004 eher weiter wachsen. Es könnte sogar sein, dass die so genannten pragmatischen Konservativen vorsichtig auf eine Verbesserung des Verhältnisses zu den USA hinarbeiten. Das läge auch in unserem Interesse. Deshalb sollte die Bundesregierung sondieren, ob und inwieweit sie dabei behilflich sein kann. Damit bin ich bei ein paar Schlussfolgerungen für die deutsche Politik. Präsident Chatami hat die bevorstehenden Wahlen wiederholt als unfair kritisiert. Die Friedensnobelpreisträgerin Ebadi ist deutlicher geworden und hat gesagt, dass das kommende Parlament unter diesen Umständen keine Legitimation besitzen wird. Das muss auch in der Art und Weise unserer künftigen Kontakte seinen Niederschlag finden. Natürlich werden wir auch in Zukunft mit Abgeordneten des Madschlis sprechen; wir tun dies ja auch mit Mitgliedern anderer Parlamente, die nicht aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen sind. Aber gleichzeitig müssen wir die Kontakte zu Vertretern von Gruppen außerhalb des Parlaments intensivieren, wenn wir uns ein realistisches und repräsentatives Bild von der Lage im Iran machen wollen. ({2}) Die Gesprächsthemen werden sich nicht verändern. Wir bleiben an guten deutsch-iranischen Beziehungen interessiert und wollen sie in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht weiter ausbauen. Aber wir behalten auch die schwierigen Themen auf der Tagesordnung: die Lage der Menschenrechte, das Thema Massenvernichtungswaffen, den Nahost-Friedensprozess und die iranische Haltung dazu sowie das Thema Terrorismus; es wirft schließlich viele Fragen auf, dass nach einer Meldung in der „Zeit“ diese Woche ein Treffen der Hisbollah, des Islamischen Dschihad, der Hamas und des Ansar al-Islam im Iran stattfindet. Nein, wir dürfen nicht den Eindruck aufkommen lassen, als würden wir über unsere Sicherheitsinteressen das Reformverlangen vergessen. Denn die Erfahrung hat uns gelehrt, dass ohne Demokratie und Menschenrechte auch unsere Sicherheitsinteressen nicht dauerhaft gewahrt werden können. ({3}) Nicht zuletzt deshalb hat die Europäische Union auf ihrem Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 festgeschrieben, dass Fortschritte in den Verhandlungen über das Handels- und Kooperationsabkommen wechselseitig von Fortschritten im politischen und im Menschenrechtsdialog abhängig sind. An diesem Grundsatz gilt es festzuhalten. Nach den Ereignissen, die uns zur Verabschiedung des vorliegenden Antrages veranlasst haben, möchte ich hinzufügen: Jetzt erst recht! ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/ Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute erheben wir hier gemeinsam - ich betone: gemeinsam - die Stimme, um unsere Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen im iranischen Parlament kundzutun, die eine ganz zentrale Forderung haben: freie und faire Wahlen, die in jeder Demokratie eine Selbstverständlichkeit sein müssen, freie und faire Wahlen, die die Weltöffentlichkeit und vor allem die überwältigende Mehrheit der Iraner und Iranerinnen von ihrer Republik erwarten. Der Wächterrat hat mit einer unglaublichen Dreistigkeit und Unverschämtheit Tausende Bürger - darunter auch amtierende Parlamentarier - ausgeschlossen. Der Wächterrat, der sich nie dem Votum der Wähler stellen muss, verkündet, die Wahllisten seien endgültig und die Fristen für Änderungen abgelaufen. Die Vorgehensweise des Wächterrats bedeutet, Wahlen durch Vorsortieren zu manipulieren und das passive Wahlrecht komplett außer Kraft zu setzen. Ein Parlament, das auf diese Weise zustande kommt, wird mit dem Makel der offensichtlichen Manipulation leben müssen. Das vom Wächterrat auf dem Schachbrett ersonnene Parlament kann nur als dessen Marionette agieren. Präsident Chatami hat trotz seiner Kritik am Verfahren die Durchführung der Wahlen angekündigt. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, noch kann man Fehler korrigieren, weil es um sehr viel geht. Eine Verschiebung des Wahltermins und die Garantie von freien Wahlen wären die wichtigste Voraussetzung, damit die Menschen im Iran überhaupt einen Grund haben, wählen zu gehen. Es ist eine bittere Erfahrung für die meisten Iraner, erleben zu müssen, dass der Wächterrat gerade die Abgeordneten ausschließt, die vor vier Jahren mit überwältigenden Ergebnissen ins Parlament gewählt wurden. Die Resignation und die Abwendung der Bevölkerung von ihrem hoffnungsvoll ins Amt geschickten Präsidenten und das Desinteresse an den Auseinandersetzungen zwischen den Reformern und den totalitären Kräften sind nachvollziehbar. Der jungen iranischen Gesellschaft kann man aber nicht vorwerfen, dass sie zulässt, dass eine solche Entrechtung stattfindet; denn Chatami hat in mehreren Konfliktfällen nicht auf Rückendeckung der Bevölkerung, sondern auf Konsens mit Claudia Roth ({0}) konservativen Machtmonopolisten gesetzt. Mit seiner Nachgiebigkeit hat er bisweilen den Machthungrigen Appetit auf mehr gemacht. Positiv bleibt, dass die Auseinandersetzungen um Reformen nachhaltige Spuren im politischen und demokratischen Bewusstsein der Iraner hinterlassen haben. Der Wächterrat kann ein ihm genehmes Parlament installieren; aber dieses öffentliche Bewusstsein und diese Sensibilität können nicht rückgängig gemacht werden. Er hat es mit einer wachgerüttelten, aufmerksamen Öffentlichkeit zu tun, die dringende Antworten auf ihre Probleme erwartet. Er hat es mit einer Zivilgesellschaft zu tun, die wir kraftvoll unterstützen müssen. Sicherlich wird unsere heutige Debatte, wie Ruprecht Polenz gesagt hat, in einigen Medien Irans als unzulässige Einmischung bewertet und beschimpft. Die Islamische Republik hat die Regeln des friedlichen Zusammenlebens und die von ihr ratifizierten Konventionen und Abkommen einzuhalten. Geschieht dies nicht, ist es unsere Pflicht, es zu fordern und anzusprechen, also uns im Sinne der Umsetzung von Konventionen positiv einzumischen. ({1}) Der Iran wähnt sich, wie wir wissen, in der weltweiten Antiterrorkoalition. Aber den Lippenbekenntnissen der iranischen Staatsführung müssen Taten folgen, indem sie zum Beispiel alles tut, um die Serienmorde in den 90er-Jahren und den Mord an der iranisch-kanadischen Journalistin Zahra Kazemi aufzuklären, und indem sie eine Gedenktafel für die Mykonos-Opfer in Berlin-Wilmersdorf nicht als Beleidigung diffamiert. Unüberhörbar sind in diesen Tagen die Signale der iranischen Autoritäten, dass sie in Zukunft außen- und regionalpolitisch den sicheren Kantonisten abgeben wollen. Das können wir aber zum Preis von Unterdrückung und Verhinderung der Demokratisierung im Inneren nicht akzeptieren. Wir werden nach diesem Putsch gegen das Parlament - so wird es im Iran bezeichnet - allem Anschein nach Gesprächspartner haben, die auch Regierungsmacht haben. Aber das Ziel mancher iranischer Machthaber, eine Spaltung der internationalen Gemeinschaft, wird nicht erreicht werden. Wir begrüßen jede Entspannung in den iranisch-amerikanischen Beziehungen und hoffen, dass auch die USA die Möglichkeit erhalten und wahrnehmen werden, in direkten Kontakten mit dem Iran die Bedeutung und Universalität der Menschenrechte zu betonen. ({2}) Nicht nur Menschenrechtler haben negative Erfahrungen mit Staaten gemacht, die sich außenpolitisch zwar einbinden lassen, innenpolitisch aber jegliche Demokratisierung brutal und schamlos verhindern. Ein erweiterter Sicherheitsbegriff - er ist die Basis unseres EU-Iran-Dialogs - schließt die Hinnahme und Duldung von Menschenrechtsverletzungen sowie die Einschränkung bürgerlicher politischer Freiheitsrechte aus. Darauf werden wir als Parlament und Regierung achten - in Anteilnahme im Blick auf die Menschen im Iran und ihr Streben nach einer demokratischen Gesellschaft und in Sorge um die Sicherheit und Stabilität im Nahen und Mittleren Osten. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning, FDP-Fraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir fordern hier heute alle gemeinsam die Zulassung aller Kandidatinnen und Kandidaten zu den Wahlen im Iran. Ich denke, von hier geht ein wichtiges Signal aus. Es ist zum einen ein Signal der Solidarität sowohl mit unseren Kolleginnen und Kollegen als auch mit all denen, die kandidieren wollen und jetzt nicht kandidieren können. Es ist zum anderen ein Zeichen der Unterstützung für die Kräfte im Iran, die sich für die Demokratisierung einsetzen, die die Demokratie im Iran wollen, die sie fordern und fördern. Es ist sicher auch ein Signal an die Machthaber in Teheran. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir hier betonen - das ist schon mehrfach passiert -: Wir sind an einem ernsthaften Dialog, an einer ernsthaften Zusammenarbeit mit dem Iran interessiert; aber wir sind nicht bereit, hinzunehmen, dass Menschenrechte verletzt werden, dass Frauenrechte mit Füßen getreten werden oder dass die Demokratie im Iran ausgehöhlt wird. Meine Damen und Herren, der Iran bietet ein großes Potenzial für einen wichtigen Dialog. Er bietet ein wirtschaftliches Potenzial für uns und auch für sich selbst. Es kommt darauf an, dass der Iran sich selbst befreit und so seiner eigenen Bevölkerung - darunter 70 Prozent junge Leute, die seine Stärke sind, weil sie über einen hohen Bildungsstandard verfügen und eine große Dynamik verkörpern - eine Chance bietet. Er ist ein sehr interessanter Partner für uns und hat das Potenzial, sich zu entwickeln. Vor allem hat der Iran - das ist noch wichtiger - das Potenzial, eine regionale Ordnungsmacht zu sein. Er hat das Potenzial, im Nahen Osten, in dem er schon sehr lange unterschiedliche Rollen gespielt hat - teilweise sehr gute Rollen -, eine große Rolle für Frieden und für eine stabile Entwicklung zu spielen. Dazu gehört - das ist angesprochen worden -, dass er seine Politik gegenüber Israel endlich ändert. Dazu gehört, dass er die Unterstützung von Organisationen wie der Hisbollah endlich aufgibt. Aber der Iran und wir haben durchaus auch gleich gelagerte Interessen. Im Hinblick auf Stabilität im Irak und in Afghanistan könnte eine Kooperation sicherlich einiges Gutes bewegen. Es liegt also sowohl im deutschen als auch im europäischen Interesse, dass sich der Iran stabil entwickelt. Dazu gehört, dass er endlich die Menschenrechte respektiert, dass er Journalisten nicht mehr verfolgt, umbringt oder ins Gefängnis sperrt, dass die Meinungen frei geäußert werden können. Dazu gehört, dass die Frauenrechte respektiert werden, dass die Demokratie nicht mehr ausgehöhlt wird und dass endlich alle Kandidaten zu dieser Wahl zugelassen werden. Wir sollten versuchen, den konstruktiven und kritischen Dialog mit dem Iran fortzusetzen, aber auch von hier aus ein klares Signal senden: Wir sind an dem Dialog interessiert, werden ihn aber nicht um jeden Preis fortsetzen. Wir werden auf dem Thema Menschenrechte und auf dem Thema Demokratie bestehen und sie immer wieder ansprechen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Holger Haibach, CDU/CSU-Fraktion.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweimal hat sich der Deutsche Bundestag im letzten Jahr mit dem Schicksal verfolgter und inhaftierter Parlamentarier beschäftigt. Im Juni haben wir einstimmig eine Resolution zur sofortigen Freilassung der burmesischen Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi beschlossen. Am 12. Dezember - Herr Kollege Bindig hat darauf hingewiesen - haben wir anlässlich der Debatte zum Tag der Menschenrechte ebenfalls einstimmig im Rahmen der Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ unserer Sorge über die Situation verfolgter Abgeordneter Ausdruck verliehen und dabei in großer Zahl eine Petition zugunsten der in der Türkei inhaftierten Kurdin Leyla Zana unterzeichnet. Heute haben wir es nicht mit Einzelfällen von Verfolgung oder Behinderung von Parlamentariern zu tun. Mit dem Ausschluss von über 2 000 Kandidaten - 82 von ihnen bereits Abgeordnete - von den Parlamentswahlen, die jetzt wohl am 20. Februar im Iran stattfinden, werden in einem bisher nicht bekannten Maße nicht nur passive Wahlrechte eingeschränkt. Vielmehr wird ein gesamtes Volk an der Ausübung seiner demokratischen Rechte gehindert. Sicherlich hat es im Iran bereits im Vorfeld der vorangegangenen Parlamentswahlen bei der Zulassung von Kandidaten zwischen dem Wächterrat, dem Parlament und der Regierung von Präsident Chatami immer wieder Auseinandersetzungen gegeben. Neu ist allerdings ihre Qualität. Der Wächterrat ist ganz offensichtlich nicht bereit, die Zulassung aller Kandidaten ernsthaft zu erlauben. Die Regierung hat ebenso offensichtlich resigniert. Präsident Chatami hat erklärt, die Wahlen zwar durchführen zu wollen. Er erwartet aber keine freien und fairen Wahlen, die demokratischen Standards entsprechen. Wenn wir als in vielerlei Hinsicht privilegierte Abgeordnete unserer Verpflichtung gerecht werden wollen, andere, die eben nicht über diese sichere Rechtsstellung verfügen, zu schützen, dürfen wir diese Vorkommnisse im Iran nicht kommentar- und schon gar nicht tatenlos passieren lassen. ({0}) Deshalb begrüßen wir, die CDU/CSU, es ausdrücklich, dass es gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag des gesamten Hauses vorzulegen. Wir verurteilen die Geschehnisse im Iran und fordern die zuständigen Gremien auf, Wahlen durchzuführen, die demokratischen Anforderungen genügen und die den Namen Wahl auch tatsächlich verdienen. ({1}) Die Folgen der jetzigen Ereignisse für den gerade aus menschenrechtlicher Sicht so wichtigen Reformprozess sind kurz- und auch langfristig verheerend. Kurzfristig zeigen Umfragen bereits jetzt, dass nur noch etwa 20 Prozent aller Wahlberechtigten an den bevorstehenden Wahlen überhaupt teilnehmen wollen. Insbesondere diejenigen, die die Reformen vorantreiben wollen, werden die Wahlen boykottieren. Langfristig werden die reformorientierten Kräfte innerhalb der offiziellen iranischen Politik - dies geschieht auch jetzt schon - die anfänglich begeisterte Unterstützung verlieren. Dies wiederum hat Folgen, die weit über den aktuellen Anlass hinaus reichen; Kollege Polenz hat bereits darauf hingewiesen. Die Wahlen am 20. Februar dieses Jahres werden in den Augen sowohl der Weltöffentlichkeit als auch der Iraner diskreditiert. Der Reformprozess im Iran erleidet einen herben Rückschlag. Der Zorn der Bevölkerung richtet sich nicht nur gegen die Beharrungskräfte, sondern auch gegen diejenigen, die nicht in der Lage zu sein scheinen, die Reformen voranzutreiben. Dadurch verlieren die so genannten Reformer ihre wichtigste Unterstützungsbasis. Schließlich werden die gesellschaftspolitischen Gegensätze, die über die eigentliche Frage der Wahlen noch weit hinausgehen, weiter verschärft. Aus menschenrechtlicher Sicht, aber auch aus originärem deutschen und europäischen Interesse kann und darf es im Deutschen Bundestag nicht bei Lippenbekenntnissen und Resolutionen bleiben. Eine weitere Destabilisierung der Nahostregion muss aus menschenrechts-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Perspektiven verhindert werden. Hierbei ist die Situation im Iran von wirklich entscheidender Bedeutung. Deshalb gilt es, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um auf die Durchführung von tatsächlich freien und geheimen Wahlen im Iran zu drängen. Deutschland hat dazu auf bi- wie auch auf multilateraler Ebene vielfältige Möglichkeiten. Hier nenne ich den schon angesprochenen Menschenrechtsdialog der Europäischen Union und die Zusammenarbeit in den Bereichen Polizei und Justiz. ({2}) Meine Fraktion fordert die Bundesregierung nachdrücklich auf, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen und sich für die Einhaltung der demokratischen Regeln im Iran einzusetzen. Gestern, am 11. Februar, wurde im Iran der 25. Jahrestag der Revolution begangen. Das Land sollte dieses Datum nicht verstreichen lassen, ohne die Chance zu nutzen, zur politischen und sozialen Stabilisierung der ganzen Region beizutragen. Wir sollten unsererseits hier und heute gemeinsam unserer Verantwortung gerecht werden, Parlamentarier zu schützen und zur Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie im Iran und weltweit beizutragen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 15/2481 mit dem Titel „Zulassung aller Kandidaten und Kandidatinnen zu den Wahlen im Iran“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für eine neue Beteiligungskultur - Eigenkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitarbeiterbeteiligungen verbessern - Drucksachen 15/815, 15/2367 Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Kopp Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Rainer Wend.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU hat selbstverständlich Recht: Die Eigenkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen gibt weiterhin Grund zur Sorge. Es finden sich immer weniger Kapitalgeber, die jungen Unternehmern und Existenzgründern am Standort Deutschland helfen. Forscher und Ingenieure wagen den Schritt in die Selbstständigkeit nicht mehr in dem gewünschten Umfang, weil ihnen die finanziellen Risiken zu groß geworden sind. Nur 40 Prozent der geförderten Unternehmen haben nach dem Start eine Anschlussfinanzierung gefunden. Von daher ist die Zustandsbeschreibung im Antrag der Union nicht völlig falsch. Auch für die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen ist die Mobilisierung von Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen nach wie vor ein wichtiges wirtschaftspolitisches Ziel. Ich sage das deswegen vorweg, weil wir es so vermeiden können, kontrovers über Dinge zu reden, die nicht kontrovers sind. Wir und Sie als Opposition liegen wahrscheinlich auch nicht weit auseinander, wenn ich sage, dass der Beteiligungskapitalmarkt für junge Technologieunternehmen noch immer in einer schweren Krise steckt. Das ist allerdings keine deutsche Besonderheit, sondern ein globales Phänomen in den Industrienationen. Ein großer Teil der Unternehmen, die mit Beteiligungskapital finanziert wurden, ist in Bedrängnis gekommen oder insolvent geworden. Die Beteiligungskapitalgeber haben nicht selten hohe Schäden zu verkraften und sind manchmal nicht mehr in der Lage, Anschlussfinanzierungen zur Verfügung zu stellen. Deswegen überrascht es nicht, dass sich die Kapitalgeber bei neuen Engagements sehr zurückhalten. Entsprechend rückläufig ist bedauerlicherweise auch die Förderung der öffentlichen Hand, die auf die frühen Phasen der Unternehmensentwicklung konzentriert ist und die ein anteiliges Engagement privater Kapitalgeber voraussetzt, was aus den eben genannten Gründen nicht mehr in dem Umfang gegeben ist. Die Gründe für die Krise des Beteiligungskapitalmarktes sind sicherlich vielfältig. Auch nicht tragfähige Geschäftsmodelle gehören natürlich dazu, aber auch enttäuschte Erwartungen, der Verfall bei den Unternehmensbewertungen, die Krise und die Auflösung des Neuen Marktes, die eingetrübte Konjunktur, vor allen Dingen aber die so genannte konservative Geldpolitik der Banken, die über Risikominimierung in anderen Bereichen verlorene Kredite wieder hereinbekommen wollen. In der Zustandsbeschreibung liegen wir nicht weit auseinander. Die Frage ist: Was tun wir in einer solchen Situation? Im Antragd der CDU/CSU werden im Wesentlichen zwei Dinge angeboten: mehr Geld oder mehr Steueranreize. Wenn man sich das im Einzelnen ansieht, gerät man fast - aber natürlich nur fast - in Versuchung, sich wieder nach Oppositionszeiten zu sehnen. Für eine Opposition ist es nämlich leicht, Forderungen aufzustellen, wenn sie für die Finanzierung dieser Forderungen keine Verantwortung tragen muss. Die ganze Sache ist, wie ich finde, allerdings nicht mehr ganz anständig, wenn Sie einer Debatte dem Finanzminister vorwerfen, er sei nicht mehr in der Lage, den Haushalt auszugleichen, bzw. verletzte Maastricht-Kriterien, in einer anderen Debatte einige Stunden später aber massive Forderungen in Bezug auf den Haushalt stellen, die natürlich nicht zu erfüllen sind. Versuchen wir uns also einmal mit dem auseinander zu setzen, was die Bundesregierung real getan hat. Ich finde, das ist eine ganze Menge. Wir begrüßen sehr, dass die Bundesregierung einen Hightech-Masterplan für Innovationen und Zukunftstechnologien im Mittelstand aufgelegt hat. ({0}) Ein Schwerpunkt dieser Initiative ist es, zusammen mit dem Europäischen Investitionsfonds einen neuen Dachfonds für Beteiligungskapital einzurichten. Gemeinsam mit privaten Kapitalgebern wird man in deutsche Beteiligungskapitalfonds für innovative Gründungen und junge, technologieorientierte Unternehmen investieren. Das Kapital wird je zur Hälfte vom ERP-Sondervermögen und vom EIF aufgebracht. Es werden über einen Zeitraum von fünf Jahren von beiden Partnern insgesamt rund 500 Millionen Euro bereitgestellt. ({1}) Die Bundesregierung setzt damit ein Gegengewicht zur momentan stark rückläufigen Bereitstellung von Beteiligungskapital für diese Unternehmen. Ich glaube, das ist ein wichtiger und richtiger Schritt. Technologieförderung wird zudem stärker auf den Bedarf des Mittelstandes ausgerichtet. Dazu wurden Programme zur Förderung von Forschungskooperationen und Vernetzungen zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen noch effizienter gestaltet. Das Programm INNOWATT wird die bisherige FuE-Projektförderung ablösen und die FuE-Unterstützung stärker auf innovative Wachstumsträger konzentrieren. Die Innovationsförderung in den neuen Ländern bleibt ein Förderschwerpunkt. Wir können aber auch heute schon mit einem weiteren Bereich recht zufrieden sein. Experten sind sich darüber einig, dass wir bereits heute bei Ausgründungen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz einnehmen. Die aktuellen schwierigen Rahmenbedingungen führen allerdings auch bei Unternehmensausgründungen zu einem Rückgang. Die Dynamik wurde aus konjunkturellen Gründen gebremst. Um diese Gründungsdynamik wieder steigern zu können, sind eine Reihe von Maßnahmen ergriffen worden. Über die Fördermaßnahme EXIST-Seed wurden in den ersten fünf EXIST-Regionen bisher über 100 Gründungsvorhaben mit mehr als 150 Gründerinnen und Gründern gefördert. Mit der BMBF-Pilotmaßnahme „Erleichterung von Existenzgründungen aus Forschungseinrichtungen“ wurden in den Jahren 2001 bis 2003 viele Ausgründungen realisiert und neue Arbeitsplätze geschaffen. ({2}) Sie sehen daran: Die Bundesregierung ist nicht untätig. Im sachlichen Bereich, wo etwas getan werden kann, passiert etwas. Natürlich spielt auch die Steuerpolitik für die Bereitstellung von Venturecapital eine beträchtliche Rolle. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass wir uns schwer damit tun, in diesem Bereich noch weiter gehende Lösungen zu finden. Sie fordern viel in Ihrem Antrag: Freibeträge bei Stock Options, pauschale Versteuerung des Veräußerungsgewinnes bei Stock Options, Freibeträge mit festem niedrigen Steuersatz für Business Angels und Steuerfreiheit für Business Angels bei Reinvestitionen. Alle diese Dinge sind für sich genommen plausibel. Nur, wenn Herrn Rauen, der heute Morgen in einem Interview im Fernsehen zur Steuerpolitik befragt wurde, auf die Frage: „Wollen Sie denn wirklich alle Ausnahmetatbestände beseitigen?“ antwortet: „Jawohl, wir wollen alle Ausnahmetatbestände beseitigen“, Sie dann aber am Nachmittag einen Antrag stellen, der ein halbes Dutzend neue Steuerausnahmetatbestände vorsieht, dann setzen Sie sich in Widerspruch zu Ihrer eigenen Steuerlinie, meine Damen und Herren. ({3}) Das ist allerdings schon ein Euphemismus; denn die Wahrheit ist natürlich, dass Sie keine eigene steuerpolitische Linie haben. ({4}) Das muss ich zum Abschluss doch noch kurz erwähnen. Sie sagen, Sie hätten in der Union Einigung in der Steuerpolitik erzielt. Die Einigung besteht darin, dass Sie sich nicht geeinigt haben über den Eingangssteuersatz, dass Sie sich nicht geeinigt haben über den Spitzensteuersatz, dass Sie sich nicht darüber geeinigt haben, ob es einen progressiven Verlauf oder einen Stufentarif geben soll, und dass Sie nicht darüber geeinigt haben, welche Ausnahmetatbestände entfallen sollen. Mit anderen Worten: Über die Substanz Ihrer Steuerpolitik besteht bei Ihnen keine Einigung. Ihr Antrag zeigt für mich an einem kleinen Beispiel deutlich, dass Sie hin- und hergerissen sind und nicht wissen, wohin Sie in der Steuerpolitik sollen. Die Bundesregierung ist mit ihren Maßnahmen auf einem guten Weg, der nicht spektakulär ist, aber seine Wirkungen zeigen wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Lieber Herr Wend, jetzt wollen wir es hier einmal in aller Friedlichkeit einzeln aufdröseln. ({0}) Erstens bin ich sehr beglückt über das, worüber wir uns seit Beginn der Debatte immer einig gewesen sind. Wir waren uns einig über den Vorrang von Ausgründungen, welche die einzige Chance für einen wirklich schnellen und effizienten Technologietransfer aus den Instituten darstellen. Wir waren uns auch in der EinDr. Heinz Riesenhuber schätzung der ziemlich miserablen Situation einig. Die Blase am Neuen Markt ist geplatzt. Auch mit sehr viel Optimismus betrachtet, muss man sagen, dass sich der Markt bis jetzt nur ganz zart erholt hat. Schließlich waren wir uns darin einig, dass der Staat zwar nicht alles richten kann, dass er an einigen Stellen aber durchaus tätig werden kann und soll. Nun hatten wir die gemeinsame Hoffnung, dass wir hier gemeinsam etwas erreichen können. In der Debatte von vor etwa acht Monaten haben Sie zu meiner großen Überraschung gesagt, Ihr Wunsch sei es, dass wir in diesem Bereich gemeinsam etwas voranbringen. Wir haben es versucht und haben abgewartet. Uns wurde gesagt, wir müssten auf den Antrag warten, den die SPD vorbereitet. Danach haben Sie uns gesagt, wir müssten leider den Perspektivantrag, der auf dem Parteitag im November gestellt wird, abwarten. Mit der Stellung des Perspektivantrages mussten Sie dann wiederum auf die Innovationsoffensive warten, die jetzt mit großer Kraft rollt. Zu unserer Begeisterung gibt es bereits einen Rat und eine Geschäftsstelle. Die zündende Idee fehlt jedoch noch. Vielleicht kommt die aber auch noch. Herr Matschie, die Eliteuniversitäten scheinen es im Moment nicht zu sein. Wie man es auch dreht: Sie veranstalten hier eine großartige Welle. Es wird aber nichts erkennbar, wodurch die Leute zu einer leidenschaftlichen Sicht in die Zukunft hingerissen würden. Diese Leidenschaft ist zurzeit eher gedämpft. ({1}) Wir haben es also nicht gemeinsam hinbekommen. Schauen wir einmal, was Sie auf der linken Seite des Hauses mit Ihrer großen Kompetenz und Tüchtigkeit getan haben. Die Entwicklung der Gründerei an sich ist schon eine ziemlich schwierige Angelegenheit. - Frau Präsidentin, Sie müssen mir einmal ein Knopflochmikrofon besorgen. Es ist wirklich ein mühsames Geschäft, hier hinter einer Barrikade vor den Kollegen zu stehen und sich zu verteidigen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir halten die Rechte der einzelnen Abgeordneten sehr hoch. Sie sind aber wirklich der Einzige, der ein solches Mikrofon braucht.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sollten auch den Bedürftigen Unterstützung zukommen lassen. ({0}) Es gibt den Bereich der Gründerei insgesamt. In diesem müssen wir noch genauer schauen, was passiert. Friedrich Merz hat heute früh in der Debatte gesagt, dass sich die Zahl der Betriebsgründungen vom vorletzten bis zum letzten Jahr, also von 2002 bis 2003, überhaupt nicht verändert hat; das war wirklich interessant. Die Zahl der öffentlich geförderten Gründungen ist demgegenüber von einem Viertel auf die Hälfte gestiegen. Das muss man erst einmal begreifen. Gibt es einen solch riesigen Einbruch, dass er nur durch öffentliche Subventionen aufzufangen ist? Befinden wir uns in einer Situation, in der es überall zu Mitnahmeeffekten kommt? Die Lage ist seltsam. Im eigentlich entscheidenden Bereich, also bei der Gründung von technischen Innovationsunternehmen, wie es die Bildungsministerin bezeichnet hat, scheint es aber zu dümpeln. Wir haben in einer früheren Debatte schon respektvoll anerkannt, dass wir den 500-Millionen-ERP/EIF-Fonds sehr gut finden. Das ist eine gute Sache. ({1}) - Ich freue mich immer, wenn ich die Regierung loben kann. Selten genug ist es möglich. Deshalb tue ich es umso beglückter. ({2}) Es war vernünftig von Ihnen, das als Dachfonds auszugestalten. Auch die Tatsache, dass die Investitionen durch die private Seite erfolgen sollen, halte ich für gut. Schließlich finde ich es auch gut, dass wir bei der Fondsbesteuerung weitergekommen sind. Der Brief des Finanzministers ist jetzt endlich herausgegangen. In ihm wird zwischen gewerblichen und vermögensverwaltenden Arbeiten unterschieden. Das ist gut. Dass wir aber hinsichtlich der Carry-Besteuerung noch nichts geregelt haben - dies ist nur für die Altfälle bis November des vergangenen Jahres der Fall -, ist vielleicht etwas weniger befriedigend. Es war schlecht, dass das Ganze zwei Jahre gedauert hat. In dieser Zeit sind eineinhalb Dutzend deutsche Fonds im Ausland und nicht in Deutschland gegründet worden. Wenn man nicht weiß, wie man besteuert wird, dann kommt man doch nicht hierher. Hier verschiebt sich eine Kultur und die Chancen für einen Standort schwinden. - Sie fragen: Wie soll man das bezahlen? Lieber Herr Kollege, in dem Moment, in dem im Ausland ein Unternehmen gegründet wird, verzichtet der Finanzminister auf gar nichts, weil er nichts bekommt. Wenn er in Deutschland die Unternehmungsgründung zulässt, dann hat er die Chance, dass er dieses Unternehmen einmal besteuern kann. ({3}) Nach einer alten Legende soll es ein Gespräch zwischen Michael Faraday und dem Finanzminister gegeben haben. Der Finanzminister fragt Michael Faraday: Warum soll ich Ihre Erfindung bezahlen? Die Antwort von Michael Faraday: Damit Sie sie besteuern können. - Der Finanzminister muss endlich verstehen: Wenn er das Saatgut wegbesteuert, dann bekommt er keine Kartoffeln. Hier passiert Folgendes: Die Chance, dass sich etwas Neues schnell entwickeln kann, wird von der Bundesregierung nicht ergriffen. Ich weiß schon, dass in dieser Sache alle Finanzminister eigen sind; auch bei anderen Regierungen war das immer schwierig. Aber dass wir uns in dieser Situation, in der wir die Not sehen, alle einig sind und die Chance nicht ergreifen, ist ärgerlich. Bei den Aktienoptionen sind wir überhaupt nicht weitergekommen. Dazu fällt mir gar nichts mehr ein. Ich erinnere daran, wie Ihre Staatssekretärin in der vergangenen Legislaturperiode voller Begeisterung davon gesprochen hat, dass die Aktienoption kommen wird, weil sie notwendig ist. Hinsichtlich der Business Angels finde ich es prima, dass Sie auf dem SPD-Parteitag mit List und Tücke in Ihren Perspektivantrag eine Zeile hineingebracht haben - die meisten haben das wahrscheinlich gar nicht bemerkt -, wonach die Wesentlichkeitsgrenze für Veräußerungsgewinne bei Beteiligungen in Wagniskapitelfonds wieder auf 10 Prozent angehoben werden sollte. Jetzt machen Sie etwas aus diesem Parteitagsbeschluss! Ich baue darauf, dass Sie jetzt eine kraftvolle Initiative starten. ({4}) Herr Müntefering als zukünftiger Parteivorsitzender in neuer Pracht und Herrlichkeit hat schon vor einem Jahr begeistert über Technik gesprochen. Er soll die Sache nun richten und mit seinen großartigen Eigenschaften, die wir alle sehr bewundern, entschlossen umsetzen. Es ist eines der gängigen Probleme, das etwas beschlossen, aber nicht umgesetzt wird. Alle gebildeten Leute zitieren heute Kant, weil es sich so gehört. Ich möchte einen anderen großen deutschen Philosophen, den ich sehr verehre, zitieren. Karl Valentin hat gesagt: Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns leider nicht getraut. - Wir haben hier eine schöne Fülle von Ankündigungen erlebt. Sie fragen: Wer soll all das bezahlen? Glücklicherweise haben wir einen Masterplan. Das BMBF, das hier in leiblicher Gestalt des Herrn Matschie unter uns weilt, hat bereits vor einem Jahr einen ersten Entwurf des Masterplans mit dem wunderbaren Titel „Higtech-Masterplan für neue Arbeitsplätze durch Gründung und Wachstumsförderung junger Innovationsunternehmen“ vorgelegt. Alles, was gut und teuer ist, ist bereits im Titel enthalten. Die Idee beinhaltete auch einige softe Geschichten. Jetzt möchte ich einmal wissen, was aus den wirklich harten Geschichten geworden ist. Herr Wend, dieser Plan enthielt auch Regelungen zur Besteuerung. Der große Hammer war, dass die Steuern für junge Innovationsunternehmen, also die Körperschaftsteuer und andere Unternehmenssteuern, in den ersten acht Jahren nach der Gründung auf null gesetzt werden sollten. Die Forderung war, dass die Fonds, die diesen Unternehmen in den ersten beiden Jahren Kapital zur Verfügung stellen, ihre Veräußerungsgewinne aus diesen Beteiligungen nicht versteuern müssen. Die Mitarbeiter dieser Unternehmen sollten Aktienoptionen als Teil ihres Gehaltes nicht versteuern müssen. Das war ein wunderbares und vielfältiges Konzept. Dies ist aber in dem neuen Masterplan überhaupt nicht vorhanden. Sie haben eine Grundsatzdebatte angefangen, die ich gerne aufgreife. Sie haben uns vorgeworfen: Wie könnt ihr am Vormittag den Abbau von Präferenzen verlangen und am Nachmittag Steuersubventionen fordern? Lieber Herr Wend, eine schlichte Wahrheit ist hier offenkundig: Es ist viel leichter, alle Steuersubventionen abzuschaffen als nur einige. Wenn Sie einige Subventionen abschaffen, wird in der Debatte immer die Frage gestellt: Warum trifft es ausgerechnet mich? ({5}) Das, was Friedrich Merz hier vorgeschlagen hat und was wir genauso majestätisch wie Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben, ist nichts anderes als die Aussage: Schaffen wir alle Ausnahmen ab! Ich bin gerne bereit, alles zu streichen, was das Steuersystem für neue Unternehmen an Präferenzen enthält. Dann würden sie nämlich niedrig besteuert und wären frei von Bürokratie. Was aber nicht möglich ist, ist, ein System, das alle möglichen Präferenzen für irgendwelche alten Techniken wie Steinkohle oder Containerschiffe enthält, zu subventionieren und neue Techniken davon auszunehmen. Wir hatten vor 15 Jahren - da hat noch eine andere Regierung amtiert; ältere Leute erinnern sich ({6}) einen erheblichen Streit. Damals hieß es: Freunde, andere Länder arbeiten mit Tax Credits für Forschung. Das heißt, die Firmen können ihre Forschungsausgaben zu mehr als 100 Prozent von der Steuer absetzen. Dies ist eine großartige Geschichte, die auch dem Mittelstand enorm hilft. Damals hat man uns gesagt: Freunde, schafft keine Ausnahmetatbestände. Wir werden alle Steuern senken. - Seit 15 Jahren haben wir diese Debatte. 1997 haben Sie unseren Vorschlag abgeschossen. ({7}) Wenn wir alle Subventionen abschaffen und das MerzModell durchsetzen, dann ist das prima. Wir dürfen nicht nach wie vor alle möglichen „alten Hüte“ subventionieren, sondern wir müssen die Zukunftschancen für junge Unternehmen nutzen. Ich komme zu meinem letzten Punkt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Aber Sie achten auf die Zeit, ja?

