Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Als Nachfolger für die verstorbene Kollegin Marita
Sehn hat der Abgeordnete Dr. Volker Wissing am
23. Januar 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr
herzlich.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung zum Telekommunikationsgesetz auf Drucksachen 15/2316 und 15/2345 und zur
Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien auf
Drucksache 15/2250 jeweils dem Ausschuss für Tourismus nachträglich zur Mitberatung zu überweisen. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben
- Drucksache 15/2361 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Otto Schily das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, dass wir mit
Gefahren konfrontiert sind, die die bisherigen Dimensionen, die wir aus der Vergangenheit kennen, bei weitem
übersteigen. Seit dem 11. September 2001 sieht die Welt
anders aus als zuvor. Wir müssen uns auf diese Gefahren
einstellen und dürfen in der Wachsamkeit nicht nachlassen.
Neue Sicherheitserfordernisse brauchen auch eine
klare rechtliche Grundlage. Die rechtlichen Grundlagen
müssen praxisnah und übersichtlich sein. Daher hat die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Neuregelung
von Luftsicherheitsaufgaben vorgelegt, den wir heute
beraten.
Das neue Gesetz fasst erstmals alle Regelungen zusammen, die der Abwehr von Gewaltakten gegen den
Luftverkehr dienen. Wir könnten als Leitsatz formulieren: Luftsicherheit aus einer Hand.
Neben den Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte
handelt es sich insbesondere um die Vorschriften hinsichtlich der Eigensicherungsmaßnahmen der Flughafenbetreiber und Luftfahrtunternehmen, die hoheitlichen Maßnahmen zur Kontrolle der Passagiere und ihres
Gepäcks sowie die Regelungen über die Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personengruppen im Bereich der
Luftfahrt.
Die Zusammenfassung dieser Regelungen steht auch
im Einklang mit der internationalen Entwicklung. Auch
andere Staaten haben sich entschlossen, Neuregelungen
zu treffen.
Auf europäischer Ebene ist die am 19. Januar vergangenen Jahres in Kraft getretene Luftsicherheitsverordnung maßgeblich. Ein Regelungsausschuss wird in den
nächsten Jahren kontinuierlich Duchführungsbestimmungen beschließen. Diese werden zum Teil auch eine
Anpassung nationaler Luftsicherheitsbestimmungen erforderlich machen. Ein eigenständiges Luftsicherheitsgesetz erleichtert diese Anpassungen und vereinfacht
den Anwendern den Überblick über die einschlägigen
Vorschriften. Andere Länder verfügen schon jetzt über
ein solches Regelwerk.
Redetext
Im internationalen Vergleich haben die Luftsicherheitsmaßnahmen in Deutschland ein sehr hohes Niveau.
Das wird auch international anerkannt. Das war schon
weit vor dem 11. September 2001 der Fall. Gleichwohl
hat die Bundesregierung unmittelbar nach den Anschlägen in den USA das gesamte System der nationalen
Luftsicherheitsmaßnahmen überprüft und Maßnahmen
zu seiner Verbesserung ergriffen. Ich habe eine Reihe
von Gesprächen auch mit den Chefs der entsprechenden
Unternehmen geführt.
Wir brauchen allerdings zur Sicherung des Luftverkehrs auch ein hohes Maß an Engagement und Eigenverantwortung der Wirtschaft, also der privaten Infrastrukturbetreiber. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen muss
ein zuverlässiges, in sich schlüssiges und umfassendes
Gesamtsystem sein. Wirksame Sicherheit entsteht durch
ein Ineinandergreifen einer Vielzahl von Vorkehrungen
und Kontrollmaßnahmen. Wir sprechen daher - das habe
ich schon in der Vergangenheit immer getan - von einem
gestaffelten Schutzsystem.
Nach den Terroranschlägen in den USA sind zunächst
die Kontrollmaßnahmen auf den deutschen Flughäfen
verstärkt worden, und zwar insbesondere für sämtliche
Flüge in die USA und nach Israel sowie für britische
Luftverkehrsunternehmen, weil dort besondere Gefahrenlagen angenommen werden müssen. Wir haben
außerdem eine jährlich zu wiederholende Zuverlässigkeitsüberprüfung für das Personal in sicherheitsempfindlichen Bereichen der Flughäfen verbindlich eingeführt.
Diese Überprüfung wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf noch einmal verschärft.
In internationalen Verhandlungen konnte eine rasche
Einigung über den Einbau schusssicherer Cockpittüren erreicht und umgesetzt werden. Auch aufgegebenes
Reisegepäck wird inzwischen zu 100 Prozent überprüft.
Seit dem 19. Januar dieses Jahres werden ebenfalls Waren und Personal im Sicherheitsbereich auf Flughäfen
entsprechenden Sicherheitskontrollen unterzogen. Dabei werden die betrieblichen Erfordernisse der Flughafenbetreiber selbstverständlich angemessen berücksichtigt.
In das Gesamtkonzept gehört auch der Einsatz von
Flugsicherheitsbegleitern in deutschen Luftfahrzeugen.
Der Bundesgrenzschutz hat damit schon wenige Tage
nach den Anschlägen in den USA begonnen. Ich freue
mich darüber, dass wir in dieser Frage auch mit der amerikanischen Regierung, insbesondere mit dem neuen Minister für Homeland Security, Tom Ridge, gut zusammenarbeiten. Beim BGS in Frankfurt am Main habe ich
eine Inspektion „Sicherheit im Luftverkehr“ einrichten
lassen, die den Einsatz der Flugsicherheitsbegleiter organisiert sowie eine beständige Analyse und Auswertung
lagerelevanter Erkenntnisse durchführt.
Die Anforderungen an Flugsicherheitsbegleiter sind
außergewöhnlich hoch, gerade weil sie unter den übrigen Fluggästen unauffällig bleiben und nur im Ernstfall
eingreifen sollen. Der Bundesgrenzschutz hat diesbezüglich in den vergangenen zwei Jahren vorbildliche Arbeit
geleistet. Auf einer internationalen Tagung für Flugsicherheitsbegleiter in der Grenzschutzschule Lübeck sind
im Oktober letzten Jahres mit Vertretern von 29 Staaten
Möglichkeiten einer intensiveren Zusammenarbeit auch
auf dem Gebiet der Aus- und Fortbildung erörtert worden. Ich möchte an dieser Stelle gerade den Beamten, die
diese schwierige Aufgabe übernommen haben, besonders herzlich danken.
({0})
Das Einsatzkonzept für Flugsicherheitsbegleiter erfordert aber eine strikt vertrauliche Behandlung der Details,
wie sich jeder denken kann. Daher wird über Einzelheiten der konkreten Personalstärke, der Vorgehensweisen,
der Bewaffnungen und der technischen Ausstattungen in
der Öffentlichkeit nicht diskutiert. Dafür muss ich die
Damen und Herren der Presse um Verständnis bitten.
Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Luftsicherheit stellt die Einführung biometrischer Verfahren
dar. Die Erfassung biometrischer Merkmale - seien es
Fingerabdrücke, Lichtbilder oder Irisfotos - erleichtert
nicht nur die Identifikation von einreisenden Personen
und Passagieren, sondern dient vor allem auch der zuverlässigen Verifikation, also der eindeutigen Zuordnung
von Dokumenten zu ihren Inhabern.
Vor der Einführung neuer Techniken müssen diese jedoch in der Praxis getestet werden und so weit wie möglich international standardisiert sein. Die Bundesregierung setzt sich daher maßgeblich für ein abgestimmtes
Vorgehen der Europäischen Union und der G-8-Staaten
ein. Das nächste Biometrieprojekt in Deutschland ist die
automatisierte und biometriegestützte Grenzkontrolle,
die der Bundesgrenzschutz auf dem Frankfurter Flughafen starten wird. In zwei Wochen werden wir mit einem
sechsmonatigen Praxistest beginnen.
Die zahlreichen und aufeinander abgestimmten vorbeugenden Maßnahmen gewährleisten ein außerordentlich hohes Maß an Sicherheit. Die Qualitätsanforderungen sind enorm. Wir müssen uns aber auch die
quantitative Herausforderung noch einmal vor Augen
führen: Weltweit reisen jährlich mehr als 1,6 Milliarden
Passagiere mit dem Flugzeug. Allein in Deutschland gab
es im vergangenen Jahr rund 120 Millionen Fluggäste.
Angesichts dieser Zahlen wäre es fahrlässig, ein Versagen des Schutzsystems nicht in Betracht zu ziehen. Wir
müssen auch an den Ernstfall denken, dass ein Flugzeug
in die Hände von Terroristen oder eines verwirrten Einzeltäters fällt, wie wir es damals in Frankfurt erlebt haben.
Diesem hypothetischen Fall, der hoffentlich nie eintreten wird, trägt der dritte Abschnitt dieses Gesetzentwurfs Rechnung; er regelt die Unterstützung und
Amtshilfe der Streitkräfte bei schwerwiegenden Gefahrenlagen, in denen die Länder nicht über die personelle
und technische Ausstattung zum Handeln verfügen. Voraussetzung für rasches, effizientes und verantwortbares
Handeln in diesem Bereich sind Rechtssicherheit und
Rechtsklarheit, zumal für die Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr.
Die Bundesregierung hat sich daher entschlossen, den
durch die Verfassung bereits erlaubten Einsatz der Streitkräfte zur Bekämpfung schwerer Gefahren, die aus dem
Luftraum kommen, näher auszugestalten. Dies geschieht
im Rahmen der bewährten Sicherheitsarchitektur. Der
Auftrag der Streitkräfte wird nicht erweitert, sondern nur
konkretisiert. Dieser Punkt ist besonders wichtig; wir
sollten die Abgrenzung zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben nicht aufgeben.
({1})
Auf Basis von Art. 35 des Grundgesetzes schafft das
neue Luftsicherheitsgesetz eine solide Voraussetzung für
die Streitkräfte, um die Polizei bei ihren Aufgaben wirksam zu unterstützen, wenn dies die einzige Möglichkeit
zur Abwendung einer Gefahr für das Leben von Menschen ist. Der Gesetzentwurf regelt in sehr engen Grenzen auch die Zulässigkeit eines Flugzeugabschusses. Es
wäre unredlich und unverantwortlich, einer Erklärung
gerade in diesem extremen Fall auszuweichen. In unserer Demokratie kann nur die Politik eine derart schwere
Verantwortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nicht
den Soldatinnen und Soldaten aufbürden.
({2})
Nur der Verteidigungsminister kann seinen Piloten einen
entsprechenden Befehl geben.
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung und
Komplexität einer solchen Regelung bewusst. Unser Gesetzentwurf sieht keine Änderungen des Grundgesetzes
vor. Im weiteren Verlauf der Beratungen sollten wir aber
vorurteilsfrei prüfen, ob eine Klarstellung in Art. 35 des
Grundgesetzes notwendig erscheint oder empfehlenswert ist,
({3})
ohne den materiellen Inhalt dieser Vorschrift zu verändern. Es geht also nur um die Ausdrucksweise in diesem
Artikel und nicht um den substanziellen Inhalt, der - davon sind wir überzeugt - eine solche Regelung bereits
trägt.
({4})
Die genauen Konstellationen, in denen gekaperte
Flugzeuge als Waffen gegen Menschen missbraucht
werden können, kennen wir nicht. Das Gesetz soll daher
eine generelle Grundlage für das Zusammenwirken aller
Beteiligten auf Landes- und Bundesebene schaffen. Die
Länder behalten ihre Zuständigkeiten und wirken im
Rahmen ihrer Zuständigkeit an der Gefahrenabwehr mit.
Um im Ernstfall ein schnelles Handeln tatsächlich zu
gewährleisten, haben wir bereits ein Nationales Lageund Führungszentrum Luftsicherheit eingerichtet. Ich
habe es zusammen mit meinem Kabinettskollegen Struck
vor einiger Zeit besucht. Seit dem 1. Oktober 2003 sind in
Kalkar Soldaten und Beamte des Bundesgrenzschutzes
rund um die Uhr im Einsatz. Ihre Aufgaben sind die Zusammenfassung, Bewertung und Steuerung aller vorhandenen Informationen über die Luftsicherheitslage im
deutschen und benachbarten Luftraum, die Einleitung
von operativen Maßnahmen sowie die Beratung der Entscheidungsträger in Bezug auf die Luftsicherheitslage
und die bestehenden Handlungsoptionen. Die Länder
sind in die Informations- und Kommunikationsabläufe
einbezogen. Hierzu wurde eine Vereinbarung über die
entsprechenden Melde- und Alarmierungswege getroffen.
Meine Damen und Herren Kollegen, mit dem neuen
Luftsicherheitsgesetz stellen wir den Schutz der zivilen
Luftfahrt vor kriminellen und terroristischen Angriffen
auf eine solide und übersichtliche Grundlage. Ich hoffe
darauf, dass wir alle uns der besonderen Verantwortung
bewusst sind und die Debatte konstruktiv und sachlich
führen werden.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang
Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser dynamischen Rede des Innenministers können wir
nichts anderes sagen als: Die Unionsfraktion begrüßt die
Absicht der Bundesregierung, durch diesen Gesetzentwurf den Schutz des Luftverkehrs vor kriminellen und
terroristischen Angriffen zu erhöhen und den Einsatz der
Bundeswehr, genauer gesagt: unserer Luftwaffe, zur Abwehr von Gefahren aus der Luft gesetzlich zu regeln.
Das gilt insbesondere für die Fälle, in denen ein ziviles
Flugzeug gestohlen oder mit Gewalt entführt und von
den Tätern zu einer todbringenden Waffe umfunktioniert
wird.
Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist zwar
grundsätzlich Aufgabe der Länder. In besonderen Gefahrenlagen aber kann es im wahrsten Sinne des Wortes notwendig sein, dem Bund unmittelbar Kompetenzen zu
übertragen. Bei Angriffen aus der Luft dürfte es fast immer der Fall sein, dass mehrere Länder betroffen sind.
Da bei dem Tempo und der Reichweite moderner Flugzeuge territoriale Zuständigkeiten in wenigen Minuten,
ja in Sekunden wechseln können, ist eine Kompetenz
des Bundes bei solchen Gefahrenlagen nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend geboten. Gerade dann brauchen wir schnelle Entscheidungsprozesse und kurze Reaktionszeiten.
Wir begrüßen auch, dass sich die Bundesregierung
nicht von den zum Teil wirklich haarsträubenden Argumenten aus den eigenen Reihen gegen das Gesetz hat irritieren lassen.
({0})
- Es gab zum Beispiel den Vorwurf, das sei eine Lizenz
zum Töten. Mit den Regelungen dieses Gesetzes aber
sollen Menschenleben gerettet werden.
({1})
Gegen einzelne Regelungen des Entwurfs sind vonseiten der Länder zum Teil erhebliche fachliche Bedenken geltend gemacht worden. Auch die Unionsfraktion
sieht an mehreren Stellen Korrekturbedarf. Das möchte
ich aber nicht weiter ausführen, zumal die Kollegen
Clemens Binninger und Jürgen Herrmann hierzu noch
sprechen werden.
Der entscheidende Einwand gegen den Gesetzentwurf
besteht darin, dass gegen ihn erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.
({2})
Der geplante Einsatz der Streitkräfte zur Abwehr von
Gefahren aus der Luft dürfte ohne eine Änderung oder
Ergänzung des Grundgesetzes verfassungswidrig sein.
Deshalb kann die Bundesregierung nicht erwarten, dass
wir diesem Gesetz vorbehaltlos zustimmen. Gerade weil
den Streitkräften mit diesem Gesetz sehr weit reichende
Befugnisse zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstaten
übertragen werden, ist es zwingend notwendig, ihren
Einsatz auf eine verlässliche Rechtsgrundlage zu stellen.
Genau daran fehlt es.
Durch ein einfaches Parlamentsgesetz kann dies jedenfalls dann nicht geschehen, wenn dessen Regelungen
im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen, und das
ist der Fall. Diese Rechtsansicht wird im Übrigen auch
von elf der 16 Bundesländer im zuständigen Fachausschuss des Bundesrates ausdrücklich geteilt, im Protokoll nachzulesen. Wer sagt, dass im Bundesrat keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben wurden, sagt
nicht die Wahrheit.
Durch den Gesetzentwurf werden den Streitkräften
bei Inlandstaten eigene Befugnisse übertragen. Sie können aber nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nur zur Unterstützung der Länderpolizeien eingesetzt werden. Es ist
unstreitig, dass dann die Entscheidungsgewalt dem jeweiligen Land obliegt und das Handeln der Streitkräfte
im Rahmen der Amtshilfe den Länderpolizeien zugerechnet wird. Danach können die Streitkräfte im Rahmen der Amtshilferegelungen nur von den Befugnissen
Gebrauch machen, die ihnen durch das jeweilige Landesrecht eingeräumt werden. Der Gesetzentwurf sieht jedoch den Einsatz der Streitkräfte aus eigenem Recht vor,
mit einer Entscheidungsgewalt des Bundesministers der
Verteidigung und mittels bundesgesetzlicher Befugnisse.
Damit überschreitet der Gesetzentwurf die Grenzen der
Amtshilfevorschriften des Grundgesetzes.
Gerade im Hinblick auf den extremen Fall, in dem ein
gekapertes und zu einer tödlichen Angriffswaffe umfunktioniertes Flugzeug nur noch durch die Luftwaffe
zur Umkehr oder zur Landung gezwungen oder durch
Abschuss zum Absturz gebracht werden kann, dürfen
sich weder dem Inhaber der Befehlsgewalt noch den
Ausführenden offene rechtliche Fragen stellen.
({3})
Gerade diejenigen, die in einer solchen Extremsituation
die Verantwortung tragen, haben einen Anspruch darauf,
auf einer sicheren Rechtsgrundlage zu entscheiden und
zu handeln. Wer ihnen dies verweigert, handelt unverantwortlich.
({4})
Zwar kann die Bundeswehr schon heute im Innern
eingesetzt werden, zum Beispiel bei der Bewältigung
von Naturkatastrophen oder im Spannungs- und Verteidigungsfall, aber eben nur in den Fällen, in denen es das
Grundgesetz ausdrücklich erlaubt. Die Abwehr terroristischer Gefahren im Allgemeinen gehört jedenfalls
nicht dazu. Das gilt selbst dann, wenn nur die Bundeswehr, nicht aber die Polizeien des Bundes und der Länder über die Fähigkeiten verfügt, die zur Gefahrenabwehr notwendig und daher zum Schutz der
Bevölkerung unverzichtbar sind.
Der Einsatz der Bundeswehr im Innern kann auch
nicht auf Art. 35 Abs. 2 des Grundgesetzes mit der Passage „Hilfe ... bei einem besonders schweren Unglücksfall“ gestützt werden. Es ist ja gerade streitig, ob die
Streitkräfte nur für die Bewältigung der Folgen eines bereits eingetretenen Unglücksfalls oder auch zu dessen
Verhinderung eingesetzt werden dürfen. Es ist daher notwendig, das Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen
- je nach Sprachgebrauch -, um den Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Abwehr terroristischer Gefahren
- nur darum geht es - auf eine sichere Rechtsgrundlage
zu stellen.
Natürlich wird diese Forderung auch heute wieder reflexartige Empörung bei der Koalition, insbesondere bei
den Grünen, auslösen. Die würde sich dann allerdings
auch gegen den eigenen Verteidigungsminister, gegen
Peter Struck, richten, der bis zu seiner Domestizierung
mittels Kabinettsdisziplin selber eine Änderung des
Grundgesetzes gefordert hat. Selbst der Innenminister
hat nicht erst heute, sondern bereits im Oktober letzten
Jahres eine Ergänzung des Grundgesetzes zur rechtlichen Klarstellung nicht ausgeschlossen. Demgegenüber hält der verehrte Kollege Dr. Wiefelspütz eine Ergänzung des Grundgesetzes nicht für erforderlich, und
zwar - das muss ich zugestehen - mit einer wirklich
nicht unoriginellen Begründung.
({5})
Er räumt zwar - ich zitiere - gewisse interpretatorische
Schwierigkeiten ein, fügt aber hinzu, mit einer - so wörtlich - mutigen Auslegung des Grundgesetzes könne man
den Gesetzentwurf durchaus als verfassungskonform bezeichnen.
({6})
Umgangssprachlich formuliert: Wir biegen uns das
Grundgesetz zurecht und tun einfach mal so, als ob der
Gesetzentwurf dem Grundgesetz entspräche. Das ist
Verfassungsrecht à la Wowereit.
({7})
So darf man mit unserem Grundgesetz nicht umgehen.
Selbst die Vertreter der „Das ist doch alles vom
Grundgesetz gedeckt“-Theorie bestreiten nicht, dass ihre
Rechtsansicht streitig ist. Aber gerade in extremen
Situationen, in denen in kürzester Zeit weitreichende
Entscheidungen mit möglicherweise schwerwiegenden
Folgen getroffen werden, darf es keine schwerwiegenden rechtlichen Zweifel geben.
({8})
Die Verantwortlichen müssen sich darauf verlassen
können, dass ihr Handeln verfassungskonform ist. Für
diejenigen, die die Entscheidung über die Alternativen
treffen müssen, geht es um eine Entscheidung über Leben und Tod. Jede Entscheidung kann fatal falsch sein.
Es kann fatal falsch sein, ein Flugzeug zum Absturz zu
bringen, und es kann fatal falsch sein, es nicht zum Absturz zu bringen. Wenn etwas passiert, wird selbstverständlich zu prüfen sein, ob der Befehl rechtmäßig erteilt
worden ist. Wollen wir denn auch die Entscheidung dieser Frage dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
überlassen?
({9})
Was spricht dagegen, ins Grundgesetz zu schreiben, was
Sie angeblich selber wollen? Nichts spricht dagegen.
({10})
Wahrscheinlich kommt jetzt gleich wieder die Behauptung, der Union gehe es in Wahrheit nur darum, der
Bundeswehr generell Polizeiaufgaben zu übertragen.
({11})
Zwar wird diese falsche Behauptung auch durch ständige Wiederholung nicht richtig; aber wer in der Sache
selbst keine Argumente hat, erliegt eben der Versuchung,
gegen Forderungen zu polemisieren, die überhaupt niemand erhebt.
Deshalb noch einmal zum Mitschreiben: Niemand in
der Union denkt daran, der Bundeswehr peu à peu Polizeiaufgaben zu übertragen. Niemand denkt daran, sie zu
einer Art zweiten Bereitschaftspolizei zu machen, zumal
ja nicht nur die Aufgaben, sondern auch Ausrüstung und
Ausbildung von Polizisten und Soldaten völlig verschieden sind. Aber mittlerweile müsste eigentlich jedem klar
sein, dass sich die traditionelle, in der Vergangenheit gut
begründete, scharfe Trennung von äußerer und innerer Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die
Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen angesichts der terroristischen Bedrohungen
immer mehr. Hierauf müssen sich sowohl der Gesetzgeber als auch die Sicherheitsbehörden in geeigneter
Weise einstellen, um entsprechend reagieren zu können.
Hierfür ist der vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Beispiel. Er dient ja gerade dazu, die Einsatzkompetenz der
Bundeswehr zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstaten
zu begründen.
Es kann nicht richtig sein, dass wir die Bundeswehr
außerhalb des Verteidigungs- und Spannungsfalles auch
dann nicht zum Schutz ziviler Objekte, also zum Beispiel lebenswichtiger Infrastruktureinrichtungen, einsetzen können,
({12})
obwohl wir eine ganz konkrete Gefährdungslage haben
und die Polizeien der Länder und des Bundes diese notwendige Aufgabe nicht mehr übernehmen können, weil
sie aufgrund der besonderen Gefährdungen schon jetzt
an ihre Grenzen stoßen. Es stellt sich da nur die Frage,
ob wir die Bevölkerung schutzlos lassen oder nicht. Uns
geht es darum, die Bundeswehr zur Abwehr terroristischer Gefahren auch dann im Inland einsetzen zu können, wenn nur sie über diejenigen Fähigkeiten verfügt,
({13})
die dringend gebraucht werden, um die Bevölkerung vor
schweren Folgen schützen zu können. Das gilt beispielsweise für die Abwehr von ABC-Gefahren. Wir haben
weltweit die besten ABC-Abwehrkräfte. Es kann doch
nicht sein, dass wir sie, um den Bundesverteidigungsminister zu zitieren, am Hindukusch einsetzen können,
aber nicht in Hildesheim, wenn dort eine Gefahr abzuwenden ist. Das macht doch keinen Sinn.
({14})
Es wäre verantwortungslos, die Bevölkerung in einer
solchen Situation nur deshalb schutzlos zu lassen, weil
es für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr
an einer sicheren Rechtsgrundlage fehlt. Hierbei darf es
auch nicht darauf ankommen, ob die terroristische Gefahr vom Boden, von See her oder aus der Luft droht.
Wir sind zu jeder Zeit bereit, über die notwendige Änderung bzw. Ergänzung des Grundgesetzes mit der Bundesregierung und mit der Koalition ernsthaft und konstruktiv zu verhandeln. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie
dieses Angebot annehmen oder nicht. Sollte ein Einvernehmen nicht erzielbar sein, werden wir einen eigenen
Gesetzentwurf einbringen. Es ist nicht nur unser Recht,
sondern es ist angesichts der terroristischen Gefahren,
die vom Bundesinnenminister richtigerweise regelmäßig
sehr wortreich beschworen werden, auch unsere Pflicht,
({15})
die Bevölkerung so wirksam wie möglich zu schützen.
({16})
Ich erteile das Wort Silke Stokar von Neuforn,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Möglichkeit eines terroristischen Angriffs mit einem entführten
zivilen Flugzeug ist seit dem 11. September 2001 keine
Fiktion mehr, sie ist brutale Realität. Wir können nicht
mehr ausschließen, dass Deutschland Ziel eines ähnlichen Terrorangriffs werden könnte. Wir tragen die Verantwortung; wir müssen uns dieser Realität stellen. Wir
müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, mögliche
Gefahren von den Bürgerinnen und Bürgern abwenden
zu können.
In intensiven Beratungsrunden haben wir die hier
eben von Herrn Bosbach angesprochenen verfassungsrechtlichen Fragen, die sich insbesondere aus den §§ 13
und 14 ergeben, geprüft. Meine Damen und Herren, wir
würden als grüne Fraktion - das Gleiche gilt für die SPD
und für die Bundesregierung - nicht hier vor das Parlament treten und Ihnen ein Gesetz vorlegen, wenn wir
Zweifel hätten, dass dieses Gesetz verfassungsgemäß ist.
Nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung der
Verfassungsreferate aller Ministerien und weiterer Verfassungsrechtler sind wir zu der Auffassung gelangt,
dass das Gesetz verfassungsgemäß ist. Wir sehen keinerlei Veranlassung, in Zusammenhang mit dem Luftsicherheitsgesetz über eine Verfassungsänderung zu diskutieren. Ich sage es ganz deutlich: Jede Klarstellung, jede
Ergänzung würde eine Änderung unseres Grundgesetzes
nach sich ziehen. Unser Grundgesetz ist klar;
({0})
das Luftsicherheitsgesetz ist verfassungskonform.
({1})
Der Einsatz der Luftstreitkräfte ist die Ultima Ratio;
er ist beschränkt auf den Fall, dass ein Flugzeug von Terroristen entführt und als „fliegende Bombe“ gegen das
Leben am Boden eingesetzt wird, erfolgt also nur, wenn
er das einzige Mittel ist, um eine schwerwiegende Gefahr für das Leben einer Vielzahl von Menschen abzuwenden.
Meine Damen und Herren, wir schaffen mit diesem
deutschen Luftsicherheitsgesetz - der Herr Innenminister hat es gesagt - auch nichts gänzlich Neues. Bei einem
Angriff von außen - wenn etwa ein Flugzeug in Paris
startet und in den deutschen Luftraum eindringt - ist
schon heute nach Art. 115 a des Grundgesetzes die Zuständigkeit der Bundeswehr im Luftverkehr gegeben.
Außerdem gibt es eine entsprechende NATO-Verordnung. Die meisten europäischen Länder haben diese Militärverordnung übernommen. Es gibt eine Regelungslücke lediglich bei deutschen Inlandsflügen.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einigen
weiteren Aspekten des Luftsicherheitsgesetzes. Ich gehe
davon aus, dass wir uns einig sind, dass wir präventiv alles tun müssen, dass der schlimmste Fall nie Wirklichkeit wird. Die Sicherheit in der Luft fängt am Boden an.
Am Boden müssen wir präventiv tätig werden, um Katastrophen in der Luft zu verhindern. Die Zustimmung zu
den erweiterten Kontrollen, Zuverlässigkeitsprüfungen
und neuen Dateien ist uns nicht leicht gefallen. Um aber
im Vorfeld zu verhindern, dass es zu einer Katastrophe
kommt, haben wir diesen Regelungen zugestimmt.
Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche weitere präventive Maßnahmen vor, die eine Ergänzung zu dem sind,
was Rot-Grün bereits im Rahmen der Sicherheitspakete
auf den Weg gebracht hat. So gibt es zum Beispiel erweiterte Zuverlässigkeitsüberprüfungen und die Durchsuchungen werden auf das Flughafenpersonal vor dem
Zutritt zu sensiblen Bereichen des Flughafens ausgedehnt. Sky Marshals - das wissen Sie - gibt es bereits.
Wir werden in einer öffentlichen Anhörung - der wir
gelassen entgegensehen; Rot-Grün hat sie selber beantragt - die Gelegenheit haben, auch die angesprochenen
verfassungsrechtlichen Fragen noch einmal intensiv zu
erörtern. Ich habe es sehr begrüßt, Herr Bosbach, dass
der Bundesrat in seinen Einwendungen und in seiner
schriftlichen Stellungnahme mit den 42 Änderungspunkten, die uns vorliegt, keine Bedenken verfassungsrechtlicher Art geäußert hat. Ich bitte auch die CDU/CSUFraktion, bei dem Luftsicherheitsgesetz zu bleiben - Sie
würden sonst dem gemeinsamen Anliegen schaden und keine allgemeine Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu führen. Wir sehen für einen solchen Einsatz keinen Anlass; wir sehen ihn als schädlich
an. Wir sind der Auffassung, dass die deutsche Sicherheitsarchitektur verlässlich und gut ist.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Burgbacher, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende Gesetzentwurf berührt außerordentlich
schwierige politische und verfassungsrechtliche, vor allem aber auch schwierige ethische Fragen.
({0})
Herr Bundesminister Schily, ich sichere Ihnen ausdrücklich zu: Die FDP-Fraktion wird ergebnisoffen in
diesen Diskussionsprozess gehen. Wir sehen der Anhörung mit Spannung entgegen und erwarten, dass dabei
nicht nur Verfassungsrechtler, sondern auch Luftfahrtund Luftsicherheitsexperten befragt werden. Auch in
dem Bereich der Luftsicherheit gibt es eine ganze Reihe
von Problemen, die nach unserer Ansicht bisher noch
nicht gelöst sind.
In einem weiten Bereich, was die Sicherheit an Flughäfen, die Überprüfung von Passagieren und von Personal betrifft, sind wir uns weitgehend einig. Darüber brauchen wir heute nicht zu diskutieren.
Es gibt trotzdem viele Fragen und erhebliche Zweifel
und Bedenken bei der FDP-Fraktion, die ich trotz meiner
kurzen Redezeit ansprechen will. Der Bundesrat hat in
seiner Stellungnahme gesetzestechnische Bedenken
erhoben, die nicht von der Hand zu weisen sind. Der
Bundesrat hat moniert, dass die Verteilung der RegeErnst Burgbacher
lungsbereiche auf das Luftverkehrsgesetz und das Luftsicherheitsgesetz künftig den Überblick über die Rechtsmaterie erschwert. Dies ist auch unsere Meinung. Es
wäre daher besser gewesen, Herr Innenminister, das
Luftsicherheitsgesetz auf den zentralen Regelungsgegenstand zu beschränken, nämlich auf die Frage des Einsatzes der Luftwaffe.
({1})
Ein weitere Frage. Im Gesetz ist ständig von einer
Luftsicherheitsbehörde die Rede. Es fehlen aber Informationen zu dieser Behörde. Die Warnung des Bundesrates vor Synergieverlusten wird in der Gegenäußerung
der Bundesregierung nicht wirklich entkräftet.
Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen rot-grüner Politik, ganz besonders in der Innenpolitik: Es werden Behörden geschaffen, Behörden umbenannt, umstrukturiert, Standorte verlagert, Stichwort: Verlegung des
BKA, und es wird - dies ist ein weiteres Beispiel - die
Errichtung eines Bundesamtes für Bevölkerungsschutz
und Katastrophenhilfe geplant.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es nutzt uns
nichts, wenn wir jetzt in blinden Aktionismus verfallen.
({2})
Das hat noch nie zur Lösung beigetragen, sondern hat
die Probleme eher verschärft.
({3})
Wir sollten die Mitarbeiter der Behörden jetzt nicht verunsichern und ihre Arbeitskraft verschwenden. Wir sollten sie vielmehr gerade in der heutigen Situation ermuntern, damit sie ihre Arbeit in optimaler Weise verrichten
können. Darum geht es heute. Deshalb, Herr Minister
Schily, fordere ich Sie eindringlich auf, sich auf diese
Fragen zu beschränken und im Hinblick auf Ämter und
Behörden nicht ständig neue Ideen in die Diskussion zu
bringen.
Skepsis ist im Hinblick auf den zentralen Punkt des
neuen Luftsicherheitsgesetzes angebracht, nämlich wenn
es um den Versuch geht, den Abschuss von Zivilflugzeugen durch die Bundeswehr gesetzlich regeln zu
wollen. Ich möchte einen Fachmann zitieren, nämlich
den Geschäftsführer der dba, Hans Rudolf Wöhrl:
In den seltensten Fällen dienen diese neuen Vorschriften und Verordnungen der Sicherheit des
Flugverkehrs, sondern nur der Sicherheit von Regierungen und Behörden, damit man sich im Falle
des Falles von jeglicher Mitverantwortung freisprechen kann.
({4})
Getreu dem Motto „Wir haben ja etwas getan“ werden Vorschriften erlassen, über die Fachleute nur
den Kopf schütteln können.
({5})
Wir müssen schon fragen - wir tun das auch in der
Anhörung -, welche praktischen Konsequenzen das Gesetz hat.
({6})
Herr Minister, Sie haben den Fall des Sportflugzeuges
über Frankfurt angesprochen. Hat man eigentlich jemals
ernsthaft darüber diskutiert, was die Alternative war und
welcher Schaden hätte entstehen können? Was geschähe
eigentlich, wenn ein großes Zivilflugzeug aufgrund technischer Schwierigkeiten, zum Beispiel durch den Ausfall
der Bordelektronik, in die Nähe eines Kernkraftwerks
oder eines anderen hochsensiblen Bereichs gelangen
würde und seitens der Behörden und der Politik als gefährliches Objekt eingestuft würde? Wer will hier den
Befehl zum Abschuss erteilen? Was ist mit dem Leben
der Flugzeuginsassen? Wir müssen uns auch fragen:
Welche Alternativen gibt es? All das sind Fragen, die
wir auf der Expertenanhörung stellen werden. Deshalb
werden wir Wert darauf legen, dass insbesondere auch
Luftfahrt- und Luftsicherheitsexperten befragt werden.
Eine ganz große Skepsis verursachen die verfassungsrechtlichen und rechtspraktischen Aspekte bei uns. Es
heißt unter dem Stichwort „Grundrechtseinschränkungen“ in § 22 des Gesetzentwurfes:
Die Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person … und das Grundrecht des Postgeheimnisses … werden nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt.
Bei uns schrillen die Alarmglocken. Ich warne mit
Benjamin Franklin:
Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.
Wenn die Bundesregierung entgegen unserer Tendenz
dabei bleiben sollte, statt allgemeiner Rechtsgrundsätze
eine ausformulierte Gesetzesbestimmung für die Zulässigkeit des Abschusses von entführten Flugzeugen
durchzusetzen, müssen wir über weitere kritische Fragen
diskutieren. Ich will in der Kürze der Zeit vier nennen:
Erstens. Mit dem Abschuss eines Flugzeuges ist der
Schutz des Lebens dritter Personen beabsichtigt. Nur für
diesen einzigen Zweck kann diese einschneidende Maßnahme selbstverständlich überhaupt in Betracht kommen.
({7})
Lässt das Grundgesetz es aber wirklich zu, das Leben
unschuldiger Flugzeuginsassen preiszugeben, um das
Leben Dritter zu retten? Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes verbürgt jedem Menschen ohne Unterschied das
Grundrecht auf Leben. Es stellt sich also die Frage, ob
eine Abwägung von Leben gegen Leben überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist.
({8})
Zweitens. In der Debatte wird gerne an die polizeirechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungsschuss
erinnert. Dieser Vergleich passt aber überhaupt nicht.
Der finale Rettungsschuss - etwa bei einer Geiselnahme zielt darauf ab, den Täter an der weiteren Tatausübung
zu hindern, das Opfer jedoch zu retten. Es besteht aber
bei unserem Problem ein gewaltiger Unterschied zu den
polizeirechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungsschuss. Denn beim Abschuss eines Flugzeuges trifft man
mit Sicherheit nicht nur die Täter, sondern bewusst und
unvermeidlich auch die Opfer.
Drittens. Im Strafrecht ist durch ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass kein
rechtfertigender Notstand vorliegt, wenn ein Mensch getötet wird, um einen anderen zu retten.
({9})
In diesen Fällen nimmt der Bundesgerichtshof eben gerade keinen Rechtfertigungsgrund an, sondern nur einen
Schuldausschließungsgrund.
({10})
Herr Ströbele, müssen nicht die praktischen Fälle, die
hoffentlich nie eintreten werden, mit den Regeln des
übergesetzlichen Notstands gelöst werden?
({11})
Nach der Kommentarliteratur ist ein Rückgriff des Staates auf diese allgemeinen Grundsätze in außerordentlichen Fragen durchaus zulässig.
Viertens. Selbstverständlich sind wir als FDP bereit,
noch einmal die Frage zu thematisieren, ob die Amtshilfevorschrift des Grundgesetzes, Art. 35, ausreicht, um
einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu erlauben.
Wir neigen bisher zu der Auffassung, dass es der Polizei
nach Art. 35 gestattet ist, die Bundeswehr zu Hilfe zu rufen. Dies setzt einen schwerwiegenden Unglücksfall voraus. Ob ein terroristischer Angriff unter die Definition
des Unglücksfalls zu rechnen ist, muss noch einmal erörtert werden.
({12})
Ich komme zum Schluss. Es gibt Situationen, die
unkalkulierbar sind und bleiben werden. Zu Recht gibt
der Standardkommentar zum Strafgesetzbuch von
Dreher/Tröndle zu bedenken:
Es gibt Güterkollisionen, die sich einer exakten legislatorischen Beschreibung entziehen.
({13})
Hierfür hat die deutsche Rechtsordnung seit langem
allgemeine Grundsätze entwickelt. Möglicherweise reichen die Regeln für „Notstand“ und „Nothilfe“ aus, um
die im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Mit diesen politischen, ethischen und verfassungsrechtlichen Fragen werden wir uns sehr ernsthaft zu beschäftigen haben.
Ich danke Ihnen.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Frank Hoffmann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Burgbacher, mir ist aufgefallen, dass Sie sehr viel
Wert auf den Aspekt der Wirtschaft gelegt haben. Ich
denke, dass es darum geht, die Wirtschaft bei der Lösung
der Sicherheitsfragen mitzunehmen.
({0})
Bundesminister Schily hat angesprochen, dass es
auch um das Engagement und das Eigeninteresse der
Wirtschaft gehe. Ich will gerade in diesem Zusammenhang sagen: Sicherheit geht uns alle an. Sicherheit kann
man nicht beim Staat abladen. Staat, Wirtschaft und Passagiere können alle zur Sicherheit beitragen.
Herr Burgbacher, ich möchte auf das Argument der
Zersplitterung der Regelungsbereiche eingehen. Ich
denke, mit der Zusammenfassung der Luftsicherheitsvorschriften in einem Gesetz - wie Bundesminister
Otto Schily gesagt hat: durch „Luftsicherheit aus einer
Hand“ - tun wir genau das Richtige. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir mit dem neuen Luftsicherheitsgesetz, unter Anpassung an die europäische Luftsicherheitsverordnung, den Standard in den Ländern Europas
nochmals heben werden. Ich möchte ferner daran erinnern, dass die Ausdehnung der Zuverlässigkeitsüberprüfungen im Luftverkehr Sicherheitslücken schließt.
Wir sind davon überzeugt, dass die Gewährleistungen
von Sicherheit, nicht in der Luft beginnt, auch nicht auf den
Flughäfen, sondern bei der allgemeinen Gefahrenabwehr
durch die Polizei. Der tatsächliche Schwerpunkt bei diesem Luftsicherheitsgesetz liegt deswegen nicht in der
Frage, ob man ein Flugzeug im Notfall, wenn es die einzige Möglichkeit ist, abschießen darf oder nicht, sondern
darin, dass auf dem Boden - bei der Überwachung, der
Kontrolle - alles getan wird. Unser Leitsatz lautet deshalb: Flugzeugentführungen werden am Boden ermöglicht oder verhindert. Genau das steht im Mittelpunkt des
Luftsicherheitsgesetzes: schärfere Kontrollen an FlughäFrank Hofmann ({1})
fen und schärfere Überprüfung von Personen, die auf
dem Flugplatzgelände arbeiten.
Daneben ist bereits seit dem 1. Oktober 2003 in
Kalkar das Nationale Lage- und Führungszentrum als
zentrales Koordinierungselement im Einsatz. Dort sind
bereits Soldaten, BGS-Beamte und Mitarbeiter der Flugsicherung tätig, um Tag und Nacht die Luftsicherheitslage zu beurteilen. Ebenso wenig wie über dieses Lagezentrum wird in der Öffentlichkeit auch darüber
diskutiert, wo die tatsächlichen Schwerpunkte liegen.
Diskutiert wird vielmehr - das haben Sie auch angesprochen, Herr Burgbacher -, ob der Staat anordnen darf,
dass entführte Flugzeuge, die wie am 11. September
2001 als Waffe benutzt werden, abgeschossen werden,
obwohl dadurch auch unschuldige Passagiere zu Tode
kämen.
Wir machen es uns nicht leicht und wir haben es uns auch
nicht leicht gemacht und bereits lange über diese Frage diskutiert. Es geht nicht nur um die rechtliche Dimension, es
geht auch um die moralisch-ethische Dimension.
({2})
Wir wissen, dass der vorliegende Vorschlag eine neue
Qualität hat. Aber kann der Staat in Entführungsfällen,
bei Bedrohungen aus der Luft durch Terroristen, sagen:
„Ich handle nicht“? Reichen die allgemeinen Grundsätze
des deutschen Rechtssystems für den Abschuss von entführten Flugzeugen aus, wie die FDP - Herr Burgbacher
hat das eben noch einmal bestätigt - meint? Ich möchte
das mit einem entschiedenen Nein beantworten. Der
Deutsche Bundestag würde sich aus der Verantwortung
stehlen. Wir dürfen die Piloten nicht alleine lassen; sie
brauchen eine sichere Rechtsgrundlage.
({3})
Wir geben ihnen eine klare gesetzliche Grundlage. Dafür
stehen dann der Verteidigungsminister und, nicht zu vergessen, auch der Innenminister - deren Einvernehmen
ist nämlich, soweit es geht, herzustellen - in der politischen Verantwortung. Nicht nur das - sie stehen auch in
der moralischen Verantwortung und müssen es auch mit
ihrem Gewissen vereinbaren. Versetzen wir uns doch
einmal in die Lage: Lassen wir einmal an uns heran, wie
es sich anfühlen muss, wenn wir entscheiden müssten,
ob ein mit Passagieren voll besetztes Flugzeug vom
Himmel geholt werden muss, um Schlimmeres zu verhüten! Stellen Sie sich die Gewissensqual vor, in der sich
die Verantwortlichen befinden! Wenn man sich die
menschlichen und persönlichen Konsequenzen einer solchen Entscheidung einmal klar vor Augen hält: Grenzt
es dann nicht auch fast an Unzumutbarkeit, einem Minister dies abzuverlangen?
Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann ist
klar: Diese Verantwortung darf nicht auf den Piloten als
das letzte Glied in der Entscheidungskette abgeschoben
werden. Hier hat der Gesetzgeber zu handeln und die
Minister haben die Verantwortung zu übernehmen auch wenn sie fast unerträglich ist. Hängt damit nun das
Leben eines Passagiers, der in ein Flugzeug steigt, von
der Nervenstärke und den prognostischen Fähigkeiten
des jeweiligen Verteidigungsministers ab? - Nein. Wenn
Hunderttausende von Menschen täglich in Flugzeuge
einsteigen, geht es darum, dass alles getan wird - und
zwar doppelt und dreifach -, damit kein Entführungsfall,
kein Sabotageakt und kein Terrorangriff von einem deutschen Flughafen ausgehen. Für den hoffentlich unwahrscheinlichsten Fall der Fälle eines Einsatzes von Waffengewalt durch die Bundeswehr ist in einem Rechtsstaat
eine gesetzliche Regelung erforderlich.
Eine weitere Frage, die sich hier zentral stellt, ist: Ist
für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr
eine Grundgesetzänderung nötig? Schon im Vorfeld
der Erarbeitung des Gesetzentwurfes hat die Fraktion der
CDU/CSU immer wieder gefordert - Herr Bosbach hat
es jetzt auch wieder getan -, der Einsatz der Bundeswehr
müsse hier geregelt werden. Für mich war interessant:
Der Bundesrat wiederholt zwar diese Forderung; dezidierte Aussagen zu Unterstützung und Amtshilfe durch
die Streitkräfte fehlen jedoch.
Nach der Rede von Herrn Bosbach bin ich mir noch
mehr als schon zuvor im Klaren: Die Fraktion der CDU/
CSU will hier den Hebel für eine allgemeine Regelung
des Bundeswehreinsatzes im Innern ansetzen.
({4})
Dazu sagen wir entschieden Nein.
({5})
Wir wollen auf keinen Fall Tür und Tor für einen allgemeinen Einsatz der Bundeswehr im Innern öffnen. Es
gibt gute Gründe, nicht die gesamte Sicherheitsarchitektur zu ändern. Wir werden uns im Rahmen der bewährten Sicherheitsarchitektur bewegen können, ohne das
Grundgesetz umfassend ändern zu müssen. Die Voten
der Verfassungsressorts BMI und BMJ zeigen: Eine
Grundgesetzänderung ist nicht erforderlich.
Ich weiß aus den vielen Vorgesprächen und auch aus
den Reden, die hier schon gehalten wurden, dass dies bei
uns Innenpolitikern strittig ist. Ich schlage vor, in der
nächsten Innenausschusssitzung eine Sachverständigenanhörung zu beschließen, damit wir das Gesetz zügig in
Kraft treten lassen können - zum Schutz der Piloten,
zum Schutz der Passagiere und zum Schutz der Bevölkerung.
Danke.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Clemens
Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft ist sicher nirgendwo so leicht zu verwunden wie im Bereich
der zivilen Luftfahrt. Flugzeuge, die als Waffen eingesetzt werden, sind ohne Frage eine der größten Gefahren,
die uns drohen - erst recht, seitdem wir wissen, dass die
Chefplaner des 11. September - zwischenzeitlich beide
festgenommen - ursprünglich auch Atomkraftwerke als
Ziele im Visier hatten.
Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass wir alles
tun müssen, um solche Anschläge zu verhindern.
Hierzu gehören Maßnahmen am Boden genauso wie
Maßnahmen in der Luft. Das Luftsicherheitsgesetz befasst sich mit beiden Dingen. Es regelt Sicherheitsüberprüfungen und die Einrichtung einer Luftsicherheitsbehörde - darüber kann man gewiss geteilter Meinung
sein -, vor allen Dingen aber den Einsatz der Bundeswehr, der Luftwaffe, im Innern. Das macht Sinn, weil
letztendlich nur die Luftwaffe über die personellen und
technischen Möglichkeiten verfügt, Gefahren aus der
Luft abzuwehren.
Dieses Gesetz aber ohne verfassungsrechtliche
Grundlage vorzulegen, ist wirklich völlig inakzeptabel.
({0})
Herr Minister Schily, während manche Ihrer Kabinettskollegen zu viele Berater haben, haben Sie nach meinem
Eindruck zu wenige.
({1})
Wer in einem Gesetz erlaubt - das ist die bittere Wahrheit -, dass eine zivile Verkehrsmaschine mit vielen unschuldigen Menschen an Bord im schlimmsten Falle abgeschossen werden kann, der kann doch nicht sagen:
Das ist von der Verfassungslage gedeckt.
