Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich bitte Sie, sich zu erheben.
({0})
Mit tiefer Betroffenheit haben wir erfahren, dass die Vor-
sitzende des Petitionsausschusses, unsere Kollegin
Marita Sehn, am 18. Januar dieses Jahres, nur wenige
Monate vor ihrem 49. Geburtstag, auf tragische Weise
ums Leben gekommen ist. Auf einem heimatlichen Spa-
ziergang mit ihrer Familie starb sie bei einem Verkehrs-
unfall, bei dem ihr Bruder ebenfalls sein Leben verlor
und ihr Mann schwer verletzt wurde.
Marita Sehn wurde am 2. Mai 1955 in Rödern gebo-
ren. Die ausgebildete Industriekauffrau trat 1985 in die
FDP ein, in der sie ab 1992 zehn Jahre lang Kreisvorsit-
zende im Rhein-Hunsrück-Kreis und seit 1998 Vorsit-
zende des Bezirks Eifel-Mosel-Hunsrück sowie Mitglied
des Landesvorstands Rheinland-Pfalz war. Schon hier
begann sich abzuzeichnen, was für die Kollegin so cha-
rakteristisch war: ihre Verwurzelung in der Heimat und
ihr Einsatz für die Belange der Menschen ihrer Region.
Auch dass sie in ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete
weiterhin Mitglied im Stadtrat Kirchberg und im Ver-
bandsgemeinderat Kirchberg sowie Kreisbeigeordnete
blieb, weist auf ihre Bürgernähe und ihr Engagement für
ihre Heimat hin.
Von 1990 bis 1994 und dann wieder seit 1998 war
Marita Sehn Mitglied des Bundestages. Sie übernahm
2002 den Vorsitz des Petitionsausschusses - ein Amt,
das ihrem Einsatz für die Belange der Menschen ent-
sprach und das sie mit großer Tatkraft und Einfühlungs-
vermögen für die Anliegen der Petenten ausfüllte. Mit
ihrem Wirken erwarb sie sich die Anerkennung und den
Respekt ihrer Kollegen über alle Fraktionsgrenzen hin-
weg.
Angesichts des Todes unserer Kollegin Sehn sind wir
tief bestürzt und sprechen ihren Angehörigen, insbeson-
dere ihrem Mann, unser tief empfundenes Beileid aus. -
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um
die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-
weitern:
ZP 1 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katherina Reiche,
Dr. Maria Böhmer, Thomas Rachel, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({1})
- Drucksache 15/2385 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach,
Christoph Hartmann ({3}), Cornelia Pieper, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({4})
- Drucksache 15/2402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({6})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr
- Drucksache 15/2359 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: WirtRedetext
Präsident Wolfgang Thierse
schaftliche und organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft verbessern
- Drucksache 15/2393 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({9})
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines... Gesetzes zur Ergänzung des Gesetzes zur
Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Alt-Sportanlagen
- Drucksache 15/2132 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({11})
- Drucksache 15/2414 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Heinz Seiffert
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen
Dienstleister
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Einrichtung eines Zukunftsausschusses
- Drucksache 15/2387 ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Auswirkungen des von der Bundesregierung geplanten
Emissionshandels auf die deutsche Wirtschaft
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 21 - Förderung von Gedenkstätten - abzusetzen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsprogramm Informationsgesellschaft
Deutschland 2006
- Drucksache 15/2315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({12})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am Beginn dieses Jahres können wir sagen,
dass das Jahr 2004, was die Ökonomie angeht, mit größter Wahrscheinlichkeit besser sein wird als die vergangenen drei Jahre. Wir stehen - die Anzeichen dafür sind
unübersehbar - am Beginn eines sehr kräftigen weltwirtschaftlichen Aufschwungs. Nach allem, was wir
erkennen können, wird die Weltwirtschaft um 3 bis
4 Prozent wachsen. Der Welthandel wird um 7 bis 8 Prozent zulegen.
In der Bundesrepublik Deutschland, einem Land, das
exportstärker ist als die meisten anderen Länder auf der
Welt, werden wir von diesem Prozess profitieren. Wir
werden von dem ökonomischen Schwung, der insbesondere von den USA, von China und übrigens auch von
den EU-Beitrittsländern ausgeht, profitieren und von
ihm gewissermaßen mitgerissen. Wir können erwarten,
dass aufgrund unserer Exportstärke der Aufschwung
auch bei uns in Deutschland Fuß fassen wird und dass
durch die Reformmaßnahmen, die wir in den Bereichen
Steuern und soziale Sicherungssysteme unternommen
haben, die Höhe der Investitionen steigen wird und so
schließlich die Binnennachfrage in unserem Land gestärkt wird.
Alle Indikatoren sprechen für eine solche Entwicklung. Der aktuelle Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Vergleich zu denen der letzten drei Jahren am besten ausgefallen. Alle Umfragen weisen darauf hin - das geht über
unsere Erwartungen hinaus -, dass die Investitionsneigung der Unternehmen des Mittelstandes steigt. Vielleicht können wir außerdem darauf hoffen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland wieder
etwas kauflustiger in die Geschäfte gehen, als das in der
zurückliegenden Zeit der Fall gewesen ist.
({0})
Alle Signale, die wir empfangen können - eine solche
Nachricht ist wohltuend; vor allem außerhalb Deutschlands hat man oft mehr Zuversicht und Optimismus -,
weisen darauf hin, dass in der Europäischen Union insgesamt wie auch in Deutschland der Aufschwung einsetzt. Das zeigt, dass wir mit unseren Reformmaßnahmen - diese sind mit denen in den meisten europäischen
Ländern übrigens fast identisch - auf dem richtigen Weg
sind.
({1})
Wir haben das Tal der Tränen durchschritten, haben
die Talsohle hinter uns gelassen. Allerdings müssen wir
auf unserem Weg Kurs halten und müssen auch weiterhin strukturelle Reformen und die Förderung von Innovationen im Blick haben.
Welche strukturellen Reformen haben wir uns vorgenommen? - Wie Sie wissen, werden wir die Reformen
im Bereich der Rentenversicherung fortsetzen und eine
langfristig angelegte Rentenreform auf den Weg bringen.
Wir werden die vorgesehenen Reformen am ArbeitsBundesminister Wolfgang Clement
markt mit aller Konsequenz realisieren, auch nach dem,
was sich bei der Bundesagentur für Arbeit zugetragen
hat. Die Veränderungen, die vorgesehen sind - diese sind
richtig -, werden selbstverständlich mit aller Konsequenz durchgesetzt. Wir müssen und wir werden die
Kräfte des Wettbewerbs in Deutschland stärken. Regulierung werden wir an den Stellen, an denen sie nicht
mehr notwendig ist, reduzieren. In den Bereichen, in denen der Wettbewerb aber noch nicht funktioniert und
noch nicht die erforderlichen Erfolge zeigt - das ist etwa
auf den Strom- und Gasmärkten der Fall -, werden wir
Regulierungen einführen, um dadurch den Wettbewerb
zu forcieren. An den Stellen, an denen bestimmte Kräfte
den Aufschwung hemmen könnten, insbesondere an den
Stellen, an denen zu viel Bürokratie besteht, werden wir
den Prozess des Bürokratieabbaus und des -umbaus fortsetzen.