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin schon beim Schlusswort. Zur Verkürzung der Zeit übernehme ich das prächtige Schlusswort des Kollegen Brandner. Er hat nämlich am Schluss seiner großartigen Rede, die wir alle bewundert haben, gesagt: Macht den Weg frei! Schafft die Steine aus dem Weg! - Das hat er zu uns gesagt. Es fiel ihm nicht mehr ein, dass er selber regiert. Die Idee, dass er regiert und er die Aufgabe hat, den Laden voranzubringen, ist wirklich ein origineller Einfall, den man gelegentlich ins Körbchen unserer verehrten Koalition setzen sollte, damit sie mit fröhlichem Unternehmungsgeist etwas tut und nicht nur redet. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn. Er wird vermutlich Immanuel Kant zitieren.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man einmal, Herr Riesenhuber, nüchtern hinschaut, dann muss man doch feststellen, dass systematisch und auch gut überlegt Schritt für Schritt die Bedingungen für die Innovationsfinanzierung verbessert werden. Es gibt eine breite Innovationsdiskussion, die an der einen oder anderen Stelle noch konkreter werden muss; das ist logisch. Sie braucht vor allem Ziele und eine Richtung, wohin das Innovationsgeschehen gehen soll, und es gibt Instrumente der Finanzierung, die systematisch aufgebaut werden. Der Dachfonds ist übrigens nichts, was man mit einer riesenhuberschen Verbeugung wegwischen kann, sondern das ist ein Riesenhammer. ({0}) Das ist etwas, was die innovativen Betriebe voranbringen wird, weil jetzt leicht die Möglichkeit besteht, an Mittel zu kommen, und auch private Beteiligungen in den Fonds eingehen. Das belebt die Szene. Die Regierung hat das ordentlich gemacht und damit ist jetzt ein Einstieg geschaffen. ({1}) Dass wir vermögensverwaltende und gewerbliche Fonds gut abgrenzen, hilft. Das war eine Frage, die die Unternehmen immer an uns herangetragen haben. Die ist jetzt geklärt. Auch bei den Carried Interests sind wir bis zum Jahr 2005 in der Übergangsregelung weiter. Ich glaube, dass wir auch über 2005 hinaus eine gute Regelung finden werden. Ich finde, dass hinsichtlich der Seed Fonds noch mehr getan werden muss. Es geht um die Phase, in der ein innovatives Unternehmen den Prototyp eines Produktes oder einer Dienstleistung entwickelt. In dieser Phase sind die Finanzierungen besonders schlecht, übrigens nicht zuletzt, weil sich unsere Banken, private wie öffentlich-rechtliche, zu stark aus der Finanzierung zurückgezogen haben. Während sie früher in dem einen oder anderen Fall zu leichtfertig waren, sind sie jetzt überkritisch geworden. Die Sparkassen nehmen damit ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag, der in den Sparkassengesetzen formuliert ist, oft nicht richtig wahr. Richtig ist natürlich, dass sich die Unternehmen bis zu der Phase der Entwicklung eines Prototyps schwer tun. Deswegen ist mir die Formulierung, die ich von der Bundesregierung gehört habe, nämlich dass man prüfen will, wie man einen Seed Fonds auflegen will, zu schwach. Ich bin mit unserer Fraktion der festen Überzeugung, dass der Bundesfinanzminister - richten Sie ihm das aus! - die Passivität aufgeben muss. Es wäre schon eine große Hilfe, wenn beispielsweise ein Seed Fonds für 5 bis 6 Jahre mit einem Volumen von 250 Millionen Euro aufgelegt würde. Man könnte mit 10 Millionen bis 15 Millionen Euro in diesem Jahr beginnen und viel Positives bewirken. Wir werden seitens meiner Fraktion darauf drängen, dass ein solcher Seed Fonds aufgelegt wird. Ich komme jetzt auf die Frage der steuerlichen Regelungen zu sprechen, die noch strittig ist, und zwar - wenn ich das richtig sehe - in allen Fraktionen. In diesem Zusammenhang waren Ihre Auslassungen schwach, Herr Riesenhuber, weil Sie im Kern zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie nicht an das Merz-Konzept glauben. Das ist eine erstaunliche Einstellung. Sie haben einerseits ausgeführt, dass sich im Falle der Umsetzung des Merz-Konzepts und des Wegfalls aller Subventionen Ihre Forderungen erledigen würden, ({2}) aber Sie gehen andererseits offensichtlich davon aus - ich hoffe, dass Ihnen Ihr Fraktionsvorstand und Herr Merz das nicht übel nehmen -, dass die Merz-Vorschläge nur zum Spaß gemacht worden sind und dass sowieso nichts daraus wird. Daher sagen Sie dann: Im alten System fordern wir Ausnahmen für innovative Betriebe. - Ich will Ihnen erläutern, welche Probleme wir in diesem Zusammenhang sehen. Es geht nicht an, für die Abschaffung aller Subventionen und Sondertatbestände einzutreten, aber Ausnahmen für einzelne Bereiche zu fordern. Sie haben bereits zugegeben, dass das schwierig ist. Ein weiteres Problem sehen wir darin, dass definiert werden muss, was ein innovativer Betrieb ist. Wenn Sie, wie es die Franzosen versucht haben, eine solche Definition anhand des F-und-E-Anteils vornehmen wollen - beispielsweise ab einem F-und-E-Anteil von 15 Prozent; auf eine solche Idee kann man durchaus kommen -, dann werden Sie im zweiten oder dritten Jahr nach dem In-Kraft-Treten eines entsprechenden Gesetzes mit dem Problem konfrontiert, dass plötzlich sehr viele Firmen einen F-und-E-Anteil bis zu 15 Prozent aufweisen, dass aber keine Firma mehr einen höheren Anteil erreicht. Dann verkehrt sich das Instrument ins Gegenteil. Das ist der Grund, warum wir sehr zögerlich vorgehen und gründlich prüfen, welche steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten man an der Stelle versehen sollte. Das gilt, glaube ich, für die SPD genauso wie für meine Fraktion. Eines war in Ihrer Rede nicht konsequent, Herr Riesenhuber. Es geht nicht an, Regelungen nach dem alten Recht anzustreben und gleichzeitig davon auszugehen: Wenn neues Recht kommt, fallen alle Subventionen weg. Es wäre regelrecht albern, entsprechende Regelungen für ein oder zwei Jahre einzuführen, um sie dann wieder aufzugeben. Widersprüchlich waren Ihre Ausführungen auch, als Sie das Merz-Konzept in den Zusammenhang mit Unternehmensgründungen gebracht haben. Es trifft durchaus zu, dass die Zahl der staatlich geförderten Unternehmensgründungen zugenommen hat. Das ist eine logische Folge des Zusammenbruchs der Börsenkurse von Hightechunternehmen. Es war auch vor allem deshalb notwendig, weil die Banken stark auf die Bremse getreten haben. Ich will Ihnen aber eine Zahl nennen, die belegt, dass die direkte Unterstützung von Betrieben in der Projektförderung ein sehr wichtiger Schritt ist, den Sie nicht schlechtreden sollten. Eine Studie hat ergeben, dass pro 1 Euro Unterstützung in der Projektförderung für Forschung und Entwicklung zusätzliche private Finanzierungsmittel für Innovationen in Höhe von je 1,40 Euro ausgelöst werden, und zwar - das ist interessant - mit abnehmender Tendenz, je größer der Betrieb ist. Es handelt sich dabei also um eine spezifisch auf kleine und mittlere Betriebe ausgerichtete Wirkungsweise. Deswegen sollte man die Projektförderung nicht schlechtreden, wie Sie es getan haben, Herr Riesenhuber. ({3}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines festhalten, Herr Riesenhuber. Sie vertreten Ihre Fraktion immer wieder kurventechnisch interessant und wortgewaltig. ({4}) Das freut uns alle. Aber in Ihrer Rede waren spöttische Bemerkungen, die dem Handeln der Regierung nicht gerecht werden. Sie geht mit Geduld und Genauigkeit vor. Denn Schnellschüsse in der Innovationsfinanzierung, die nur kurzfristig wirken oder zu Abgrenzungsproblemen führen, richten viel Unheil an. Stattdessen nimmt die Regierung Punkt für Punkt Verbesserungen bei der Finanzierung von innovativen Betrieben vor. Wir richten unsere Politik auf die Kleinbetriebe aus, sodass das Geld die richtigen Stellen erreicht und Mitnahmeeffekte vonseiten großer Betriebe keine allzu große Rolle spielen. Dieser Weg ist richtig. Wenn Sie ihn positiv begleiten, dann soll uns das recht sein. Ich hoffe, dass Sie diese Richtung in Ihrer Arbeit weiter verfolgen werden. Dann verbeugen wir uns sicherlich auch gelegentlich einmal vor Ihnen. Aber wenn Sie anfangen, herumzuspötteln, nach dem Motto „Die Koalition tut nichts; sie redet nur“, dann sind Sie schief gewickelt. In diesem Fall müssen wir wohl noch einmal auspacken, wie es unter der früheren Regierung um die Innovationsförderung bestellt war. Dann wird man sich sicherlich nicht so fröhlich einigen können wie heute. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In der Tat werden dringender als je zuvor Kapitalgeber gerade für junge Technologieunternehmer gesucht. Aber woher nehmen? Ich möchte daran erinnern, dass wir den eben angesprochenen 500-Millionen-Euro-Dachfonds fraktionsübergreifend gutgeheißen haben. ({0}) Aber wir müssen jetzt auch fragen, wie es mit den passenden Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen, insbesondere für junge, innovative und kleine Unternehmen, am Standort Deutschland aussieht. Ich kann diesbezüglich nur feststellen, dass die Lage absolut finster ist. Heute Morgen ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Zahl der Firmeninsolvenzen im Jahr 2003 mit über 40 000 ein weiteres Mal sehr hoch war. Wenn man sich klar macht - das sage ich gerade in Richtung der rot-grünen Koalition -, ({1}) dass das statistisch gesehen den Verlust von mindestens 80 000 Ausbildungsplätzen bedeutet - das ist gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen Debatte über eine Ausbildungsplatzabgabe ({2}) besonders bedrohlich und bedauerlich -, dann erkennt man, dass falsche Rahmenbedingungen den Firmen das Leben insgesamt enorm schwer machen. ({3}) Uns fehlen - das ist völlig klar - vernünftige Rahmenbedingungen, damit die Wirtschaft wirtschaften kann. Das ist gar keine Frage. Es fehlt uns bis heute außerdem die Definition dessen, was in Zukunft noch Aufgabe des Staates und was Aufgabe des privaten Sektors sein soll. Hier helfen die ständigen Debatten von RotGrün über Steuererhöhungen wirklich nicht weiter. Ich erinnere nur an die von Ihnen geführten Debatten über die Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine Erhöhung der Erbschaftsteuer und die Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe. ({4}) - Ich sage bewusst „Abgabe“. ({5}) Ich nenne als weiteres negatives Beispiel den Emissionshandel, der in der geplanten Ausgestaltung den Wirtschafts- und insbesondere den Energiestandort Deutschland erheblich belasten wird. Beim Thema Masterplan fällt mir der Masterplan für Bürokratieabbau ein. Auch das war ein totaler Flop. Ich denke an den Stillstand in den so genannten Innovationsregionen. Dort ist gar nichts geschehen. ({6}) Nicht zu vergessen ist auch das totale Chaos in der Renten-, der Kranken- und der Pflegeversicherung. ({7}) Ich sehe nicht, dass Rot-Grün in der Lage ist, dem Standort Deutschland Perspektiven zu geben. Die Minireformen, die am Ende des Jahres 2003 beschlossen worden sind und zu deren Zustandekommen das gesamte Haus konstruktiv beigetragen hat, reichen bei weitem nicht aus. Schlimmer noch: Wir meinen, dass die rot-grüne Regierung derzeit eigentlich am Ende ist. Ich möchte jetzt auf den Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu sprechen kommen, in dem sehr treffend die augenblickliche desolate Lage beschrieben wird. In der Tat ist es gerade um die innovativen Unternehmen in unserem Land sehr schlecht bestellt. ({8}) Sie wissen, dass die Eigenkapitalquote durchweg besorgniserregend niedrig ist. Je kleiner die Unternehmen sind, desto niedriger ist die Eigenkapitalquote. Das gilt insbesondere für Unternehmen mit einem Jahresumsatz von unter 500 000 Euro. ({9}) Wir brauchen, wie gesagt, passende Rahmenbedingungen. Das bedeutet eine Senkung der Staatsquote sowie der Steuern und Abgaben. Ich komme jetzt zu einem Punkt, den die FDP-Fraktion bei allem Wohlwollen für den CDU/CSU-Antrag kritisch sieht. Wir haben heute Morgen in dieses Parlament unseren Entwurf eines Gesetzes für ein einfaches und konsequent unbürokratisches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen eingebracht. Wir haben einen Gesetzentwurf eingebracht, der sehr stringent sagt, wohin wir steuerlich wollen. ({10}) Wir möchten nämlich ohne Sondertatbestände auskommen. Vor diesem Hintergrund tun wir uns wirklich schwer damit, jetzt weitere Steuerausnahmetatbestände oder Steuervergünstigungen zu fordern, ({11}) gerade auch was Stock Options oder sonstige steuerliche Erleichterungen in dem Bereich betrifft. Den Teil möchten wir nicht mittragen, ({12}) sagen aber, dass die Richtung dieses Antrags der Union insgesamt stimmt, dass er absolut stimmig ist. ({13}) Man kann natürlich nicht sagen: Wir wursteln, wie Rot-Grün das derzeit macht. ({14}) Wir wursteln im Chaos so weiter und kommen dann zielgenau nicht zu dem Punkt, dass Unternehmen in Deutschland, egal ob junge oder ältere Unternehmen, egal welcher Größe, überhaupt eine Chance haben, hier in Zukunft mit den Arbeitsplätzen und den Ausbildungsplätzen zu bestehen. ({15}) Also die klare Ansage: Schwenken Sie ein auf das wirklich stringente Steuersystem, das die FDP-Fraktion heute vorgelegt hat! Dann ginge es am Wirtschafts- und Sozialstandort Deutschland besser und dann kämen wir ein Riesenstück voran. ({16}) Dafür wünsche ich uns allen Mut. Vielen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie.

Christoph Matschie (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001434

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Bei Ihnen von der FDP ist es ja so, dass Sie immer dann von der großen Steuervereinfachung reden, wenn Sie gerade nicht regieren. Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen Sie mehr Möglichkeiten hatten, so etwas durchzusetzen. Wir haben die Steuervereinfachung damals nicht erlebt. Im Übrigen haben wir hier eine interessante Auseinandersetzung - Herr Riesenhuber und Herr Wend haben das schon angesprochen -, nämlich zwischen den großen Steuervereinfachern und denen, die sagen: Wir wollen aber auch ganz gezielt Vorteile für bestimmte Unternehmen oder Kapitalbeteiligungen vorhalten. ({0}) Herr Riesenhuber, es war aber schon eine etwas seltsame Steuerlogik, die Sie hier vorgetragen haben. Das war nach dem Motto: Wir wollen zwar alle Subventionen abschaffen, aber weil es halt ein paar gibt, schaffen wir noch ein paar mehr; dann können wir nachher umso mehr abschaffen. - Die Logik erschließt sich mir nicht ganz. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riesenhuber? ({0})

Christoph Matschie (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001434

Aber selbstverständlich. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gestatten Sie, lieber Kollege Matschie, dass ich diesem intellektuellem Problem ein wenig abhelfe? In der Sache geht es um Folgendes: Wenn wir uns jetzt hier gemeinsam verabreden, die Sondertatbestände abzuschaffen, und uns für das Merz- oder das FDP-Konzept entscheiden, dann bin ich mit Leidenschaft dabei. Aber ich habe Sie mit bescheidender Zurückhaltung darauf hingewiesen, ({0}) dass wir vor 15 Jahren eine Diskussion hatten, in der es darum ging, endlich auch Forschung und neue Technologien über das Steuersystem zu fördern. Damals ist gesagt worden: Das machen wir nicht, weil die große Steuerreform kommt. Ich sage: In der Hölle ist der Teufel eine positive Figur. Solange wir hier noch eine verquere Situation haben, müssen wir mit diesen Instrumenten leben. Insofern sollten wir uns gemeinsam aufmachen, die Subventionen abzuschaffen. Dann folge ich auch Herrn Eichel in seiner entschlossenen Aussage, er werde dann nicht mit Steuern, sondern mit Finanzbeihilfen arbeiten. Auf dieser Grundlage werde ich mit Vergnügen sehen, was der BMF in seiner umfassenden Weisheit an konkreten Finanzbeihilfen als Ersatz für die eigenen Steuervorschläge in die Diskussion bringt. ({1})

Christoph Matschie (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001434

Ich habe den fragenden Ton bei Herrn Riesenhuber schon herausgehört. Ich weiß auch, warum. ({0}) Ich bewundere ja Ihre Leidenschaft für die Steuervereinfachung, nur, Herr Kollege Riesenhuber: Einige Kollegen in Ihrer Fraktion haben sich in den letzten Wochen - ich erinnere nur an die heftigen Auseinandersetzungen im Vermittlungsausschuss - mit vielleicht noch größerer Leidenschaft dafür eingesetzt, dass eben Ausnahmetatbestände erhalten bleiben, ({1}) dass es nicht an die Pendlerpauschale geht, dass es nicht an die Eigenheimzulage geht und dass es nicht an die Subventionen in der Landwirtschaft geht. Herr Riesenhuber, meine Bitte lautet also: Verwenden Sie wenigstens einen Teil der Leidenschaft, die Sie hier gezeigt haben, darauf, Ihre Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen, dass wir beim Subventionsabbau an anderer Stelle ein paar Schritte weiterkommen! ({2}) Es ist kein Geheimnis - der Bundesverband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften hat es in seinen letzten Veröffentlichungen noch einmal deutlich gemacht -: Der Markt für Venturecapital in Deutschland ist nach wie vor in der Krise. Wir können hiermit nicht zufrieden sein. Die Finanzierungssituation für junge Technologieunternehmen ist - das wird von niemandem bestritten - entsprechend schwierig. Bevor man jetzt darangeht, die ganze Verantwortung bei der Politik abzuladen und dort möglicherweise eine Lösung für alles suchen zu wollen - es wird nicht möglich sein, sie dort zu finden -, muss man fragen: Warum ist diese Situation so? Ich will einige Gründe nennen, warum die Situation so schwierig ist. Nicht nur die Börse, sondern auch der Markt für Wagniskapital war in den letzten Jahren, gerade 1999 und 2000, überhitzt. Wir hatten so enorme Zuwächse - Sie erinnern sich vielleicht -, dass sich beispielsweise die Investitionen im Frühphasensegment in Deutschland von 1996 bis 2000 fast verzehnfacht haben. Selbst Länder wie Großbritannien, traditionell ein Risikokapitalland, haben wir im Zuge dieser enormen Entwicklung abgehängt. Allerdings besteht die Gefahr einer Überreaktion in die andere Richtung; in genau so einer Entwicklung befinden wir uns zurzeit. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass sich viele Investoren mit ihrem Engagement die Finger verbrannt haben. Die Statistik des Europäischen Beteiligungskapital-Verbands besagt, dass es im Jahr 2002 eine negative Rendite von fast 30 Prozent gegeben habe. Auch das wirkt auf diesem Markt selbstverständlich noch heute nach. Dazu kommt der Ausfall der Börse, was Neuemissionen angeht. 1999 und 2000 wurden jeweils über 100 Unternehmen am Neuen Markt untergebracht. Seit weit mehr als einem Jahr hat überhaupt kein Technologieunternehmen den Gang an die Börse gewagt. Ich bin allerdings froh, dass auch auf diesem Gebiet langsam neue Signale erParl. Staatssekretär Christoph Matschie kennbar sind. Ich habe in der „Thüringer Allgemeinen“ vom vergangenen Dienstag gelesen: X-Fab bricht Börsen-Bann Erfurter Chiphersteller wagt nach einem Jahr als einer der Ersten Gang aufs Parkett Ich finde, es ist ein positives, ein ermutigendes Signal, dass wieder Aufbruchzeichen zu sehen sind. ({3}) - Herr Riesenhuber, man sollte mit solchen Äußerungen vorsichtig sein. Ich glaube, das hat weniger mit der Regierung in Thüringen zu tun als vielmehr damit, dass sich die Situation an den Börsen insgesamt wieder entspannt und dass neue Möglichkeiten entstanden sind. Wir haben dort, wo man es tun kann, gehandelt und gegengesteuert. Der Beteiligungskapitalfonds ist hier genannt worden. Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass der Bundesverband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften neue Impulse für den Markt durch den von uns eingerichteten Dachfonds erwartet. Mit den jüngsten finanzpolitischen Entscheidungen seien für 2004 gute Voraussetzungen geschaffen worden. Natürlich seien damit - auch das hat er in seiner Pressemitteilung deutlich gemacht - nicht alle Wünsche erfüllt. Ich finde, wir sollten die Schritte, die wir gegangen sind und die die Situation für die Technologieunternehmen und für Beteiligungen verbessern, hier nicht kleinreden, sondern wir sollten sie herausstellen, um Unternehmen und Beteiligungskapital zu ermutigen. ({4}) Darauf kommt es in dieser schwierigen Situation doch an. Ich glaube, dass über die steuerlichen Rahmenbedingungen und über diesen Fonds hinaus natürlich auch im Bereich der Forschungspolitik einiges in Angriff genommen worden ist. Ich will hier nicht sämtliche infrage kommenden Programme aufzählen. Man kann das nachlesen. Herr Kuhn, Sie haben sich zu Seed-Finanzierungen geäußert. Auch ich meine: Wir müssen noch einmal darüber nachdenken, welche neuen Instrumente wir entwickeln können. Im Moment gehört es wohl zu den schwierigsten Aufgaben, Seed-Kapital zu finden. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um Unterstützung für diesen sensiblen Bereich zu erhalten. ({5}) Ich komme zum Schluss. Wir sollten in dieser ganzen Diskussion nicht vergessen, dass der Wagniskapitalmarkt sehr zyklisch ist. Ich glaube, dass im Rahmen des sich abzeichnenden wirtschaftlichen Belebungsprozesses des sich abzeichnenden Aufschwungs insgesamt bessere Bedingungen für die Innovationsfinanzierung geschaffen werden können. Wir sollten diese Entwicklung gemeinsam unterstützen und nicht kleinreden, denn in dieser Phase ist jetzt Mut gefragt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist außerordentlich erfreulich, feststellen zu können, dass in dieser Debatte zumindest die aktuelle Problemlage, in der sich viele Unternehmen aufgrund der mangelnden Finanzierungsmöglichkeiten befinden, von allen Anwesenden ähnlich gesehen wird. Ich denke, dass man das wohl so sagen kann. Das Thema des Eigenkapitaldefizits in der deutschen Wirtschaft ist ja nicht wirklich ein neues Thema, das etwa erst nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes oder im Zusammenhang mit dem Rekord an Unternehmensinsolvenzen akut geworden wäre. Im Vergleich zu anderen Industriestaaten haben unsere Unternehmen die niedrigste Eigenkapitalquote; und diese sinkt weiter. Dabei ist das Eigenkapitaldefizit nicht in erster Linie ein Problem der Großunternehmen in Deutschland, ({0}) sondern insbesondere eines des breiten Mittelstandes. Die Finanzreserven sind zurzeit vielfach schon erschöpft. Sie alle kennen aus Ihrem Wahlkreis Beispiele für Firmen, deren Rücklagen aufgrund der schlechten Konjunktur und der mangelnden Unterstützung durch die Politik der letzten Jahre - auch das muss man um der Wahrheit willen betonen - aufgebraucht sind. Gerade im Mittelstand ist die Luft raus. Es fehlt das nötige Geld, um Investitionen zu tätigen, die Maschinenparks zu erneuern und in Forschung und Weiterentwicklung zu investieren. Über Wachstum braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht mehr reden, Wachstum können viele aus eigener Kraft nicht mehr finanzieren. Wenn man genau hinschaut, dann stellt man im konkreten Fall häufig fest, dass in vielen Bereichen schon jetzt das Kapital fehlt, um wenigstens das magere prognostizierte Wachstum von 1,5 bis 2 Prozent in diesem Jahr mit konkreten Aufträgen zu erreichen. Meine Damen und Herren, was ist schlimmer, als wenn ein Unternehmen Marktchancen hat, wenn Unternehmer Ideen haben, wenn Aufträge vorhanden sind, aber das nötige Kapital, um zu handeln, fehlt? Es ist keine sonderlich ermutigende Vorstellung, wenn Banken den Unternehmen mitteilen, dass es zwar gut sei, wenn sie Aufträge hätten, aber wenn sie diese nicht finanzieren könnten, dann dürften sie sie eben nicht annehmen. Das ist keine Zukunftsfiktion, das findet tagtäglich in Deutschland so statt. ({1}) - Das sind nicht nur die rot-grünen Banken, aber Ihre Politik hat mit Sicherheit maßgeblich damit zu tun. Das kann man, wie ich glaube, schon so feststellen. Die Banken entziehen sich immer mehr dem Thema Mittelstandsfinanzierung. Kreditlinien wurden in den vergangenen Jahren großzügig eingeengt. Sie finden kaum noch einen Mittelständler, der nicht darüber klagt, dass die Bedingungen der Kreditvergabe restriktiv gehandhabt wurden und er dadurch in seinen unternehmerischen Entscheidungen drastisch eingeengt wurde. Es ist richtig - das wurde hier schon gesagt -, dass vonseiten der KfW und der DtA eine Reihe von Programmen aufgelegt wurden, die hier eine Lücke füllen sollen. Aber das gelingt in vielen Fällen nicht. Die Gelder aus diesen Programmen werden entweder nicht in ausreichendem Umfang weitergereicht oder können auch gar nicht weitergereicht werden, weil deren Zuteilung oft an ähnlich schwierige Hürden geknüpft ist wie zum Beispiel die so genannten banküblichen Besicherungen. All dieses kann eine Nutzung im konkreten Fall verhindern. Hier muss mehr Bereitschaft insbesondere zu einer größeren Risikoübernahme gezeigt werden, wenn diese Instrumente in vollem Umfang für den Mittelstand nutzbar werden sollen. Die entscheidende Rolle, die der Mittelstand für die bisherige und zukünftige wirtschaftliche Entwicklung hat, macht es dringend erforderlich, diese Finanzierungsschiene zu stärken. Dies gilt im Besonderen für so genannte Start-ups, die auch gerade unter beschäftigungspolitischer Hinsicht von enormer Bedeutung sind. Im Jahr 2002 waren, wie Sie wissen, allein 9 Prozent aller Beschäftigten in Unternehmen tätig, die in den Jahren 1998 bis 2002 neu gegründet wurden. Hier steht ein enormes Potenzial von innovativen Technologieunternehmen bereit, die in der Lage sind, Wachstum zu erzeugen. Aber diese Unternehmen brauchen das nötige Geld, die nötige Anschub- und Weiterfinanzierung. Ein Teil dieses notwendigen Geldes kann in diesem speziellen und in vielen anderen Bereichen von den Mitarbeitern - und zwar nicht ausschließlich von den leitenden Mitarbeitern, sondern von allen Beschäftigten kommen. Die Mitarbeiterbeteiligung liegt in Deutschland noch immer im Dornröschenschlaf, weil wir die nötigen Rahmenbedingungen dafür nicht vorhalten. Wir müssen uns aus meiner Sicht die Frage stellen, warum sich ein Mitarbeiter, der sich finanziell an seinem Unternehmen beteiligt, beispielsweise in Form einer stillen Gesellschaft, steuerlich genauso stellt, wie wenn er das Geld zur Bank bringt. Da gibt es doch einen entscheidenden Unterschied. Gerade in jungen Unternehmen haben wir eine Beteiligungskultur: Mitarbeiter sind bereit, durch eine finanzielle Beteiligung ein Risiko auf sich zu nehmen und damit für ihren eigenen Arbeitsplatz und den von anderen zu sorgen, ohne in einer unternehmerischen Gesamtverantwortung zu stehen. Diese neue Kultur des Selbstverständnisses der Mitarbeiter in neuen Technologieunternehmen muss eine besondere Berücksichtigung erfahren, um der Risikobehaftung des Engagements gerecht zu werden. ({2}) Das kann man nicht unter dem Thema Sparerfreibetrag abhandeln; damit würde man dem sicher nicht gerecht werden. Das Gleiche gilt im Wesentlichen für Aktienoptionen, die selbstverständlich ein taugliches Instrument zur Stärkung des Eigenkapitals von jungen Unternehmen sind, die sich hierdurch hohe Kosten durch Gehälter ersparen können. Aber wir müssen sicherstellen, dass dieses Instrument, das eine hohe Anreizfunktion hat, in seiner Wirkung erhalten bleibt und nicht durch Ungleichbehandlung zum Standortnachteil für deutsche Unternehmen mutiert. Gerade in der New Economy, bei der nach der Überhitzungsphase nicht nur Träume und Visionen zerplatzt sind, sondern auch die ohnehin geringe wirtschaftliche Substanz der übrig gebliebenen Unternehmen stark beschädigt ist, bei der man von der Euphorie von zweibis dreistelligen Wachstumsraten auf realistische Entwicklungsziele gekommen ist, sind zur Stabilisierung dringend Mitarbeitermodelle notwendig, die echte Anreizfunktionen für die Beschäftigten bieten und gleichzeitig Wachstumspotenziale für das Unternehmen schaffen. ({3}) Meine Damen und Herren, Wirtschaftsminister Clement hat heute Vormittag in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gesagt, man setze auf die Innovationen unserer Unternehmen; von „Lust“ und „Leidenschaft“, etwas zu unternehmen, und von mehr Eigenverantwortung war die Rede. Dazu gehört meines Erachtens auch eine neue Beteiligungskultur. Ich nehme Ihre Bemühungen durchaus ernst. Die Schaffung eines Dachfonds ist löblich, ebenso Ihr Ziel der Anpassung der Wesentlichkeitsgrenze. Allerdings muss man feststellen, dass der Titel für Projektförderung im Bundesministerium für Bildung und Forschung gleichzeitig um 8 Prozent gekürzt wird. Immerhin weisen die Dinge in die richtige Richtung, aber sie werden bei weitem nicht ausreichen, um in Deutschland eine Kultur von Business Angels zu etablieren, wie wir das anderenorts bereits kennen. Ganz selbstverständlich stellt sich da regelmäßig die Frage nach der steuerlichen Behandlungen von Veräußerungsgewinnen. Es wäre dringend notwendig, andere Maßstäbe anzuwenden, wenn die Mittel beispielsweise als Risikokapital reinvestiert werden, als wenn sie andere Verwendungen finden. Gerade diese steuerlichen Fragen haben sich in der „Phase der großen Blase“ nicht in dem Umfang gestellt, wie das jetzt der Fall ist, weil die Aussichten auf die außerordentlichen Wachstumsraten sie zweitrangig erscheinen ließen. Allerdings bekommen diese Fragen in der jetzt sicherlich noch länger anhaltenden Phase der normalen bis unterdurchschnittlichen Gewinnaussichten naturgemäß wieder eine größere Bedeutung. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Der Mittelstand ist finanziell ausgeblutet, die Versorgung mit Risikokapital mehr als zurückhaltend. Unsere Aufgabe und vor allem die Aufgabe der Bundesregierung ist es hier, das Angebot an Kapital zu stärken und die Verbindung zwischen Nachfrage und Angebot zu erleichtern, damit Wachstum und Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht schlecht, dass wir beim Thema Innovationsförderung und finanzielle Unterstützung für junge Unternehmen einer Meinung sind. Genauso wichtig ist aber auch die Frage - das ist die andere Seite der Medaille -, wie man Forschung und Entwicklung von staatlicher Seite unterstützen kann. Ein Blick auf den Mittelstand zeigt, dass es dort eine ganze Reihe von Innovationen und neuen Produkten gibt. 200 000 Unternehmen sind in diesem Bereich aktiv; aber darunter sind nur 35 000 Unternehmen, die kontinuierlich Forschung und Entwicklung betreiben. Man würde also zu kurz springen, wenn man dieses Thema, wie in dem Antrag der CDU/CSU geschehen, nur auf den Bereich der Finanzen reduziert. Man muss daneben auch die staatliche Förderung im Bereich der Forschung und Entwicklung betrachten. Lieber Kollege Riesenhuber, Sie haben eine fulminante Rede gehalten. Mit Leidenschaft haben Sie die Bundesregierung aufgefordert, nun endlich etwas zu tun. Darauf möchte ich Ihnen erwidern, dass Sie elf Jahre lang - ich habe im Handbuch nachgeschaut - Forschungsminister waren, auch in den Jahren 1991 bis 1993. ({0}) Mich erstaunt daher sehr, dass Sie sich nicht kritisch damit auseinander setzen, dass Sie in dieser Zeit die Ausgaben für Forschung und Entwicklung reduziert haben. ({1}) Die Ausgabenkürzungen gingen noch nach Ihrer Zeit als Minister weiter. Das Problem war, dass bis 1998 die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zum Nachteil der kleinen Unternehmen und des Wirtschaftsstandortes Deutschland ständig reduziert wurden. ({2}) Das haben Sie, Herr Riesenhuber, mit zu verantworten. Ein bisschen mehr Leidenschaft wäre damals gut gewesen. Ihre jetzige Leidenschaft sehe ich Ihnen nach. Trotzdem sollten Sie ein bisschen Augenmaß zeigen, wenn es um die Kritik an der Bundesregierung geht. Jetzt zum Thema Hightech-Masterplan. Ich finde es sehr gut, dass die Bundesregierung diesen Plan vorgelegt hat, ({3}) um im internationalen Wettbewerb, was die Forschung und Entwicklung angeht, aufzuholen. Der entsprechende Anteil am Bruttosozialprodukt muss erhöht werden. Wir brauchen eine konzertierte Aktion im Bereich der Technologieförderung, insbesondere für kleine Unternehmen. Ich bin sehr froh, dass das Forschungsprogramm Anreize zum Ausbau von Forschungs- und Innovationsstrategien schafft. Die entstehenden Netzwerke sind aus meiner Sicht wichtig, um die Forschung und Entwicklung in den kleinen Unternehmen zu unterstützen. Die Bundesregierung hat die Mittelstandsförderung auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung um 32 Prozent gesteigert, was sich schon positiv ausgewirkt hat. Der Bund und auch die Länder unterstützen Unternehmen insbesondere darin, zukunftsorientierte Produkte für den internationalen Markt zu entwickeln. Ich finde es sehr wichtig, dass die Innovationsnetzwerke ausgebaut werden, dass es Ausgründungen aus den Hochschulen gibt und dass vor allen Dingen Forschungsergebnisse schneller in marktfähige Produkte umgesetzt werden. Wir tun also etwas. Aber ich denke, dass es - keine Frage - noch besser werden muss. Das steht bei uns ganz oben auf der Tagesordnung. Nach wie vor ist die Mitarbeiterausgründung zu gering entwickelt. Deshalb haben wir eine entsprechende Förderung vorgesehen. Frau Kopp, es stimmt natürlich - das ist unstrittig -, dass in Deutschland die kleinen Unternehmen eine viel zu geringe Eigenkapitalquote haben. In anderen Ländern - das ist allerdings kein Trost ist die Situation besser. Wir müssen unsere Hausaufgaben auf diesem Gebiet machen. ({4}) Es ist wichtig, dass der Strukturwandel auf den Finanzmärkten und im Bankensektor dazu führt, dass das Risikokapital als Chancenkapital erkannt wird. Wir müssen an die Banken appellieren, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen und den kleinen und mittleren Unternehmen das notwendige Kapital zur Verfügung stellen. ({5}) Im Ratingverfahren bleiben diese jungen Unternehmen oft auf der Strecke, weil es bisher keine geeigneten Rahmenbedingungen gab. Die Bundesregierung hat, bezogen auf die Förderkonzepte, eine Menge getan. Als Mitglied des Unterausschusses ERP-Wirtschaftspläne, in dem wir im Konsens über diese Fragen diskutieren, wissen Sie, dass wir einen leichteren Zugang zu Krediten ermöglichen wollen. Durch die Gründung der Mittelstandsbank haben wir eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen. Wir stellen im Jahre 2004 rund 4 Milliarden Euro für die Karin Roth ({6}) Gewährung langfristiger und zinsgünstiger Kredite an kleine und mittlere Unternehmen zur Verfügung. Darüber hinaus bietet der neue Beteiligungsdachfonds, für den aus dem ERP-Sondervermögen und dem Europäischen Investitionsfonds ab 1. März 2004 500 Millionen Euro bereitgestellt werden, die große Chance, Technologieunternehmen zu fördern und privates Kapital mit diesem Fonds zu kombinieren. Dadurch können insgesamt 1,7 Milliarden Euro mobilisiert werden. Wir waren uns im Ausschuss einig darüber, dass dies eine große Chance ist, Existenzgründungen - auch die aus den Hochschulen heraus - zu fördern. Wir waren uns auch einig darin, dass das seitens der Europäischen Union eine wichtige Initiative war, die wir unterstützen. Kurzum: Wir müssen alles dafür tun, um Risikobereitschaft zu unterstützen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist!