Sie wissen ganz genau, dass Art. 35 Abs. 1 - die
Amtshilfe - hier nicht greift, weil die Bundeswehr eine
ständige eigene Aufgabe übertragen bekommt. Sie wissen, dass Art. 35 Abs. 2 und 3 nicht greifen können, weil
der dort geforderte Unglücksfall bei einem entführten
Flugzeug gerade noch nicht eingetreten ist. Sie wissen
auch, dass sich die Bedrohungslage verändert hat, dass
die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit heutzutage verschwimmen. Die Väter unserer Verfassung
konnten diesen Fall noch gar nicht im Blick haben, als
sie Abs. 2 und 3 einführten. Die Behauptung, die Verfassung decke das ab, ist völlig unglaubwürdig. Das nimmt
Ihnen niemand ab.
({2})
In diesem Zusammenhang hilft vielleicht ein Kommentar aus der „Stuttgarter Zeitung“ zu diesem Luftsicherheitsgesetz. Er beschreibt in zwei Worten sehr treffend, wie man sich hier darum drückt, die Verfassung zu
ändern: „Chaotisch“ und „blamabel“ heißt es in diesem
Kommentar.
({3})
Man muss sagen: Die „Stuttgarter Zeitung“ hat in diesem Fall wirklich Recht.
Über die Gründe, warum Sie sich mit einer Verfassungsänderung so schwer tun, kann man nur spekulieren. Denn
wir wissen, dass sich sowohl Minister Schily als auch Minister Struck einer Verfassungsänderung bzw. -klarstellung
- wie Sie es auch nennen möchten - nicht grundsätzlich
entziehen. Auch Kollege Wiefelspütz hat in einem Artikel in der Fachzeitschrift „Die Polizei“ vom November
letzten Jahres durchaus Sympathien dafür erkennen lassen, die Verfassung im Bereich des Art. 35 zu ändern.
({4})
Warum geht es trotzdem nicht vorwärts? Die Gründe
hierfür sind bei Ihrem Koalitionspartner, den Grünen, zu
sehen. Sie wissen ganz genau, dass Sie mit diesem Vorhaben wieder einmal an Ideologien rütteln, wozu die
Grünen aber nicht bereit sind.
({5})
Aber, Frau Stokar von Neuforn, die derzeitige Situation
in diesem Land ist doch niemandem mehr zu vermitteln.
({6})
Mittlerweile setzen wir die Bundeswehr auf der ganzen
Welt ein, um Gefahren aus der Luft oder von der See abzuwehren und um ABC-Schutz zu betreiben.
({7})
Wir setzen die Bundeswehr auf der ganzen Welt ein.
Nur im eigenen Land, zum Schutz der eigenen Bevölkerung, dürfen wir das nicht tun. Das wollen Sie doch
wohl niemandem erzählen. Das ist völlig inakzeptabel.
Deshalb brauchen wir hier eine verfassungsrechtliche
Änderung.
({8})
- Nein, dafür besteht keine verfassungsrechtliche Regelung.
Sie wissen, dass eine solche Regelung, wenn wir sie
schaffen würden, an den Grundfesten Ihrer Auffassungen rütteln würde. Aber hier habe ich doch noch etwas
Hoffnung. Denn wer die Bundeswehr, so wie Sie von
den Grünen, in zahlreiche militärische Einsätze geschickt hat und wer auch keine Hemmungen hat, Atomkraftwerke nach China zu verkaufen, der wird irgendwann auch dann in der Realität ankommen, wenn es um
den Schutz der eigenen Bevölkerung geht. Da bin ich
mir sehr sicher.
({9})
Wenn das, was in der „taz“ vom November letzten
Jahres zu lesen war, stimmt, nämlich dass Sie sich Ihre
Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf im Kabinett dadurch haben erleichtern lassen, dass Sie Ihren
Wunschkandidaten für die Position des BundesbeaufClemens Binninger
tragten für den Datenschutz durchsetzen konnten, dann
sagt das alles über Ihr Verständnis von Sicherheitspolitik.
({10})
Herr Kollege Ströbele, Sie haben auch ein seltsames
Verfassungsverständnis,
({11})
wenn Sie hier heute sagen, dass alle Regelungen von der
Verfassung gedeckt sind.
({12})
In der letzten Sitzungswoche waren es die Grünen, die
unseren Antrag auf die Erweiterung der Erfassung des
genetischen Fingerabdrucks mit Hinweis auf die Verfassung und den Datenschutz abgelehnt haben,
({13})
weil ihnen der Datenschutz von Sexualstraftätern wichtiger war als der Schutz möglicher Opfer vor Sexualstraftaten.
({14})
Aber heute wären Sie bereit, einem Gesetzentwurf zuzustimmen, der den schwersten nur denkbaren Grundrechtseingriff beinhaltet, ohne dass es dafür eine Verfassungsgrundlage gibt.
({15})
Dazu ist nur ein Wort zu sagen: scheinheilig.
({16})
Inhaltlich sind wir uns bei diesem Gesetzentwurf
- das klang vorhin bereits an - in einigen Punkten, vielleicht sogar in wesentlichen, durchaus einig.
({17})
Aber wir brauchen Verfassungsänderungen. Das einzige,
was uns heute hier weiterhilft, sind klare Aussagen von
Rot-Grün: Sind Sie bereit, diesen Weg mit uns zu gehen?
({18})
Sind Sie bereit, mit uns über diese Verfassungsänderungen zu reden?
({19})
Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass sich die Sicherheitslage in Deutschland gravierend geändert hat und dass die
derzeitige Verfassungslage ihr nicht mehr entspricht?
Sind Sie auch bereit, alles dafür zu tun, um den Schutz
der Bevölkerung in Deutschland vor solchen Anschlägen
zu ermöglichen?
({20})
Nur wenn Sie dazu bereit sind, macht es Sinn, weiterhin
über diese Thematik zu reden. Wenn Sie nicht dazu bereit sind, dann ist der vorliegende Gesetzentwurf des
Luftsicherheitsgesetzes das Papier, auf dem er steht,
nicht wert.
Wir werden gespannt sein, welche Argumente Sie dafür anführen werden, dass doch schon alle Regelungen
durch die Verfassung gedeckt sind. Ich habe es vorhin
angesprochen: Hier helfen weder Art. 35 Abs. 1 noch
die Abs. 2 und 3 als Rechtsgrundlage weiter.
({21})
Sie erfassen die diesbezüglichen Fälle nicht. Den Abschnitt über den Einsatz der Bundeswehr in diesem Gesetzentwurf auch noch mit dem Wort „Amtshilfe“ zu
überschreiben ist von jeglicher Realität wirklich weit
weg. Es ist gerade keine Amtshilfe, wenn hier die Luftwaffe ständig eigene, neue Aufgaben übertragen bekommt.
({22})
- Ja, aber hierbei handelt es sich überhaupt nicht um
Amtshilfe. Das Wesen der Amtshilfe, Herr Kollege
Ströbele, besteht doch darin, dass eine Dienststelle, die
eigentlich nicht zuständig ist, in einem Ausnahmefall herangezogen wird, weil sie über bestimmte Möglichkeiten
verfügt, um die Lage besser zu bewältigen.
Die Regelung, die Sie in Ihrem Gesetz vorsehen, ist
aber genau das Gegenteil: Die Bundeswehr wird für den
Fall, dass entführte Flugzeuge als Waffe eingesetzt werden, mit eigener Kompetenz und Entscheidungsgewalt
betraut. Das ist alles, nur keine Amtshilfe mehr. Sie werden mir also zugestehen: Dies müssen wir ändern und
brauchen deswegen von Ihnen eine klare Positionierung.
Alles andere hilft uns nicht weiter.
({23})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Abgeordneten Otto Schily.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Ich glaube, es macht keinen Sinn, dass wir mit dieser Debatte die Anhörung des Innenausschusses gewissermaßen
vorwegnehmen. Herr Kollege Binninger, die Verve, mit
der Sie Ihre Position vertreten, erweckt in mir den Eindruck, dass Sie von dem, was Sie hier vertreten, nicht
sonderlich überzeugt sind. Wenn das der Fall wäre, würden Sie Ihre Position anders vortragen und würden mit
mehr Selbstvertrauen in die Anhörung gehen. Lassen Sie
uns doch dort unsere Ansichten mit aller Sachlichkeit
austauschen.
Ich bin im Übrigen der Meinung, wir sollten die Debatte nicht so sehr auf den Fall fokussieren, den Herr
Burgbacher hier sehr eindrucksvoll geschildert hat.
({0})
Das ist in der Tat ein Thema, das viele moralische und
rechtliche Fragen aufwirft. Klar ist: Denjenigen, der in
solch einem Fall zu entscheiden hat, würde die Entscheidung in eine wirklich äußerst schwierige Lage bringen.
Kollege Peter Struck hat gesagt, dass eine solche Entscheidung, hätte er sie jemals zu treffen - ich hoffe, er
wird niemals in diese Lage kommen -, das Ende seiner
Amtszeit als Minister bedeuten würde. Man muss respektieren, wenn sich jemand so einlässt.
Das Einzige, das feststeht, wie man in einem solchen
Fall zu handeln hat, ist, dass ein solches Vorgehen wirklich die Ultima Ratio sein muss und sein wird. Bei dem
Testfall, den wir in Kalkar vorgeführt haben, wurde die
Maschine nicht abgeschossen, sondern durch militärische Mittel zur Landung gezwungen. Es gibt also eine
Abstufung der Mittel. Deshalb spreche ich immer von
einem gestaffelten Abwehrsystem.
({1})
Wenn wir uns den Ablauf des 11. Septembers vor Augen
führen und präzise durchdenken, was alles diesem Ereignis vorausgegangen ist, dann muss uns klar sein, dass die
Abwehrmechanismen dort anzusetzen sind, damit eine
Entführung von vorneherein verhindert wird. Kurz vor
dem Eindringen der Flugzeuge in das World Trade Center und in das Pentagon hätte man nicht mehr eingreifen
können, man hätte mit militärischen Mitteln nichts mehr
ausrichten können.
Ich bitte Sie also darum, diesen Extremfall auch als
einen Extremfall anzusehen. Aber dennoch haben die
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen Anspruch darauf - das war unsere gemeinsame Überzeugung; ich hoffe, es ist sie auch jetzt noch -, dass wir die
größtmögliche Transparenz hinsichtlich der rechtlichen
Grundlagen herstellen. Deswegen wäre ich Ihnen sehr
dankbar, wenn wir diese Debatte mit der gebotenen
Sachlichkeit und, Herr Bosbach, meinethalben auch mit
der notwendigen Dynamik führen.
Aber es ist erforderlich, dass wir aufeinander zugehen. In dieser Frage ist es notwendig, dass Konsens in
diesem Hause besteht. Sie hat eine solche Dimension,
dass man über sie nicht parteipolitisch diskutieren kann.
Sie ist von solcher Tragweite, dass wir uns auf die sachlichen Gesichtspunkte konzentrieren müssen.
({2})
Das ist meine ganz herzliche Bitte. Wenn wir uns das vor
Augen halten, dann werden wir, so glaube ich, zu einer
Einigung gelangen können.
Vielen Dank.
({3})
Es haben sich gleich zwei Kollegen angesprochen gefühlt und möchten darauf reagieren. Zunächst Kollege
Binninger und dann Kollege Burgbacher.
Herr Abgeordneter Schily, ich freue mich, dass meine
Rede Sie dazu bewogen hat, zu erklären, dass wir uns
über eine Verfassungsänderung, wozu wir eine klare Position haben, Gedanken machen müssen. Ihre Ausführungen unterscheiden sich aber fundamental von dem,
was kurz zuvor die Kollegin Stokar von den Grünen gesagt hat. Sie hat nämlich gesagt, sie sehe überhaupt keinen Bedarf, sich über Verfassungsänderungen Gedanken
zu machen. Das ist auch das Problem. Ich muss ja nicht
auf die Punkte eingehen, bei denen Einigkeit besteht,
sondern ich gehe auf den Punkt ein, bei dem der Dissens
besteht.
Der schwerwiegendste Punkt ist nun einmal die Verfassungsänderung. Sie sind gesprächsbereit, weil auch
Sie sehen, dass die Rechtsgrundlage, die durch die Verfassung gegeben ist, offensichtlich nicht ausreichen
kann.
({0})
Die Grünen lehnen es strikt ab. Es gibt hier eine riesige
Differenz zwischen beiden Positionen. Das muss geklärt
werden. Deshalb bleibe ich dabei: Wir haben in der Verfassung keine ausreichende Gesetzesgrundlage hierfür.
Für einen solch schwierigen Fall, den Sie zu Recht als
solchen beschrieben haben und der hoffentlich nie eintreten wird
({1})
- natürlich steht es darin -, brauchen wir aber eine klare
verfassungsrechtliche Grundlage.
Ich möchte einmal einen kurzen Auszug aus den
Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates zum
Entwurf dieses Gesetzes zitieren:
Der Gesetzentwurf begegnet hinsichtlich seiner Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte der Gefahren
aus der Luft ... erheblichen verfassungsrechtlichen
Bedenken.
Elf Länder waren dieser Ansicht. Das heißt, wir sollten
sehr genau darüber reden.
Es wird aber Ihr und nicht unser Problem sein, die
Grünen von ihrer Position abzubringen oder es ohne die
Grünen mit uns zu machen. Wir sind dazu bereit.
({2})
Kollege Burgbacher, bitte.
Herr Kollege Schily, es ist als Vertreter einer kleinen
Fraktion, die nur wenig Redezeit zur Verfügung hat, immer schwierig, entsprechende Schwerpunkte zu setzen.
Deshalb möchte ich noch einmal klarstellen - ich habe
es bereits in einem Satz gesagt -: Zwischen uns besteht
in sehr großen Bereich Konsens.
Natürlich geht es uns allen darum, solche terroristischen Anschläge im Vorfeld zu verhindern. Alle Sicherheitsvorkehrungen auf Flughäfen, beim Personal und bei
den Passagieren, die möglich sind, müssen getroffen
werden. Das ist völlig unstrittig. Ich habe mich auf den
schwerwiegenden Fall konzentriert, weil ich glaube,
dass hier tatsächlich der Knackpunkt im Gesetzentwurf
ist. Es wird die Frage auftauchen, ob die bisherigen Regelungen im Gesetz wirklich ausreichen oder ob wir
weitere Maßnahmen brauchen. Eine andere Frage, die
uns ebenfalls wirklich bewegt, lautet: Was sind die
Grundlagen für den Verteidigungs- und den Innenminister, wenn wir dieses Gesetz verabschieden? Ich glaube,
das sollten wir alle miteinander mit großem Ernst diskutieren. Würde die Schwelle nicht ein Stück weit gesenkt
werden, wenn der Minister Instrumente an die Hand bekäme, die er bisher nicht hatte? Kann das nicht sogar
dazu führen, dass er in einer bestimmten Phase fast dazu
genötigt wird, etwas zu tun? Über diese Fragen müssen
wir diskutieren.
Ich möchte noch einmal betonen: Wir als FDP-Fraktion diskutieren intern darüber und gehen ergebnisoffen
in die Anhörung. Diese neuen Erfordernisse, die auf uns
alle zukommen, bedürfen neuer Antworten. Man muss
einiges überdenken. Wir sind aber nicht bereit, gewisse
Grundsätze über Bord zu werfen. In diesem Spannungsfeld werden wir das diskutieren.
({0})
Nun erteile ich Kollegen Christian Ströbele, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Burgbacher, in diesem Gesetz findet sich
gerade keine Regelung für den Abschuss eines Flugzeuges, das mit Passagieren besetzt ist, die überhaupt keinen
Bezug zu einem terroristischen Anschlag haben. Diese
Regelung findet sich in dem Gesetz nicht. Wir haben sie
dort bewusst nicht hineingeschrieben, weil man dadurch
tatsächlich versuchen würde, einen Fall des übergesetzlichen Notstandes zu regeln. Die Regelung eines übergesetzlichen Notstandes muss weiterhin gemäß den Kriterien vorgenommen werden, welche die Rechtsprechung
festgelegt hat. Das kann und soll man in einem Gesetz
nicht regeln.
In diesem Gesetz wird lediglich die Anwendung von
Waffengewalt geregelt, ohne dass darüber entschieden
wird, inwieweit von der Anwendung von Waffengewalt
Menschen betroffen sind und welche Menschen gegebenenfalls betroffen sind, ob es nur die Täter oder auch
Nichtbeteiligte sind. Das ist in diesem Gesetz absichtlich
nicht geregelt worden.
Deshalb können Sie sich diese Auseinandersetzung
nicht ersparen. Sie müssten sie bei der gegenwärtigen
Rechtslage führen und Sie werden sie auch dann zu führen haben, wenn dieses Gesetz in Kraft getreten ist. Das
ist Absicht.
Kollege Ströbele, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Stadler?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Ströbele, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass in § 14 Abs. 3 dieses Entwurfs Folgendes formuliert ist:
Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist
nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben
von Menschen eingesetzt werden soll, …
Stimmen Sie mir zu, dass durch diese Formulierung die
unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt - im Klartext: der Abschuss eines Flugzeuges - möglich ist, selbst
wenn dieses Flugzeug nicht nur mit einem Täter, sondern auch mit unschuldigen Passagieren besetzt ist?
Das führt zu einem unglaublich schwierig zu lösenden Problem, weil Art. 2 des Grundgesetzes ohne Wenn
und Aber jedem, auch dem unschuldigen Passagier an
Bord eines solchen Flugzeuges, das Grundrecht auf Leben garantiert. Wenn man nun versucht - natürlich in guter Absicht -, eine Lösung herbeizuführen, um das Leben Dritter zu retten, führt dies zu einem unauflösbaren
Dilemma, weil man nicht Leben gegen Leben abwägen
kann.
Stimmen Sie mir zu, dass es aus dieser Ausgangslage
heraus sehr wohl erörternswert ist, ob der Staat nicht
darauf verzichten muss, ein unlösbares Dilemma gesetzlich zu normieren, sodass im Einzelfall eine unumgängliche Entscheidung nach allgemeinen Grundsätzen zu
treffen ist?
Herr Kollege, ich stimme Ihnen in allen Punkten zu,
die Sie genannt haben. Dieses Dilemma gibt es in der
Tat. Der Staat - das war für mich eine der Antriebsfedern, warum wir die Regelung so und nicht anders getroffen haben; es gab dazu andere Vorschläge - kann und
soll aufgrund der verfassungsrechtlichen und menschlichen Überlegungen, die Sie angesprochen haben, für
dieses Dilemma keine gesetzliche Regelung treffen.
({0})
Dazu - darin stimme ich mit Ihnen nicht überein findet sich für diesen Fall keine Regelung. Was durch
Waffengewalt bewirkt wird, hängt von dem jeweiligen
Einzelfall ab. Wenn die Möglichkeit besteht - der Innenminister hat es angeführt -, könnte dies eine Einwirkung
sein, mit der das Flugzeug zur vorzeitigen Landung veranlasst wird.
({1})
Das könnte aber auch der Abschuss eines Flugzeuges
sein. Aber hier ist überhaupt nicht geregelt, ob und unter
welchen Gesichtspunkten diese Regelung angewendet
werden soll oder darf, wenn das Flugzeug nicht nur mit
Tätern, Beschuldigten oder Verdächtigen, sondern auch
mit unbeteiligten Zivilisten besetzt ist.
All das ist nicht geregelt. Das muss nach wie vor nach
den normalen Kriterien entweder des übergesetzlichen
Notstandes - wenn für staatliches Handeln auch übergesetzlicher Notstand Anwendung finden kann - oder nach
den sonstigen Regelungen für Notstand und Nothilfe
entschieden werden. Wir haben gerade nicht gesagt:
Wenn soundsoviele Menschenleben in Gefahr sind, dann
dürfen durch unmittelbaren Einsatz von Waffengewalt
eine entsprechende Zahl von Menschen getötet werden. - Diese Abwägung wird dem Verteidigungsminister, der hierüber zu entscheiden hat, durch das Gesetz
nicht abgenommen. Das bleibt nach wie vor eine Abwägung nach allgemeinen Regeln. Darauf lege ich ganz
besonderen Wert. Sie haben völlig Recht: Die Frage ist,
ob der Gesetzgeber eine solche Regelung überhaupt treffen darf.
Anders ist es bei dem so genannten finalen Rettungsschuss.
({2})
Dazu steht in den einschlägigen Gesetzen, dass ein mit
an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlicher
Schuss abgegeben werden darf, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Eine solche Festlegung haben wir
in dem vorliegenden Gesetz nicht getroffen, weil dadurch - das haben mehrere Redner richtig gesagt - nicht
nur Täter, sondern auch völlig Unbeteiligte in Gefahr gebracht werden. Diesen Konflikt kann und will das Gesetz nicht regeln.
Nun komme ich zu dem Kollegen Bosbach. Herr Kollege Bosbach, Sie haben ein etwas eigenartiges Beispiel
von Dialektik gebracht, das etwas daneben war. Zunächst haben Sie erklärt, es sei eine Unterstellung, dass
die Union den Einsatz der Soldaten der Bundeswehr im
Inland auch über solche Fälle hinaus ausdehnen möchte.
Dann haben Sie weiter ausgeführt, die Grünen würden in
solchen Fällen reflexartig reagieren und der Union immer gleich das Schlimmste unterstellen. Im nächsten
Absatz haben Sie dann minutenlang erläutert, in welchen
Bereichen Sie über diesen Fall hinaus die Bundeswehr
einsetzen möchten.
({3})
Ich weiß nicht, wie das zusammenpassen soll.
Unser Gesetz wird einen Einsatz der Bundeswehr
ausschließlich für Luftzwischenfälle regeln, nicht für irgendetwas anderes. Sie wollen, dass die Bundeswehr im
Inneren in unendlich vielen Bereichen eingesetzt werden
kann. Sie haben gesagt: auf dem Land, zu Wasser und
bei allen möglichen Gelegenheiten. - Das ist der Unterschied zwischen der Union und der Koalition. Das wollen wir nicht. Wir wollen nicht, dass die Bundeswehr zu
einem Allzweckmittel bei der Bekämpfung von Sicherheitsgefahren in der Bundesrepublik Deutschland wird.
({4})
Jetzt komme ich zu der verfassungsrechtlichen Frage,
Herr Kollege Bosbach. Sie haben gesagt - das steht auch
in einem Teil der Überschrift -, die Bundeswehr solle lediglich im Wege der Amtshilfe für die Länder, das heißt
innerhalb des Kompetenzbereiches der Länder, eingesetzt werden. Das stimmt nur zum Teil. Das stimmt nur
für den Fall des Art. 35 Abs. 2 Grundgesetz, nicht für
den Fall des Art. 35 Abs. 3 Grundgesetz.
Für den Fall des Art. 35 Abs. 3 hat die Bundesregierung nämlich ausdrücklich ein eigenes Recht - so steht
es schon heute im Grundgesetz -, die Länder anzuweisen. Das heißt, die Bundesregierung kann die Bundeswehr gemäß Art. 35 Abs. 3 nach eigenem Recht einsetzen, wenn es sich um einen länderübergreifenden
Zwischenfall handelt. Aus diesem Grunde passt Ihre Argumentation überhaupt nicht auf den Art. 35 Abs. 3.
Denn das ist ein völlig anderer Fall. Wir wollen mit der
Regelung dieses Gesetzes der Bundeswehr und im Übrigen auch der Bundesregierung gerade nicht mehr Kompetenzen geben, als das Grundgesetz heute schon zubilligt.
Deshalb haben wir sowohl den Abs. 2 als auch den
Abs. 3 des Art. 35 des Grundgesetzes ausdrücklich in
das Gesetz geschrieben und darüber hinaus sogar einen
Teil des Wortlautes der beiden Grundgesetzbestimmungen in das Gesetz übernommen, und zwar aus einem einzigen Grund: um klar zu machen, dass wir mit diesem
Gesetz nicht mehr Rechte an die Bundeswehr oder die
Bundesregierung geben wollen, als ihnen heute schon
vom Grundgesetz her zufallen. Deshalb kann es keine
Auseinandersetzung darüber geben, ob das verfassungsgemäß ist. Denn wir orientieren uns im Wortlaut genau
an den Bestimmungen des Grundgesetzes. Dieses Gesetz
ist kein Gesetz, das den Abschuss von PassagierflugHans-Christian Ströbele
zeugen, die mit unschuldigen Menschen besetzt sind,
rechtfertigen soll.
({5})
Dieses Gesetz ist lediglich ein Gesetz, das nach der
bestehenden Rechtslage eine Zuständigkeit festlegt, damit sich nicht so etwas wie bei dem Zwischenfall in
Frankfurt wiederholt, wo unterschiedliche Instanzen und
Behörden sich darüber auseinander gesetzt haben, wer
für die Entscheidung zuständig ist. Solche Fälle wollen
wir klar regeln. In diesem Gesetz ist geregelt, dass
grundsätzlich die Zuständigkeit beim Bundesverteidigungsminister bzw. bei seinem Stellvertreter liegt. Dieses Gesetz sagt eindeutig, dass wir keine Legitimation
zum Abschuss unschuldiger Menschen in Passagierflugzeugen erteilen wollen. Wir binden die Entscheidung
vielmehr an die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die
allgemeinen Abwägungsregelungen, an die sich selbstverständlich der Bundesverteidigungsminister zu halten
hat.
Deshalb ist das Gesetz so in Ordnung. Es regelt einen
Fall, der hoffentlich nie eintritt und bisher noch nie eingetreten ist. Es ist völlig zu Recht darauf hingewiesen
worden, dass auch der Anschlag vom 11. September
kein Beispiel war. Das Gesetz regelt einen bisher Gott
sei Dank theoretischen Fall. Ich hoffe, dass diese Bestimmung des Gesetzes nie angewendet werden muss.
Ich denke, diese Bestimmung ist vertretbar und verfassungsgemäß. Das wird sich auch bei der Anhörung im
Rechtsausschuss erweisen.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Wolfgang Bosbach.
Herr Kollege Ströbele, ich erkläre Ihnen das gerne
noch einmal. Die politischen Kontroversen leiden darunter, dass sich die Argumentation gegen eine Behauptung
richtet, die niemand geäußert hat. Ich habe wortwörtlich
gesagt, dass es nicht darum gehen könne, der Bundeswehr sukzessive Aufgaben der Polizei zu übertragen. Ich
habe wörtlich gesagt, dass niemand daran denke, die
Bundeswehr in eine Art Bereitschaftspolizei umzuwandeln, und ich habe darauf hingewiesen, dass Ausbildung
und Ausrüstung von Soldaten und Polizisten grundverschieden sind.
({0})
Es geht um folgende Konstellation: Kann es richtig
sein, die Bevölkerung bei Inlandstaten, die mit militärischen Mitteln geführt werden oder Folgen von militärischer Wucht haben - wie am 11. September -, nur deshalb schutzlos zu lassen, weil die Polizei erkennbar nicht
über die Mittel verfügt, diese Gefahr abzuwehren, und
die Bundeswehr nach geltendem Verfassungsrecht bei
Inlandstaten nicht zur Gefahrenabwehr im Inland eingesetzt werden kann? Das gilt völlig unabhängig davon, ob
die Gefahr von der See, aus der Luft oder auf dem Boden
droht.
Die Polizeien des Bundes und der Länder haben keine
Luftstreitkraft und keine ABC-Abwehrkräfte. Können
wir vor diesem Hintergrund die Bevölkerung mit der Begründung ungeschützt lassen, dass die Bundeswehr nicht
eingesetzt werden kann? Die Bundeswehr soll bei der
Abwehr terroristischer Gefahren ausschließlich dann im
Inland eingesetzt werden, wenn die Polizei - aus welchen Gründen auch immer - nicht in der Lage ist, die
Gefahr abzuwehren.
({1})
Niemand denkt daran, die Artillerie gegen Ladendiebe
einzusetzen. Ich weiß, dass es in diesem Zusammenhang
ein Verhetzungspotenzial gibt. Frau Kollegin Stokar hat
in einer anderen Debatte im Deutschen Bundestag über
uns gesagt, wir wollten die Armee gegen Bürgerkriegsflüchtlinge einsetzen. - Dieses Niveau ist nicht mehr zu
unterbieten.
({2})
Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie in einem
solchen Fall, den wir uns alle nicht wünschen, die Bevölkerung schutzlos lassen oder ob Sie eine entsprechende
Grundgesetzänderung durchführen wollen.
({3})
Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.
({4})
Kollege Ströbele.
Herr Kollege Bosbach, waren die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes Ihrer Meinung nach so
wenig vorausschauend, dass die von Ihnen konstruierten
Fälle im Grundgesetz nicht geregelt worden sind? Wenn
Sie Art. 35 Abs. 2 noch einmal gründlich lesen, dann
stellen Sie fest, dass auch in genau solchen Fällen, in denen die Mittel der Polizei nicht ausreichen - so ist das
definiert -, das Land beim Bund und auch bei der Bundeswehr Amtshilfe ersuchen kann.
({0})
- Wenn nur ein Bundesland betroffen ist, dann ist auch
das Landesrecht ausreichend. Dann können sich zum
Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen oder das Land
Hessen an die Bundesregierung und an das zuständige
Ministerium wenden und mit dem Hinweis darauf, dass
die eigenen Mittel nicht ausreichen, Amtshilfe erbitten.
Wenn mehrere Bundesländer betroffen sind, dann bietet
das Grundgesetz schon heute der Bundesregierung die
Möglichkeit, für die Länder Entscheidungen zu treffen,
ihnen Weisungen zu erteilen und dort Sicherheitskräfte
einzusetzen.
Der Unterschied zwischen Ihnen und uns besteht darin, dass Sie ein solches neues Gesetz, das dann wohl
nicht Luftsicherheitsgesetz heißen könnte, sondern eher
eine Überschrift wie „Allgemeines Inlandseinsatzrecht
für die Bundeswehr“ tragen müsste - schließlich wollen
Sie seinen Geltungsbereich nicht auf Luftzwischenfälle
reduzieren oder konzentrieren; nur so ist es zu verstehen -,
auf alle Bereiche ausdehnen wollen.
({1})
Wir achten die Regelungen des Grundgesetzes und wollen sie im Gegensatz zu Ihnen weder ändern noch gar erweitern. Insofern - das muss immer wieder betont werden - besteht ein grundsätzlichen Unterschied zwischen
Ihnen und uns.
({2})
Die Kollegin Stokar hat auch noch das Bedürfnis, auf
Ihre Ausführungen zu reagieren, Herr Bosbach. Das
nennt man Streuwirkung.
({0})
Wenn ich hier schon direkt angesprochen werde und
wenn wir entgegen dem Rat unseres Herrn Ministers
versuchen, tief greifende verfassungsrechtliche Fragen
im Rahmen von Kurzinterventionen zu klären, dann
möchte ich an Sie, Herr Kollege Bosbach, eine Frage
richten.
Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass unter Rot-Grün die
Berufsfeuerwehr und das Technische Hilfswerk mit so
exzellenten ABC-Schutzfahrzeugen - das gab es unter
Ihrer Regierung nicht - ausgerüstet worden sind, dass
alle Experten, mit denen ich gesprochen habe, der Überzeugung sind, dass diese Fahrzeuge für ABC-Einsätze
im Innern viel besser geeignet sind als die bei der Bundeswehr vorhandenen ABC-Spürpanzer, die für andere
Aufgaben konzipiert sind, und dass auch das dort tätige
Personal viel besser ausgebildet ist als das der Bundeswehr?
({0})
- Ich bitte Sie! Sie haben doch gerade behauptet, dass
wir von Rot-Grün - das weise ich hiermit mit aller Entschiedenheit zurück - im Falle eines ABC-Angriffs
durch Terroristen unsere Bevölkerung schutzlos ließen.
({1})
Wir wollen jetzt die Zwiegespräche beenden.
Ich gebe dem Kollegen Jürgen Herrmann, der brav
gewartet hat, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Tag endet - zumindest teilweise - eine lange Zeit
des Wartens. Nach mehr als zwei Jahren - genau gerechnet sind bereits 871 Tage seit den Terroranschlägen in
den USA am 11. September 2001 vergangen - schafft es
die rot-grüne Regierungskoalition endlich, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich gezielt, aber bei weitem
nicht ausreichend mit den Auswirkungen von möglichen
Terroranschlägen beschäftigt. Sicherlich wurden zwischenzeitlich Sicherheitspakete verabschiedet. Diese
waren aber nicht konkret auf spezielle Szenarien abgestimmt.
Der nun vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben kann nur der erste
Schritt sein, der heutigen Bedrohung durch terroristische
Aktivitäten vorzubeugen. Dies gilt umso mehr, als die
asymmetrische Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus ein erschreckendes Maß angenommen hat,
das es unumgänglich macht, ausreichende gesetzliche
Grundlagen zu schaffen. Kein Szenario von Selbstmordattentätern ist heute mehr unvorstellbar. Die Urheber von
terroristischen Attacken sind oftmals nicht auszumachen. Ob staatlich gelenkt, durch Warlords unterstützt
oder von Einzeltätern angezettelt, Terrorangriffe sind unberechenbar und drohen zu Wasser, zu Lande und aus
der Luft.
In der Begründung Ihres Gesetzentwurfes weisen Sie
ausdrücklich auf die Terroranschläge in den USA, aber
auch auf die Entführung des Motorseglers am 5. Januar
2003 in Frankfurt am Main hin. Hier stellt sich - Bezug
nehmend auf den langen Entscheidungsprozess - nicht
nur dem aufmerksamen Beobachter die Frage: Warum
haben die zuständigen Regierungsbehörden nicht schneller gehandelt und einen umfassenden Gesetzentwurf vorgelegt? - Sicherlich waren die unterschiedlichen Sichtweisen der Regierungsfraktionen - Kollege Binninger
hat das bereits heute Morgen ausführlich dargelegt - dafür verantwortlich, ob zum Beispiel die Bundeswehr bei
der Sachverhaltslösung mit einbezogen werden darf oder
nicht. Aber auch die Frage nach den gesetzlichen Grundlagen - sie wurden bereits heute Morgen mehrfach angesprochen - entzweite die Regierungskoalition.
Die CDU/CSU-Fraktion hat keinerlei Bedenken gegen den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten im Inland, wenn dies zum Schutz unserer Bevölkerung geschieht und auf eine verfassungsrechtlich gesicherte
Grundlage gestellt wird. Es macht wahrlich keinen Sinn,
wenn wir unsere sehr gut ausgebildeten Militärs in der
ganzen Welt zur Terrorismusbekämpfung einsetzen dürfen, der deutschen Bevölkerung dieser Schutz aber verwehrt bleibt bzw. im internen Koalitionsstreit auf der
Strecke bleibt.
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion hat sich in dieser Frage immer
klar positioniert. Wir befürworten und fordern eine
Grundgesetzänderung im Hinblick auf den Einsatz der
Bundeswehr im Inland. Dies gilt insbesondere bei den
neu zu regelnden Anforderungsprofilen.
({1})
- Die Grundgesetzänderung muss her, auch wenn Sie
sich ständig mit Hilfsformulierungen begnügen wollen.
({2})
- Generell wollen wir diesen Einsatz nicht. Das ist doch
schon heute Morgen so oft zum Ausdruck gekommen,
dass wir es hier wohl nicht mehr zu erwähnen brauchen.
Sie sollten den Kollegen vielleicht einmal zuhören! Herr
Bosbach hat sowohl in seiner Rede als auch in der Kurzintervention gesagt, dass wir die Bundeswehr im Inland
nicht konsequent, sondern nur bei ganz bestimmten Szenarien einsetzen wollen.
({3})
Aufgrund der rechtlichen Erfordernisse hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse mit gutem Grund gefordert, dass die verfassungsrechtlichen
Grundlagen in besonderem Maße den Anforderungen
der Rechtsklarheit, der Verständlichkeit und der Übersichtlichkeit genügen müssen. Ich meine, dass der Entwurf des Luftsicherheitsgesetzes diesem Anspruch nicht
gerecht wird.
({4})
- Ja, das ist klar.
Kollege Herrmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben jetzt wieder das Beispiel
ABC-Schutz angeführt. Herr Bosbach wollte darauf
nicht eingehen. Können Sie der staunenden Bevölkerung
erklären, warum Sie 384 bestausgerüstete ABC-Spürfahrzeuge, die der Bund für den ABC-Schutz ausgeliefert hat und die im Wesentlichen von gut ausgebildeten
Feuerwehrleuten geführt werden, durch rund
17 Bundeswehrfahrzeuge mit gleicher, teilweise älterer
Technik ersetzen wollen, nur weil sie gepanzert sind?
Wie wollen Sie der Bevölkerung erklären, dass wir das
Grundgesetz nur wegen dieser Panzerung ändern müssen?
({0})
Herr Kollege, Sie werden auch zur Kenntnis nehmen
müssen, dass die technischen Voraussetzungen bei der
Bundeswehr noch immer andere als die beim THW sind
({0})
und dass die gut ausgerüstete Bundeswehr von Ihnen zu
speziellen Einsätzen dieser Art entsandt worden ist. Ich
erinnere daran, dass Sie die ABC-Abwehrtruppe nach
Kuwait entsandt haben - nehmen Sie mir mein Interesse
daran bitte ab; denn sie ist unter anderem in meinem
Wahlkreis Höxter stationiert -, um dort die Sicherheit
der Bevölkerung zu gewährleisten.
({1})
Aus genau diesem Grund sollten wir in einem Extremfall
nicht darauf verzichten, die Bundeswehr im Inland zum
ABC-Schutz einzusetzen.
({2})
Dass es hier um eine Grundgesetzänderung geht, das
hat auch der Verteidigungsminister bereits im letzten
Jahr erkannt und nicht erst, nachdem ein Flugzeug über
der Frankfurter Skyline für Verunsicherung gesorgt hat.
Auch er begrüßte eine Grundgesetzänderung. Der
Bundesminister hat noch im Oktober eingeräumt, „dass
man über eine Klarstellung nachdenken kann“. Es ist bedauerlich, dass aus dieser Klarstellung ein Gesetzentwurf gebastelt wurde, dem gerade diese Klarheit fehlt.
Der Innenausschuss des Bundesrates - das ist eben
schon angesprochen worden; Kollege Binninger ist darauf eingegangen - hat sich ganz klar dafür ausgesprochen, dass grundgesetzliche Änderungen vorgenommen
werden müssen. Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen,
dass sich SPD-geführte Bundesländer dieser Auffassung
angeschlossen haben.
Eine Anpassung wäre notwendig. Dies gilt insbesondere unter dem Gesichtspunkt, den bei der Bewältigung
von so genannten Renegade-Fällen eingesetzten Entscheidungsträgern eine sichere gesetzliche Grundlage zu
gewähren. Das Nationale Lage- und Führungszentrum in
Kalkar am Niederrhein - dort sind Soldaten, BGS-Beamte und Mitarbeiter der Flugsicherung tätig - leistet
hierbei eine hervorragende Arbeit. Auch wenn der Renegade-Fall - hoffentlich - die Ausnahme bleibt, kann die
geleistete Arbeit nicht hoch genug bewertet werden.
Mehrere hundert Flugbewegungen gleichzeitig auf den
Bildschirmen erfordern höchste Aufmerksamkeit.
Durchschnittlich täglich sechs „Losscomms“ - es
geht um Fälle, in denen der Funkkontakt von sich nähernden Flugobjekten für längere Zeit abgebrochen ist zeigen jedoch, wie schnell sich die Situation verändern
kann. Am Ende der möglicherweise eingeleiteten operativen Maßnahmen könnte der Abschuss eines mit vielen hundert Passagieren besetzten und für einen terroristischen Angriff gekaperten Ferienfliegers - das wäre
für uns alle wohl der schlimmste Fall - stehen. Gerade
deshalb wird es unser Anliegen bleiben, die an der
Entscheidung Beteiligten mit ausreichenden und verfassungsrechtlich einwandfreien gesetzlichen Grundlagen
auszustatten.
Lassen Sie mich auf die von mir zuvor genannten
Fallgruppen terroristischer Angriffe zurückkommen.
Mit dem nun vorliegenden Luftsicherheitsgesetz wird lediglich, mehr schlecht als recht, die Security am Himmel
geregelt. Die von mir zu Beginn genannten Fälle der terroristischen Bedrohung zu Wasser oder zu Lande werden
nicht erfasst. Obwohl wir immer wieder über diese Szenarien sprechen, haben Sie es hier versäumt, klare
Grundlagen zu schaffen, die einen umfassenden Schutz
der Bevölkerung gewährleisten. Es macht wenig Sinn,
die eben genannten Fallgruppen auch noch in Einzelgesetzen regeln zu wollen. Dies würde bei der Arbeitsgeschwindigkeit der Koalition zu lange dauern.
Ein sinnvoller Ansatz zur Bekämpfung terroristischer
Gefahren wäre die Einbindung von innerer und äußerer
Sicherheit in ein Gesamtverteidigungskonzept bei
gleichzeitiger Umsetzung einer ressortübergreifenden
Sicherheitspolitik. Landesverteidigung und Heimatschutz müssen viel stärker als bisher in Einklang gebracht werden, Sicherheitslücken müssen geschlossen
werden. Zu diesem Ergebnis ist man im Übrigen auch
auf einer Fachtagung von Sicherheitsexperten am vergangenen Dienstag bei einer Veranstaltung der Bertelsmann-Stiftung gekommen. Eckart Werthebach, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz,
sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, den
Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen
als Gemeinschaftsaufgabe in das Grundgesetz aufzunehmen.
({3})
- Auch wenn das schon seit zwei Jahren gesagt wird: Irgendwann müssten Sie es einmal begreifen, damit wir
diese Dinge gemeinsam umsetzen können.
({4})
Neben der Stärkung der originär zuständigen Stellen
der Terrorismusbekämpfung sowie der zivilen Katastrophenschutzbehörden und Hilfsdienste ist es zwingend erforderlich, die zivil-militärische Zusammenarbeit im Inland wieder zu beleben. Hierbei sollten wir uns die
Fähigkeiten der Bundeswehr zunutze machen, ohne
gleich die Grundfeste der Demokratie gefährdet zu sehen.
In besonderen Gefährdungslagen, zum Beispiel im
Katastrophenschutz oder bei der Abwehr und Bewältigung terroristischer Gefahren, muss die Bundeswehr mit
ihren spezifischen Fähigkeiten zur Unterstützung - wirklich nur zur Unterstützung - von Polizei und BGS ermächtigt werden. Hierzu werden seitens der CDU/CSUFraktion in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat - Kollege Bosbach hat das schon angesprochen - demnächst
entsprechende gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht.
Lassen Sie mich zum Abschluss jedoch eines feststellen: Unserer Fraktion liegt es fern, der Bundeswehr
Kompetenzen einzuräumen, die allein in den Aufgabenkatalog der Polizei fallen. Wir sind aber in dem Bemühen, den bestmöglichen Schutz für die Menschen in unserem Land zu garantieren, aufgefordert, alles zu tun,
damit wir weiter in Frieden und Freiheit leben können.
({5})
Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über ein Luftsicherheitsgesetz, ein Gesetz, von dem der uns alle beratende wissenschaftliche
Parlamentsdienst bereits vor zwei Jahren gesagt hat, es
sei völlig unnötig.
Die wiederkehrende Begründung für dieses Gesetz ist
reichlich bemüht worden. Sie wollen die Bundesrepublik
und ihre Menschen vor Terrorakten schützen. Zu solchen
Terrorakten rechnen Sie Angriffe mit entführten Verkehrsflugzeugen auf Atommeiler oder dicht besiedelte
Städte. Dafür wollen Sie eine Sonderermächtigung, die
den Einsatz der Bundeswehr im Innern regelt, wohlgemerkt über das in Ausnahmesituationen ohnehin
schon zulässige Maß des Einsatzes der Bundeswehr hinaus. Das ist der erste Grund, warum die PDS im Bundestag diese Gesetzesvorlage ablehnt.
({0})
Sie wissen, dass Ihr Gesetz zudem eine sehr komplizierte ethische Frage berührt. Burkhard Hirsch, vielen
noch als Vizepräsident des Bundestages bekannt, anderen als früherer Bundesinnenminister, fragt dazu: Will
der Minister den lieben Gott spielen?
({1})
Sein Gedankenspiel ist leicht nachzuvollziehen - der
Kollege Stadler hat dies vorhin schon dargestellt -: Gesetzt den Fall, ein Passagierflugzeug wird entführt. Dann
fliegen mit ihm zwei oder drei Täter sowie 100 oder
200 Passagiere, also Opfer des Verbrechens. Sie vermuten, dass die Entführer einen Terroranschlag im Schilde
führen, und es gelingt Ihnen nicht, dieses Flugzeug abzudrängen und zur Landung zu zwingen. Sie geben also
den Befehl zum Abschuss des Flugzeuges. Mit einem
solchen Befehl würden Sie zugleich das Todesurteil über
100 oder 200 unschuldige Passagiere fällen, und zwar
nur auf diese Vermutung hin. Wer soll, wer will das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel eines Hochhauses gegen das Leben dieser 100 oder
200 Passagiere abwägen und dann eine Entscheidung
treffen?
Nun kann man über den moralischen Aspekt trefflich
streiten. Es ist aber auch ein rechtlicher Aspekt. Unbestreitbar ist, dass der Verband der Allgemeinen Luftfahrt e. V. auch nach Abwägung dieser Argumente Ihr
Luftsicherheitsgesetz ablehnt. Er ist der Auffassung, es
sei „nicht dazu geeignet, die Sicherheit in der Luftfahrt
zu erhöhen“. Kein bislang bekannter Fall, so der Verband, rechtfertige dieses Streben nach einem utopischen,
also nicht herstellbaren Sicherheitsniveau. Auch der Verband der Allgemeinen Luftfahrt e. V. wittert also andere
Beweggründe für dieses Gesetz als die von Ihnen hier
bemühten.
Damit steht er nicht allein. Auch bei der Humanistischen Union schrillen alle Alarmglocken. Sie meint,
dass Sie mit diesem Gesetz eine Superbehörde Flugsicherheit schaffen, die unter anderem mit den deutschen
Inlands- und Auslandsgeheimdiensten zusammenarbeiten
({2})
und präventiv Daten über potenzielle Terroristen sammeln soll. Dazu gehören auch die angesammelten Daten
zu den Sicherheitsüberprüfungen an und auf Flughäfen.
Potenziell verdächtig sind Flugpersonal, Flughafenmitarbeiter, aber auch Lieferanten, also Zigtausende.
({3})
Hinzurechnen muss man das, was an persönlichen Daten
zwischen der EU und den USA ausgetauscht wird bzw.
demnächst gehandelt werden soll. Das hat weder etwas
mit der Flugsicherheit noch mit dem Grundgesetz zu tun.
Wenn Sie all die Regelungen wollen, die in diesem Gesetzentwurf stehen, dann - da hat Herr Bosbach Recht bewegen Sie sich tatsächlich nicht mehr auf dem Boden
des Grundgesetzes. Wenn Sie konsequent sein wollen,
dann müssen Sie unsere Verfassung in diesem Sinn ändern.
({4})
Die PDS sagt dazu klar Nein.
Nach dem Eiertanz, den der Kollege Ströbele heute
hier aufgeführt hat, sagen ich Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen: Behaupten Sie nicht
mehr, dass Sie Welten von der Bürgerrechtspolitik und
der Innenpolitik der CDU/CSU trennen!
({5})
Wenn man sich die Ergebnisse Ihrer Politik ansieht,
kommt man zu dem Schluss: Das sind nur noch Mikrowelten, die mit bloßem Auge überhaupt nicht mehr zu
erkennen sind. Sie schütten nur noch Ihre Soße darüber.
({6})
Ich erteile Kollegen Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident, gelegentlich habe ich den Eindruck,
dass in diesem Parlament zu viele Juristen sitzen. Die
haben die besondere Fähigkeit, Debatten in Richtungen
zu bringen, die vielleicht doch nicht angebracht sind.
Aber wenigstens hier oben sitzt ein Nichtjurist.
({0})
Respekt, Respekt. - Ich gehöre ja selber zu dieser
seltsamen Berufsgruppe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Eindruck, dass in der Debatte heute manche Chance verpasst worden ist, miteinander zu reden. Stattdessen
wurde, wie ich leider häufiger habe feststellen müssen,
aneinander vorbeigeredet.