Darüber hinaus müssen wir aber auch die Innovationen fördern. Dazu müssen wir die Kräfte der Modernisierung und der Erneuerung in Deutschland stärken. Auf
allen Feldern, insbesondere auf denen, die für die weltwirtschaftliche Entwicklung, die für die Weltmärkte von
heute und morgen entscheidend sind, müssen wir präsent
sein und Spitzenleistungen vollbringen können. Die Voraussetzungen dazu haben wir zu schaffen: in Bund und
Ländern, in der Wirtschaft und in allen Bereichen der
Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir haben hier
einen Prozess in Gang gesetzt; der Bundeskanzler hat zu
einem Gespräch über das Thema Innovationen eingeladen. Meine Kollegin Edelgard Bulmahn wird sich dazu
näher äußern.
Es bedarf, um auf diesen wichtigen Feldern erfolgreich sein zu können, einer sehr viel stärkeren und engeren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, vor allen Dingen im Bereich des Mittelstandes.
Deshalb haben wir unsere Innovationsoffensive mit einem umfassenden Maßnahmenpaket für den Mittelstand
verbunden. Ein Schwerpunkt unserer Bemühungen ist,
die Finanzierungsmöglichkeiten für junge Technologieunternehmen und High-Tech-Gründungen zu verbessern. Gemeinsam mit der Europäischen Investitionsbank haben wir einen neuen Dachfonds für
Beteiligungskapital geschaffen, in den ERP-Mittel und
Mittel der Europäischen Investitionsbank von je
250 Millionen Euro fließen. Wir erwarten, dass wir zusammen mit privaten Gebern in den nächsten fünf Jahren
fast 2 Milliarden Euro mobilisieren können, um kleine
Unternehmen und neu gegründete Unternehmen, die
sich in den neuen Technologien engagieren, unterstützen
zu können. Diese brauchen - nehmen Sie nur das Beispiel der Bio- und Gentechnologie - längerfristig angelegte finanzielle Unterstützung. Das wollen wir mit solchen Fonds für Beteiligungskapital schaffen.
({2})
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, müssen uns am
Weltmaßstab messen und vor Augen halten, dass wir auf
den wichtigsten Feldern, auf denen der Export eine herausragende Rolle spielt, ganz vorne dabei sein müssen,
wenn wir unseren heutigen Standard - unseren Lebensstandard und auch unseren Wohlstand - halten wollen.
Ganz vorne sind wir in Deutschland heute im Bereich
der Automobilindustrie und des Maschinenbaus. Im
Chemiesektor sind wir unternehmerisch nicht mehr so
kräftig, wie wir es schon einmal waren, und unsere unternehmerische Power insbesondere im Bereich der
pharmazeutischen Industrie ist schon lange nicht mehr
ausreichend stark.
Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um das
Unternehmen Aventis und seinen so wichtigen Standort
in Deutschland - in Frankfurt am Main - für uns auch
von so großer Bedeutung. Deshalb weisen wir auf die
Bedeutung dieses Standortes immer wieder hin.
({3})
Das Unternehmen Aventis ist übrigens ein Beispiel für
eine gelungene unternehmerische partnerschaftliche
deutsch-französische Zusammenarbeit. Ich hoffe sehr,
dass sich diese partnerschaftliche Zusammenarbeit auch
dann als haltbar erweist, wenn möglicherweise neue unternehmerische Wege eingeschlagen werden.
Wenn wir auf den Weltmärkten auch in Zukunft ganz
vorne dabei sein wollen - das müssen wir, wenn wir an
der Spitze bleiben wollen -, dann müssen wir auch auf
anderen Feldern Spitzenklasse sein. Ich nenne die Biound Gentechnologie, die Medizintechnik, die IuK-Technologie, die neuen Energietechniken, die neuen Verkehrstechniken, die Nanotechnologie und die optischen
Technologien. Auf diesen Gebieten müssen wir vorne
sein, wenn wir bestehen wollen. Hierauf müssen wir unsere Anstrengungen konzentrieren.
Wir wissen, dass der Informations- und Kommunikationstechnologie eine herausragende Bedeutung zukommt. Sie ist mehr als alle anderen eine Schlüsseltechnologie, weil sie alle anderen wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Deshalb müssen wir der Information und Kommunikation eine so herausragende Bedeutung geben und sie sowohl durch die
Politik als auch durch die Wirtschaft entsprechend unterstützen.
Die Aussichten, die Konjunkturzeichen für die IuKWirtschaft in Deutschland sind gut. Auch hier haben wir
das Tal der Tränen - die Rückgänge in 2002 und die Stagnation in 2003 - hinter uns gelassen. Die Investitionen
in die IuK-Technologien ziehen merklich an. Branchenexperten gehen von einem Wachstum der IT-Branche in
Europa von etwa 3 Prozent aus. Die zunehmende Nachfrage nach Mobilfunk und Breitband schafft zusätzliche
Wachstumsimpulse. Eine OECD-Studie zeigt, dass die
flächendeckende Einführung der Informations- und
Kommunikationstechnik in vielen OECD-Ländern
schon einen deutlichen Wachstumsbeitrag geleistet hat.
Bei uns ist dies noch nicht in genügend großem Umfang
der Fall. Wir müssen alles daransetzen, das in den IuKTechnologien steckende Potenzial für mehr Produktivität
auszuschöpfen und neue Märkte zu erschließen.
IuK-Technologien sind unverzichtbar für moderne
Wirtschaftsstrukturen. Über 80 Prozent der deutschen
Exporte hängen mittlerweile vom Einsatz moderner
Informations- und Kommunikationstechnologien ab. Sie
sind auch für effizientes Verwaltungshandeln und Bürokratieabbau unverzichtbar. Nicht zuletzt gehören Computer und Internet für die Mehrheit der Deutschen inzwischen zum Alltag - ob bei der Arbeit, zu Hause oder in
der Schule. Mit dem Masterplan „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“, den wir im Dezember vergangenen Jahres verabschiedet haben, wollen wir uns den
neuen Herausforderungen auf diesem Feld stellen und
wir wollen deutlich machen, dass dies ein, wenn nicht
sogar der wichtigste Teil der von uns eingeleiteten Innovationsoffensive ist.
Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hatte die
Bundesregierung ein strategisches Programm zur Gestaltung der Informationsgesellschaft mit konkreten
Zielmarken vorgelegt und durchgeführt. Wir können
heute sagen, dass wir die wesentlichen Ziele, die wir uns
gesteckt hatten, erreicht haben. Heute sind jede Schule
und fast jedes Unternehmen in Deutschland online. Über
50 Prozent der deutschen Bevölkerung nutzt das Internet. Mit „Bund Online“ und „MEDIA@Komm“ sind
über 500 E-Government-Lösungen entstanden.
Mit dem Programm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ wollen wir nun den Blick weiter nach vorne
richten. Ich möchte Ihnen gerne einige Schwerpunkte zu
diesem Programm, das wir in der sehr ansehnlichen
Schrift „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“
zusammengefasst haben, erläutern.
({4})
- Herr Kollege, Sie wissen, Werbung muss sein. Das gilt
erst recht, wenn es um die Informations- und Kommunikationstechnologien geht.
({5})
- Dafür mache ich die Vermarktung; das ist meine
Pflicht. Wir setzen hier Schwerpunkte, Herr Kollege
Kauder, etwa im Bereich von Breitbandmobilfunk und
digitalem Fernsehen.
({6})
In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Breitbandanschlüsse in Deutschland explodiert. Zurzeit gibt
es in Deutschland mehr als 5 Millionen dieser schnellen
Internetzugänge, der Breitbandanschlüsse, Herr Kollege
Kauder. Bis 2010 soll mehr als die Hälfte der deutschen
Haushalte über einen Breitbandinternetanschluss verfügen. Das entspricht etwa 20 Millionen Anschlüssen. Natürlich spielt die Hochgeschwindigkeitsdatenübertragung auch für die Geschäftsprozesse der Unternehmen
eine zunehmende Rolle. Mit unserer Breitbandinitiative
wollen wir Infrastruktur- und Diensteanbieter näher zusammenbringen. Wir hoffen, damit möglichst viele
Dienste verfügbar machen zu können.