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir müssen all denjenigen die Türen öffnen, die bereit sind, Innovationen zu wagen und ein Risiko einzugehen. Ich wünsche mir, dass das Engagement der großen Banken auf diesem Gebiet genauso groß ist wie zum Beispiel das der Sparkassen und Volksbanken. Sie sind immer noch besser als die großen Banken. Ich hoffe und wünsche mir, dass die Banken die Verantwortung wahrnehmen, die sie in diesem Land wahrzunehmen haben, nämlich dass sie die Menschen bei Existenzgründungen und vor allen Dingen kleine und mittlere Unternehmen in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit unterstützen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck- sache 15/2367 zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für eine neue Beteiligungskultur - Ei- genkapitalsituation von jungen Technologieunternehmen durch Mobilisierung von Beteiligungskapital und Mitar- beiterbeteiligungen verbessern“. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/815 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen Schulz ({0}), Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Peter Hettlich, Volker Beck ({1}), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Deutsche und europäische Raumfahrtpolitik zukunftsorientiert gestalten - Drucksache 15/2394 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Stärkung der wissenschaftlichen Zukunftsund wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Raumfahrtstandorts Deutschland in Europa - Drucksache 15/2334 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung Militärische Nutzung des Weltraums und Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im Weltraum - Sachstandsbericht - Drucksache 15/1371 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Swen Schulz. ({6})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die RaumSwen Schulz ({0}) fahrt ist in Deutschland und in Europa ein erfolgreiches Innovationssystem. Gemeinsam mit vielen Akteuren ist es uns gelungen, in die absolute Weltspitze vorzudringen. Das hat zum Beispiel die außergewöhnlich erfolgreiche europäische Marsmission gezeigt: Mit deutscher Technologie ist etwa zum ersten Mal Wasser auf dem Mars nachgewiesen worden. ({1}) SPD und Bündnis 90/Grüne legen einen Antrag vor, mit dem wir die erfolgreiche Raumfahrtpolitik der Bundesregierung unterstützen und Akzente zu ihrer Fortentwicklung setzen. Bei aller Faszination, die von der Raumfahrt ausgeht, besteht doch viel Skepsis. Häufig wird - auch hier im Bundestag - gefragt: Welchen Nutzen ziehen wir eigentlich aus der Raumfahrt? Wir haben so viele Probleme auf der Erde, können wir uns das leisten? Raumfahrt ist mehr als nur etwa ein Flug zum Mond oder zum Mars. Raumfahrt ist Motor des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts. Darüber hinaus hilft sie, ganz konkret Probleme auf der Erde zu lösen. ({2}) Mit satellitengestützter Technologie wird Wetterbeobachtung gemacht, helfen wir bei Katastrophenschutz, Umweltschutz, in der Landwirtschaft, bei Kommunikation und Navigation. Damit tun sich auch enorme wirtschaftliche Möglichkeiten auf. An dieser Stelle wird deutlich, dass Europa unbedingt einen eigenen und unabhängigen Zugang zum Weltraum benötigt. Wenn wir bei den Trägersystemen vom Goodwill anderer Staaten abhängig wären und zum Beispiel die USA, Russland oder China sagen könnten, bestimmte Satelliten brächten sie uns Europäern nicht in den Orbit, könnten wir die Versuche, mit Raumfahrt Probleme zu lösen und Geld zu verdienen, gleich einstellen. ({3}) Trotz der Bedeutung der Raumfahrt ist ein sorgsamer Umgang mit Steuermitteln selbstverständlich notwendig. Wir müssen gerade angesichts der schwierigen Haushaltslage genau überlegen, wie viel Geld wir wofür ausgeben. Natürlich müssen wir Forschung fördern, für die es kein unmittelbares Verwertungsinteresse gibt; anderenfalls würden wir eine wichtige Quelle des Fortschritts verschließen. Darüber hinaus wollen wir einen Schwerpunkt auf anwendungsorientierte Raumfahrtprojekte setzen. Für deren Finanzierung sind die Interessenten, die Nutzer, ins Boot zu holen. Des Weiteren wollen wir den eingeschlagenen Weg fortsetzen und uns auf die Projekte konzentrieren, in denen wir wirklich Spitze sind oder werden können. Es hat keinen Sinn, mit der Gießkanne über alle Bereiche zu gehen; dann wird aus allem nichts Richtiges. Im Rahmen dieser Konzentration müssen wir darauf achten, dass in Deutschland Unternehmen und Einrichtungen gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Wir müssen sicherstellen, dass Deutschland die Technologieführerschaft übernimmt und Märkte erschließt. Das führt zum Thema Wahrung deutscher Interessen gegenüber unseren Partnern. Häufig hatte man ja den Eindruck, die Deutschen seien die besten Europäer: Sie zahlen brav und lassen sich ansonsten von anderen über den Tisch ziehen. Wir können heute feststellen, dass diese Bundesregierung Schluss damit gemacht hat. ({4}) Bei den Verhandlungen über die Ariane wurde eine Überstrapazierung des deutschen Budgets verhindert und darüber hinaus der Abbau des Rückflussdefizits erreicht. Es wird ja gelegentlich über handwerkliche Mängel in der Politik geklagt. Darum betone ich: Frau Ministerin, das war eine Meisterleistung! ({5}) - Meisterinnenleistung, Entschuldigung! ({6}) Angesichts der zukünftigen Herausforderungen ist trotz aller Sparsamkeit und Konzentration eine Erhöhung der Aufwendungen aus dem Bundeshaushalt für die Raumfahrt notwendig. Wir können uns auch nicht ganz auf die europäische Ebene zurückziehen - nach dem Motto: Wenn sich Europa darum kümmert, müssen wir nicht noch in Deutschland extra Geld dafür ausgeben. Das wäre eine Milchmädchenrechnung. Denn erstens sind deutsche Initiativen, deutsche Entwicklungen als Motor der europäischen Raumfahrt nötig ({7}) und zweitens können nur die Staaten von europäischen Erfolgen profitieren, die dazu beitragen und die vorne mitspielen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Raumfahrt ohne uns stattfindet. Anderenfalls wäre Deutschland nur Zahlmeister. ({8}) Darum ist es notwendig, perspektivisch auch das nationale Raumfahrtprogramm zu stärken. ({9}) Was wir jedoch nicht benötigen, ist ein neues Programm für die bemannte Raumfahrt. Unserer Auffassung nach stehen Kosten und möglicher Nutzen bemannter Raumfahrt zum Mond oder zum Mars in keinerlei akzeptablem Verhältnis. ({10}) Swen Schulz ({11}) Uns geht es nicht um teure und fragwürdige Prestigeprojekte, sondern um effiziente Forschung, Technologieentwicklung und -anwendung. ({12}) Ein Wort zur Internationalen Raumstation ISS: Aus heutiger Sicht war die Verpflichtung, die die Bundesregierung eingegangen ist - ich formuliere es vorsichtig -, nicht der Weisheit letzter Schluss. ({13}) Aber wir stehen zum Vertrag. Wenn jedoch unsere Partner ihren Pflichten nicht nachkommen, müssen und werden wir unser Engagement für die ISS überdenken. ({14}) Ich spreche als einen weiteren Aspekt noch kurz die Raumfahrt in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Eine Militarisierung und Bewaffnung des Weltraums lehnen wir kategorisch ab. Waffensysteme haben im Weltraum nichts zu suchen. ({15}) Der TAB-Bericht macht sehr deutlich, wie wichtig eine klare Positionierung an dieser Stelle ist. Zugleich benötigen wir für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik satellitengestützte Technologie für Aufklärung, Navigation, Kommunikation et cetera. Vor allem die Soldaten benötigen optimale technische Unterstützung. Wenn wir die Leute ins Ausland - teilweise in riskante Einsätze - schicken, müssen sie zu ihrer Sicherheit eine optimale Ausrüstung erhalten. ({16}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der knappen Zeit konnte ich nur einige Aspekte streifen. Ich würdige ausdrücklich, dass die Opposition differenzierte und diskutable Anträge vorgelegt hat. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist an wichtigen Stellen realistischer und klarer. Ich freue mich aber auf die weitere Debatte. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Forschungsergebnisse der Raumfahrt haben unstrittig viele Anwendungen im Alltag gefunden. Der Kollege Schulz hat einige davon angesprochen. Deshalb ist Raumfahrt nicht nur ein forschungs-, sondern auch ein wirtschaftspolitisches Thema. Dass voraussichtlich am 26. Februar wieder eine Ariane-Rakete startet, ist ein Grund zur Freude und ein Zeichen dafür, wie wichtig und aktuell die heutige Debatte ist. ({0}) Im Weißbuch der EU wird festgestellt, dass Investitionen in die Raumfahrt einen sieben- bis achtmal so hohen Nutzen für zivile Zwecke bringen. Die EU-Kommission geht schon heute von Wachstumsraten von 25 Prozent in der Raumfahrt aus. Die Raumfahrt könnte zum Schrittmacher der Technologie wie der Ökonomie des 21. Jahrhunderts werden. Meine Damen und Herren, bei allen Anwendungsmöglichkeiten dürfen wir jedoch die Grenzen der Kommerzialisierbarkeit nicht außer Acht lassen. Raumfahrt ist von der Forschung und Entwicklung bis hin zu vielen Umsetzungen staatlich dominiert. Raumfahrt gehört zu den wenigen Bereichen, wo wir das akzeptieren, weil wir wissen, dass Grundlagenforschung nicht in KostenNutzen-Kategorien gepresst werden kann. Raumfahrt ist ein visionenbasiertes Wissenschaftsfeld. Deshalb wollen wir von der CDU/CSU im Gegensatz zu dem, was wir gerade von Ihnen, Herr Schulz, gehört haben, an der bemannten Raumfahrt festhalten. ({1}) Wir wissen, dass Frau Bundesministerin Bulmahn hier seit Amtsantritt skeptisch ist. Roboter können viel, aber eben nicht alles. Von der bemannten Raumfahrt geht - wir erleben das zurzeit eine Faszination aus, die wir wieder brauchen, der Glaube an die technische Zukunft, der Glaube an das „Made in Germany“. ({2}) Ich habe in der letzten Sitzungswoche schon einmal gesagt: Mit einem Dosenpfand zum Wegwerfen, mit einer Maut, über die Österreich lacht, und mit einem Transrapid, der nur in China fährt, werden wir den Stolz auf das „Made in Germany“ nicht aufpolieren. ({3}) Wir brauchen eine neue Technologieverliebtheit, Faszination, Fortschrittswillen. Nur dann wird es wieder junge deutsche Ingenieure und Forscher geben, die ihren Beruf hier im Lande ausüben wollen und nicht ins Ausland gehen. Das brächte bei weitem mehr als eine Eliteuniversität. ({4}) Ein Bremsklotz in Sachen Technik sind und bleiben die Grünen. Die Grünen wollen vom Mars nichts mehr wissen, seit sie auf den Bildern von Spirit gesehen haben, dass es dort keine Kollegen, keine grünen Männchen, wohl aber Wasser gibt. Es ist uns natürlich nicht entgangen, dass es eine lange Diskussion zwischen SPD und Grünen darüber gegeben hat, wie sie sich zum Thema ISS positionieren wollen. ({5}) Ich hoffe, dass sie jetzt nicht ihre Technologiefeindlichkeit unter dem Deckmantel schöner Worte verborgen haben - nach dem Motto: Lieber hinter dem Mond leben als auf dem Mond landen. ({6}) Ihre Technologiefeindlichkeit ist eine der Gründe für den wirtschaftspolitischen Misserfolg dieser Regierung ({7}) und einer der Gründe dafür, warum die Wähler Rot-Grün am liebsten auf den Mond schießen würden. ({8}) Das ist eine schöne Vision. Aber eigentlich heißt Visionen nachzuhängen etwas anderes: Unmögliches möglich zu machen. Die Regierung wählt meist den umgekehrten Weg und macht Mögliches unmöglich. ({9}) - Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hätte mir ein deutlicheres Bekenntnis zur Internationalen Raumstation ISS gewünscht. ({10}) Außerdem sollte die Bundesrepublik bei so visionären Programmen wie Aurora, der bemannten europäischen Mond- und Marsmission, nicht außen vor bleiben. ({11}) Das hieße nämlich, dass auch unsere Industrie und Forschung am Schluss außen vor blieben. Herr Schulz, ich will Ihren Vorschlag gerne aufnehmen und keine unnötige Schärfe in die Debatte bringen. ({12}) - Dann ist es auch nicht schlecht. - Es besteht schon weitgehend Einigkeit, was die Zielsetzungen im Bereich der Raumfahrt angeht. Für mich wird aber das Schicksal Ihres Antrages spannend. Sie haben es immerhin geschafft, Kanzler und Parteivorsitz zu trennen. Vielleicht machen Sie jetzt die Trennung zwischen dem Willen der Fraktion auf der einen Seite und dem Regierungshandeln auf der anderen Seite. Wir alle sind gespannt, was von dem, was Sie in Ihrem Papier schreiben, letztendlich kommen und umgesetzt wird. ({13}) Es stellt sich die Frage - bei diesem Punkt bin ich wirklich gespannt -, ob es zu einer ressortübergreifenden Raumfahrtpolitik, die wir gemeinsam fordern, kommen wird. Auch bin ich gespannt, ob wir eine wirkliche Strategie entwickeln, wie wir das gemeinsam verlangen. ({14}) - Herr Tauss, die Realität sieht aber anders aus - ich kenne das Raumfahrtprogramm sehr wohl -: Denn auf der einen Seite wird von einer Strategie gesprochen, aber auf der anderen Seite leben wir von der Hand in den Mund. Wir essen unsere Saatkartoffeln auf, und zwar überall und insbesondere im Bereich der Forschung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, die gestatte ich nicht. Herr Tauss äußert sich lang, oft, ausführlich und laut genug, sodass er - zusätzlich zu seinen Zwischenrufen - nicht auch noch eine Zwischenfrage stellen muss. ({0}) - Das glaube ich. Meine Damen und Herren, für uns besteht die Strategie darin, ({1}) den Technologiebedarf für die nächsten Jahrzehnte frühzeitig zu ermitteln und unsere zugegebenermaßen knappen Finanzmittel - jetzt können wir auch noch darüber diskutieren, wer daran schuld ist - auf bestimmte Zukunftsfelder und Kompetenzen zu konzentrieren. Der CDU/CSU ist es wichtig, dass sich kleine und mittlere Unternehmen - von denen war ja heute auch schon mehrfach die Rede - am Thema Luft- und Raumfahrt beteiligen können. ({2}) - Herr Tauss, ich weiß natürlich, dass man bei RotGrün eher in den Kategorien von Großkonzernen und Gewerkschaftsmitgliedern denkt. ({3}) Aber die deutsche Wirtschaft lebt vom Mittelstand. Für diesen Mittelstand brauchen wir verlässlich angelegte Public Private Partnerships. ({4}) Hören Sie sich einmal in der Wirtschaft um. Wir müssen die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit zwischen Privaten und Staat schaffen - auch hier besteht noch Nachholbedarf - und das nationale Programm stärken. ({5}) Ich bin froh, dass Sie, Herr Schulz, das so deutlich angesprochen haben. Wenn Sie aber von uns, der Opposition, fordern, diese Vorhaben mit Zahlen zu unterlegen, dann frage ich Sie: Warum haben Sie das nicht getan? ({6}) Auch das wurde heute schon deutlich gesagt: Sie sind an der Regierung und müssen diese Vorhaben beziffern. Tun Sie es also bitte auch, und zwar in der richtigen Richtung und nicht immer in der falschen. ({7}) Meine Damen und Herren, Raumfahrt ist ein internationales Thema. Das wiedervereinigte Deutschland allein kann in diesem Bereich wenig ausrichten. Trotzdem müssen wir an erster Stelle unsere nationalen Interessen vertreten und durchsetzen. Das heißt: Sicherung der nationalen Zuständigkeiten statt einer ausschließlichen Kompetenzübertragung auf die EU - auch in diesem Punkt gab es im Rahmen des europäischen Konvents bestimmte Begehrlichkeiten -, Erhöhung des Anteils der deutschen Mitarbeiter und Entscheider innerhalb der ESA und der Europäischen Union, Erhalt und Ausbau einer Wertschöpfung in Deutschland, die dem deutschen ESA-Beitrag entspricht, Beibehaltung eines geographisch ausgewogenen Mittelrückflusses entgegen den Vorschlägen der EU-Kommission und eine nicht nur einmalige, sondern dauerhafte und konsequente Verringerung des Rückflussdefizits. ({8}) Das nationale Raumfahrtprogramm wird über unsere Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. ({9}) Das nationale Raumfahrtprogramm wird über unsere Kapazitäten - qualitativ wie quantitativ - entscheiden. Frankreich investiert rund das Dreifache, Italien etwa das Doppelte des bundesdeutschen Budgets für nationale Aktivitäten. ({10}) Ursprünglich belief sich das Verhältnis von deutschem ESA-Beitrag zu den Aufwendungen für das nationale Programm auf 65 zu 35; jetzt beträgt dieses Verhältnis 80 zu 20. ({11}) Auch Sie, Herr Schulz, haben heute die Bedeutung des nationalen Programms angesprochen. Ich hoffe, dass Sie mit Ihrem Antrag in dieser Hinsicht etwas bewegen. ({12}) National richtig aufgestellt, müssen wir, um wirklich voranzukommen, auch die internationale Zusammenarbeit anstreben. Dazu gehören internationale Kooperationen, zum Beispiel im Rahmen von Galileo, Kooperationen mit allen Raumfahrtnationen, ganz besonders aber mit den USA. Dazu gehört die Verschmelzung der Raumfahrtpolitik von Europäischer Union und ESA. Dazu gehört aber auch, dass neben den zivilen Zwecken sicherheits- und verteidigungspolitische Bereiche in die künftige Raumfahrtpolitik einbezogen werden. Ich bin dankbar, dass Sie auch das so deutlich angesprochen haben. ({13}) Gerade diese sicherheitspolitischen Bereiche darf man aus meiner Sicht nicht ausklammern. Was ich in diesem Zusammenhang allerdings bemerkenswert finde, sind die oft ideologisch betriebenen rigiden Exportkontrollen in Deutschland. ({14}) - Das ist so, fragen Sie die Wirtschaft! Seit Rot-Grün die Exportbürokratie in der Hand hat, wird der Export von Dual-use-Gütern unangemessen beeinträchtigt. Das führt dazu, dass viele Hersteller Produktion oder Vertrieb zu unseren EU-Nachbarn verlagern wollen. ({15}) Dabei gilt, wahrscheinlich wie immer, der Grundsatz: Quod licet Jovi, non licet bovi - der Kleine hat das Nachsehen, die Fabrik in Hanau dagegen wird exportiert. ({16}) Sie sehen also, meine Damen und Herren: Es kommt auf das Detail an, auf die politische Umsetzung, nicht auf das, was auf dem Papier steht. Vielen herzlichen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hettlich. ({0})

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Nüßlein, von Ihrer Rede hatte ich mir eigentlich ein bisschen mehr erwartet. Ich muss sagen: Über die Anträge kann man sich ja unterhalten, aber das war eine wirklich schwache Rede. Ich fand die Polemik absolut unnötig und absolut unproduktiv. ({0}) Wir können uns gerne inhaltlich über die Dinge unterhalten. Aber ich denke, ich belasse es dabei; ich will auch gar nicht inhaltlich auf Ihre Rede eingehen. Ich wollte meine Rede eigentlich mit einer Frage beginnen: Können Sie sich noch an die Mondlandung von Apollo 11 am 20. Juli 1969 erinnern? Ich habe es gerade einmal nachgeschlagen: Herr Nüßlein lag da gerade seit zwei Monaten in den Windeln; er kann sich also sicher nicht mehr daran erinnern. Aber ich kann es: Ich war damals 9 Jahre alt und kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich zum ersten Mal die ganze Nacht aufbleiben durfte und fasziniert auf den Bildschirm gestarrt habe, als irgendwann die schemenhaften Gestalten von Armstrong und Aldrin die ersten Gehversuche auf dem Mond machen konnten. Die Begeisterung für die bemannte Raumfahrt war damals noch riesengroß. Die Besiedlung von fernen Planeten oder Reisen zu fernen Welten schienen damals greifbar nahe und eigentlich nur noch eine Frage der Zeit. Im Dezember 1972, bei der letzten Mondlandung von Apollo 17, interessierte sich dagegen gar keiner mehr für das Thema; die Euphorie war verflogen. Die Amerikaner hatten festgestellt, dass die Kosten für das Programm nicht mehr zu kontrollieren waren. Die Sowjetunion hatte sich bereits lange aus dem Wettrennen zum Mond verabschiedet und konzentrierte sich nur noch auf den Bau von Orbitalstationen wie zum Beispiel der Saljut. Das Wettrüsten befand sich nicht nur auf der Erde auf einem Höhepunkt: Eine zunehmende Militarisierung des Weltraums war schon lange vor Ronald Reagan traurige Realität. Befragte man die Menschen auf der Straße nach den Vorzügen der Raumfahrt, so fiel den meisten als größte Errungenschaft zunächst nur die Teflonpfanne ein. Die technologischen Fortschritte durch die Raumfahrt wurden und werden auch heute noch etwas überschätzt. ({1}) Aufgrund der langen Entwicklungsphasen kamen vor allen Dingen in der bemannten Raumfahrt, selbst heute noch im Spaceshuttle, Computertechnologien zum Einsatz, über deren Leistungsfähigkeit heutige PC-User nur mitleidig lächeln können. Innovationen waren hier weniger gefragt als vielmehr Robustheit und Zuverlässigkeit von elektronischen Bauteilen unter extremen Bedingungen. Ganz anders hat sich die Situation in der unbemannten Raumfahrt dargestellt. Schon bald war es - beinahe unbemerkt - selbstverständlich geworden, dass Wetter-, Telekommunikations- und Fernsehsatelliten einen unverzichtbaren Platz in unserem täglichen Leben einnehmen. Länder wie Indien oder China erkannten schon früh die großen Chancen, mithilfe von Satellitentechnologien Infrastrukturlücken zu schließen. Heute ist zum Beispiel das landesweite Telefonieren in Indien beinahe ausschließlich mit Telekommunikationssatelliten möglich, die im Land selbst entwickelt und gebaut wurden. Nationale und internationale Fernsehprogramme werden dort vor allem über Satellitenschüsseln empfangen. Die Raumfahrt ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres alltäglichen Lebens geworden und die deutsche Raumfahrtindustrie hatte einen großen Anteil an dieser Entwicklung. Mit HEOS 1, bei Junkers in München 1968 gebaut und gestartet, begann die Ära deutscher Satellitentechnologie im Weltall relativ spät. Seitdem hat sich Satellitentechnik mit dem Siegel „Made in Germany“ aber einen ganz hervorragenden Ruf verdient. Denken wir zum Beispiel an die Eigenentwicklungen oder maßgeblichen Mitwirkungen am Nachrichtensatelliten Symphonie, an die qualitativ nach wie vor konkurrenzlosen Wettersatelliten der Typenreihe Meteosat, an die Forschungssatelliten Helios oder Hipparcos oder an den Umweltsatelliten Envisat. Viele internationale Raumfahrtmissionen waren und sind nur unter Beteiligung deutscher Forschungsinstitute und Unternehmen möglich. Ich erinnere an die legendäre Kamera aus der Schmiede des Max-Planck-Institutes für Aeronomie von Professor Neukum, die 1986 beim Vorbeiflug der europäischen Sonde Giotto am Halley’schen Kometen dabei war. Heute beeindruckt uns eine Fortentwicklung dieser Kamera auf der europäischen Sonde Mars Express mit fantastischen Stereobildern vom Roten Planeten. Oder schauen wir einmal auf die amerikanischen Mars Rover: Diese sind mit den für die Mission sehr wesentlichen deutschen Mössbauer-Massenspektrometern der Universität Mainz ausgestattet. Das zeigt ganz deutlich den hohen Stellenwert der deutschen Ingenieurkunst und der deutschen Wissenschaftler. ({2}) - Warten Sie einmal ab. Schon früh wurde in Europa erkannt, dass nur eine gemeinsame Raumfahrtpolitik erfolgreich sein kann. An diesem Prozess war und ist Deutschland maßgeblich beteiligt. So gelang es zunächst mit der Ariane IV, deren Komponenten unter anderem in Bremen und in Ottobrunn hergestellt wurden, und später mit der Ariane V, Europa eine international konkurrenz- und leistungsfähige Trägerrakete zu geben. Um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein, sind allerdings einige Weichenstellungen notwendig geworden. Die Probleme bei Arianespace infolge des misslungenen Starts der Ariane V ECA haben uns deutlich gemacht, dass Verpflichtungen für die europäische und nationale Raumfahrt nicht ausschließlich bei den nationalen Regierungen und der EU liegen können. Die Rolle der Industrie muss zukünftig einen höheren Grad an Mitverantwortung und Selbstverpflichtung aufweisen. Die ESA-Ministerkonferenz hat daher schon im Mai 2003 - das hat Swen Schulz eben auch gesagt - die richtigen Weichen für eine Rettung und Restrukturierung des Trägerprogramms Ariane gestellt. Außerdem ist es unverzichtbar, den Wandel der Raumfahrtpolitik hin zu einer stärkeren Anwenderorientierung zu fördern. Die Projekte Galileo und GMES stehen hier als Beispiele für einen Paradigmenwechsel. Große Potenziale für die Zukunft stecken in einer Erweiterung der Kooperation mit Russland, zum Beispiel über das Programm „Sojus in Kourou“ hinaus, in der eventuell gemeinsame zukünftige Trägersysteme entwickelt werden könnten. Es ist wichtig, dass die Kompetenz kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Raumfahrtindustrie erhalten bleibt, besonders auch in Deutschland. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass ihre Interessen bei der Vergabe von Entwicklungsprogrammen und Aufträgen im europäischen Rahmen angemessen berücksichtigt werden. ({3}) Mit der gemeinsamen Initiative für einen starken Luft- und Raumfahrtstandort in Ostdeutschland wollen wir deutlich machen, dass es ein großes Potenzial für ein drittes Zentrum der Raumfahrtindustrie neben Hamburg/ Bremen und München an den Standorten Berlin-Adlershof oder im Raum Dresden gibt. Hier gilt es, eine übergreifende Zusammenarbeit und eine stärkere Vernetzung der bestehenden Kompetenzzentren anzuregen und zu organisieren. Mir persönlich liegt besonders am Herzen, junge Menschen für die Raumfahrt und die damit verbundenen ingenieur- und naturwissenschaftlichen Studiengänge zu interessieren. Ihnen müssen wir mit unserer nationalen wie europäischen Raumfahrtpolitik echte und verlässliche Zukunftsperspektiven bieten. All dies nützt aber wenig, wenn nicht bereits in den Schulen das Interesse an Astronomie geweckt und gefördert wird. Noch gibt es vor allem in den neuen Bundesländern Astronomie als Pflichtfach. Es wäre höchst bedauerlich, wenn sich - wie jetzt in Sachsen - die Bestrebungen durchsetzten, die Unterrichtung dieses wichtigen und interessanten Schulfaches dem Rotstift zu opfern. ({4}) Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte ansprechen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Allerhöchstens einen Punkt.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Okay. - Ich wollte noch kurz etwas zur ISS sagen. Wir leisten einen großen Beitrag und wir stehen zu den Verträgen. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Damit ist es auch genug. Wir werden in Zukunft unsere Schwerpunkte auf die unbemannte Raumfahrt legen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper, FDP-Fraktion. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie kennen vielleicht den Song der Gruppe Karat, in dem es heißt: „Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehen.“ Die Brücken, die die FDPBundestagsfraktion mit ihrem Antrag „Stärkung der europäischen Raumfahrtpolitik - Gewinn für den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland“ vom Juni 2003 geschlagen hat, tragen offensichtlich, sonst würden heute nicht Ihre Anträge vorliegen. Wenn auch nicht sieben Jahre, so doch sieben Monate mussten wir warten - auch im für die Forschung zuständigen Ausschuss -, um das Thema überhaupt diskutieren zu können. ({0}) Aber, Herr Tauss, wir wissen es zu schätzen, dass das Thema jetzt auf der Tagesordnung steht. Vielleicht noch eine Parallele zu dem deutschlandweit erfolgreichen Lied von Karat: Es wurde zweimal erfolgreich gecovert, einmal von den Puhdys und dann von Peter Maffay. „Erfolgreich gecovert“ ist das richtige Urteil über die Anträge von SPD und Grünen sowie von der Union, die uns heute vorliegen. SPD und Grüne haben die Analysefähigkeit der FDP-Opposition genutzt ({1}) und einen forschungspolitisch betrachtet guten Antrag formuliert. Herr Schulz, ich bitte Sie, zuzuhören. Herr Tauss, kommen Sie im Ausschuss bitte nicht auf die Idee, zu sagen, der Antrag der FDP sei in Teilen überholt. Er ist immer noch weitaus aktueller als Ihrer. ({2}) Das Jahr der Technik und der Innovation hat gerade begonnen. Die Fraktionen von SPD und Grünen haben offensichtlich gerade noch zur rechten Zeit erkannt, dass es an der Zeit ist, die Triebwerke zu zünden, damit diese Bundesregierung endlich abhebt und Raumfahrtpolitik aktiv gestaltet. ({3}) Was nutzt aber die Zündung, wenn es uns nicht gelingt, die Projekte auf die Schiene zu setzen? ({4}) Nehmen wir Galileo. An welcher Stelle können wir in den Verhandlungen mit den USA über die Sendefrequenzen des Galileo-Systems die deutsche Position erkenCornelia Pieper nen? Ja, wir wollen eine Public Private Partnership bei der Umsetzung von Galileo, des weltweit besten und genauesten Satellitennavigationssystems. Seine Genauigkeit von 1 Meter gründet sich auf der verwendeten Frequenz. Die Amerikaner wollen unsere Verwendung der Signalstruktur BOC 22, wodurch wir eine Genauigkeit von 1 Meter erreichen, verhindern. Wenn wir uns nicht durchsetzen, wir also eine andere Signalstruktur verwenden, ist unser Wettbewerbsvorteil gegenüber dem amerikanischen GPS-System verspielt. Heute, mit einem dreijährigen Vorlauf, sind wir auf dem Markt interessant. Genau dieser Markt ist jedoch die Bedingung dafür, dass PPP überhaupt funktionieren kann. Nehmen wir den Trägerbereich, also alles, was wir unter Ariane V, dem europäischen Trägersystem für einen freien und unabhängigen Zugang zum Weltraum, verstehen. Völlig zu Recht stellen Sie fest, dass die Rolle der Industrie beim Trägersystem gestärkt worden und dass die EADS Hauptauftragnehmer geworden ist. Sie kommen an dieser Stelle aber über ein allgemeines Lob der Bundesregierung nicht hinaus. Ich vermisse die Aufforderung an die Bundesregierung - dies soll an dieser Stelle von unserer Fraktion aus geschehen -, das Ergebnis nicht zu verspielen. Ich sehe nämlich die Gefahr, dass die Führungsrolle der EADS, die 51 Prozent betragen sollte, durch die italienische Position bereits wieder infrage gestellt ist. ({5}) In Ihrem Antrag erwähnen Sie unseren nationalen Haushalt und somit auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung dieser rot-grünen Bundesregierung mit keinem Wort. ({6}) Das Signal von Rot-Grün für das Jahr der Technik, weniger Treibstoff für das nationale Programm auszugeben, was fatale Folgen für den Kompetenzerhalt der deutschen Industrie vor allem im mittelständischen Bereich hat, ist arbeitsplatzgefährdend. ({7}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Leistungskraft der deutschen Raumfahrtindustrie ist eine wesentliche Bedingung für die Vergabe von lukrativen Aufträgen aus den europäischen ESA-Programmen. Deswegen sollten Sie hier die richtige Weichenstellung vornehmen. Wir freuen uns jedenfalls auf die Diskussion im Ausschuss und bedauern, dass es so lange gedauert hat, bis Sie Ihre Anträge vorgelegt haben. Aber besser spät als nie! Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wettlauf zum Mars zwischen Amerika und Europa hat die Raumfahrt in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Debatte katapultiert. Ich finde, das war gut. ({0}) Das hat nämlich gezeigt, dass die europäische Raumsonde Mars Express, die uns die fantastischsten Bilder, die wir jemals sehen konnten, geliefert hat, wirklich ein Erfolg ist. ({1}) Durch die Bilder wurde deutlich, dass deutsche Wissenschaft und Ingenieurkunst ein wirklich brilliantes Meisterstück geliefert haben; ({2}) denn die Kamera, die uns diese Bilder geliefert hat, wurde von einem deutschen Wissenschaftler an einem deutschen Forschungsinstitut entwickelt. Wichtige Instrumente - auch darauf will ich hinweisen -, auch bei der amerikanischen Marsmission, stammen aus Deutschland. Lassen Sie mich hier ganz unbescheiden sagen, dass beide Marsmissionen, die europäische und die amerikanische, für Deutschland ein voller Erfolg waren. ({3}) Deutsche Forscher und Forscherinnen gehören in der Raumfahrt zur Weltspitze. Das ist eine Bestätigung für unsere Weltraum- und Raumfahrtpolitik. Das ist auch eine Bestätigung für die Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft und Forschung. Im Vordergrund steht für die Bundesregierung der konkrete Nutzen für den Menschen. Das beinhaltet sowohl den ökonomischen als auch den Nutzen an neuen Erkenntnissen und Fortschritten in der Wissenschaft. Wir setzen bei der Erkundung des Weltalls auf modernste Robotik, nicht auf Science-Fiction. ({4}) Lieber Kollege Nüßlein, ich freue mich schon darauf, wenn der erste Amerikaner den Mond betritt und ihm ein europäischer Roboter die Tür öffnet. Das zeigt, wer die Nase vorn hat. ({5}) Unser Land braucht einen kräftigen Innovationsschub. Raumfahrt schafft einen solchen Innovationsschub. Bereits heute ist die raumfahrtgestützte Infrastruktur die Grundlage für kommerzielle Anwendungen auf Hochtechnologiemärkten, die weiter wachsen werden und in naher Zukunft eine Wertschöpfung von vielen Milliarden Euro erwarten lassen. Navigationssysteme aller Art für den Personen- und Güterverkehr, Wetterdienste oder Erdbeobachtungssysteme - das ist hier schon genannt worden - dienen einer effektiveren Mobilität und einem besseren Verkehrsfluss. Sie dienen auch dazu, neue Rohstoffquellen zu erschließen. Sie dienen weiterhin dazu, dass wir zum Beispiel frühzeitig über Unwetter informieren und damit Menschenleben schützen können. Diese wenigen Beispiele zeigen deutlich, welche Rolle Weltraumtechnologie inzwischen in unserem täglichen Leben spielt. ({6}) Die Bundesregierung setzt ihre Schwerpunkte genau dort, wo wir eine sehr große Hebelwirkung auf Beschäftigung und wirtschaftliches Wachstum erwarten können. Deshalb spielt für uns das europäische Satellitennavigationssystem Galileo eine große Rolle. Wir erwarten - das sind die Schätzungen - bis 2008 europaweit über 100 000 Arbeitsplätze. Das war einer der Gründe, warum sich die Bundesregierung nachdrücklich für eine deutsche Führungsrolle eingesetzt hat. ({7}) Mit Erfolg: Wir haben in harten Verhandlungen die Systemführung und den Sitz von Galileo Industries nach Deutschland geholt. Galileo ist aber nur ein Projekt. Mit dem Satelliten TerraSAR und anderen Vorhaben, die mein Ministerium fördert, steigen wir in die Kommerzialisierung der Erdbeobachtung ein. Dabei gehen wir den Weg der Public Private Partnership, der hier gefordert worden ist. Diesen Weg gehen wir sowohl bei Galileo als auch bei dem Projekt TerraSAR. ({8}) Wir schlagen damit Brücken zwischen öffentlicher und privater Finanzierung und setzen so Mittel effektiver und besser ein. Gleichzeitig sorgen wir mit Public Private Partnership dafür, dass die Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung schneller Zugang zu den Märkten finden. Das ist unsere Politik und unsere Strategie. Ich komme zu dem Trägersektor, der hier angesprochen worden ist. Es ist richtig: Wir haben leider erleben müssen, dass die Konstruktion der Ariane V einen Fehler aufwies. Deshalb mussten wir unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, das europäische Trägersystem wieder funktionsfähig und zukunftssicher zu machen. Das hat zur Folge, dass wir in den kommenden Jahren mehr Mittel in die ESA investieren müssen, um die Ariane V wieder flottzumachen. Wir in Europa wollen einen eigenständigen Zugang zum Weltraum erhalten. Es ist eine richtige Politik, dass wir darauf nicht verzichten, sondern dass wir die Ariane zukunftsfähig machen wollen. Der ESA-Ministerrat hat im Mai 2003 die Weiterentwicklung der neuen Ariane-V-Version auf den Weg gebracht und gleichzeitig - dieses Ziel habe ich seit vier Jahren konsequent verfolgt - den europäischen Trägersektor neu geordnet. Ich teile die Bedenken, die Sie, Frau Pieper, genannt haben, nicht. Wir haben eine klare Verantwortlichkeit aufseiten der Industrie ({9}) und eine eindeutige, verbindliche Festlegung bei den Preisen erreicht. Wir haben es auch geschafft, dass es künftig nur noch einen industriellen Hauptauftragnehmer für Entwurf, Entwicklung und Fertigung der ArianeRaketen geben wird. Das ist das Ziel, das ich seit vier Jahren konsequent Schritt für Schritt verfolgt und jetzt erreicht habe. Es ist ein Erfolg, dass wir das endlich geschafft haben. ({10}) Eine erfolgreiche Raumfahrt erfordert große finanzielle Anstrengungen. Die öffentliche Hand in Deutschland investiert jetzt bereits rund 1 Milliarde Euro in Raumfahrttechnologie. Die hohen Investitionen, die wir für den weiteren Erfolg auf diesem Gebiet aufbringen müssen, werden wir nur gemeinschaftlich in Europa aufbringen können. Zwischen der Europäischen Raumfahrtagentur und der EU muss es daher eine enge Zusammenarbeit, aber auch eine klare Aufgabenteilung geben. Die EU muss die Raumfahrt für ihre Politik nutzen. Die ESA muss dafür die technologischen Grundlagen schaffen. Ich würde mich sehr freuen, wenn das gesamte Parlament diese Position unterstützen würde, denn das sind die Aufgaben, die wir jetzt in den Verhandlungen erfüllen müssen. ({11}) Die Bundesregierung richtet ihre Raumfahrtförderung darauf aus, wirtschaftlich und wissenschaftlich interessante Felder stärker zu besetzen und die deutsche Industrie in strategisch wichtigen Bereichen noch besser zu positionieren. Das ist für mich auch eine wichtige Standortpolitik. Ich bin stolz darauf, dass es mir gelungen ist, in den Verhandlungen durchzusetzen, dass Deutschland jetzt Aufträge in Höhe von rund 110 Millionen Euro beim Bau der Ariane-Rakete zusätzlich erhält. ({12}) Damit haben wir unsere Position in der ESA deutlich verbessert. Das heißt in der Konsequenz, dass wir Arbeitsplätze in Deutschland gesichert haben. Diese Arbeitsplätze wird es auch in Zukunft in Deutschland geben. Kurz gesagt, meine sehr geehrten Damen und Herren: Ich hoffe, dass wir gemeinsam sowohl hier im Parlament als auch in allen Verhandlungen dafür streiten, dass Deutschland in Zukunft ein wichtiges Land in der Raumfahrtforschung und Raumfahrttechnologie bleiben wird. Wenn uns dieser Wunsch eint, dann wird uns das auch gelingen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz. ({0}) - Alle Parlamentarier sind Multitalente.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin kein Multitalent wie der Kollege Tauss. Ich spreche zu der Vorlage über die militärische Nutzung des Weltraums und die Möglichkeiten der Rüstungskontrolle im Weltraum, also zu dem Bericht, für den ich Ihren Ausschuss loben und für den ich mich bedanken wollte. Es war etwas voreilig, Ihr Multitalent, Herr Kollege Tauss, auch anderen zu unterstellen. ({0}) Ich bedanke mich für die umfassende Darstellung über den gegenwärtigen Stand und die weiteren Entwicklungstendenzen und die damit verbundenen erheblichen Probleme, nämlich die Gefahr eines ungebremsten Rüstungswettlaufs im Weltraum. Der Bericht kommt zu sehr realistischen Einschätzungen der leider nicht sehr großen Chancen, die vorhandenen Lücken in den Rüstungskontrollregimen für den Weltraum zu schließen und das drohende Wettrüsten zu vermeiden. Er macht einige konkrete Vorschläge, wo angesetzt werden könnte, um wenigstens die Diskussion über eine Begrenzung und Kontrolle der Weltraumrüstung wieder in Gang zu bringen. Wir müssen nüchtern - vielleicht: ernüchtert - feststellen: Ein militarisierter Weltraum ist schon lange eine Tatsache. Zwar ist derzeit die Stationierung von Nuklear- und anderen Massenvernichtungswaffen im Weltraum verboten - auch die Einrichtung von militärischen Stützpunkten oder die Erprobung von Waffen -, aber es bleiben große Lücken, die genutzt wurden und werden. So gibt es Satelliten zur Aufklärung, Navigation und Kommunikation mit der Absicht, die Effizienz militärischer Operationen auf der Erde zu steigern. Zwar befinden sich noch keine Waffensysteme im Weltraum, mit denen unmittelbar auf andere Ziele im Weltraum oder auf der Erde eingewirkt werden könnte, aber an der Entwicklung solcher Weltraumwaffen wird gearbeitet, vor allem in den USA, aber auch in Russland und China. Das ist das Besorgnis Erregende. Weder die Entwicklung dieser Weltraumwaffen noch eine spätere Stationierung im Weltraum sind bisher durch irgendwelche rüstungsbeschränkenden Vereinbarungen untersagt. Auch wenn derzeit nur ein kleiner Kreis von Staaten technologisch und ökonomisch in der Lage ist, derartige Waffensysteme zu entwickeln, droht ohne Vereinbarungen zur Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle mittel- bis längerfristig ein allgemeines Wettrüsten im Weltraum mit heute nicht vorhersehbaren Auswirkungen für die Stabilität des internationalen Staatensystems und die globale Sicherheit. ({1}) Seitens der USA besteht eine technologische und ökonomische Überlegenheit über praktisch alle anderen Staaten. Amerika strebt nach der von ihm so genannten Space Control, um Bedrohungen auf der Erde und aus dem Weltraum abzuwehren, auch im Zusammenhang mit den Überlegungen zu einer Raketenabwehr vor dem Hintergrund von Failed States, ballistischen Raketen, Massenvernichtungswaffen und Terroristen. ({2}) - Ich habe Verständnis für diese Bemühungen, Herr Kollege Tauss. Ich bin mir sicher, dass wir uns ähnlich verhalten würden, wenn wir die technologischen Möglichkeiten hätten, um uns zu schützen. Allerdings - jetzt kommt die Einschränkung - werden diese Anstrengungen längerfristig wenig erfolgreich sein, wenn sie nicht durch Rüstungskontrollvereinbarungen flankiert werden. Denn andere Länder werden nichts unversucht lassen, um sich eigene militärische Potenziale im Weltraum aufzubauen. Das mag zwar länger dauern, es ist ihnen aber - das ist der springende Punkt - ohne Rüstungskontrollvereinbarungen nicht zu verwehren. Es liegt also auch im Interesse der USA, diese Entwicklung zu verhindern. Es bleibt unrealistisch, anzunehmen, der Weltraum werde jemals wieder ohne militärische Bedeutung sein. Deshalb sollte die Raketenabwehr zumindest zunächst von Rüstungskontrollüberlegungen ausgenommen werden, nicht zuletzt deshalb, weil wir ein eigenes Interesse an solchen Raketenabwehrsystemen haben. Die bisherigen Rüstungskontroll- oder Abrüstungsvereinbarungen kamen - das macht das Problem aus entweder zwischen gleichstarken Gegnern im Kalten Krieg oder als Vereinbarungen zwischen Staaten, denen sich Schwächere angeschlossen haben - wie im Atomwaffensperrvertrag - zustande. Jetzt geht es darum, dass stärkere Staaten - insbesondere die USA, aber auch Russland und China - auf Möglichkeiten zur Entwicklung und Stationierung von Weltraumwaffen verzichten sollen, über die derzeit nur sie verfügen, die aber auf längere Sicht nicht so exklusiv bleiben werden. Was kann getan werden? Seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre ist die Genfer Abrüstungskonferenz nicht zuletzt wegen eines Streites über diese Fragen blockiert. Bis dahin hatte die Konferenz jedes Jahr wenigstens ein Ad-hoc-Komitee zur Verhinderung eines Wettrüstens im Weltraum eingerichtet. Seit 1995 wollen viele Staaten dieses Komitee wieder einrichten, damit wenigstens wieder Gespräche über diese Thematik möglich sind. Dies zu erreichen ist die dringendste politische Aufgabe. Anschließend könnte man sich der schwierigen Aufgabe zuwenden, die bestehenden Definitionsschwierigkeiten zu klären, die es bei verschiedenen weltraumrechtlichen Begriffe und Sachverhalten noch gibt. Diese Klärung ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass man in einem nächsten Schritt präzise Verbotstatbestände angehen kann. Angesichts der aktuellen nuklearen Proliferationsgefahr, die sich an Staaten wie Pakistan festmacht, und der Diskussion um die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen auf der Erde mag die Diskussion über eine Kontrolle und Begrenzung der Weltraumrüstung als eher nachrangig erscheinen. Aber das wäre eine gravierende Fehleinschätzung. Die Bundesregierung sollte deshalb alles in ihren Kräften Stehende tun, um die internationale Arbeit zugunsten der Rüstungsbegrenzung und Rüstungskontrolle im Weltraum wieder in Gang zu bringen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dem Film „Good bye, Lenin!“ übernimmt der Fliegerkosmonaut Sigmund Jähn die Führung der DDR und bereitet die Menschen behutsam auf die Vereinigung beider Länder vor. Das war nicht nur witzig, sondern auch klug. Sigmund Jähn und die Raumfahrt spielten in der DDR eine besondere Rolle. Abgesehen von dem Medienrummel, den heute nur noch Popstars wie Jeanette Biedermann erfahren, waren viele Menschen stolz darauf, dass die DDR es geschafft hatte, auf einem Hochtechnologiefeld wie der Raumfahrt Spitzenleistungen zu erbringen. ({0}) Die Multispektralkamera MKF 6, die nur noch Multispektakelkamera genannt wurde, galt seinerzeit als das beste Weltraumauge. Mehr als 100 Geräte in den Kontrollzentren am Boden sowie Technik für Satelliten und Wetterraketen waren „Made in GDR“. Ich rede darüber so ausführlich ({1}) - ich sehe, dass das seine Wirkung nicht verfehlt -, ({2}) weil es eine Entwicklung von Hochtechnologie auf dem Gebiet der Raumfahrt in der DDR gab, die jetzt fast vom Aussterben bedroht ist. In dem Antrag der Koalition steht geschrieben, dass Sie die Wettbewerbsfähigkeit der Raumfahrtindustrie insbesondere in Ostdeutschland verbessern wollen. Allerdings erklären Sie nicht, wie die Bundesregierung diese Forderung umsetzen soll. Sie sagen auch nichts - in keiner Rede ist darauf eingegangen worden - zur Entwicklung der Raumfahrtforschung in den neuen Ländern. Also wieder nur ein Lippenbekenntnis? Wir beobachten jedenfalls mit großer Sorge, dass immer mehr Spitzenwissenschaftler aus dem Osten nach Bayern abgeworben werden und dass die Forschungsstandorte im Osten langsam austrocknen. Wir sind mit der absurden Situation konfrontiert, dass über den Solidarpakt zwar viel Geld in die neuen Länder fließt, dass aber gleichzeitig immer mehr kreative Menschen in die alten Länder auswandern müssen. Ich kann nur davor warnen, die Wissenschaftspolitik dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen. ({3}) Dass Bayern in der Raumfahrtforschung und -industrie so gut dasteht, ist kein Ergebnis des Wettbewerbs der Länder, sondern ein Ergebnis massiver politischer Einflussnahme. ({4}) Im Berliner Institut des Deutschen Zentrums für Luftund Raumfahrt arbeiten noch 350 Menschen, Tendenz fallend, und in Oberpfaffenhofen sind es 1 500, Tendenz steigend. Die Max-Planck-Gesellschaft hatte bis Ende 1996 noch eine Außenstelle in Berlin-Adlershof mit 35 Mitarbeitern - Adlershof wird ja als Technologiezentrum immer hochgelobt -, die sich mit kosmischer Plasmaphysik beschäftigten. Die Außenstelle sollte ein eigenes Institut werden. Aber daraus wurde nichts. Der Osten wird in der Raumfahrtforschung also abgehängt. Ich denke, das ist ein schlechtes Zeichen. ({5}) Zum Schluss möchte ich noch darauf eingehen, dass wir, die PDS, natürlich die friedliche Nutzung der Raumfahrt unterstützen. Ich habe mit Wohlgefallen vernommen, dass Herr Polenz in seiner Rede deutlich gemacht hat, internationale Abkommen für eine friedliche Nutzung des Weltraums seien unbedingt erforderlich. Er hat zwar dargestellt, dass er ein gewisses Verständnis für die Entwicklung einer Raketenabwehr hat. Dies habe ich nicht mit so viel Wohlgefallen gehört. Aber die Bundesregierung sollte die Forderung nach internationalen Abkommen für eine friedliche Nutzung des Weltraums aufgreifen und alles für ihre Erfüllung tun. Der Weltraum muss waffenfrei werden. Ich glaube nicht, dass er es ist. Das ist ein Ziel, für dessen Erreichung wir uns gemeinsam einsetzen sollten. Vielen Dank. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD] und des Abg. Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zuerst ein Wort zu Frau Dr. Lötzsch: Im Gegensatz zu dem, was Sie hier vorgetragen haben, bemühen wir uns - das gilt auch für die ostdeutschen Bundesländer -, die Forschungslandschaft in der Luft- und Raumfahrt in Ostdeutschland, die es übrigens schon vor der Gründung der DDR gegeben hat, wieder in stärkerem Maße zu vernetzen und einzubinden sowie dort zu fördern, wo es möglich ist. ({0}) Realität in Deutschland ist aber derzeit, dass die leistungsfähigen Zentren im Norden und im Süden der Republik zu finden sind. Es ist viel Richtiges gesagt worden. Ich habe mich hier eigentlich nur in meiner Rolle als Koordinator der Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt zu Worte gemeldet. Ich freue mich darüber, dass es neben der Kritik großes Einvernehmen darüber gibt, dass die Raumfahrt für Deutschland in technologischer, wirtschaftlicher und auch in strategisch-politischer Hinsicht eine ganz wichtige Rolle einnimmt, die wir allesamt unterstützen wollen. ({1}) Wir wollen Abhängigkeiten vermeiden. Wir wollen Wettbewerb in der Welt - das ist von einigen Rednern zu Recht angemerkt worden -, auch in Fragen, die die Zukunft und damit die Raumfahrt betreffen. Wir werden natürlich auch im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten von Amerika bestehen müssen. Die Zahlen sind wie folgt: In den Vereinigten Staaten sind rund 120 000 Menschen in der Raumfahrt beschäftigt und steht ein Budget von 12 Milliarden Euro bereit. Bei uns in Europa sind es etwa 33 000 Beschäftigte und ein Budget von 4,5 Milliarden Euro. Wir werden einen Fördermittelwettlauf - das müssen wir sehen - nicht gewinnen können. Wir müssen deshalb andere Qualitäten in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen unsere Potenziale noch effizienter nutzen. Wir müssen uns konzentrieren. Wir müssen Schwerpunkte setzen. Wir müssen unsere Industrie motivieren, in diesem Bereich noch stärke Anstrengungen zu unternehmen. ({2}) In einer Phase, in der es der Raumfahrt in Europa nicht sehr gut geht, möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich die außerordentlich positive und konstruktive Rolle der Ministerin Bulmahn hervorheben. Anders, als in den Anmerkungen der Opposition zum Ausdruck kam, wird von der deutschen Industrie immer wieder klargestellt - das ist völlig unumstritten -: Ohne die begleitende Intervention durch Frau Bulmahn ({3}) wäre die Konsolidierung der Ariane-Programme in Europa nicht möglich gewesen. ({4}) Ob man mit der EADS oder mit wem auch immer in diesem Bereich redet: Das ist unumstritten. Lassen Sie mich noch eines sagen. Wir brauchen in der Zukunft - das ist sehr wichtig - diesen Kern an Kompetenzen. Wir müssen sehen, dass unsere Workshares auch in der Zukunft für Deutschland im europäischen Konzert stehen. Dazu gehören die entsprechenden Unternehmen in und rund um München, in Bremen, in Friedrichshafen und anderswo. Es muss mit Argusaugen immer darüber gewacht werden - dafür müssen wir jedenfalls meines Erachtens Sorge tragen -, dass durch unsere Aktivitäten das unterlegt wird, was wir hier am Standort können. ({5}) Ich glaube, dass wir auch sehr erfolgreich dabei gewesen sind, Rückflussdefizite zu kompensieren und damit unsere Industrie weiter zu stärken. Auch das ist ein Punkt, den hier niemand bestreiten kann; im Gegenteil. Ein allerletzter Punkt von meiner Seite. Er betrifft die mittelständische Industrie in diesem Bereich. Wir müssen alles daransetzen, dass diese sehr leistungsfähigen Unternehmen - dazu gehören auch sehr leistungsfähige Mittelständler in Ostdeutschland - als Zulieferer, als Ausrüster in die Gesamtpakete der Beauftragung eingebunden werden. Ich glaube, dass wir gerade mit diesen sehr leistungsfähigen mittelständischen Hochtechnologieunternehmen das notwendige Know-how für die Raumfahrtprogramme der ESA liefern können und so letztlich technologischer Motor bleiben. Wir sollten nicht diejenigen sein, die die großen Teile herstellen und versuchen, darüber ihr Geld zu verdienen. Bei großen Teilen gibt es oft ruinösen Wettbewerb. Deshalb müssen wir uns in besonderer Weise den Sophisticated Products widmen. Das ist letztlich die Aufgabe der Politik, die wir betreiben, die Frau Bulmahn in ihrem Kompetenzbereich betreibt und die begleitend die anderen Ressorts betreiben. Im Gegensatz zu dem, was vorhin ein Redner behauptet hat, gibt es sehr wohl eine gut koordinierte und abgestimmte Politik der Bundesregierung für den Bereich Luft- und Raumfahrt. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2394, 15/2334 und 15/1371 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({1}), Daniel Bahr ({2}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wirtschaftliche und soziale Entwicklung der künstlerischen Berufe und des Kunstbetriebs in Deutschland - Drucksachen 15/1402, 15/2275 ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Der Berg kreißte und gebar eine Maus.“ Dieser Vers von Horaz drängt sich nach der Lektüre der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage auf. Horaz war ein Satiriker. Die Satire ist an ihrem Platz reizvoll; aber die Politik sollte ihr keine Bühne geben. Nur hat die Bundesregierung dies in diesem Fall getan. Ihre Antworten sind durchweg kleine und leider an allzu vielen Stellen auch keine. So war nach dem durchschnittlichen Einkommen angestellter Künstlerinnen und Künstler gefragt. Antwort: „Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“ Gefragt war nach der derzeitigen Rentensituation bei selbstständigen Künstlerinnen und Künstlern. Antwort: Es „liegen der Bundesregierung keine gesicherten Erkenntnisse vor“. Gefragt war nach der Höhe der Einkünfte von Kunstverwertern. Antwort: „Der Bundesregierung liegen hierüber keine Angaben vor.“ Gefragt wurde nach der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Restauratoren und Restauratorinnen. Antwort: „Besondere Erkenntnisse … hat die Bundesregierung nicht.“ Nur die Begrenzung der Redezeit hindert mich daran, diese Aufzählung fortzuführen. Es gab eine Serie von Fehlanzeigen. Dabei versteht es die Bundesregierung doch als ihre Aufgabe, „die wirtschaftliche und soziale Lage im Kulturbereich zu beobachten, …“. Beobachten wollen und sich dann mit der stereotypen Formel „Es liegen keine Erkenntnisse, keine Angaben, keine Informationen vor“ begnügen, das ist Satire. Diese Leerformeln sind nämlich kein einmaliger Kunstfehler im Programm; sie sind das Programm. Dies bekennt die Bundesregierung ganz offen. Zweck der Anfrage war, aussagekräftige Daten zur Kulturstatistik zu erhalten. Antwort der Bundesregierung: Eine umfassende Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler … hätte … umfassende Ermittlungen und Erhebungen erfordert, … - Ja, richtig: „umfassende Ermittlungen und Erhebungen“. Was, wenn nicht diese, waren denn Sinn und Zweck der ganzen Übung? ({0}) Offensichtlich hat die Bundesregierung nie an eine ernsthafte Beantwortung der Großen Anfrage gedacht. Große Anstrengungen hierfür hat sie jedenfalls nicht unternommen. Alle Experten auf dem Gebiet der Kulturstatistik haben im Rahmen eines öffentlichen Hearings im Dezember erklärt, von der Bundesregierung nicht befragt worden zu sein. Wer nicht fragt, der erhält keine Antworten und hat dann natürlich auch keine Erkenntnisse. ({1}) - Sehr richtig, Herr Otto. Wenn die Bundesregierung gefragt hat, dann nimmt sie es mit der Wiedergabe der Antworten nicht so genau. Gefragt war unter anderem, wie deutschen Künstlern und Galerien der Zugang zum ausländischen Kunstmarkt erleichtert werde. Die Bundesregierung deutet blumenreich eigene Initiativen an. Das hört sich aber beim Bundesverband Deutscher Kunstverleger vollkommen anders an: „Derartige Initiativen gibt es bedauerlicherweise nicht.“ Ist das die getreue Wiedergabe einer Antwort? Wohl nicht! Im Übrigen kommt die Bundesregierung zu ganz verblüffenden Erkenntnissen. Gefragt war nach den Plänen zur Einrichtung von speziellen Berufsberatungsprogrammen für Künstlerinnen und Künstler. Solche gibt es bei der Bundesagentur für Arbeit nicht. Nach dem Willen der Bundesregierung wird sich das auch künftig nicht ändern, weil sich derartige Programme „einschränkend auf die berufliche Neuorientierung auswirken könnten“. - Alle Achtung! Nach der Erkenntnis der Bundesregierung steht also eine Berufsberatung durch die BA einer beruflichen Neuorientierung im Wege. Was uns hier von der Regierung geboten wird, kann nicht ernst gemeint sein. Es kann von uns auch auf keinen Fall ernst genommen werden. ({2}) Dazu passt auch der wiederholte Hinweis, im Übrigen erwarte die Bundesregierung mit Interesse die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Wir alle wissen, dass der Bericht der Kommission erst in zwei Jahren vorliegen wird. Unsere Arbeit in der Enquete-Kommission entlässt Sie, verehrte Frau Staatsministerin Dr. Weiss, nicht aus Ihrer VerantworGitta Connemann tung. Denn durch die Beantwortung der Großen Anfrage sollte ja gerade eine Grundlage für unsere Arbeit in der Kommission geschaffen werden. ({3}) Wenn die Bundesregierung die Kulturschaffenden und ihre Interessen wirklich so ernst nehmen will wie wir, dann sind wir in der Enquete-Kommission gerne zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Ich biete Ihnen, Frau Staatsministerin, insoweit einen offenen Dialog an. Wir alle stehen ja in der Pflicht, für eine nachhaltige Entwicklung von Kunst und Kultur in Deutschland Sorge zu tragen. Darum müssen wir uns gemeinsam und ernsthaft bemühen. Die Bundesregierung wird diesem Anspruch mit ihrer Antwort jedenfalls nicht gerecht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Barthel?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nachdem ich die letzten zwei Sätze gesprochen habe und mit meiner Rede fertig bin, gerne. Aber dann wäre das ja keine Zwischenfrage mehr.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, dann ist es keine Zwischenfrage mehr. Lassen Sie also die Zwischenfrage zu?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich lasse die Zwischenfrage zu.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Connemann, ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass Sie hier die Dinge ein bisschen durcheinander bringen. Sie erwarten von der Bundesregierung Daten und Informationen. Dabei waren wir uns doch alle einig, dass, nachdem die vorhandenen Daten seit 30 Jahren nicht mehr überprüft oder gar neu erfasst worden waren, die Enquete-Kommission unter anderem deswegen eingesetzt wurde, um diese Daten zu erfassen. Jeder weiß, wie schwierig das ist. Als wir uns darüber verständigten, die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen ({0}) - ich frage, ob sie das weiß; das ist die schlichte Frage -, war dies als eine der Grundsäulen der Arbeit der Enquete-Kommission vorgesehen. Ich frage mich nun, wozu wir eine Enquete-Kommission benötigt hätten ({1}) - das frage ich Sie -, wenn die Daten, die Sie gerne hätten, schon existierten. Glauben Sie nicht, dass es vielmehr Aufgabe der Enquete-Kommission ist, diese Arbeit zu erbringen? Denn das geht über das hinaus, was die Bundesregierung bewältigen kann. Somit können Sie jetzt nicht von der Bundesregierung etwas erwarten, was eigentlich die Aufgabe der Enquete-Kommission ist. ({2})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage war interessant für eine Frage. Ich weiß das nicht, weil ich den Auftrag bei Einsetzung der EnqueteKommission nicht nur anders verstanden habe, sondern ihr Programm ({0}) - darf ich jetzt auch ausreden? - nach dem Einsetzungsbeschluss auch völlig anders verstehen muss. Sie wissen, dass wir in der Enquete-Kommission häufig über die Große Anfrage gesprochen haben. Sie wird auch Thema der Sitzung am 1. März sein, an der die Frau Staatsministerin teilnehmen wird. Sie wissen auch, dass die Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet wurde, um das vorhandene Datenmaterial zu sichten. Dann muss man sich aber auch ernsthaft bemühen, es zu sichten. Gerade diese ernsthafte Bemühung ist nicht zu erkennen. Als schlichte Abgeordnete in diesem Fall finde ich, dass die Bundesregierung meine Rechte, die ich als souveräne Abgeordnete habe und in Form einer Großen Anfrage mit der Bitte um Information wahrnehmen kann, einfach missachtet hat. Das bringe ich hiermit zum Ausdruck. ({1}) Ich darf dann auch als schlichte Abgeordnete mit folgender Beurteilung schließen. ({2}) - Ich bin zwar Vorsitzende der Enquete-Kommission, aber in diesem Fall auch schlichte Abgeordnete. - Die Bundesregierung wird aus meiner Sicht den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht. Die Kritik an diesem Opus kann deshalb nicht besser als mit einem Ausspruch von Marcel Reich-Ranicki auf den Punkt gebracht werden: Vorhang zu, wir sind betroffen und alle Fragen offen! Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Frau Staatsministerin Dr. Christina Weiss.