Wir alle wissen, dass die zivile Luftfahrt besonders
verletzbar ist. Die Philosophie der Sicherheitsarbeit dieser Bundesregierung, dieses Bundesinnenministers und
dieser rot-grünen Koalition heißt: Wer mehr Sicherheit
in der Luft haben will, muss deutlich mehr für die Sicherheit am Boden tun. - Das ist der Kern des Luftsicherheitsgesetzes und das ist der Kern zahlreicher Maßnahmen, schon seit Jahren, nicht erst seit dem
11. September 2001. Das ist ein Prozess, der weitergehen wird. Es gibt keine totale Sicherheit, aber man kann
das Menschenmögliche tun. Das packen wir an, sehr
überzeugend, mit sehr viel Geld, mit sehr viel Initiative,
mit sehr viel qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Wir bemühen uns, zu erreichen, dass sie in Zukunft noch bessere Arbeit abliefern können, als sie das
heute schon tun. Wir erreichen Schritt für Schritt höhere
Standards. Das ist in dieser Debatte, wie ich finde, viel
zu wenig vorgekommen und viel zu wenig gewürdigt
worden. Ich sage noch einmal ausdrücklich, dass der
Bundesinnenminister die gemeinsame Unterstützung der
rot-grünen Koalition dabei hat, seine Bemühungen in
dieser Richtung fortzuführen.
Wir werden auch andere Teile in diesem Sicherheitsbereich komplettieren, beispielsweise den Küsten- und
Meeresschutz. Dazu werden demnächst ähnliche Modelle vorgestellt werden und dann sicherlich auch auf
eine gute organisatorische und gegebenenfalls gesetzliche Grundlage gestellt werden.
Bei dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben finde ich sehr wichtig, dass die Sicherheitsarchitektur unseres Landes nicht verändert, sondern gestärkt wird.
({0})
Diese Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik
Deutschland besteht aus der Sicherheitsarbeit, aus der
guten Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Das hat
sich bewährt. Daran wollen wir nichts ändern. Es gibt für
die äußere Sicherheit die Bundeswehr - mit einem hohen
Leistungsprofil - und es gibt für die innere Sicherheit die
Polizei und den Bundesgrenzschutz. Das ist die grundlegende Aufgabenverteilung, die sich in unserem Staat bewährt hat. An ihr wollen wir nichts ändern. Wenn Sie,
Herr Binninger und Herr Bosbach, sagen, dass Sie daran
nichts ändern wollen, nehmen wir Sie beim Wort.
Man hörte auch schon einmal anderes von Ihnen. Ich
erinnere an Gesetzesinitiativen in den vergangenen Legislaturperioden im Bundesrat, bei denen das anders
ausgesehen hat. Wenn Sie heute sagen, dass Sie an dem
bewährten Zusammenspiel in unserer Sicherheitsarchitektur nichts ändern wollen, besteht zwischen uns ein
Stück weit Gemeinsamkeit. Das möchte ich unterstreichen und keine anders lautenden Verdächtigungen an
Ihre Adresse richten. Vielmehr nehme ich Sie beim
Wort, dass Sie an dieser Architektur nichts ändern wollen.
Wir haben hier viel von Verfassungsänderungen gehört. Ich will vorab mit Ihnen einmal zwei Fragen debattieren.
Denken Sie doch bitte als Erstes daran, wie sich die
Position Deutschlands zur Frage Auslandseinsätze der
Bundeswehr entwickelt hat.
({1})
Überlegen Sie bitte einmal, was von der rechten und der
linken Seite des Hauses zu dieser Fragestellung mit Berufung auf die Verfassung alles vertreten worden ist.
({2})
- Herr Binninger, lassen Sie uns doch einmal den Versuch unternehmen, miteinander zu reden, statt übereinander herzufallen.
({3})
Nehmen Sie doch auch einmal meine Argumente wahr. Ihre Fraktion hat noch vor wenigen Jahren eine Änderung des Art. 87 a Grundgesetz vorgeschlagen; daran
wollen Sie sich heute nicht mehr gerne erinnern lassen.
Wir haben das Grundgesetz nicht geändert, obwohl wir
eine völlig andere Staatspraxis haben. Bis 1993/94 ist
von der damaligen Bundesregierung behauptet worden,
Auslandseinsätze der Bundeswehr seien nicht zulässig.
Heute machen wir das alles, ohne das Grundgesetz geändert zu haben, weil wir wissen, dass die Verfassung das
zulässt. Ich bitte einmal zu überlegen, ob wir mit Grundgesetzänderungen nicht besonders vorsichtig sein sollten.
({4})
Natürlich kann man das Grundgesetz ändern. Die Frage
ist aber: Ist das wirklich zwingend erforderlich?
Ich möchte Ihnen eine zweite Frage stellen: Was wäre
denn, wenn es heute einen solchen Luftzwischenfall
- wir alle hoffen, dass er nie passieren möge - gäbe?
Hätten wir dann, Herr Bosbach, eine Schutzlücke in unserem Grundgesetz? Dürften wir die Bundeswehr nicht
einsetzen? Meine persönliche Überzeugung ist: Eine solche Lücke besteht nicht. Die Bundeswehr dürfte nach
dem Grundgesetz schon heute - jetzt in dieser Sekunde eingesetzt werden.
({5})
- Wir dürfen die Bundeswehr nach Maßgabe von Art. 35
einsetzen.
Am 5. Januar letzten Jahres, Herr Bosbach, sind zwei
Abfangjäger in Frankfurt aufgestiegen. Zum Glück hat
man diesen Fall friedlich lösen können. Aber war dieses
Verhalten der Bundeswehr rechtswidrig? Nein, es war
rechtmäßig. Allerdings haben wir gesagt, dass wir hierfür eine klare Rechtsgrundlage schaffen wollen. Man
hätte sich, Herr Burgbacher, durchaus die Frage stellen
können: Sollen wir einen solchen Extremfall überhaupt
regeln?
({6})
Das infrage zu stellen ist eine durchaus vertretbare Argumentation.
Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?
Bitte.
Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe allen Respekt vor
Ihrer Rechtsansicht. Vor mir liegt die „Zeitschrift für
Rechtspolitik“, Ausgabe 4/2003, in der auch ein Artikel
von Ihnen steht. Haben Sie den Artikel gelesen, der neben Ihrem Artikel gestanden hat? In ihm ist mit überzeugenden Argumenten zumindest festgestellt worden:
Die Meinung, die Streitkräfte hätten … eingesetzt
werden dürfen, ist vertretbar, aber wenig gesichert.
Die Rechtslage ist unklar und verworren … Man
sollte nicht auch diese Frage dem BVerfG zuschieben.
Der Autor ist immerhin ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, nämlich Professor Dr. Klein.
Ist Ihnen bekannt, dass der ehemalige Bundesminister
der Verteidigung Georg Leber, rückblickend auf einen
Luftzwischenfall während der Schlussfeier der Olympischen Spiele 1972 in München, in seinen Memoiren geschrieben hat, diese Rechtsfrage müsse unbedingt einmal verfassungsrechtlich geklärt werden, denn sie sei
verfassungsrechtlich nicht klar und es sei keinem zuzumuten, auf einer unsicheren verfassungsrechtlichen
Grundlage zu entscheiden und zu handeln?
Herr Bosbach, selbstverständlich kenne ich diesen
Beitrag von Herrn Hans Hugo Klein, der - anders, als
Sie es vortragen - anerkennt, dass meine Auffassung
vertretbar ist. Ich spreche über Kollegen, die sich rechtswissenschaftlich äußern, selbstverständlich sehr fair und
respektvoll. Ich kenne die Diskussionen sehr genau und
ich kann Ihnen nur sagen: Ich freue mich auf die Anhörung vor dem Innenausschuss, ich bin geradezu rasend
interessiert an dieser Anhörung, und ich werde keine Sekunde fehlen, lieber Herr Bosbach; denn ich bin wirklich
hochgespannt auf die Äußerungen der ersten Garde der
deutschen Verfassungsrechtler, die dort vertreten sein
werden. Ich habe mich schon selber als Sachverständigen ins Gespräch gebracht,
({0})
aber meine Fraktion will mich nicht vorschlagen, Herr
Bosbach, was ich sehr bedaure.
Ich kenne diese Debatte natürlich; aber ich bitte sehr
um Verständnis für die Position, die ich vertrete - nicht
nur mit einer Sprechblase in der „Zeit“, die Sie zitiert haben, sondern in Form einer vertieften Auseinandersetzung mit den Fragestellungen in der „Zeitschrift für
Rechtspolitik“, in der Zeitschrift „Die Polizei“, in der
„Neuen Zeitschrift für Wehrrecht“ und in anderen Publikationen -, nämlich dass das sehr wohl verfassungsrechtlich vertretbar ist. Gehen Sie bitte davon aus, dass
diese Bundesregierung und die rot-grüne Koalition niemals ein Gesetz zu einer ersten Lesung in den Bundestag
einbringen würden, bei dem sie verfassungsrechtliche
Zweifel hätten. Das wäre doch nicht verantwortbar!
({1})
Das kann man uns auch nicht unterstellen.
Ich weiß, dass man in dieser Frage anderer Auffassung sein kann. Wir werden uns selbstverständlich der
Anhörung stellen. Wir sind hochinteressiert und offen;
man kann mich überzeugen. Aber Sie sollten auch unsere Überzeugung zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie die
Verfassung so interpretieren, dass man zwar die Folgen
von Unfällen mithilfe der Bundeswehr beseitigen darf,
aber nicht die Ursachen, dann kann ich nur sagen: Die
Verfassung ist klüger als Sie und Herr Binninger.
({2})
Es wäre wirklich ein Schildbürgerstreich, wenn in der
Verfassung stünde, dass man warten müsste, bis ein Unglück passiert, und dann nur aufräumen dürfte, dass aber,
wenn die Möglichkeit bestünde, das Unglück dennoch
nicht verhindert werden dürfte. Das ist doch abwegig,
Herr Bosbach!
({3})
Ich sage: abwegig! Die Verfassung ist klüger als Sie.
Eine Verfassung, die solch eine Interpretation zuließe,
wäre in der Tat eine schlechte Verfassung. Wir haben ein
gutes Grundgesetz, Herr Bosbach. Lesen Sie es, studieren Sie es, verinnerlichen Sie es!
Wir können das Grundgesetz natürlich ändern; aber
wir haben schon eine ganz besondere Beweislast, wenn
wir das tun. Wir haben vielleicht an der einen oder anderen Stelle eher zu viel des Guten auf diesem Sektor getan, statt klug mit der Verfassung umzugehen. Ich
stimme Ihnen zu, Herr Bosbach und Herr Binninger: Es
lohnt sich, über die verfassungsrechtliche Seite zu diskutieren, natürlich. Als 1968 Art. 35 des Grundgesetzes
verfasst wurde, gab es die heutige terroristische Bedrohung nicht.
({4})
Art. 35 hat seine innere Ursache in der Flutkatastrophe
von 1962; das wissen wir alle. Sollen wir wegen jeder
neuartigen Gefahr die Verfassung ändern, meine Damen
und Herren? Sollten wir, der Bundestag, uns nicht vielmehr bemühen, eine gemeinsame, kluge Interpretation
dieses Grundgesetzes vorzunehmen? Das ist doch das
viel näher Liegende!
Hier ist immer die Rede davon, was die Bundeswehr
darf und was sie nicht darf. Ich rate Ihnen, auch darüber
einmal etwas mehr nachzudenken. Die Bundeswehr darf
- der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise eine
Arbeitsgruppe eingesetzt, um das klären zu lassen - der
Polizei in weit größerem Maße Amtshilfe leisten, als das
landläufig angenommen wird. Selbstverständlich kann
die Bundeswehr in vielen Bereichen helfen. Es gibt verfassungsrechtlich lediglich dann ein Problem, wenn sie
mit Zwangswirkung eingesetzt wird; dann bedarf es in
der Tat einer grundgesetzlichen Ermächtigung. Selbst
der berühmte Spürpanzer „Fuchs“ oder andere gepanzerte Fahrzeuge dürfen in Deutschland im Innern eingesetzt werden, solange die Soldaten nicht bewaffnet sind.
Das geht alles; man muss das nur einmal durchchecken.
Ich bin sehr an den Ergebnissen der Arbeitsgruppe der
Innenministerkonferenz interessiert.
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie müssen bitte zum Ende
kommen.
Ich komme gerne zum Ende. Diese Debatte soll nicht
zu einem juristischen Seminar werden; das wäre in der
Tat fatal.
Ich bin der Auffassung, dass dieses Gesetz ein ganz
wichtiger Beitrag ist, die Sicherheitsarchitektur in
Deutschland zu verstärken und zu vertiefen. Es ist ein
weiterer großer Erfolg von Rot-Grün und von Bundesinnenminister Otto Schily.
Schönen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Präsident Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/2361 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform
- Drucksache 15/2156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({1}), Joachim Günther ({2}),
Eberhard Otto ({3}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Gutachtenvergabe zu Fahrgastrechten revidieren - Neutralen Gutachter beauftragen
- Drucksache 15/2279 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
({5})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Es ist höchste Eisenbahn für die richtigen
Weichenstellungen zur Vollendung der Bahnreform.
({0})
Das Maut-Desaster zeigt in erschreckender Deutlichkeit, wohin die Reise unter rot-grüner Verkehrspolitik
geht: nicht nur aufs Abstellgleis, sondern führerlos und
mit Volldampf ins Chaos.
({1})
- Herr Kollege Weis, bevor Sie einen weiteren Zwischenruf machen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass
im Moment eine Meldung über den Ticker läuft, dass die
Eisenbahngewerkschaft Transnet bekannt gibt, dass der
Vorstand der DB AG für 2 500 Arbeitnehmer Kurzarbeit
beantragt hat. Ich sage dies, damit Sie wissen, was die
Stunde geschlagen hat und wie die Wahrheit aussieht.
Der Bund gibt der Bahn nicht das versprochene Geld
für Schieneninvestitionen. Mehdorn muss den Tiefbauunternehmen schreiben, dass alle Ausschreibungen und
Vergaben gestoppt und laufende Bauvorhaben qualifiziert abgebrochen werden müssen.
({2})
Wir wollen, dass die von uns 1994 begonnene Bahnreform konsequent weitergeführt wird. Wird dieses im
Moment aber getan? Die damaligen Ziele gelten unverändert: mehr Verkehr auf die Schiene und weniger Belastung des Steuerzahlers. Deshalb wollen wir unternehmerische Unabhängigkeit der Bahn statt Behördenbahn,
Leistungs- und Qualitätssteigerung sowie mehr Wettbewerb und dazu einen diskriminierungsfreien Zugang
Dritter zum Schienennetz.
({3})
Offenbar hat die Bundesregierung diese Ziele aus den
Augen verloren; denn seit Schröders Amtsantritt ist die
Bahnreform mit einem klaren Dezentralisierungsmodell
durch ein Rezentralisierungsmodell mit einem ständig
wachsenden Wasserkopf und einem kleinen Napoleon an
der Spitze ersetzt worden.
({4})
Das hat natürlich Konsequenzen. Es gibt amtliche
Zahlen des Bundesverkehrsministeriums, veröffentlicht
in „Verkehr in Zahlen“, und des Bundesfinanzministeriums. Gelegentlich wundert mich, dass die DB AG und
Herr Mehdorn in Diskussionen diese amtlichen Zahlen
bestreiten und behaupten, sie seien Unfug. Dass so mit
der Wahrheit umgegangen wird, ist unerträglich. Liest
man diese unbestreitbaren amtlichen Zahlen, die mehr
aussagen als die unternehmensgefertigte Propaganda,
dann wird deutlich, dass die DB AG auf dem besten
Wege zurück in die Pflegebedürftigkeit ist.
({5})
Erstens. Nach unserer Auffassung ist diese Bundesregierung mit ihren vier Kurzfrist-Verkehrsministern
schuld daran. Sie haben es versäumt, für klare ordnungspolitische Rahmenbedingungen zu sorgen.
({6})
Ordnungspolitik ist aber die originäre Aufgabe des Staates.
({7})
Dem Vorstandschef Mehdorn wird ein Gebaren erlaubt,
als würde Daimler-Chef Schrempp zu Trittin ins Ministerium laufen und sich selbst niedrige Abgasgrenzwerte
machen. Dies darf nicht hingenommen werden. Denn so
wird die Chance vergeben, zu einer leistungsfähigen
kundenorientierten Wettbewerbsbranche, die zu größerer
Verlässlichkeit, Sicherheit und sinkenden Preisen führt,
zu kommen. So bleibt ein unverändert dominierendes
monopolistisches Staatsunternehmen mit Marktanteilen
im Schienenverkehr von 99,5 Prozent im PersonenfernDirk Fischer ({8})
verkehr, 91,5 Prozent im Personennahverkehr - ohne die
Regionalisierungsmittel und die Bestellermöglichkeiten
der Länder hätten wir wahrscheinlich auch hier einen
Anteil von knapp 99 Prozent - und 97,2 Prozent im Güterverkehr bestehen.
Die Konsequenz ist: Wann und wo im Schienenverkehr Wettbewerb stattfinden darf, entscheidet letztlich
Herr Mehdorn. Ich finde, dazu passt ein Zitat. Er hat
wörtlich gesagt:
Mein größtes Problem ist, dass alle eine kleine
elektrische Eisenbahn zu Hause haben, damit spielen und Spaß haben. Und alle denken, sie könnten
auch mit der großen Eisenbahn spielen. Ich bin aber
der Einzige, der die große hat.
Das könnte auch von Napoleon stammen.
({9})
Zweitens. Durch Minister Stolpes Glanzleistung bei
der Einführung der LKW-Maut sinken die Haushaltsmittel für Bahninvestitionen von 4,4 Milliarden Euro
auf nur noch 3,3 Milliarden Euro in diesem Jahr; Tendenz weiter fallend.
({10})
Denn nach der Haushaltsplanung - Herr Kollege Weis,
ich wundere mich, dass Sie das alles so gelassen hinnehmen ({11})
sollen diese Mittel bis 2008 sogar auf nur noch knapp
3 Milliarden Euro reduziert werden.
({12})
Neubauvorhaben müssen gestoppt und in die Zukunft
verschoben werden. Selbst für die Erhaltung des Bestandsnetzes reichen die Mittel nicht aus. England lässt
grüßen!
({13})
Drittens. Die rapide Entwicklung der Neuverschuldung der DB AG ist besorgniserregend. Zu leiden haben
am Ende wie immer die Bürger und Steuerzahler, denen
mittlerweile zusätzlich zur Entschuldung zu Beginn der
Bahnreform 1994 trotz weiter fließender erheblicher
staatlicher Subventionen Neuschulden von rund
25 Milliarden Euro, aufgelaufen zwischen 1994 und
2003 - dies ist ein zweieinhalbmal so hohes Verschuldungstempo wie vor der Bahnreform -, auf ihr Schuldkonto geschrieben werden.
({14})
Viertens. Seit Jahren sinken die Verkehrsleistungen
kontinuierlich. Die letzten verbindlichen amtlichen Zahlen liegen bei minus 6,2 Prozent im Schienenpersonenverkehr und minus 3,2 Prozent im Schienengüterverkehr.
Fünftens. Seit Jahren stagnieren die Umsätze bei rund
15 Milliarden Euro. Hierbei muss man den Zukauf von
Stinnes natürlich herauslassen. Diese Situation besteht
trotz regelmäßiger Preiserhöhungen. Zum 1. April 2004
wird eine weitere Preiserhöhung von im Durchschnitt
3,4 Prozent als ein massives Kundenopfer für das fehlgeschlagene Bahnpreissystem durchgesetzt. Der angeblich
attraktive Höchstpreis von 111 Euro für Fahrtstrecken
von mehr als 700 Kilometer ist nur für Flensburger attraktiv, die ständig zum Bodensee reisen und dabei hartnäckig jedes Angebot eines Billigfliegers ignorieren und das, obwohl Herr Mehdorn im Oktober 2002 im
Fernsehsender Phoenix wörtlich sagte, Zugfahrten über
vier Stunden seien eine Tortur.
Es drängt sich die Frage auf: Ist dieses Unternehmen
börsenreif? Werden Aktionäre - vor allem nach den tollen Erfahrungen bei der Telekom - wie wild hinter DBAktien her sein? Ein Kriterium der Börsenfähigkeit von
Transportunternehmen ist die Bewertung mit dem Elffachen des EBIT, also des Jahresgewinns vor Zinsen und
Steuern. Dies würde bei der DB AG ein EBIT von
1,6 Milliarden Euro erfordern. Nach der letzten verbindlichen Zahl von 2002 lag das EBIT leider bei nur
37 Millionen Euro. Ein weiteres Kriterium der Börsenfähigkeit ist der Free Cash Flow, der auch die Dividendenfähigkeit des Unternehmens ausdrückt. Dieser müsste
plus 1,4 Milliarden Euro betragen. Leider lag die letzte
verbindliche Zahl 2002 bei minus 1,4 Milliarden Euro.
Die DB AG bräuchte für ein Rating A - sonst würden
die Zinsen sehr teuer - eine Tilgungsdeckung von
30 Prozent. 2002 hatte sie leider nur eine von
11,1 Prozent. Das Verhältnis von Fremd- und Eigenkapital muss bei etwa 1 : 1 liegen, bei der DB AG lag es aber
2002 bei 2,7 : 1.
Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, um irgendetwas infrage zu stellen, was wunderbar ist, sondern
das sind die Zahlen der Bundesregierung.
({15})
Wie man hört, ist die Eigenkapitaldecke der DB AG
in der Zwischenzeit recht dünn geworden. Am
31. Dezember 2002 betrug die Eigenkapitalquote
12,4 Prozent und sie ist zwischenzeitlich weiter gesunken.
({16})
Das heißt, das Unternehmen braucht eine Kapitalspritze
des Bundes, was vor allem ihre Kreditfähigkeit bei den
Banken stärken würde.
Angeblich - so hört man - will die Pflegemutter zur
Pflegetochter ganz besonders lieb sein. So soll angeblich
die Eigenmittelbeteiligung der DB AG an Infrastrukturprojekten von 2004 bis 2008 um 750 Millionen Euro gemindert werden. Angeblich sollen auch künftig in erheblichem Umfang dem Unternehmen gegebene zinslose
Darlehen des Bundes in Eigenkapital umgewandelt werden. So soll wohl auch die Mitwirkung des Deutschen
Bundestages an Investitionsentscheidungen Schiene
über den Bedarfsplan Schiene ausgehebelt werden.
Dirk Fischer ({17})
({18})
Die Forderungen meiner Fraktion lauten: Wir wollen
unverändert an dem Ziel eines Schienenverkehrsmarktes
festhalten, auf dem kundenfreundliche und in fairem
Wettbewerb konkurrierende Unternehmen tätig sind.
({19})
Davon kann aber auch nach zehn Jahren Bahnreform immer noch keine Rede sein.
({20})
Ich sage ganz deutlich: Uns geht es darum, die Infrastrukturverantwortung des Staates für sein steuerfinanziertes Schienennetz zu erhalten.
({21})
Das Schienennetz darf nach den schlechten Erfahrungen
in England nicht zum Renditeobjekt des Kapitalmarkts
gemacht werden.
({22})
Dies geschähe allerdings, würde man entgegen den Planungen der Bahnreform 1994 die Gesamtholding einschließlich Netz an die Börse bringen. Darum wird im
Kern gestritten.
({23})
Der diskriminierungsfreie Zugang eines jeden
Wettbewerbers zum Schienennetz ist für uns von herausragender Bedeutung. Ich erinnere daran, dass der Sachverständige Pällmann als Vorsitzender der PällmannKommission in unserem Ausschuss danach gefragt hat,
warum die Bahn das System CIR-ELKE nicht weiterentwickelt hat, das durch Verringerung der Blockabstände
erheblich mehr Abwicklungskapazität im deutschen
Schienennetz bringen würde und damit die Finanzierung
zugunsten der Steuerzahler günstiger gestalten würde.
Damit würden mehr Trassenentgelte eingenommen.
({24})
Warum wurde es nicht weiterentwickelt? Die Bahn
hat überhaupt kein Interesse daran, über den Eigenbedarf
hinaus Kapazitäten bereitzustellen, die nur von Wettbewerbern genutzt werden. Die Bahn schätzt es eher zu sagen: Das tut uns Leid, es ist nichts mehr frei; der Fahrplan ist ausgereizt, ihr könnt nicht mehr.
Das ist nicht unser Vorwurf, sondern der Vorwurf des
Vorsitzenden der Pällmann-Kommission, die Herr
Müntefering seinerzeit als Minister einberufen hat. Daran möchte ich hier erinnern.
({25})
Warum lässt sich die Bundesregierung bei der Umsetzung der Task-Force-Ergebnisse - nach EU-Richtlinie
müssten sie seit dem 15. März 2003 im Gesetzblatt stehen - so viel Zeit? Das ist doch immerhin ein sinnvoller
Zwischenschritt bei der Reform des Eisenbahnwesens.
Ich dachte eigentlich, Herr Mehdorn würde gewaltigen
Druck machen. Es ist aber gar nichts passiert, und man
gewinnt den Eindruck, dass man noch nicht einmal die
minimalen Forderungen der Task Force beschleunigt
umsetzen will. Ich frage also: Wann können wir endlich
mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung rechnen?
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
({0})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Eine zügige und umfassende Bestandsaufnahme und kritische
Bewertung der Effekte der Bahnreform mit externer
Evaluierung und ordnungspolitischen Empfehlungen an
den Gesetzgeber und den Bund als Alleineigentümer ist
unaufschiebbar. Darauf haben wir als Parlament einen
Anspruch und - das sage ich ausdrücklich - das verlangen wir von der Bundesregierung.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Weis, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer die Diskussionen im Bundestag zum
Thema Bahnpolitik seit Beginn der Bahnreform aufmerksam verfolgt hat, der muss bei der heutigen Opposition - hier meine ich vor allen Dingen die Union - einen
erstaunlichen Wandlungsprozess feststellen. Man könnte
sagen, die Union hat sich im Laufe der Zeit mehrere
Häutungen erlaubt.
({0})
In der 13. Wahlperiode feierten Sie - damals noch als
Regierungsfraktion - die Bahnreform als durchaus erfolgreich. Aus einigen Reden des Kollegen Fischer geht
das klar hervor. An keiner Stelle findet sich bei der
Union vor 1998 ein Hinweis auf die Trennung von Netz
und Betrieb als das zentrale bahnpolitische Thema;
ganz anders, als Herr Fischer es jetzt zum Ende seiner
Rede vorgestellt hat.
({1})
Natürlich weiß ich, dass die Trennung in der Bahnreform
als eine Option angelegt war, sie war aber nicht zwingend. Sonst hätte man vor zehn Jahren der DB AG das
Eigentum am Netz ja nicht übertragen.
({2})
Daran waren Sie maßgeblich beteiligt.
Reinhard Weis ({3})
({4})
Ich akzeptiere auch, dass die Bundesregierung in diesen zehn Jahren ergebnisoffen weitergedacht hat. Die
Frage, ob die DB AG mit oder ohne Netz bessere Chancen im Wettbewerb haben wird, können wir nicht allein
nach reinen Wettbewerbskriterien beantworten. Wer am
vergangenen Mittwoch die Veranstaltung des Deutschen
Verkehrsforums zur Bilanz und zu Ausblicken der Bahnreform unvoreingenommen verfolgt hat, der wird zugeben müssen, dass der reinen Wettbewerbstheorie eine
ganze Reihe praktischer Probleme gegenüberstehen.
Wir dürfen auch die betriebswirtschaftliche Seite unseres bundeseigenen Unternehmens nicht ausblenden.
Dazu gehört natürlich auch die Frage, ob der Konzern
mit oder ohne Netz die besseren Chancen beim Einwerben privaten Kapitals hat. Wer diese Fragen vorschnell
ideologisch oder parteipolitisch beantwortet, schwächt
das leistungsfähigste deutsche Bahnunternehmen vor
Öffnung des europäischen Schienenverkehrsmarktes.
Das kann nicht in unserem nationalen Interesse liegen.
({5})
Ich komme zurück zu den Anträgen der CDU/CSUund der FDP-Opposition, die Anlass der heutigen Debatte sind. Ihre Schwerpunktverlagerung auf die Trennung von Netz und Betrieb zeigte sich schlagartig, als
Sie sich nach der Bundestagswahl 1998 auf den Oppositionsbänken wiederfanden. Das Thema stand plötzlich
im Mittelpunkt. Es sollte neuen Schwung für das System
Schiene bringen - so titelte auch ein Antrag der CDU/
CSU-Fraktion. Es gab einen weiteren zur konsequenten
Trennung von Netz und Betrieb im deutschen Schienenverkehr. Sie hielten sogar Anfang 2002 einen verkehrspolitischen Kongress ab.
({6})
Erst Ihr Kanzlerkandidat, der bayerische Ministerpräsident, hatte damals am 22. April 2002 - übrigens pikanterweise trotz Ihres verkehrspolitischen Kongresses und
entgegen der erwünschten Botschaft - die Diskussion
über das Thema Trennung für beendet erklärt. Das war
ein erneuter Richtungswechsel in Ihrem Zickzackkurs.
({7})
Wenn wir heute über die Bahnreform reden, ist dreierlei festzuhalten:
Das erste Ziel, die Haushaltsentlastung, ist erreicht
worden, und zwar stärker, als nach den Prognosen vor
der Bahnreform ursprünglich erwartet. Sie behaupten
das Gegenteil, aber hier gilt: Wenn man alle gesetzlichen
Zahlungsverpflichtungen des Bundes im Bahnsektor,
zum Beispiel für den Beamtenbereich, der jetzt im Bundeseisenbahnvermögen verankert ist, und auch die Investitionsmittel des Bundes für das Netz, die mit Verfassungsauftrag begründet sind, berücksichtigt, hat sich die
Haushaltsbelastung für die DB AG gegenüber der Situation der alten Bundesbahn und der Reichsbahn deutlich
verringert. Das ist unbestreitbar.
Das zweite Ziel der Bahnreform, mehr Verkehr auf
die Schiene zu bringen, ist bisher nur teilweise erreicht
worden.
({8})
Da liegt keine Erfolgsbilanz vor. Im Personennahverkehr
ist die Rechnung durch die Regionalisierung aufgegangen. Die Zuwachsraten im Personennahverkehr der
letzten Jahre sind unbestreitbar. Hier hat die Schiene mit
rund 30 Prozent zugelegt. Im Personenfernverkehr und
stärker noch im Güterverkehr muss die Schiene natürlich
noch deutlich zulegen. Da sind die Ziele nicht erreicht
worden.
({9})
In beiden Bereichen ist vor allem die DB AG als größter
Transporteur, aber auch die Politik in der Pflicht. Unsere
Aufgabe wird es auch in den kommenden Jahren sein,
die Rahmenbedingungen für die Schiene zu verbessern,
und zwar für die DB AG genauso wie für alle Eisenbahnen, die in Konkurrenz zur DB AG ihre Positionen am
Markt verbessern sollen.
({10})
Für den Güterverkehr möchte ich beispielhaft das
von uns in Gang gesetzte Gleisanschlussprogramm
nennen. Mit diesem Programm kann es gelingen, dem
Schienengüterverkehr zusätzliche Potenziale zu erschließen. Für das Haushaltsjahr 2004 beginnen wir bereits
mit der Förderung von privaten Gleisanschlüssen.
({11})
Mehr Unternehmen als bisher sollen mit Gleisanschlüssen direkt an die Schiene angebunden werden.
({12})
Selbstverständlich werden wir diese Förderung an verbindliche Zusagen zur Transportmenge knüpfen, damit
keine Fehlförderungen initiiert werden.
({13})
Mit den verbesserten Netzstrukturen im Netzzugang
werden wir die Attraktivität der Schiene für die verladende Wirtschaft deutlich erhöhen.
({14})
Dieses Konzept funktioniert in unserem Nachbarland
Österreich sehr erfolgreich.
({15})
Selbstverständlich kann ein verstärkter Wettbewerb
auf der Schiene zu mehr Schienenverkehr führen. Ich
glaube, auch das ist unbestritten. Mit der jetzt anstehenden Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
Reinhard Weis ({16})
werden wir den Ordnungsrahmen dafür neu stecken. Die
Empfehlungen der Task Force „Zukunft der Schiene“,
die mit dem neuen europäischen Recht im Einklang sind,
werden wir mit der AEG-Novelle in vollem Umfang umsetzen. Ich freue mich, dass auch die Opposition diese
Empfehlungen inzwischen als einen wichtigen Schritt in
Richtung mehr Wettbewerb anerkannt hat.
({17})
Drittens muss ich sagen: Die Bahnreform dauert weiter an. Ein Teil des Weges ist geschafft. Einen weiteren
Teil haben wir noch vor uns. Das gilt auch für den
Sanierungsprozess bei der DB AG, dem größten deutschen Bahnunternehmen. Der Vorstandsvorsitzende,
Hartmut Mehdorn, den Sie offensichtlich als Ihren
Hauptgegner auserkoren haben, hat hier in den letzten
Jahren insgesamt einen erfolgreichen Job gemacht. Das
sage ich mit aller Deutlichkeit, auch wenn es Vorstandsentscheidungen geben mag, die im Nachhinein korrigiert
werden mussten. Es gab Entscheidungen, die uns Politiker geärgert haben oder für die uns das Verständnis
fehlte. Bis heute haben allerdings einige Politiker, aber
auch Journalisten und die Öffentlichkeit noch nicht akzeptiert, dass wir uns 1993 alle miteinander für die Umgestaltung der Bahn in ein Wirtschaftsunternehmen entschieden haben.
({18})
Das bedeutet, dass der Vorstand für den wirtschaftlichen
Erfolg des Unternehmens einzustehen hat.
({19})
Die Fortschritte, die das Unternehmen DB AG inzwischen gemacht hat, kann und darf man nicht wegdiskutieren. Ein Zuwachs an Produktivität, ein besseres Kostenmanagement und eine stärkere Kundenorientierung
sind klar erkennbar geworden. Es ist aber auch allen
klar, dass die Bahn noch leistungsfähiger werden und
sich noch mehr an den Interessen und Bedürfnissen ihrer
Kunden orientieren muss.
({20})
Allerdings ist es mit der Grundsatzentscheidung für
eine unternehmerische Bahn unvereinbar, dass Sie - ich
schaue wieder in Richtung CDU/CSU -, wie gegen Ende
der letzten Legislaturperiode geschehen, die Finanzierung
des Personenfernverkehrs durch den Bund fordern. Hierzu
gibt es einen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Gewährleistung des Schienenpersonenfernverkehrs“. Durch die
Umsetzung dieser Forderung würde der jetzt eigenwirtschaftliche Sektor des Unternehmens wieder dauerhaft
von staatlichen Zuschüssen abhängig.
({21})
An dieser Stelle hätten Ihr Subventionsabbauspezialist,
Ministerpräsident Koch, und unserer, Ministerpräsident
Steinbrück, den Rotstift dann allerdings zu Recht angesetzt. Ich nehme aber an, dass Sie diese Linie inzwischen
nicht mehr ernsthaft verfolgen. Damit wären wir wieder
bei dem Zickzackkurs, den ich bereits vorhin erwähnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die
Perspektiven des größten deutschen Eisenbahnunternehmens sprechen, müssen wir auch über seine Kapitalmarktfähigkeit diskutieren. In seiner Rede anlässlich
des zehnten Jahrestages der Deutschen Bahn AG hat der
Bundeskanzler am 14. Januar dieses Jahres deutlich gemacht - ich zitiere ihn -:
Und wenn man eine konsequente unternehmerische
Ausrichtung will, dann muss man sich auch mit
dem Thema des Börsengangs der Deutschen
Bahn AG beschäftigen. Nach meiner festen Überzeugung wird die Beteiligung privater Investoren
die unternehmerische Entwicklung der Bahn beschleunigen. Auch deshalb ist ein Börsengang der
Bahn ein wichtiges Ziel der Bundesregierung.
Damit ist meiner Meinung nach alles zur Begründung
der Überlegungen zum Thema Börsengang gesagt.
Ich denke, wir sind uns fraktionsübergreifend einig,
dass ein solcher Schritt aber nur dann sinnvoll und erfolgversprechend sein kann, wenn die betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
({22})
Die Bahn muss dauerhaft schwarze Zahlen vorlegen.
({23})
Eine schöne Bilanz in einem guten Jahr reicht nicht.
({24})
Daher erwarten wir von der Bundesregierung und
dem Bahnvorstand, dass sie im Anschluss an eine eingehende betriebswirtschaftliche Prüfung die Chancen und
Risiken eines Börsengangs klar aufzeigen.
({25})
Wir erwarten, dass die Bundesregierung die verkehrsund haushaltspolitischen Auswirkungen eines Börsengangs umfassend prüft. Natürlich werden wir uns in diesen Prozess einbringen müssen.
({26})
Vor allem das verkehrspolitische Ziel, mehr Verkehr auf
die Schiene zu bringen, muss auch nach einem Börsengang bzw. nach der Herstellung der Börsenfähigkeit der
DB AG verfolgt werden.
Damit wird klar: Weder die Kapitalmarktfähigkeit
noch ein Börsengang können und dürfen Selbstzweck
sein. Messlatte ist auch dabei das verkehrspolitische
Ziel. Wir legen daher großen Wert darauf, dass das
Schienennetz in Bezug auf Netzstandards und Netzgröße eindeutig definiert wird.
({27})
Reinhard Weis ({28})
- Richtig. - Um das verkehrspolitische Ziel zu erreichen,
müssen alle Modelle für eine Zuordnung des Netzes umfassend und ergebnisoffen geprüft werden.
Bundesregierung und Koalitionsfraktionen nehmen
ihre Infrastrukturverantwortung sehr ernst; wir brauchen also keine Ermahnung des Kollegen Fischer.
({29})
Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Mittel für den
Aus- und Neubau sowie die Modernisierung des Schienennetzes bereitgestellt. Deutlich mehr Mittel sind von
uns vergeben worden als von Ihnen in den letzten Jahren
Ihrer Regierungsverantwortung. Das verschweigen Sie
gerne.
({30})
Wegen Ihrer finanziellen Fehlentscheidungen bei der
Bahn wurde vor allem das Bestandsnetz der Bahn in den
ersten Jahren nach der Bahnreform sträflich vernachlässigt.
({31})
Rot-Grün hat diese Fehlentwicklung gestoppt und die Investitionsmittel für die Schiene deutlich aufgestockt.
Diese Tatsache kann gar nicht oft genug wiederholt werden.
({32})
Zusätzlich haben wir die Investitionen für die
Schiene von zinslosen Darlehen ganz überwiegend auf
Baukostenzuschüsse umgestellt. Wir haben den Schwerpunkt der Investitionen auf die Erhaltung und die Modernisierung des Bestandsnetzes verlagert. Auch hier haben wir neue Akzente in der Bahnpolitik gesetzt.
Trotz der aktuellen Finanzengpässe, die in diesen
Tagen berechtigterweise diskutiert werden - in erster
Linie im Rahmen der Diskussion um das Thema Mautausfälle, aber auch im Rahmen der Diskussion um die
unseligen Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und
Steinbrück, die sich verheerend auf die Schienenverkehrspolitik auswirken würden -,
({33})
werden wir eine solide und planbare finanzielle Grundlage für die Erhaltung und den Ausbau des Schienennetzes schaffen. Die Lösung können wir Ihnen jetzt noch
nicht präsentieren, aber Sie können uns abnehmen, dass
wir sie schnell vorlegen werden. Denn es ist eine Binsenweisheit: Die Bahnen - ich rede ausdrücklich im Plural - brauchen ein leistungsfähiges Schienennetz, um im
Wettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern bestehen
zu können.
({34})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der
Bahnreform ist noch nicht abgeschlossen. Mit der Gesetzgebung zur Umsetzung des ersten europäischen
Eisenbahnpaketes werden wir diesen Weg weitergehen.
Die öffentliche Anhörung am 29. März zur Bilanz der
Bahnreform und zum Ausblick wird uns dafür weitere
Anregungen geben.
Ich möchte abschließend die Opposition bitten, im
Streit um die besseren Argumente nicht nur die Bedingungen für den Wettbewerb auf dem deutschen Schienennetz
im Blick zu haben, sondern auch die strategische Stärke
unseres größten deutschen Schienenverkehrsanbieters für
den beginnenden europäischen Wettbewerb auf der
Schiene. Wir könnten dann - davon bin ich überzeugt manche Auseinandersetzung sachbezogener miteinander
ausfechten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({35})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist Zeit, dass die Debatte über zehn Jahre Bahnreform wieder die Institution erreicht, von der sie ausgegangen ist, nämlich das deutsche Parlament.
({0})
Wir hatten hier die Grundlagen dafür geschaffen. Wir
sind deswegen auch berechtigt, hier und heute, losgelöst
von Jubelfeiern wie im Ritz-Carlton, einen Blick auf die
Fakten zu werfen, um zu sehen, wie die Situation tatsächlich aussieht. Dankenswerterweise hat die Parlamentsgruppe Schienenverkehr vorgestern einen ersten
Schritt gemacht, insbesondere Herr Pällmann, der aufgezählt hat, dass nicht alles so goldig aussieht, wie es gesagt wurde und wie es manchmal scheint.
Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Alle
Zahlen, die ich nenne, entstammen dem Büchlein „Verkehr in Zahlen“.
({1})
Herausgeber ist das Bundesministerium für Verkehr. Verantwortlich ist das DIW, also weder die FDP-Fraktion
noch ich als Abgeordneter. Das sage ich, damit es hinterher keinen Ärger mit irgendwelchen Gerichten gibt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bahnreform von
1993/94 hatte drei große Schwerpunkte. Einer davon, die
Organisationsprivatisierung, ist vor allen Dingen - diesen Dank muss man aussprechen - auch dank der Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter der Bahn einigermaßen gelungen. Das will niemand klein reden und das
Horst Friedrich ({3})
redet auch niemand klein. Das kann uns aber doch nicht
daran hindern, kritisch zu hinterfragen, wie es mit den
anderen beiden Zielen aussieht, die mindestens gleichwertig waren,
({4})
nämlich weniger Belastung für den Steuerzahler und
mehr Verkehr auf die Schiene.
Wenn man sich wirklich Gedanken darüber macht, wie
es weitergehen soll, dann muss man sich hier genau überlegen, wie das Zahlenmaterial zustande gekommen ist, auf
das sich Herr Mehdorn noch vorgestern bezogen hat. Er
hat gesagt, die Schiene habe im Personenverkehr von
1993 bis heute einen Zuwachs von 11 Prozent aufzuweisen. Ich empfehle einen Blick in das schon zitierte Büchlein „Verkehr in Zahlen“. Wenn man sich die Seite 213
anschaut, wird man feststellen, dass es bestenfalls von
1994 auf 1995 einen Zuwachs gab. In der Fußnote auf
der Seite 212 steht jedoch: „Ab 1995 Neuberechnung der
Personenverkehrszahlen durch die Deutsche Bahn AG“.
Von 1995 bis jetzt das alte Lied: Von da an ging es nämlich bergab. Wenn man schon statistische Daten erfasst
und sie vergleicht, dann muss man auch konsistente
Zeiträume heranziehen. Man darf keine Kunstzahl aus
dem Jahre 1993 nehmen und sie mit der entsprechenden
Größe von heute vergleichen, wenn man inzwischen die
Berechnungsart verändert hat.
Die gleiche Argumentation gilt natürlich auch für die
sehr monokausale Kette, man müsse nur die anderen
Verkehrsträger kräftig verteuern, damit die Schiene im
Güterbereich eine Chance hat. Herr Kollege Weis, wenn
das so wäre, dann müsste der Güterverkehr auf der
Schiene seit 1998 geradezu explodiert sein; denn durch
Ihre Politik ist die Belastung für den Verkehrsträger
Straße um sage und schreibe 14 Milliarden Euro angewachsen, wobei die Maut hier noch gar nicht eingerechnet ist.
({5})
- Herr Kollege Fischer, sie ist um 14 Milliarden Euro
auf derzeit 50 Milliarden Euro angewachsen.
Was ist aber die Sachlage? Schauen wir einmal näher
hin. Der Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene hat
von 15,7 Prozent auf 14,2 Prozent abgenommen. Das
Gegenteil ist also passiert. Man kann nun natürlich etwas
tun: Man kann so lange an der Kostenschraube für die
anderen Verkehrsträger - darin bezieht man dann die
Billigflieger mit ein - drehen, bis es irgendwann vielleicht doch zu einer Bewegung kommt. Dann muss man
allerdings auch fragen, welcher gesamtwirtschaftliche
Schaden entsteht, wenn man andere Verkehrsträger kontinuierlich verteuert, nur damit irgendeiner irgendwann
vielleicht einmal besser wird.
Es muss doch geradezu aufweckend sein, dass selbst
Herr Mehdorn vorgestern zugegeben hat, dass er Probleme hatte, die Zuwächse des letzten Jahres, die dadurch zustande kamen, dass für die Binnenschifffahrt zu
wenig Wasser in den Flüssen war, zu bewältigen, und
dass vieles davon auf der Straße gelandet ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, man muss sich
doch tatsächlich fragen, wie man denn bei der Erstellung
des Bundesverkehrswegeplanes ernsthaft annehmen
kann, bis 2015 auf der Schiene eine Steigerung um
100 Prozent hinzubekommen.
({6})
Sie machen sich doch selbst etwas vor, ohne zur Kenntnis zu nehmen, was notwendig ist.
Hier sind wir beim eigentlichen Punkt: Eine diskriminierungsfreie Öffnung des Netzes ist notwendig. Herr
Kollege Weis, das ist bei uns nicht erst seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 ein Thema.
({7})
Dass allerdings ausgerechnet Sie den Finger heben und
sagen, wir hätten das damals nicht umgesetzt, ist natürlich pfiffig. Wenn ich mich nämlich recht erinnere, dann
sind bestimmte Bedingungen der Bahnreform damals
nur deswegen nicht umgesetzt worden, weil die SPD unter dem Druck der Grundgesetzänderung über die Länderkammer bestimmte Stellschrauben festgezurrt hatte,
wodurch eine klare ordnungspolitische Ausrichtung, die
in der Vorlage der Regierungskommission Bahn zum
Ausdruck kam und die auch wir befürwortet haben, verhindert wurde.
({8})
Wer eine Kombination aus Markt und Marx ins Gesetz
schreibt, der erhält Murks und keine ordnungspolitische
Klarheit. Genau das ist die Realität, von der wir jetzt
ausgehen müssen.
({9})
Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Bahn jetzt
sagt: Wer nicht glühenden Herzens und vollen Mundes
alles das lauthals nachschreit, was wir vorgeben, der ist
gegen die Bahnreform und gegen die Bahner und der redet die Erfolge klein. Das ist doch Unsinn. Niemand
macht das. Aber ich lasse mir weder von Herrn Mehdorn
noch von sonst jemandem verbieten, berechtigte sachliche Kritik, die sich auf Fakten stützt, vorzutragen.
Diese Kritik soll dazu beitragen, das Thema weiter zu
diskutieren und Probleme aufzuzeigen, um an den richtigen Stellschrauben zu drehen.
Wie notwendig Wettbewerb und Öffnung tatsächlich
sind, zeigt die Diskussion über unseren zweiten Antrag:
die Vergabe eines Gutachtens zu Fahrgastrechten auf
der Schiene. Es ist geradezu abenteuerlich: Die Frau
Staatssekretärin kommt in den Ausschuss und erzählt
frohen Herzens, der Gutachterauftrag sei in öffentlicher
Ausschreibung an Herrn Freise vergeben worden. Beworben hat er sich als Professor der Universität zu
Frankfurt. Dort ist er auch Professor, einmal die Woche
hält er dort eine Vorlesung.
({10})
Horst Friedrich ({11})
Im Hauptberuf ist er aber Geschäftsführer der Deutschen
Verkehrs-Assekuranz. Sie ist zu 75 Prozent eine Tochter
der Deutschen Bahn AG, die restlichen 25 Prozent werden vom Sozialwerk der Bahngewerkschaften finanziert.
Wie so jemand bei aller fachlichen Akzeptanz in der
Lage sein kann, ein neutrales Gutachten in der Abwägung zwischen Ansprüchen der Fahrgäste und der Bahn
zu erstellen, hat sich mir bisher noch nicht erschlossen.
({12})
Dankenswerterweise hat Herr Freise zumindest die
Größe gehabt, vor diesem Hintergrund den Gutachterauftrag zurückzugeben. Jetzt müssen wir dafür sorgen,
dass dieser Fehler nicht wiederholt wird. Ich habe inzwischen gehört, wer sich unter anderem um diesen Auftrag
beworben hat, nämlich die Allianz pro Schiene. Dazu
kann ich nur sagen: Wir kommen vom Regen in die
Traufe. Es muss deutlich gemacht werden: Wer diesen
Gutachterauftrag bekommt, der muss tatsächlich unabhängig sein. Dann können wir gern über den Inhalt reden. Das zeigt eigentlich, wie notwendig klare ordnungspolitische Grundausrichtungen sind, sonst kann es nichts
werden. Das ist die politische Aufgabe.