Ganz neue Möglichkeiten mit zusätzlichen Chancen
für neue Dienste, für Wachstum und Beschäftigung bietet der Mobilfunk. In Deutschland gibt es inzwischen
mehr Mobilfunk- als Festnetzanschlüsse. Die so genannte Penetrationsrate liegt in Deutschland inzwischen
bei gut 75 Prozent. Diese hervorragende Mobilfunkverbreitung ist eine gute Basis, um noch in diesem Jahr
UMTS voranzubringen. Es wird Zeit, dass dies Wirtschaft und Industrie tun, um UMTS zu fördern.
Gleichzeitig nimmt in Deutschland die Zahl der Hotspots und der Wireless LANs an exponierten Stellen wie
Flughäfen und Bahnhöfen rapide zu. Ganze Städte werden mittlerweile zu Wireless LANs vernetzt. Die aktuelle Herausforderung besteht darin, mobile Anwendungspotenziale besser auszuschöpfen und zu mehr
Wettbewerb bei den Infrastrukturen und Diensten zu
kommen.
Ein weiteres wichtiges Feld ist die digitale Rundfunkübertragung. Die Einführung von DVB-T in Berlin ist gelungen. Ich freue mich sehr, dass weitere Regionen in Nordrhein-Westfalen, aber auch im Norden der
Bundesrepublik Deutschland insgesamt in der Ausstattung mit DVB-T rasch folgen werden. Die Einführung
steht dort unmittelbar bevor. Das ist der richtige Weg,
um unser Ziel zu erreichen, bis spätestens 2010 alle vorhandenen Übertragungswege zu digitalisieren.
Ein weiterer Schwerpunkt des Programms „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ betrifft den E-Commerce. Im letzten Jahr sind in diesem Bereich in
Deutschland etwa 100 Milliarden Euro umgesetzt worden. Das Internet ist damit ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden. Deutschland ist der mit Abstand wichtigste E-Commerce-Markt in Europa.
Es besteht aber auf diesem Feld bei mittelständischen
Unternehmen, bei Handwerksbetrieben sowie bei kleinen und mittleren Unternehmen insgesamt noch immer
Nachholbedarf. Zwar sind fast alle Unternehmen inzwischen online; aber erst 10 Prozent steuern ganze Geschäftsprozesse einschließlich Beschaffung und Vertrieb
unternehmensübergreifend über das Internet. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf, damit sich auch die
kleinen Unternehmen auf den Wettbewerb einstellen, der
spätestens mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU noch stärker als zuvor auf uns zukommt.
Wir versuchen, mit einem Netz regionaler Kompetenzzentren zahlreiche Beratungsmöglichkeiten aufzubauen und so zu helfen, standardisierte Geschäftsprozesse einzuführen. Unser Ziel ist es, dass bis 2008
mindestens 40 Prozent aller Unternehmen integrierte
E-Business-Lösungen über die gesamte Wertschöpfungskette anwenden. Dies wäre - das kann man leicht
errechnen - im Vergleich zu heute eine Vervierfachung.
Auch die E-Cards mit digitaler Signatur sind ein
wesentliches Element bei der Modernisierung von Geschäfts- und Verwaltungsprozessen. Wirtschaft und Verwaltung haben sich in einem Signaturbündnis zusammengeschlossen, um die Verbreitung und Anwendung
von Signaturkarten gemeinsam voranzubringen und zu
beschleunigen. Die Kartenprojekte des Bundes werden
wir in einer E-Card-Initiative zusammenfassen, um die
damit verbundenen Anwendungen zu synchronisieren
und zu harmonisieren.
Gleichzeitig werden wir das Signaturgesetz vereinfachen und durch geeignete rechtliche Rahmenbedingungen klare Einführungstermine vorgeben. Damit schaffen
wir Investitionssicherheit für E-Cards. Im Bereich der
Gesundheit ist dies mit dem Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz schon geschehen. In anderen Bereichen,
etwa bei der Jobkarte, bereiten wir zurzeit die Gesetzentwürfe vor. Die nächste Generation des Personalausweises wird ein digitaler Ausweis sein. Auch die Banken haben angekündigt, noch in diesem Jahr Bankkarten mit
Signaturfunktion herauszubringen. Damit haben wir
endlich flächendeckende Anwendungen für Signaturkarten. Ich denke, das freut Unternehmer und Verbraucher.
Das stärkt zugleich die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer innovativen Chipkartenindustrie. Das wird
wenig beachtet; aber wenn wir unsere Chancen allein auf
diesem Feld gemeinsam mit der Wirtschaft entschlossen
wahrnehmen, dann kann Deutschland auf einem neuen,
sehr spannenden, sehr interessanten Markt einer der
Trendsetter und Vorreiter werden. Wir haben gute Voraussetzungen, dass wir das packen können.
Unser Aktionsprogramm „Informationsgesellschaft
Deutschland 2006“ beschreibt den Weg in eine zukunftsorientierte Gesellschaft. Wie gesagt, schon heute nutzen
mehr als die Hälfte unserer Bürgerinnen und Bürger
Computer und Internet. Wir dürfen aber die andere
Hälfte nicht übersehen. Eine Informationsgesellschaft
kann nur eine offene Gesellschaft sein, wenn sie alle
Bürgerinnen und Bürger mitnimmt oder jedenfalls versucht, sie mitzunehmen.
({7})
Deshalb wollen und müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die uns die neuen Medien bieten. Das ist gut für unser Land. Die Vorbereitungen dazu haben wir getroffen.
Ich lade alle ein mitzugehen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegin Martina Krogmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
befinden uns im historischen Jahr 1, in dem Jahr, in dem
die Bundesregierung die Bedeutung von Innovationen
entdeckt hat.
({0})
Deshalb freue ich mich besonders, dass wir heute über
die Informationsgesellschaft sprechen. Sie, Herr Minister, haben in Ihrer Rede erstaunlich oft das Wort „Innovation“ verwendet.
({1})
Der Bundeskanzler hat in seiner Rede zur Agenda 2010,
in der er aus seiner Sicht die wichtigsten Aufgaben des
Jahrzehnts dargelegt hat, das Wort „Innovation“ kein
einziges Mal gebraucht - Fehlanzeige! Jetzt muss es
umso häufiger herhalten, hoffentlich nicht nur zur Ablenkung nach dem Motto: „Gerster ade, Innovation
juchhe“.
({2})
Tatsächlich hat die Bundesregierung das Thema Informationsgesellschaft in den letzten Jahren in die Ecke
gestellt. Als es zu Hochzeiten der New Economy noch
chic war und automatisch Schlagzeilen brachte, sich neben einem PC fotografieren zu lassen, da waren Sie noch
alle ganz eifrig dabei. Doch als der so genannte Hype
vorbei war, haben Sie dieses Thema einfach zu den Akten gelegt, beiseite gewischt, weil es sich nicht mehr so
medienwirksam verkaufen ließ. Das war fatal, denn die
wirklichen politischen Herausforderungen, die Informationsgesellschaft zu gestalten und weiterzuentwickeln,
hatten gerade erst angefangen. Die Quittung für dieses
Desinteresse haben wir schon längst bekommen. In allen
entscheidenden Bereichen
({3})
ist Deutschland in den letzten Jahren zurückgefallen.