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn der Deutsche Bundestag über die Lage von Künstlerinnen und Künstlern in diesem Lande debattiert, so hat dies immer noch den Hauch des Ungewöhnlichen - leider, muss man hinzufügen. Dabei wären wir gehalten, gerade in diesem Hohen Hause in selbstverständlicher Regelmäßigkeit einen Bericht zur geistigen Lage der Nation zu erstatten. ({0}) Dabei darf es nicht um Zuständigkeiten gehen. Die Entwicklung der Kultur in Deutschland muss auch ein Anliegen des Deutschen Bundestages sein. Es war deshalb nur folgerichtig - Eckhardt Barthel hat darauf hingewiesen -, dass die Regierungsfraktionen den Anstoß dafür gegeben haben, endlich eine EnqueteKommission „Kultur in Deutschland“ einzusetzen. Frau Connemann, wir warten natürlich gespannt auf die Ergebnisse dieser Kommission. Sie ist unendlich wichtig für die Erstellung eines relevanten Befundes über den Zustand der Kulturlandschaft Deutschlands. Dabei wird vor allem über die wirtschaftliche und soziale Lage von Künstlerinnen und Künstlern zu berichten sein. Statistik ist hier nicht in jedem Fall besonders sinnvoll. Künstler/Künstlerin ist keine Berufsbezeichnung. Die Berufe, die sich hinter dieser Bezeichnung verbergen können, sind so zahlreich wie alle anderen Berufe. Für Kreative gibt es auch keine sozialen Mindeststandards. Künstlerinnen und Künstler leben und arbeiten naturgemäß nach anderen Prämissen, nach Werten und Grundsätzen, die sich nicht einfach in ein gewohntes Sozialraster fügen. Künstlerinnen und Künstler benötigen Freiräume, die ihnen erlauben, kreativ zu arbeiten, die Gesellschaft zu befruchten, Anstöße zu geben. Das ist der Bundesregierung bewusst. Dies zu erreichen ist auch eine meiner Aufgaben. Seit einigen Jahren sind wir dabei, bürokratische Hürden, die die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler tangieren, systematisch aus dem Weg zu räumen. Zu nennen ist hier sicher an erster Stelle das Projekt der Kulturverträglichkeitsprüfung, die auf neue Gesetze angewendet wird und die sich bereits in den ersten anderthalb Jahren mehrmals segensreich bewährt hat. Außerdem ist es vor vier Jahren gelungen, die Novelle des Künstlersozialversicherungsgesetzes auf den Weg zu bringen. Im Sinne der Kreativen ist auch, dass die Besteuerung ausländischer Künstler reformiert werden konnte, ({1}) dass das neue Urhebervertragsrecht in Kraft trat und das Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft zustande kam. Mit all diesen wichtigen Gesetzeswerken haben Regierung und Parlament erfolgreich einen Teil des Reformstaus aufgelöst. Vor allem aber haben sie die Sorgen und Nöte der Künstlerinnen und Künstler ernst genommen. Die wirtschaftliche Situation von Künstlerinnen und Künstlern ist nach wie vor alarmierend. Nach Angaben der Künstlersozialkasse lag das durchschnittliche Jahreseinkommen der Freiberufler im vergangenen Jahr - hören Sie genau zu! - bei 11 144 Euro. Selbst wenn eine solche Zahl natürlich Unsicherheiten in sich birgt, weil sie nur auf eigenen Einschätzungen der Künstlerinnen und Künstler beruht, zeigt diese Zahl doch sehr beeindruckend, dass wir es hier mit einer unterdurchschnittlichen Einkommensentwicklung zu tun haben. Zyniker würden wohl von auskömmlicher Armut sprechen. Das kann uns nicht beruhigen, das treibt uns um und das verlangt nach weiteren Modellen der Hilfe zur Selbsthilfe. Glauben Sie mir: Die Stars, die alle kennen und von denen wir glauben, wir wüssten, wie hoch ihre Honorare sind, sind weitaus rarer, als wir alle vermuten. Die Bundesregierung wird zielgenau das ihr Mögliche tun, um Künstlerinnen und Künstler weiter zu entlasten. Wir werden ein Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft in den Deutschen Bundestag einbringen. Wir denken dabei auch über die seit langem geforderte Ausstellungsvergütung und das Künstlergemeinschaftsrecht nach. Wie Sie wissen, setzt sich diese Koalition dafür ein, dass für bildende Künstlerinnen und Künstler auch ein Modell für Ausstellungshonorare entwickelt wird. Gleichwohl wird dabei natürlich zu klären sein, wie das praktisch aussehen kann, ohne zum Beispiel Museen in Probleme und Nöte zu stürzen. Hier suchen wir das intensive Gespräch mit privaten und öffentlichen Ausstellungsmachern. Niemand hat ein Interesse daran, dass Ausstellungspläne durch zusätzliche Belastungen zunichte gemacht werden. ({2}) Aber die künstlerische Leistung ist ein Wert an sich und die, so meine ich, sollte auch durch ein angemessenes Honorar belohnt werden. Wenn wir das Urheberrecht neu justieren, dann tun wir dies auch deshalb, weil wir den Künstlern eine angemessene Vergütung sichern wollen. Hier hinkt im Übrigen das geltende Recht den technischen Möglichkeiten hinterher. Die jetzige Bundesregierung hat weitere steuerliche Vergünstigungen für Künstlerinnen und Künstler durchgesetzt. Ich erinnere an die existenziell wirklich notwendigen und weitreichenden Verbesserungen bei der Besteuerung ausländischer Künstler. Weiterhin konnte der Übungsleiterfreibetrag ermöglicht und konnten Erleichterungen bei der Umsatzsteuer verankert werden. ({3}) Für weitere steuerliche Vergünstigungen im künstlerischen Bereich zu kämpfen ist in dieser Zeit - das wissen Sie alle - natürlich besonders schwer. Die Lage der öffentlichen Haushalte ist angespannt wie nie. Wir können also nur langsam vorankommen. Mit dem Heraufsetzen des Grundfreibetrages zu Beginn dieses Jahres ist dies beispielhaft geschehen. Wenn wir die Rahmenbedingungen des Kunstmarkts gestalten, dann muss auch auf internationale Belange Rücksicht genommen werden. Das gilt in besonderer Weise für die UNESCO-Konvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut. Dieses Abkommen stammt aus dem Jahre 1970 und muss in Deutschland schleunigst ratifiziert werden. ({4}) Dazu wird ein entsprechendes Ausführungsgesetz nötig sein. Mein Haus verfasst derzeit einen Referentenentwurf, der auch den Interessen und Belangen des Kunstmarktes gerecht wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich der deutsche Kunstbetrieb keinesfalls in einer desaströsen Lage befindet; es geht ihm aber auch nicht gut. Bund und Länder sind hier gehalten, einen Wahrnehmungssprung zu vollführen. Wir brauchen einen Bewusstseinswechsel, wenn wir es mit Deutschland als Kulturnation ernst meinen. Es geht nicht allein um staatliche Förderung, es geht darum, zu erkennen, welchen Wert die Kultur in einer Gesellschaft besitzt, welchen Platz sie einnimmt und was sie in dieser Gesellschaft bewegt. ({5}) Darüber müssen wir uns viel stärker verständigen, nicht nur in Großen Anfragen, sondern jedes Jahr erneut. Ich hoffe, Frau Connemann, dass wir dies ganz besonders in der Enquete-Kommission tun werden, die genau das zum Ziel hat. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDPFraktion. ({0})

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, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Frau Dr. Weiss, ich habe Ihren Worten - wie immer - mit großem Genuss gelauscht. ({0}) Ich habe mich allerdings gefragt, worüber wir hier eigentlich debattieren. Sie haben zehn Minuten gesprochen. Aber das, worüber Sie gesprochen haben, findet sich nicht in der Tagesordnung. ({1}) - Ich habe es genossen. Es war eine künstlerische Leistung. Auf dem Spielplan stand das Stück „Camouflage“. Ich muss meinen Respekt dafür aussprechen, wie die recht bescheidene Antwort der Bundesregierung in mustergültiger Weise sozusagen versteckt worden ist. Was mir immer wieder auffällt und was mir nicht gefällt, ist die große Diskrepanz zwischen Worten und Taten. ({2}) Sie sagen, Deutschland brauche einen Bewusstseinswechsel. Meine Güte! In der Vorbemerkung ihrer Antwort auf die Große Anfrage - nur dies steht auf der Tagesordnung -, teilt uns die Bundesregierung mit, dass die Lage der Kulturschaffenden von ihr kontinuierlich beobachtet werde. Auf immerhin zehn Fragen weiß die Bundesregierung aber überhaupt keine Antwort. ({3}) Der Satz, dass der Bundesregierung keine Erkenntnisse vorliegen, ist der mit Abstand am meisten verwendete Satz in dieser Antwort auf die Große Anfrage. Für die übrigen Antworten, die uns die Bundesregierung gibt, bedient sie sich im ersten Teil der Künstlersozialkasse und im zweiten Teil der einschlägigen Fachverbände als Informationslieferant. Besonders gut, liebe Frau Dr. Weiss, gefällt mir Ihre Antwort auf die Frage 49. Man muss sie sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Die Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP hatten gefragt: Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Anteil von Menschen an der Bevölkerung in Deutschland, die in Kunst investieren? Diese Frage ist im Hinblick auf die Finanzierung von Kunst und Kultur in Deutschland nicht ganz unwichtig. Jetzt bitte genau hinhören - Originalton Frau Dr. Weiss -: Die Bundesregierung verfügt weder über gesicherte Erkenntnisse über den Anteil von Menschen, die in Deutschland Finanzmittel in Kunst als Sachgut in der Erwartung eines Gewinns und/oder als Wertbzw. Kapitalanlage investieren, noch über den dadurch getätigten Kapitaleinsatz. Nun gut, das ist typisch für die Antwort. Aber jetzt kommt es ({4}) - jetzt hören Sie doch einfach einmal zu; das ist Originalton Frau Dr. Weiss -: Sofern der Kauf von Kulturgütern als Gebrauchsgegenstände zum Zweck der geistigen Erbauung oder Freizeitgestaltung gemeint sein sollte, wie z. B. Bücher, CDs oder Theater- und Kinokarten, wäre ein sehr guter Prozentsatz zu erwarten, da augenscheinlich die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung derartige Produkte nachfragt. Witzig! Liebe Freunde, wenn das Thema nicht so ernst wäre, würde ich sagen: Veralbern kann ich mich selber. Das ist nun wirklich ein Nullsummenspiel. Ich will jetzt aber zum Kern des Problems zurückkehren. Diesen haben Sie erwähnt, nämlich die Tatsache, dass das Durchschnittseinkommen der selbstständigen Hans-Joachim Otto ({5}) Kulturschaffenden in Deutschland bei jährlich circa 11 100 Euro liegt. Wenn ein solcher Künstler dieses durchschnittliche Einkommen 40 Jahre lang bezieht und brav in die Künstlersozialkasse einzahlt, dann bekommt er wie viel Rente? - 400 Euro monatlich. Das ist in der Tat ein alarmierender Befund. Liebe Frau Kollegin, jetzt sage ich Ihnen: In einer solchen Situation kann man nicht die Arbeit, die man selber erledigen müsste, nämlich gesichertes Datenmaterial zu erarbeiten, auf eine Enquete-Kommission verschieben, wenn gleichzeitig - das muss man wissen - den Mitgliedern der Enquete-Kommission ständig Mittel gestrichen werden. Diese sind gar nicht in der Lage, ein so umfangreiches Datenmaterial zu erarbeiten. Aufgabe der Enquete-Kommission kann es nicht sein - jedenfalls nicht in erster Linie -, diese erschreckenden Datenlücken auszufüllen. Das muss von demjenigen geleistet werden, der über geeignete Finanzmittel verfügt. Das ist in erster Linie die Bundesregierung. ({6}) Was die Enquete-Kommission leisten muss und auch kann - dafür sind wir alle angetreten -, ist, auf der Basis gesicherten Datenmaterials Handlungsempfehlungen zu erörtern und diese dann an die Bundesregierung weiterzuleiten. Das wollen wir alle tun. Liebe Frau Dr. Weiss, abschließend dazu: Ich bin jetzt seit zehn Jahren im Parlament. Ich habe einige Antworten auf Große Anfragen gelesen, manche mit Zustimmung, manche mit Kopfschütteln. Ich habe, glaube ich, in meiner parlamentarischen Laufbahn noch nie eine Antwort auf eine Große Anfrage erlebt, die so wenig Erkenntnisse signalisiert hat wie diese. Ich ziehe aus diesem Nullbefund der Großen Anfrage die Erkenntnis: Wir müssen - das ist jetzt ein Angebot zur Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg - und nicht erst dann, wenn die Enquete-Kommission ihre Arbeit beendet hat - dafür Sorge tragen, dass wir in Deutschland schnellstens über die erforderlichen Datensätze in Bezug auf diesen enorm wichtigen Bereich, in dem es Not und Handlungsbedarf gibt, verfügen. Das kann man nicht auf die EnqueteKommission abschieben. Das ist Aufgabe des Parlamentes insgesamt und vor allen Dingen auch der Bundesregierung. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Otto, manchmal wundere ich mich über den Freiheitsgehalt in den Gedankengängen von Liberalen. Wenn Sie in einem freien Markt und einem freien Austausch zwischen Künstlern und an Kunst Interessierten jeden Geschäftsgang erfassen wollten, dann hätten wir sicherlich keine freiheitliche Gesellschaft mehr. ({0}) In einem kleinen Kreis wie diesem lieben wir alle die Künstler; das setze ich jedenfalls voraus. Manchmal aber gibt es auch so etwas wie eine Verklärung des Künstlerdaseins. Beim Blick auf die Chancen von Freiheit und Selbstverwirklichung im künstlerischen Beruf wird aber nur zu oft die Lebenswirklichkeit übersehen, die gerade bei Künstlern oft von materieller Not und auch von prekären Fragen gesellschaftlicher Anerkennung geprägt ist. In der von der Opposition gestellten Großen Anfrage zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstlerischen Berufe sind wichtige Probleme aufgegriffen worden; das wird hier sicherlich niemand bestreiten. Allerdings kam sie - das ist schon mehrfach gesagt worden - zu einem ganz ungewöhnlich merkwürdigen Zeitpunkt. Bereits vor der Anfrage der Opposition war doch klar, dass die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler ein wesentlicher Grund für die Einsetzung der Enquete-Kommission gewesen ist, die wir ja mit großer Kraft durchgesetzt haben. Immerhin gibt es in dieser Legislaturperiode überhaupt nur zwei Enquete-Kommissionen. Dies zeigt den großen Vorrang, den wir dieser Frage - auch bereits in der Koalitionsvereinbarung - eingeräumt haben. Deshalb sollte eine Anfrage an die Anfrage erlaubt sein: Geht es hier nicht um einen etwas merkwürdigen Aktivismus, mit dem ein schon fahrender Zug noch angeschoben werden soll? Wenn ich mir dies im Bild vorstelle, dann wäre diese slapstickhafte Szene gut mit Charlie Chaplin zu besetzen gewesen: Der Zug fährt und Sie rollen hinterher, um ihn tüchtig anzuschieben. ({1}) Die Regierung hat, wie ich glaube, auf diese Anfrage in korrekter Weise, nämlich mit Respekt vor dem Parlament, reagiert. ({2}) Wir haben es oft kritisiert, dass die Regierung noch eine Kommission eingesetzt und so getan hat, als sei im Parlament gar kein Sachverstand vorhanden. In diesem Fall hat die Regierung einmal anerkannt, dass sie zu vielen Fragen die Debatte in der Enquete-Kommission abwarten sollte. Wir haben auch gesagt, dass die Arbeit der Enquete-Kommission sehr konzentriert verlaufen und nach zwei Jahren abgeschlossen sein soll. Respekt vor dem Parlament ist auch so etwas wie demokratische Kultur. Dieser Respekt ist dadurch bewiesen worden. ({3}) Es ist schon von vielen gesagt worden - deswegen kann ich an diesem Punkt meine Rede kürzen -, dass das geringe Einkommen von freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern besorgniserregend ist, sodass viele von ihnen, bevor sie Künstler sein können, erst einmal Lebenskünstler und Überlebenskünstler sein müssen. Tatsächlich liegt ein Durchschnittseinkommen von etwa 11 000 Euro weit unter dem anderer Erwerbstätiger. Von einer Rente von 400 Euro im Monat - Sie haben das zusammengerechnet, Herr Otto - kann niemand leben; die Mindestrente in Berlin beträgt 693 Euro. Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Ich nenne hier einige Einzelmaßnahmen, die zusammen wirken müssen; denn einen Königsweg gibt es bei einer so komplizierten Lage weder in diesem Fall noch in den vielen anderen Fällen, mit denen sich das Parlament, die Regierung und die Koalitionsfraktionen herumschlagen müssen. Erstens. Mit Blick auf das Rentenproblem ist zu prüfen, ob die Riester-Rente in besonderer Weise auf den Künstlerbereich zugeschnitten werden kann. Auch Modelle von Künstlerfonds und Lösungsversuche aus anderen europäischen Ländern können Anregungen bieten. Die Enquete-Kommission eruiert einen entsprechenden Maßnahmenkatalog. Es gehört gerade zu unseren Aufgaben, solche Ideen aus anderen Ländern zu transportieren. Ich wünsche mir allerdings manchmal, dass wir in der Enquete-Kommission nicht so viele Formalitäten besprechen, sondern unsere kostbare Zeit sehr viel eher für diese Modelle und Anregungen aus anderen Ländern verwenden. Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Selbstvermarktungsanteil der Künstler könnte sich für die Künstlersozialkasse ein Problem ergeben. Dies ist besorgniserregend. Der Rechnungsprüfungsausschuss des Haushaltsausschusses im Bundestag stellt gegenwärtig eine Untersuchung zu diesem Thema an. Dazu ist zu sagen, dass der Bundeszuschuss zur Künstlersozialkasse inzwischen vom Selbstvermarktungsanteil der Künstler abgekoppelt wurde. Die Bundesmittel sind also nicht vom Umfang der Selbstvermarktung abhängig, die die Künstlerinnen und Künstler betreiben. Eine Senkung des Bundesanteils darf es nach unserer Meinung hier nicht geben. Dies sage ich auch im Namen der Bundesregierung. ({4}) Drittens. Die Verbesserung der Einkommensmöglichkeiten ist ein zentraler Baustein in diesem Problembereich. Im komplizierten Geflecht zwischen Urhebern und Verwertern wurde von Rot-Grün hier schon manches erreicht; die Frau Staatsministerin hat es dargestellt. Im Zusammenhang mit dem anstehenden Zweiten Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft prüfen wir, was wir noch zusätzlich tun können. Ich denke an die Ausstellungsvergütung - da haben wir schon vorgearbeitet - und an das Künstlergemeinschaftsrecht. Viertens. Gerade in der Enquete-Kommission spielt der Bereich der künstlerischen Bildung und der Zusammenarbeit von freien Künstlern mit den Schulen eine große Rolle. Ich glaube, dass wir hier sehr innovativ sein können. Es gibt sehr viele Künstler - ich denke etwa an die sehr vielen ausgebildeten Orchestermusiker, die niemals alle einen bezahlten Vollzeitplatz in einem Orchester haben werden -, denen wir zum Beispiel im Rahmen der Ganztagsschule eine Perspektive geben könnten, pädagogisch tätig zu sein. Wie bei vielen anderen auch sind kombinierte Lebensmodelle denkbar, wo man einerseits in einem selbst gewählten Ensemble spielen und andererseits als Pädagoge in der Schule tätig werden kann. In einem Bereich, der die Schulausbildung am Nachmittag auszeichnen könnte - der Förderung der Kreativität von Jugendlichen -, könnten ganz neue Berufsperspektiven und Berufsbilder entstehen. Ich glaube, dass wir in dieser Richtung eine ganze Menge neu denken müssen, und ich hoffe, dass wir das da tun, wo es hingehört, nämlich in der Enquete-Kommission. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSUFraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den bisherigen Reden ist deutlich geworden, dass die wirtschaftliche und soziale Situation der Mehrheit der Künstler in Deutschland wahrlich alarmierend ist. Der Ausdruck „brotlose Kunst“, den man zurzeit in der Bevölkerung des Öfteren mit Bezug auf die Bundesregierung hört, erhält dabei wirklich eine praktische Bedeutung. ({0}) - Ich will keinesfalls künstlerische Kreativität mit der Arbeit der Bundesregierung vergleichen. Damit würde ich allen Künstlern im Lande Unrecht tun. Denn Kunst und Kultur sind interessant, was man von der Arbeit der Bundesregierung absolut nicht sagen kann. ({1}) Eigentlich wären beim Thema „soziale Lage von Künstlern“ SPD und Grüne mit ihrer Kulturstaatsministerin gefordert gewesen, sich der wirtschaftlichen Belange der künstlerischen Berufe anzunehmen. Hier hätte doch die Staatsministerin mit neuen Ideen punkten können. Aber Fehlanzeige! Sie kümmert sich stattdessen lieber um die Präsentation der Sammlungen Flick und Newton und vernachlässigt dabei junge Künstlerinnen und Künstler. ({2}) Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage sind - das wurde schon gesagt - sehr enttäuschend. In der Einleitung betont die Bundesregierung zwar, dass sie die Lage der Kulturschaffenden kontinuierlich beobachtet und durch die Kulturverträglichkeitsprüfung sicherstellen will, dass sich Gesetzesvorhaben nicht nachteilig auf den Kulturbereich auswirken. Aber das ist auch schon alles. Wenn man das Thema vernachlässigt, hat man halt keine Zahlen und Fakten. Außerdem vermisse ich die Bereitschaft, auf unsere Fragen einzugehen. Nur mit der Frage 20 - Bereich Hochschulen - hat man sich lange befasst. Obwohl man keine Zuständigkeiten hat, wurde ausführlich geantwortet. Das ist typisch: keine Bundeszuständigkeit, aber immer den Versuch unternehmen, den Ländern in die Kulturhoheit hineinzureden. ({3}) Das Ziel der Bundesregierung sollte doch sein, nur dort, wo der Bund die Zuständigkeit besitzt, zeitgemäße Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Kunst- und Kultureinrichtungen erlauben, im Sinne der freien künstlerischen Gestaltung zu arbeiten. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist schon erstaunlich, dass die Bundesregierung es entschieden ablehnt, die soziale Lage der Künstler durch Maßnahmen in der Sozialgesetzgebung zu verbessern. Wir haben gehört, dass das Jahreseinkommen gerade 11 000 Euro beträgt. Demgegenüber verdienen in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte rund 29 000 Euro. Viele Künstler haben schon während ihrer aktiven Berufszeit zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Als Rentner werden sie dann, wie die Bundesregierung bestätigt, auf die soziale Grundsicherung angewiesen sein. Zudem wird die Zahl der arbeitlosen Künstler immer größer. ({5}) - Kollege Barthel, darüber sollten wir uns unterhalten. Das wäre die Antwort auf unsere Anfrage gewesen. Da hätten Sie Ideen entwickeln können. ({6}) Frau Staatsministerin, in unserer Großen Anfrage haben wir die Sparte Literatur nicht ausdrücklich erwähnt. Aber dass Sie Ihr Lieblingsthema Literatur mit keinem Wort erwähnen, stimmt schon bedenklich. Bei Ihrer Vorliebe für Literatur müssten Sie doch mit den Sorgen und Nöten dieser Branche vertraut sein. Gerade Frau Dr. Weiss darf auf diesem Auge nicht blind sein. Sie hätte zumindest die bei der Künstlersozialkasse verfügbaren Daten wortreich nutzen können. ({7}) - Herr Kollege, wir haben sie nicht vergessen, sondern wir haben gewartet, ob die Bundesregierung darauf eingeht. ({8}) - Wir haben viel gefragt und keine Antwort bekommen. Die wirtschaftliche Lage der Schriftsteller, Übersetzer und der Autorinnen und Autoren sowie die Entwicklung des Buchmarktes wurden von Ihnen leider vollkommen außen vor gelassen. Die Regierung Schröder ist doch mit dem Grundsatz angetreten, der Kultur einen neuen Stellenwert zu geben. ({9}) - Das Gegenteil ist der Fall. ({10}) Man könnte es aber auch so formulieren: Deutschland versteht sich zwar als Kulturnation - wir werben weltweit mit unserer kulturellen Vergangenheit ({11}) und mit den Namen unserer großen Künstler -, aber wir achten nicht darauf, dass diejenigen, die in unserem Lande heute künstlerisch tätig sind, auch nur halbwegs ein Auskommen haben. ({12}) Ihnen genügt offenbar der Bezug auf die große Geschichte; denn mit ihr muss man sich ja nicht auseinander setzen, weil ihre Anerkennung weltweit gesichert ist. Meine Damen und Herren, nachdenklich stimmen allerdings die boulevard-spektakulären TV-Demoskopien des ZDF vom November vergangenen Jahres. ({13}) Dabei ging es um die Frage: Wer ist der beste Deutsche? Als geborene Nürnbergerin fiel mir auf, dass Albrecht Dürer, der Weltkünstler der Renaissance, bei diesem Kulturevent nur auf Platz 91 der 100 meistgenannten Deutschen zu finden war. ({14}) Die Boulevardjury der Deutschen repräsentierte das klägliche Niveau der an der Auswahl beteiligten Fernsehkonsumenten. Denn diese hielten Beate Uhse und Dieter Bohlen für bedeutsamer und besser als den Meister der Apokalypse und der Aposteltafeln. Hier wäre die Kulturstaatsministerin dringend gefordert, Kunst und Kultur unter die Leute zu bringen. Denn es ist ihre Aufgabe, der Allgemeinheit Kunst und Kultur näher zu bringen. ({15}) - Sie lachen zwar, aber ich glaube, hinter Ihrem Lachen verbirgt sich die ernste Erkenntnis, dass Sie dies in den letzten Jahren versäumt haben. ({16}) Trotz der gleichen Startbedingungen, was die Spielregeln des Kunstmarktes angeht, stehen Künstlerinnen im Unterschied zu ihren Kollegen jedoch sehr schnell schlechter da. Die Gründe hierfür zu erforschen wäre auch die Aufgabe der Ministerin, und zwar in Zusammenarbeit mit der Bundesfrauenministerin. Kunst braucht aber auch Gunst - die Gunst des Publikums und die der Förderer. Das bedeutet nicht, den Staat aus seiner Verantwortung zu entlassen. Aber Kulturförderung ist in erster Linie Aufgabe des Staates. Kulturpolitik ist mehr als die direkte Kulturförderung. Kulturpolitik wird in entscheidendem Maße auch vom Finanzminister und vom Wirtschafts- und Arbeitsminister geprägt. Denn Kunst und Kultur sind mehr als nur weiche Standortfaktoren. Kunst und Kultur sind die Kulissen unseres Lebens ({17}) und bestimmen maßgeblich unsere Sozialisation. Deshalb braucht unsere Gesellschaft den schöpferischen Geist der Künstler. Denn Kunst und Kultur sind keine Zutat, sondern der Sauerstoff einer Nation. Ihre Förderung sollten wir parteiübergreifend anpacken. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika KrügerLeißner, SPD-Fraktion.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den bisherigen Redebeiträgen habe ich eines entnommen: Wir brauchen die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Gerade im Kulturbereich besteht ganz offensichtlich Nachholbedarf. Sowohl was die Datenlage auf Bundesebene als auch was vor allem die Erkenntnisse über die Bewertung der Rahmenbedingungen von Kunst und Kultur in Deutschland betrifft. Dies hat die Antwort auf die Große Anfrage mehr als deutlich gemacht. Wir wissen zu wenig über die soziale und wirtschaftliche Lage von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland. Wir wissen zu wenig über die öffentliche und private Kulturförderung. Wir wissen zu wenig über die wirtschaftliche Situation des Kunstbetriebes. Darüber hinaus haben wir, was die finanzielle Ausstattung insbesondere der Kommunen im Kulturbereich oder auch die Qualität der Entscheidungsstrukturen in diesem Bereich betrifft, zu geringe Kenntnisse. Ich will durchaus kritisch mit der Beantwortung der Großen Anfrage umgehen. ({0}) - Das bin ich eigentlich immer. - Wie ich festgestellt habe, haben wir über die Einkünfte angestellter Künstlerinnen und Künstler keine Kenntnisse. Eine Ausweisung von befristet oder unbefristet beschäftigten Künstlern findet in der Statistik nicht statt. Deshalb wissen wir nichts über das Verhältnis von kunstbezogenen zu nicht kunstbezogenen Einkünften am Gesamteinkommen. Entsprechend fehlen uns Erkenntnisse über die Auswirkung von Veränderungen im Steuerrecht auf Kulturschaffende. ({1}) Aufgrund der vorliegenden Daten lässt sich der Anteil des Kunstmarktes am Bruttosozialprodukt in Deutschland nicht berechnen. Die Einkünfte von Kunstverwertern sind nicht bekannt. Ich könnte die Reihe fortsetzen, Nur - jetzt müssen Sie zuhören, Herr Otto -, wenn Sie ganz ehrlich sind, sind diese Erkenntnisse nicht das Ergebnis der Großen Anfrage, die uns vorliegt. Denn das - wenn auch zu Ihrer Verwunderung, Herr Otto - wussten wir eigentlich schon vorher. ({2}) So ist es kein Wunder, dass die Antwort auf diese Große Anfrage äußerst unbefriedigend ausfällt. Ebendiese Situation - daran möchte ich alle Kollegen erinnern - hat uns ja dazu gebracht, eine Enquete-Kommission zu fordern, die hier Abhilfe schafft. Während wir uns aber mit Aufgabenstellungen, Fragen und Zielvorstellungen der Kommission beschäftigten, stellten Sie von der Opposition eine Große Anfrage, obwohl von vornherein klar sein musste, dass die Antwort in vielen Teilen dünn ausfallen würde. Man hat das Gefühl, die Opposition meint, dass sich, wenn man nach einer Sache, von der man weiß, dass sie nicht beantwortet werden kann, nur oft genug fragt, die Antwort von selber einstellt. Anders ist mir der Zweck der Anfrage nicht erklärbar. Anlässlich des Versuches der Opposition, die Bundesregierung mit dünnen Ergebnissen vorzuführen, ({3}) möchte ich eines klarstellen: Das wird Ihnen nicht gelingen. Denn ich muss Sie daran erinnern - möglicherweise hat Ihr Gedächtnis in dieser Frage etwas nachgelassen -, dass es vor allem die Kohl-Regierung war, die eine bessere statistische Erhebung für den Kunst- und Kulturbereich verhindert hat. ({4}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Tatsache, dass eine bessere Erhebung von Daten im kulturellen Bereich 1994 und 1998 von der damaligen Bundesregierung unter dem Stichwort „Schlanker Staat“ abgelehnt wurde. ({5}) - Sie müssen zuhören. Sie können sich nämlich nicht daran erinnern. Hinzu kommt die Tatsache, dass eine Erhebung auf Bundesebene nicht durchgeführt wurde, weil die Kulturkompetenz nun einmal bei den Ländern liegt. Wir sind daher auf die Unterstützung der Länder angewiesen, wenn wir mehr wissen wollen. Ich erinnere an unsere Diskussion in den letzten Wochen. Wir haben uns bei einem öffentlichen Expertengespräch zur Kulturstatistik im Rahmen der Enquete-Kommission darüber unterhalten, wie wir zukünftig mit Kulturstatistik umgehen wollen, welche Daten wir brauchen und auf welche vorhandenen Ressourcen wir zurückgreifen können. Große Anfragen helfen uns kein Stück weiter. Was wir brauchen, ist eine gemeinsam mit den Ländern und den Verbänden abgestimmte Linie, der wir dann auch folgen - und das als Ergebnis der Arbeit der EnqueteKommission. Frau Blank hat es nebenbei erwähnt, aber ich denke, es ist eine Bemerkung von mir wert: Ihre Anfrage ist, finde ich, nicht sehr sorgsam ausgearbeitet. ({6}) - Quatsch! Offensichtlich entstand die Anfrage unter einem wahnsinnigen Zeitdruck. Ich kann mir jedenfalls nicht erklären, aus welchem Grund Sie den Bereich Wort, der ja zweifellos zu Kunst und Kultur gehört, ausgespart haben. Wenn man schon eine Anfrage stellt, die unsere Arbeit weiterbringen soll, dann sollte das wenigstens sorgfältig geschehen. ({7}) Eines wird in der heutigen Debatte deutlich - ich bin Christina Weiss für Ihre Ausführungen sehr dankbar - : Diese Bundesregierung hat den Stellenwert der Kultur auf Bundesebene in den letzten Jahren deutlich aufgewertet. ({8}) Gerade die Reform der Künstlersozialkasse ist hierfür beispielhaft. Wir haben eine langfristige Absicherung geschaffen mit Verbesserungen, die dringend erforderlich waren, besonders für ältere Künstlerinnen und Künstler. Das sind wichtige Rahmenbedingungen für heute Selbstständige in Kunst, Kultur und Publizistik. Wir haben die Kulturverträglichkeitsprüfung eingeführt. Jeder Gesetzentwurf wird nun von der Kulturstaatsministerin daraufhin überprüft, ob er nachteilig für den Kulturbereich sein kann. ({9}) Wir wollen damit verhindern, dass Gesetze verabschiedet werden, mit denen die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler verschlechtert würde. Aber - wir merken es heute wieder - die Opposition hat das offensichtlich bisher noch nicht zur Kenntnis genommen. Lassen Sie mich noch an die Ausführungen von Antje Vollmer anknüpfen und einige Worte zum Forschungsvorhaben „Ermittlung des Selbstvermarktungsanteils in der Künstlersozialversicherung“ sagen. Ich finde es ganz wichtig, dass wir uns dazu auch hier äußern. Aus meiner Sicht dürfte dieses Forschungsvorhaben nicht mehr nötig sein. Es ist mir überhaupt ein Rätsel, warum der Rechnungsprüfungsausschuss darauf besteht. ({10}) Wir haben mit der Novelle 2001 beschlossen, dass wir den Bundeszuschuss auf 20 Prozent festschreiben, um Planungssicherheit zu schaffen. Das ist eine verlässliche Größe. Wir haben eine Verbindung mit dem Selbstvermarktungsanteil nicht zwingend festgelegt. Daher wäre auf die Durchführung der Studie aus meiner Sicht ganz einfach zu verzichten. ({11}) In diesem Zusammenhang müssen wir uns die letzten Entwicklungen bei der Künstlersozialversicherung anschauen. Ich glaube, wir müssen uns - gerade auch in der Enquete-Kommission - große Gedanken um die Zukunft dieser Versicherung machen. Abgrenzungsprobleme bei neuen Berufen, zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen, gezwungene Unternehmungsgründungen von Künstlern und vor allen Dingen die Entwicklung der Wirtschaft zwingen uns unter Umständen, die Situation zu überdenken. Wir müssen die Frage klären, ob angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung die Künstlersozialversicherung zukunftssicher ist und was wir gegebenenfalls verbessern müssen. Wir wissen außerdem, dass die Rentenversicherung der wunde Punkt der Künstlersozialversicherung ist; da erzählt uns Herr Otto nichts Neues. Bei den niedrigen Beiträgen aufgrund niedriger Einkommen sind auch niedrige Renten die Folge. Gerade hier muss die Enquete-Kommission alternative Wege für eine zusätzlicher Absicherung aufzeigen. Zusammenfassend muss die genaue Bestandsaufnahme der Situation des gesamten Kulturbetriebes in Deutschland das Ziel unserer weiteren Arbeit sein. Die Anfrage der Opposition ist nichts Weiteres als eine Steilvorlage für die Arbeit der Enquete-Kommission. ({12}) Wir müssen Erkenntnisse gewinnen, aus denen wir Handlungsempfehlungen für die Politik auf allen Ebenen entwickeln; denn wir alle sind daran interessiert, unseren Künstlerinnen und Künstlern ein gutes und gesichertes Umfeld zu schaffen. Das ist nur zu einem Teil Sozialpolitik; es ist zum Teil auch Wirtschaftspolitik, die wir gemeinsam mit den Ländern gestalten müssen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich noch einen Satz sagen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Noch einen Satz. ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie merken, dass die Erwartungen an die EnqueteKommission unheimlich groß sind. Sie können aber sicher sein, dass unsere Staatsministerin ganz auf unserer Seite ist und uns in dieser Arbeit unterstützen wird. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSU-Fraktion.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Krüger-Leißner, gerade wir Mitglieder des Kulturausschusses sollten hier doch nicht Weisheiten, die schon lange in unserem Volke und auch in anderen Völkern gewachsen sind, infrage stellen. Eine Volksweisheit sagt: Es gibt keine dummen Fragen, es gibt höchstens dumme Antworten. ({0}) Hier wird so getan, als wenn das umgekehrt gesagt werden könnte. ({1}) - Frau Vollmer, ich komme gleich zu Ihnen. Sie sagten in dieser Debatte - und ich fand das richtig -, dass die Situation, in der sich Künstlerinnen und Künstler befinden, häufig verklärt wird. Gerade wenn sie häufig verklärt wird, wäre es doch richtig, sehr viel konkretes Datenmaterial über Künstlerinnen und Künstler zu sammeln und über dieses Datenmaterial zu verfügen. Ich weiß gar nicht, inwieweit das der Arbeit der Enquete-Kommission widersprechen würde. Ich glaube vielmehr, dass die Arbeit der Enquete-Kommission auf diesem Datenmaterial fußen könnte und dass man daraus entsprechende Rückschlüsse ableiten könnte. ({2}) Nun wird hier von Rot-Grün - das ist ja Ihr Rückzugsgefecht - immer viel von der Kulturverträglichkeitsprüfung gesprochen. Sie mag ja richtig sein. Wir wollen aber auch wissen, wie erträglich die Kultur, der Kunstbetrieb für die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland ist. ({3}) Das ist auch eine wichtige Frage. Deshalb hätte man für Aufklärung über das sorgen müssen, was die Bundesregierung hier nicht gesagt hat, wobei man gar nicht sagen kann, dass sie überhaupt etwas gesagt hat. - Sie sehen, meine Krücken fallen schon um. ({4}) - Herr Otto ist sehr bemüht, wie wir sehen. ({5}) - Herr Otto, Sie wissen, Deutschland geht an Krücken. Deswegen tue ich es auch. Es wäre jetzt ungemein wichtig, daraus ein Stück Bestimmung abzuleiten. Wir haben aber nur eine konkrete Antwort erhalten: Die soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler wird durch das Einkommen bestimmt. Das ist schlecht genug. Nun kann man sagen, dass wir vorher auch nicht über Datenmaterial verfügt haben. Ich sage hier ganz deutlich: Ich finde, es hat sich gelohnt, dass wir für diesen Bereich einen Staatsminister bzw. eine Staatsministerin bekommen haben. ({6}) - Ich habe gar nichts dagegen, dass Sie klatschen. - Da wir diese Institution jetzt schon einmal haben, hielte ich es für selbstverständlich, dass man über die Situation der Künstlerinnen und Künstler in Deutschland auch etwas erfährt und dass man in einem solchen Hause über das entsprechende Informationsmaterial verfügt. Nun könnte man es einem Staatsminister ja noch zugestehen, ein halbes Jahr nachdem das Staatsministerium geschaffen worden ist, zu erklären, er habe keine Informationen. Nach fünf Jahren müsste es der Staatsministerin aber gelingen, die entsprechenden Informationen hier zu präsentieren. ({7}) Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung, dass sie so geantwortet hat, wie sie es getan hat. Ich rede in diesem Zusammenhang gar nicht von den Koalitionsfraktionen, weil es nicht ihre Aufgabe ist, dieses Datenmaterial herbeizuschaffen. ({8}) Frau Connemann, Herr Otto und Frau Blank haben entsprechende Beispiele gebracht. Frau Krüger-Leißner, Sie selbst sind darauf eingegangen und haben versucht, das im Nachhinein zu kaschieren. Bezogen auf die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland sage ich: Ihr Stellenwert für unsere Nation wird nicht richtig erfasst, wenn man über kein entsprechendes Datenmaterial verfügt. Frau Weiss Sie haben argumentiert, es gehe doch um Freiräume. Natürlich geht es um Freiräume. Der Mensch überschreitet ständig Grenzen. Ich bin den Künstlerinnen und Künstlern dankbar, dass sie diese Grenzen ausloten und sie nicht in der Weise überschreiten, wie es andere in der Geschichte der Menschheit getan haben. Das ist etwas Wertvolles. Wir haben nach der sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Künstlerinnen und Künstler gefragt. Es ist wichtig, das zu erfahren. Gerade dann, wenn man Freiräume wahrnehmen muss, ist es wichtig, wie man wirtschaftlich in diesen Freiräumen gestellt ist. Insofern kann ich nur sagen: Es müsste jetzt schnellstens gelingen - dabei kann man sich nicht alleine auf die EnqueteKommission verlassen -, über dieses Datenmaterial zu verfügen, damit wir alle gemeinsam - ich sage das für das ganze Haus - die richtige Politik für die Künstlerinnen und Künstler und ihre soziale und wirtschaftliche Stellung betreiben können. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 d auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tierschutzbericht 2003 Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes - Drucksachen 15/723, 15/2231 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Wilhelm Priesmeier Ulrike Höfken b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gitta Connemann, Peter H. Carstensen ({2}), Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermög- lichen - Drucksachen 15/1210, 15/2233 - 1) Anlage 2 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Ulrike Höfken c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes - Drucksache 15/1494 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({3}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Praxisgerechte Novelle des Tierarzneimittelgesetzes verbessert Tier- und Verbraucherschutz - Drucksache 15/1596 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tierhaltung in Europa und in Deutschland steht auf dem Prüfstand, und zwar nicht erst seit BSE oder anderen Krisen in diesem Bereich. Innerhalb einer breiten Öffentlichkeit wird heute die Haltung von Nutztieren intensiv diskutiert. Wenn man allein die Mitgliederzahl des Deutschen Tierschutzbundes von etwa 800 000 und das Engagement in diesem Bereich sieht und die Diskussionen zum Tierschutz verfolgt, dann zeigt sich, welch große Relevanz und nachhaltige Auswirkungen diese Diskussion auf das politische Handeln hat. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die Veredelungsproduktion beim Verbraucher und beim gemeinen Bürger in besonderer Weise latente negative Assoziationen hervorruft. Die Verbraucherinnen und Verbraucher verlangen zunehmend, dass die Produktion von Lebensmitteln tierischer Herkunft an Tierschutzstandards ausgerichtet wird. Die Forderung an uns Politiker ist in diesem Zusammenhang, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen, um einen umfassenden Tierschutz zuverlässig zu gewährleisten. Der Tierschutzbericht der Bundesregierung, über den wir heute sprechen, macht deutlich: Die Regierungskoalition kommt den berechtigten gesellschaftlichen Anforderungen nach und wird ihrer Verpflichtung in diesem Zusammenhang gerecht. ({0}) Anstatt wie die Opposition immer nur die Umsetzung längst überholter Standards zu fordern, haben wir die Vorreiterrolle übernommen und wesentliche Entwicklungen initiiert und vorangetrieben. Die Neuordnung der Agrarpolitik und nicht zuletzt der zusätzliche Handlungsspielraum, den wir mit der Umsetzung der Luxemburger Beschlüsse gewonnen haben, wird von uns beim Tierschutz konsequent genutzt werden, und zwar - wie kann es anders sein - zusammen mit den Ländern, um so eine größtmögliche Übereinstimmung zu erzielen. Die Zukunft wird es bringen, dass Prämienzahlungen an Tierschutzstandards gebunden werden. Das macht deutlich, dass hier berechtigte Forderungen der Gesellschaft zum Zuge kommen; denn diese Prämienzahlungen müssen vor der Gesellschaft gerechtfertigt werden. Neben ökologischen Nachhaltigkeitsstandards ist der Tierschutz selbstverständlich ein besonderer Standard, der einbezogen werden muss. Wir behalten dabei aber auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte im Auge; denn nur wettbewerbsfähige Betriebe mit entsprechenden Gewinnen im Wirtschaftsjahr sind in der Lage, unter Umständen die eine oder andere zusätzliche Forderung bei den Tierschutzstandards zu finanzieren. ({1}) - Ich glaube nicht, dass wir für bestimmte Wettererscheinungen im letzten Jahr verantwortlich sind. ({2}) Wenn wir einen guten Draht nach oben hätten, dann hätten wir ihn zu passender Zeit sicher schon genutzt. Das ist aber wohl nicht der Fall. Es gilt, die zu setzenden Standards im Rahmen von Globalisierungsprozessen nicht nur auf der europäischen Ebene, sondern auch auf der internationalen Ebene in hohem Maße zu harmonisieren und voranzutreiben, sodass auch die nicht tarifären Belange im Rahmen der WTO-Verhandlungen, die den Beschlüssen aus 2000 und 2001 der EU-Kommission entsprechen, zum Tragen kommen. Als Beispiel für das Engagement der Bundesregierung erwähne ich die Konferenz der OIE in zwei Wochen in Paris. Dort wird es das erste Mal darum gehen, auf internationaler Ebene über Transportbedingungen, aber auch über andere Bereiche der Tierschutzstandards zu diskutieren, diese unter Umständen perspektivisch festzuschreiben und letztendlich umzusetzen. Wir wollen gar nicht den Anschein erwecken, als sei in den vergangenen Jahren bereits das Optimum erreicht worden. Die heftigen Auseinandersetzungen über die Legehennenhaltungsverordnung und über die Schweinehaltungsverordnung haben uns gezeigt, dass wir keinesfalls am Ende des Weges der Entwicklung des Tierschutzes angekommen sind, sondern uns irgendwo mittendrin befinden. Wir werden weiterhin tragfähige Kompromisse mit allen Beteiligten erarbeiten, mit Landwirten, Produzenten, Verbraucherschutzorganisationen und Verbraucherinnen und Verbrauchern. Eines muss klar sein: Nur gesellschaftlich akzeptierte Tierproduktion hat in dieser Gesellschaft langfristig eine Chance und Bestand. ({3}) Die Tierschutzpolitik reicht also weit darüber hinaus, nur rechtliche Rahmenbedingungen zu setzen. Es ist unsere Aufgabe, einen öffentlichen Dialog zu moderieren und zu begleiten. Langfristige Perspektiven sind für die Zukunft gerade unserer intensiven Tierhaltung ganz entscheidend. Diese werden wir von der Regierungskoalition gemeinsam mit Landwirten, unabhängigen Wissenschaftlern, Tierschutzverbänden und Verbraucherschutzorganisationen entwickeln. Uns sind die breite Akzeptanz und ein Höchstmaß an Transparenz sehr wichtig. Was weiß der Verbraucher, was weiß die Politik denn darüber, wie die Tierproduktion konkret im einzelnen Betrieb vonstatten geht? ({4}) Am Beispiel der Legehennen wird deutlich: Wir haben Betriebe mit Verlustraten von 20 Prozent bei bestimmten Haltungsformen, ohne dass das im Augenblick nennenswerte Konsequenzen hätte. Aus diesem Grunde fordere ich als Tierschutzbeauftragter meiner Fraktion eine Meldepflicht für Legehennenbetriebe mit einer Mortalitätsrate jenseits von 15 Prozent. Bei anderen Haltungsformen und Masthaltungsformen im Bereich der Putenhaltung müsste man Ähnliches überlegen, um einmal die konkreten Daten zu bekommen, damit man sich nicht auf das verlassen muss, was durch Studien erhoben werden muss, die dann von irgendwelchen Seiten wieder infrage gestellt werden. Legehennen sind nicht die einzigen Tiere, die in serienmäßig hergestellten Systemen gehalten werden. Das gilt fast für alle Nutztiere. In meinen Augen ist derzeit den Haltungssystemen und ihrer Entwicklung eine viel größere Bedeutung zuzumessen, als das bisher der Fall gewesen ist. Die Diskussion über die Legehennenhaltungsverordnung und die Schweinehaltungsverordnung schafft Rahmenbedingungen. Es ist aber viel wichtiger, gerade diesen Bereich wissenschaftlich zu bearbeiten und einen - das mag man so nennen - Tierschutz-TÜV zu installieren, der dafür sorgt, dass die in Serie hergestellten, neu entwickelten oder eingesetzten Haltungssysteme einem einheitlichen Prüfungs- und Zulassungsverfahren unterzogen werden. Ich betone: Sie müssen diesem unterzogen werden. Eine solche obligatorische Zulassung und Zertifizierung wäre für uns unter Tierschutzaspekten ein großer Fortschritt. ({5}) § 13 des Tierschutzgesetzes gibt dazu die Grundlage. Das Bundesministerium hat gehandelt. Bei der KTBL und der FAL sind bereits entsprechende Kommissionen eingesetzt worden, um die Grundlagen zu erarbeiten. Wir sind uns mit dem Präsidenten des Deutschen Tierschutzbundes, Wolfgang Apel, einig, dass die Hauptursache vieler Tierschutzprobleme in unzureichenden Haltungssystemen liegt und diese unter Berücksichtigung der entsprechenden wissenschaftlichen Forschungen auch im Rahmen der Prüfungs- und Zulassungsverfahren den Bedürfnissen der Tiere anzupassen sind. Da gehen wir mit den Forderungen des Deutschen Tierschutzbundes Hand in Hand. Ich glaube, dass gerade die Signale, die in den letzten Wochen und Monaten aus Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern zu vernehmen waren - ein entsprechender Antrag liegt vor -, uns in dieser Richtung bestärken. Mit großer Freude habe ich heute einer Pressemitteilung des Kollegen Bleser entnommen, dass auch er schon auf den fahrenden Zug gesprungen ist und kräftig mithelfen will, das umzusetzen. ({6}) Wir müssen auch dafür sorgen, dass wir in der landwirtschaftlichen Produktion zu mehr Information und Transparenz kommen. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande wollen informiert werden. Bislang wird die Tierhaltung häufig danach beurteilt, wie man selbst Tiere zu Hause hält. Das ist im Regelfall nicht die Nutztierperspektive, sondern die Kuscheltierperspektive. Insofern sind weitere Informationen dringend notwendig. Dass ein entsprechendes Interesse vorhanden ist, hat der Erlebnisbauernhof auf der Grünen Woche gezeigt. Auch auf dem Schulbauernhof in meinem Wahlkreis - dafür sammele ich Spenden - ist erkennbar, mit welcher Begeisterung gerade Kinder alle Informationen aufnehmen, die ihnen geboten werden. Dadurch werden die Kinder letztendlich zu bewussten Verbraucherinnen und Verbrauchern, die unter Umständen bereit sind, höhere Preise für höhere Standards zu bezahlen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Deutschen sind tierlieb. Nicht umsonst haben wir in Deutschland eines der strengsten und ältesten Tierschutzgesetze der Welt. Insofern ist es umso verwerflicher, dass diese Bundesregierung und insbesondere die Grünen die Tierliebe zur Mobilisierung ihrer Wählerschaft missbrauchen. ({0}) Gerade in diesem Bereich - das lässt sich leicht belegen - liegen Anspruch und Wirklichkeit Lichtjahre auseinander. Das belegt nicht zuletzt Ihr eigener Tierschutzbericht aus dem Jahr 2003, der aufzeigt, dass die Zahl der Tierversuche 2002 auf 2 Millionen angestiegen ist. Ich erinnere daran, dass es 1997 nur 1,5 Millionen Tierversuche gab, nachdem diese Zahl über viele Jahre hinweg ständig gesunken ist. Insofern ist eine Steigerung von 31 Prozent zu verzeichnen. Noch viel schlimmer ist, dass die Zahl der Tiertötungen zu Versuchszwecken um 67 Prozent angestiegen ist. Das ist die leider nicht sehr schöne Wahrheit über die Tierschutzpolitik dieser Bundesregierung. ({1}) Mit der Hennenhaltungsverordnung und den damit verbundenen Kostenerhöhungen hat die Bundesregierung die Eierproduktion fast aus Deutschland hinausgetrieben. Der Trend ist ungebrochen. ({2}) - Sie werden gleich erfahren, was das mit Tierliebe zu tun hat. Wenn Sie sich die Bilder aus Südostasien in Erinnerung rufen, die Sie in den vergangenen Tagen im Fernsehen gesehen haben, und an die Umstände denken, unter denen die Tiere dort dahinvegetieren müssen, dann kommt Ihnen der Ekel hoch. ({3}) Mit der Vertreibung der Eierproduktion aus Deutschland wird der Tierschutz nicht erweitert, sondern verringert. Denn die Eierproduktion erfolgt in anderen Ländern in ähnlichen Stallanlagen wie in Südostasien. ({4}) Deshalb meine ich, dass wir in der Frage des Tierschutzes - insbesondere in landwirtschaftlichen Betrieben ohne eine Versachlichung der Diskussion nicht weiterkommen. ({5}) Es hat mich deshalb gefreut, dass der Deutsche Tierschutzbund mit Präsident Apel, die Schweisfurth-Stiftung, der Bundesverband der Verbraucherzentralen und der BUND eine Initiative unter dem Titel „Allianz für Tiere in der Landwirtschaft“ gestartet haben. Dass diese Organisationen eine wissenschaftliche Bewertung von Ausstallungssystemen verlangen, ist eine Ohrfeige für die Bundesregierung, die ihre Entscheidung in dieser Frage eher aus einem ideologischen Blickwinkel getroffen und damit auch danebengelegen hat. In der „Allianz für Tiere in der Landwirtschaft“ wird von den sie tragenden Verbänden die Schaffung von zwei Behörden - einer Prüfungs- und einer Zulassungsbehörde - gefordert. Das allerdings lehne ich entschieden ab, ({6}) und zwar deswegen, weil wir schon 1998 die DLG mitbeauftragt haben, bei der Prüfung von Stallanlagen auch die Tiergerechtheit zu prüfen. Dem Ministerium ist zugute zu halten, dass seit September vergangenen Jahres bei der KTBL und bei der Bundesforschungsanstalt für Tierschutz und Tierhaltung in Celle ein Modellprojekt in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt läuft, ({7}) in dem die Bewertung von 100 Stallanlagen oder Haltungssystemen vorgenommen werden soll. Mich wundert nur, dass die Bundesregierung die Bewertung nicht abwartet, bevor sie - gerade in der Hennenhaltung endgültige Entscheidungen trifft. Deshalb fordere ich als Tierschutzbeauftragter der CDU/CSU, das Instrument der Prüfung von neuen, in Serie hergestellten Tierhaltungssystemen für die Weiterentwicklung des Tierschutzes und zur Versachlichung der Diskussion in Deutschland zu nutzen. Ich schlage deshalb vor, dass man tiergerechten Haltungssystemen einen Grünen Engel verleiht. ({8}) Die Verleihung ist allerdings an acht verschiedene Bedingungen geknüpft. Erstens. Ein solcher Grüner Engel sollte durch eine Bewertungskommission für Tierhaltungssysteme möglichst auf europäischer Ebene verliehen werden. Solange dies auf Europaebene nicht machbar ist, sollte das Vorhaben im Rahmen der Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht realisiert werden. Zweitens. Die Bewertungskommission sollte - das ist wichtig - mit Wissenschaftlern, Ethologen, Tiermedizinern sowie Tierhaltern, Ingenieuren und Vertretern von Tierschutzverbänden ausgewogen besetzt sein. Drittens. Die vorhandenen Einrichtungen sind zur Durchführung von Prüfungs- und Testverfahren zu nutzen. Viertens. Für die Landwirtschaft und die Hersteller von Tierhaltungssystemen müssen die Prüfungen kostenlos sein; denn sonst gehen Standortvorteile verloren. Fünftens. Forschung und Weiterentwicklung dürfen nicht behindert werden. Sechstens. Auch serienmäßig hergestellte Einrichtungen für Haus- und Freizeittiere - diesen Punkt müssen wir ebenfalls den Tierschutzvereinen näher bringen - sollten einer solchen Prüfung unterzogen werden. ({9}) Siebtens. Die ökonomischen Aspekte müssen natürlich hierbei Beachtung finden. Achtens. Die Bewertungsergebnisse sollten der Politikberatung und der Konsensfindung in der Gesellschaft dienen. Fazit: Der Grüne Engel könnte für die Verbraucher ein einprägsames Markenzeichen für das Erkennen tiergerechter Lebensmittelproduktion sein. Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Die Regierung hat auch in den Fragen des Tierschutzes ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Zahl der Tierversuche nimmt zu. Der Regierung wird die Bewertung von Nutztierhaltungssystemen sogar von den Tierschutzverbänden vorgeschlagen und damit auch Untätigkeit unterstellt. Letztlich schaden wirklichkeitsfremde Ideologien. Wissen, Erfahrung und die Bereitschaft, die Bedingungen des Marktes ins Kalkül einzubeziehen, nutzen allen: den Menschen und den Tieren. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenigstens in einem Punkt ist die CDU/CSU auf dem richtigen Weg. Ihr fallen Grüne Engel ein! Das finde ich gut. ({0}) Aber damit hat es sich schon. Beim Wort „Tierschutz“ fallen einem momentan ganz andere Dinge ein, nämlich die schon beschriebenen Bilder von der Geflügelpest in Asien. Daran sieht man, wie gut es ist, dass die Bundesregierung und insbesondere die Bundesministerin Frau Künast eine entschiedene Position eingenommen haben und bei den WTO-Verhandlungen darauf gedrungen haben, die Anforderungen an den Tierschutz und an Hygiene in diesem Bereich nicht als nicht tarifäre Handelshemmnisse abzutun, und darauf hingewiesen haben, dass es wichtig ist, entsprechende Standards international zu verankern. ({1}) Alle zwei Jahre zieht die Bundesregierung Bilanz. Der Tierschutzbericht 2003 macht deutlich, dass die rotgrüne Regierung enorme Fortschritte im Bereich des Tierschutzes erzielen konnte. Es ist mit den Stimmen aller Fraktionen im Juli 2002 endlich gelungen, eine Grundgesetzänderung vorzunehmen. Tierschutz ist seitdem als Staatsziel verankert. Das ist ein Meilenstein für den Tierschutz. Mit der neuen Legehennenhaltungsverordnung ist außerdem die tierquälerische Haltung von Legehennen vom 1. Januar 2007 an verboten. Daran ändert im Übrigen auch der Bundesratsbeschluss vom November letzten Jahres nichts, der durch maßgebliche Lobbyaktivität der Geflügelindustrie zustande kam. Tierschutzargumente sind ja schön und gut, aber in diesem Zusammenhang ziemlich heuchlerisch, wenn man bedenkt, dass schon über 30 Millionen Euro zur Förderung besserer Tierhaltungssysteme eingestellt waren, diese Mittel allerdings nicht abgerufen worden sind. Wir haben nichts gegen die Verbesserung von Haltungssystemen. Aber sie muss auf legale Weise, also im Rahmen der bestehenden Gesetze geschehen. Die Unterstützung von Boden- und Freilandhaltung ist also durchaus erwünscht. ({2}) Deutschland will weiter Vorreiter im Tierschutz sein. Dafür steht im Übrigen unsere grüne Fraktion im Europaparlament. ({3}) Es wird jetzt eine neue europäische Transportrichtlinie vorgelegt. Das ist positiv. Wir plädieren aber weiterhin für eine Begrenzung der Transportzeiten auf maximal acht Stunden - es darf da keinen Turnus geben -, weitere Verbesserungen bei den Transportbedingungen und verschärfte Kontrolle. Eine weitere Aufgabe - da gebe ich dem Kollegen Bleser Recht - ist die Minimierung der Zahl der Tierversuche. Wir haben zum REACH-System, also zur Chemikalienrichtlinie, hier entsprechende Anträge formuliert, ({4}) in denen deutlich wird, dass das deutsche Chemikaliengesetz zum Vorbild genommen und auch europäisch verankert werden sollte. Wir werden weiterhin dafür kämpfen, dass die Nutztierhaltung in Deutschland noch verbessert wird. Schweine, Hähnchen, Puten, Pelztiere und Kaninchen sind in der Diskussion. Wer zukünftig auf den Märkten bestehen will, muss jetzt in moderne und tiergerechte Haltungssysteme investieren. Deswegen appellieren wir auch an die Länder, sich nicht länger zum Handlanger industrieller Lobbyisten zu machen, die für ihre im Ausland erzeugten Eier aus Käfighaltung - das steckt doch hauptsächlich dahinter - Akzeptanz erhalten wollen. Verbraucher und Verbraucherinnen entscheiden. Die Tierschutzverbände sagen gerade in einer neuen Aktion: Drei ist Quälerei. - Das bezieht sich auf die neuen Kennzeichnungsmöglichkeiten bei der Eierproduktion. Ich wende mich an die Verbraucher und Verbraucherinnen: Tun Sie das Ihre dazu! Nehmen Sie die Fastenzeit und Ostern zum Anlass, keine Eier aus Käfighaltung, auch nicht verarbeitet in anderen Produkten, zu kaufen! Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle zwei Jahre - jetzt immerhin zum achten Mal, lieber Matthias Weisheit; das ist also keine Erfindung von Rot-Grün; das gibt es schon länger - besteht die Notwendigkeit, über einen Tierschutzbericht zu diskutieren. Ich freue mich darüber, dass die Rahmenbedingungen für den Tierschutz verbessert worden sind. Natürlich freue ich mich besonders über die Passagen in diesem Bericht, in denen die Rolle der FDP besonders gewürdigt wird, ({0}) nämlich dabei, den Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. ({1}) Wir waren dabei Motor. Es ist gut, wenn man für die Tiere in bestimmten Bereichen solche Erfolge erzielt. Wir werden das fortsetzen. Es ist ganz klar: Wir müssen noch Verbesserungen der Haltungs- und Transportbedingungen erreichen. Sie haben sich sicherlich auch erschrocken, als Sie die Zahlen zu den Tierversuchen gesehen haben, die in den Kapiteln XIV und XV genannt werden. Man muss da genau hinschauen. Die Statistik ist auch ein bisschen geändert worden. Aber im Grunde ist jedes Tier, das in diesem Bereich eingesetzt wird, schon fast ein Tier zu viel. Wir werden uns sehr schnell darüber einigen können, dass wir Alternativen zu den Tierversuchen entwickeln müssen. Ich habe mich natürlich auch gefreut, als ich die Ausführungen zur EU-Agrarreform gelesen habe; denn unsere Kulturlandschaftsprämie ist genau das, was hier angesprochen wird. ({2}) Kriterien, die Umweltschutz, Landschaftsschutz und Tierschutz bringen, sind in Ordnung. Wir wollen das machen, was mein geschätzter Parteifreund als Umweltminister in Niedersachsen im Umweltbereich macht. Wir wollen Tierschutzpolitik zum Nutzen der Menschen und der Tiere betreiben. Wir müssen aber auch vorsichtig sein. Herr Schmidt, wir hatten eben schon einen Bereich am Wickel, in dem die Dinge sehr schnell kippen können. ({3}) Das haben die Beispiele aus dem Bereich der Geflügelgrippe oder Geflügelpest, die von den Kollegen genannt wurden, gezeigt. Wir alle, glaube ich, sind von den Bildern erschüttert. ({4}) Das gilt zum Beispiel auch für Cross Compliance. Wer in diesen Bereichen zu viel tut, wird eher dazu beitragen, dass die Dinge nicht gelingen. Wenn man zu hohe staatliche Hürden und zu viele staatliche Hindernisse aufbaut, dann reagiert leider der eine oder andere in der Weise, dass er sie zu umgehen versucht. Wir sollten die Dinge miteinander betreiben und einen anspruchsvollen Tierschutz ausgestalten - das ist überhaupt keine Frage -, aber die Verlagerung von Produktion, die Verlagerung von guter NahrungsmittelherHans-Michael Goldmann stellung ins Ausland - da sind wir uns wohl auch wieder einig - kann nicht Ziel unser Politik sein. ({5}) Ich will ein paar Bereiche ansprechen, die mir auffielen. Tierschutzvereine leisten - ich finde das prima hervorragende Arbeit; das wurde auch im Bericht zum Ausdruck gebracht. Wir haben vor kurzem ein Gespräch mit einer europäischen Tier- und Naturschutzorganisation geführt. Es ist genau der richtige Weg, nicht nur die nationale und die europäische, sondern auch die internationale Ebene zu beschreiten. Frau Künast setzt sich dafür ein, dass in anderen Ländern bestimmte Tierquälereien beseitigt werden. Dafür sind natürlich auch wir. Unseren gemeinsamen Standpunkt haben wir auch bei den Gesprächen in Cancun gemeinsam zum Ausdruck gebracht. Ein anderer Bereich hat mich amüsiert. Herr Berninger, vielleicht denken Sie einmal darüber nach, dass es um Öffentlichkeitsarbeit ging. In diesem Zusammenhang wurde zu Recht der Erlebnisbauernhof erwähnt. Sie haben unter www.freiheit-schmeckt-besser.de eine Kampagne durchgeführt. Ich habe mir die Frage gestellt, ob wir das eigentlich noch dürfen. Ich erinnere daran, dass wir aufgrund der EU-Werbeverordnung nicht mehr „Nimm 2“ und „Milch macht müde Männer munter“ sagen dürfen. Angesichts dessen bin ich ziemlich sicher, dass wir auch nicht mehr „Freiheit schmeckt besser“ sagen dürfen; denn die Verbindung zwischen „Freiheit“ und „schmecken“ ist für den Konsumenten nicht ganz einfach herzustellen. ({6}) Wer die Latte so hoch legt, wie Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, es in diesem Bereich immer wieder tun, der darf nicht selbst darunter durchgehen. ({7}) In diesem Punkt steuern Sie haarscharf an der Wirklichkeit vorbei. Lassen Sie mich noch etwas zu den Zirkustieren sagen; denn sie liegen mir traditionell besonders am Herzen. Ich bin für Zirkuskultur; aber ich bin auch für Lebenskultur von Zirkustieren. Ich finde es gut, dass eine neue Leitlinie auf den Weg gebracht worden ist, die Orientierungshilfen gibt. Das macht das Angebot kleiner Zirkusse sicherlich schwieriger; aber wir müssen diesen Weg gehen. Besonders gefreut habe ich mich über den Abschnitt „Tiere im Sport/Doping“ im Tierschutzbericht. Dort wird das besondere Engagement der Deutschen Reiterlichen Vereinigung - sie hat den Weg der Selbstkontrolle beschritten - dargestellt. Das hat mir gut gefallen. Es muss nämlich nicht immer alles von oben bestimmt werden; vielmehr müssen wir auch diejenigen stärken, die den Tierschutz von unten her ausgestalten. ({8}) Das Erlassen von noch so vielen Gesetzen und Verordnungen bringt nichts. Nebenbei gesagt: Das gilt genauso für das Fangen von Fischen. Ich finde, es ist richtig, dass die hervorragende Arbeit der vielen Vereine in diesem Bereich gestärkt wird. Wir haben hier auch über das Tierarzneimittelgesetz zu reden. Ich bin froh, dass wir alle heute Morgen wieder einmal an einem Tisch saßen. Wir hätten schon viel weiter sein können, lieber Kollege Priesmeier und lieber Kollege Ostendorff, wenn wir wirklich Ernst damit gemacht hätten, den Tierschutzgedanken auch über das Tierarzneimittelgesetz und über fachlich gute Tierärzte zum Tragen kommen zu lassen. ({9}) Ich schlage weiterhin vor: Lassen Sie uns in dieser Frage zusammenarbeiten! Lassen Sie uns eine gute Lösung für die Landwirte, für die Tiere, für die Lebensmittelwirtschaft, aber auch für die in besonderer Weise in diesem Bereich Tätigen, nämlich die Tierärzte, finden! Gute Tierärzte ärgern sich über schwarze Schafe in ihrem Beruf mindestens so sehr wie gute Politiker über schwarze Politikerinnen- und Politikerkollegen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema Tierversuche hat uns schon in der letzten Tierschutzdebatte im September beschäftigt. Wir sprechen heute darüber und es wird uns auch noch in der Zukunft verfolgen. Die Statistik weist heute wieder mehr Tierversuche als noch 1997 aus - trotz inzwischen entwickelter Ersatzmethoden. Sie, Herr Kollege Bleser von der CDU/ CSU-Fraktion, machen die rot-grüne Bundesregierung dafür verantwortlich. In der letzten Debatte haben Sie in diesem Zusammenhang Frau Ministerin Künast Scheinheiligkeit vorgeworfen. ({0}) Jetzt wollen wir einmal sehen, Herr Kollege Bleser, wer hier tatsächlich scheinheilig ist. ({1}) Wie sieht es wirklich aus? Bei der Entwicklung neuer Medikamente setzt die Pharmaindustrie verstärkt genmanipulierte, so genannte transgene Tiere ein. ({2}) Wir kennen den Begriff „Krebsmaus“. Diese Aktivitäten haben die Zahl der Tierversuche wieder weiter nach oben getrieben. Sie, Herr Bleser, wollen der Bundesregierung doch wohl nicht allen Ernstes die verstärkte Grundlagenforschung zum Vorwurf machen? Das wäre doch geradezu aberwitzig und hätte mit seriöser Politik nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. ({3}) Wir dürfen die Forschung in Deutschland nicht behindern, wir müssen aber gleichzeitig tierversuchsfreie Verfahren voranbringen. Die Bundesregierung unterstützt diese Forderung und ist in diesem Bereich aktiv. Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass es zum Beispiel der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes gelungen ist, ein tierversuchsfreies Verfahren zur Erkennung erbgutgeschädigter Stoffe in Wasserproben zu entwickeln. Dieses Verfahren kann den Einsatz von 80 000 Fischen im Jahr überflüssig machen. Das ist der richtige Weg; den müssen wir weitergehen. ({4}) Wenn man den Anstieg der Zahl der Tierversuche beklagt, darf man dabei allerdings nicht außer Acht lassen, dass die Bundesregierung eine neue Meldestatistik für Versuchstiere eingeführt hat. In der Zeit als Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und von der FDP, an der Regierung waren, sind viele Versuchstiere überhaupt nicht statistisch erfasst worden; sie sind schlichtweg nicht mitgezählt worden. ({5}) Das ist ein weiterer Grund, warum heute höhere, aber dafür auch genauere Tierversuchszahlen als zu Ihrer Zeit vorliegen. ({6}) Sich jetzt hier hinzustellen und der Bundesregierung vorzuwerfen, dass die Zahl der Versuchstiere steigt, ist scheinheilig, Herr Bleser. ({7}) Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Die neue Chemikalienverordnung der EU ist mit dem Thema Tierversuche eng verknüpft. Es gibt weit über 30 000 marktrelevante Altstoffe. Nur ein ganz kleiner Bruchteil ist überhaupt abschließend bewertet worden; nur zu einem ganz kleinen Bruchteil liegt eine abschließend Risikobeurteilung vor. Die EU hat sich deshalb mit der neuen Chemikalienverordnung zum Ziel gesetzt, diesen Missstand zu beseitigen und für mehr Sicherheit in Europa zu sorgen. Mehr Sicherheit bedeutet aber auch, dass mehr Tests notwendig werden. Mehr Tests ziehen wiederum mehr Tierversuche nach sich. Das sieht auch die EU; sie hat dieses Problem erkannt. Sie will deshalb ganz verstärkt Prüfmethoden voranbringen und einsetzen, die ohne Tierversuche auskommen. Das ist der richtige Weg. Die neue Chemikalienverordnung kann auch eine Chance für die Tiere bieten: weg von den Tierversuchen, hin zu Alternativmethoden, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern europaweit. Wir unterstützen diesen Weg. Ich bin sehr gespannt, wie sich die CDU/CSU in dieser Frage verhalten wird. Mitunter habe ich den Verdacht, dass Ihr Engagement für den Tierschutz gerade an dieser Stelle nur vorgeschoben ist, um die Initiative der EU insgesamt zu torpedieren und die chemische Industrie von Kosten für das geplante Chemikalienmanagement freizuhalten. ({8}) Vielleicht wollen Sie aber auch nur von fehlender Bereitschaft zu mehr Tierschutz in anderen Bereichen ablenken. ({9}) Tiere werden ja nicht nur zu Forschungszwecken verbraucht. Alleine im Jahre 2002 wurden in Deutschland 50 Millionen Schweine, Rinder und Schafe geschlachtet. ({10}) Hinzu kamen 850 Millionen Kilogramm Geflügel, die der Nahrungskette zugeführt wurden. Das, meine Damen und Herren, ist eine gigantische Zahl. Wir haben 2,1 Millionen Tierversuche, ({11}) aber weit über 50 Millionen geschlachtete Tiere pro Jahr. Wie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sieht Ihr Engagement im Nutztierbereich aus? Was tun Sie, um die Haltungsbedingungen der Tiere in diesem Bereich zu verbessern? ({12}) Wo zum Beispiel ist Ihr Engagement für die Legehennen? Die wollen Sie in Käfige wegsperren, eine dringend notwendige Schweinehaltungsverordnung torpedieren Sie. Das ist die traurige Wahrheit; so sieht Ihre Politik für den Tierschutz aus. ({13}) Die Hauptursache vieler Tierschutzprobleme liegt in unzureichenden Haltungssystemen. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das wir hier überhaupt noch nicht diskutiert haben. Jährlich werden in Deutschland 30 Millionen Kaninchen verspeist. Die meisten dieser Mastkaninchen fristen ihr Dasein bis zur Schlachtung in viel zu kleinen Drahtkäfigen ohne festen Boden. ({14}) - Lachen Sie ruhig darüber, Frau Connemann. - Das Platzangebot für ein Kaninchen beträgt - vielleicht wissen Sie es ja gar nicht - weniger als die Größe eines DIN-A4-Blattes; von artgerechter Haltung keine Spur. Hier müssen und können wir etwas tun. ({15}) Mein Kollege Wilhelm Priesmeier hat schon darauf hingewiesen: Wir brauchen dringend einen TierschutzTÜV, wir brauchen ein verbindliches Prüf- und Zulassungsverfahren für Haltungseinrichtungen für alle landwirtschaftlichen Nutztierarten. Der Grüne Engel, den Sie hier angeführt haben, wird uns da wenig weiterhelfen. ({16}) Machen Sie Ernst mit dem Tierschutz und unterstützen Sie unser Anliegen! Millionen von Tieren werden es Ihnen danken. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Hiller-Ohm, es war wirklich sehr erbaulich, Ihrer Rede zuzuhören, wobei mir allerdings nicht ganz klar war, ob Sie gegebenenfalls das Rednerpult mit einer Bütt verwechselt haben. ({0}) Es war aber auf jeden Fall nicht unspannend. Wenn Sie über Schein und Sein im Bereich des Tierschutzes sprechen, dann denken Sie sicherlich auch an eine effektive Tierseuchenbekämpfung, denn das gehört immer zum Tierschutz dazu. Vor Ort ist das längst bekannt. So gibt es zum Beispiel in meinem Heimatlandkreis, nämlich dem Landkreis Leer, seit kurzem eine Vereinbarung mit den Nachbarkreisen über die Bildung eines gemeinsamen Tierseuchenkrisenzentrums. ({1}) Die Begründung für diese Initiative lautet übrigens parteiübergreifend, Tierseuchenbekämpfung könne nur erfolgreich sein, wenn die Nachbarn in gleicher Weise konsequent vorgehen. Vollkommen richtig: Tierseuchen machen weder an Kreisgrenzen noch an anderen Grenzen Halt, nicht im Bund, nicht innerhalb Europas und auch nicht zwischen den Kontinenten. Das erleben wir aktuell in Asien. Dort grassiert die aviäre Influenza inzwischen in zehn Staaten. Der letzte Seuchenzug in Europa liegt noch nicht einmal ein Jahr zurück. Dabei zeigte sich, dass Veterinäre, Humanmediziner und Vollzugsbehörden in NordrheinWestfalen nicht wie ihre Kollegen in Niedersachsen handeln können, denn es fehlen ausreichende Ermächtigungen, die bundesweit greifen. Das deutsche Tierseuchenrecht ist lückenhaft. Deshalb hat unsere Fraktion im Juni letzten Jahres den vorliegenden Antrag eingebracht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Priesmeier?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Meine Damen und Herren, dieser Antrag ist im Ausschuss mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden, ohne Aussprache, also ohne jede Begründung. ({1}) Was hat dieses Schweigen zu bedeuten? Versetzen wir uns für die Auslegung doch einmal in die Situation eines Bürgers, der der Bundesregierung geneigt ist - sofern es ihn denn überhaupt noch gibt. ({2}) Dieser darf annehmen, dass zwingende Gründe für die Ablehnung des Antrages vorgelegen haben - seien es auch falsche Fakten oder fehlerhafte Rechtsannahmen. Denn - jetzt hören Sie zu ({3}) er darf das Vertrauen haben, dass die Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag nicht nur aus einer Blockadehaltung heraus ablehnen, insbesondere in einer Frage, die die Menschen so bewegt wie das Auftreten von Seuchen. Meine Damen und Herren, genau das ist aber in diesem Fall passiert: Wider besseres Wissen wurde hier blockiert. ({4}) Der Beweis liegt vor: ein Referentenentwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes, der jetzt aufgetaucht ist. ({5}) Er ist in den Ministerien der Länder aufgetaucht und setzt unseren Antrag um. Das Bundestierseuchenrecht weist Rechtslücken bei der Bekämpfung hochkontagiöser Tierseuchen auf. Auch im Referentenentwurf wird das festgestellt. Deshalb haben wir im vorliegenden Antrag unter anderem eine Ermächtigung gefordert, Einschränkungen „für den außerlandwirtschaftlichen Wirtschaftsgüter- und Personenverkehr in Verdachtssperrbezirken, Sperrbezirken und Beobachtungsgebieten“ zu ermöglichen. ({6}) Man reibt sich die Ohren - so ist auch der Tenor in dem Referentenentwurf der Bundesregierung. Es fehlten Ermächtigungen für Reglementierungen für „den außerlandwirtschaftlichen Personen- und Wirtschaftsgüterverkehr in Vieh haltenden Betrieben sowie in Verdachtssperrbezirken, Sperrbezirken und Beobachtungsgebieten“. Die Übernahme unserer Forderung erfolgte nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich eins zu eins, unisono nicht nur in diesem Fall, sondern durchgängig. ({7}) Ich beglückwünsche die Koalitionsfraktionen zu ihrer Einsichtsfähigkeit. Die Einsicht kam spät, aber immerhin. ({8}) Auch in diesem Fall ist die Bundesregierung ihrem Motto treu geblieben, das da lautet: erst negieren, dann blockieren, schließlich kopieren. ({9}) Aber wenn Sie schon kopieren, dann machen Sie es doch bitte richtig. Leider haben Sie eine wesentliche unserer Forderungen nicht aufgenommen, nämlich die Ermächtigung zu einem „stand still“. ({10}) Das wäre wirklich wichtig gewesen. Zurzeit müssen Eingriffe wie ein „stand still“ in den amtlichen Verkündungsblättern bekannt gemacht werden. Das bedeutet einen Zeitverzug von mehreren Tagen. Wäre die Veröffentlichung über Medien wie Fernsehen oder Radio bei uns erlaubt, könnte sofort reagiert werden. Bei einer Seuche ist es nun einmal erforderlich, schnellstmöglich zu reagieren. Ein weiterer Unterschied: Sie wollen in dem Referentenentwurf neun Gesetze und Verordnungen auf Bundesebene ändern, um aus der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere das Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, zu machen. Es ist zwar beruhigend, zu lesen, dass die Bundesregierung in diesem Fall einmal nicht auf kostenpflichtige Berater zurückgegriffen hat. ({11}) Aber ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Koalition: Haben Sie wirklich keine anderen Probleme? Mit diesen Formalismen ist wirklich nichts zu bewegen, insbesondere kann man damit keine Tierseuche bekämpfen. ({12}) Wenn Sie wirklich eine wirksamere Tierseuchenbekämpfung wollen, dann können Sie nur eines tun: unseren Antrag unterstützen. ({13}) Damit helfen Sie auch den Tieren. Stimmen Sie zu! Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger. ({0}) - Entschuldigung. Herr Berninger, zuerst gibt es die Kurzintervention des Kollegen Priesmeier. ({1}) Bitte schön, Herr Kollege Priesmeier.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Kollegin Connemann, ich glaube, Sie sind da einigen Missverständnissen aufgesessen. Die Begründung, warum Ihr Antrag im Ausschuss berechtigterweise abgelehnt worden ist, ist Ihnen bereits damals gegeben worden. Es gibt in diesem Zusammenhang gar nichts mehr zu diskutieren. Wenn Sie den Entwurf zur Änderung des Tierseuchengesetzes richtig gelesen hätten, dann hätten Sie erkannt, dass dort eine Forderung von Ihnen enthalten ist, die man aber wegen des Grundgesetzes nicht so einfach umsetzen kann. Hätten Sie mich vorhin zu Wort kommen lassen, dann hätte ich gefragt, ob Sie diese Forderung nicht einmal hätten erwähnen können. Alle anderen Punkte sind so umgesetzt, wie Sie es vorgetragen haben. Ich glaube, wir haben ein Optimum an zusätzlicher Sicherheit bei der Tierseuchenbekämpfung erreicht, wenn dieser Änderungsentwurf verabschiedet wird. In Bezug auf die Namensänderung muss ich sagen, dass Herr Loeffler für die Tierseuchenbekämpfung genauso wichtig ist wie Herr Professor Koch für die Humanmedizin. Ich glaube, es ist legitim, ein Institut nach jemandem zu benennen, der sich entsprechende Verdienste erworben hat. Wenn das im Rahmen einer Gesetzesänderung geschieht, dann kann man das doch wohl nur unterstützen und darf es hier nicht lächerlich machen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Connemann, Sie können antworten. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Kollege Priesmeier, Sie haben gesagt, im Ausschuss sei über diesen Antrag debattiert worden. Das ist leider nicht der Fall gewesen. ({0}) Ich habe das im Ausschussprotokoll nachgelesen. Dieser Antrag ist ohne Aussprache - Sie können das im Protokoll gerne nachlesen; ich habe es dabei - mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Sie hatten es nicht nötig, auch nur ein einziges Wort zum Thema Tierseuchen zu sagen. ({1}) Daher ist es umso verblüffender, dass Sie unseren Antrag - also nicht nur diese eine Forderung - unisono übernehmen. ({2}) - Beruhigen Sie sich wieder, Herr Kollege. Ich zitiere bei solchen Gelegenheiten gerne aus dem Alten Testament: Dass ihr endlich schweigen würdet, das würde Wahrheit für euch sein. - Das wäre sicherlich einmal ganz angebracht. ({3}) Es gibt eine Menge Überschneidungen des Referentenentwurfs, der Ihnen sicherlich vorliegen wird, mit unserem Antrag. Ich nenne unter anderem: Unter Spiegelstrich zwei - es geht um den außerlandwirtschaftlichen Personen- und Wirtschaftsgüterverkehr - wird Ziffer 3 unseres Antrages übernommen. Unter Spiegelstrich drei - es geht um die Reglementierung der Verbringung und Einführung von Tieren und von ihnen stammenden Erzeugnissen - wird Ziffer 2 unseres Antrages übernommen. Unter Spiegelstrich vier - dort geht es um die Anordnung vorbeugender Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen an den Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland, also an Flug- und Schiffshäfen - wird Ziffer 5 unseres Antrages übernommen. Die Anordnung vorbeugender Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen bei regelmäßig verkehrenden Fahrzeugen bedeutet die Übernahme von Ziffer 8 unseres Antrages. Dies setzt sich so fort. Ich könnte Ihnen viele weitere Übereinstimmungen nennen. Von daher bleibe ich dabei: Sie haben unseren Antrag übernommen. Das spricht für Sie; Sie besitzen Einsichtsfähigkeit. Es wäre schön, wenn Sie dies auch durch Ihr Abstimmungsverhalten zum Ausdruck bringen würden. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger das Wort. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht heute um den Tierschutzbericht und nicht um Spiegelstriche. Lassen Sie mich deswegen zunächst einmal ein paar ganz grundsätzliche Bemerkungen machen. Die Debatte hat bisher eines sehr deutlich gezeigt: Es gibt in diesem Hause den großen Konsens, im Tierschutzbereich voranzukommen. Es ist aber auch sehr deutlich geworden, dass dieser Konsens leider an einer Stelle endet, nämlich immer dann, wenn es um Nutztiere geht. Immer dann, wenn mit der millionenfachen Nutzung dieser Tiere ökonomische Interessen verbunden sind, wird der Bundesrat, der beispielsweise in Bezug auf Zirkustiere dankenswerterweise die Initiative ergriffen hat, ganz schnell zum Verhinderungsgremium. Dann werden Tierschutzinteressen einem Hürdenlauf unterzogen. Das erleben wir seit Jahren. ({0}) Der Kollege Goldmann freut sich darüber, dass die FDP-Fraktion erreicht hat, den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen. Man sollte sich auch in einer Tierschutzdebatte nicht mit fremden Federn schmücken. Im Hinblick auf das Gebot des Tierschutzes hat in allen Fraktionen Konsens bestanden und es ist deshalb in das Grundgesetz aufgenommen worden. ({1}) Eines ist ganz deutlich geworden: Die Debatte darüber, den Tierschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, hat in dem Moment an Fahrt gewonnen, in dem die rotgrüne Bundesregierung dieses Thema vorangebracht hat. In den 16 Jahren davor mag es zwar aus den Reihen der FDP entsprechende Forderungen gegeben haben. Diese sind allerdings allesamt an der Unionsfraktion gescheitert. ({2}) Hier ist auch das Thema der Tierversuche angesprochen worden. Man hat ja fast den Eindruck, der Kollege Bleser freue sich über die ansteigende Zahl von Tierversuchen. ({3}) Denn in jeder seiner Reden glaubt er, die Milchbubenrechnung aufmachen zu müssen, dass die Steigerung der Zahl der Tierversuche eine Art Lackmustest und Beweis dafür ist, dass wir uns nicht um das Thema Tierschutz kümmern. Parl. Staatssekretär Matthias Berninger ({4}) Das ist falsch. Die Zahl der Tierversuche ist gestiegen, weil es insbesondere im Bereich der Biotechnologie eine ganze Reihe neuer Forschungsaktivitäten gegeben hat, die entsprechende Tierversuche nach sich gezogen haben. Die gleiche Fraktion, die uns in diesem Bereich Vorwürfe macht, steht, wenn es um die Förderung der Biotechnologie geht, ganz vorne an der Spitze. Ich halte dieses Aufrechnen für nicht sonderlich glücklich. Ich glaube vielmehr, dass uns die hohe Anzahl von Tierversuchen veranlassen sollte, uns noch stärker um Alternativmethoden zu kümmern. ({5}) Die Bundesregierung wird hier verstärkte Anstrengungen unternehmen. Es gibt sehr viele Alternativen zu klassischen Tierversuchen; das wissen auch Sie. Auch die Biotechnologie, insbesondere neue Zellkulturen, also gentechnisch veränderte Organismen, werden von uns in Betracht gezogen, um die Zahl der Tierversuche in den nächsten Jahren spürbar zu senken. Das müssen wir unter anderem wegen der neuen Chemikalienpolitik tun. Die Bundesregierung wird in den nächsten Monaten in Bezug auf Mastgeflügel, die Geflügel- und Schweinehaltung, den Transport von Tieren, die Pelztierhaltung, die Reform des Bundesjagdgesetzes, die Verbesserung der Lebensbedingungen von Zirkustieren, aber auch in Bezug auf das Thema „Mehr Transparenz über Tierhaltungsformen“ Initiativen ergreifen, die am Ende die Lebenssituation von Tieren verbessern werden. Lassen Sie mich zum Abschluss etwas zum Tierseuchengeschehen sagen. Ich halte wenig davon, sich über die Bilder anderenorts zu freuen und so zu tun, als könnten diese Bilder nicht auch uns schnell einholen. Sie alle wissen, dass Europa bei der Maul- und Klauenseuche ähnlich widerwärtige Bilder auf die Bildschirme gebracht hat, wie wir es jetzt in Asien erleben. Andersherum wird ein Schuh daraus: Nicht nur die Vogelgrippe, sondern auch BSE ist ein globales Tierproblem. Tierseuchen müssen stärker global angegangen werden. ({6}) Sie müssen ein elementares Thema bei den WTO-Verhandlungen werden. Bundesministerin Künast wird gerade das in ihrer Rede auf der OIE-Tagung, die sich erstmals in aller Deutlichkeit um Tierschutzfragen kümmert, nach vorne tragen. Die Kollegin Connemann, auch wenn sie gerade nicht zuhört, ({7}) ist ja ganz glücklich darüber, dass sie vor einiger Zeit einen Antrag gestellt hat, der sich mit der Änderung des Tierseuchengesetzes beschäftigt. Sie wissen auch, dass wir vonseiten der Bundesregierung bereits im Sommer hinsichtlich der Vogelgrippe sowie der Probleme, die wir in Europa hatten, im Ausschuss angekündigt haben, hier tätig zu werden. ({8}) - Wir sind tätig geworden. Am 18. Februar wird die Novelle des Tierseuchengesetzes im Kabinett behandelt werden. Bei vielen Punkten herrscht Übereinstimmung der Fachleute aller Länder, dass wir hier vorankommen müssen. In einem Punkt liegen sie völlig falsch. Auch hinsichtlich eines „stand still“, wo es darum geht, möglichst schnell dafür zu sorgen, dass keine Tiertransporte mehr erfolgen, wird die Bundesregierung eine Beschleunigung vornehmen. Wenn wir uns in der Sache einig sind, sollten wir uns darüber freuen, weil dies ein Instrument sein kann, um Tierseuchenprobleme schnell zu vermeiden. Das ist unser aller Ziel, denn die beste Seuchenbekämpfung ist dann gegeben, wenn es gelingt, eine Verbreitung entsprechender Erreger durch entschlossenes und konzertiertes Handeln zu verhindern. Wir werden mit dem Gesetzentwurf am 18. Februar auch dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Neben dem Tierschutzbericht und der Tierseuchenbekämpfung stehen heute der Initiativantrag Bayerns aus dem Bundesrat und der Antrag der FDP zum Tierarzneimittelgesetz auf der Tagesordnung. Es geht um die Nachbesserung des geltenden Arzneimittelgesetzes nicht zuletzt unter Tierschutzaspekten. ({0}) Es freut mich, dass die Kollegen aus den anderen Fraktionen zustimmen. ({1}) Es ist schon sehr ungewöhnlich, dass eine Novelle, die gerade ein Jahr alt ist, schon wieder nachgebessert werden muss. Im Grunde ist es eher eine „olle Kamelle“ als eine Novelle. Im Ernst: Der Druck aus der Praxis machte innerhalb kurzer Zeit klar, dass das, was sich in der Theorie so wunderbar anhörte, einfach nichts mit der Arbeit vor Ort zu tun hat. Wer das heute nicht wahrhaben möchte, hat einen wunderbaren Verdrängungsmechanismus. Das Künast-Ministerium ist darin gar nicht schlecht. ({2}) - Ja, Matthias, ich erkläre es auch dir noch. Die Ziele, denen wir uns heute noch verpflichtet fühlen, ein verbesserter Verbraucher- und Tierschutz, sind mit dem geltenden Arzneimittelgesetz nicht zu erreichen. Im Gegenteil. ({3}) Die meisten der hier Anwesenden waren bei unserer Ausschussanhörung, die relativ schnell ziemlich deutlich zeigte, dass hier nachgebessert werden muss. Vor allen Dingen müssen die Rechtsunsicherheit, die kaum zumutbaren Mehrbelastungen für Tierärzte und -halter und vor allem der mangelnde Tierschutz Änderungen erfahren. ({4}) Die Frage ist hier, warum wir so lange warten, bis es zu Nachbesserungen kommt. Das zentrale Problem ist die Siebentageregelung. Mal ehrlich: Welche Krankheit hält sich an eine willkürliche Vorgabe von sieben Tagen? Es gibt keine Krankheit, die am siebten Tag aufhört. Aber es lässt sich einfach bis sieben zählen. Am achten Tag hat der Tierarzt gegen das geltende Recht verstoßen. Dies hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist einfach für die Kontrolleure, aber unpraktikabel für die Betroffen und vor allen Dingen sehr leidvoll für die Tiere. ({5}) Um nicht gegen das Gesetz zu verstoßen, müsste der Tierarzt jedem kranken Tier einen persönlichen Krankenbesuch abstatten und eine Diagnose mit Behandlungsanweisung aussprechen, bevor der Tierhalter die nötige Behandlung durchführen darf. Würde der Tierarzt dann noch vor und nach jedem Stallbesuch durch die Hygieneschleuse geführt, geduscht und umgekleidet, um nicht mehr Krankheiten zu verschleppen als zu bekämpfen, dann wäre das Unterfangen endgültig undurchführbar. Das Ergebnis ist das, was wir alle nicht wollen: eine himmelschreiende Tierquälerei. Angesichts dessen kann man sich auch einen Tierschutzbericht schenken. ({6}) Wenn ein Arzneimittelgesetz - ohne Tierquälerei, eben durch unterlassene Behandlung - mehr Verbraucherschutz bringen soll und wenn die Landwirte und die Tierärzte nicht unter polizeilicher Überwachung stehen sollen, dann muss das Gesetz folgendermaßen aussehen: Die Siebentageregelung ist zu streichen. Eine starre Frist, von welcher Länge auch immer, kann der Vielfalt der Tiererkrankungen und deren Verläufen überhaupt nicht gerecht werden. ({7}) - Das ist sehr praxisfremd. Die fünfstufige Umwidmungskaskade für Lebensmittel liefernde Tiere ist durch die auf EU-Ebene gültige dreistufige Kaskaderegelung zu ersetzen. Mit Blick auf den Verbraucherschutz empfiehlt sich eine klare Grenzziehung zwischen Lebensmittel liefernden Tieren und reinen Gesellschafts- und Sporttieren. - Das wird auch Ulla Heinen und ihr Pferd freuen. ({8}) Um eine bedarfsgerechte Abgabe von Tierarzneimitteln zu gewährleisten, sollte es den Tierärzten nicht länger verboten werden, Arzneien aus fertigen Gebinden umzufüllen, fachgerecht neu zu verpacken und dann an den Tierhalter abzugeben. Lassen wir die Kirche im Dorf! Schauen wir doch, was praktikabel ist und dass wir den Tieren und dem Verbraucherschutz gerecht werden! Seien wir nicht heiliger, als wir sein sollten! Das bringt hier nun wirklich nichts. Ich möchte unterstreichen: Die Siebentageregelung muss weg. Die Abgabe von Arzneimitteln muss endlich den praktischen Bedürfnissen angepasst werden. Die Union und die FDP schlagen vor, drei Behandlungsformen als alternative Voraussetzungen für die Arzneimittelabgabe zuzulassen. Sie sollen gleichrangig nebeneinander stehen. Das wäre den Bedürfnissen der Praxis angebracht. Es geht erstens um die konventionelle Behandlung, zweitens um den Behandlungsplan und drittens - je nach Bedürfnis - um die tierärztliche Bestandsbetreuung. So kann flexibel auf die verschiedenen Krankheitsgeschehen reagiert und gleichzeitig schon im Vorfeld die Gefahr der Erkrankung des Tierbestandes gemindert werden. Nichts anderes soll der Tierarzt regeln und nichts anderes will auch der Tierhalter. ({9}) Ich glaube, so weit liegen wir gar nicht auseinander. Man muss aber etwas tun; es reicht nicht, nur zu wollen. Ich betone, dass wir alle - ich hoffe, ich darf den Kollegen zur Rechten einschließen - bereit sind, zusammenzuarbeiten. ({10}) Wir sind bereit, eine praktische Lösung mit Hand und Fuß zu erarbeiten, vor allem an den Brennpunkten, die wir schon angesprochen haben. Jetzt wird es spannend. Die Kollegin Connemann hatte einen Antrag gestellt, den man gerne umgesetzt hat. Wir Berichterstatter aller Fraktionen haben uns in der Sommerpause zusammengesetzt und die Punkte aufgelistet, die wir als die nachbesserungswürdigsten ansehen. Es bestand interfraktionelle Einigkeit. Jetzt aber spielen politische Eitelkeiten eine Rolle; Frau Künast lässt die Zusammenarbeit verbieten. ({11}) - Wilhelm, du warst doch nach der Diskussion auch nicht ganz entspannt. ({12}) Das hat uns wirklich um einiges zurückgeworfen. Wir könnten heute viel weiter sein. Wir sind bereit, zusammenzuarbeiten. Aber dann muss man auch miteinander reden und vor allen Dingen bereit sein, etwas zu tun. ({13}) Es ist zwar schön, wenn ihr sagen könnt - unser Mitleid habt ihr -: Mögen würden wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut. ({14}) Ich biete allen Kollegen und auch Ihnen, Herr Berninger, herzlich an, zusammen das Arzneimittelgesetz so zu überarbeiten, dass es praktikabel wird und jeder etwas davon hat, dass der Tierschutz und der Verbraucherschutz gewahrt sind, dass die Tierärzte ihrer Arbeit nachgehen können - sie haben studiert und wissen, was sie tun -, dass die Tierhalter Spaß an ihrem Beruf haben und dass wir letztlich relativ schnell zu einer Novelle kommen, die diesen Namen verdient. Herzlichen Dank. ({15}) - Ich kümmere mich um die Länder.