({13})
Das werden wir in der Anhörung am 29. März deutlich
machen. Dann bin ich gespannt, Herr Kollege Danckert,
was Sie dazu sagen.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zehn Jahre Bahnreform - das ist weder ein
Grund zum Jammern noch zum Jubeln. Es ist der Anlass
für eine ehrliche und, wie ich meine, durchaus selbstkritische Zwischenbilanz. Genau das will ich hier versuchen.
Zu den wichtigsten Pluspunkten dieser Zwischenbilanz gehört aus unserer Sicht erstens die Umwandlung
der früheren Behördenbahn - nach der schwierigen Integration der Reichsbahn in die Bundesbahn - in ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen. Das hat unbestreitbar große Fortschritte in der Produktivität
ermöglicht. Dabei streite ich mich hier nicht um Zahlen.
Vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren
und sind es, die hier Gewaltiges geleistet haben, und
zwar zum Teil oft unter großen persönlichen Opfern. Ich
bin froh, dass wir alle zusammen der Auffassung sind,
dass ihnen der Dank und die Anerkennung des ganzen
Hauses gebührt.
({0})
Ich stelle fest, dass wechselseitig keine Aufregung besteht, sodass der Fortsetzung der Rede des Kollegen
Schmidt nichts im Wege steht.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der
Vollzug der Bahnreform. Diese Reform hat den Bundeshaushalt und damit auch den Steuerzahler in erheblichem Umfang entlastet.
({0})
Dies war eines der Hauptziele der Bahnreform. Helmut
Schmidt hat damals gesagt: Bundesbahn oder Bundeswehr - beides zugleich kann man sich eigentlich nicht
leisten.
({1})
Ich will mich nun nicht darüber streiten, ob der Bundeshaushalt um 108 oder nur um 50 Milliarden Euro entlastet worden ist. Eines steht fest: Die Entlastung für den
Haushalt ist deutlich höher, als 1993 vorhergesagt
wurde. Das ist ein Erfolg.
({2})
Dritter Punkt. Dank gewaltiger Investitionen, in Strecke wie in neue Züge, ist die Bahn heute leistungsfähiger
und moderner als vor zehn Jahren. Allein unter der
Amtszeit dieser Regierung seit 1998 wurden die Schienenbaumittel von damals unter 5 Milliarden DM auf
ein Rekordniveau von zuletzt, im Jahr 2003, 4,5 Milliarden Euro gesteigert.
({3})
Der damit erreichte Fortschritt ist von den Kundinnen
und Kunden jeden Tag buchstäblich „erfahrbar“.
({4})
Das heißt nämlich: moderne Streckentechnik und komfortablere Fahrzeuge, insbesondere im Nahverkehr. Das
ganze alte Gerümpel ist von der Schiene. In vielen Städten gibt es neue und attraktive Bahnhöfe. Darauf kann
und darauf darf man stolz sein.
({5})
Der vierte Pluspunkt. Im Nahverkehr konnte das
Zugangebot um 20 Prozent gesteigert werden. Die Verkehrsleistung ist meines Erachtens, nach Durchsicht aller kritischen statistischen Veränderungen, durchaus gewachsen. Ich streite mich nicht um Zahlen, aber es hat
ein erhebliches Wachstum gegeben. Voraussetzung dafür
sind allerdings auch die enormen Regionalisierungsmittel, die der Bund jedes Jahr zur Verfügung stellt.
({6})
Auch diesen Posten haben wir unter Rot-Grün auf heute
knapp 7 Milliarden Euro pro Jahr erhöht und sogar bis
2007 dynamisiert. Ich kenne kein einziges Bundesgesetz, das dermaßen großzügig ist wie das Regionalisierungsgesetz.
({7})
- Eine einmalige kleine Delle in Höhe von 2 Prozent ist
verkraftbar.
({8})
Es ist richtig, dass wir erhöht haben und dynamisieren,
denn im Nahverkehr wird jeden Tag die Schlacht geschlagen. Dort sind jeden Tag über 5 Millionen Fahrgäste unterwegs. 90 Prozent aller Bahnfahrerinnen und
Bahnfahrer sind im Nahverkehr unterwegs, auf dem Weg
zur Arbeit oder im Freizeitverkehr. Dort wird von der
DB-Regio, aber zunehmend auch von anderen Bahnen
der Hauptumsatz jeden Tag gemacht. Jetzt sage ich all
den Schlaumeiern, die behaupten, das sei zu viel Geld
für die Schiene: Stellen Sie sich bitte einmal einen Moment vor, diese 5 Millionen Fahrgäste pro Tag allein im
Nahverkehr würde man zusätzlich auf den Straßen unserer Innenstädte, unserer Ballungszentren und auf den
Pendlerstrecken wiederfinden. Das wäre der Dauerstau.
Das wäre das Ende der Mobilität auch auf der Straße.
({9})
Deshalb ist das ein Erfolg.
Fünfter Punkt. Es gab Fortschritte bei der Herstellung
von Chancengleichheit. Das ist in erster Linie unser politischer Job gewesen. Wir haben Fortschritte erzielt. Ich
nenne die Gleichbehandlung bei den Investivmitteln.
Das ist auch schon vom Kollegen Reinhard Weis angesprochen worden. Ich nenne die Befreiung der Bahn
vom halben Ökosteuersatz von ihren Linienbussen
- die Bahn hat auch Busse -, über die S-Bahn bis hin
zum ICE, was mit jedem Erhöhungsschritt der Ökosteuer einen relativen Preisvorteil zugunsten der Bahn
gebracht hat. Ich nenne die Angleichung der Pendlerpauschale durch die Anhebung auf das gleiche Niveau
wie für den Autofahrer.
({10})
Auch wenn wir jetzt mit Recht verlangen, die Pendlerpauschale insgesamt zu senken, so wird es eine Rückkehr zur Privilegierung der Autofahrer nicht mehr geben. Das ist vorbei.
({11})
Dem aber stehen ernüchternde Ergebnisse in anderen
Bereichen gegenüber, die ich genauso deutlich benennen
möchte. Erster Punkt. Das Hauptziel der Bahnreform
- das ist wiederholt angesprochen worden -, nämlich
mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu holen,
wurde, anders als im Nahverkehr, im Fernverkehr und
im Güterverkehr nicht oder nur ungenügend erreicht.
Auch die Umsatzentwicklung in diesen Segmenten stagniert seit Jahren.
({12})
Durch hausgemachte Fehler im Bahnmanagement, besonders durch das verkorkste Fahrpreissystem des letzten Jahres, wurden zusätzlich Umsatzeinbrüche verursacht, deren Behebung jetzt Zeit und zusätzlichen
Aufwand kostet.
Zweiter Punkt. Ich sage selbstkritisch dazu - Ihre Minister waren da nicht unbeteiligt -: Es wurde zu lange zu
viel Geld in einige wenige überteuerte Großprojekte
unter Vernachlässigung des Bestandsnetzes in der Fläche
gesteckt.
({13})
Das haben wir ein Stück weit korrigiert, aber es belastet
uns noch.
Ein dritter Punkt, der selbstkritisch zu sehen ist: Der
mit der Bahnreform eingeschlagene Weg zu selbstständig operierenden Transportgesellschaften im Nahverkehr, Fernverkehr und Güterverkehr wurde zugunsten
einer immer zentralistischeren Konzernstruktur verlassen. Das halte ich für eine fatale Fehlentwicklung.
({14})
Vierter Punkt. Auch die Absicht, durch mehr Wettbewerb mehr Leben in die Bude zu bringen, also mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, wurde nur unzureichend umgesetzt.
({15})
Ich möchte aber hinzufügen: Wenn ich unsere Nachbarländer sehe, dann stelle ich fest, dass die Situation dort
noch viel schlechter als bei uns ist. Da müssen wir uns
nicht verstecken.
({16})
- Ganz richtig. Da stimme ich ausdrücklich zu. Fünfter Punkt. Der Schuldenstand ist schon angesprochen worden. Den sehe ich genauso wie andere Kollegen auch mit Sorge.
Albert Schmidt ({17})
Was bleibt nach dieser durchwachsenen Bilanz zu
tun? Die Weichen müssen noch konsequenter nicht nur
pro Bahn, sondern pro Schiene gestellt werden. Denn
viele Unternehmen sollen dort erfolgreich arbeiten können.
({18})
Erstens. Die Bahn muss pünktlicher und vor allem im
Kommunikationsstil gegenüber dem Kunden freundlicher werden. Was wir zum Teil in letzter Zeit gehört
haben, grenzt an Kundenbeschimpfung. Das muss aufhören.
({19})
Zweitens. Durch einen verbesserten Marktzugang
auch für andere Bahnunternehmen kann und muss mehr
Dynamik entstehen. Die Novellierung des Allgemeinen
Eisenbahngesetzes, die längst überfällig ist,
({20})
wird hoffentlich ein wichtiger erster Schritt in diese
Richtung sein.
Drittens. Das sage ich in allem Ernst, liebe Kolleginnen und Kollegen: Hände weg vom Schienen- und vom
Bahnetat!
({21})
Das ist kein Steinbruch zur Haushaltssanierung. Es gibt
keinen sachlichen Grund für einen Stillstand oder Rückschritt bei der Modernisierung der Infrastruktur oder der
Fahrzeuge. Notwendig ist vielmehr eine Verstetigung
der Bundesmittel auf dem von uns erreichten hohen Niveau. Dafür kämpfen wir.
({22})
Angesichts der knappen Kassen weise ich aber auch
darauf hin - ich bin kein Illusionist; ich gelte als Realpolitiker -: Wir müssen von überteuerten Lieblings- und
Prestigeprojekten Abschied nehmen. Auch das gehört
zur selbstkritischen Bestandsaufnahme.
({23})
Ich will an dieser Stelle die einzelnen Projekte nicht
nennen, um keinen Zoff anzufangen, aber die betreffenden Herrschaften wissen sehr genau, was gemeint ist.
({24})
Ich kann die Sorge des Vorstandsvorsitzenden der
Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, um ausreichende Bundesmittel für das Schienennetz durchaus
nachvollziehen.
({25})
Auch wir kämpfen dafür, dass die Bahn über ausreichende Mittel verfügen kann.
Aber eines kann ich nicht nachvollziehen: Warum
will der Bahnvorstand den Hauptbremsklotz für seine
Unternehmensbilanz - nämlich das Netz - unbedingt im
Konzern behalten?
({26})
Der Streckenausbau und -neubau wird immer vom
guten Willen des Finanzministers, von den politischen
Mehrheiten und zum Teil sogar von der Unfähigkeit der
deutschen Industrie abhängig sein, die in einem Konsortium namens Toll Collect mittelbar negativen Einfluss
auf die Bilanz der Deutschen Bahn AG im Jahr 2004
ausübt. Warum um Himmels willen will man diese Abhängigkeiten zementieren, statt sie aufzulösen? Das verstehe ich nicht.
({27})
Ich glaube, der integrierte Börsengang würde eine
solche Zementierung bedeuten. Das wäre so, als würde
man die Unternehmensbilanzen der LKW-Spediteure
vom Straßenbauetat des Bundes abhängig machen. Das
aber geht schief.
Notwendig ist, das Unternehmen Bahn für die Beteiligung privaten Kapitals attraktiv zu machen. Darin teile
ich die Auffassung des Kollegen Reinhard Weis völlig.
Das bedeutet aber die konsequente Weiterentwicklung
einer Unternehmensstruktur, die auch zielführend ist.
Das Streckennetz wird immer - wie auch das Straßennetz - ein Zuschussgeschäft sein.
({28})
Das Streckennetz ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Das
heißt, Infrastruktur muss auch dort vorgehalten werden,
wo sie sich nicht unbedingt rechnet. Das Streckennetz ist
als Renditeobjekt für private Anleger ungeeignet. Denn
anders als mildtätige Einrichtungen wollen sie ihr Kapital verzinst sehen.
({29})
Das aber ist bei Beteiligungen öffentlicher an Infrastruktur nicht zu erwarten.
Mit dem Transportgeschäft dagegen lässt sich, wenn
man es richtig macht, Geld verdienen.
({30})
Deshalb liegt es für mich in der Logik der Bahnreform, die Transportgesellschaften schrittweise zu privatisieren, das Eigentum an der Infrastruktur aber in der
öffentlichen Hand zu halten. Was die Regionalnetze angeht, könnten das durchaus die Länder sein, die auch den
Verkehr auf diesen Netzen bestellen und sehr gut geeignet wären, ihre eigenen Netze zu bekommen.
Albert Schmidt ({31})
({32})
Ein überstürzter Börsengang nach einem falschen
Modell, erkauft durch einen halben Investitionsstopp des
Konzerns bei der Infrastruktur und bei der Fahrzeugbeschaffung zur Erreichung schwarzer Zahlen auf Teufel
komm raus, hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil: Er richtet Schaden an.
Deshalb liegt es in unserer gemeinsamen Verantwortung, die Weichen richtig zu stellen und darüber hinaus
für mehr Chancengleichheit für alle Bahnen gegenüber
den anderen Verkehrsträgern zu sorgen. Das heißt für
mich: Weg mit dem Mehrwertsteuerprivileg im grenzüberschreitenden Luftverkehr! Schluss mit dem Skandal
der einseitigen Privilegierung des Luftverkehrs bei der
Kerosinsteuer!
({33})
Das schadet übrigens auch dem Autoverkehr.
Weg mit den rechtlichen und technischen Grenzbarrieren innerhalb der Europäischen Union!
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. - Für
mich besteht der nächste Schritt - neben der Einführung
der LKW-Maut, mit der die Waffengleichheit mit dem
Güterzug hergestellt wird - konkret in der Halbierung
der Mehrwertsteuer für den Fernverkehr, wie es in anderen europäischen Ländern längst der Fall ist. Dieses
Preissignal verstehen die Kunden; es hilft ihnen bei der
Kaufentscheidung.
Es gibt viel zu tun - für den Vorstand, aber auch für
uns in der Verkehrspolitik. Lassen Sie uns das Thema
diskutieren, aber nicht zu lange! Packen wir es an!
({0})
Nun hat der Kollege Eduard Lintner für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war auf
der Veranstaltung der Parlamentsgruppe „Schiene“,
({0})
die schon mehrfach angesprochen worden ist und auf der
darüber geklagt worden ist, dass die Bahnreform zu
schlecht gemacht werde und dass die positiven Ergebnisse zu wenig gewürdigt worden seien. Deshalb möchte
ich als einleitenden Satz anmerken, dass die Bahnreform
als Konzeption und grundsätzliche ordnungspolitische
Entscheidung richtig war und durchaus einen Erfolg darstellt. An diesem Erfolg haben damals sehr viele mitgewirkt:
({1})
neben der damaligen Bundesregierung alle Fraktionen
dieses Hauses außer der PDS, der Bundesrat, die Eisenbahner, und zwar sowohl vor als auch nach 1993, und
auch die für die Bahn zuständigen gewerkschaftlichen
Organisationen. Das sei nochmals in Erinnerung gerufen.
Der Erfolg liegt auch darin, dass das Riesenschiff Deutsche Bahn durch die vorgenommene prinzipielle Weichenstellung auf einen zukunftsträchtigen Kurs gelenkt worden ist. Das ist ein ordnungspolitischer Erfolg - das wollen
wir durchaus anerkennen -, um den uns heute viele andere Länder beneiden, die einen solchen radikalen
Schritt bis heute nicht gewagt haben, die sich aber darüber im Klaren sind, dass sie ihn in den nächsten Jahren
gehen müssen. Ich kann außerdem bestätigen, dass das
Erscheinungsbild der Bahn in vielen Bereichen durchaus
attraktiver geworden ist. Aber das ändert nichts daran,
dass damals viele Mittel, die der Bund zur Verfügung gestellt hat, nicht abgerufen worden sind. Herr Kollege
Schmidt, wenn Sie gebetsmühlenartig darauf hinweisen,
({2})
dass seinerzeit weniger Geld zur Verfügung gestellt worden sei als in den letzten Jahren, dann muss ich Ihnen sagen, dass das nicht zutreffend ist; denn Sie verschweigen
den anderen Teil der Wahrheit, dass das Geld zwar, wie
gesagt, vorhanden gewesen ist, dass es aber von der
Bahn nicht verbaut bzw. verplant werden konnte.
({3})
Wenn wir schon dabei sind, Bilanz zu ziehen, möchte ich
noch darauf hinweisen, dass Sie auf dem besten Wege
sind, die Mittel für die Bahn auf unter 4 Milliarden Euro
zu senken, also unter das, was beispielsweise Herr
Pällmann auf der besagten Veranstaltung als unverzichtbares Minimum bezeichnet hat.
({4})
Wir müssen leider feststellen - der Kollege Fischer
und der Kollege Friedrich haben das bereits erwähnt -,
dass die wesentlichen Zielsetzungen der Bahnreform
heute wieder gefährdet sind. Das liegt auch daran, dass
sie nicht konsequent weiter verfolgt worden ist, Herr
Kollege Weis. Ich wundere mich, dass Sie uns Inkonsequenz bei der Bahnpolitik vorwerfen; denn ich denke,
dass wir in diesem Bereich ein Muster an Konsequenz
sind.
({5})
Sie sind doch dabei, vom Pfad der Tugend abzuweichen. Bezeichnend ist, dass, als Herr Schmidt für eine
Trennung von Netz und Betrieb plädiert hat, der Beifall nicht nur von der rechten Seite kam, sondern dass
auch einige Ihrer Kollegen geklatscht haben. Das ist ein
deutlicher Hinweis auf die richtige Weichenstellung.
({6})
Bahnchef Hartmut Mehdorn hat beim gestrigen Empfang gesagt, man sei noch lange nicht fertig. Damit hat
er natürlich völlig Recht. Insbesondere sind bis heute
zwei Kernziele nicht erreicht worden: die Stärkung der
Schiene innerhalb des Verkehrsmarktes und die nachhaltige Entlastung des Bundeshaushalts. Die Zahlen sind alles andere als positiv. Der Personenverkehr stagniert im
Großen und Ganzen, und dies auch nur deshalb, weil im
regionalen Bereich deutliche Zuwächse zu verzeichnen
sind. Der Anteil des Güterverkehrs ist mittlerweile von
weit über 20 Prozent auf unter 15 Prozent gefallen. Dazu
ist es deshalb gekommen, weil die Bundesregierung und
insbesondere ihre zahlreichen Verkehrsminister nicht
solche Rahmenbedingungen geschaffen haben, dass die
Bahn hätte loslegen können und in der Lage gewesen
wäre, ungezwungener zu wirtschaften, als sie das tatsächlich tun konnte.
Lassen Sie mich einen Aspekt herausheben, der in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden sollte - er
hat auch bei den Veranstaltungen, die diese Woche stattgefunden haben, eine gewisse Rolle gespielt -: Wir alle
wissen - das ist völlig unbestritten -, dass vor allem der
Gütertransport über längere Strecken eine besonders
starke Seite des Schienenverkehrs ist. Angesichts dessen
ist Deutschland fast zu klein. Die Bahn hat deshalb ein
ganz elementares Interesse daran, Güter auch über
Staatsgrenzen hinweg möglichst reibungslos transportieren zu können.
Im Gegensatz zum LKW, der innerhalb der EU heute
praktisch jeden Punkt, ohne anzuhalten, anfahren kann,
dürfen die Züge der Deutsche Bahn nicht einfach nach
Frankreich oder nach Italien fahren, sondern sie müssen
vorher zahlreiche Hindernisse überwinden. Soweit diese
technischer Art sind, handelt es sich um etwas Lästiges,
was bewältigt werden muss; darin sind wir uns einig.
Aber wo ein Wille ist, ist sicherlich auch ein Weg.
Dieser Wille hat bis heute im Hinblick auf die Öffnung der nationalen Schienennetze für die ausländische
und für die inländische Konkurrenz gefehlt. Deutschland
hat seine Schienenwege geöffnet und andere wichtige
europäische Länder sind ihm dabei bis heute leider nicht
gefolgt. Frankreich leistet noch immer ganz hartnäckigen Widerstand, wenn es um die Liberalisierung des Zugangs zum eigenen Schienennetz geht.
Das Ganze wäre aus unserer Sicht vielleicht nicht so
dramatisch, wenn sich die SNCF, die staatliche französische Eisenbahngesellschaft, über Tochterfirmen hier bei
uns nicht wie der Hecht im Karpfenteich verhielte, während unserer Bahn andererseits nicht erlaubt wird, in
Frankreich tätig zu werden.
Solange der von mir kurz beschriebene Zustand anhält, ist es einfach nicht zu erwarten, dass die Bahn in
der Lage ist, im internationalen Güterverkehr, beispielsweise dem LKW, Paroli zu bieten. Faktisch ist es doch
so, dass heute Züge der Bahn, etwa an der Grenze zu
Frankreich oder innerhalb Frankreichs, tagelang stehen
und dass damit natürlich jegliche Verlässlichkeit, was
die Transportzeit, die Pünktlichkeit usw. angeht, verloren geht. Damit wird dem LKW ein ganz entscheidender
Vorteil verschafft, der bis heute leider nicht beseitigt
worden ist.
An dieser Stelle setzt mein Vorwurf gegenüber der
Bundesregierung an. Wir beklagen diesen Zustand seit
Jahren; dennoch hat sie es versäumt, innerhalb der EU
mit Nachdruck auf eine Änderung dieser Situation hinzuwirken. Vielmehr hat man in einer Art Kuhhandel
Kompromisse zugunsten bestimmter Branchen geschlossen. Einen solchen Kompromiss ist man beispielsweise
zugunsten des Bergbaus und zulasten des Verkehrs und
damit der Bahn eingegangen.
Das - bereits erwähnte - neue EU-Eisenbahnpaket
enthält die Vorgabe der Liberalisierung bis 2006. Dies
droht dadurch stark verwässert zu werden, dass man
versucht, diesen Termin bis zur Liberalisierung der nationalen Netze, also um Jahre, hinauszuschieben. Nicht
umsonst hat Herr Mehdorn den Vertretern der Bundesregierung auf dem gestrigen Empfang gesagt, dass die Öffnung der Grenzen ein wesentlicher Faktor für den Erfolg
der Bahn sei. Darin ist ihm zuzustimmen. Wiederum an
die Vertreter der Bundesregierung gewandt, sagte er, sie
müssten mit eiserner Hand als Vertreter Deutschlands in
Brüssel dafür eintreten, dass der Termin der Liberalisierung eingehalten wird.
Wie Sie sehen, wird die Dramatik in dieser Angelegenheit gar nicht von der Opposition erzeugt, sondern
von denen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen zu
leiden haben, nämlich von den Vertretern der Deutschen
Bahn. Die Bundesregierung muss sich hier Versäumnisse vorhalten lassen. Ich hoffe, dass sie die Chance, die
sich bei den Verhandlungen wieder ergibt, entschlossener ergreift, als sie es in der Vergangenheit getan hat.
Ein weiterer Kernpunkt war die Frage der Zuschüsse
aus dem Bundeshaushalt. Es geht darum, wie die Bahn
in die Lage versetzt werden kann, wirtschaftlichere Ergebnisse zu erzielen. Wie bereits betont worden ist,
spielt die Wettbewerbsfähigkeit dabei eine große Rolle.
Hier muss die Bahn aber auch die Bereitschaft haben,
sich diesem Wettbewerb ehrlich zu stellen.
Ich möchte jetzt nicht auf die grundsätzlichen Aspekte eingehen. Eines aber ist mir bei der Diskussion der
letzten Tage aufgefallen: Die Bahn lässt sich offenbar
von Investmentbankern ausrechnen, was zu erwarten
wäre, wenn sie die materielle Privatisierung, also den
Börsengang, in der Einheit von Netz und Betrieb betreibt. Sie weigert sich aber hartnäckig, dieselbe Rechnung auch für die Konstruktion „Trennung von Netz und
Betrieb“ anstellen zu lassen.
({7})
Nun frage ich Sie: Können wir es verantworten, insbesondere der Bund als Eigentümer der Bahn, dass eine
so schwer wiegende Entscheidung auf der Grundlage unvollkommener Erkenntnisse bzw. Informationen getroffen wird? Es wäre doch insbesondere aufgrund der bestehenden kontroversen Meinungslage das Mindeste,
von der Bahn zu fordern, dass sie neben der Variante
„Netz und Betrieb“ auch die Variante „Trennung von
Netz und Betrieb“ prüfen lässt. Dann wäre eine Grundlage gegeben, auf der wir und möglicherweise auch sie
selbst ehrlich beurteilen könnten, was der richtige Weg
ist.
Ich sage Ihnen heute schon: Wenn die Bahn diese Alternative tatsächlich nicht untersuchen lässt, was leider
zu erwarten ist, dann ist es die Pflicht der Bundesregierung, diese Variante prüfen zu lassen.
({8})
- Von neutralen Gutachtern, selbstverständlich, Herr
Kollege Friedrich. - Nur dann sind wir in der Lage, eine
vernünftige Entscheidung zu treffen.
({9})
Herr Kollege, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist.
Ich bin dabei zum Schluss zu kommen, Herr Präsident.
Aus diesen Worten mögen Sie erkennen, dass wir
weiterhin bereit sind, konstruktiv, kritisch, aber auch
zielorientiert das weitere Schicksal der Bahnreform zu
begleiten.
({0})
Wir werden aber sehr darauf achten - das ist einer der
Punkte, an denen das ganz deutlich wird
Nein, Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich bitten,
den Schluss nicht nur anzukündigen, sondern ihn auch
zu vollziehen.
({0})
- sofort, Herr Präsident -, ob Sie es mit der Bahnreform ehrlich meinen oder nicht.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herrn Lintner kann man eigentlich nur beglückwünschen für diese in vielen Phasen wohltuend gute
Rede. Ich werde gleich darauf zurückkommen, weil er
einen sehr wichtigen Punkt angesprochen hat; denn ich
denke, die offenen Grenzen sind für das, was wir vorhaben, das A und O.
Ich will zu Beginn ganz kurz etwas zum Haushalt sagen. Wir haben objektiv Probleme. Das hat mit der Maut
zu tun, das hat aber auch mit dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss zu tun. Es hat damit zu tun, dass es zwei
Ministerpräsidenten gibt - der eine heißt Koch, der andere heißt Steinbrück -, die sich etwas ausgedacht haben, was zulasten der Bahn geht.
Ich habe immer ein bisschen das Gefühl, dass Sie
diese Herren gar nicht kennen.
({0})
Wir werden uns damit befassen müssen.
({1})
- Die FDP kann sich zurücklehnen; das stimmt. - Ich
stimme dem Subventionsbegriff dieser beiden Herren
nicht zu. Ich denke, dass wir darüber reden müssen.
Vor einigen Tagen haben wir den zehnjährigen
Geburtstag der DB AG begangen. Ich werte den Antrag der CDU/CSU und der FDP als eine Art Wortmeldung zum Geburtstag. Für eine Glückwunschkarte hat es
nicht ganz gereicht.
Für eine Opposition ist das auch nicht ganz einfach,
sie ist in einer Art Zwickmühle: Es darf auf keinen Fall
der Eindruck hinterlassen werden, dass es nicht so
schlecht läuft, wie man es sich gewünscht hat. Auf der
anderen Seite muss man natürlich alles vermeiden, was
auch nur ansatzweise darauf hindeuten könnte, dass man
die eigene Reform infrage stellt.
Ich habe dieses Problem nicht, ganz abgesehen davon, dass ich, als die Bahnreform beschlossen wurde,
noch nicht im Parlament war. Ich kann nur sagen: Es war
eine richtige Reform, es war eine gute Reform, es war
eine der wichtigsten Reformen dieses Landes. Nach
zehn Jahren kann man auch sagen: Die Reform war
überfällig. Sie war für die Entwicklung des Verkehrsmarktes wichtig. Ich bin froh darüber und stolz darauf,
dass meine Partei dabei war.
({2})
Ich teile das, was Herr Friedrich gesagt hat, nicht. Er
hat gemeint, der Kompromiss sei letztlich Murks; Marx
und Markt könne man nicht miteinander verbinden.
({3})
- Sie können nachher nachlesen, was Sie gesagt haben,
Herr Friedrich.
({4})
Vielleicht haben Sie jetzt auch einen falschen Eindruck
hinterlassen. - Ich denke jedenfalls, dass diese Reform
richtig und gut war.
Die Reform ist nicht vollendet. Vor allem was die
Verlagerung von der Straße auf die Schiene angeht, haben wir alle uns mehr erhofft. Das hat nicht nur mit den
absoluten Zahlen zu tun, sondern das hat vor allem mit
dem Modal Split zutun. Da gibt es - da beißt die Maus
doch überhaupt keinen Faden ab - große Enttäuschung.
({5})
Da sollten wir aber auch fair sein. Wir können das nicht
der DB AG allein anlasten.
({6})
Verlader und Spediteure, egal ob zu Wasser, zu Lande
oder in der Luft, gehören in der Regel nicht zu den Romantikern.
({7})
Für sie zählen Preis und Zuverlässigkeit als Kombination, fast sogar symbiotisch.
({8})
Ich hatte das Vergnügen, neulich im Musterland der
Schienenwege, in der Schweiz, an einer internationalen
Tagung teilzunehmen. Dort hat man versucht, sein Sorgenkind darzustellen. Das Sorgenkind ist trotz der
Schwerverkehrsabgabe der grenzüberschreitende Güterverkehr. Man hat Probleme mit der Pünktlichkeit.
Genau das bedrückt und ärgert auch uns hier am meisten. Deshalb sind die Spediteure und Verlader hier sehr
zurückhaltend - bei allen kleinen und vielleicht auch allen größeren Erfolgen, die wir haben, vor allem im kombinierten Verkehr. Die Alternative ist ganz einfach - wir
alle wissen das im Grunde -: Entweder gibt es für den
Schienenverkehr offene Grenzen oder der Schienenverkehr, vor allem der Güterverkehr, wird zweite Wahl bleiben.
({9})
Das erste Eisenbahnpaket stammt aus dem Jahr 1991.
Was die formale Umsetzung angeht, sage ich hier nur:
Asche auf unser Haupt. Ich denke aber, dass wir nicht
die Letzten sein werden, die das für sich sagen müssen.
({10})
Sie wissen, dass derzeit ein Gesetzentwurf in der Länder- und Verbändeanhörung ist.
Was die faktische Umsetzung angeht: Wir haben unser Netz geöffnet. Fast 300 Unternehmen fahren auf dem
Netz der DB AG. Der übliche Einwand, dabei handele es
sich nur um Museumsbahnen, ist - Sie wissen das auch falsch. Der Großteil der Unternehmen, die darauf fahren,
hat nichts mit dem Freizeitgedanken zu tun.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
mit Ihrem Antrag rennen Sie zum Teil offene Türen ein.
({11})
Sie unterstellen aber auch so etwas wie Verrat an der
Bahnreform.
({12})
Das Gegenteil ist der Fall.
Zur Vollendung der Bahnreform gehört auch das Erreichen der Kapitalmarktfähigkeit. Dazu zitiere ich
einmal sehr verkürzt den Aufsichtsratsvorsitzenden
Dr. Frenzel,
({13})
der gestern eigentlich nur gesagt hat: Was denn sonst?
({14})
Ich kann das hier nur unterstreichen.
Der Antrag enthält einige Detailforderungen für den
Fall des Börsengangs. Deshalb möchte ich an dieser
Stelle Folgendes noch einmal sehr deutlich machen:
Nichts wird aus dem Handgelenk entschieden. Für einen
solchen Schritt brauchen wir, wie damals bei der Bahnreform, gute und verlässliche Informationen sowie einen
gesellschaftspolitischen Konsens.
({15})
Das betrifft auch die Entscheidung des Eigentümers
über einen möglichen Börsengang. Nach wie vor bleibt
das grundlegende Ziel, die DB AG börsenfähig zu machen. Priorität hat dabei die Herstellung der Kapitalmarktfähigkeit des Unternehmens. Erst wenn diese
Grundvoraussetzung erfüllt ist, kann über einen Börsengang entschieden werden. Das Bundesministerium für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ist ja nicht das einzige Ressort - wenn auch das wichtigste -, das daran beteiligt ist. Es sind deshalb jetzt gemeinsame Arbeitsgruppen der Ressorts und der DB AG gebildet worden. Wir
nehmen dabei die verfassungsrechtliche Verantwortung,
die der Bund für das Schienennetz hat, sehr ernst.
Meine Damen und Herren, die Task Force „Zukunft
der Schiene“ hat nach sorgfältiger Prüfung Empfehlungen abgegeben, unter anderem die Empfehlung, das Unternehmen nicht aufzuspalten, sondern als Holding bestehen zu lassen. Ich glaube, dass in diesem Punkt der
meiste Dissens zwischen uns besteht.
Ich würde mich freuen - das ist jetzt nicht als Angebot von oben herab, sondern als freundliche Aufforderung zu verstehen -, wenn wir unaufgeregt, in gegenseitigem Respekt und ohne Vorbedingungen - es wird ja
immer wieder versucht, solche hier hereinzubringen über das gemeinsame Ziel, nämlich den erfolgreichen
Abschluss der Bahnreform, miteinander sprechen könnten. Ich stehe Ihnen hierfür jederzeit zur Verfügung. Ich
würde mich freuen, wenn Sie darauf eingehen würden.
Ich glaube, dass wir wie damals bei der Bahnreform gemeinsam vorgehen sollten. Noch ist es nicht so weit. Im
Moment werden wir nichts entscheiden. Erst brauchen
wir gute Informationen, bevor wir etwas entscheiden.
Diese werden wir Ihnen zur Verfügung stellen und wir
sollten sie auch gemeinsam miteinander diskutieren.
({16})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zehn Jahre Bahnreform - man
muss, wie ich glaube, auch die Sichtweise derer berücksichtigen, für die wir Politik machen, nämlich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und damit auch die
Nutzer des Verkehrsträgers Schiene. Ich als Vielfahrer
bei der Bahn bekomme immer einiges zu hören, wenn
bekannt wird, dass ein Bundestagsabgeordneter im Zug
ist, der auch noch Verkehrspolitik macht.
({0})
So bekommen Sie immer wieder zu hören, dass Reisen
mit der DB AG, also Bahn fahren, immer noch eine moderne Form des Abenteuers ist.
Sie können allerlei mit der Bahn erleben.
({1})
- Ich sehe an Ihren Reaktionen ja, dass auch Sie solche
Gespräche führen. - Es ist ja nicht so, wie es hier von einigen dargestellt wurde, dass alles im grünen Bereich sei
und alles wunderbar laufe, man nur mit der Privatisierung nicht ganz zurechtkomme. Sie müssen einfach einmal sehen, was im Betrieb konkret passiert: Sie bekommen keine Anschlusszüge, weil der eigene Zug laufend
verspätet ist.
Was sich der Kunde von der Bahn wünscht, ist
Verlässlichkeit. Genau das ist das, was das Bahnsystem
in Deutschland nicht bringt. Es ist nicht verlässlich. Als
Nutzer kann man sich bei seinen Planungen nicht darauf
verlassen. Oft sind die Klimaanlagen defekt und die Küchen ausgefallen oder werden nicht bewirtschaftet. So
hat man keine Möglichkeit, sich unterwegs zu versorgen.
Andauernd passieren diese Dinge.
({2})
Insofern ist das, was mit der Bahnreform für die Nutzer
erreicht werden sollte, aus Sicht der Kunden noch lange
nicht erreicht.
({3})
Mit der Bahnreform sind von der Politik bestimmte
Ziele verfolgt worden - wir haben das heute Morgen
schon mehrfach gehört -, beispielsweise mehr Verkehr
von der Straße auf die Schiene zu bringen und eine Entlastung des Bundeshaushaltes zu erreichen. Zum Letzteren ist schon einiges gesagt worden. Ich sage jetzt noch
etwas zur verkehrspolitischen Zielsetzung, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Dieses Ziel ist ja so
nicht erreicht worden. Die Bahn hat immer geringere
Anteile an den Verkehrsleistungen. Wir wollen hoffen,
dass der Erwerb von Stinnes und die Umgestaltung zu
Railion wenigstens im Cargo-Bereich den Durchbruch
bringt, den wir uns alle erhoffen. Dies scheint ein gelungener Zukauf zu sein; wollen wir sehen, wie es sich entwickelt.
Das Erscheinungsbild ist katastrophal.
({4})
Die Preisreform, über die wir, im Übrigen auch im Ausschuss, sehr engagiert diskutiert haben - das ist noch gar
nicht lange her -, war ein klarer Fehlschlag, eine
schlimme Marketingmaßnahme, die zurückgenommen
und jetzt deutlich verbessert wurde.
Zur Verlässlichkeit habe ich einiges gesagt.
({5})
Herr Schmidt hat gesagt, die Qualität der Züge habe
sich verbessert. Bei den Zügen, mit denen ich fahre,
kann ich das nicht feststellen. Der Gipfel war - das habe
ich selber erlebt -, dass das Zugmaterial in einem Fall so
alt war, dass die Lokomotive vor einem Zug gebrannt
hat. Sie müssen sich einmal vorstellen, was das für die
Reisenden bedeutet. Ich habe selber erlebt, dass die freiwillige Feuerwehr das Feuer an der Lokomotive löschen
musste. Meine Damen und Herren, wenn Sie in Bezug
auf die Züge von einem Qualitätsstandard sprechen,
dann müssen Sie auf anderen Strecken fahren als ich.
({6})
Ein schlechter Standard ist das, was die Leute tagtäglich
erleben.
({7})
- Ich finde es gut, wenn bei Ihnen etwas Bewegung bei
diesem Thema ist; das halte ich für richtig.
Wie sieht es mit dem Wettbewerb aus? Wir haben
auf der Schiene keinen Wettbewerb. Es gibt einige andere Betreiber, zum größten Teil auf Nebenstrecken,
kaum auf Hauptstrecken, im Kerngeschäft. Woran liegt
das? Die Deutsche Bahn AG kann kein Interesse daran
haben, Konkurrenz auf die Schiene zu lassen, weil es ihr
unmittelbar schadet.
Es gibt auch keine nachhaltige Entlastung des Bundeshaushaltes. Wir hatten bei der Bahn von 1961 bis
1993 Verbindlichkeiten in Höhe von 34,3 Milliarden
Euro; in der Zeit von 1994 bis Ende 2002 sind schon
wieder 24,5 Milliarden Euro an neuen Schulden bei der
Deutschen Bahn aufgelaufen. Das zeigt, in welcher Rasanz wir hier in eine Schuldenbahn gelaufen sind. Und
das Thema ist noch lange nicht beendet: Das Netz hängt
am Tropf des Bundes und der Nahverkehr hängt am
Tropf der Länder.
({8})
- Genau, beides hängt am Geld des Steuerzahlers. Insofern wird auch der Bundeshaushalt nicht entlastet. Damit
ist für eine Privatisierung, wie sie angedacht wurde,
noch kein Raum. Das Ziel wurde nicht erreicht.
Deswegen muss die Bundesregierung zehn Jahre nach
der Bahnreform eine umfassende Bestandsaufnahme und
Bewertung der Erfolge sowie der vielen Misserfolge der
Reform mittels externer Evaluierung durchführen.
Gleichzeitig bedürfen die verkehrs- und haushaltspolitischen Voraussetzungen und Auswirkungen eines Börsenganges der DB AG einer eingehenden Prüfung. Ich
stimme denjenigen zu, die heute schon gesagt haben,
dass der Deutsche Bundestag frühzeitig beteiligt werden
muss, um die Voraussetzungen für eine breite Unterstützung der zukünftigen Schienenverkehrspolitik zu schaffen, wie sie bereits ursprünglich Grundlage der Bahnreform war.
({9})
Das Wichtigste scheint zu sein, dass der Bund - zumindest mittelbar - Alleineigentümer des Schienennetzes der DB AG bleibt.
({10})
Die verfassungsrechtlich verankerte Verantwortung des
Bundes für die Schieneninfrastruktur muss konkretisiert
und gesichert werden. Ich kann mir natürlich vorstellen,
dass die DB AG gerne das Netz privatisieren möchte was hat sie denn sonst schon an Sicherheiten zu bieten?
Wenn sie für einen Börsengang kapitalmarktfähig werden will, dann muss sie Sicherheiten bieten. Wenn sie
die nicht hat, dann kann sie nicht so privatisiert werden,
wie man sich das gemeinhin vorstellt. Da scheint ein
großes strukturelles Problem in der Politik zu liegen.
Dass Herr Mehdorn das Interesse nicht hat, kann man
nachvollziehen; er ist seinen privatwirtschaftlich orientierten Zielen verpflichtet. Aber wir als Deutscher Bundestag haben andere Ziele im Auge, die wir nur erreichen können, wenn wir die Verantwortung für die
Schieneninfrastruktur weiterhin im Hause behalten. Es
ist eben nicht so, dass, wie oft dargestellt wird, ausschließlich die DB AG zuständig sei; nein, Alleineigentümer ist die Bundesrepublik Deutschland und damit ist
die Regierung in der Verantwortung. Sie sitzt ja auch in
den Aufsichtsräten und kann die Politik der Bahn gut
mitsteuern und mitentwickeln. Das wird leider viel zu
wenig getan.
Deshalb ist eine materielle Privatisierung - auch nur
Teilprivatisierung - der Deutschen Bahn mit Netz abzulehnen. Ein Vorgriff auf zukünftige Gestaltungsmöglichkeiten des Haushaltsgesetzgebers etwa in Form einer
langfristigen Verpflichtungsermächtigung für Infrastrukturinvestitionsmittel muss ausgeschlossen werden.
Benötigt wird eine konsequente Ausrichtung der
Schienenverkehrspolitik darauf, den entscheidenden
Schritt zu einer Wettbewerbsbranche zu vollziehen und
den dazu notwendigen Wettbewerbsrahmen zu schaffen.
Das kann nur dann gelingen, wenn das bundeseigene
Unternehmen Deutsche Bahn AG dazu angehalten wird,
einen ordnungspolitischen Auftrag des Eigentümers unternehmenspolitisch umzusetzen. Kernelement dieses
ordnungspolitischen Auftrags muss sein, den strategischen Ansatz der zweiten und dritten Stufe der Bahnreform wieder aufzugreifen und fortzuführen.
Eine zukünftige Organisationsstruktur der Deutschen
Bahn AG muss, wie im Rahmen der Bahnreform vorgesehen, dem Transparenzgedanken Rechnung tragen. Das
gilt insbesondere für die Unternehmensbereiche, in die
öffentliche Finanzmittel fließen. Direkte oder indirekte
Querfinanzierungen, wie bei der Maut - wenn sie denn
kommt - vorgesehen, sind zu vermeiden.
Als erster Schritt sind die Empfehlungen der Task
Force „Zukunft der Schiene“ unverzüglich umzusetzen,
wobei die Vorgaben des Eisenbahninfrastrukturpakets
der Europäischen Union, das die EU-Richtlinien beinhaltet, strikt beachtet werden müssen. Die Richtlinien
hätten bereits bis zum 15. März 2003 in deutsches Recht
umgesetzt sein müssen. Das haben Sie nicht erreicht; das
liegt noch vor uns. Auch das ist ein großes Versagen der
Regierung.
In einem nächsten Schritt - das ist das Wesentliche muss die Privatisierung der Verkehrsbereiche des DBKonzerns eingeleitet werden. Der danach im Bundeseigentum verbleibende DB-Konzern wird auf die Schieneninfrastruktur reduziert, inklusive aller Einrichtungen,
zu denen alle Wettbewerber in fairer Weise einen Zugang haben müssen.
Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Redezeit.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Die Bahnreform muss nach zehn Jahren neu bewertet
werden. Daraus müssen die richtigen Konsequenzen
zum Wohle des Verkehrsträgers Schiene und damit zum
Wohle aller Bürgerinnen und Bürger gezogen werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Ferlemann, am Anfang meiner Rede
muss ich Ihnen sagen: Es ist mir völlig unverständlich,
wo Sie in Deutschland mit der Bahn fahren.
({0})
Ich glaube, dass Sie den Schwerpunkt eindeutig auf das
Auto legen.
({1})
Sonst hätten Sie gemerkt, dass sich nach zehn Jahren
Bahnreform doch einiges bei der Bahn geändert hat.
({2})
Sie hätten ebenfalls gemerkt, dass in Deutschland eine
brennende Lok nicht der Normalfall ist.
Herr Ferlemann, ich sage Ihnen ganz ehrlich - das ist
hier schon von einigen Rednern angesprochen worden -:
Diese Vorwürfe sind ungerecht gegenüber der Deutschen
Bahn AG und vor allen Dingen gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich in diesem Prozess
nun wahrlich angestrengt haben.
({3})
Das Thema Fahrgastrechte hat den Bundestag in den
vergangenen zwei Jahren wiederholt beschäftigt, zuletzt
vor zwei Monaten. Dies geschah zu Recht; denn ein
Baustein einer Strategie für einen attraktiven öffentlichen Personenverkehr ist die Stärkung des Verbraucherschutzes. Nur wenn Busse und Bahnen kundenfreundlich und zuverlässig sind, nur wenn das Preis-LeistungsVerhältnis im öffentlichen Verkehr stimmt, werden mehr
Menschen das Auto stehen lassen.
({4})
Wir haben deshalb bereits 2002 die Initiative ergriffen
mit unserem Antrag „Qualitätsoffensive im öffentlichen
Personenverkehr - Verbraucherschutz und Kundenrechte
stärken“ und die Bundesregierung mit der Erstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme beauftragt. Das
Forschungsvorhaben ist im letzten Sommer ausgeschrieben und Ende des Jahres vergeben worden. Wie Sie,
meine Damen und Herren von der FDP und vor allem
mein lieber Kollege Horst Friedrich, wissen, ist Ihr Antrag, das Vorhaben neu auszuschreiben, bereits überholt.
Die Entscheidung des Verkehrsministeriums, den Juristen Rainer Freise als Gutachter einzusetzen, war fachlich gut begründet. Doch ist der Verdacht - ob begründet
oder unbegründet -, er vertrete einseitig die Interessen
der Deutschen Bahn AG, unserer Absicht, eine ausgewogene Regelung der Fahrgastrechte zu finden, nicht zuträglich.
({5})
Wir hoffen nun, dass die neue Ausschreibungsrunde
mehr Angebote unabhängiger, fachlich qualifizierter
Gutachter bringt. Wir erwarten auch, dass das Verkehrsministerium zügig die vom Parlament geforderte umfassende Bestandsaufnahme vorlegt, in der Handlungsalternativen auch für die Neuregelung der Fahrgastrechte
aufgezeigt werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund
der anstehenden EU-Regelung für den grenzüberschreitenden Personenverkehr sehr wichtig. Die Kommission
wird wahrscheinlich noch vor der Sommerpause einen
Entwurf vorlegen. Wir brauchen gerade deshalb zügig
eine fundierte Entscheidungsgrundlage.
({6})
Wenn wir Kundenrechte stärken, aber die Verkehrsunternehmen nicht überfordern wollen, gehört dazu auch
eine realistische Abschätzung der Folgen. Eine Verbesserung der Fahrgastrechte ist nicht im Interesse der Kundinnen und Kunden, wenn sie deswegen deutlich mehr
zahlen müssen und/oder länger unterwegs sind. Denn
gerade bei der in Deutschland großen und in Europa beispiellosen Taktdichte ist das Risiko hoch, einen Anschluss zu verpassen, Herr Ferlemann.
({7})
Wenn die Verkehrsunternehmen versuchen, dieses Risiko durch Angebotsausdünnung und längere Reisezeiten zu vermeiden, kann dies nicht im Sinne eines attraktiven öffentlichen Personenverkehrs sein.
({8})
Lassen Sie uns deshalb gesetzliche Neuregelungen - ob
im BGB oder anderswo - nicht überstürzen, solange wir
keine fundierten Einschätzungen über die Folgen haben!
({9})
Die öffentliche Diskussion über die Pünktlichkeit
von Bussen und Bahnen ist indessen nicht wirkungslos
geblieben. Die Deutsche Bahn AG und andere Verkehrsunternehmen haben erkannt, dass sie ihr Image verbessern und Fahrgäste gewinnen, wenn sie bei Verspätungen mehr als bisher auf Kundenwünsche eingehen. Das
bedeutet, auch Entschädigungen zu gewähren.