({4})
Im aktuellen Jahresbericht des Weltwirtschaftsforums
2003/2004 liegt Deutschland in der Kategorie Informationstechnologie auf dem 38. Platz, noch hinter Tunesien. Die Bundesregierung unternimmt aber nichts gegen die Ursachen dieser Misere, sondern sie erfreut sich
an dem zweifelhaften Glanz sorgfältig aus dem Zusammenhang gerissener Zahlen.
({5})
Jetzt, da Sie das Thema Innovation auf einmal doch
noch entdeckt haben, kommen Sie in klassischer SPDManier mit Masterplan und Aktionsprogramm. Während
andere Länder, zum Beispiel die skandinavischen Staaten, die USA und Großbritannien, bereits vor Jahren
richtigerweise eine allumfassende Gesamtstrategie,
eine Vision der Informationsgesellschaft präsentiert haben, kommen Sie mit Plänen und Programmen.
({6})
Das ist kleinkariert, piefig und geht an den zentralen Herausforderungen der Informationsgesellschaft völlig vorbei.
({7})
Ihre Politik ist zu spät, zu langsam und zu halbherzig.
({8})
Informationsgesellschaft bedeutet eine noch nie dagewesene Enthierarchisierung des Wissens. Ein Mausklick - und jedem steht eine ungeheure Menge an Informationen zur Verfügung. Wissen wird zum wichtigsten
Produktionsfaktor. Der Innovationszyklus wird immer
kürzer. Die Veränderungen betreffen alle Bereiche: unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, unser Arbeitsleben,
unsere Kultur.
Die Politik muss der Wirtschaft einen klaren ordnungspolitischen Rahmen geben. Die Politik muss auch
allen Gruppen der Bevölkerung die Chance geben, an
dieser Entwicklung teilzuhaben, und sie muss die ungeheuren Potenziale der neuen Technologien zur Modernisierung unseres Landes entschlossen nutzen. Eines ist
klar: Wir müssen im internationalen Technologiewettlauf schneller werden, viel schneller.
Wir unterstützen die Initiative „Deutschland-Online“,
die gemeinsame E-Government-Strategie von Bund,
Ländern und Gemeinden vom Juni vergangenen Jahres.
({9})
Schließlich fordern wir das seit vielen Jahren. Hier haben Sie Zeit verschenkt.
({10})
Mithilfe des Internets können wir aus der deutschen
Bürokratie die modernste Verwaltung der Welt machen.
({11})
Sie aber haben bis heute nicht verstanden, was E-Government bedeutet. Es geht eben nicht darum, einfach
ein Formular ins Internet zu stellen. E-Government
heißt, die modernen Technologien zu nutzen, um Prozesse zu modernisieren und die Verwaltung zu entstauben. Der Service für Bürger und Unternehmen muss besser, billiger und schneller werden.
({12})
Stellen Sie sich vor, Sie müssten für einen Behördengang nicht mehr einen halben Tag Urlaub nehmen, auf
dem Amt eine Nummer ziehen und warten, bis über der
Tür der Amtsstube ein Lämpchen leuchtet und Sie endlich dran sind. Stattdessen könnten Sie dann Ihr Anliegen einfach und bequem von zu Hause aus per Internet
erledigen. In Deutschland ist dies fast immer Zukunftsmusik. Der Bund hat es nämlich viel zu lange versäumt,
eine wirkliche Vorreiterrolle einzunehmen und die unterschiedlichen Aktivitäten mit Ländern und Kommunen zu
koordinieren.
Als Ergebnis dieser Untätigkeit ist in Deutschland in
den vergangenen Jahren ein digitaler Flickenteppich mit
unterschiedlichen IT-Anwendungen und Softwarelösungen von Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen entstanden. Zu viele unterschiedliche Stellen entwickeln
zeitgleich vergleichbare IT-Anwendungen. Das Problem
ist, dass diese oft nicht einmal miteinander kommunizieren können. Man muss sich einmal vorstellen, dass inzwischen allein mehr als 100 verschiedene Softwarelösungen für die An- und Ummeldungen pro Jahr genutzt
werden.
Diese mangelnde Standardisierung hat inzwischen zu
einer regelrechten Selbstbehinderung der Verwaltung geführt. Aber das scheint Sie nicht weiter zu interessieren.
Sie sind stolz darauf - Sie haben die Zahl bereits genannt -, dass schon 232 so genannte internetfähige
Dienstleistungen des Bundes im Netz stehen.
({13})
Wenn man aber genauer hinschaut, wird deutlich, dass
mindestens zwei Drittel des Angebots reine Informationen sind - von Interaktivität, Verwaltungsvereinfachung
und Bürokratieabbau keine Spur. Allein fünfmal bietet
zum Beispiel der Deutsche Wetterdienst seine Leistungen
an. Auch das zählt zu den internetfähigen Dienstleistungen. Ein Link führt zum Servicetelefon Ihrer Familienministerin Renate Schmidt. Da kann man zwar vielleicht
nett plaudern; aber mit einer modernen und schlanken
Verwaltung hat das nun wirklich gar nichts zu tun.
({14})
Wir unterstützen die MEDIA@Komm-Projekte, die
übrigens noch von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung ins Leben gerufen wurden. Die wirklich fortschrittlichen Lösungen aus der Region Nürnberg, aus
Bremen und Esslingen wie ein virtuelles Bauamt oder
ein besonders effizientes elektronisches Meldewesen
müssen nun aber auch unverzüglich den anderen Städten
und Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Es kann
doch nicht sein, dass Sie diese Projekte über Jahre finanziell fördern, sie dann aber einfach auslaufen lassen und
nicht auf andere Regionen übertragen. Da ist bis heute
nichts passiert und das ist schlicht und einfach Verschwendung von Steuergeldern.
({15})
Wir unterstützen das Signaturbündnis. Wir waren
weltweit die ersten, die ein Signaturgesetz durchgesetzt
haben, auch dies übrigens noch unter einer CDU/CSUgeführten Bundesregierung. Die digitale Signatur wurde
dadurch mit der Unterschrift rechtlich gleichgestellt. Die
Bundesregierung hat aber auch diesen Vorsprung nicht
genutzt.
Sinnvolle Angebote für die Anwendung einer Signaturkarte sind so selten, dass sich kaum ein Bürger eine
Chipkarte beschafft hat. Das Signaturbündnis muss dazu
führen, dass hier endlich der Durchbruch gelingt. Das ist
zentral für das E-Government und für den Standort
Deutschland.
({16})
Wir unterstützen die Einführung der Gesundheitskarte. Aber E-Health ist natürlich viel mehr als bloß
eine Karte. E-Health ist die Chance auf eine wirkliche
Modernisierung unseres Gesundheitswesens. Aber auch
hier fehlt es an einer gemeinsamen Sprache, in der die
verschiedenen Systeme in den Arztpraxen, in den Apotheken, in den Krankenhäusern und bei den Krankenkassen miteinander kommunizieren können. Schaffen Sie
hier nicht schon wieder einen neuen digitalen Flickenteppich, sondern sorgen Sie dafür, dass jetzt im Gesundheitsbereich schnell eine einheitliche Infrastruktur aufgebaut wird! Dies sind zentrale Anwendungsfelder, auf
denen Sie in die Puschen kommen müssen,
({17})
und zwar nicht mit kleinkarierten Masterplänen und Aktionsprogrammen, sondern mit Mut und Weitsicht.