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 9 a. Wir kommen zur Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- nährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/2231 zum Tierschutzbericht 2003, dem Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes. Der Ausschuss emp- fiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundes- regierung auf Drucksache 15/723 eine Entschließung an- zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 9 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/2233 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wirksamere Tierseuchenbekämpfung ermöglichen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1210 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkte 9 c und 9 d. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1494 und 15/1596 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 a auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts ({0}) - Drucksache 15/1971 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts ({2}) - Drucksache 15/2403 ({3}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 15/2487 - Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Christoph Strässer Rainer Funke bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/2488 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Heinz Köhler Norbert Barthle Alexander Bonde Otto Fricke Die Redner Christoph Strässer, Andreas Schmidt ({6}), Hans-Christian Ströbele, Rainer Funke und die Ministerin Brigitte Zypries haben ihre Reden zu Pro- tokoll gegeben.1) Wir kommen deshalb sofort zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Modernisierung des Kostenrechtes, Drucksache 15/1971. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2487, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? - 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Modernisierung des Kostenrechts. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2487, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/2403 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni 2002 über Finanzsicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 15/1853 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8}) - Drucksache 15/2485 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Uwe Benneter Bernhard Brinkmann ({9}) Marco Wanderwitz Rainer Funke Die Redner Bernhard Brinkmann ({10}), Marco Wanderwitz, Leo Dautzenberg, Jerzy Montag, Rainer Funke und der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.1) Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie vom 6. Juni 2002 über Finanz- sicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankge- setzes und anderer Gesetze, Drucksache 15/1853. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2485, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen. 1) Anlage 4 Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes - Drucksache 15/2253 ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({12}) - Drucksache 15/2492 - Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Ute Granold Die Redner Christine Lambrecht, Michaela Noll, Ute Granold, Irmingard Schewe-Gerigk, Sibylle Laurischk und Alfred Hartenbach haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes, Drucksache 15/2253. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2492, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mögliche Interessenüberschneidungen bei der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundes- anstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig vermeiden - Drucksachen 15/771, 15/2483 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Hermann Kues Die Redner Hans-Werner Bertl, Dr. Hermann Kues, Markus Kurth und der Parlamentarische Staatssekretär 2) Anlage 5 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Gerd Andres haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Nicht zu Protokoll gegeben hat seine Rede der Kollege Dirk Niebel. Deshalb gebe ich ihm jetzt das Wort. ({14})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich verlässt die SPD den Saal, aber auch die Union und die Grünen wollen ja nicht zu dem Thema reden. Die Skandale der Bundesagentur für Arbeit in den letzten Wochen und Monaten haben gezeigt, dass die Auswechslung des Kopfes an der Spitze einer Mammutbehörde nicht ausreicht, wenn das System das gleiche bleibt. Ich habe - im Gegensatz zu meiner normalen Art - heute einmal ein Redemanuskript mitgebracht, das ich Ihnen zeigen möchte. Das Bild zeigt unter der Überschrift „Das Kartell der Blockierer“ Frau Dr. Ursula Engelen-Kefer. Um nichts anderes als das geht es: Es geht hier darum, ob das Kartell der Blockiererinnen und Blockierer aufgelöst werden kann, um die Mittel der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler effizient zu verwenden. Dieses Bild ist aus der „Welt“ vom 27. Januar 2004; es trifft, glaube ich, den Kern des Themas. Nach § 16 SGB X sind Interessenverquickungen Ehrenamtlicher und Hauptamtlicher auseinander zu halten. ({0}) Auch wir sind der festen Überzeugung, dass man in den Sozialversicherungssystemen allein den bösen Anschein wahren muss. ({1}) Der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit umfasst fast 54 Milliarden Euro in diesem Jahr. Er enthält einen Eingliederungstitel von allein über 20 Milliarden Euro; das ist so viel, wie die gesamte Bundeswehr bekommt. Über die Jahre hinweg hat sich da eine Arbeitslosenindustrie etabliert, die es gewohnt ist, dass immer mehr Milliarden in das System gepumpt werden ({2}) und dass diese Milliarden dann innerhalb des Systems - zwischen Arbeitgeberfunktionären, Gewerkschaftsfunktionären und öffentlichen Händen - immer wieder verteilt werden, sodass faktisch eine Hand die andere wäscht und alle schmutzig bleiben. Da muss man dem bösen Schein entgegentreten und zumindest die übelsten, öffentlich für jeden nachvollziehbaren Verquickungen beenden. ({3}) Das wollen wir durch eine Änderung des Sozialge- setzbuches sicherstellen. Wir wollen gesetzlich regeln, 1) Anlage 6 dass der Umstand, dass jemand ehrenamtlich bei Sozialversicherungsträgern tätig ist und eine hauptamtliche Funktion innehat, bei der er die gleichen Interessen vertritt, ein Hinderungsgrund ist. Hier nennen wir explizit, als Beispiel für viele andere, auch von der Arbeitgeberseite, Frau Dr. Ursula Engelen-Kefer, die seit 1978 - seit über einem Vierteljahrhundert - in führenden haupt- und ehrenamtlichen Funktionen in dieser größten deutschen Behörde tätig ist. ({4}) Die Dame war schon Vizepräsidentin, ist jetzt ehrenamtlich Verwaltungsratsvorsitzende und war noch bis zu Beginn des letzten Jahres, Herr Schmidt, Aufsichtsratsvorsitzende des BFW des DGB, des Berufsfortbildungswerks des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des zweitgrößten Bildungsträgers in Deutschland. Das Gleiche kann ich Ihnen auch für die Arbeitgeberseite aufzeigen. Nehmen Sie das Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft und den Hauptgeschäftsführer der Bayerischen Arbeitgeberverbände, der im Verwaltungsrat der BA ist, ebenso wie ein CSU-Staatssekretär für Arbeitsmarktpolitik in Bayern, der natürlich qua Amt schon die Aufgabe hat,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Niebel, Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich lasse jetzt auch keine Überschreitungen mehr zu.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- ich bin sofort am Ende; ich bin im letzten Satz -, sich um die bayerische Wirtschaft zu kümmern. Wir müssen dafür sorgen, dass derartige Verquickungen aufhören. Eine Dame, die - auch wenn Sie dem nicht zustimmen wollen - ohnehin Fan der Frühverrentung ist, sollte uns den Gefallen tun, dieses Instrument irgendwann für sich selbst einmal in Anspruch zu nehmen, damit wir hier klarmachen können: Die Mittel der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden vom Parlament geschützt. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck- sache 15/2483 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Mögliche Interessenüberschneidungen bei der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig vermeiden“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/771 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP ange- nommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verena Butalikakis, Annette Widmann-Mauz, Andreas Storm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Früherkennung, Behandlung und Pflege bei Demenz verbessern - Drucksache 15/2336 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde Mattheis, Gudrun Schaich-Walch, Helga KühnMengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Petra Selg, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demenz früh erkennen und behandeln - für eine Vernetzung von Strukturen, die Intensivierung von Forschung und Unterstützung von Projekten - Drucksache 15/2372 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Die Redner Hilde Mattheis, Verena Butalikakis, Petra Selg und Detlef Parr haben ihre Reden zu Protokoll ge- geben.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/2336 und 15/2372 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Konsequenzen aus Dresdener Bombenfund ziehen - Drucksache 15/1238 - 1) Anlage 7 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss Die Redner Frank Hofmann ({5}), Günter Baumann, Silke Stokar von Neuforn, Dr. Max Stadler und Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1238 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Türk, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft AG erhalten - Drucksache 15/817 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Die Redner Christian Müller ({7}), Klaus Hofbauer, Werner Schulz ({8}), Jürgen Türk und der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern - Drucksache 15/2155 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({9}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die Redner Annette Faße, Heidi Wright, Jürgen Klimke, Klaus Brähmig, Winfried Hermann und Ernst Burgbacher haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4) 2) Anlage 8 3) Anlage 9 4) Anlage 10 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Venezuela unterstützen - Freiheit der Medien und wirtschaftliche Prosperität wiederherstellen - Drucksache 15/2389 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Der Redner der SPD, der Kollege Lothar Mark, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) ({11}) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort KlausJürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie würde man einen Mann bezeichnen, der am 4. Februar 1992 genau 56 Menschen - nach der offiziellen Statistik - hat umbringen lassen? ({0}) Dieser Mann ist heute der Präsident von Venezuela. Vor dem Hintergrund eines solchen Vorganges und zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Land an der Schwelle zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Demokratie und Diktatur steht, ist es schon bemerkenswert, dass sich für einen Redebeitrag heute Abend zum Beispiel niemand von der Bundesregierung verantwortlich fühlt. ({1}) Ich kann nur feststellen - man kann es ja nur so interpretieren -: Die Bundesregierung macht einen Kotau vor einem autoritären Regierungschef. ({2}) Anlage 11 - Wieso nicht? ({3}) - Lieber Herr Kollege Ströbele, ich darf hier vorweg sagen: Ich habe Frau Müller heute Nachmittag, als sie hier war, für die nächsten Tage gute Besserung gewünscht und ihr auch gesagt, sie solle sich ruhig ein bisschen zurückhalten. ({4}) Der Punkt ist nur: Wenn der Redebeitrag der Bundesregierung von einem einzigen Mitglied abhängt, dann ist das schon ein Armutszeugnis. Es muss doch ein paar mehr Leute geben. ({5}) - Lieber Herr Kollege Ströbele, ich stelle mir so Ihren Wortbeitrag zu einem umgekehrten Vorgang vor. ({6}) Der geschätzte Kollege Mark von der SPD kann - aus welchen Gründen auch immer - nicht hier sein. Dass sich die Kenntnisbreite der doch altehrwürdigen SPDBundestagsfraktion über Lateinamerika auf ein einziges Mitglied konzentriert, ist ebenfalls ein bemerkenswerter Vorgang. ({7}) Ich will noch etwas sehr Kritisches sagen: Vor kurzem hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine große Solidaritätskundgebung für Chávez durchgeführt. Es sind zwar nur zwei Abgeordnete, aber es ist doch bemerkenswert, dass sie nicht bereit sind, für ihre antidemokratischen Positionen hier im Deutschen Bundestag einzutreten. Auch das sollte man den Bürgern sagen. Worum geht es eigentlich? Ich kann mich hier nur wiederholen: In unserer augenblicklichen Situation stehen wir an einem Scheideweg. Heute hat die Vorsitzende einer neu gegründeten Partei des Regierungslagers der Presse mitgeteilt, man sei bewaffnet, man werde die Straße mobilisieren und ein Referendum - Peter Weiß wird sich zu diesem Thema noch äußern - werde auf keinen Fall stattfinden. Das ist die gegenwärtige Politik in diesem Land. Es gibt darüber hinaus noch ein weiteres Problem. Venezuela wirkt im Augenblick destabilisierend auf die gesamte Region. Sie haben vielleicht verfolgt, dass der Staatspräsident von Kolumbien heute und morgen in Deutschland ist. Wie sich das gehört, wird er mit allen Ehren von den Mitgliedern der Bundesregierung behandelt und empfangen. ({8}) Der Bundeskanzler wird für ihn morgen Mittag ein Arbeitsessen ausrichten. Auch die Vertreter aller Fraktionen, die hier in diesem Deutschen Bundestag vertreten sind, werden mit Uribe sprechen. ({9}) Fakt in der Region ist, dass wir es mit einer Verknüpfung von Terrorismus, internationaler Kriminalität und Drogenmafia zu tun haben. Diese wird weitestgehend durch die Guerilla-Strukturen in Kolumbien verkörpert. Das ist schon lange kein lokales Problem mehr. Inzwischen ist es auch ein regionales und sogar darüber hinausgehendes Problem, weil diese Fragen auch uns in Europa unmittelbar berühren. ({10}) Mittlerweile arbeiten fast alle Nachbarn - Ecuador mit seiner instabilen Regierung, aber nichtsdestotrotz, Peru, das große und wichtige Land Brasilien und Panama - bei der Bekämpfung der Guerilla und der Eindämmung des Terrorismus in dieser Region aufs Engste mit der kolumbianischen Regierung zusammen. Das einzige Land, das sich dieser Zusammenarbeit entzieht, ist Venezuela mit seinem Staatschef Chávez. ({11}) - Nein, ich habe gesagt, dass das wichtige Land Brasilien aufs Engste mit Kolumbien zusammenarbeitet. ({12}) - Brasilien arbeitet bei der Bekämpfung der Guerilla aufs Engste mit Kolumbien zusammen. Chávez verweigert sich dieser Zusammenarbeit und macht sich damit nicht nur am eigenen Lande schuldig. Er macht sich damit gleichzeitig auch schuldig, destabilisierend auf die gesamte Region zu wirken und damit die radikalen und extremistischen Kräfte in der Region zu unterstützen. Dies ist eine inakzeptable Vorgehensweise. ({13}) Es wäre angemessen gewesen, wenn die Bundesregierung diesem Plenum deutlich gemacht hätte, dass sie in keiner Weise bereit ist, so etwas zu dulden. Ich will mit einem durchaus leicht versöhnlichen Aspekt schließen. Es hat lange genug gedauert, bis die Bundesregierung überhaupt etwas zu der Situation gesagt hat. Man kann nur empfehlen, darauf zu achten, die internationalen Institutionen, das Carter-Zentrum und die Organisation Amerikanischer Staaten zu unterstützen, damit die Demokratie in Venezuela jetzt eine faire Chance erhält. Bis heute - so können wir feststellen befindet sich das Land in Turbulenzen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass keine diktatorischen Strukturen marxistischer, bolivarischer und sonstiger spleeniger Art die Oberhand gewinnen. Es geht um die Frage: Hat die Demokratie in Venezuela eine Chance oder nicht? Hier sollte der Bundestag Farbe bekennen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beeile mich, weil es schon sehr spät ist. Herr Kollege Hedrich, Sie verlangen von der Bundesregierung, die böse Regierung in Venezuela, die Sie gerade in die Nähe einer Diktatur gestellt haben, ({0}) zu bewegen, zu ermahnen, zu etwas zu drängen, ihr etwas zu verdeutlichen und was sonst noch alles. Soweit ich gehört habe, war Herr Kollege Hedrich, waren Sie vor ein paar Monaten, nämlich im Oktober vergangenen Jahres, hier in Berlin zu einer Konferenz des Ibero-Amerikanischen Instituts eingeladen. Dort waren sowohl Anhänger von Herrn Chávez als auch der gesamten Opposition in Venezuela vertreten. Sie, Herr Hedrich, haben dort Ihre Vorstellungen vorgetragen. Daraufhin ist der Wortführer nicht der Regierung in Venezuela, sondern der venezolanischen Opposition, Teodoro Petkoff, aufgestanden und hat unter mächtigem Applaus der gesamten Versammlung erklärt, dass die Sichtweise der Situation in Venezuela, wie Sie sie dargestellt haben, eine Beleidigung für alle Versammelten und das Volk in Venezuela darstellt. ({1}) Sie sollten sich das einmal hinter die Ohren schreiben und einen Antrag einbringen, der der Situation in Venezuela gerecht wird. ({2}) Ich bestreite nicht, dass die Lage dort problematisch und besorgniserregend ist. Ich bestreite auch nicht, dass Herr Chávez ein Populist ist, ({3}) der es mit der Pressefreiheit in weiten Bereichen nicht so genau nimmt ({4}) und für deutsche Demokraten wahrlich kein Sympathieträger ist. Das ist völlig richtig. Sie aber argumentieren einseitig. Sie kritisieren zum Beispiel in Ihrem Antrag, dass der Präsident an vielen Sonntagen mehrere Stunden lang im staatlichen Fernsehen redet und wie ein Conférencier oder ein Star die ganze Sendezeit für seine Zwecke missbraucht. Sie erwähnen jedoch nicht, dass es in Venezuela vier private Kanäle und zehn Zeitungen gibt. Von den zehn Zeitungen stehen neun und von den vier privaten Kanälen alle aufseiten der Opposition und sind Chávez-kritisch. Deshalb kann von einem Meinungsmonopol überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich gibt es dort eine sehr kräftige und lautstarke Opposition. Was ich Ihnen aber am meisten vorwerfe, ist, dass Sie sich mit der Opposition überhaupt nicht auseinander setzen. Chávez konnte seine großen Wahlsiege nur erzielen, weil die Opposition im ökonomischen und demokratischen Sinne völlig versagt hat. Herr Chávez hat nach seiner ersten Wahl zunächst einmal eine Verfassung in diesem Land installiert, die von allen anerkannt und nicht einmal von der Opposition kritisiert wird. Das Referendum, das jetzt angestrebt wird, steht zum ersten Mal in dieser Verfassung. Herr Chávez selbst hat es möglich gemacht, dass ein Referendum über die Präsidentschaft stattfinden kann. Die Opposition in Venezuela hat genauso versagt wie die Regierung selber. Deshalb können Sie sich nicht einseitig auf die Seite der Opposition stellen, ohne auch dort Kritik anzuwenden. Sie sollten es mit dem ehemaligen US-Präsidenten Carter halten, der deutlich gesagt hat, das Referendum und Chávez’ sofortige Machtentziehung sei in der gegenwärtigen Situation wahrscheinlich das Falsche. Sie dürfen nicht vergessen, wie die Situation nach dem Putsch im April letzten Jahres gewesen ist. Damals hat sich die Opposition ganz deutlich diskreditiert. Nachdem sich der Vorsitzende der Arbeitgebervereinigung selbst zum Präsidenten ernannt hatte, war seine erste Amtshandlung die Auflösung des Parlaments. Die Behauptung, dass Chávez’ selber auf sein Präsidentenamt verzichtet habe, war gelogen. Die Massen sind damals auf die Straße gegangen und haben die Rückkehr Chávez’ in die Regierung erzwungen. Das heißt, er hat nach wie vor eine sehr breite Unterstützung im Land. Nach Umfragen beträgt sie etwa 30 Prozent. Der Führer der Opposition, der Präsident werden will, hat vielleicht 1 Prozent der Stimmen hinter sich. Das muss doch Gründe haben. Die Opposition, die vorher an der Regierung war, hat total versagt, gerade im sozialen Bereich. Sie hat das Volk arm gemacht und dazu beigetragen, dass das Einkommen der Bevölkerung im Durchschnitt um 1 Prozent pro Jahr gefallen ist. Deshalb ist die Lösung, die Sie vorschlagen, genau die falsche. Die sehr angesehene „Neue Zürcher Zeitung“ hat vor anderthalb Monaten dazu geschrieben: Chávez sitzt wohl deshalb noch im Sattel, weil die Opposition nicht als bessere Alternative angesehen wird. Sie ist in den Augen vieler noch immer die Nachhut der alten Kasten, die ihre Unfähigkeit hinreichend bewiesen haben, das Land sozial ausgeglichen voranzubringen. Immerhin sinkt das Pro-Kopf-Einkommen nicht erst seit Chávez, sondern schon vorher. ({5}) Wenn Sie keine Alternative aufzeigen können, sollten Sie es mit dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten halten, der vorgeschlagen hat, dass man die Amtszeit des Präsidenten in Venezuela einschränkt und jetzt kein Referendum macht, sondern der Opposition die Möglichkeit gibt, einen eigenen Kandidaten aufzubauen und ein inhaltliches Profil zu entwickeln. Dann hätten sie auch den sehr populären und von ihnen geschätzten Präsidenten Lula aus Brasilien auf ihrer Seite, von dem sie wissen,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- dass er bei Chávez ein- und ausgeht und zwar nicht diesen Präsidenten, aber eine Dialoglösung in diesem Lande unterstützt. Ihr Antrag ist überhaupt nicht hilfreich. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir uns mit Venezuela auseinander setzen. Es ist ein potenziell sehr reiches Land und im Begriff, von seinem Präsidenten ruiniert zu werden. Das muss man ganz klar festhalten. ({0}) - Herr Ströbele, ich finde, es ist ein dickes Ding, wie Sie ihn hier verteidigen. ({1}) Das ist ein Mann, der dabei ist, die Ressourcen seines Landes zu verschleudern. ({2}) Das ist ein Mann, der den Mittelstand in seinem Land zerstört hat. Es gibt keinen Mittelstand mehr in diesem Land. Sie verteidigen diesen Mann hier. Sie müssen sich auch einmal von Schimären verabschieden, wenn die Entwicklung so offensichtlich ist. ({3}) Statt die Armut zu bekämpfen, hat Chávez den Mittelstand zerstört. Statt den Ölreichtum Venezuelas einzusetzen, hat er den Ölreichtum verschwendet. ({4}) Statt die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, spielt er Arm gegen Reich aus. Anstatt sein Land vernünftig zu entwickeln, spielt er die Leute gegeneinander aus. Sie stellen sich hierhin und verteidigen das. Das ist doch keine Art, Herr Ströbele. Ich verstehe das nicht. ({5}) Ein Punkt ist die Devisenbewirtschaftung. Das Land hat einen großen Bestand an Devisenreserven. ({6}) - Nein, es hat einen großen Bestand an Devisenreserven. - Die Devisen werden nicht für das eingesetzt, was das Land braucht. Sie werden nicht eingesetzt, um die Armut zu bekämpfen. Stattdessen wird das, was an potenziellem Reichtum da ist, nach außen hin abgeschottet. Venezuela ist das klassische Beispiel für ein Land, das viele Ressourcen hat und dessen Volk einen vernünftigen Bildungsgrad hat, das aber nicht davon profitieren kann, weil es von den Weltmärkten abgeschottet wird. Venezuela ist ein Beispiel für ein Land, das nicht an der Globalisierung teilnimmt und sich dadurch selbst zugrunde richtet. Und Sie verteidigen den Mann, der dafür verantwortlich ist und versucht, das Land zu ruinieren. ({7}) Lassen Sie mich auf das Referendum zurückkommen, Herr Ströbele. Ich finde sehr interessant, dass Sie, der bei jeder Gelegenheit Referenden und Volksbefragungen propagiert, ({8}) jetzt, da ein Referendum stattfinden soll, sagen, das sei ein falsches Signal und wir brauchten kein Referendum. Natürlich brauchen wir ein Referendum und wir werden sehen, wie Herr Chávez damit umgeht und ob er akzeptiert, dass ein Referendum stattfinden soll. ({9}) Es sollte von hier ein Aufschrei der Empörung losgehen, wenn er das nicht akzeptiert. Wir werden in den nächsten Tagen sehen, ob er es akzeptiert. Wenn er es nicht akzeptiert, Herr Ströbele, dann erwarte ich gerade von Ihnen, den Grünen, dass Sie aufstehen und deutlich sagen, dass es eine Mehrheit für das Referendum gibt, das wir dann auch von hier aus unterstützen sollten. Wir werden Sie daran erinnern. ({10}) Ich denke, es geht nicht an, bei jeder Gelegenheit Volksbefragungen zu fordern, aber in diesem Fall die Meinung zu vertreten, dass das Referendum nicht unbedingt nötig sei. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/ CSU-Fraktion.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Venezuela ist in der Tat - darauf deutet alles hin ein Land, das politisch und wirtschaftlich am Abgrund steht. Das ist nicht nur eine Frage der Innenpolitik Venezuelas; vielmehr hat das, was dort geschieht, weit reichende regionale und internationale Auswirkungen. Deswegen kann es kein Verständnis für Ihre abwiegelnde Rede geben, Herr Kollege Ströbele. Richtig ist: Chávez wäre nie ins Amt gekommen, wenn nicht frühere Regierungen und politische Gruppierungen in diesem Land versagt hätten, vor allem in der sozialen Frage. ({0}) Das ist richtig. Aber das Versagen früherer Regierungen kann und darf niemals eine Legitimation dafür sein, dass nun ein Regierungschef wie Chávez zusehends antidemokratisch und autoritär regiert und die Demokratie in Venezuela - ich sage das so deutlich - abschaffen will. ({1}) Dagegen muss sich unser deutlicher Protest erheben. ({2}) Natürlich ist ihm die von Ihnen angesprochene oppositionelle Presse ein Dorn im Auge. Deswegen will er die Pressefreiheit einschränken. Natürlich ist ihm die Opposition ein Dorn im Auge. Deswegen will er die parlamentarischen Rechte aushebeln. Als der Kollege Hedrich und ich in der vergangenen Woche in Venezuela waren, haben uns venezolanische Oppositionsabgeordnete eine Resolution überreicht, in der sie die Parlamentarier in Deutschland und in Europa dringend um Hilfe bitten, weil Chavéz erreichen will, dass selbstverständliche parlamentarische Rechte, die bei uns gelten, vor allem die Minderheitenrechte der Opposition, beschnitten werden. So soll die Zusammensetzung des obersten Gerichts künftig mit einfacher Mehrheit beschlossen werden können. Sie haben uns angerufen, ihnen zu helfen, dass dieses Attentat auf die Peter Weiß ({3}) parlamentarische Demokratie in Venezuela verhindert wird. ({4}) So unterschiedliche Auffassungen wir auch vertreten und so unterschiedlich wir Chávez und seine Politik bewerten, so sollten wir uns doch um der Selbstachtung als Parlamentarier willen über alle Fraktionen hinweg in einem Punkt einig sein: Wenn uns Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen um Hilfe bitten, wenn ihre selbstverständlichen parlamentarischen Rechte, wie sie jeder von uns im Bundestag hat und wie sie sich jeder für das Parlament eines demokratischen Landes wünscht, beschnitten werden sollen, dann sollte ihnen unsere eindeutige und uneingeschränkte Solidarität gelten. ({5}) Chávez war in der Tat in politischer Hinsicht eine Hoffnung für die Armen. Deshalb ist er ins Amt gekommen. Aber Chávez ist längst zu einem Risiko für die Armen in seinem Land geworden. Mittlerweile leben 36 Prozent der Venezolaner unterhalb der Armutsgrenze; sie haben also täglich weniger als 1 US-Dollar zum Leben. Insgesamt 81 Prozent der Venezolaner müssen als arm oder kritisch arm bezeichnet werden. Auf den Straßen von Caracas und in den Städten und Dörfern Venezuelas ist mit Händen zu greifen und zu erleben, wie die Zahl der fliegenden Händler in den vergangenen Monaten dramatisch zugenommen hat. Das heißt, die Schwarzarbeit breitet sich aus, während die legale Beschäftigung im offiziellen Sektor dramatisch sinkt. Kollege Löning hat bereits erwähnt, dass vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen massiv in ihrer Existenz gefährdet sind. Politisch ist das Land tief gespalten. Durch alle gesellschaftlichen Schichten und durch die Familien geht ein immer tieferer Riss zwischen Chávinisten und Gegnern des derzeitigen Präsidenten. Aufgabe eines Präsidenten wäre es, das Volk zusammenzuführen und einen Konsens zu bilden. Dieser Präsident aber macht das Gegenteil: Er spaltet das Land weiter zuungunsten der Lebensbedingungen der Menschen in Venezuela. ({6}) Er heizt den politischen Konflikt zusätzlich an, schafft Parallelstrukturen zu den bestehenden Institutionen und - ich habe es bereits erwähnt - setzt dazu an, die Rechte des Parlaments auszuhebeln. Eine Lösung des tief greifenden politischen und wirtschaftlichen Konflikts in Venezuela mit seinen negativen Auswirkungen auf die gesamte Region kann das Referendum bringen. Morgen ist eigentlich der Tag, an dem die Zulassung des Referendums offiziell festgestellt werden soll. Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Debatte führen. Das Referendum ist in der Verfassung vorgesehen. Die Opposition hat dafür 3,5 Millionen Unterschriften gesammelt. Das ist ein ausreichendes Quorum. Derzeit prüft der unabhängige Wahlrat die Unterschriften. Wie wird die Regierung Chávez damit umgehen? Die von ihren Anhängern inszenierte Begleitmusik lässt Schlimmstes befürchten. Öffentlich erklären Mitglieder der Regierung Chávez, dass das Referendum auf keinen Fall zustande kommen dürfe, dass man notfalls 2 Millionen der 3,5 Millionen Unterschriften für ungültig erklären müsse, dass man sogar mit Gewalt gegen ein mögliches Referendum vorgehen müsse. Die von der Opposition gestellten Mitglieder des Wahlausschusses werden von der politischen Polizei bespitzelt. Ihre Telefonate werden abgehört. Wenn es nicht zu diesem Referendum kommt, dann verliert die Regierung Chávez, so behaupte ich, den letzten Anschein demokratischer Legitimation und beschreitet Venezuela den Weg einer autoritären Diktatur. Wir sollten gemeinsam versuchen, das zu verhindern.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Weiß, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich, Frau Präsidentin. - Alle Beobachter sagen uns, das Einzige, worauf Chávez reagiere, sei internationaler Druck. Unsere Verantwortung als Europäer und als Deutsche ist, einen solchen Druck aufzubauen, durch den vielleicht Chávez und Venezuela noch kurz vor dem Abgrund auf den Weg der Besserung gebracht werden können. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2004, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.