({10})
Auch die Mobilitätsgarantie zum Beispiel des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr und das Garantieticket des Verkehrsverbundes Rhein-Sieg zeigen, dass die Verkehrsunternehmen selbst Lösungen finden können und auch
wollen.
Die Deutsche Bahn AG arbeitet daran, ab Oktober
2004 neue Entschädigungsregelungen in ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen aufzunehmen.
({11})
Wir hoffen, dass die Gespräche der Deutschen Bahn AG
mit dem Verkehrsministerium und dem Verbraucherschutzministerium bald zu einem konkreten Ergebnis
führen.
Wer von Ihnen die Bahn nutzt, hat das Bemühen bemerkt, die Fahrgäste am Bahnsteig und im Zug wissen
zu lassen, warum sich ein Zug verspätet.
({12})
Das kommt gut an und zeigt: Gesetzlich geregelte Entschädigungsansprüche sind nicht alles. Aus Sicht der
Kunden sind für die Attraktivität von Bussen und Bahnen auch Kundenfreundlichkeit und Service entscheidend. Dazu gehören nicht nur Informationen über Ursachen von Verspätungen und über alternative
Reisemöglichkeiten, sondern auch verständliche Tarife
und eine gute Beratung.
Ich bin überzeugt, dass der zunehmende Wettbewerb,
wenn wir ihn fair gestalten, zu günstigen Preisen und
besserer Qualität führt. Auf der Schiene haben wir bereits für mehr Wettbewerb gesorgt,
({13})
und dies mit Erfolg. Viele neue Bahnbetreiber haben inzwischen ihren Weg auf die Trassen der DB Netz gefunden. Auch das nützt den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
({14})
- Herr Friedrich, das war wirklich ein wunderbarer Zuruf. ({15})
- Genau.
Wenn Sie am Markt erfolgreich sein wollen, müssen
Sie sich an den Wünschen der Kunden orientieren. Wer
mehr Fahrgäste und höhere Einnahmen will, muss ein attraktives Angebot machen und Fahrgastrechte wirklich
ernst nehmen.
Vielen Dank.
({16})
Die Kollegin Dr. Lötzsch hat ihre Rede zu Protokoll
gegeben.1)
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2156 und 15/2279 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 15/1687 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({1})
- Drucksache 15/2440 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Volker Beck ({2})
Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Kollegen Uwe Küster für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Vierund-
zwanzigsten Gesetz zur Änderung des Abgeordnetenge-
setzes lösen die Bundestagsfraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen das Versprechen ein, alle
Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen der Person am
notwendigen Umbau des Sozialstaates zu beteiligen.
Auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
sind ebenso wie jedermann - anders als immer wieder
behauptet - von den Folgen der Sozialreform betroffen.
1) Anlage 2
Bereits im interfraktionellen Entschließungsantrag zum
Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom September letzten Jahres wurde der
Wille aller Fraktionen des Deutschen Bundestages unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, die Abgeordneten ebenso wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger
an der Neugestaltung der Krankenversicherungsleistungen zu beteiligen. Die für alle geltenden Regelungen der
Krankenversicherung sollen demnach sowohl für die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages als auch für
Minister und Beamte gelten.
Durch das Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems wurde zur Stabilisierung der Situation der
gesetzlichen Krankenversicherung das so genannte Sterbegeld aus dem Leistungskatalog des Sozialgesetzbuches vollständig gestrichen. Für Beihilfeberechtigte
wurde eine wirkungsgleiche Anpassung der Beihilfevorschriften vorgenommen. Damit wurde die Forderung des
Deutschen Bundestages für Abgeordnete automatisch
mit umgesetzt.
Es war nie unsere Absicht, die Gesundheitsreform nur
formal nachzuvollziehen. Vielmehr ist es die Überzeugung meiner Fraktion, dass dort, wo der Abgeordnete
wie jedermann an einer sozialen Leistung unseres Gemeinwesens teilnimmt, auch materiell eine Gleichstellung erreicht werden muss. Daher haben die Fraktion der
Grünen und meine Fraktion bereits Anfang Oktober letzten Jahres den heute zu behandelnden Gesetzentwurf in
die parlamentarischen Beratungen eingebracht.
Der Gesetzentwurf sieht vor, den Hinterbliebenen eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages einen der
ursprünglichen Höhe des Sterbegeldes in der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechenden Betrag in
Höhe von 1 050 Euro abzuziehen. Die Hinterbliebenen
eines verstorbenen Abgeordneten erhalten also zukünftig
keinerlei Zuschüsse zu den Bestattungskosten.
Darüber hinaus haben alle Fraktionen die Einbeziehung der ehemaligen Abgeordneten in die Pflicht der
Rentner, zukünftig den vollen Pflegeversicherungsbeitrag zu leisten, beschlossen. Wir setzen damit den unter
allen Fraktionen unumstrittenen Weg der solidarischen
Teilhabe der Abgeordneten an den Reformen der Sozialkassen fort. Das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern
zumuten müssen, fordern wir uns auch selbst ab.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf
die veröffentlichte Meinung zum Thema „Sterbegeld
und Abgeordnete“ eingehen. Das, was wir und die deutsche Öffentlichkeit im Herbst des letzten Jahres erlebt
haben, hat mich persönlich sehr getroffen. Es stand der
Vorwurf im Raum, Abgeordnete würden sich dem Wegfall des Sterbegeldes entziehen. Dies war und ist - der
heutige Tag zeigt es deutlich - nie die Absicht gewesen.
Hier wurde eine Kampagne gestartet, in der es nicht darauf ankam, was ein Abgeordneter persönlich leistet. Es
kam auch nicht darauf an, ob wir Abgeordnete die komplexe Rechtslage, die von den Fachministerien in
schwierigen Beratungen und Verhandlungen geschaffen
wurde, quasi über Nacht in das Rechtssystem des Abgeordnetengesetzes umsetzen konnten.
Nein, bei dieser Art von veröffentlichter Meinung
kam es ausschließlich darauf an, das Bild des Abgeordneten in der Öffentlichkeit zu diffamieren. Das Mitglied
des Deutschen Bundestages sollte nicht als demokratisch
gewählter Vertreter des Volkes, sondern als Absahner
wahrgenommen werden. Diesen demokratiefeindlichen
Versuchen der Blätter mit den großen Buchstaben treten
wir entschieden entgegen.
Wir können uns nicht unmittelbar gegen eine verzerrende und verfälschende Berichterstattung wehren, wir
können ausschließlich das machen, was wir heute tun:
Wir können ehrliche, transparente und anständige Gesetze verabschieden; wir können nur versuchen, die öffentliche Wahrnehmung mit Transparenz und Offenheit
zu beeinflussen.
Lassen Sie mich zum Abschluss daher Folgendes
feststellen: Der von der Koalition vorgelegte Gesetzentwurf zeigt den Willen aller Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, die der Allgemeinheit auferlegten Lasten
solidarisch mitzutragen. Sonderrechte für Abgeordnete
im Bereich der Krankenversicherung wird es nach dem
Willen der SPD-Bundestagsfraktion nicht geben. Der
heute vorliegende Gesetzentwurf ist ein Beweis für die
Richtigkeit und Verlässlichkeit der politischen Aussagen
meiner Fraktion. Ich bitte Sie daher alle, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Es gehört zu den in der Öffentlichkeit sorgsam gepflegten Irrtümern, dass es für Abgeordnete ein Sonderrecht
in der Krankenversicherung gebe. Das ist falsch. Abgeordnete können, wenn sie aus dem Beamtenverhältnis
kommen, wählen, ob sie weiter beihilfeberechtigt sein
wollen. Alternativ gibt es für sie wie für alle anderen
Bürger, die derselben Gehaltsklasse angehören, die
Möglichkeit, entweder freiwillig Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung zu sein oder sich vollständig privat zu versichern. Es gibt also kein Privileg für
Abgeordnete. Aus den von mir beschriebenen Gründen
gelten entweder die allgemeinen Regelungen für den öffentlichen Dienst oder die der privaten oder gesetzlichen
Krankenversicherung, je nachdem, welche Wahl getroffen wurde.
Das hat zur Konsequenz, dass die Abgeordneten, die
sich für eine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden, die dort vorgenommenen Leistungsreduzierungen mitzutragen haben.
Für die anderen gilt, dass der Umfang der Leistungen
Bestandteil des zivilrechtlichen Vertrages mit ihrer privaten Krankenversicherung ist.
Wir sprechen heute erneut über die Streichung des so
genannten Sterbegeldes für Abgeordnete. Auch dazu hat
es eine ganze Reihe von Verwirrungen gegeben. Das
Sterbegeld für Abgeordnete ist bereits 1989 im Rahmen einer Gesundheitsreform gestrichen worden.
({0})
Die damalige Regelung im Abgeordnetengesetz ist ersatzlos gestrichen worden. Man hat stattdessen ein Überbrückungsgeld eingeführt, bei dem ausdrücklich nicht
auf die Bestattungskosten Bezug genommen wurde. Es
ist vielmehr an ähnliche Regelungen in Tarifverträgen
der freien Wirtschaft angelehnt worden.
Dieses Überbrückungsgeld, das ausdrücklich kein
Sterbegeld gewesen ist, kürzen wir nun um 1 050 Euro.
Dieser Betrag entspricht der Leistungsreduzierung in der
gesetzlichen Krankenkasse. Die Kolleginnen und Kollegen, die freiwillig gesetzlich versichert sind, werden damit dreimal betroffen, nämlich durch die Streichung des
Sterbegeldes im Abgeordnetenrecht, die Streichung in
der gesetzlichen Krankenversicherung und jetzt noch
einmal durch die Reduzierung des Überbrückungsgeldes
im Abgeordnetenrecht. Die anderen haben den Vorteil,
nur zweimal eine Kürzung hinnehmen zu müssen.
Wir halten es angesichts der öffentlichen Diskussion
gleichwohl für richtig, das zu tun. Dieser komplizierte
Sachverhalt ist offensichtlich nicht zu vermitteln und der
eine oder andere Journalist hat scheinbar auch kein Interesse daran, ihn zu verstehen.
({1})
Diese Streichung findet also die Zustimmung unserer
Fraktion.
Der zweite Punkt, über den wir heute beschließen, betrifft die Einführung einer Regelung, nach der ehemalige
Abgeordnete den vollen Pflegeversicherungsbeitrag
zahlen müssen. Damit übernehmen wir für ehemalige
Abgeordnete die Regelung, die von der Koalition für die
gesetzliche Rentenversicherung eingeführt worden ist.
Ich will ganz deutlich sagen, dass wir die Einführung
dieser Regelung in die gesetzliche Rentenversicherung
abgelehnt haben und auch weiterhin ablehnen, denn dadurch kommt es zum ersten Mal zu einer realen Rentenkürzung. Das ist weder mit dem Wahlversprechen der
Koalition zu vereinbaren noch entspricht es unserer Vorstellung von einer leistungsbezogenen Rente.
Es wäre aber umgekehrt nicht hinnehmbar, wenn die
Bürger diese Kürzung in der Rentenversicherung hinnehmen müssten, wir aber gleichzeitig den hälftigen
Pflegeversicherungsbeitrag für ehemalige Abgeordnete
erhalten wollten. Deswegen übernehmen wir diese Regelung aus der Rentenversicherung 1 : 1 ins Abgeordnetenrecht. Damit ist aber nicht zu verbinden, dass wir auf
diese Weise im Nachhinein der Änderung des Rentenrechts zustimmen wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von
Klaeden, Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie
den Bürgerinnen und Bürgern versprechen wollen, niedrigere Beiträge oder höhere Leistungen. Beides gleichzeitig geht nicht, wenn Sie nicht irgendwo eine Gelddruckmaschine anwerfen.
({0})
Das gebietet die Seriosität dieser Diskussion, ist aber nur
ein Teil des Problems, das wir hier jetzt diskutieren wollen.
Wir haben als Koalition ganz klar gesagt: All das, was
wir den Bürgerinnen und Bürgern, die Mitglied in den
gesetzlichen Sozialversicherungssystemen sind, durch
die Reformen zumuten, wollen wir wirkungsgleich auf
Beamte und Abgeordnete übertragen. Es kann nämlich
nicht sein, dass eine gesellschaftliche Gruppe von den
Reformen ausgenommen wird, die jedoch grundsätzlich
ihre Leistungen aus den gesetzlichen Systemen dieses
Staates erhält. Es müssen gleiche Bedingungen für die
gleiche soziale Sicherheit gelten.
Wenn wir die Rentenreform abgeschlossen haben,
werden wir uns auch noch einmal die Altersbezüge für
die Abgeordneten ansehen müssen. Wir müssen dann
die entsprechenden Beträge wirkungsgleich in gleichem
Umfang senken, wie wir das für die gesetzliche Rentenversicherung vorgeschlagen haben.
Mit diesem Gesetzentwurf zeigen wir heute, dass wir
auch nicht ein Jota, einen Hauch von Nichtübertragung
zulassen. Wir haben dieses Gesetz ursprünglich in Angriff genommen, um der Bundesrepublik Deutschland
sage und schreibe 3 500 Euro - so die Verwaltung - im
Jahr zu sparen.
Nun ist es so, dass natürlich die gesetzlich versicherten Kollegen, die schon von der Streichung des Sterbegeldes in der gesetzlichen Krankenversicherung betroffen sind, besonders belastet werden. Angesichts der
Regelung für das Überbrückungsgeld für verstorbene
Abgeordnete, bei dessen Berechnung damals fiktive Bestattungskosten angesetzt worden sind, haben wir, um
die Sache ganz perfekt zu machen, gesagt: Die Erstattung dieser Bestattungskosten muss gestrichen werden,
wenn auch für den einfachen Bürger und die einfache
Bürgerin diese Bestattungskosten nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden. Das ist
zwar nur ein kleiner Schritt, aber er zeigt, dass Abgeordnete - entgegen dem öffentlichen Vorurteil - keinerlei
Sonderrechte genießen, sondern dass entsprechende Angleichungen minutiös, bis ins Kleinste, umgesetzt werden.
Der zweite Punkt, den wir erst im Laufe des Verfahrens in die Vorlage aufgenommen haben und der gar
nicht Anlass für diesen Gesetzentwurf war, war auch
Gegenstand der Sozialreformen: die Regelungen zur
Volker Beck ({1})
Übernahme der Pflegeversicherungsbeiträge durch
Rentner. Es ist so, dass den Rentnern die Leistungen der
Pflegeversicherung gewährt werden, obwohl die heutigen Rentner, denen diese Leistungen zugute kommen,
während ihrer Erwerbsphase regelmäßig nicht oder nur
kurz durch eigene Beiträge zur Finanzierung beigetragen
haben.
Das war einer der Gründe, warum man sich entschieden hat, für Rentner den vollen Pflegeversicherungsbeitrag zu erheben. Dies führt für diese Rentnerinnen und
Rentner zu einer Kürzung der Rentenbezüge. Da auch
die Abgeordneten, die Altersbezüge auf der Basis ihrer
Abgeordnetenentschädigung bekommen, nicht länger
eingezahlt haben, haben wir diese Regelung wirkungsgleich auf sie übertragen. Hier geht es tatsächlich um ein
bisschen Geld: Die geschätzten Einsparungen betragen
circa 100 000 Euro pro Jahr.
Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen
wurde eine absurde Diskussion geführt, weil die Kenntnisse über die Bezugssysteme von Abgeordneten in der
Bevölkerung nicht hinreichend verbreitet sind. Dabei
ging es um die Praxisgebühr, die Abgeordnete zahlen.
Für Abgeordnete gab es bei der Praxisgebühr nie eine
Sonderregelung.
({2})
Allerdings besteht das Problem, dass es hier im Bundestag - Entsprechendes gilt für die gesamte Gesellschaft sozialversicherungsrechtlich dreierlei Sorten von Abgeordneten gibt: diejenigen, die freiwillig in einer gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind,
({3})
ehemalige Beamte, die beihilfeberechtigt sind, und die
Kolleginnen und Kollegen, die Mitglied einer privaten
Krankenversicherung sind.
Das sind drei grundverschiedene Systeme. In der Tat
hatten wir Probleme, folgende Frage zu beantworten:
Wie kann die Regelung der gesetzlichen Krankenversicherung in das System der Beihilfe, das ganz anders
funktioniert, wirkungsgleich übertragen werden? Ein
Beamter zahlt nämlich die eine Hälfte seiner Aufwendungen selbst; dafür muss er sich versichern. Die andere
Hälfte zahlt der Staat, nicht irgendeine Krankenkasse. Es
war strittig, wie man diese Regelung wirkungsgleich
überträgt. Allerdings war diese Frage nicht strittig, weil
es hierbei um Abgeordnete ging, sondern weil es um das
System der Beamtenversorgung ging.
Hier haben wir dem öffentlichen Druck in gewisser
Weise nachgegeben, obwohl es auch vorher schon eine
Form der wirkungsgleichen Übertragung gab. Das kann
man finden, wie man mag. Letztendlich sehen wir aber,
dass die unterschiedlichen Systeme, die im Bereich der
Krankenversicherung bestehen, von den Menschen nicht
mehr verstanden und offensichtlich auch wegen ihrer unterschiedlichen Struktur als ungerecht empfunden werden. Deshalb meine ich, dass diese Diskussion erneut gezeigt hat, dass die einzig vernünftige Lösung die
Perspektive einer Bürgerversicherung ist: einer Versicherung, bei der alle Bürgerinnen und Bürger - Abgeordnete und Selbstständige, Beamte und Rentner gleichermaßen - im selben System integriert sind.
Herr Kollege!
Wir hoffen, dass wir darüber in der nächsten Zeit diskutieren werden. Dann wird dieses Problem, zumindest
für den Bereich der Krankenversicherung, gelöst sein.
Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Geduld.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur
Eintopf wird durch häufiges Erwärmen besser. Bei Debatten im Bundestag ist das nicht so. Zwar spürt man das
häufig nicht so sehr, aber es stimmt. Deswegen kann ich
für meine Fraktion, die FDP-Bundestagsfraktion, erklären: Alle Argumente, die hier bisher vorgetragen worden
sind, werden von uns geteilt. Für Abgeordnete gibt es
keine Sonderversorgung und keine Sonderregelungen,
sondern sie werden jeweils so behandelt wie diejenigen,
die in gleicher Weise wie sie versichert sind. Das ist unsere Maxime, die wir auch in Zukunft vertreten werden;
auch dann, wenn wir die eine oder andere Regelung
- beispielsweise die Praxisgebühr, die wir für falsch
halten - heftig kritisieren. Daher haben wir als FDPBundestagsfraktion einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, sie wieder abzuschaffen.
({0})
Aber solange die Bürger, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, die Praxisgebühr zahlen müssen, müssen das selbstverständlich auch die Abgeordneten tun.
Ich will einen Aspekt nachtragen, den die Kollegen
nicht angesprochen haben. Bei der Kampagne, die leider
von einem unserer Kollegen losgetreten worden ist, ist in
der Presse immer wieder behauptet worden, die Abgeordneten brauchten keine Praxisgebühr zu bezahlen. Ich
will die Fakten hierzu liefern: Etwa die Hälfte unserer
Kollegen ist in der gesetzlichen Krankenversicherung
versichert.
({1})
Für sie hat von Anfang an die gleiche Regelung wie für
alle anderen gesetzlich versicherten Bürger gegolten.
({2})
Das sollte meiner Meinung nach in dieser Debatte angesprochen werden, weil wir so deutlich machen können,
dass die Diskussion, die der Kollege losgetreten hat,
ohne jeglichen Grund geführt wird.
Wir schaffen heute die Grundlage für die Gleichbehandlung von Abgeordneten und allen anderen Bürgern. Diese Gleichbehandlung ist für uns ganz selbstverständlich; das hat schon immer gegolten. Wir als FDPBundestagsfraktion werden dem Gesetzentwurf zustimmen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Vierundzwanzigsten Geset-
zes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes auf
Drucksache 15/1687. Der Ausschuss für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2440, den Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatz-
punkt 5 auf:
22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Müller ({0}), Astrid Klug, Ulrike Mehl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der
SPD, der Abgeordneten Winfried Hermann,
Dr. Reinhard Loske, Volker Beck ({1}), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeord-
neten Michael Kauch, Birgit Homburger, Rainer
Brüderle und der Fraktion der FDP
Einrichtung eines parlamentarischen Beirates
für nachhaltige Entwicklung
- Drucksache 15/2441 -
b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({2}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Sachstandsbericht - „Langzeit- und Querschnittsfragen in europäischen Regierungen
und Parlamenten“
- Drucksache 15/2129 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Einrichtung eines Zukunftsausschusses
- Drucksache 15/2387 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 1987
wird über die Idee der Nachhaltigkeit gesprochen. In
der Zwischenzeit wurden in der Bundesrepublik Vorarbeiten hierzu geleistet. In der Europäischen Union gibt
es einen Beschluss dazu, an dem sich die Europäische
Union als Leitlinie orientieren will. Auf internationaler
Ebene haben dazu zwei Weltgipfel stattgefunden. Daraus
wollen wir nun die Konsequenz ziehen. Wir meinen,
dass auch das Parlament, also das Gremium, das die politischen Diskussionen in unserem Land zu führen hat,
institutionell die Debatte über Nachhaltigkeit führen
sollte. Das halten wir für einen wichtigen Beitrag, um
die Zukunftsfähigkeit zu sichern und um dafür zu sorgen, dass die langfristig aktuellen, globalen Themen im
Bundestag stärker und kontinuierlicher diskutiert werden. Das ist Hintergrund und Sinn unseres Antrags.
Um der Globalisierung begegnen zu können, brauchen wir ein zeitgemäßes Konzept. Die Nachhaltigkeit
betrachten wir dabei als einen wichtigen Ansatzpunkt. In
dieser Hinsicht gibt es, wie ich meine, auch keinen Widerspruch zwischen den Fraktionen. Ich begrüße im
Grundsatz auch Ihren Antrag auf Einrichtung eines Zukunftsausschusses, auch wenn ich mich etwas darüber
wundern musste, dass das Thema Nachhaltigkeit in der
Endfassung nicht mehr enthalten ist. Aus meiner Sicht
ist Nachhaltigkeit das wichtigste Synonym für Zukunftsfähigkeit. Aber im Grundsatz schätzen Sie die Bedeutung dieses Themas genauso hoch ein wie wir. Das finden wir gut.
Wir, das Parlament, müssen uns einigen, dass wir
nicht nur über die Tagespolitik entscheiden, Krisenmanagement betreiben und das, was uns gerade von Europa zugewiesen wird, behandeln, sondern dass wir auch
die langfristigen zentralen Themen bearbeiten, die mit
den Stichworten Zukunftsverträglichkeit, Nachhaltigkeit usw. beschrieben werden können.
({0})
Aus meiner Sicht ist bei der Entwicklung der Zivilisation eine dreifache Problematik zu erkennen:
Erstens. Wenn wir die großen Zukunftsprobleme lösen wollen, dann müssen wir zu einem anderen Umgang
mit der Zeit kommen. Es ist beispielsweise nicht möglich, die großen ökologischen Probleme und die Fragen
der Innovation sowie der Generationengerechtigkeit zu
lösen bzw. zu beantworten, wenn wir nicht zu einem anderen Umgang mit der Zeit kommen. Das heißt, wir sind
Michael Müller ({1})
zu Lösungen nicht in der Lage, wenn allein die Kurzfristigkeit der Maßstab bei politischen Entscheidungen
bleibt. Damit kann man keine Zukunftsprobleme lösen.
Die Idee der Nachhaltigkeit bedeutet in erster Linie, zu
einem längerfristigen rationalen Umgang mit der Zeit zu
kommen.
({2})
Der zweite wesentliche Aspekt der Nachhaltigkeit ist
aus meiner Sicht, dass wir den historischen Fehler der
modernen Zivilisation überwinden müssen. Die moderne
Zivilisation hat nämlich eigentlich schon seit Beginn der
Aufklärung, zum Teil aber auch schon seit Beginn der
Neuzeit immer geglaubt, die Natur sei ein sich selbst regulierendes System. Die Grundidee der Moderne war
immer, es gehe alles immer weiter, schneller und größer.
Tatsächlich sind die natürlichen Lebensgrundlagen
aber ein limitierender Faktor. Wir können eben nicht von
einer Grenzenlosigkeit ausgehen. Insbesondere aufgrund
der Erkenntnisse der Ökologie muss man postulieren:
Die Menschheit muss mit Grenzen rational umgehen.
Das bedeutet zwar nicht die Aufgabe des Wachstumsgedankens, aber das bedeutet die Überführung und Fortentwicklung des Wachstumsgedankens hin zur Idee der
Entwicklung eines qualitativen Wachstums, wie wir es
früher bezeichnet haben, bzw. einer nachhaltigen Entwicklung, wie es aus meiner Sicht heute zu bezeichnen
ist.
Drittens. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es
immer mehr Teillogiken, die für sich genommen fast
alle richtig sind, insgesamt aber nicht stimmig sind.
Nachhaltigkeit ist ein Ansatz, um Teilbereiche wieder zu
einem organischen Ganzen zusammenzuführen, wie es
der Club of Rome gesagt hat. Insofern kennzeichnet die
Idee der Nachhaltigkeit für uns in erster Linie einen Prozess, umzudenken, neue Schwerpunkte zu setzen und zu
begreifen, dass wir auf die drei großen Herausforderungen, nämlich auf den Umgang mit der Zeit, den Umgang
mit Grenzen und die Integration komplexer Gesellschaften, andere Antworten geben müssen.
Wir haben bewusst keinen Ausschuss gebildet, weil
dann sofort die Konkurrenz zu anderen Ausschüssen entstanden wäre. Herr Kollege Krings, wir haben darüber
intensiv diskutiert. Wir merkten, dass in allen Fraktionen
Widerstand aufkam und die Frage gestellt wurde, ob
denn ein Superausschuss geschaffen werden solle. Deshalb sagen wir: Wir wollen das nicht. Wir wollen Prozesse in Gang setzen und diese drei großen Fragen bei
allen Entscheidungen mit einbeziehen. Ich habe Ihren
Antrag so verstanden, dass auch Sie das wollen. Deshalb
glaube ich, dass der Weg, den wir jetzt gewählt haben,
der richtigere ist.
Meine Damen und Herren, die Idee der Nachhaltigkeit ist eine Chance, in der Bundesrepublik wieder sehr
viel mehr Zukunftskompetenz und -verankerung zu installieren. Es ist die Idee, das Augenmerk nicht nur auf
die Ökonomie zu legen - so wichtig sie auch ist; ohne
eine funktionierende Ökonomie gäbe es auch keine
Nachhaltigkeit -; denn eine Ökonomie für sich genommen, ohne soziale und ökologische Leitplanken und
ohne Einordnung in eine Dauerhaftigkeit, wird auf
Dauer keinen Bestand haben. Deshalb ist die Idee der
Nachhaltigkeit gleichzeitig auch die Idee einer langfristigen und umfassende Reform, die vor allem vor dem Hintergrund der Globalisierung eine wachsende Bedeutung
gewinnt.
Lassen Sie mich einen zweiten sehr wichtigen Punkt
nennen. Vor dem Hintergrund der zunehmend globalen
Probleme fragt man sich, wer diese Probleme eigentlich
noch steuern und regulieren kann. Ich sage: Ich möchte
kein globales Regime, weil es sich dabei aus meiner
Sicht um eine technokratische Weltherrschaft handeln
würde, die allein schon deshalb, weil sie so weit vom
Bürger entfernt ist, die Freiheitsrechte fundamental einschränken müsste. Die große Idee der Nachhaltigkeit hat
eine Chance, weil sie sehr unterschiedliche Wege zulässt, auf denen man Probleme löst. Mit der Nachhaltigkeit beschreiben wir Probleme, Prinzipien und Regeln.
Wie Nachhaltigkeit in den einzelnen Feldern umgesetzt
wird, ist von Mal zu Mal, von Land zu Land und von
Akteur zu Akteur verschieden. Dies bietet die große
Chance, eine globale Politik in Gang zu setzen, ohne dafür die Einrichtung eines Weltregimes vorauszusetzen,
welches sowieso am Widerstand großer Staaten scheitern würde und welches auch unter Demokratieaspekten
problematisch wäre.
Was wir machen wollen, ist, den Prozess der Nachhaltigkeit zu begleiten. Die Bundesregierung legt dazu den
zweiten Bericht vor, mit dem sich das Parlament stärker
als bisher beschäftigen muss. Es kann nicht sein, dass
wir überall in unseren Reden das Prinzip der Nachhaltigkeit hochhalten und es im Bundestag nicht systematisch
verfolgen. Insofern wäre die Einrichtung eines Beirates
genau das Richtige.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Lieber Herr Müller, drei Fraktionen
dieses Hauses präsentieren uns heute einen Entwurf für
einen Nachhaltigkeitsbeirat, mit dem sie unsere Arbeit
im Parlament bereichern wollen. In der Tat klingt der
Begriff der Nachhaltigkeit modern und schick. Ich kann
Ihnen bestätigen: Auch wir haben ihn im Gegensatz zu
Ihrer Behauptung in unseren Antragstext aufgenommen.
({0})
- Im dritten Spiegelstrich unserer Forderungen werden
Sie, wenn Sie genau hinschauen, auf diesen Begriff stoßen. Er springt Sie an dieser Stelle förmlich an.
Ich unterstelle den Urhebern dieses Antrags, Herr
Müller, durchaus die besten Absichten. Aber wir stellen
nach langer Beschäftigung mit diesen Themen auch fest:
Nicht überall da, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch
zukunftsfähige und generationengerechte Politik drin.
({1})
Kratzt man nur ein wenig an der Oberfläche des Antragstextes, so scheinen einem relativ schnell sehr viel
mehr Fragen als Antworten entgegen.
Die erste Frage ergibt sich aus den Aufgaben, die Sie
Ihrem Nachhaltigkeitsbeirat zubilligen wollen. Warum
sprechen Sie nur von parlamentarischer Begleitung der
Regierungspolitik? Warum darf Ihr Beirat die Nachhaltigkeitsstrategie nicht aktiv steuern und kontrollieren,
sondern nur Vorschläge zu ihrer Fortentwicklung machen? Es entspricht jedenfalls nicht meinem Selbstverständnis als Parlamentarier, wenn einem Bundestagsgremium gerade einmal die Abgabe von Empfehlungen und
die Kontaktpflege zu anderen Parlamenten zugestanden
wird.
({2})
Mit einem solchen sehr zurückhaltenden Organ erreichen Sie nichts, außer den Gedanken zukunftsorientierter und nachhaltiger Politik in diesem Hause zu diskreditieren.
Die zweite Frage ist, ob die rot-grüne Mehrheit dieses
Hauses ausschließlich die Umweltprobleme unseres
Landes als Belastungen für die künftigen Generationen anerkennt. Die Schwerpunktsetzung Ihrer Rede
sprach für mich dafür. Seit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992, auf die Sie sich in Ihrem Antrag gleich im ersten Absatz beziehen,
({3})
hat der Nachhaltigkeitsbegriff einen sehr viel weiteren
Zuschnitt erhalten. Unsere Fraktion war daran maßgeblich beteiligt.
({4})
Wenn wir uns mit Deutschlands Zukunft beschäftigen,
dann dürfen wir nicht nur ökologische Altlasten untersuchen,
({5})
sondern müssen uns auch überlegen, wie wir die tickenden Zeitbomben in unseren Staatshaushalten und unseren sozialen Sicherungssystemen entschärfen können.
Eine weitere Frage. Warum schlägt die Mehrheit dieses Hauses nicht schlicht und ergreifend die Einsetzung
eines Ausschusses zum Thema Nachhaltigkeit vor?
({6})
Warum bedienen Sie sich eines gänzlich neuen Konstruktes namens Beirat? Sie haben eine Erklärung angeboten; ich biete Ihnen gleich eine andere an. Die Aufgaben und Kompetenzen von Ausschüssen sind in der
Geschäftsordnung unseres Hauses klar und verbindlich
geregelt. Ein Beirat muss seine Rolle erst mühsam finden. Er läuft daher Gefahr, sich mehr mit sich selbst als
mit der Sache zu beschäftigen. Das verläuft dann nach
dem Motto: Gut, dass wir einmal darüber geredet haben.
Fakt ist, dass die Regierungsfraktionen bei der ganz
normalen Einsetzung eines Ausschusses nach den Geschäftsordnungsregeln keinen Zugriff auf den Ausschussvorsitz haben. Diesen bekommen sie aber bei dem
Sonderkonstrukt Beirat. Da scheint offenbar die nachhaltige Personalpolitik eines Herrn Müntefering Pate bei
diesem Antrag gestanden zu haben.
({7})
Als Junge Gruppe innerhalb der Unionsfraktion haben wir bereits im Herbst des vergangenen Jahres das
Konzept eines Zukunftsausschusses entwickelt und vorgestellt. Nahezu jedes Sach- und Fachinteresse - darin
stimme ich Ihnen vollkommen zu, Herr Müller - verfügt
über eine parlamentarische Lobby in den 21 Ausschüssen unseres Hauses. Nur die Interessen künftiger Generationen finden sich in unseren Parlamentsgremien
nicht wieder. Man darf sich daher nicht wundern, wenn
seit Jahrzehnten, quer durch alle Regierungen, Interessenkonflikte dadurch gelöst wurden und werden, dass
man heute allen Seiten Gutes tut und die Zeche erst morgen von denen zahlen lässt, die sich heute noch nicht
wehren können. Unbeeindruckt von einer schrumpfenden Zahl von Geburten finanzieren wir unseren heutigen
Konsum auf den immer schmaler werdenden Schultern
der künftigen Generationen. Das letzte grandiose Beispiel „nachhaltiger“ Finanzpolitik haben Ende letzten
Jahres Schröder und Eichel geliefert, als sie uns kurz vor
Weihnachten eine Steuersenkung mit 80 Prozent Neuverschuldung bescheren wollten.
({8})
- Wir wollten weniger Neuverschuldung und haben dafür gesorgt, dass die Neuverschuldung in Grenzen geblieben ist. Schauen Sie sich die Protokolle an. Die Neuverschuldungspartei sind leider Sie.
({9})
Der von der CDU/CSU beantragte Zukunftsausschuss soll anders als Ihr Beirat echte Befugnisse und
eigenständige Aufgaben haben. Er soll Gesetzentwürfe
auf ihre Generationenverträglichkeit überprüfen. Er soll
Schluss machen mit einem politischen Blindflug in unserer sozial- und finanzpolitischen Gesetzgebung und allen
Beteiligten vor Augen führen, wie Gesetze von heute
unsere Steuern, Abgaben und Schulden von morgen beeinflussen.
Die Idee, die hinter der Verträglichkeitsprüfung steht,
beruht auf den harten Zahlen der Mathematik und
heißt: Generationenbilanz. Dieses Informationsinstrument wurde in den USA entwickelt und in Deutschland
von Professor Bernd Raffelhüschen weiterentwickelt.
Der Name dürfte Ihnen auf der linken Seite des Hauses
noch aus der Rürup-Kommission bekannt sein.
Meine Damen und Herren auf der linken Seite des
Hauses, wenn es Ihnen schwer fällt, einem Antrag der
Union im Deutschen Bundestag zuzustimmen, so hilft
Ihnen vielleicht ein Blick über den Tellerrand unserer
nationalen Politik bei Ihrer Entscheidungsfindung. In anderen Ländern innerhalb und außerhalb der EU wurden
bereits erfolgreiche Strategien für mehr Generationengerechtigkeit im parlamentarischen Verfahren umgesetzt.
Diesen Ansätzen folgt unser Antrag. So hat in Israel die
Knesset vor drei Jahren einen neuen parlamentarischen
Ausschuss mit dem Namen „Ausschuss für künftige Generationen“ geschaffen, der Gesetzesvorhaben auf ihre
Generationenverträglichkeit überprüft. In dem von Ihren
sozialdemokratischen Bildungspolitikern so gelobten
Finnland gibt es bereits seit 1999 einen ähnlich angelegten „Ausschuss für die Zukunft“. Auch deutsche Bundesländer, zum Beispiel Sachsen, gehen mit gutem Beispiel voran. Der Sächsische Landtag hat sich auf
Betreiben meines Parteifreundes Lars Rohwer für die
Einführung einer Generationenbilanz in Deutschland
ausgesprochen.
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren
von der SPD und den Grünen, ich kann verstehen, dass
Sie angesichts Ihrer aktuellen Umfragewerte schon beim
Wort „Zukunft“ ein flaues Gefühl in der Magengrube bekommen.
({10})
Unter Ihrer Magenverstimmung sollten aber die nach
uns kommenden Generationen wirklich nicht zu leiden
haben. Folgen Sie daher zur Abwechslung einmal nicht
Ihrem Bauch, sondern Ihrem Kopf und stimmen Sie für
unseren Zukunftsausschuss!
Danke schön.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried
Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, vor Monaten haben wir Ihrer Fraktion das Angebot gemacht, bei einem solchen Gremium mitzuwirken,
bei der Konstruktion des Gremiums und bei den Inhalten. Lange haben wir nichts von Ihnen gehört.
({0})
Jetzt - ich muss Ihnen sagen, die Überraschung ist Ihnen
gelungen - haben Sie in dieser Woche, nachdem Sie jegliche Kommunikation verweigert haben, mit Ihrem Zukunftsausschuss sozusagen ein Überraschungsei gelandet. Es war in der Tat überraschend, weil ich gedacht
habe, es kommt überhaupt nichts mehr von Ihnen. Ich
gebe zu, dass Sie damit eine kesse Oppositionsidee gehabt haben. Ich wundere mich, wie Sie mit diesem Vorschlag durch die Fraktion gekommen sind. Ich bin mir
relativ sicher, dass Sie unter anderen Bedingungen einen
solchen Antrag nie hätten präsentieren können.
({1})
Natürlich haben Sie mit den Begriffen der Zukunft
und der Generationengerechtigkeit zentrale Fragen der
nachhaltigen Entwicklung angesprochen. Aber - hören
Sie jetzt genau zu! ({2})
Zukunftsfähigkeit und Generationengerechtigkeit sind
nicht das Gleiche. Nachhaltigkeit ist weit mehr. Da geht
es nicht nur um die Generationengerechtigkeit, sondern
auch um die Gerechtigkeit innerhalb einer Generation,
zwischen Arm und Reich und zwischen Nord und Süd.
Es geht übrigens auch um die Frage, wie wir mit den natürlichen Ressourcen umgehen und wie wir Techniken
und Technologien entwickeln, um die Zukunft bewältigen zu können.
({3})
Das alles haben Sie ausgeklammert. Insofern muss man
sagen: Ihr Antrag zum Zukunftsausschuss und zur Generationengerechtigkeit deckt nur einen Teilbereich ab. Es
handelt sich nicht wirklich um eine Alternative. Wenn es
eine solche sein sollte, wäre es eine beschränkte Alternative.
Ich komme nun zu unserem Antrag und unserem Ansatz. Ich möchte gerne anhand von zwei Leitfragen erläutern, warum wir das Ganze machen. Warum brauchen
wir ein solches Gremium und was muss der parlamentarische Beirat leisten?
Zunächst zu der Frage, warum wir ein solches Gremium brauchen. Wir wurden auch immer wieder gefragt,
wie es beschaffen sein soll.
({4})
Nach einigen Jahren, in denen ich im Parlament Erfahrungen in der Frage der Nachhaltigkeit gesammelt
habe, muss ich, offen gesagt, feststellen - ich glaube,
viele teilen diese kritische Einschätzung -: Obwohl der
Anstoß zur nachhaltigen Entwicklung und zur Nachhaltigkeitsstrategie aus diesem Parlament gekommen ist,
hat die parlamentarische Beteiligung nicht wirklich
gut funktioniert.
({5})
Sie hat häufig gar nicht stattgefunden.
Wie so oft war es auch in diesem Fall so, dass, wenn
sich alle zuständig fühlen, letztendlich keiner zuständig
ist.
({6})
Das ist ein wesentlicher Grund für unsere Forderung
nach einem Gremium, das sich der nachhaltigen Entwicklung in besonderer Weise annimmt.
Wenn man ein neues Politikkonzept vorlegt, das andere Arbeitsformen verlangt, wird deutlich, dass es allerhand Barrieren und Hindernisse gibt. Dazu gehören die
Ressortborniertheit, die Tatsache, dass bei uns alle Zuständigkeiten in den Ausschüssen, Gremien und Arbeitskreisen klar geregelt sind, und - was auch von Michael
Müller angesprochen wurde - die Kurzatmigkeit, der
Alltagsdruck in der Politik wie auch die fehlende Kohärenz und Kooperation zwischen Politikfeldern und Handelnden. Das ist übrigens nicht nur ein Problem der Regierungsparteien, sondern auch der Oppositionsparteien.
Das ist ein grundlegendes Problem der Politik.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen und andere
Experten haben uns deutlich ins Stammbuch geschrieben:
Hier ist das Parlament nicht gut aufgestellt. Wenn die
Nachhaltigkeitsstrategie auf parlamentarischer Ebene begleitet werden soll, dann sind in diesem Bereich institutionelle Verbesserungen notwendig. „Capacity building“
heißt der Fachbegriff. Das heißt, wir müssen selbst die Institutionen schaffen, mit denen es gelingt, das anspruchsvolle Konzept der nachhaltigen Entwicklung voranzutreiben. Dazu gehört, Querschnittsaufgaben und eine
langfristige Politik zu organisieren, komplexe Zusammenhänge zusammenzuführen und das, was noch weit
auseinander klafft, auf bestimmte Leitideen zusammenzuführen.
Ein solches Konzept setzt eine neue Beratungs- und
Steuerungsstruktur voraus. Dazu soll der Beirat mit beitragen. Er wird das nicht alleine schaffen; aber er stellt
eine Voraussetzung auf parlamentarischer Ebene dar, um
das zu verbessern, was bisher nicht wirklich gelungen
ist.
Der Beirat muss sich aus meiner Sicht zwingend als
Anwalt der nachhaltigen Entwicklung in diesem Parlament verstehen und zugleich aufpassen, dass er nicht das
Parlament quasi entsorgt. Das darf nicht passieren. Der
Beirat muss dem Plenum und den Ausschüssen immer
wieder Anstöße geben und sich als Ansprechpartner aller
Abgeordneten verstehen, weil jeder Abgeordnete
schließlich auch Vermittler und Kommunikator gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in den Wahlkreisen
ist.
Was sind die Aufgaben? Neben denen, die ich bereits
ausgeführt habe, ist vor allem wichtig, dass der Beirat an
der Gestaltung, Entwicklung und Fortentwicklung der
nationalen Nachhaltigkeitsstrategie aktiv mitwirkt, statt
nur im Nachhinein informiert zu werden, wie es bisher
zum Teil der Fall war.
Notwendig ist eine aktive parlamentarische Begleitung. Das heißt, mit dem Beirat entsteht neben dem
Grünen Kabinett und dem Nachhaltigkeitsrat das
dritte Standbein für die nachhaltige Entwicklung im Parlament. Seine Mitwirkung wird dadurch gewährleistet.
Neben diesen eher innergesellschaftlichen, nationalen
Aufgaben haben wir, wie ich meine, auch die vornehme
Aufgabe, den internationalen Austausch zu suchen. Sie
haben das - darin gebe ich Ihnen völlig Recht - bereits
angesprochen. In verschiedenen anderen Ländern wie
Belgien, Großbritannien und Schweden gibt es parlamentarische Gremien, die das Thema bearbeiten. Zudem
gibt es dort regelmäßige Berichte der Regierung im Parlament und konsequente Auseinandersetzungen über den
Weg zur nachhaltigen Entwicklung. An dieser Stelle
können wir von anderen lernen.
Gleichzeitig müssen wir mit anderen zusammenarbeiten, damit es uns auf europäischer Ebene gelingt, die
Nachhaltigkeitsstrategie für die Europäische Union so
voranzutreiben, dass sie denselben Maßstäben entspricht, die wir auf nationaler Ebene immer wieder einklagen. Auch hieraus ergibt sich ein Auftrag, nämlich
die Mitwirkung an einer europäischen Strategie.
Ich komme zum Schluss. Ich habe wie einige andere Anwesende im Jahr 2002 an einer interparlamentarischen
Konferenz in Johannesburg teilgenommen, bei der
sich Parlamentarier aus aller Welt mit der Frage auseinander gesetzt haben, wie sich die Parlamente bei diesem
Thema einbringen können.
Im Schlusskommuniqué heißt es:
Es ist eine der vordringlichsten Aufgaben der Parlamentarier, das Regierungshandeln für nachhaltige
Entwicklung durch Reform seiner Institution zu
stärken, einschließlich der politischen Entscheidungsprozesse und der Parlamente.
Ich meine, der Beirat für nachhaltige Entwicklung ist in
diesem Sinne ein guter Baustein. Dieser Beirat ist - dieses Wort ist ja im Moment in aller Munde - eine institutionelle Innovation und Nachhaltigkeit ist ein neues Politikkonzept. Beides ist also etwas sehr Innovatives.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, stimmen Sie dem vorliegenden Antrag zu. Wenn Sie heute
verlieren, sind Sie herzlich eingeladen, sich mit Ihrem
Anliegen betreffend die Generationengerechtigkeit, das
wir alle teilen, in den neuen Beirat einzubringen. Dort
dürfen Sie sich immer zu Wort melden und mitreden.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland muss zukunftsfähiger und generationengerechter werden. Das betrifft die Umwelt und die Ressourcennutzung
ebenso wie die Sozialsysteme, die Bildung und die
Staatsfinanzen. Hier stimme ich dem Kollegen von der
CDU/CSU ausdrücklich zu.
({0})
Notwendig ist ein neues Verständnis von Wohlstand und
Lebensqualität, das sich nicht an Wahlperioden von vier
Jahren, sondern an langen Zeiträumen orientiert. Das ist
der Kern nachhaltiger Politik.
({1})
Warum ein Beirat für nachhaltige Entwicklung? - In
den meisten europäischen Ländern spielt das Thema
Nachhaltigkeit in den Parlamenten kaum eine ernsthafte
Rolle. Der Deutsche Bundestag ist hier leider keine Ausnahme. Zwar wurde mit der Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ ein beachtlicher Beitrag zur Nachhaltigkeitsdebatte geleistet. Jedoch
ist daran bislang nicht angeknüpft worden. Die Formulierung und die Weiterentwicklung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie erfolgte bisher weitgehend am Parlament vorbei. Sie wurde und wird vom Kanzleramt
koordiniert. Wenn ich aber in Richtung Regierungsbank
schaue, muss ich fragen, wo die Vertreter des Kanzleramtes während dieser Debatte sind.
({2})
Es ist zwar sehr erfreulich, dass drei Ministerien vertreten sind. Aber ich hätte schon eine Präsenz des Kanzleramtes erwartet. Der zuständige Staatssekretärsausschuss
ist jedenfalls jeder Einflussnahme des Parlaments entzogen. Er macht Nachhaltigkeit nicht zur Chefsache, sondern zur Geheimsache.
Der 2001 von der Bundesregierung als Expertengremium eingesetzte Rat für Nachhaltige Entwicklung
krankt an Unterfinanzierung und eine Prüfung der konkreten Gesetzgebung auf Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit findet nicht statt. Wie sonst wären die
aktuelle Renten- und die Gesundheitsreform sowie die
Finanzpolitik der Regierung zu erklären? Schon 2002
hätte im Zuge der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
ein parlamentarisches Gremium eingesetzt werden müssen, das die Nachhaltigkeitspolitik der Regierung begleitet und kontrolliert. Das haben Sie, liebe Kollegen von
Rot-Grün, leider verschleppt.
Der Beirat kommt spät. Aber mit der heutigen Entscheidung wird ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan. Doch wir sollten weiter und vor allem über
die eigenen nationalen Grenzen hinaus denken. Andere
EU-Länder wie Großbritannien und Finnland, aber auch
die anderen skandinavischen Länder sind uns in Sachen
Nachhaltigkeit voraus. Es ist wichtig - das hat der Kollege Hermann schon angedeutet -, dass wir die Strategie
der EU-Kommission für eine nachhaltige Ressourcennutzung mit unserer Arbeit thematisch vernetzen.
({3})
Es wäre schön gewesen, wenn es einen gemeinsamen
Antrag aller Fraktionen zum Thema Nachhaltigkeit gegeben hätte.
({4})
Das wäre ein Signal der Geschlossenheit für eine nachhaltige Entwicklung in Deutschland gewesen. Doch leider konnte sich die Union nicht dazu durchringen, unseren gemeinsamen Antrag zu unterstützen. Die Fraktion
der CDU/CSU hat nun einen eigenen Antrag gestellt
- dieser ist zwei Tage alt -, und das, obwohl Sie uns vorher klar signalisiert haben, dass Sie gar kein Gremium
- keinen Ausschuss, keinen Beirat, nichts - wollen.