({18})
Die Vorreiterrolle des Staates als Nachfrager ist
enorm wichtig für einen zentralen Zukunftsmarkt, den
Sie, Minister Clement, angesprochen haben: den
Breitbandmarkt. In der Informationsgesellschaft sind
schnelle Datenleistungen genauso wichtig wie die
Strom- und die Wasserversorgung. Tatsache ist aber,
dass wir unter der rot-grünen Bundesregierung unsere
einstige Spitzenposition im Breitbandbereich längst verloren haben. Wir sind im internationalen Vergleich nur
noch Mittelmaß. Im vergangenen Jahr hat sich der Abstand zu den führenden Staaten USA, Kanada, Korea,
Japan oder - in Europa - zu Dänemark und Schweden
sogar weiter vergrößert. Unsere Wirtschaft darf nicht
länger den Preis für politische Schlafmützigkeit zahlen;
denn dieser Preis ist zu hoch.
({19})
Jede Verzögerung bedeutet, dass die wirtschaftlichen
Vorteile nicht bei uns, sondern in anderen Ländern entstehen.
Herr Minister, Sie haben völlig zu Recht auf die große
Bedeutung der digitalen Wirtschaft für die Informationsgesellschaft hingewiesen. Sie ist - über die eigene Branche hinaus - zentraler Wachstumsmotor und Treiber von
Innovationen für die gesamte Volkswirtschaft. Hier wird
der weltweite Innovationswettbewerb entschieden. Nur
wenn wir hier Spitze sind, werden wir es schaffen, Wettbewerb und Arbeitsplätze zu sichern. Deshalb ist es so
wichtig, dass wir in den kommenden Monaten ein gutes
Telekommunikationsgesetz verabschieden; denn das
TKG ist für die gesamte Branche so etwas wie die Magna Charta. Vom TKG muss ein klares Signal für Wettbewerb, Wachstum und Innovation ausgehen.
Wir brauchen eine Balance zwischen Infrastrukturund Dienstewettbewerb. Ich warne davor, irgendeine
Technologie oder Anwendung durch staatliche Einflussnahme künstlich zu pushen.
({20})
Politik darf sich bei Marktentwicklungen nicht zum
Schiedsrichter machen. Denn wer hätte vor einigen Jahren den großen Erfolg von SMS vorausgesehen? Kaum
einer hätte gedacht, dass man mit Fotoapparaten in das
Internet kommt oder dass man mit dem Handy fotografieren kann. Leider gilt auch beim TKG: Die Bundesregierung ist zu spät. Der Gesetzentwurf ist unausgegoren
und bar jeder ordnungspolitischen Grundlinie.
({21})
Gute Ansätze im Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums, die durchaus vorhanden waren,
wurden leider im Prozess der Abstimmung mit dem
Bundesfinanzministerium völlig verwässert. Zukunftspolitik unter dem Diktat von Herrn Eichel, das passt
überhaupt nicht zusammen.
({22})
Wir fordern eine klare Linie für mehr Wettbewerb,
weniger Bürokratie und schnellere Verfahren. Das heißt
für uns vor allem EU-rechtskonforme Umsetzung, flexibler Einsatz aller Regulierungsinstrumente, Antragsrechte für die Wettbewerber, harte Sanktionen bei Missbrauch, Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde und
Zuständigkeit der Zivilgerichte. Gehen Sie auf unsere
Forderungen ein! Dann ist Ihnen unsere Zustimmung im
Bundesrat sicher.
Mit dem Internet - auch das haben Sie, Herr Clement,
angesprochen - ist ein zusätzlicher sozialer Raum entstanden: Wir haben nicht nur auf technischem, sondern
auch auf sozialem und kulturellem Gebiet einen Quantensprung gemacht. Die Politik muss auch der menschlichen Dimension der Informationsgesellschaft Rechnung
tragen.
Leider ist die digitale Spaltung der Gesellschaft
- die Spaltung in diejenigen, die im Umgang mit PC und
Internet fit sind, und diejenigen, die nach wie vor keinen
Zugang zur digitalen Welt haben - bereits Realität. Diese
Zweiklassengesellschaft darf sich auf keinen Fall weiter
verfestigen. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen die
Möglichkeit haben, an der Informationsgesellschaft - sie
bietet große Chancen - teilzuhaben; denn wer nicht
„drin“ ist, der ist von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung bald völlig abgekoppelt.
Eines muss uns ganz klar sein: Deutschlands Zukunft
hängt entscheidend davon ab, ob wir im Bereich Innovation und Information schnell genug und gut genug sind.
Wir müssen jetzt das enge Zeitfenster nutzen. Dafür werden wir uns mit ganzer Kraft einsetzen. Verlassen Sie
sich darauf!
({23})
Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist völlig logisch und richtig: Wer neue Arbeitsplätze schaffen will, muss alles tun, damit die
Wirtschaft mehr Innovationen hervorbringt; denn mit
neuen Produkten, Dienstleistungen und Produktionsverfahren entstehen in einem Land wie der Bundesrepublik
neue Arbeitsplätze.
({0})
Ich finde, dass wir konkreter werden müssen als Sie,
liebe Kollegin, gerade in Ihrer Rede. Wir wissen längst,
was Innovationsprozesse blockiert und was sie fördert.
Erstens. Wer Innovationen voranbringen will, der
muss Subventionen für alte Industrien so schnell wie
möglich zurückfahren; denn Subventionen lähmen das
Neue. Wir haben gesehen, wie schwer sich die Union im
Vermittlungsausschuss getan hat, den Subventionsabbau voranzubringen.
Zweitens. Wer Innovationen will, der muss den Wettbewerb fördern und ihn dort, wo er nicht existiert, herstellen. Deswegen ist das neue Telekommunikationsgesetz so entscheidend. Der Telekom darf nicht aus dem
technischen Vorteil, den sie infolge des früheren Monopols hat, immer wieder ein neues Monopol erwachsen.
Deshalb muss der Marktbeherrscher die Technik auch
für Wettbewerber bereitstellen. Das ist ein wichtiger
Punkt, für den wir in der Debatte um das neue Gesetz
eintreten.
Drittens. Ein Land, das sich immer wieder einer Jammerkultur nach dem Motto „Bei uns läuft alles mies und
elend!“ hingibt - Sie haben einen Beitrag dazu geleistet -,
kann nicht den Spirit, den Geist, entfalten, den wir für Innovationen brauchen.
({1})
Schlechtreden ist nicht gut für Innovationen.
({2})
Viertens. Wir müssen die Schulen, die Hochschulen
und die Forschung in unserem Land in Ordnung bringen,
wir müssen sie verbessern; denn der wesentliche Boden
für die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist natürlich ihr Bildungswesen: Wie wird Weiterbildung organisiert und was passiert an den Hochschulen und Forschungsstätten?
Fünftens. Wir müssen für die Firmen, die bei der Finanzierung von Innovationen hohe Risiken eingehen,
optimale Finanzierungsbedingungen - steuerlicherseits und durch Förderungen - schaffen. Der neue Dachfonds, der vor kurzem mit ERP-Mitteln eingerichtet
worden ist, ist wichtig dafür, dass Innovationsfinanzierungen in Deutschland endlich schneller und besser auf
den Weg gebracht werden können.
Die I-und-K-Technologie ist eine Querschnittstechnologie. Wer im Bereich der I-und-K-Technologie nicht
vorne ist, der liegt bei allen Innovationen - auch auf allen anderen Technologiefeldern - hinten. Deswegen ist
die Förderung dieses Technologiesegments bzw. Technologienetzes entscheidend für die Innovationsstrategie
insgesamt.
({3})
Die I-und-K-Technologie ist die Basis aller Innovationen. Die breite Diffusion dieser Technik in alle Bereiche
ist die Basis für das notwendige Produktivitätswachstum
- es muss stärker sein als in der Vergangenheit - in
Deutschland.