Wir von der FDP lehnen die Einrichtung des von Ihnen geforderten Zukunftsausschusses ab.
({5})
Das Ziel, die Gesetzgebung einer generellen „Generationenverträglichkeitsprüfung“ zu unterziehen, findet jedoch unsere Zustimmung.
({6})
Die FDP fordert seit vielen Jahren auch, Generationenbilanzen zu erstellen. Allerdings ist Ihr Weg dabei das
falsche Instrument.
({7})
Das Erstellen von Generationenbilanzen - nach Ihrem
Antrag soll dies Aufgabe dieses Ausschusses sein - geht
weit über das hinaus, was ein parlamentarischer Ausschuss leisten kann. Eine Generationenverträglichkeitsprüfung, eine Nachhaltigkeitskontrolle oder wie man es
auch immer nennen mag, muss jeder Fachausschuss zunächst einmal selber durchführen. Eine Art Oberkontrollausschuss ist nicht der richtige Weg. Ein solcher
Ausschuss wäre mit dieser Arbeit hoffnungslos überfordert.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, im
Übrigen erscheint mir dieser Antrag eher als ein untauglicher Versuch, auf ein Boot aufzuspringen, das schon
längst abgelegt hat.
({9})
Wir - da spreche ich wohl auch für die Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - hätten
Sie gern von Anfang an im Boot gehabt. Doch der von
Ihnen gestellte Antrag ist nichts anderes als blanker Aktionismus.
({10})
Ich freue mich - lassen Sie mich das zum Abschluss
sagen -, dass diese parlamentarische Initiative auf ein
breites, die Grenzen von Regierung und Opposition
überschreitendes Fundament gestellt wurde. Ich hoffe,
dass dies der Anfang einer großen gesellschaftlichen Debatte über mehr Nachhaltigkeit in unserer Politik wird.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung in
Deutschland hat der Deutsche Bundestag die Thematik
Nachhaltigkeit bereits in zahlreichen Enquete-Kommissionen aufgegriffen: Sowohl in der 12. als auch in der
13. und 14. Wahlperiode waren dazu Kommissionen eingerichtet. Sie trugen die Titel „Schutz des Menschen und
der Umwelt“, „Nachhaltige Energieversorgung“ und
„Demographischer Wandel“. Sie beziehen sich auf das
Drei-Säulen-Modell: Nachhaltigkeit ist ein Gesamtpaket
aus sozialer, ökonomischer und ökologischer Entwicklung. Durch die Arbeit dieser Enquete-Kommission wird
die Definition von Nachhaltigkeit der Brundtland-Kommission bekräftigt. Diese Definition besagt, Nachhaltigkeit bedeutet, den Bedürfnissen der heutigen Generation
zu entsprechen, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, zu gefährden.
Auf Anraten der Enquete-Kommission „Schutz des
Menschen und der Umwelt“ kam die Bundesregierung
im Jahr 2000 der Aufforderung der Agenda 21 von 1992
nach, einen Rat für Nachhaltige Entwicklung einzusetzen, der den Entwurf einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet hat. Die Bundesregierung legte
diesen Entwurf 2002 vor.
({0})
Wenn man sich mit dem Thema „Nachhaltigkeit in
Deutschland“ beschäftigt, dann stellt man fest, dass es
keinen Mangel an Sachverstand, Konzepten und sogar
konkreten - in mehreren Bereichen vorhandenen - Handlungsanweisungen gibt.
Wie sieht es nun aber mit der Umsetzung dieses Wissens in konkrete Politik aus? Richtet sich Politik in
Deutschland an der gleichberechtigten und gleichwertigen Sicherung und Respektierung ökonomischer, ökologischer und sozialer Bedürfnisse der heutigen Generation und der zukünftigen Generationen aus? Schauen wir
uns einige Politikbereiche konkret an.
Finanz- und Haushaltspolitik: Die dramatische Verschuldung der öffentlichen Haushalte des Bundes, der Länder und der Kommunen von über 1 300 Milliarden Euro
und das wiederholte Verletzen der Maastricht-Kriterien
ist bereits angesprochen worden.
Ich will Ihnen von einer ganz persönlichen Erfahrung
berichten. Unser zehnjähriger Junge interessiert sich inzwischen für das Lesen von Zeitungen. Er fragte mich
kürzlich: Mama, wer zahlt eigentlich all diese Schulden
zurück? Ich antwortete: Du und alle anderen Kinder. Das
war eine ehrliche Antwort. Sie können sich die Reaktion
darauf vorstellen.
Sieht so eine nachhaltige Politik aus? Entspricht das
der Grundregel der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung? Diese Regel besagt:
Jede Generation muss ihre Aufgaben selbst lösen
und darf sie nicht den kommenden Generationen
aufbürden.
({1})
Ich komme nun auf einen anderen Politikbereich zu
sprechen, der mir als Umweltpolitikerin besonders am
Herzen liegt: die aktuelle Energiepolitik. Deutschland
bezieht seinen Strom derzeit noch zu 30 Prozent aus
Kernkraftwerken. Rot-Grün hat 2000 den Ausstieg aus
der Atomenergie beschlossen; man hat es bislang aber
versäumt, ein schlüssiges Energiekonzept vorzulegen.
({2})
Die Energieversorgung ist jedoch einer der wichtigsten
Standortfaktoren; sie wird die Entwicklung Deutschlands auf ökologischem, ökonomischem und sozialem
Sektor maßgeblich beeinflussen.
({3})
Wie passt der Atomausstieg mit den von Deutschland
im Rahmen der Kioto-Verpflichtung und des nationalen
Klimaschutzziels zu erreichenden Klimaschutzzielen zusammen? Es liegt kein realistisches, durchgerechnetes
Szenario vor, das vor dem Hintergrund, dass bis 2020
mindestens 45 neue Kraftwerke gebaut werden müssen,
schlüssig wäre.
({4})
Wie passt in dieses Konzept, dass die Bundesregierung
die Kohleförderung im Haushalt 2004 mit circa 16 Milliarden Euro festgeschrieben hat?
Ob man für oder gegen Atomstrom ist, darüber kann
man sprechen. Aber Deutschland erzeugt Strom aus
Kernkraft und hat meiner festen Überzeugung nach daher auch die ethische Verpflichtung, für eine sichere Entsorgung dieses hochgiftigen Abfalls zu sorgen. Ein möglicher Lagerstandort, der Salzstock in Gorleben - er
könnte geeignet sein -, darf nicht weiter untersucht werden. Nach einer Investition in die Erkundung dieses
Salzstocks in Höhe von 1,3 Milliarden Euro gibt es nun
ein Moratorium, das pro Jahr lächerliche 20 Millionen
Euro kostet.
({5})
Hochgiftiger Atommüll muss oberirdisch in natürlich
ebenfalls für viel Geld zu errichtenden Zwischenlagern
gelagert werden. Ist das nachhaltig?
({6})
Deutschland war weltweit führend in der Sicherheitstechnik im Bereich Kernkraft. Qualifizierte Techniker
und Ingenieure wurden im Rahmen des Moratoriums
entlassen und sind praktisch nicht ersetzbar, da es auch
die entsprechenden Ausbildungskapazitäten nicht mehr
gibt. Ist das nachhaltig? Hat das etwas mit Verantwortung für die heutige und kommende Generation zu tun?
Ein weiteres Beispiel ist die EU-Chemikalienpolitik.
Natürlich unterstützen wir das Ziel der EU, den Umgang
mit Chemikalien für Mensch und Umwelt so sicher wie
möglich zu machen. Doch man darf nicht vergessen: Die
Sicherheit für den Umgang mit Chemikalien ist bereits
im Rahmen einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen recht gut geregelt. Die neue EU-Chemikalienpolitik
gefährdet den größten europäischen Chemiestandort
Deutschland erheblich. Die 90 Prozent kleinen und mittleren Unternehmen in diesem Bereich sind besonders betroffen, da sie durch den Wegfall zahlreicher Stoffe auf
individuelle Kundenwünsche auch in kleinen Chargen
nicht mehr wie bisher schnell reagieren können. Das
mindert ihre Wettbewerbschancen. Es steht zu befürchten, dass Arbeitsplätze verloren gehen und Firmen ihre
Produktionsstandorte in Drittländer verlegen. Ist das unter besonderer Berücksichtigung ökonomischer, sozialer
und ökologischer Gesichtspunkte nachhaltig?
({7})
Meine Damen und Herren, wie man sieht, haben wir
wieder einmal keinen Mangel an Erkenntnissen, sondern
einen Mangel in Bezug auf die Umsetzung konkreter
Nachhaltigkeitsziele in konkrete Gesetzesvorhaben. Dabei müsste der Gedanke der Nachhaltigkeit, die Sorge
um die Zukunft, immanent in die Ausarbeitung von Gesetzesvorhaben einfließen, sodass ein weiteres Kontrollgremium eigentlich entbehrlich wäre.
Unter den gegebenen Umständen ist allerdings die
Einrichtung eines Zukunftsausschusses entsprechend unserem Antrag erforderlich. Bei dem nunmehr von den
Regierungsfraktionen und der FDP vorgeschlagenen
Beirat handelt es sich hingegen um ein bloßes Phantom.
In der Geschäftsordnung dieses Hauses taucht dieses Institut nicht auf, stattdessen der Begriff Ausschuss.
Wir brauchen nicht noch ein Gremium, das sich theoretisch mit Erkenntnisgewinn beschäftigt. Wir brauchen
endlich eine Regierung, die das als richtig Erkannte auch
politisch umsetzt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Astrid Klug von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik für heute ist nur gut, wenn sie auch morgen noch
richtig ist. Darum geht es beim Thema Nachhaltigkeit.
Frau Flachsbarth, wenn Sie in diesem Zusammenhang
die Atomkraft und den Atommüll anführen, dann muss
ich sagen, dass Sie den Begriff Nachhaltigkeit offensichtlich immer noch nicht richtig verstanden haben.
Atomkraft ist per se nicht nachhaltig;
({0})
denn die Atomkraft stellt ein Risiko für die nächsten Generationen dar.
Das Wort Nachhaltigkeit hat aber Konjunktur. Wer als
Unternehmer etwas auf sich hält, erstellt einen Nachhaltigkeitsbericht. Viele lokale Agendagruppen engagieren
sich vor Ort für konkrete Projekte der Nachhaltigkeit.
Stiftungen und Forschungsinstitute entdecken zunehmend die Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist in aller
Munde. Während sich aber die einen an dem etwas steifen Begriff verschlucken, wird er von anderen geradezu
inflationär eingesetzt - für alles, was irgendwie mit Zukunft zu tun hat. Ich sage Ihnen: Als Modeerscheinung
ist uns die Nachhaltigkeitsdebatte zu schade. Wir wollen
stattdessen, dass sie zum Kompass für Gesellschaft und
Politik wird.
({1})
Deshalb haben Bundesregierung und Bundestag vor
zwei Jahren die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie
„Perspektiven für Deutschland“ beschlossen. Darin
geht es sehr wohl um Generationengerechtigkeit. Es geht
darum, wie wir es erreichen können, dass wir unseren
Kindern, unseren Enkeln und unseren Urenkeln intakte
natürliche Lebensgrundlagen und genügend finanziellen
Spielraum für ihre eigenen Handlungen hinterlassen.
({2})
Es geht darum, dass wir heute Vorsorge betreiben, indem
wir in Innovation und Bildung investieren. Herr Krings,
es geht um wesentlich mehr als nur um Generationengerechtigkeit. Es geht auch um Lebensqualität, um Mobilität, um gesunde Luft, um gesunde Nahrungsmittel.
({3})
Es geht um den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft, um die Verteilung von Arbeit und um Perspektiven für Familien. Es geht ferner um unsere Verantwortung in der internationalen Zusammenarbeit. Es geht um
unseren Beitrag zur gerechten Verteilung von Chancen
in dieser Welt und zur weltweiten Bekämpfung von Armut in einer globalisierten Welt.
({4})
Das Green Cabinet, der ressortübergreifende Staatssekretärsausschuss,
({5})
arbeitet interdisziplinär an der Umsetzung und der Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie. Wir haben
schon gehört: Es gab in den vergangenen Legislaturperioden zahlreiche Enquete-Kommissionen, die wichtige
und wertvolle inhaltliche Grundlagen für unsere Arbeit
gelegt haben.
Der von der Bundesregierung 2001 berufene Nachhaltigkeitsrat hat den Auftrag, die Bundesregierung in
Sachen Nachhaltigkeitspolitik zu beraten,
({6})
Ziele, Indikatoren und Projekte vorzuschlagen und die
öffentliche Debatte zu forcieren. Viele wichtige Impulse
- das muss man an dieser Stelle noch einmal betonen sind in dieser Zeit vom Nachhaltigkeitsrat ausgegangen.
Uns in der Politik wurden auch kritische Worte mit auf
den Weg gegeben, die unsere weitere Arbeit prägen sollten.
({7})
Wir in der SPD-Fraktion wollen, dass das Parlament
in der Nachhaltigkeitsdebatte eine Katalysatorenrolle
übernimmt,
({8})
sich aktiv in die Nachhaltigkeitsdebatte einmischt und
die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie
konstruktiv und kritisch begleitet; denn obwohl mittlerweile viel über Nachhaltigkeit geredet wird, sind wir von
dem Ziel einer nachhaltigen Politik - da haben Sie völlig
Recht - immer noch weit entfernt, das aber schon seit
Jahrzehnten und unabhängig davon, welche Parteifarbe
in dieser Republik regiert hat.
Woran liegt das? Politisches Handeln ist nach wie vor
viel zu kurzfristig an Haushaltsjahren und an Wahlperioden orientiert.
({9})
Die Versuchung, in unserer kurzlebigen Mediengesellschaft schnell sichtbaren - vermeintlichen - Erfolgen
mehr Aufmerksamkeit zu widmen als langfristigen Wirkungen, ist zu groß. Die Bedürfnisse und Interessen der
nächsten Generationen - diese können sich nicht äußern und nicht in die Debatte einmischen, weil sie noch
gar nicht geboren sind - kommen im politischen Alltagsgeschäft immer wieder unter die Räder.
Die arbeitsteilige Organisation von Politik verhindert
die Klammer, die einzelne Themen und widerstreitende
Interessen zu einem Leitbild zusammenbindet. Die Menschen sehnen sich aber nach Orientierung und Halt. Wir
sind der Meinung, dass die Nachhaltigkeit als Leitbild
politischen Handelns diese Orientierung geben kann und
geben muss, und zwar dann, wenn messbare qualitative
Maßstäbe für Transparenz sorgen, Ziele vorgeben und
eine Zielkontrolle ermöglichen. Die Nachhaltigkeitsstrategie mit ihren 21 Indikatoren - das geht von der Ressourcenschonung über die Staatsverschuldung bis zum
Flächenverbrauch und zur Familienpolitik - bietet dafür
viele Ansätze.
Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie ist unser Fahrplan für eine vorausschauende Politik. Jetzt müssen wir
gemeinsam dafür sorgen, dass die ehrgeizigen Ziele, die
die Nachhaltigkeitsstrategie setzt, auch wirklich erreicht
werden. Wir brauchen dazu effiziente Instrumente im
politischen Entscheidungsprozess, die negative ökologische, ökonomische und soziale Wirkungen minimieren
und dafür sorgen, dass alle Entscheidungen einen ehrlichen Nachhaltigkeitscheck durchlaufen.
Wir reden zurzeit viel von Innovation.
({10})
Auch der Politikbetrieb und das klassische Politikverständnis der letzten Jahre brauchen Innovation. Wir sind
der Meinung, dass wir mit dem Beirat, den wir Ihnen
heute vorschlagen, genau die richtige Innovation in diesem Bereich auslösen, damit Nachhaltigkeit eine Chance
hat, auch wirklich umgesetzt zu werden.
({11})
Die SPD-Fraktion, die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen und die FDP-Fraktion schlagen dafür die
Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates für die
nachhaltige Entwicklung vor.
({12})
Dieser Beirat soll Plattform
({13})
und Impulsgeber für eine fortschrittliche Nachhaltigkeitsdebatte sein, die interdisziplinär Fäden zusammenführt, langfristige Perspektiven entwickelt, Querschnittsfragen koordiniert und kritisch hinterfragt, ob politische
Entscheidungen dem Ziel der nachhaltigen Wirkung gerecht werden.
Der Beirat soll die Umsetzung und die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie begleiten, kontrollieren und auch mitgestalten. Wir wollen Kontakte zu
allen Akteuren der Nachhaltigkeitsdebatte pflegen, mit
ihnen Diskussionen führen, uns insbesondere auch mit
Vertretern anderer Parlamente austauschen und von ihnen lernen und auf diese Weise die Debatte europaweit
vernetzen.
An dieser Stelle möchte ich an den TAB-Bericht
„Langzeit- und Querschnittsfragen in europäischen
Regierungen und Parlamenten“ erinnern. Dieser
TAB-Bericht ist auf Initiative der SPD-Bundestagsfraktion entstanden; ich möchte mich dafür besonders bei
der Kollegin Ulla Burchardt bedanken. Darin wurde
untersucht, wie andere europäische Länder mit diesem
Thema umgehen, wie dort langfristige politische Strategien und Querschnittsthemen in die politische Debatte
eingebunden werden und mit welchen Instrumenten gearbeitet wird. Das Büro für Technikfolgenabschätzung
hat uns die Empfehlung gegeben, hier bei uns ein parlamentarisches Gremium zu installieren,
({14})
das diese Debatte begleitet und konstruktiv und kritisch
unterstützt und die entsprechenden Impulse gibt.
Ich will mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und
Kollegen der FDP dafür bedanken, dass sie den Antrag
auf Einrichtung dieses Beirats unterstützen und damit
das in dieser Frage so wichtige Signal der partei- bzw.
fraktionsübergreifenden Verantwortung für die Zukunft
geben. Sie unterstreichen damit, wie ernst sie es nehmen.
Ich bedauere, dass die CDU/CSU-Fraktion nicht über ihren Schatten springen konnte, stattdessen aber kurz vor
Toresschluss wie Phönix aus der Asche ihren Zukunftsausschuss präsentiert hat, der sich alleine mit dem
Thema Generationengerechtigkeit beschäftigen und
diesen Bereich kontrollieren soll.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag
steht nichts von Nachhaltigkeit. Das heißt, Sie haben die
Bedeutung dieses Themas nicht begriffen. Nachhaltigkeit hat viel mit Generationengerechtigkeit zu tun, aber
eben nicht nur. Es geht dabei um wesentlich mehr. Das
wollen wir mit unserem Ansatz entsprechend unterstreichen.
({16})
Einen Ausschuss nach Ihrem Muster hätten wir einrichten können, wenn wir das Thema üblichen Parteiritualen und einem Kampf der Generationen hätten aussetzen wollen. Aber genau das wollten wir nicht. Wir
wollen einen Prozess in Gang setzen, wir wollen den Dialog, wir wollen, dass sich das Politikverständnis weiterentwickelt und es zu einer nachhaltigen Veränderung in
den Köpfen und in den Herzen kommt. Daran mitzuarbeiten, dazu laden wir Sie ausdrücklich ein.
Vielen Dank.
({17})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Klug, wenn diese Rede jetzt die Bewerbungsrede für den Vorsitz war, dann war sie okay.
({0})
Das Tempo, das Sie an den Tag gelegt haben, um diese
Dinge durchzudrücken, scheint mir allerdings eher ein
Hinweis darauf zu sein, welch schlechtes Gewissen Sie
haben.
({1})
Über den Kern des Themas sind wir uns doch einig.
Deshalb will ich hier auch nicht über den Begriff der
Nachhaltigkeit reden. Sie wissen selber, dass es sich dabei im Grunde um einen zutiefst deutschen Begriff handelt, der in der deutschen Forstwirtschaft entwickelt
wurde. Von Anfang an war damit der Gedanke verbunden, nur das zu nutzen, was im gleichen Zeitraum wieder
nachwächst. Von Anfang an waren in ihm ökologische,
soziale wie auch wirtschaftliche Elemente enthalten.
Aber wenn wir das Thema für so wichtig erachten und
im Parlament verankern wollen, müssen wir uns schon
darüber unterhalten, warum wir den Weg der Einrichtung eines Beirates wählen und nicht vielmehr einen
Ausschuss, wie wir es wollen, im deutschen Parlament
einrichten. Da gehört das Thema nämlich hin.
({2})
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist seit 1713 unterschiedlich ausgelegt worden. Die große Euphorie ist erst
durch den Brundtland-Bericht 1987 entstanden. Er findet sich dann auf der Rio-Konferenz 1992 wieder und
mittlerweile ist er im Nachhaltigkeitskonzept 2002 der
Bundesregierung wiederzufinden. Jetzt kommt das Interessante: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen
sagt in seiner Stellungnahme zur Konzeption der Bundesregierung, in Bezug auf die Nachhaltigkeit betreibe
die Bundesregierung eine Begriffsauflösung, sie nehme
sie nicht mehr wirklich wahr.
({3})
Fritz Vorholz geht in der „Zeit“ sogar noch weiter. Er
schreibt:
Warum indes das Konvolut
- der Bundesregierung mit dem Nachhaltigkeitsetikett geadelt wurde ... ist
auf den ersten Blick kaum ersichtlich.
Nachhaltigkeit wird durch Sie zur Leerformel, die für
alles steht, was Rot-Grün sowieso plant bzw. verabschiedet; wir erleben es heute wieder. Ich frage Sie: Warum
gehen wir eigentlich nicht den Weg, dass wir die Dinge,
die heute unter diesem Tagesordnungspunkt zusammengefasst sind, in den zuständigen Geschäftsordnungsausschuss verweisen, um uns dort darüber zu unterhalten?
({4})
- Nein, er war es nicht. - Sie drücken auf das Tempo und
drängen auf eine sofortige Abstimmung ohne Überweisung.
({5})
Ich komme zum Punkt: Der Beirat, den Sie uns hier
unbedingt unterjubeln wollen,
({6})
ist ein weiterer Beleg Ihres falschen Verständnisses von
Nachhaltigkeit.
({7})
Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen machen muss. Wir
sind eine parlamentarische Demokratie, noch sind wir
keine Räterepublik.
({8})
Wir wollen dieses Thema dort behandeln, wo es hingehört.
({9})
Deshalb lautet unser Gegenkonzept klipp und klar: Wir
brauchen einen Ausschuss. Er muss umfassend zuständig sein, sich selbstverständlich mit Umweltschutz und
der Entwicklung der natürlichen Ressourcen auseinander
setzen, er muss sich aber eben auch mit der demographischen Entwicklung, mit der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, mit der Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme und mit der Entwicklung von
Wissenschaft und Bildung am Standort Deutschland auseinander setzen. Er braucht einen umfassenden Auftrag.
({10})
Wir haben auch ein Mittel dazu: das Mittel der Generationenverträglichkeitsprüfung, das Mittel der Generationenbilanz ist entwickelt. Selbst die Bundesbank
macht bereits alljährlich Prüfungen und Rechnungen, die
die Generationenverträglichkeit, die Generationenbilanz
Deutschlands darstellen. Die Werte sind unter Ihrer Regierung nicht besser geworden; das wundert uns auch
nicht.
({11})
Meine Damen und Herren, wir fordern bewusst einen
Querschnittsausschuss; wir haben uns das wohl überlegt. Wir wollen diesen Ausschuss vor der ersten Lesung
in den Fachausschüssen mit entsprechenden Themen befassen, um den Fachleuten die Dinge mit auf den Weg zu
geben, die wir in diesem Fachausschuss umfassend und
generationengerecht entwickeln.
({12})
Dafür gibt es ein Beispiel: Der Europaausschuss ist aus
denselben Gründen als Querschnittsausschuss aufgestellt
worden, nämlich weil wir gesagt haben: Das deutsche
Parlament muss sich generell mit den Dingen, die in Europa entwickelt werden, auseinander setzen. Mindestens
so wichtig wie Europa muss uns doch die zukünftige
Entwicklung in Deutschland sein.
({13})
Frau Kollegin Klug, Sie haben den Bericht des Technikfolgenabschätzungsbüros genannt. Aber wenn Sie ihn
schon zitieren, zitieren Sie ihn bitte richtig! Ich darf Ihnen vorlesen, was auf Seite 31 der Drucksache 15/2129
steht:
Eine hervorgehobene Form der Institutionalisierung
der Beschäftigung des Deutschen Bundestages mit
Langzeit- und Querschnittsfragen wäre - orientiert
etwa am Modell des Zukunftsausschusses des finnischen Parlaments ({14})
die Einrichtung eines speziellen Gremiums für
Nachhaltigkeit oder Zukunftsfragen ...
Es folgt die Begründung, der wir uns ausdrücklich anschließen:
Dies
- nur ein Ausschuss würde entsprechend der auf Regierungsseite erfolgten Institutionalisierung in Form des Nachhaltigkeitsrates und des Staatssekretärausschusses für
Nachhaltige Entwicklung die Arbeitsstruktur der
Regierung spiegeln und entspräche der bisherigen
parlamentarischen Institutionalisierungspraxis.
({15})
Ich fordere Sie deshalb noch einmal auf - ich kann
nur an Sie appellieren -: Machen Sie nicht Politik à la
Trittin - tricksen, tarnen, täuschen -, sondern nutzen Sie
unser Angebot zu einer breiten parlamentarischen Auseinandersetzung über eine erfolgreiche nachhaltige Entwicklung.
({16})
Aber wenn schon, denn schon! Lassen Sie uns das richtig machen, denn der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP auf Drucksache 15/2441 mit dem Titel „Ein-
richtung eines parlamentarischen Beirates für nachhal-
tige Entwicklung“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion an-
genommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2129 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Zusatzpunkt 5. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/2387 mit dem Titel „Einrichtung eines Zukunftsaus-
schusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion
gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Distanzierung der Bundesregierung von gesetzwidrigen Zerstörungen von Freisetzungsversuchen mit gentechnisch veränderten
Pflanzen
- Drucksache 15/1825 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael
Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburg
durchführen
- Drucksache 15/2352 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Christel Happach-Kasan das Wort für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass gentechnisch veränderte Pflanzen eine Gesundheitsgefährdung darstellen,
so Ministerin Künast bei der Vorstellung der Novelle des
Gentechnikgesetzes. Wenn sie Recht hat, dann hat sie
Recht.
({0})
- Man muss feststellen, dass es erstmalig Beifall der Opposition für eine Feststellung von Ministerin Künast
gibt.
Der Protest grüner Abgeordneter gegen diese zutreffende Feststellung ließ nicht auf sich warten. Aber er ist
in der Sache verfehlt. Mit ihrer Äußerung hat die Ministerin umgesteuert und anerkannt, was in der Wissenschaft unumstritten ist. Wir wünschen der Ministerin in
dieser Frage Durchsetzungskraft bei ihrer grünen Klientel.
Ich muss anmerken: Für ihre Parteifreunde ist der
Verlust des Feindbildes Grüne Gentechnik schmerzlich.
Schon in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der
FDP-Fraktion im Frühjahr letzten Jahres war deutlich
geworden, dass auch die Bundesregierung für die angeblichen Gefahren der Grünen Gentechnik keine Beispiele kennt.
Bundeskanzler Schröder hat das Jahr mit einer Innovationsinitiative begonnen. Das ist gut so. Von dieser
Initiative können aber nur Impulse ausgehen, wenn auch
Taten folgen. Die erste Tat muss sein, dass sich die Bundesregierung von den gesetzwidrigen Zerstörungen von
Freisetzungsversuchen distanziert.
({1})
Sie muss auch den ihr nahe stehenden Kritikern deutlich
machen, dass auch sie an rechtsstaatliches Handeln gebunden sind, und sie muss dieses Handeln auch einfordern.
({2})
Es gibt in unserem Rechtsstaat keinen Freibrief für
rechtswidriges Handeln.
({3})
Die Übersicht über die zerstörten Versuche zeigt: Es
wurden Versuchsfelder von Pflanzenzuchtunternehmen
genauso zerstört wie Felder, die der Sicherheitsforschung dienten. Es wurden Felder von Kulturpflanzen
zerstört, die auskreuzen, genauso wie Felder von Arten,
die nicht auskreuzen können. Zerstörung und nichts anderes, was auch sonst als Motiv genannt sein mag, steht
im Vordergrund.
({4})
Der Bund der Pflanzenzüchter beziffert die Schäden
durch die Zerstörung von Versuchen auf zwischen
1,5 Millionen und 2,5 Millionen Euro. Hinzu kommt der
Verlust an Wissen, an Marktchancen, an Zukunftschancen für junge Menschen, die Themen der SicherheitsDr. Christel Happach-Kasan
forschung in Diplom- und Doktorarbeiten bearbeiten
wollten.
Im Grundgesetz ist der Schutz des Eigentums verankert. Es kann nicht sein, dass eine Bundesministerin die
Zerstörung von Eigentum toleriert.
({5})
Ich fordere Sie, Ministerin Künast - ich bedauere sehr,
dass sie heute nicht anwesend ist -, nachdrücklich auf:
Distanzieren Sie sich klipp und klar von den Feldzerstörungen, egal von wem sie durchgeführt wurden! Das ist
das Mindeste, was Sie als Ministerin für den Schutz des
Eigentums und für unseren Rechtsstaat leisten müssen.
({6})
Es muss Sie doch nachdenklich stimmen, Frau Ministerin, dass die Biologische Bundesanstalt für Land- und
Forstwirtschaft jährlich 50 000 Euro allein für den
Schutz von Versuchsfeldern aufwendet. Das sind Mittel,
die anders wesentlich besser verwandt werden könnten.
Da verwundert nicht nur das Verhalten von Ministerin
Künast, die sich im ZDF auf konkrete Nachfrage nicht
von den gesetzwidrigen Zerstörungen distanziert hat.
Auch auf dem Server der Universität Kassel finden sich
Links zu den Seiten von Gentechnikgegnern. Dort heißt
es dann - ich zitiere wörtlich -:
Inwieweit die bereitgestellten Informationen genutzt werden, um die demokratischen Rechte gegen
die Gentechnologie wahrzunehmen, bleibt jedem
und jeder selbst überlassen.
Ein Schelm, der Böses dabei denkt!
Für die FDP stelle ich klar: Es gibt kein demokratisches Recht auf Zerstörung von Versuchsfeldern mit
transgenen Pflanzen.
({7})
Die fehlende Distanzierung der Ministerin Künast gewinnt vor dem Hintergrund der Novellierung des Gentechnikgesetzes an zusätzlicher Bedeutung. In dem Gesetz wird gefordert, dass die Freisetzung und der Anbau
transgener Sorten in einem Standortregister erfasst werden, das allgemein zugänglich sein soll. Frau Ministerin,
Sie müssen sich entscheiden: Ist das Standortregister ein
Instrument der behördlichen Überwachung von Feldern
mit transgenen Pflanzen, wie es in der Gesetzesbegründung heißt, oder ist es ein Hilfsmittel für Gentechnikgegner, Zerstörungen von Feldern zu organisieren?
({8})
Zum zweiten Antrag. Der Apfel war im Altertum
Symbol für Liebe und Fruchtbarkeit. Alma Ata heißt
„Stadt des Apfels“. Von dort gelangten die ersten Äpfel
in den Mittelmeerraum und von dort nach Mitteleuropa.
867 000 Tonnen Äpfel wurden in Deutschland im vergangenen Jahr geerntet. Damit steht Deutschland in
Europa beim Apfelanbau an dritter Stelle. Dieselbe
Menge importieren wir noch einmal.
Äpfel schmecken gut und sind gesund.
({9})
- Ich freue mich, dass ich den Beifall des ganzen Hauses
bekomme. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, Sie widersprechen damit natürlich einer alten
Weisheit der Grünen: All das, was Spaß macht und gut
schmeckt, ist entweder verboten oder macht dick. - Äpfel nicht.
Auch Obstbäume werden von Krankheiten bedroht.
Feuerbrand ist eine hoch ansteckende bakterielle Erkrankung, die bereits in den Obstplantagen insbesondere in
Baden-Württemberg erhebliche Schäden verursacht hat.
Ohne Streuobstwiesen würde die Kulturlandschaft an
Reiz verlieren und der Lebensraum für viele Tierarten
verloren gehen.
Deshalb ist es gut, dass sich die Bundesanstalt für
Züchtungsforschung in der Züchtung von Sorten engagiert, die gegen die bakterielle Erkrankung Feuerbrand
und gegen die Pilzerkrankungen Apfelschorf und Apfelmehltau resistent sind. Zur Bekämpfung dieser Krankheiten werden im konventionellen Anbau Antibiotika
und Fungizide eingesetzt. Die Bundesregierung setzt
sich für einen völligen Verzicht der Anwendung antibiotikahaltiger Pflanzenschutzmittel ein. Wenn man nicht
gänzlich auf den Anbau von Äpfeln verzichten will
- wer will das wirklich? -, ist das nur möglich, wenn resistente Sorten zur Verfügung stehen. Die mit herkömmlichen Methoden gezüchteten Sorten genügen nicht den
Kriterien, die an eine Weltsorte gestellt werden. Daher
ist es konsequent, wenn zur Züchtung neuer Sorten die
Methoden der Gentechnik angewandt werden.
({10})
Bisher wurden 1,14 Millionen Euro aufgewandt - viel
Geld, das nur dann sinnvoll aufgewendet wurde, wenn
die notwendigen Freisetzungsversuche in Pillnitz und
Quedlinburg durchgeführt werden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Vor dem Hintergrund der vorliegenden Novellierung des Gentechnikgesetzes, der Kanzlerinitiative zur
Innovation und der Klarstellung durch Ministerin
Künast, dass es keinerlei Hinweise für eine Gesundheitsgefährdung durch transgene Pflanzen gebe, stellt ein
weiteres Aufschieben dieser gut vorbereiteten Versuche
die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung infrage. Welchen Wert haben Kanzlerinitiativen, wenn keine Taten
folgen, wenn die Innovationsleistungen der gesamten
Biotechnologiebranche in Aktenschränken verstauben
und nicht zur Anwendung kommen, wenn die Wertschöpfung aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen
Forschung freiwillig an das Ausland abgegeben wird?
Wie soll der dringend notwendige Abbau der Arbeitslosigkeit gestaltet werden, wenn die Abwanderung gut
ausgebildeter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen
nicht wenigstens begrenzt wird?
Frau Happach-Kasan, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum letzten Satz. - Ich fordere die Bundesregierung auf, nicht nur von Innovation zu reden,
sondern auch die vielen Innovationen im Bereich der
Biotechnologie aktiv zu unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerald Thalheim.
({0})
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In wenigen Wochen werden wir anlässlich der Beratung über
den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gentechnikrechts Gelegenheit haben - Frau Happach-Kasan,
vielleicht vor größerem Publikum und aus besserem Anlass -, über diese ganze Problematik etwas ausführlicher
und sachlicher zu diskutieren, als Sie das soeben getan
haben.
({1})
Die entscheidende Tat der Bundesregierung bzw. des
Bundeskanzlers, die Sie eingefordert haben, ist, im Hinblick auf die Neuordnung des Gentechnikrechts in
Umsetzung der europäischen Richtlinie 2001 einen
Rechtsrahmen zu schaffen, um auch in Deutschland gentechnisch veränderte Pflanzen - die entsprechende Genehmigung vorausgesetzt - anbauen zu können.
Das sollte uns gemeinsam zu denken geben: Allein
die Ankündigung des Gesetzentwurfs und der Inhalt dieses Entwurfs haben eine - ich möchte fast sagen - extrem kontroverse Diskussion in Deutschland ausgelöst.
Sehr viel Kritik ist geäußert worden.
({2})
Es gab Widerstand gegen diese Regelung, die wohlgemerkt eine Umsetzung des europäischen Rechts darstellt.
({3})
Es bleibt festzuhalten: Eine Mehrheit der Bürger in
unserem Land steht der Anwendung der Gentechnik bei
der Nahrungs- und Futtermittelproduktion skeptisch
gegenüber, weil der Nutzen für den Verbraucher nicht zu
erkennen ist. Das ist der Vorwurf, der letztlich auch der
Industrie, also den Anbietern, zu machen ist.
Wir können die Ängste und den Widerstand nicht einfach wegbeschließen und wir können die Risiken dieser
Technik nicht einfach sozialisieren und vielleicht sogar
noch die Werbung mit öffentlichen Mitteln finanzieren,
während die Gewinne privatisiert werden.
({4})
Wir haben überhaupt keine Alternative dazu, die Sorgen
der Bevölkerung ernst zu nehmen und im Gesetzentwurf zu berücksichtigen. Das ist auch im Interesse derer,
die die Gentechnik anwenden wollen. Der Gesetzentwurf muss ferner die Rückverfolgbarkeit, die Kennzeichnung - sie sind wichtige Teile des ganzen Projektes, um die sich viele sorgen - und die Koexistenz
sicherstellen. Das heißt, wer auch in Zukunft gentechnikfrei produzieren will, kann dies auch tun.
Eine der Schimären, die Sie in die Öffentlichkeit zu
bringen versuchen, ist, dass die Skepsis allein aus dem
rot-grünen Regierungslager komme. Sie wissen ganz genau, dass sie viel eher aus dem konservativen Lager
kommt. Frau Reichard, unterhalten Sie sich einmal mit
Graf von Bassewitz vom Deutschen Bauernverband,
({5})
der die Initiative für eine gentechnikfreie Zone in Mecklenburg-Vorpommern ergriffen hat.
Sie werden noch staunen, was sich in Sachsen-Anhalt
abspielen wird. Ich könnte Ihnen dazu Leserbriefe aus
der „Magdeburger Volksstimme“ vorlesen. Wir müssen
und werden die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger
ernst nehmen und am Ende eine Regelung finden, die
beides berücksichtigt, die Sorgen und die Interessen der
Industrie.
Es kann nicht hingenommen werden - dazu mache
ich eine klare Aussage in Richtung der Antragsteller -,
dass die Ängste diskreditiert werden, indem sie zum
Vorwand für Zerstörungen von Freisetzungsversuchen
mit gentechnisch veränderten Pflanzen dienen.
Ich kann Ihnen die schriftliche Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage auf Drucksache 14/2942
vorlesen, wonach die Bundesregierung mutwillige Zerstörungen von Versuchsfeldern von gentechnisch veränderten Organismen verurteilt. Ihre Interpretation der
Aussagen der Bundesministerin Frau Künast entspricht
einfach nicht den Tatsachen. Im Übrigen teilen wir auch
Ihre Bewertung in Ihrem Antrag, dass das Vorgehen bestimmter Organisationen rechtlich nicht zulässig und
folglich ganz klar zu verurteilen ist.
Allerdings ist nicht die Bundesregierung in der Verantwortung, dagegen vorzugehen, sondern die Landesbehörden. Ich staune daher schon, dass kaum bekannt
ist, dass die entsprechenden Landesbehörden in dieser
Richtung aktiv geworden sind.
Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
Ihr Antrag ist gegenstandslos und zielt ins Leere.
({6})
Das gilt auch für den zweiten Antrag, der sich mit der
Freisetzung von Apfelbäumen in Pillnitz und Quedlinburg befasst. Die Bundesministerin lehnte den Antrag
aufgrund politischer und sachlicher Erwägungen ab. Zunächst zu den politischen Gründen: Wir sind mit der
Neuordnung des Gentechnikrechts dabei - ich habe es
bereits erwähnt -, den Weg für die praktische Anwendung in Deutschland freizumachen.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Dr. Happach-Kasan?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Aber gerne.
Bitte schön, Frau Happach-Kasan.
Herr Staatssekretär, der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion bezieht sich auf einen Vorfall im Sommer des
vergangenen Jahres, zu dem die Ministerin in der Sendung „Frontal 21“ gefragt wurde - ich zitiere -:
Ihre Behörde genehmigt einen Weizenversuch in
Gotha und anschließend schlägt Greenpeace diesen
Versuch entzwei und ruiniert diesen Versuch. Sie
treten gemeinsam auf. Ist das Absicht oder billigen
Sie das nicht, dass Felder zerstört werden?
Auf diese Frage hat die Ministerin ausweichend geantwortet. Sie hat gesagt, ich gehe davon aus: Das ist
eine brillante Frage von „Frontal 21“, um einen Ihrer berühmten Berichte zu machen.
Ich meine, dass dies keine Distanzierung von der Zerstörung von Freisetzungsversuchen ist.
({0})
Sie haben etwas zitiert, was auch ich nachgelesen
habe, nämlich eine Antwort der Bundesregierung aus der
vergangenen Legislaturperiode. Ich beziehe mich jedoch
auf Vorgänge im vergangenen Sommer und hätte es
schon gerne gehabt, dass sich die Ministerin von diesen
Vorgängen genauso distanziert, wie sie es in der letzten
Legislaturperiode bei anderen Vorgängen gemacht hat.
({1})
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Happach-Kasan, es gibt wohl keinen geeigneteren Ort als das Rednerpult des Deutschen Bundestages,
um hier klar Stellung zu beziehen und zu sagen, dass wir
das nicht akzeptieren können. Dies können Sie im Protokoll dann nachlesen. Die Gründe dafür habe ich bereits
dargelegt. Diese unterscheiden sich im Übrigen nicht
von der Begründung Ihres Antrags: Rechtsbruch ist einfach nicht hinzunehmen.
({2})
Ich war dabei, einige Bemerkungen zu den Freisetzungsversuchen zu machen. Ich habe ausgeführt, dass
es für die Ablehnung politische Gründe gab. Insbesondere nenne ich die Frage der Glaubwürdigkeit. Es ist einfach nicht möglich, einerseits zu sagen: „Wir können
Gentechnik nur anwenden, wenn die Koexistenz gewährleistet ist, wenn Ängste entsprechend ernst genommen werden“ und andererseits gleichzeitig eine Freisetzung zu genehmigen.
Es gab auch sachliche Einwände. Wie Sie wissen, hatte
das Umweltbundesamt noch keine Genehmigung erteilt,
weil es in einer Region wie Pillnitz, dem Elbtal, wo es sehr
viele Obstzüchter gibt, die Gefahr von Auskreuzungen
gesehen hat. Auch aus dem Bereich gab es erheblichen
Widerstand. Ich denke, Frau Bundesministerin Künast
war gut beraten, in dieser Phase so zu entscheiden, wie
entschieden worden ist.
Wenn das Gesetz verabschiedet ist, wenn der Rechtsrahmen im Wege der Umsetzung der entsprechenden
Richtlinie auch für die Anwendung von Gentechnik in
Deutschland geregelt ist, kann dieses Projekt möglicherweise für einen anderen Standort, an dem es dafür mehr
Akzeptanz gibt, noch einmal diskutiert werden. Gegenwärtig ist dafür aus den Gründen, die ich ausführlich
dargelegt habe, nicht der geeignete Zeitpunkt.
Recht vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Die Vorgänge zur Grünen Gentechnik in Deutschland
sind schon ziemlich einmalig. „Staatlich veräppelte Forschung“ hat das die Presse kürzlich landauf, landab tituliert.
({0})
Da gibt ein Ministerium Steuergelder aus, um neue Erkenntnisse in der Wissenschaft zu gewinnen, und eine andere Ministerin ordnet persönlich ein Forschungsverbot
für genau dasselbe Vorhaben an. Herr Dr. Thalheim,
wenn das kein Tollhaus ist, wo finden wir es dann sonst?
({1})
Es kommt aber noch besser: Genau das, was Ministerin Künast ihrer eigenen politischen Weltanschauung geopfert hat, fand sich vor wenigen Tagen im Internet wieder: Keine geringere Organisation als die National
Academy of Science der USA vermeldet dort einen wissenschaftlichen Durchbruch. Mithilfe der Gentechnik
- so wird dort dargestellt - sei es gelungen, marktfähige
Apfelbäume virusresistent zu machen. Genau das, was
Frau Künast in Deutschland abgewürgt hat, wird dort als
wissenschaftlicher Durchbruch gefeiert.
Es wird auch darauf hingewiesen, dass durch diese
neue Möglichkeit bis zu 15 Pflanzenschutzspritzungen
in den Obstplantagen eingespart werden könnten.
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn
das für den Verbraucher und die Wissenschaft kein Vorteil
ist, dann frage ich mich, was dann ein Vorteil sein soll.
Dass die Ministerin so etwas in Deutschland verbietet,
spricht nun wirklich Bände. Herr Dr. Thalheim, an diesem
Punkt mussten Sie ja eben auch etwas herumeiern. Denn
die Verantwortlichen im Ministerium hatten ja zuerst behauptet - Sie haben das eben teilweise wiederholt -, dass
der Versuch wegen der Auskreuzungsgefahr kritisch zu
beurteilen gewesen sei. Dann mussten Sie aufgrund unserer Nachfragen aber einräumen, dass in Quedlinburg in
Sachsen-Anhalt bei den Versuchsbäumen überhaupt
keine Blütenbildung vorgesehen war. Wo nichts blüht,
kann aber auch nichts auskreuzen. Insofern war dies eine
reine Scheinbehauptung, die aber nicht der Wahrheit entsprochen hat.
({3})
Danach haben Sie diesen einzigartigen Eingriff in die
Freiheit der Wissenschaft - auch das ist eben gesagt worden - damit begründet, dass die Akzeptanz der Bevölkerung in den betroffenen Regionen gefehlt hätte. An dieser Stelle hat meine Kollegin Frau Heller in der Fragestunde nachgeforscht. Daraufhin haben Sie zugeben
müssen, dass bei dem Versuch in Quedlinburg vor Ihrer
Entscheidung ganze drei - ich wiederhole: ganze drei Einwendungen vorgelegen haben.
Wenn Sie also aufgrund von drei Einwendungen die
Meinung vertreten, die gesamte Bevölkerung habe sich
gegen diese Versuche gewehrt, dann kann ich nur sagen:
Damit kann man solche Entscheidungen wirklich nicht
begründen. Ich glaube, noch deutlicher kann die Scheinheiligkeit dieser Argumentation nicht aufgedeckt werden. In diesem Bereich der Forschung kommt man sich
allmählich vor, als sei man in Zeiten zurückversetzt, in
denen das, was die Untertanen tun durften, von des Fürsten Gnaden abhängig war.
({4})
Zweitens hat die Ministerin hier im Parlament - darüber haben wir auch gestern wieder diskutiert - gegenüber der Öffentlichkeit schlicht Unwahrheiten über den
Goldenen Reis und seine Nutzungsmöglichkeiten verbreitet. Der Erfinder des Goldenen Reis, Professor
Potrykus, hat sich ja auch schriftlich an uns Abgeordnete
und auch an sie gewandt und um Klarstellung gebeten.
Dazu ist weder gestern von der Ministerin noch heute
von Ihnen ein einziges Wort der Klarstellung gesagt
worden.
Drittens hat die Ministerin vor einiger Zeit persönlich
an einer Greenpeace-Aktion, die zusammen mit EDEKA
Nord durchgeführt wurde, teilgenommen, die letztendlich auf Verbrauchertäuschung hinauslief.
({5})
- Es waren ja mehrere Personen anwesend. Aber ich
möchte Ihnen einmal Folgendes sagen: Mit großem
Tamtam hat sie damals erklärt, dass es dort angeblich
gentechnikfreies Schweinefleisch gebe. Dann haben wir
nachgeforscht, wie dieser Sachverhalt im Ministerium
beurteilt wird. Uns wurde gesagt,
({6})
dass man beim aus Brasilien importierten Soja überhaupt
nicht klären könne, ob es mit oder ohne Gentechnik produziert worden sei. Bei der Einfuhr werde es von den
Zollbehörden daraufhin überprüft, ob die gelieferten Güter in äußerlich erkennbarer Weise den Angaben in den
Dokumenten entsprächen.
({7})
- Auch durch Lautstärke können Sie den Fakten, die
Verantwortliche Ihres Hauses zusammengestellt haben,
nicht entgegenwirken.
({8})
Des Weiteren hat ein Kollege von Dr. Thalheim auf eine
Nachfrage bestätigt, dass dort in der Produktion gentechnisch hergestellte Zusatzstoffe heute üblich seien, nämlich Enzyme, Aminosäuren und Vitamine - sie werden
heute allesamt gentechnisch hergestellt -, und dass es
nicht zulässig sei, so das Ministerium, solche Produkte
dann als gentechnikfrei zu kennzeichnen.
({9})
Warum nenne ich diese Punkte? Das tue ich deswegen, weil die Ministerin mit ihrem Verhalten ein öffentliches Bild der modernen Biotechnik in der LandwirtHelmut Heiderich
schaft erzeugt, das völlig verzerrt ist. Frau Dr. HappachKasan hat eben darauf hingewiesen, dass die Ministerin
bei allen Aktionen wegschaut, bei denen in gesetzwidriger Weise Forschung, insbesondere solche der öffentlichen Hand, zerstört wird. Gerade haben auch Sie, Herr
Dr. Thalheim, wieder von diesem Verhalten abgelenkt
und versucht abzuwiegeln.
Welche Welten zwischen dem Verhalten in Deutschland und dem in unserem Nachbarland Frankreich liegen, will ich Ihnen an einem kleinen Beispiel deutlich
machen. Auch in Frankreich gibt es einen Kämpfer gegen Globalisierung und - wie er es nennt - „la malbouffe“. Er ist, seit er im Jahre 1999 einmal eine McDonald’s-Filiale demontiert hat, eine Art nationale Größe
geworden. José Bové wurde von der Presse sogar einmal
als Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht. Doch
auch diese Berühmtheit und Bekanntheit haben die französische Regierung nicht daran gehindert, ihn wegen der
Zerstörung von gentechnisch verändertem Saatgut im
vergangenen Jahr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten zu verurteilen. Die Strafe wurde von Jacques
Chirac persönlich zwar deutlich verkürzt, aber der Vorgang an sich macht, wie ich finde, sehr deutlich, welche
Unterschiede im Umgang mit diesem Thema zwischen
unseren beiden Ländern bestehen. In Frankreich schaut
man nicht weg und scheut sich nicht, auch national bekannte Größen zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie in
dieser Weise gesetzwidrig gegen Forschungsvorhaben
der Biotechnik vorgehen.
Im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Dr. Thalheim,
eben geäußert haben, finde ich, dass es dringend notwendig ist, dass sich die Bundesregierung von den gesetzwidrigen Aktionen deutlich distanziert, damit mit diesen
Aktionen in Deutschland endlich Schluss ist. Ich begrüße, was Sie eben von dieser Stelle aus gesagt haben.
({10})
Die Initiative der FDP ist vollkommen richtig und findet unsere volle Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Ostendorff
vom Bündnis 90/Die Grünen, der für die Kollegin Ulrike
Höfken einspringt, die erkältet ist.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf den Antrag der FDP zu sprechen
komme, will ich etwas zu den Ausführungen von Herrn
Heiderich sagen. Herr Heiderich, gerade beim Programm der EDEKA Nord, das Sie angesprochen haben,
gibt es, wie übrigens bei vielen anderen Programmen
auch, außerordentlich genaue Definitionen zum Einsatz
von Sojaschrot und hinsichtlich der Fütterung. Wenn Sie
sich ernsthafter damit beschäftigt hätten,
({0})
hätten Sie Ihre Aussage, die Sie hier eben gemacht haben, so nicht aufrecht erhalten können.
Als ich den Antrag der Kollegen der FDP zum ersten
Mal gelesen habe, dachte ich, es handele sich um einen
Beitrag zum diesjährigen Karneval. Aber nach der gestrigen Goldmann’schen Kravalldebatte hier im Bundestag war uns klar, dass es sich nicht um einen Rosenmontagsscherz handelt, sondern dass wir aufgefordert sind,
uns ernsthaft mit diesem Unsinn zu beschäftigen.
Sehr geehrte Kollegin Happach-Kasan, sehr geehrter
Kollege Goldmann, wir von den Grünen fragen uns
langsam, ob das Ihre Auffassung von ernsthafter Politik
ist, die Sie im Agrarausschuss und besonders im Plenum
in letzter Zeit zur Aufführung bringen. Wir sagen dazu
Nein. Wenn Ihnen nicht mehr einfällt, dann ersparen Sie
uns bitte diese Debatten. Wir sind bemüht, ernsthaft um
agrarpolitische Fragen zu ringen.
({1})
Was verstehen Sie eigentlich unter den geheimnisvollen „regierungsnahen Organisationen“, die laut Ihrem
Antrag Felder zerstören sollen?
({2})
Ich habe das Gefühl, dass Sie zu viel Harry Potter gelesen oder zu viele Verschwörungsfilme im Kino gesehen
haben, anstatt sich ernsthaft mit diesen Themen zu beschäftigen.
Man muss sich einmal vorstellen: Ministerin Renate
Künast soll sich von etwas distanzieren, was sie weder
unterstützt noch gar begangen hat, zu dem sie sich lediglich nicht geäußert hat.
({3})
Es gibt vieles in dieser Republik, wozu sich Minister
nicht äußern. Es ist meiner Meinung nach auch nicht die
Aufgabe von Ministern, sich zu allen Vorgängen in diesem Land zu äußern.
({4})
Die Regierung wird von Ihnen ohne den geringsten Ansatz eines Hinweises oder gar eines Beweises in Verbindung zu Feldzerstörungen gebracht, mit denen sie überhaupt nichts zu tun hat.
({5})
McCarthy lässt grüßen, meine lieben Kollegen von der
FDP.
({6})
Und das von einer Partei, die das Wort „liberal“ im Namen führt!
Stellen Sie sich einmal vor, wohin das führen könnte.
In einer Aktuellen Stunde soll sich Guido Westerwelle
von Forderungen nach komplettem Sozialabbau distanzieren. Das hätte noch eine gewisse Logik qua inhaltlicher Nähe.
({7})
Oder die FDP soll sich für das, was Haider verbreitet,
entschuldigen. Niemand verlangt das von Ihnen, sehr
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Sie
aber scheinen aus profilneurotischen Gründen den Bundestag zu einer Satireveranstaltung machen zu wollen.
({8})
Ihr Antrag passt gut in Ihre Politik zur Agrogentechnik. Sie haben sich noch nie ernsthaft mit dieser Problematik befasst, sondern vertreten schon immer einäugig
die Interessen von Lobbyisten der Gentech-Multis, und
das ohne jeden Zweifel, ohne jede Skrupel und gegen die
Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher und
der deutschen Landwirtschaft.
({9})
Ihren blinden Fortschrittsglauben, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, braucht das Land ebenso wenig wie Feldzerstörungen. Was wir brauchen ist eine
Gentechnikpolitik mit Augenmaß, die Vorsorge und Sicherheit für Gesundheit und Umwelt in den Vordergrund
stellt. Deshalb werden wir in Kürze ein Gentechnikgesetz vorlegen, das die Vorsorge und die Haftung in den
Vordergrund stellt.
Darüber hinaus werden wir dafür sorgen, dass bei Anwendung der Gentechnik beim Anbau und in der Lebensmittelproduktion größtmögliche Sicherheit besteht.
({10})
Oft wird behauptet, Gentechnik würde schon jahrelang
angewendet und es hätten sich noch keine Risiken ergeben. Die Auswirkungen gentechnisch veränderter Organismen sind bisher aber nur bei etwa einem Prozent der
weltweiten experimentellen Freisetzungen untersucht
worden. Sie handeln nach dem Motto: Wer gar nicht erst
nach Risiken sucht, der wird auch keine Risiken finden.
In den wenigen Studien, die es gibt, wird gezeigt, wie
wichtig das Vorsorgeprinzip ist, für das sich Bündnis 90/
Die Grünen einsetzen.
({11})
Die kürzlich in Großbritannien veröffentlichte Studie ist
deswegen so bemerkenswert, weil es in Großbritannien
über 200 großflächige Standorte gibt, auf denen gentechnisch veränderte Organismen stehen.
({12})
Diese sind über einen Zeitraum von drei Jahren untersucht worden. Dabei stellte sich heraus, dass sich durch
den Anbau herbizidresistenter Pflanzen massive Auswirkungen auf die Vielfalt von Ackerkräutern und Insekten
ergeben, die unter anderem auf den Einsatz der mit den
GV-Pflanzen verknüpften Totalherbizide zurückzuführen sind.
({13})
Zudem konnten die britischen Wissenschaftler nachweisen, dass das Auskreuzungspotenzial von gentechnisch
veränderten Pflanzen - vor allem Raps - höher als bisher
vermutet ist. Die Bienen trugen die Pollen bis zu
26 Kilometer weit.
Es ist unsere politische Überzeugung, dass es notwendig ist, Fragen zur Sicherung der gentechnikfreien Produktion und zur Haftung gesetzlich zu beantworten, bevor es zu einem kommerziellen Anbau von gentechnisch
veränderten Pflanzen in Deutschland kommt.
({14})
Herr Kollege Ostendorff, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?
Gerne.
Bitte schön, Frau Kollegin Happach-Kasan.
Herr Kollege Ostendorff, sind Ihnen auch die Untersuchungen bekannt, in denen transgene herbizidresistente Rapssorten mit nicht transgenen herbizidresistenten Rapssorten verglichen worden sind, wobei
festgestellt wurde, dass die Herbizidresistenz bei beiden
Sorten die gleichen Auswirkungen hat, es also in dieser
Hinsicht keinerlei Unterschiede gibt?
Mir sind nationale Versuche, die universitär ausgewertet wurden und die ein solches Ergebnis erbracht haben, nicht bekannt. Sie können sie uns gerne zur Verfügung stellen.
({0})
Ich fahre fort. In Kanada zum Beispiel, wo die Sicherung der gentechnikfreien Produktion nicht geregelt ist,
können Biobauern und konventionelle Bauern seit der
Einführung des kommerziellen Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen nicht mehr gentechnikfrei
produzieren. Diese Entwicklung werden wir in DeutschFriedrich Ostendorff
land mit dem neuen Gentechnikgesetz verhindern. Das
geht nicht dadurch, dass wir die Hände in den Schoß legen und abwarten, bis die EU-Kommission weitere Genprodukte zulässt. Das geht nur, indem wir uns der Herausforderung stellen.
Für die Sicherheitsforschung ist es wichtig, dass auch
mögliche unspezifische Auswirkungen gentechnisch
veränderter Pflanzen auf die Nahrungsketten, die Artenvielfalt und die Lebensgemeinschaft von Pflanzen untersucht werden.
({1})
Die Auswirkungen der Gentechnologie auf den konventionellen und den ökologischen Landbau und auch mögliche langfristige Wirkungen müssen untersucht werden.
Dafür werden wir sorgen.
({2})
Wer hier im Parlament ist eigentlich dagegen, dass es
weiterhin einen gentechnikfreien Anbau gibt?
({3})
Die Rede des Kollegen Matthias Weisheit von der
SPD-Fraktion nehmen wir mit Ihrer Billigung zu Proto-
koll.1)
({0})
Deswegen hat jetzt die Kollegin Christa Reichard von
der CDU/CSU-Fraktion als letzte Rednerin zu diesem
Tagesordnungspunkt das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße den Antrag der Liberalen zu den Freilandversuchen in Pillnitz und Quedlinburg. Glauben Sie mir: Ich
werde nicht tatenlos zusehen, wie in meiner Heimatstadt
Dresden ein international führendes Forschungsinstitut
durch grüne Willkür gefährdet wird.
({0})
Fehlende Akzeptanz bei den Obstbauern und bei der
Bevölkerung soll der Grund sein, Herr Dr. Thalheim. Ich
habe Frau Künast schriftlich gefragt, was sie unternom-
men hat, um die Akzeptanz der Bevölkerung für die
1) Anlage 3
Freilandversuche in Pillnitz und Quedlinburg zu ermitteln. Innerhalb von drei Wochen konnte das Ministerium
keine Antwort darauf geben und bat um Fristverlängerung. Wenn Sie tatsächlich irgendetwas zur Information
und Aufklärung unternommen hätten, dann wäre es kein
Problem, zu antworten. Was sagen Sie denn dazu, dass
sich der Sächsische Landesverband der Obstbauern und
die Fachgruppe Obstbau im Bundesausschuss Obst und
Gemüse im Dezember für die Durchführung der Versuche in Dresden-Pillnitz ausgesprochen haben? Ist das die
fehlende Akzeptanz der Obstbauern?
({1})
Meinen Sie wirklich, dass 250 Einsprüche aus ganz
Deutschland ohne Prüfung auf deren Relevanz im Genehmigungsverfahren wichtiger als die Interessen der
Agrarwirtschaft und der Erwerbsbauern sind, die auf die
Ergebnisse aus Pillnitz warten? Besonders rätselhaft ist
für mich, warum der Versuch auch in Quedlinburg gestoppt wurde, obwohl es dort keine Akzeptanzprobleme
gibt und die Bundesregierung selbst einräumt, dass dort
keine Auskreuzung möglich ist. Nötiger denn je ist eine
umfassende Aufklärung der Bevölkerung; denn fast alle,
die sich mit der Grünen Gentechnik wirklich beschäftigt
haben, sind von einer anfangs skeptischen Haltung abgerückt, selbst der Vatikan. So weit zum fachlichen Teil der
Debatte.
Wegen der zu erwartenden Genehmigung - Aussagen
zuständiger Sachverständiger legen dies nahe - hat Frau
Künast persönlich das Verfahren gestoppt, also im letzten Moment die Reißleine gezogen. Hat es Vergleichbares schon einmal gegeben? Warum hat sie Angst vor einer Genehmigung? Die fadenscheinige Begründung der
Ministerentscheidung zeigt mir, dass es dafür noch andere Gründe geben muss; denn der Auftrag für diese
Forschung kam schließlich aus ihrem Ministerium. Alle
Antworten auf unsere Fragen haben für den plötzlichen
Sinneswandel keine plausible Begründung ergeben.
Denken Sie, es ist Zufall, dass Ende September vorigen Jahres eine Versammlung unter grüner Regie in
Dresden stattfand und eine Kampagne gegen die Freisetzung gestartet wurde? Denken Sie, es ist Zufall, dass die
grüne Dresdner Bundestagskollegin Hermenau kurz danach sächsische Spitzenkandidatin der Grünen für die
Landtagswahl wurde? Zurzeit weisen die Grünen in
Sachsen stolze 2 Prozent Zustimmung auf.
({2})
Denken Sie, es ist Zufall, dass am 24. Oktober nur eine
triumphierende Pressemitteilung der sächsischen grünen
Abgeordneten über eine interne Entscheidung des Ministeriums zur Verhinderung der Freilandversuche informierte, bevor das Institut in Pillnitz davon überhaupt
Kenntnis erhielt?
Könnte es vielleicht sein, dass der eigentliche Grund
für den Verfahrensstopp vor allem Rückenwind für die
sächsischen Grünen sein soll und dieses Vorgehen von
Christa Reichard ({3})
Anfang an parteiintern abgestimmt war? Frau Ministerin, das wäre Willkür nach Gutsherrenart.
({4})
Eine von Ideologie und Parteipolitik geprägte Entscheidung schadet der bundeseigenen Forschung in Dresden
und Quedlinburg, setzt 1,14 Millionen Euro der Steuerzahler in den Sand und wird die Grünen in Sachsen nicht
wieder in den Landtag bringen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1825 und 15/2352 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der Pflegeversicherung
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antragstellende Fraktion hat der Kollege Horst Seehofer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es vergeht mittlerweile keine Woche, in der dieser Bundesregierung nicht ein gravierender Fehler unterläuft. Das Stichwort dieser Woche ist die Pflegeversicherung. Damit hat die Bundesregierung das zweifelhafte
Kunststück fertig gebracht, dass nach der Rentenversicherung, der Krankenversicherung und der Arbeitslosenversicherung nun auch die Pflegeversicherung in
einer ernsten Krise steckt. Ich bin schon lange in diesem
Parlament, aber noch keine Bundesregierung hat es geschafft, alle Versicherungszweige gleichzeitig in die
Krise zu führen.
({0})
Dienstag erklärte der Bundeskanzler, eine Reform der
Pflegeversicherung komme nicht infrage. Das ist ein
ganz fatales Signal: Unser Land kann im Moment alles
vertragen, aber keinen politischen Stillstand. Nach der
Politik der ruhigen Hand kommt nun wohl die Politik
des Stillstandes.
({1})
Heute erklärt die Bundesregierung in Gestalt ihrer Parlamentarischen Staatssekretärin beim Pflegekongress, dass
die Bundesregierung Beitragserhöhungen in der Pflegeversicherung nicht ausschließe.
({2})
Der geplante Zeitzuschlag für Demenzkranke und die
Dynamisierung der Pflegeleistungen ließen sich nur finanzieren, wenn es tendenziell höhere Beiträge gebe, so
die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundessozialministerium, Marion Caspers-Merk. Diese Bundesregierung ist mittlerweile der absolute Inbegriff der Unfähigkeit. Anders kann man es nicht sagen.
({3})
Es gibt zwei Gründe, warum wir eine Reform der
Pflegeversicherung brauchen. Seit 1999 schreibt die
Pflegeversicherung rote Zahlen, bis 1998 verzeichnete
sie Überschüsse.
({4})
Die roten Zahlen haben einen politischen Grund. Das
Erste nämlich, was die neue Bundesregierung nach 1998
tat, ging zulasten der Pflegeversicherung: Im Wege eines
Verschiebebahnhofs hat sie die Beiträge, die Bezieher
von Arbeitslosenhilfe an die Pflegeversicherung leisteten, reduziert. Das war der eigentliche Grund, warum
auch diese Sozialversicherung in die Krise kam. Es liegt
nicht an der Struktur der Pflegeversicherung, dass wir
heute über eine Schieflage diskutieren, sondern an der
falschen Politik, die in der Pflegeversicherung seit 1999
betrieben wird.
({5})
Seit April 2001 haben wir zudem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Familien mit Kindern
beim Beitrag zur Pflegeversicherung besser gestellt werden müssen. Drei Jahre hatte die Bundesregierung mittlerweile Zeit. Es gab Gründe, warum sie nicht gehandelt
hat und warum sie jetzt das beabsichtigte Handeln wieder rückgängig macht.
Der erste Grund war und bleibt, dass angesichts von
14 Wahlen in diesem Jahr auch jetzt wieder versucht
wird, die Wähler zu täuschen.
({6})
Jetzt sage ich Ihnen einmal, was Ihr Fraktionsvorsitzender Müntefering vor der Bundestagswahl zum selben
Thema gesagt hat:
({7})
Wir müssen den Leuten vor der Wahl sagen, wie wir uns
die Lösung bei der Pflegeversicherung vorstellen. - So
äußerte sich Ihr Fraktionsvorsitzender Müntefering vor
der Bundestagswahl 2002.
({8})
Sie haben es nicht gesagt. Sie haben die Wahl abgewartet und anschließend das Konzept erarbeitet, um das es
in diesen letzten Wochen ging.
Jetzt zieht der Bundeskanzler die Entscheidung zur
Pflegeversicherung zurück, und zwar aus den gleichen
Gründen, die er in all den letzten Jahren vor jeder Wahl
hatte. Vor der Wahl wird schön geredet und nach der
Wahl wird das Gegenteil getan. Jetzt geht es wieder darum, die dringend notwendige Reform der Pflegeversicherung wegen der anstehenden Wahl in Hamburg, der
Wahl zum Europäischen Parlament und vieler anderer
Wahlen in diesem Jahr hinauszuschieben. Erst im
Herbst, in der Endphase dieses Jahres, wird man im
Hopplahopp-Verfahren das Parlament mit diesem Thema
befassen.
({9})
Der alleinige Grund dafür ist, der Bevölkerung die
Wahrheit vorzuenthalten. Das ist der Grund für Ihr Handeln. Ihnen ist es völlig gleich, ob Sie die dringend notwendigen Verbesserungen für Demenzkranke und für
Pflegebedürftige ebenfalls auf die lange Bank schieben.
Das Erste, was diese Pflegeversicherung braucht, ist
die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, wonach Kinder erziehende Familien besserzustellen sind. Seit drei Jahren gibt es diesen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts.
({10})
Das Zweite ist, dass wir die Lücken, die die Pflegeversicherung heute noch aufweist, schließen: Wir brauchen leistungsrechtliche Verbesserungen für Demenzkranke und müssen die seit 1996 nicht mehr angepassten
Pflegesätze für die ambulanten Stationen - das ist ein
Skandal - erhöhen. Beides ist wegen dieser Entscheidung
des Bundeskanzlers auf absehbare Zeit nicht möglich.
({11})
Es gibt noch etwas, das wir sehr kritisieren. Es gibt
auch einen inhaltlichen Fehler. Es gibt bei der Ausgestaltung des Kinderbonus bzw. der Besserstellung von Kinder erziehenden Familien in der Sozialversicherung viele
denkbare Modelle. Aber, Frau Schmidt, eines kann man
nicht machen, nämlich Familien, die in der Vergangenheit Kinder großgezogen haben und deren Kinder aus
dem Haus sind, jetzt einen höheren Pflegeversicherungsbeitrag zumuten, wie Sie es beabsichtigt haben. Denn
diese Familien hatten niemals den Vorteil eines Kinderbonus in der Vergangenheit. Die haben die gleichen Beiträge gezahlt wie alle anderen Familien auch. Daher geht
es nicht, wie Sie beabsichtigt hatten, dass diese Familien, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, einen höheren Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen.
Was immer Sie nach dieser zurückgestellten Entscheidung überlegen - für eine solche Bestrafung von Familien, die in der Vergangenheit Kinder großgezogen haben, werden Sie unsere Stimmen nicht bekommen.
({12})
Herr Kollege Seehofer, kommen Sie zum Schluss!
Erlauben Sie mir noch eine letzte Bemerkung an die
Adresse der Koalition.
Nein, Herr Kollege Seehofer, wir sind in einer Aktuellen Stunde. Das geht nicht.
Meine Redezeit von fünf Minuten ist um.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Bundesministerin Ulla Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin sehr froh, Herr Kollege Seehofer, dass die Entscheidung des Bundeskanzlers zumindest dazu führt, dass das
Thema Pflegeversicherung auch von Ihrer Seite diskutiert wird.
({0})
Wir können über vieles reden. Sie haben im Laufe der
Zeit so manchen Antrag in den Deutschen Bundestag
eingebracht.
Vieles, über das wir heute diskutieren und das auch
notwendig ist, hat nichts damit zu tun, dass die Pflegeversicherung plötzlich in eine Krise gerät. Die finanzielle Deckung der Pflegeversicherung ist immer noch gegeben, aber es besteht Handlungsbedarf. Das ist übrigens
ein Grund, warum wir die Rürup-Kommission und Sie
die Herzog-Kommission eingesetzt haben: um die Fragen der Finanzierung und der langfristigen Entwicklung
der Pflegeversicherung zu klären.
({1})
Man sollte in seinen Redebeiträgen immer anständig
sein und beim Thema bleiben. Als ich in den vergangenen beiden Tagen die Berichterstattung in den Medien
verfolgt habe, hatte ich wiederholt den Eindruck, dass
ganz Deutschland und auch viele Politiker nach Reformen rufen.
({2})
Aber wenn es darum geht, die Reformen umzusetzen,
dann möchte man mit ihren Auswirkungen am liebsten
nichts zu tun haben.
({3})
Ich denke dabei nicht nur an die aktuelle Gesundheitsreform.
Es geht auch darum, dass wir, wenn wir Verbesserungen im Bereich der Pflege vor allem der älteren Generation - es gibt durchaus auch jüngere Menschen, die darauf angewiesen sind, aber hier geht es in erster Linie um
die ältere Generation - erreichen wollen, in Deutschland
eine Debatte darüber führen müssen, was uns die Pflege
wert ist und wie wir sie organisieren wollen.
Wenn hier die Wahrhaftigkeit eine Rolle spielen soll,
dann muss der Redlichkeit halber auch anerkannt werden, dass die Pflegeversicherung schon bei ihrer Einführung mit Mängeln behaftet war. Das ist auch jedem bekannt.
({4})
Die Mängel zu akzeptieren war unumgänglich, damit
dieser wichtige Zweig der Sozialversicherung eingerichtet werden konnte.
({5})
Ich will das auch nicht kritisieren. Aber so zu tun, als
seien die Mängel erst 1998 aufgetreten und als liege es
an der rot-grünen Bundesregierung, dass ein fester Beitragssatz gesetzlich verankert wurde, wohl wissend, dass
dies jeder tun muss, der ein neues Sozialversicherungssystem einführt, ist unredlich.
({6})
Denn wer Leistungen und Beiträge deckelt, Herr Kollege Seehofer, der kalkuliert von Anfang an ein, dass
weder die Nachhaltigkeit der Finanzierung gewährleistet
werden kann, noch dass die Leistungen in dem angesichts eines zunehmenden Pflegebedarfs und der demographischen Entwicklung notwendigen Umfang erbracht
werden können. Der Redlichkeit halber sollten auch
diese Tatsachen angesprochen werden.
({7})
Bei der Einführung der Pflegeversicherung wurde
lange über den Umgang mit Menschen, die demenziell
erkrankt sind, psychisch Kranken und Behinderten sowie mit Menschen, die eine eingeschränkte Alterskompetenz aufweisen, debattiert. Seinerzeit ist die Entscheidung getroffen worden, zunächst den Einstieg in diese
Versicherung anzugehen, weil bereits die Frage ihrer
Einführung so umfangreiche Debatten mit sich gebracht
hat wie die heute anstehende Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung.
({8})
Insofern ist schon damals die Weiterentwicklung bewusst ausser Acht gelassen worden.
Deshalb wäre es redlich gewesen, wenn Sie, Kollege
Seehofer, die Sie zu den Gründungsvätern dieser Säule
der Sozialversicherung gehören, in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen hätten, dass seinerzeit eine Deckelung des Beitragssatzes bei 1,7 Prozent erfolgt ist und
dass spätestens jetzt die Zeit gekommen ist, eine Dynamisierung vorzunehmen. Damit hätten Sie uns die Hand
gereicht, um die Pflegeversicherung gemeinsam weiterzuentwickeln.
({9})
Sie haben in Ihrer Regierungszeit trotz aller Diskussionen über den notwendigen Änderungsbedarf bis 1998
nichts mehr getan.
Wir haben seit 1998 notwendige Reformen in der
Pflegeversicherung vorgenommen. Ich nenne nur das
Vierte Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch, wodurch die häusliche Pflege gestärkt worden
ist. Eine Verbesserung ist, dass sich Menschen, die Angehörige zu Hause pflegen, sich für vier Wochen eine
Ersatzkraft leisten können, um sich zu erholen. Ich
nenne das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz, das erstmals - wenn auch nur in begrenztem Rahmen - eine Lösung für die Probleme derjenigen bietet, die zu Hause
Demenzkranke pflegen. Es gibt nun eine Betreuungshilfe. Und ich nenne das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz.
Ich möchte auf die Vorschläge des CDU-Parteitags
und der Herzog-Kommission nicht näher eingehen.
Auch der Kollege Seehofer hat das nicht getan, weil er
eine andere Meinung hat. Nur so viel: Danach wollen
Sie die Pflegeversicherung abschaffen und eine feste
Kopfpauschale in Höhe von 69 Euro im Monat einführen, und zwar für jeden.
({10})
Der Kollege Storm, der sich bisher nicht zur Verbesserung der Leistungen geäußert hat, hat in dieser Woche
gesagt, man solle für die Entlastung derjenigen, die Kinder erziehen, einfach 1,6 Milliarden Euro zur Verfügung
stellen. Herr Kollege Storm, ich habe gerade auf der
Rednerliste gesehen, dass Sie nicht reden werden; das
bedauere ich. Ich rede jetzt oft, weil Sie das so erfreut.
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute sagen, welche
Steuern Sie erhöhen wollen.
({11})
Wollen Sie die Steuerfreibeträge für Feiertags-, Nachtund Schichtarbeit abschaffen? Wollen Sie die Entfernungspauschale und die Eigenheimzulage weiter reduzieren oder wollen Sie die Mehrwertsteuer anheben?
Herr Kollege Storm, einfach 1,6 Milliarden Euro zu fordern und mir vorzuwerfen, ich würde mich erst in vier
Wochen, nach der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft, zu
diesem Problem äußern, hat mit Redlichkeit nichts zu
tun.
({12})
Schade, dass Sie in der Aktuellen Stunde keine Zwischenfrage stellen können. Ich hätte gerne gehört, was
Sie machen wollen. Auf die Vorschläge der FDP möchte
ich erst gar nicht eingehen.
Wir werden in diesem Jahr das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, und zwar schnell und fristgerecht. Vieles muss verändert werden. Darüber sollten Sie
sich aber keine Gedanken machen. Herr Kollege
Seehofer, ich möchte nur auf eines hinweisen: Man kann
darüber diskutieren, ob man den Weg, den die RürupKommission vorgeschlagen hat - danach ist das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts so zu verstehen, dass Eltern in der aktiven Phase der Erziehung zu entlasten
sind, damit nicht Erziehungsleistungen und finanzielle
Leistungen sowie gleichzeitig hohe Beiträge zur Pflegeversicherung zu erbringen sind -, oder den einfachen
Weg der Entlastung über Steuern oder Beiträge oder den
Weg, den ich vorgeschlagen habe - alle zahlen mehr, mit
Ausnahme der Eltern -, einschlägt. Wer aber meint, dass
diejenigen, die nie Kinder erzogen haben, die Entlastung
der Eltern in der aktiven Phase der Erziehung zahlen
müssten, der vereinfacht die gesellschaftliche Debatte in
unzulässiger Weise; denn es gibt viele Menschen, die ungewollt kinderlos sind. Wir werden darüber diskutieren
und einen Weg finden.
Wir werden in dieser Legislaturperiode außerdem die
notwendigen Schritte unternehmen, um die Versorgung
von Demenzkranken und Menschen mit eingeschränkter
Alltagskompetenz zu verbessern. Mit der Reform der
Pflegeversicherung soll die ambulante Pflege vor der
stationären gefördert und sollten die Leistungen dynamisiert werden, damit auch die ambulanten Pflegedienste
ihre Aufgaben wahrnehmen können. Das werden wir angehen. Wir werden aber auch diejenigen, die Verantwortung im Pflegebereich tragen, in die bevorstehende
breite Diskussion einbeziehen.
Ich wäre sehr froh, wenn auch Sie sich daran beteiligen würden; denn wenn ich Sie richtig verstanden habe,
dann wollen auch Sie Veränderungen. Wenn der Kollege
Storm uns dann noch sagt, woher die 1,6 Milliarden
Euro kommen sollen, sind wir schon einen Schritt weiter.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schmidt, Sie haben gerade eine Pirouette gedreht, für die ich Ihnen nur die Bestnote geben
kann.
({0})
Sie haben viel gesagt, aber nicht, was wirklich passieren
wird. Sie haben nichts als bloße Ankündigungen gemacht; das sind noch lange keine Reformen.
({1})
Wir wissen nicht, wann in diesem Jahr etwas gemacht
wird und was es sein wird.
Das Defizit der Pflegeversicherung steigt jedenfalls
seit 1999 unaufhörlich. Betrug das Defizit im Jahre 2002
noch 400 Millionen Euro, so waren es laut Berechnungen des VdAK im vergangenen Jahr 500 Millionen
Euro. Die Zahlen belegen eindeutig, dass es ohne eine
grundlegende Reform der Pflegeversicherung nicht mehr
weitergehen kann.
({2})
Es gibt zwar noch Rücklagen in Höhe von circa
5 Milliarden Euro, doch diese werden relativ schnell
aufgebraucht sein, wenn die Pflegeversicherung jedes
Jahr ein neues Rekorddefizit einfährt.
Vergessen Sie nicht die demographische Entwicklung: Im Jahre 2020 werden laut Berechnungen
3 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig
sein; bisher sind es fast 2 Millionen. Wir brauchen wirklich eine grundlegende Pflegereform, die dem Rechnung
trägt. Das reine Verschieben einer Reform bedeutet noch
lange nicht, dass die Probleme verschoben werden.
({3})
Noch am 22. Oktober, vor gerade einmal drei Monaten, ließ Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ein
Eckpunktepapier zur Reform der Pflegeversicherung
verbreiten und erklärte - ich zitiere -:
Mit diesem Konzept beweist die Bundesregierung
auch in diesem Bereich, dass Reformen rasch …
auf den Weg gebracht werden. Die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ist Teil der RundumErneuerung der sozialen Sicherungssysteme und
damit auch Teil der Agenda 2010.
Der Bundeskanzler sagte am 25. Oktober - nur drei Tage
danach - in einem Interview der SPD-Postille „Vorwärts“:
Es gibt ganz einfach objektive Probleme, die gelöst
werden müssen. Und diese Probleme lassen uns
keine Ausrede: Wir müssen handeln.
({4})
Der Kanzler hat Recht.
Die demographische Entwicklung und der steigende
Pflegebedarf lassen der Regierung keine Zeit zu warten.
Daniel Bahr ({5})
Sie können vielleicht die Pflegereform verschieben; die
Probleme können Sie nicht verschieben. Das, was Sie
betreiben, ist keine verlässliche Politik zum Wohle der
Bürger. Sie verfolgen einen Zickzackkurs. Die Regierung hat anscheinend kein Konzept für die Pflege. Der
Regierung fehlen offenbar der Mut und die Kraft für eine
wirkliche Pflegereform.
({6})
Ich habe heute im Ticker gelesen, dass Regierungssprecher Anda gesagt hat, Einzelheiten der geplanten
Reform sollten nun mit Experten geklärt werden. Was
haben Sie denn bisher gemacht? Sind die Eckpunkte
etwa nicht mit Experten abgestimmt worden? War die
Rürup-Kommission etwa keine Expertenkommission?
({7})
Was Sie dort machen, ist Hickhack. Was Sie vorlegen, ist
kein Konzept. Ich sage Ihnen voraus: Das reine Verschieben - das machen Sie jetzt -, das reine Warten auf
Lösungen wird dazu führen, dass es weiter Rationierungen der Pflege geben wird, dass die Rücklage weiter aufgebraucht wird und dass am Ende gestiegene Beiträge
stehen werden. Das ist unverantwortlich!
({8})
Die Resonanz auf die Äußerungen des Bundeskanzlers war eindeutig: Unverständnis und Ablehnung auf allen Seiten. Rürup, der Leiter der von der Bundesregierung eingesetzten gleichnamigen Kommission, bedauert
den Aufschub der geplanten Reform der Pflegeversicherung mit den Worten:
Die Regierung hat sich ein bisschen Zeit gekauft,
aber der Reformbedarf wird jetzt größer.
Die Kirchen sprechen von der „Pflege als Pflegefall“.
Auch aufseiten der Regierungskoalition wurden die Offenbarungen des SPD-Vorsitzenden mit Erstaunen zur
Kenntnis genommen.
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich bin
einmal gespannt, ob auf die vollmundigen Versprechen,
die heute in der Zeitung zu lesen waren, auch Taten folgen werden, ob Sie die SPD bei diesem Thema zur Rede
stellen werden.
Die Position der FDP zur Reform der Pflegeversicherung ist klar und deutlich: Das jetzige System ist so nicht
mehr haltbar. Wir müssen eine tief greifende Reform der
Pflege angehen. Kernpunkt einer Reform muss der Aufbau eines Kapitaldeckungsverfahrens wie bei der Alterssicherung sein.
({9})
- Herr Schmidbauer, die Probleme, vor denen wir stehen, sind nicht neu. Die FDP hat schon Mitte der 90erJahre genau gesagt, dass das Umlageverfahren vor diesen Problemen stehen wird.
({10})
Sehenden Auges haben Sie trotzdem mit der CDU/CSU
zusammen diese Reform - gegen den Willen der FDP leider durchgesetzt. Es war damals für eine kleine Partei
wie die FDP schwierig, sich gegen die beiden Blöcke
von Unverständnis und Uneinsichtigkeit durchzusetzen.
({11})
Das jetzige Umlageverfahren in der Pflegeversicherung ist zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen eine kapitalgedeckte Säule für die private Eigenvorsorge. Das,
was wir alle gemeinsam für die Alterssicherung erkannt
haben, dass wir sie nämlich nicht allein auf dem Umlageverfahren aufbauen können, muss doch Anlass für uns
sein, jetzt bei der Pflegeversicherung umzusteuern und
auf Kapitaldeckung zu setzen.
Ich will auch noch etwas zur Ungleichbehandlung
von Familien und Kinderlosen sagen: Durch die jetzt
diskutierte Freibetragsregelung für Erziehende wird dem
System erneut Geld entzogen, sodass nunmehr die Reserven der Pflegeversicherung noch schneller abschmelzen werden als vorher. Dadurch wird es unmöglich, die
Beiträge über 2006 hinaus konstant zu halten. Auch der
ursprünglich geplante Strafzuschlag von 2,50 Euro für
Kinderlose, der jetzt vom Tisch sein soll, war doch auch
nichts anderes als eine verkappte Beitragserhöhung für
alle, mit Ausnahme der Kindererziehenden. Von Entlastung der Familien kann nun wirklich nicht die Rede sein.
({12})
Frau Ministerin Schmidt, sagen Sie doch, dass Sie
nicht umhinkommen, die Beiträge zu erhöhen, statt dieses Hickhack zu veranstalten! Haben Sie den Mut zu einer wirklichen Reform! Die Unterstützung der FDP für
eine wirklich grundlegende Änderung der Pflegeversicherung mit dem Ziel der Einführung des Kapitaldeckungsverfahrens hätten Sie.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren!
Ich sage nichts als die Wahrheit. Aber, lieber Herr Bahr,
ich kann Ihnen versichern: Ihre Vorschläge zur Umstellung auf ein Kapitaldeckungsverfahren werden wir nicht
brauchen.
Herr Seehofer, ich denke, Sie hatten Recht, als Sie
vorhin sagten, dass es in jeder Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde zu den notwendigen Reformen gibt. Letztes
Mal drehte die FDP Pirouetten zur Gesundheitsreform,
heute drehen Sie Pirouetten zur Pflegeversicherungsreform.
({0})
- Nein, ich verwechsle nichts, Herr Zöller, leider nicht.
({1})
Das bisher Vorliegende zur Reform der Pflegeversicherung - das kann ich sagen - waren wertvolle Bausteine, die, wie Sie zu Recht gesagt haben, zu erheblichen Verbesserungen in diesem wichtigen Zweig führen
werden. So wird endlich der ambulante Sektor gegenüber dem stationären Sektor gestärkt. Wir alle wissen
aber, dass der stationäre Sektor wieder erheblich zunimmt. Deshalb bedarf es dringend einer Änderung. Es
werden auch wesentliche Verbesserungen für die Pflegebedürftigen, insbesondere für die Demenzkranken, und
die Angehörigen erzielt; dies bezieht sich auch auf die
Dynamisierung. Nur weil es bei einem einzigen Baustein
in diesem System unterschiedliche Auffassungen gibt,
nämlich wie die Finanzierung dieses Reformprozesses
erfolgen soll, speziell die Ausgestaltung der Regelungen
für Kindererziehende - natürlich muss man sich das
noch einmal genau ansehen und darüber diskutieren -,
rufen Sie und mit Ihnen auch gleich die Medien wieder
„Reformstopp!“, „Ruhige Hand!“ oder auch „Zitternde
Hand!“.
({2})
- Das sind alles Zitate.
Das, was Sie hier betreiben, auch das, was Herr
Seehofer gesagt hat, trägt nicht dazu bei, die Probleme
tatsächlich zu lösen. Sie führen weiter eine Bürgerverunsicherungsdebatte erster Klasse. Dabei haben Sie nicht
nur einen Vorschlag für die Lösung der Probleme in der
Pflegeversicherung. Nein, Sie haben gleich zwei. Ich
finde es ganz spannend, dass es innerhalb einer Partei
gleich zwei Lösungsvorschläge gibt.
({3})
Das Problem ist nur: Sie passen nicht zusammen.
({4})
Heute Morgen habe ich Herrn Seehofer im Fernsehen
gesehen. Er hat wie immer, auch hier, die Schwierigkeiten und die Defizite in der Pflegeversicherung par excellence beschrieben und gesagt, dass Eltern immer Eltern
bleiben und sie deswegen nach der Erziehungsphase
nicht mehr belastet werden dürften. Gleichzeitig sagt er,
dass das Ganze nicht über Steuern zu finanzieren sei.
Man müsse vielmehr nach einem Lösungsweg innerhalb
des Systems suchen. - Dann habe ich gelesen, dass Herr
Storm 10 Euro pro Kind vorgeschlagen hat. Dies soll
aber nicht innerhalb des Systems finanziert werden, sondern über Steuern. Ich frage mich: Wie wollen Sie diese
1,6 Milliarden Euro finanzieren? Ihre beiden Konzepte
passen überhaupt nicht zusammen.
Für alles andere, was Sie vorschlagen, um die bestehenden Probleme in der Pflegeversicherung zu lösen
- die Versorgung Demenzkranker, die Dynamisierung,
der Aufbau einer Kapitaldeckungsreserve usw. -, bringen Sie keinen einzigen Finanzierungsvorschlag oder
aber Sie sagen einfach: über Kapitaldeckung.
({5})
Die Finanzierung Ihrer Vorschläge ist völlig offen. Ich
schlage Ihnen vor, erst einmal in Ihren beiden Parteien
ein Synopse zu erstellen und dann zu schauen, was zusammenpasst. Dann werden Sie feststellen, dass nichts
zusammenpasst.
({6})
Wie schon in der Pflegeversicherung geht es innerhalb der CDU/CSU auch bei anderen Dingen nicht zusammen: Weder bei der Rente noch bei der Gesundheit,
geschweige denn bei der Steuer gibt es gemeinsame
Konzepte. Es ist immer so, dass der eine dies vorlegt, der
andere jenes. Ich rate Ihnen, den Artikel „In Zwietracht
vereint“ in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen
Zeitung“ zu lesen:
Die Bayern-Truppe ist fest überzeugt, dass die
„Brachialreformer“ der CDU die Menschen abschrecken und so die Wahl 2006 schon jetzt in den
Sand setzen.
In der CDU wiederum wollen sich maßgebliche
Kräfte nicht mehr von der CSU bremsen lassen, die
sie als eine „Nostalgo-Wessi-Partei“ empfinden, …
Ich schlage Ihnen vor: Einigen Sie sich erst einmal auf
realisierbare und finanzierbare Konzepte! Wir werden
das innerhalb dieser Legislaturperiode tun und eine Lösung innerhalb der Pflegeversicherung vorschlagen.
({7})
Angesichts all der Probleme - Dynamisierung, Demenzerkrankte, ambulante und stationäre Pflege - ist das dringend notwendig. Wir werden uns auch über eine nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung und ebenso
darüber Gedanken machen, wie Kindererziehende entlastet werden können.
({8})
- Nein, das tun wir nicht seit sechs Jahren, Herr Zöller.
({9})
Wenn Sie Vorschläge einbringen, dann gestalten wir
diese gern mit.
({10})
Solange Sie sich aber nicht darüber einigen können, über
was Sie eigentlich reden und wie Sie in diesem Lande
was reformieren wollen,
({11})
muss ich Ihnen sagen: Machen Sie erst einmal Ihre
Hausaufgaben!
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Nach meinem Dafürhalten wird in dieser Debatte zu
viel über Zahlen gesprochen und zu wenig über die Menschen, die gepflegt werden, und die Menschen, die pflegen. Ich habe mehrere Pflegeheime besucht und mit
Pflegerinnen gesprochen. Sie klagten über die unerträgliche und täglich zunehmende Bürokratie. Jeder Handgriff muss aufgeschrieben werden. Alles muss dokumentiert werden. Die Pflegerinnen verbringen zu viel Zeit
mit Formularen und zu wenig Zeit mit den pflegebedürftigen Menschen.
({1})
Meine Damen und Herren, Sie haben mit Ihren Gesetzen und Verordnungen den Fordismus aus dem letzten
Jahrhundert in die Pflege eingeführt. Doch hier werden
keine Autos im Minutentakt zusammengeschraubt, sondern hier geht es um Menschen.
Nun hat Frau Bundesministerin Schmidt einen runden
Tisch zur Pflege mit 80 Personen installiert, der bis 2005
Vorschläge zum Bürokratieabbau erarbeiten soll. Hier
soll also die Bürokratie über den Abbau der Bürokratie
beraten. Das ist ein wirklich aussichtsloses Unterfangen.
Wir von der PDS fordern einen Abbau der Bürokratie
und eine Stärkung der Selbstverantwortung der Pflegeeinrichtungen. Wir wollen weg vom unpersönlichen
Sachleistungsprinzip und hin zu personenbezogenen
Budgets. Wir wollen den Pflegebedürftigen und dem
Pflegepersonal die Möglichkeit geben, die Pflegedienstleistung nach ihren persönlichen Bedürfnissen abzustimmen. Wenn nur dieser eine Vorschlag umgesetzt würde,
würde man bei der Verwaltung sehr viel Geld sparen und
auch dazu beitragen, dass die direkt Betroffenen mit der
Pflege und mit ihrer Arbeit persönlich wesentlich zufriedener sind.
({2})
In unserem Land fehlen - so hat der Bund der Pflegeversicherten ausgerechnet - 135 500 Pflegerinnen und
Pfleger. Jedem ist wohl klar, dass dieser Mangel an Pflegepersonal nicht durch weitere Arbeitsverdichtung beseitigt werden kann. Wir brauchen also mehr Geld für
die Pflege der Pflegebedürftigen.
Allerdings geht das nicht so, wie sich die Regierung
das vorgestellt hat. Es kann doch nicht sein, dass Frauen,
die Kinder großgezogen haben, dann, wenn die Kinder
aus dem Haus sind, extra zur Kasse gebeten werden und
höhere Beiträge in die Versicherung einzahlen müssen.
Was die SPD jetzt will, nämlich die Reform der Pflegeversicherung verschieben, nur weil ihre Umfragewerte
im Keller sind,
({3})
das kann ja wohl auch keine Lösung sein.
Wir von der PDS fordern eine dauerhafte Entlastung
der Menschen, die einen großen Teil ihrer Lebenszeit in
die Erziehung ihrer Kinder gesteckt haben. Wir schlagen
auch für die Pflegeversicherung den Weg einer solidarischen Bürgerversicherung vor - das hat heute ja bei
schon einem anderen Tagesordnungspunkt eine Rolle
gespielt - und dazu die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe.
({4})
Wenn diese Vorschläge umgesetzt würden, wäre auch
die Pflegeversicherung gut zu finanzieren.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Verena Butalikakis
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Die Berücksichtigung der Demenzkranken ist auf Eis
gelegt“ - so lautet das Fazit eines Bundesverbandes für
soziale Dienste, nachdem der Kanzler die Reform zur
Pflegeversicherung gestoppt hat.
({0})
Dagegen verkündet der Kollege Schmidt, immerhin Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, in der
Presse, dass noch in diesem Jahr eine Neuregelung für
die Betreuung Demenzkranker angestrebt wird.
({1})
Die Aussagen von heute waren auch nicht erhellend.
Wenn ich das richtig verstanden habe, hat die Bundesministerin gesagt: Ja, wir werden etwas für die Demenzkranken tun. - Frau Selg, von der ich eine Aussage dazu
erwartet habe, erging sich eher darin, Zitate aus der
Presse über die CDU und die CSU zu bringen, was ja für
uns ganz gut ist, aber in der Sache natürlich nicht weiterführt.
({2})
Von den 1,2 Millionen Menschen mit einer demenziellen Erkrankung, wie zum Beispiel der AlzheimerKrankheit, werden derzeit 600 000 durch die Leistungen
der Pflegeversicherung nicht ausreichend unterstützt. Ich
glaube, dass wir uns alle darin einig sind, dass wir hier
etwas tun müssen. Diese Menschen und die mitbetroffenen Angehörigen haben ein Recht auf klare Aussagen;
diese wurden bisher aber nicht getroffen.
({3})
Deshalb wollen wir einmal etwas Licht in die rot-grünen Aussagen bringen und auf die jüngere Geschichte
eingehen. Bisher wurde immer auf frühere Zeiten verwiesen. Im Oktober 2000 erklärten die Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag „Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung“ - ich
zitiere -:
Für Leistungsverbesserungen stehen in der Pflegeversicherung maximal jährlich 500 Millionen DM
zur Verfügung. … Dieser Finanzspielraum lässt
eine Lösung nicht zu, nach der bei Dementen bei
der Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Hilfebedarf der allgemeinen Beaufsichtigung und Betreuung mit 30 oder 40 Minuten täglich im Rahmen
der Grundpflege zu berücksichtigen wäre. Die damit verbundenen Mehrausgaben, die bei den genannten Zuschlägen nach Schätzungen des zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit sogar bei
mindestens 2,5 Milliarden DM jährlich liegen, sind
mit dem gesetzlich festgelegten Beitragssatz von
1,7 vom Hundert nicht zu finanzieren.