Herr Minister, wenn ich das Problemfeld, das ich für
am bedeutendsten halte, identifizieren soll, dann nenne
ich die Schwäche bei der Diffusion von I-und-Koalition-Technik vor allem in die Breite des Mittelstandes,
zum Beispiel ins Handwerk. Wenn man die Zahlen aus
den USA im Bereich dieser Technologie als Diffusionsmaßstab nimmt, dann erkennt man, dass wir hinten
liegen. Die Hauptaufgabe, die sich stellt, lautet: Der
Mittelstand und die Kleinbetriebe müssen in der Breite
die I-und-K-Technik anwenden können. Dafür muss die
Politik in den nächsten Monaten die Weichen stellen.
({4})
Wir von den Grünen sind wir der Überzeugung, dass
ein Innovationsprozess auch eine Richtung braucht, und
sehen deshalb im Zusammenhang mit Ökologie sowie
mit kulturellen, sozialen und natürlich wirtschaftlichen
Fragen ein extremes und gutes Potenzial für die I-und-KTechnik. Wenn wir es erreichen, mehr Breitbandverkabelung im DSL-System zu schaffen, werden in Zukunft
anstelle vieler Konferenzen, derentwegen heute die
halbe Republik hin- und herbewegt wird, Videokonferenzen stattfinden können - vielleicht nicht immer, weil
Menschen sich auch sehen müssen und die soziale Dimension berücksichtigt werden muss. Aber wir werden
vieles von dem, was heute Zeit und eben auch Geld kostet, einsparen können.
Das E-Commerce hat ein ungeheures Potenzial, übrigens gerade für die älter werdende Gesellschaft. Ich fordere Sie auf, endlich herzugehen und das Potenzial dieser Technologien für die alten Menschen auszuschöpfen.
Die Benutzeroberflächen sind heute noch nicht so, dass
alte Menschen damit umgehen können. Wer hier zuerst
Lösungen anbietet, kann im Dienstleistungsbereich entlang dieser Techniken viele neue Arbeitsplätze schaffen.
Wir haben ein großes Potenzial, beim so genannten
Thema E-Health, also im Gesundheitswesen, die elektronischen Medien einzusetzen. Wenn 55 Prozent der
Ärzte in Deutschland offline sind, also nicht mit dem
Netz arbeiten können, dann zeigt dies das ungeheure Defizit auf diesem Gebiet. Wir könnten Milliarden einsparen, wenn das anders wäre. Da sage ich wieder: Wo Sie
keinen Wettbewerb haben, wie im deutschen Gesundheitssystem, gibt es eben keine gute Durchdringung mit
fortschrittlicher Technologie. Das ist ein ganz klares
Beispiel dafür, dass wir Wettbewerb im Gesundheitswesen brauchen. Dann werden auch hier Kostensenkung
und Effektivität möglich.
({5})
Selbstverständlich ist E-Government ein entscheidendes Thema; das hat der Minister ausgeführt. Wir können schließlich nicht von der Gesellschaft und von der
Wirtschaft verlangen, innovativer zu werden, während
andererseits wir in der Regierung in dem, was der Staat
an staatlichem Handeln anbietet, eben nicht in der notwendigen Weise innovativ sind.
Ich will zum Abschluss noch auf zwei Punkte eingehen, die mir wichtig sind. Wir müssen in Deutschland
auch selbstkritisch über das reden, was nicht läuft. Der
Regierungsbericht ist zum Beispiel in Bezug auf das
Thema Toll Collect - das ist ja gar nicht richtig erwähnt
- natürlich unterkritisch.
(Lachen des Abg. Georg Girisch [CDU/
CSU] - Volker Kauder [CDU/CSU]: Da seid
ihr sehr innovativ!
Man kann nicht über I-und-K-Technik reden und dann
außer Acht lassen, dass zwei große deutsche Firmen bei
diesem Thema völlig versagt haben.
({6})
Ein mittelständischer Betrieb in Deutschland könnte sich
so etwas nicht leisten. Würde der so etwas hinlegen,
ginge er baden, er ginge kaputt. Darum kümmert sich
niemand.
({7})
Ich will zu Ihnen, Herr Kauder, einen Satz sagen und
komme damit zum Schluss: Ich habe den Eindruck, dass
die Union die Innovationsdebatte als breite große politische Debatte verschlafen hat.
({8})
Sie diskutieren darüber, die Leute durch eine Senkung
der Steuertarife um 10 Milliarden Euro zu entlasten. Sie
sagen, die Bürgerversicherung koste 20 Milliarden Euro;
das habaen Sie nicht gegenfinanziert. Damit haben Sie
eine Deckungslücke von 30 Milliarden Euro.
({9})
Gleichzeitig beteiligen Sie sich fröhlich an der Diskussion über eine Erhöhung der Ausgaben im Bildungs- und
Forschungssystem. Wir werden es schwer haben, die
3 Prozent zu erreichen, aber Sie sind 30 Milliarden Euro
von den Zielen entfernt, die hier anstehen. Meines Erachtens haben Sie in der Innovationsdebatte eigentlich
nicht viel zu melden, weil Sie gar nicht kapieren, dass
Sie sich auch mit der Finanzierung der Mittel für Innovation und für Forschungspolitik auseinander setzen müssen. Sie versprechen den Leuten Entlastungen in Höhe
von 30 Milliarden Euro und haben keine blasse Ahnung,
wie Sie das finanzieren wollen. Was Sie an der Stelle betreiben, ist Politikverweigerung.
({10})
Ich danke Ihnen.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben eingeleitet mit einem
Blick auf die aktuelle wirtschaftliche Lage. Die Konjunktur hellt sich auf, Gott sei Dank. Aber wir profitieren
nur davon, dass andere es besser gemacht haben als wir.
In Amerika brummt es, in Asien brummt es, aber nicht
bei uns. Wir profitieren von der erfolgreichen Politik anderer.
({0})
Die erste Reaktion auf die halbherzigen Beschlüsse
im Vermittlungsausschuss war ja, dass das DIW, ein Ihnen nicht gerade feindlich gesonnenes Institut hier in
Berlin, die Wachstumsprognose nach unten revidiert hat.
Der Kalendereffekt - fünf Feiertage fallen auf ein Wochenende - sorgt für ein Wachstum von 0,6 Prozent. Das
gibt übrigens einen dezenten Hinweis zu der Vorstellung, mit weniger Arbeit mehr erreichen zu können. Hinsichtlich 0,7 Prozent Wachstum profitieren wir von der
amerikanischen und asiatischen Wirtschaft. Nach der
Prognose kommen gerade 0,1 Prozent aus eigener Kraft,
aus dem Binnenmarkt. Das zeigt, dass die Hausaufgaben
eben nicht erledigt sind und wir bei weitem keinen Anlass zur Entwarnung oder zur Selbstbeweihräucherung
haben.
({1})
Den Reformprozess fortsetzen. - Herr Clement, vieles von dem, was Sie sagen, ist richtig sympathisch, es
wird nur nicht gemacht. Heute lesen wir in der Zeitung:
Der Bundeskanzler stoppt den Reformprozess, indem er
sagt: Bei der Pflegeversicherung ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht. - Der Reformprozess wird also nicht
fortgeführt. Wo sind denn die Reformen, die konsequent
gemacht werden? Sie stoppen sie gerade wieder. So werden Sie die Lohnnebenkosten nicht herunterbekommen.
So entsteht nicht mehr Arbeit in Deutschland. Sie verhindern Arbeitsplätze in Deutschland. Das ist die Realität.
({2})
So trägt der Bundeswirtschaftsminister täglich einen
neuen bunten Luftballon durch die Gegend. Der bunte
Luftballon des Tages heißt: Aktionsprogramm Informationsgesellschaft. Wenn Sie redlich wären, müssten Sie
eigentlich als Titel wählen: Aktionismusprogramm. So
etwas ist es nämlich wieder. Da wird alles zusammengeschrieben, es gibt Fleißkärtchen - ein Sammelsurium
von Einzelmaßnahmen, das modern klingt, möglichst
mit vielen Anglizismen verkleidet, damit man nicht
merkt, dass dahinter fast nichts ist. Dieses Sammelsurium bringt uns nicht weiter. Wenn das der Beitrag der
angekündigten großen Innovationsoffensive ist, dann
kann ich nur sagen: Lassen Sie es lieber!
Der Ansatz ist wieder von dirigistischem, korporatistischem Geist geprägt. Es wird von der Telematik im
Gesundheitswesen fabuliert. Wir haben gerade die famose Einführung der Praxisgebühr erlebt. Toll! Wenn
das der Ansatz ist, mit dem die Gesundheitspolitik in
Deutschland gestaltet werden soll, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, Gesundheitspolitik!
({3})
- Sie und der Herr Tauss, der Zwischenrufer, sind die
großen geistigen Vordenker.
({4})
- Herr Heil, gucken Sie sich einmal Ihren eigenen Weg
an!
Es werden Planzahlen für die Zahl der Internetbenutzer, Größenordnungen für die Zahl der Breitbandanschlüsse genannt, alle möglichen runden Tische und Initiativen abgefeiert. Die Bundesregierung tut mal wieder
so, als würde sie persönlich die Bevölkerung mit den
Wirtschaftsgütern der IT-Branche versorgen. So ist es
aber nicht; das macht der Markt. Wettbewerb und
Marktwirtschaft sorgen für eine effiziente und schnelle
Umsetzung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien.
({5})
Wettbewerb und Marktwirtschaft sorgen für technischen
Fortschritt. Wettbewerb bleibt das wirksamste Entdeckungsverfahren in der Wirtschaft. Dem muss man Vorrang geben. Vorrang dürfen nicht Ihre eigenen Strategien
haben.
({6})
Das Motto der Bundesregierung lautet: Idee gesucht,
Kommission gefunden. Nur, so kommen wir nicht weiter. Die Innovationskommission aus dem Jahr 2001 ist
noch nicht aufgelöst. Jetzt hat sich der Bundeskanzler einen Innovationsrat zugelegt. Mit prachtvoller Medieninszenierung wird der staunenden Öffentlichkeit vorgeführt: Jetzt geht es richtig los.
Das Thema „LKW-Maut in Deutschland“ ist zu Recht
angesprochen worden. Selbst Herr Kuhn als Weltökonom konnte es sich nicht verkneifen, über diesen
Schandfleck grün-roter Politik zu sprechen. Was herauskommt, wenn die Herren, die die Verantwortung für die
LKW-Maut haben, jetzt den Kanzler auch in der Innovationsoffensive beraten, kann ich mir vorstellen, nämlich nichts Vernünftiges.
({7})
Sie machen die Böcke zu Gärtnern. Es stellt sich auch
die Frage: Wie wollen Sie uns garantieren, dass auf solchem Wege nicht massive Lobbyinteressen der Beteiligten durchgesetzt werden?
({8})
- Herr Tauss, Sie sind Zwischenrufweltmeister.
({9})
Aber in letzter Zeit sind Sie schwach geworden. Haben
Sie neue Weisungen von Ihrem Chef Peters von der IG
Metall, weniger Zwischenrufe zu machen?
({10})
Sie inszenieren ein Treffen von Vorstandsvorsitzenden einiger Großkonzerne als Zukunftsgipfel. Das ist
aber ein Gipfel von Pfauenfederträgern. Das ist kein
Weg, Deutschland technologisch nach vorn zu bringen.
({11})
Sie suggerieren ein Wissen, das dort gar nicht vorhanden
ist. Wir haben es doch in der Vergangenheit erlebt. Mit
den round tables, den runden Tischen, den eckigen Tischen, den ovalen Tischen - es gibt ganz neue Tischsorten, die man dazu anführen kann -,
({12})
wurden Millionen, ja Milliarden von Steuergeldern versenkt. Echte Anreize für Innovationen sind nicht erzeugt
worden. Denken Sie mal an die Vergangenheit, an die
Großrechnerförderung und anderes! Das ist der Geist der
Planifikation. Da zeigt sich Ihr Misstrauen gegenüber
dem Markt.
Jüngstes Beispiel: Online-Jobbörse bei der Bundesanstalt für Arbeit. Das Aktionsprogramm wird großartig
verkauft. Über 100 Millionen Euro werden reingebuttert.
Jetzt erfährt man - man höre und staune -: Über ein
Viertel der 100 Millionen Euro werden für Werbung ausgegeben. Wo ist denn da die Innovation? Das ist doch
Selbstbeweihräucherung. Was dabei herauskommt, haben wir erlebt. Das ist der falsche Ansatz. Auch hier haben Sie nicht den Mut zu mehr Marktwirtschaft. Stattdessen pflegen Sie weiter alte syndikalistische Ansätze:
ein Drittel Gewerkschaften, ein Drittel Arbeitgeber, ein
Drittel Staat. Alle liegen sich schön in den Armen. Vom
Tanzen her wissen Sie, dass man, wenn man sich in den
Armen liegt, die Hände zum Arbeiten nicht frei hat. Das
ist es, was Sie falsch machen.
({13})
Was haben Sie in diesem Bereich gemacht? Durch
den massiven Einsatz von öffentlichen Geldern werden
innovative private Jobbörsen aus dem Markt gedrängt.
Aber ohne diese privaten Jobbörsen wären Sie überhaupt
nicht auf die Idee gekommen, dass man online etwas
Vernünftiges auf den Weg bringen kann, wenn man es
richtig organisiert. Das Neue kommt eben nicht aus den
Amtsstuben in die Welt. Innovation kann man nicht an
runden Tischen beschließen, Innovationen kann man
nicht per Dekret verkünden. Neuheiten entstehen überraschend. Zukunft ist nicht planbar. Es muss mehr Freiräume geben und weniger staatliche Bevormundung.
Dieser Ansatz muss verfolgt werden. Wer an jeder Ecke
durch Bürokratie gegängelt und durch hohe Abgaben
und Steuern geschröpft wird, überlegt sich dreimal, ob er
in Deutschland noch Innovationen entwickelt und umsetzt. Das ist doch der entscheidende Punkt.
({14})
Deutschland ist jetzt ein Musterland für Braindrain,
für Auswanderung von Kapital und hoch qualifizierten
Fachkräften. Jedes Jahr verlassen 130 000 hoch ausgebildete Wissenschaftler und Spezialisten Deutschland; in
der Regel kommen sie nicht zurück, weil Sie ein
schlechtes Klima für sie geschaffen haben.
Nun kommt der Weltökonom Kuhn und verkündet
kühn, dass man mit der Schaffung der Informationsgesellschaft einen großen Schritt in die Zukunft macht. Die
Grünen tragen die Verantwortung für das fortschrittsfeindliche Klima in der deutschen Gesellschaft.
({15})
Sie haben anfangs in ihrer Programmatik die Computer
verteufelt. Ich zitiere aus dem Grundsatzprogramm
der Grünen, in dem Computer als Teufelswerkzeug dargestellt werden. Dort steht:
Computern werden wesentliche Arbeitsaufgaben
übertragen, während den Menschen nur noch eine
sinnentleerte Teilfunktion überlassen bleibt.