Als die CDU/CSU-Fraktion im März 2001 - vielleicht sollten Sie jetzt einmal zuhören, Frau Bundesministerin; Sie sagen ja immer, wir hätten nichts getan ({4})
die Versorgung der Demenzkranken durch Bezahlung
von zusätzlichen 30 Minuten beim allgemeinen Hilfeund Betreuungsaufwand verbessern wollte, hat die rotgrüne Regierungskoalition mit genau der eben zitierten
Begründung dieses abgelehnt, obwohl das Konzept eine
tatsächliche, damals auch noch mögliche Gegenfinanzierung vorsah. Das heißt, wir haben Vorschläge gemacht,
wie man 2,5 Milliarden DM tatsächlich aufbringen kann,
um die Bedingungen für Demenzkranke zu erleichtern.
({5})
Laut Plenarprotokoll wurde der Vorschlag damals als
„absolut unredlich“ vonseiten der SPD beschimpft.
Heute, noch nicht einmal drei Jahre später, steht die Pflegeversicherung finanziell schlechter da - die Ausführungen dazu haben wir ja teilweise schon gehört und das
Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Entlastung von Eltern muss umgesetzt werden und das kostet 1,6 Milliarden zusätzlich. Aber der Kanzler verbietet eine Reform.
Genau heute, in dieser Situation, hören wir aus den
Reihen der Koalitionsfraktionen Ankündigungen, dass
sie Verbesserungen für Demenzkranke in Form eines
Zeitzuschlages von 30 Minuten bei deren Betreuung
wollen.
({6})
Nur die Erklärung, woher denn nun plötzlich diese
2 Milliarden DM, heute rund 1 Milliarde Euro, kommen
sollen, fehlt.
Nun könnte man sagen, man greift auf die Rücklage
zurück. Aber bei einer Finanzierung aus der Rücklage
können die Verbesserungen für demenziell erkrankte
Menschen nur über zwei Jahre finanziert werden. Aber
vielleicht wollen Sie uns auch wieder eine Minilösung
anbieten, wie wir sie seit 2002 haben, nämlich 1,26 Euro
pro Tag: Das war eine unheimliche Unterstützung; das
hat sehr geholfen, die Betreuung von demenziell erkrankten Menschen zu verbessern. - Natürlich verhält es
sich nicht so.
Nein, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie geben hier leere Versprechungen ab. Das
ist absolut unredlich.
Genauso wird es auch von den Betroffenen gesehen,
denn auch diese können rechnen. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft beklagt in ihrer heutigen Presseerklärung, dass mit dem Stopp der Strukturreformen der Pflegeversicherung auch die Demenzkranken „wieder außen
vor“ sind. Sie haben erkannt: Wo kein Geld ist, von da
kann auch keine Hilfe kommen.
Deshalb fordere ich Sie im Namen der CDU/CSUFraktion auf: Belügen Sie nicht die Menschen, die am
nötigsten und vor allen Dingen schnell Hilfe benötigen.
({7})
Wir brauchen dringend und schnell eine grundlegende
Reform der Pflegeversicherung, um gerade auch an Demenz erkrankten Menschen in diesem Land helfen zu
können.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wir alle wissen, dass eine sachliche Debatte über die Zukunft der Sozialsysteme in unserer Gesellschaft notwendig ist. Ob diese Aktuelle Stunde zu einer Klärung beitragen wird, liegt letztendlich an uns allen; aber
angesichts der bisherigen Debatte sind da Zweifel angebracht.
({0})
Ich hatte heute Morgen - das sage ich, weil es mich
schon seit Stunden drückt - das zweifelhafte Vergnügen,
Sie, Herr Seehofer, im „Morgenmagazin“ zu sehen.
({1})
Die Pflegeversicherung war ein Thema bei diesem Interview. Aber, Herr Seehofer, wie Sie sich bei der Frage zu
den Praxisgebühren und der Unruhe in der Bevölkerung
einen weißen Fuß gemacht haben und die Schuld auf das
Ministerium geschoben haben, war für mich sehr enttäuschend; denn Ihre Haltung ist sonst eine andere.
({2})
Ich finde es ungeheuerlich; es ist einfach nicht seriös,
was Sie dort gemacht haben.
({3})
Zur Seriosität will ich noch etwas sagen: Sie beklagen
hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem
Familien, die Kinder erziehen, bei der Beitragsaufbringung anders gestellt, entlastet werden sollen. Aber dieses
Urteil gibt es seit drei Jahren und es bezieht sich auf eines Ihrer Gesetze.
({4})
- Wir haben es gemeinsam beschlossen, aber letztendlich ist es Ihr Gesetz.
({5})
Sie sagen, die Kasse sei gut gefüllt gewesen. Verschweigen Sie dabei aber bitte nicht, dass bei der Einführung sowohl der ambulanten wie auch der stationären
Pflege jeweils drei Monatsbeiträge ohne Gegenleistung
erhoben worden sind. Daher rührt das. Wenn wir darüber
diskutieren, was notwendig ist und wie die Kassenlage
in der Pflegeversicherung aussieht, dann müssen wir
auch das betonen.
({6})
Es ist richtig: Wir müssen das Urteil umsetzen. Dazu
ist Zeit bis zum Jahresende. Richtig ist auch: Wir werden
es umsetzen.
({7})
Da das kein ganz einfacher Vorgang ist, werden wir uns
darüber noch einmal mit Fachleuten beraten; wir werden
über die Vorschläge mit den Kolleginnen und Kollegen
Fachpolitikern diskutieren und dann zu einer Lösung
kommen.
Ich denke, es gehört zum üblichen Ablauf politischer
Willensbildung, dass Bundesregierung und Fraktionen
dies miteinander beraten.
({8})
Einzelne Vorschläge werden auch öffentlich diskutiert
und kommentiert, auch um die gesellschaftliche Akzeptanz auszuloten.
({9})
Sie brauchen nicht so zu tun, als ob Sie dieses Geschäft
nicht verstehen würden. Ich brauche mir nur Ihre Vorschläge beispielsweise zur Steuerpolitik anzusehen: einmal so, ein anderes Mal so. Auch das war doch wahrscheinlich ein Ausloten. Sonst müsste man das
vermutlich mit etwas viel Schlimmerem bezeichnen.
({10})
Die politische Entscheidung wird getroffen und auf
den Weg gebracht. Warum also jetzt die Aufregung? Wir
ziehen doch keinen Gesetzentwurf zurück. Sie tun so, als
ob es ein Gesetz gegeben hätte, das wir jetzt zurückziehen würden.
Nichts drängt uns, die Novellierung der Pflegeversicherung im Hauruckverfahren durchzuziehen. Wir werden uns das in Ruhe anschauen. Panikmache ist nicht angebracht. Ältere Bürger werden durch eine solche
Panikmache unnötig verunsichert. Die Pflegeversicherung hat noch Rücklagen in Milliardenhöhe.
({11})
Wir haben auch genügend Zeit, uns über die Notwendigkeiten, die zweifellos bestehen, im Bereich der Demenzerkrankungen und über die Dynamisierung der Pflegeleistungen zu verständigen. Ebenso müssen wir uns
anschauen, ob die Gewichtung von ambulant und stationär richtig ist.
({12})
Das werden wir alles in Ruhe mit den Fachleuten diskutieren. Sie sind herzlich dazu eingeladen, Ihren Sachverstand einzubringen. Lassen Sie uns die Menschen
nicht weiter verunsichern! Wir wissen alle, dass wir im
Bereich der Sozialversicherung schwierige Probleme zu
lösen haben.
({13})
Zu dem, was wir miteinander beschlossen haben, sollte
man - dieser Appell geht an Sie, Herr Seehofer - auch
stehen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung führt in letzter Zeit zwei
Begriffe sehr gerne im Mund. Der eine ist Innovation
und der andere ist Nachhaltigkeit. In Bezug auf die Pflegeversicherung handelt die Bundesregierung im Moment
jedoch weder innovativ noch nachhaltig.
({0})
Denn weder die bisherigen Pläne aus dem Hause
Schmidt noch das Veto des Bundeskanzlers erfüllen die
von Ihnen selbst gestellten Ansprüche.
So zeugt das Veto des Bundeskanzlers und die von
der Sozialministerin gerade einmal in Aussicht gestellte
Minimalentlastung der Erziehenden innerhalb des bisherigen Systems der Pflegeversicherung - wir wissen aber
immer noch nicht, wann und wie - nicht gerade von innovativem Schaffen.
({1})
Dies ist nicht nachhaltig; denn es wurden und
werden - so eine Definition von Nachhaltigkeit - weder
die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt noch wird
durch das, was Sie hier vortragen, das Risiko umgangen,
die Ansprüche künftiger Generationen nicht mehr befriedigen zu können.
Es sieht so aus, als würde die Pflegeversicherung, wie
andere Sozialsysteme leider auch, weiter in die Pleite
steuern. Dies ist jetzt keine höhnische Kritik der Opposition. Denn Kronzeugin hierfür ist die Kollegin Bender
vom Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Sie hat, wenn die „Frankfurter Rundschau“ sie richtig zitiert hat - dazu dürften Sie, Frau Kollegin Bender, gleich
Stellung nehmen -, zu den Kanzlerplänen so treffend,
wie ich finde, bemerkt: Wenn man nur die Entlastung
der Kindererziehung umsetzt und keine weiteren Reformen, dann drohen die Reserven auf null zu fahren. Dem
ist nichts hinzuzufügen.
({3})
Experten rechnen schon jetzt damit, dass die Reserven angesichts der steigenden Zahl von Leistungsempfängern 2007 aufgebraucht sein werden. Einer dieser Experten ist übrigens der Vorsitzende der SPD-Fraktion. Er
hat das nicht nur vor den Wahlen gesagt, sondern auch
vor 14 Tagen auf einer rot-grünen Klausurtagung in
Leipzig. Vielleicht hätten Sie zuhören sollen, was er dort
zu sagen hatte, nämlich dass die Reserven spätestens in
drei Jahren aufgebraucht sein werden.
Es besteht also erhöhter Handlungsbedarf. Frau Ministerin, bis vor zwei Wochen sahen Sie das noch genauso. Jetzt scheint es aber so zu sein, als habe der Herr
Bundeskanzler angesichts der bevorstehenden Wahlkämpfe seine alte Politik der ruhigen Hand, die immer
schon sehr „erfolgreich“ war, wiederentdeckt. Jetzt rächt
sich sein Populismus vor den Wahlen. Was haben Sie
uns kritisiert, nur weil wir die Notwendigkeit für Veränderungen - im Übrigen vor und nach Wahlen - immer
wieder betont haben! Jetzt sprechen Sie davon, weitere
Belastungen seien den Menschen nicht zumutbar. Nicht
zu handeln und feige vor den Herausforderungen zurückzuweichen, das ist die größte Belastung für die
Menschen.
({4})
Von Innovation keine Spur. Die Zeit drängt; das sagen
alle Experten. Die Rürup-Kommission scheint nur vor
der Veröffentlichung der Ergebnisse mit Experten besetzt gewesen zu sein. Nach dem Vorliegen der Ergebnisse war das anscheinend nicht mehr der Fall. Die Vorschläge der Rürup-Kommission zum Beitragsbonus sind
im Übrigen identisch mit unseren Vorschlägen. Ich weiß
also nicht, was Sie uns hier erzählen wollen.
Jetzt auf eine wirkliche Reform der Pflegeversicherung zu verzichten ist der falsche Weg und wäre fatal.
Wenn wir nur bei den Erziehenden entlasten und alle
übrigen Beitragszahler nicht zusätzlich belasten möchten, dann geht das nur, wenn Sie entweder auf das Finanzpolster der Versicherung zurückgreifen oder wenn
die Mittel aus dem ebenfalls klammen Bundeshaushalt
kommen. Das ist Flickschusterei. Sagen Sie das den
Menschen!
Die künftige Finanzierung der Pflegeversicherung ist
gefährdet; denn der Anteil der Leistungsbezieher wird
weiter steigen. Die ambulante Pflege in den Familien
wird allein aus demographischen Gründen kaum noch
möglich sein. Sie müssen heute handeln. Diese Entwicklung wird zu massiven Beitragssatzsteigerungen führen,
selbst wenn man davon ausgeht, dass wegen der höheren
Lebenserwartung die Pflegebedürftigkeit künftig in einem höheren Alter eintritt.
Es ist deshalb meines Erachtens ein Fehler, wenn wir
die Pflegeversicherung weiter so eng an die immer dünner werdende Basis der abhängigen Beschäftigung koppeln. In meinen Augen ist bei der Finanzierung eine Abkehr von diesem Vorgehen erforderlich. Wir müssen
ergänzend zur Umlage - nicht als Ersatz - kapitalgedeckte Elemente stärken - das wissen wir alle, die wir
hier im Deutschen Bundestag sind -, etwa durch die Bildung von Rückstellungen. Es ist höchste Zeit, diese
Rückstellungen aufzubauen; denn ohne den Aufbau eines Kapitalstocks werden die Kosten der Pflege bald zur
untragbaren Last. Dies würden die Menschen in diesem
Land noch weniger verstehen als 2,50 Euro mehr Beitrag.
Vor dieser Frage drückt sich aber nicht nur der Kanzler mit seinem Veto, sondern auch die Koalition mit allen
ihren bisherigen Vorschlägen. Es ist immer das beliebte
Spiel: Sie warten auf unsere Vorschläge. Alle drei Oppositionsparteien haben wenigstens Vorschläge zu diesem
Thema. Man kann zwar anderer Meinung sein, aber Sie
haben noch nicht einmal eigene Vorschläge.
({5})
Sie müssen die Menschen bei den Reformen mitnehmen und nicht in Basta-Manier notwendige Reformen
verschieben. Der Ärger der Bevölkerung über Sie, Ihr
persönlicher Frust als Mitglied der einst so stolzen SPD
über den Zustand der Partei, miserable Umfragewerte,
vor allem aber Ihre immer wiederkehrenden handwerklichen Fehler, die Sie ohne Unterlass begehen, lähmen
Sie.
({6})
Persönlich mag man diesen Frust vielleicht verstehen.
Wenn Sie keine Kraft mehr für notwendige Veränderungen haben, bleibt Ihnen nur eine Alternative. Die Wähler
haben Sie nicht gewählt, damit Sie zweieinhalb Jahre vor
der nächsten Bundestagswahl das Regieren einstellen.
({7})
Machen Sie sich Gedanken über die Zukunft der Pflegeversicherung! Hier gibt es nach wie vor ein Lamento.
Der Kanzler ermahnt uns alle ja immer, die Deutschen
sollten nicht so viel jammern. Hören Sie mit dem Jammern auf! Legen Sie gute Vorschläge auf den Tisch oder
treten Sie als Regierung und Koalition ab!
({8})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe ja angesichts der Berichte der letzten Tage den
Reiz für die Opposition, eine Aktuelle Stunde zu beantragen.
({0})
Sie haben nur den Fehler gemacht, alle Ihre Reden gestern schreiben zu lassen. Deswegen sind Sie auch auf
dem Stand von gestern,
({1})
als es vielleicht noch mehr Fragezeichen gab.
({2})
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
({3})
steht fest, Herr Seehofer: Einen Stillstand wird es nicht
geben. Es wird in dieser Legislaturperiode eine umfassende Reform der Pflegeversicherung geben.
({4})
Die Ausgestaltung im Einzelnen ist diskussionsbedürftig.
({5})
Darum muss man nicht herumreden; das ist auch kein
Beinbruch.
Aber ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von
CDU und CSU: Der Diskussionsbedarf in der Koalition
ist weit geringer als der unter Ihnen.
({6})
Sehen Sie sich doch einmal an, was Sie wollen. - Ich
spreche jetzt nicht von der FDP. Bei der ist es ja üblich,
dass sie sagt: Hau weg den Sozialklimbim! - Wie ist
denn die Merkel-CDU in Sachen Pflegeversicherung
aufgestellt?
({7})
Da heißt es: Erst einmal werden die Beiträge auf 3,2 Prozent erhöht. Ich gratuliere! Was sagt Herr Stoiber zu dieser Erhöhung der Lohnnebenkosten? Dann heißt es: Es
wird privatisiert. Alle zahlen Pauschalen zur Absicherung des Pflegerisikos, aber differenziert nach dem Alter.
({8})
Dazu sage ich: Gratulation!
({9})
Je älter, desto teurer wird die Absicherung des Pflegerisikos? Herr Seehofer, was sagen Sie denn dazu? Ich sage
Ihnen: Das ist kein Weg zu einem Altern in Würde.
({10})
Meine Damen und Herren von der Opposition, zu den
konkreten Problemen der Pflege bzw. der Pflegeversicherung haben wir heute von Ihnen nichts gehört.
({11})
Herr Storm hat sich dieser Tage zitieren lassen, die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils sei ganz
einfach: Eine Entlastung um 10 Euro - Sie haben sogar
ein bisschen gerechnet ({12})
koste 1,6 Milliarden Euro.
({13})
Die würden aus Steuermitteln gezahlt. Dazu sage ich:
Gratulation! In diesem Fall frage ich nicht, was Herr
Seehofer darüber denkt. Denn das weiß ich. Er hat nämlich gesagt: Keine Entlastung der Erziehenden aus Steuermitteln!
Ich frage aber: Was sagt eigentlich Herr Merz dazu?
({14})
Gab es nicht einmal ein Steuerkonzept mit einem Defizit
von 24 Milliarden Euro? Langsam nähern Sie sich wieder den Realitäten. Der letzte Stand ist, glaube ich, dass
Sie 10 Milliarden Euro weniger einnehmen wollen. Jetzt
frage ich: Wo kommen die 1,6 Milliarden Euro her? Sie
sollten sich einmal zusammensetzen und sich darüber
unterhalten, wie Sie das machen wollen.
({15})
Wenn Sie glauben, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU, Sie könnten mit dem Füllhorn über das
Land gehen
({16})
und das auch bei der Pflegeversicherung so handhaben,
dann frage ich Sie: Wo ist Ihre Erbtante aus Amerika, die
das alles finanzieren wird? Die brauchen Sie dann nämlich.
({17})
Solange bei Ihnen das Chaos regiert, sind Belehrungen an die Adresse der Regierung ganz und gar fehl am
Platze.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Woche hat eine böse Überraschung für alle Pflegebedürftigen gebracht. Der Bundeskanzler stoppt die Reform der Pflegeversicherung.
({0})
Die „Welt“ titelt: Schröder legt die Reform aufs Eis. Die
„Süddeutsche Zeitung“ schreibt: Kanzler stoppt Ulla
Schmidts Pflegereform. Heute heißt es, wie wir aus einer
Agenturmeldung gehört haben: Jetzt können Beitragserhöhungen in der Pflegeversicherung doch nicht ausgeschlossen werden.
Da darf hier schon einmal nachgefragt werden: Wie
viel ist in der rot-grünen Koalition das Wort der Gesundheitsministerin noch wert? Wie viel ist der Koalition die
Gesundheitsministerin selbst noch wert? Im Oktober
hatte die Gesundheitsministerin vollmundig ihr Konzept
für die Reform der Pflegeversicherung vorgestellt und
dabei ihre Absicht verkündet, die Pflegeversicherung im
Frühjahr 2004 für die betroffenen Menschen zu verbessern.
Wie viel ist in der rot-grünen Koalition noch das Wort
eines SPD-Fraktionsvorsitzenden wert? Noch am Dienstagmorgen hat er laut Presseberichten gegenüber der
Spitze der Grünen erklärt, dass die Reform der Pflegeversicherung notwendig sei. Wenige Stunden später war
das Kanzleramt offenbar gescheiter als die Fraktionsführungen von Rot und Grün zusammen: Die Pflegeversicherung war - wohl angesichts der neuesten Forsa-Umfrage, die die Sozialdemokraten bei 24 Prozent sieht bis auf Weiteres abgesagt.
({1})
Damit wird Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nach
Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe zum zweiten
Ankündigungsminister in der Bundesregierung.
({2})
Was hatte die Gesundheitsministerin nicht alles in ihrem
Eckpunktepapier - man wird doch noch daran erinnern
dürfen, Frau Ministerin - im Oktober angekündigt! Es
handele sich um ein Pflegekonzept, welches die Pflegeversicherung zukunftssicher mache.
({3})
Das Konzept sichere die Nachhaltigkeit in der Finanzierung und im Übrigen würden die aus der demographischen Entwicklung resultierenden Beitragsbelastungen
möglichst gerecht auf die Generationen verteilt. Die
Rede war von der Besserstellung der Demenzkranken im
Bereich der Grundpflege, von höheren Beträgen in allen
Stufen der häuslichen Pflege und von der Dynamisierung der Pflegeleistungen ab dem Jahr 2007. Das waren
die Ankündigungen, fast nichts ist davon übrig geblieben.
Frau Ministerin, setzt die Bundesregierung so die
Empfehlungen der Rürup-Kommission um?
({4})
Wozu haben Sie so viel Steuergelder für die Beratung
durch die Rürup-Kommission ausgegeben? Jetzt folgen
Sie dem Beratungsergebnis nicht einmal ansatzweise
und sagen die Reform komplett ab.
Eine Reform der Pflegeversicherung bleibt aber dringend notwendig, und dies nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht - das haben wir heute schon mehrfach gehört - der Politik aufgegeben hat, die
Elternleistung bei der Finanzierung der Pflegeversicherung stärker herauszustellen. Die finanziellen Rücklagen
der Pflegeversicherung schmelzen wie das Eis in der
Sonne, wie die „Frankfurter Rundschau“ am Donnerstag
schrieb.
Dabei hat sich die Pflegeversicherung - ich glaube,
das ist allgemeine Auffassung - als Absicherung des
letzten großen Lebensrisikos „Pflege“ im Grundsatz bewährt. Die soziale Pflegeversicherung sollte auch künftig ein eigenständiger Zweig der sozialen Sicherungssysteme bleiben. Die finanzielle Ankoppelung an den
Arbeitslohn muss aber künftig begrenzt werden, damit
die Kalkulierbarkeit der Arbeitskosten und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland erhalten werden können. Wir sollten dazu den Pflegeversicherungsbeitrag auf dem jetzigen Niveau festschreiben, den
Arbeitgeberanteil also auf 0,85 Prozent.
Der wichtigste Punkt einer notwendigen Reform - sie
bleibt weiterhin notwendig - ist die Besserstellung der
Familien in der Erziehungsphase. Sie, Frau Ministerin,
hatten mit Ihrem Beitragszuschlag für alle Kinderlosen
allerdings den falschen Weg, nämlich den der Bestrafung
einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe, beschreiten
wollen. Es wäre weit sinnvoller - ich glaube, so sieht es
auch der Bundeskanzler -, die Eltern pro Kind während
der Erziehungsphase mit einer Beitragsentlastung zu belohnen.
Nach der neuesten Emnid-Umfrage stehen Sie, werte
Kolleginnen und Kollegen von der rot-grünen Koalition,
mit solch einer Ankündigungs- und Rückzugspolitik
nicht sehr überzeugend da: 85 Prozent der Bevölkerung
beurteilen die Arbeit der Bundesregierung als plan- und
visionslos.
Ihre jetzige Pflegepleite so kurz nach der LKW-MautPleite vertieft diese vorhandene Einschätzung der Arbeit
von Rot-Grün. Die Bundesregierung handelt weiterhin
einfach plan- und visionslos.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hilde Mattheis von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
sehr froh, dass sich heute zeigt, dass nicht jede lautstark
vorgebrachte Behauptung nachhaltiger wirkt als sachliche Argumentation.
({0})
Ihre Behauptungen, die Sie seit Dienstag aufgebaut haben, sind seit einigen Stunden völlig haltlos.
({1})
Sie, Frau Müller, schlagen hier vor, den Kapitalstock
aufzubauen,
({2})
verweigern aber natürlich die Aussage dazu, wer das
denn bezahlen soll.
({3})
Sie sagen auch, dass das die einzige Alternative zu dem
ist, was wir und auch die Ministerin bisher vorgestellt
haben.
({4})
Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie vergessen, dass die Pflegeversicherung bislang als Teilkaskoversicherung konzipiert ist
({5})
und dass die Menschen bislang sehr wohl mit einem eigenen Beitrag eintreten.
({6})
- Mein Oberbürgermeister freut sich oft über mich.
({7})
Mein Vorredner hat die Zukunft der Ministerin angesprochen. Sie jedoch haben eine Aktuelle Stunde zur Zukunft der Pflegeversicherung beantragt und um die geht
es eigentlich. Lassen Sie mich am Anfang einen kleinen
Rückblick wagen:
({8})
Als die Pflegeversicherung 1995 als fünfte Säule des sozialen Sicherungssystems etabliert wurde,
({9})
waren dem 20 Jahre heftige Diskussionen vorausgegangen. Bis dahin waren zehn Gesetzentwürfe gescheitert.
({10})
- Das habe ich nicht gesagt.
({11})
Warten Sie ab.
Dass wir eine Reform brauchen, ist in unseren Beiträgen sehr wohl zum Ausdruck gekommen. Es wird sich
auch niemand zu der Aussage hinreißen lassen, dass alles so bleiben soll, wie es ist.
({12})
Nach neun Jahren Erfahrung mit der Pflegeversicherung
wissen wir, dass dort selbstverständlich Anreize zu entwickeln sind und dass das Prinzip „ambulant vor stationär“ stärker durchgesetzt werden muss. Wir wissen
natürlich, dass die Definition des Begriffes der Pflegebedürftigkeit dringend überarbeitet werden muss. Wir wissen, dass bedarfsgerechte Leistungsbemessung ein wichtiger Punkt ist, den wir angehen müssen.
({13})
Wir wissen, dass die Unterstützung pflegender Angehöriger und die Förderung bürgerschaftlichen Engagements in diesem Bereich wichtig sind. Das alles wissen
wir.
Wenn jetzt so getan wird, als sei alles das, was ich
jetzt gerade aufgezählt habe, in den nächsten Wochen zu
erledigen, sonst würden alle Hilfestrukturen zusammenbrechen,
({14})
werden hier - das meine ich auch mit Blick auf das Interview heute Morgen im „Morgenmagazin“ - in unverantwortlicher Weise Unsicherheit und Angst geschürt.
({15})
Sie tun so, als wenn sich die Regierung und wir uns
als Fraktionen sämtlichen Reformen verweigern würden.
Ich weiß nicht, woher Sie diese Information haben.
({16})
- Waren Sie bei der Fraktionssitzung? Ich habe Sie nicht
gesehen.
({17})
Sie sollten Ihre Informationen so auswerten, dass Sie
hier in der Aktuellen Stunde auch aktuell diskutieren
können.
({18})
Wir lassen uns in dieser Sache nicht verunsichern.
Die Ministerin hat die nächsten Reformschritte dargestellt. Es geht uns um mehr als nur um die Schlagzeile
von heute.
({19})
- Ja. Es geht darum, Menschen im Alter die Teilnahme
am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen,
({20})
sie nicht an den Rand zu drängen. Es geht darum, die
Belastungen zwischen den Generationen, die für die Finanzierung sorgen, gerecht zu verteilen.
Die Pflegeversicherung ist eng mit dem Namen Blüm
verbunden.
({21})
Auch wenn dieser Name bei Ihnen nicht mehr so hoch
im Kurs steht, stellen wir fest: Die Grundlage, die er und
andere geschaffen haben, ist in Ordnung. Wir stellen
auch fest: Korrekturen und Reformen sind nötig. Anstatt
die Regierung jetzt, nachdem die Eckpunkte vorliegen
und nachdem auch die Schritte vorgestellt worden sind,
die in der nächsten Zeit, vor der nächsten Bundestagswahl, angegangen werden, zu unterstützen - ({22}))
- Wir lassen uns da nicht unter Zeitdruck setzen. Zwischen dem Jahr 2004 und dem Jahr 2006 liegt das Jahr
2005.
({23})
Das ist eine logische Konsequenz.
({24})
Die nächsten Schritte sind klar. Wir werden uns gemeinsam mit diesem Thema beschäftigen und uns auf
den Weg machen.
({25})
Ich lade Sie ein. Bisher haben Sie leider nicht bewiesen,
dass Sie Einladungen auch folgen.
({26})
Wir hatten zwar vereinbart, einen interfraktionellen
Antrag zum Thema Demenz zu formulieren. Aber Sie
haben sich kurzfristig verweigert.
({27})
Noch kurzfristiger haben Sie daraufhin - zur gleichen
Zeit wie wir - einen eigenen Antrag eingebracht.
({28})
Womöglich wollten Sie dokumentieren, dass Sie schneller sind. Das stimmt aber nicht.
({29})
Wenn Sie sich den Ablauf ansehen, werden Sie feststellen, dass eher das Gegenteil der Fall ist.
In der nächsten Sitzungswoche werden wir ausführlich über dieses Thema diskutieren. Ich freue mich schon
darauf und lade Sie dazu ein. Denn auch in Ihrer politischen Verantwortung geht es darum, den Menschen eine
Hilfestellung zu geben, und nicht darum, dieses Thema
kurzfristig für eine Schlagzeile auszuschlachten.
({30})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Deutschland leben etwa zwei Millionen Menschen, die zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aber dauerhaft auf Pflege angewiesen sind. 70 Prozent der
Pflegebedürftigen werden von ihren Angehörigen betreut. Allein das beweist, dass die Familie auch in diesem Bereich eine total unverzichtbare Rolle spielt und
für unsere Zukunft nicht wegzudenken ist.
Kein Staat dieser Welt könnte all die Leistungen finanzieren, die wegfallen würden, wenn es nicht die Familienarbeit und gegenseitige Hilfe gäbe. Genau deshalb
hat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden,
({0})
dass wir die Familien anders behandeln müssen,
({1})
- ja, sie entlasten müssen. Frau Ministerin, es ist Ihre
Aufgabe, hierzu endlich Vorschläge vorzulegen, die
nicht zu solchem Hickhack führen, den wir heute hören
müssen,
({2})
sondern die es vielmehr ermöglichen, über die Sache zu
diskutieren.
({3})
Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde die
Pflegearbeit aus ihrem Schattendasein an die Öffentlichkeit gebracht.
({4})
Sie geht alle an und wird von allen finanziert. Deshalb
haben auch alle einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie
es um die finanzielle Situation dieser Versicherung steht.
Um Ihnen in Erinnerung zu rufen, welches wunderbare
Werk wir damals mit der Pflegeversicherung gemeinsam
geschaffen haben, möchte ich Ihnen ein paar Punkte zur
Pflegesituation in den neuen Bundesländern sagen.
Die trostlosen Zustände in den Alten- und Pflegeheimen der DDR sind Gott sei Dank Geschichte.
({5})
Es wurde an der richtigen Stelle investiert. Es sind
zweckmäßige und ansehnliche Pflegeheime entstanden.
Der Einsatz von modernen Mitteln bei der Pflege ist eine
Selbstverständlichkeit geworden. Das bewundernswerte
Engagement der Mitarbeiter kann man nicht oft genug
loben, weil die Begeisterung für den Pflegeberuf am
schweren und manchmal auch tristen Alltag sehr schnell
zerschellen kann. Es hat sich ein breiter ambulanter Pflegedienst entwickelt.
All dies ist nur durch eine kräftige Anschubfinanzierung, die die Regierung Kohl geleistet hat, möglich geworden.
({6})
Die Trägerlandschaft ist ausgesprochen plural und sichert
den Betroffenen eine ihre Lebenseinstellung und ihre Bedürfnisse berücksichtigende Wahlmöglichkeit. So sind
zum Beispiel in Sachsen 60 Prozent der stationären Einrichtungen in freigemeinnütziger Trägerschaft, 27 Prozent
in privater und nur 13 Prozent in öffentlicher Trägerschaft.
({7})
Auffallend ist, dass in den Pflegediensten in den
neuen Ländern besonders viele Vollzeitbeschäftigungen
entstanden sind, nämlich über 40 Prozent. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 29 Prozent. Die immer länger werdende Lebenszeit der Menschen, die ja ein Glück ist, und
der permanente Wegzug vor allem junger Menschen bewirkt, dass der Bedarf an professioneller Pflege wächst.
Die ambulanten Pflegedienste haben alle Hände voll zu
tun und kämpfen hart mit den gegebenen Normativen,
die auch mit den Kosten zu tun haben. Denn neben der
Pflege wird - egal, ob bezahlt oder nicht bezahlt - natürlich auch menschliche Zuwendung erwartet.
Während der Anteil der Pflegebedüftigen im Alter
zwischen 75 und 85 Jahren in Baden-Württemberg bei
11,2 Prozent liegt, beträgt er zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern 17,7 Prozent, also 6,5 Prozent mehr.
Dieser Trend wird sich noch verstärken. Deshalb ist es
unverantwortlich, heute nicht Vorsorge für morgen zu
treffen und eine für die Zukunft tragende Reform der
Pflegeversicherung nicht sofort in Angriff zu nehmen.
Mit dem Motto „Stopp und basta“ nach Kanzlermanier
bringt man die Pflegeversicherung insgesamt in die
Krise. Wir kennen doch die demographische Entwicklung und die Tatsache, dass seit 1999 die Ausgaben der
Pflegeversicherung die Einnahmen übersteigen.
Die Verschiebung der Reform und das Wegducken
vor den Problemen der Pflegekassen ist ein weiteres Beispiel für die Sprunghaftigkeit dieser Regierung und erinnert mich bitter an die Zeit, als wir quasi ohnmächtig zusehen mussten, wie die DDR-Regierung die Menschen
in der DDR um die Früchte ihrer Arbeit gebracht hat, bis
das Land bankrott war.
({8})
Das darf bei der Pflegeversicherung nicht passieren.
Deswegen fordere ich Sie auf: Handeln Sie!
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Marlies Volkmer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, Ihr Auftreten heute in dieser Debatte war sehr
unglaubwürdig.
({0})
Sie haben im Grunde genommen nichts Inhaltliches dazu
beigetragen, wie die Pflege ausgestaltet werden soll,
sondern haben nur etwas zur Finanzierung gesagt.
({1})
Ihr Vergleich zwischen der Situation, die wir zurzeit haben, Frau Michalk, mit der Situation in der DDR kurz
vor der Wende war hier völlig unpassend; das wissen Sie
selbst.
({2})
Was hätten Sie gemacht, wenn wir noch in diesem
Jahr die komplette Reform der Pflegeversicherung umgesetzt hätten? - Sie wären die Ersten gewesen, die gegen uns ins Feld gezogen wären; Herr Seehofer, Sie nicken.
({3})
- Doch, Sie haben gerade genickt. - Sie hätten uns davor
gewarnt, gleichzeitig zur Gesundheitsreform auch noch
das ganze Konzept zur Pflegeversicherung umzusetzen.
Sie sind sich untereinander nicht einig, was Sie wollen. Herr Sehling hat gesagt, er wolle die Familien entlasten, die zurzeit Kinder erziehen. Herr Seehofer hat gesagt, er wolle auch die Familien entlasten, die Kinder
erzogen haben. Das ist ein großer Unterschied.
({4})
Herr Storm hat gesagt - darauf ist schon hingewiesen
worden -, er wolle alle Familien mit 10 Euro pro Kind
entlasten, sagt aber nicht, woher er das Geld nehmen
will.
({5})
Wir wissen, welcher Reformbedarf im Pflegebereich
besteht.
({6})
Uns ist klar, dass das mit der demographischen Entwicklung zusammenhängt. Eine Reform beschränkt sich
nicht auf die Klärung der Frage der Finanzierung, sondern stellt insgesamt große Anforderungen an uns.
({7})
Wir müssen dafür sorgen, dass eine Pflegebedürftigkeit
vermieden wird, indem wir die Prävention stärken und
die Therapie chronisch Kranker und die Rehabilitation
alter Menschen verbessern. Wir müssen dafür sorgen,
dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ wirklich
umgesetzt wird. Dazu müssen die Strukturen in der ambulanten Betreuung verbessert werden.
({8})
Wir brauchen Alternativen zur Unterbringung und Versorgung der Patienten in Heimen und müssen deswegen
auch alternative Wohnkonzepte entwickeln. Um diese
Ziele zu erreichen, bedarf es einer breit angelegten Diskussion.
Die Verbesserung der Betreuung Demenzkranker ist
besonders wichtig. Diese Aufgabe werden wir als
nächste angehen.
Dass wir bis zum 31. Dezember das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes umsetzen müssen, ist unbestritten und stellt uns natürlich vor eine große Aufgabe. Wir
müssen eine Lösung finden, die gerecht ist, müssen aber
gleichzeitig zusehen, dass das nicht zu Einschnitten in
den Leistungen der Pflegeversicherung führt.
Ich denke, Innovation bezieht sich nicht nur auf die
Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien, Innovation bedeutet auch - und zwar zunehmend -, zu sagen,
wie sich die Gesellschaft weiterentwickeln soll. Sie verlangt auch in der Gesellschaft ein neues Denken und
Handeln. Wir müssen dafür sorgen, eine Gesellschaft zu
entwickeln, in der auch die zukünftige Generation gut leben kann.
Dazu müssen wir alle gemeinsam beitragen. Ich fordere Sie hier noch einmal auf, gemeinsam an einer Pflegeversicherung mitzuarbeiten.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Noch gestern hat der Bundeskanzler an die Deutschen
appelliert, sie sollten aufhören zu jammern.
({0})
Am selben Tag wird der Kanzler von Panik und Angst
vor weiteren Jammerwellen ergriffen und legt Ulla
Schmidts Pläne zur Pflegeversicherung, deren Entwurf
ja schon an die Verbände verschickt worden war, kurz
vor der Verabschiedung in der Fraktion eiskalt auf Eis.
Das war eine nette Überraschung für die Fachpolitiker
der SPD-Fraktion und der Grünen. Diese nette Überraschung für den Koalitionspartner war wohl Ausdruck
des Kommunikationsstils, der in der Koalition herrscht.
Es war eine Ohrfeige für Ulla Schmidt.
Der Kanzler weiß aber, dass Ohrfeigen bei Frauen
nicht gut ankommen. Deshalb schiebt Schröder ganz
schnell nach: Ulla Schmidt sitze am Tisch des Kanzlers
und da werde sie auch bleiben.
({1})
Ich frage Sie aber: Was nützt es, wenn Ulla Schmidt
sitzen bleibt, aber nichts zu sagen hat? Die Pläne des Sozialministeriums sind seit Herbst 2003 bekannt und hätten auch dem Bundeskanzler bekannt gewesen sein müssen.
({2})
Angesichts von 14 Wahlen in diesem Jahr, einem Umfragewert von 25 Prozent für die SPD bei der Sonntagsfrage
({3})
und der Perspektive auf Wahlniederlagen in NordrheinWestfalen bekommt der SPD-Vorsitzende aber einfach
kalte Füße.
({4})
Erinnern wir uns: Am 14. März letzten Jahres hat der
Kanzler von diesem Platz aus seine Agenda 2010 mit pathetischen Worten vorgestellt. Jetzt erschrickt der Kanzler vor seinen eigenen Worten und Taten. Der Fraktionsvize der Grünen Reinhard Loske warnt Schröder jetzt
schon wieder davor, die Politik der ruhigen Hand wieder
aufleben zu lassen. Frau Selg, ich denke, Sie müssten in
Ihrer Fraktion einmal ein wenig reden.
Schröder meint in seiner Erklärungsnot, die Änderungen am Pflegekonzept seien Einzelmaßnahmen und in
Bezug auf die Reform nichts Generelles.
({5})
Gleichzeitig erklärt Ihre Fraktionsvorsitzende Frau
Göring-Eckardt im Deutschlandfunk: Zusätzliche Belastungen der Bürger an anderer Stelle wird es nicht geben.
Frau Caspers-Merk sagt heute, dass sie Beitragserhöhungen in der Pflegeversicherung nicht ausschließt.
({6})
17 Millionen Rentnerinnen und Rentner erhalten ab
1. April 2004 Rentenkürzungen. Ich frage Sie: Weiß
diese Bundesregierung eigentlich überhaupt noch, dass
sie mit dem Alterseinkünftegesetz noch weitaus
schmerzlichere Belastungen für die Bürger bereithält?
Die Anhörung im Finanzausschuss in dieser Woche hat
zutage gebracht, dass das Rentenniveau bis zum
Jahre 2030 auf 52 Prozent absinken wird. Insofern sind
weitere Belastungen vorprogrammiert.
Es sind noch keine vier Wochen vergangen, seit SPD
und Grüne zu ihren Klausurtagungen zusammengekommen sind. Man fragt sich schon, was Sie zu Beginn des
Jahres dort eigentlich gemacht haben.
({7})
Jetzt fordern Sie wieder neue Kommissionen mit neuem
Sach- und Fachverstand und bilden wieder neue Beratergremien.
({8})
Ich glaube, Sie müssten mehr Chaosforscher in diese Beratergremien berufen. Dann kämen wir nämlich wahrscheinlich schneller zum Zug.
({9})
Die Sprunghaftigkeit und Kurzlebigkeit dieser Politik
geht voll zulasten der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen, der Pflegekräfte und der Beitragszahler in Deutschland. Sie warten dringend darauf, dass die Leistungen in
der Pflegeversicherung den Kosten der Lebenshaltung
angepasst werden. Seit die Pflegeversicherung in Kraft
ist, steht die Dynamisierung der Leistungen aus - mit der
Folge, dass Pflegebedürftigkeit wieder zur Sozialhilfeabhängigkeit führt.
Die Demenzkranken und ihre Angehörigen haben
darauf gehofft, endlich Leistungen aus der Pflegeversicherung zu erhalten.
({10})
Seit dem Jahr 1999 hat die Union insgesamt neun Initiativen in Bund und Ländern eingebracht. Sie aber haben
mit Ihrer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat diese
Vorschläge immer und immer wieder abgelehnt. Jetzt
drücken Sie sich mit der Basta-Entscheidung Ihres
Kanzlers um eine Lösung für all die wesentlichen Fragen
dieser Menschen.
Wenn der Kanzler für seine Entscheidung schon die
Gerechtigkeit strapaziert, dann müssen Sie diese Sachverhalte zur Kenntnis nehmen;
({11})
denn diese Entscheidung bedeutet, dass Familien und
Alleinstehende mit ihren Problemen zur Pflege weiter alleingelassen werden.
({12})
Wenn Rot-Grün die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht durch einen Strafzuschlag von
2,50 Euro für Kinderlose finanzieren will, dann stellt
sich die Frage, wie Erziehende denn nun entlastet werden sollen. Offenbar denken Sie nun an Freibeträge bei
der Beitragsbemessung. Das bedeutet in der Konsequenz
für Familien eine Entlastung in Centhöhe und weitere
Beitragszuschläge und -steigerungen für die Beitragszahler.
Was für ein irrsinnig bürokratischer Aufwand, an dessen Ende nichts bzw. nichts Positives steht! Der Kanzler
treibt mit dieser Entscheidung Fraktion und Ministerium
endgültig nach Absurdistan. Den Menschen bleibt nichts
erspart. Nein, Ihre Ratlosigkeit kommt die Beitragszahler, insbesondere die Pflegebedürftigen teuer zu stehen.
({13})
Die Situation in der Pflegeversicherung ist angesichts
unserer jetzigen Lage schlimm genug. Diese Regierung
löst keine Probleme, sondern sie schafft - nicht erst seit
heute - immer wieder neue. Sie selbst ist das Problem.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Horst Schmidbauer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
sich die letzte Stunde vor Augen und Ohren führt,
({0})
dann hat man den Eindruck, dass die Opposition unter
einem geradezu strukturtypischen Zwang steht.
({1})
Dieser strukturtypische Zwang ist der Versuch, aus einer
Situation Kapital zu schlagen, wohl wissend, dass mangels Argumente und Grundlage ein Misserfolg vorprogrammiert ist.
Schauen wir uns die Sache einmal genau an. Der Versuch, aus der Situation Kapital zu schlagen, ist weder denen gelungen, die heute Krokodilstränen über ein Reformkonzept vergossen haben, das nicht auf ihrem
eigenen Mist gewachsen ist
({2})
- Sie wollten es im Bundesrat sowieso zu Fall bringen -;
({3})
noch ist es denen geglückt, die das Veto des Bundeskanzlers zu neuen Reformen insgeheim begrüßen. Natürlich müssen sie dabei aufpassen, dass sie den Kanzler
nicht versehentlich loben. In diesem Fall würde sich
nämlich herausstellen, was auch die Menschen sehen.
Sie erkennen, dass der Bundeskanzler den Mut hat, Unbequemes zu tun,
({4})
er aber gleichzeitig auch über die Umsicht verfügt, dabei
nicht über das Ziel hinauszuschießen.
({5})
Seit wir beginnen, bei den Sozialversicherungssystemen den Reformstau aufzulösen, hechelt die Union mit
hängender Zunge hinterher. Ich habe gedacht, Sie würden es heute begrüßen, dass wir Ihnen eine kleine Verschnaufpause verschaffen, weil das sicherlich auch Ihrer
Gesundheit gut tun würde.
({6})
Wir sollten froh darüber sein, dass wir bei der wichtigen Frage der Reform der Pflegeversicherung Zeit gewonnen haben und es keine Hauruck-Gesetzgebung gibt.
({7})
Wir haben nun die Chance - diese sollten wir auch ergreifen -, alle Vorschläge für eine solidarische und sozial tragfähige Pflegeversicherung, die in der Gesellschaft diskutiert und von Fachleuten eingebracht
werden, zu prüfen.
({8})
Ich frage mich, wo zu diesem Thema Ihre Vorschläge
sind. Außer Verwirrung haben Sie nichts vorzuweisen.
({9})
Ich frage auch Sie, wo in der Zeit Ihres Regierungshandelns diese Probleme konkret angegangen worden sind.
Strukturelle Veränderungen auf der Einnahmenseite oder
der Ausgabenseite? - Fehlanzeige!
({10})
Trotzdem meinen Sie, Sie müssten uns mit erhobenem
Zeigefinger ermahnen.
({11})
Sie scheuen noch nicht einmal davor zurück - das haben
wir vorhin erlebt -, Zitate falsch vorzutragen. Wenn man
sich das Zitat der Staatssekretärin ansieht, dann stellt
man fest, dass sie davon gesprochen hat, dass man Geld
benötigt, wenn man die Leistungen für Demenzkranke
verbessern und die Dynamisierung im System erreichen
Horst Schmidbauer ({12})
will. Das ist doch logisch. Dass man dazu die Einnahmen erhöhen muss, ist auch logisch. Sie hat nicht über
den Weg der Finanzierung gesprochen,
({13})
sondern sie hat von der Notwendigkeit gesprochen, dass
man mehr Geld für die Aufgaben ausgeben muss. Deshalb darf man nicht die Fehlinformation in die Welt setzen, wie Sie es getan haben, dass der Beitragssatz erhöht
werden müsse. Diese Frage möchte ich in aller Gelassenheit im Parlament und in der Koalition diskutieren.
Ich frage mich immer, was diese Aufgeregtheit in der
Union soll. Das frage ich mich seit zwei Tagen.
({14})
Wieso interessiert sich die Opposition plötzlich für das
Kommen oder Scheitern von Modellen für eine solidarische, umlagefinanzierte Pflegeversicherung, wo doch
namhafte Vertreter der CDU/CSU längst deren Abschaffung gefordert haben?
({15})
Ich glaube, Diskussionsbedarf mit den Bürgerinnen und
Bürgern im Land besteht darüber, was es bedeuten wird,
wenn die Union von dem einst so lautstark gefeierten
„Modell Blüm“ Abschied nehmen will und, so wie es
aus der Herzog-Kommission klingt, den Bürgern eine
obligatorische private - verdammt teure - Absicherung
des Pflegerisikos zumuten will.
({16})
Hinzu kommt die Abschaffung eines weiteren Feiertages. Das sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen, damit klar wird, was Sie ihnen zumuten und wie die
Lösungsvorschläge der Union aussehen.
({17})
Aber Sie wollen vor der Öffentlichkeit lieber in die Rolle
des wohltätigen Samariters schlüpfen, der die Wunden,
die von den bösen Räubern der Regierungskoalition verursacht worden sind, verbindet. Diese Methode funktioniert nicht. Es ist gerade jetzt sichtbar geworden, wie
diese Methode ausschaut.
({18})
Wie immer unser Konzept letztendlich aussehen wird:
({19})
Sie von der Union werden Nein sagen und aus Prinzip
Ihr Spiel weiterspielen. Das ist ein Spiel mit viel rhetorischem Wind und aufgeblähten Politikmuskeln. Das Spiel
wird aber denen schaden, denen wir eigentlich helfen
wollten und denen wir Sozialdemokraten auch helfen
werden. Das sind die pflegebedürftigen, alten und kranken Menschen in unserem Lande. Dabei bleibt es.
Vielen Dank.
({20})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Februar 2004, 13 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.