Das ist ein Originalzitat. Sie tragen die Verantwortung,
dass eine fortschrittsfeindliche Haltung in diesem Land
entstanden ist. Sie haben eine Verhinderungs- und Verteufelungskultur in diesem Land initiiert und dementsprechend Stimmung gemacht. Die Konsequenzen müssen wir heute ausbaden. In vielen Bereichen haben Sie
Irrwege eingeschlagen und waren unfähig, die Realitäten
zu erkennen.
({16})
Heute verhalten Sie sich wieder so bei der Biotechnologie und der Gentechnik, indem Sie wie früher bei der
Kernenergie überall Ängste zu erzeugen versuchen und
mit Anschauungen von vorgestern operieren. Wenn wir
Ihnen gefolgt wären, würden wir heute mit Federkiel auf
Pergament schreiben, aber nicht über Informationstechnologie im Bundestag diskutieren.
({17})
- Es ist nur recht, dass Sie schreien. Sie sollten sich dafür entschuldigen, was Sie in Deutschland für Unfug angerichtet haben.
({18})
Der entscheidende Punkt ist, dass Deutschland
({19})
- das würde ich gerne machen, dann bekommen Sie
noch etwas ab; Sie hätten es verdient, aber dafür müssten
Sie mir Ihre Redezeit geben - eingemauert ist. Nichts
wird flexibel gehandhabt. Das ist überall zu spüren. In
den Bremserhäuschen herrscht in Deutschland Vollbeschäftigung; da sitzen alle drin. Durch falsche Mitbestimmungsformen, Tarifkartelle und falsch verstandenen
Föderalismus werden in Deutschland Veränderungen
verhindert. Die deutsche Gesellschaft ist festgefahren.
Wir sind eingemauert. Wir müssen einen Befreiungsschlag machen: raus aus diesem Mauerwerk, weg vom
Denken von vorgestern. Ihr Syndikalismus ist die Ursache dafür, dass wir eine so hohe Arbeitslosigkeit haben.
({20})
- Schämen Sie sich und schreien Sie nicht dazwischen!
Vielen Dank.
({21})
Ich erteile das Wort Kollegen Hubertus Heil, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, auf der Tagesordnung steht eigentlich das Thema Informationsgesellschaft
({0})
und nicht die Beschäftigung mit dem Industriezweig
Phrasendrescherei. Doch gerade den haben Sie ja soeben
bedient. Insofern sollten wir uns nun doch wieder dem
Thema zuwenden.
({1})
- Ich weiß es nicht. Das ist ein Bereich, um den sich nur
die FDP kümmert. Dafür braucht es dann offensichtlich
keine Gewerkschaften.
({2})
Ich will ganz klar sagen, dass wir den Begriff Visionen nicht diffamieren sollten. Es gibt zwar den schönen
Satz, der Helmut Schmidt zugeschrieben wird: Wer
Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Ich glaube aber,
dass Helmut Schmidt eher krude Utopien meinte und
nicht klare Leitbilder. Richtigerweise wird nun ein Masterplan für diesen Bereich vorgelegt. In anderen Ländern
gab es ihn ja schon früher. Wenn Sie zum Beispiel die
Anstrengungen, die diese Bundesregierung unter Federführung von Otto Schily im Bereich „bund-online.de“
unternommen hat und die gerade von der Europäischen
Union als ein Zugpferd für eine Entwicklung gewürdigt
wurden, die wir nachholen mussten, weil Sie sie verpennt haben, diffamieren, möchte ich Ihnen darauf Folgendes sagen: E-Government ist etwas, was wir eher
begriffen haben als Sie:
({3})
Als wir 1998 die Bundesregierung übernahmen, war im
Bundeskanzleramt Rohrpost das Kommunikationsinstrument und nicht das Intranet.
({4})
Ich will Ihnen klar sagen: Dass wir im Bereich E-Government Nachholbedarf haben, ist unstrittig. Aber die
Ursachen dafür liegen nicht bei dieser Bundesregierung,
sondern darin, dass Sie in den 90er-Jahren diese Entwicklung verschlafen haben, und auch darin, dass wir
diesbezüglich eine Kompetenzzersplitterung in Deutschland haben - zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Nach allen Gutachten, die auch Sie kennen, wissen wir:
Vor allem im kommunalen Bereich, aber auch bei den
Ländern besteht großer Nachholbedarf. Der Bund ist dagegen der Motor dieser Entwicklung; das bestätigen alle
seriösen Studien.
({5})
Insofern bitte ich Sie, kein Zerrbild dieser Gesellschaft
zu malen, auch nicht dieses Landes.
({6})
- Herr Kauder, vielleicht sollten Sie einmal zu Themen
dazwischenrufen, von denen Sie wirklich Ahnung haben. So nützt es nicht sonderlich viel.
Meine Damen und Herren, es geht uns um Zweierlei:
Wir wollen den Weg in die Informationsgesellschaft beschreiten, indem wir Potenziale in der Branche nutzen,
aber wir wollen die Informations- und Kommunikationstechnologien auch nutzen, indem wir sie in vorhandene Produktions- und Dienstleistungsprozesse integrieren. Es geht eben nicht um einen Gegensatz zwischen
Old und New Economy, es geht um die Next Economy,
um die Frage, wie wir unsere Volkswirtschaft mittels der
Informations- und Kommunikationstechnologien modernisieren. Das heißt, dass wir diese Technologien in allen
Produktionsprozessen, auf allen Stufen der Wertschöpfungskette, einordnen; ich komme gleich darauf zurück.
Die Entwicklung in der Branche selbst ist ganz beachtlich. Der Umsatz im Bereich der IuK-Technologien
liegt bei 130 Milliarden Euro pro Jahr. Mit 750 000 Beschäftigten ist er einer der größten Wirtschaftssektoren
in Deutschland. Die Dynamik der Entwicklung sieht
man insbesondere in den einzelnen Sektoren ganz deutlich: Im Vergleich zu 1998 hatten wir im vergangenen
Jahr im Mobilfunkbereich eine Steigerung von 14 Millionen Kunden auf 63 Millionen Kunden; das ist sage
und schreibe ein Zuwachs von 350 Prozent. Bereits mehr
als die Hälfte der Menschen in Deutschland nutzen das
Internet.
Es ist richtig, Herr Brüderle: Die Politik kann da
nichts verordnen; das ist etwas, was mit Wettbewerb zu
tun hat. Das wissen wir aber schon länger als Sie. Trotzdem geht es um die Frage, ob man sich politische Ziele
setzt und alle vorhandenen Akteure miteinander koordiniert. Die Frage ist, ob wir unser ehrgeiziges Ziel erreichen, bis zum Jahre 2010 die Zahl der Breitbandanschlüsse in Deutschland so zu steigern, dass über
50 Prozent der Deutschen die Möglichkeit haben, einen
Breitbandanschluss zu nutzen.
„Breitbandigkeit“ klingt abstrakt, so abstrakt, dass
keine Sau weiß, welche Möglichkeiten damit verbunden
sind.
({7})
- Ach, hören Sie doch erst mal zu, Herr Kauder! Ich
weiß nicht, was Ihr Job hier ist. Ich dachte, Sie sind Geschäftsführer und nicht Geschwätzführer Ihrer Fraktion.
({8})
Breitbandigkeit heißt, schneller größere Mengen von
Daten zu transportieren. Es geht darum, das im Breitbandbereich für unsere Volkswirtschaft liegende Wachstumspotenzial von 0,3 bis 0,5 Prozent zu nutzen. Das
hängt davon ab, dass wir es schaffen, in dem Bereich
aufgelaufene Rückstände aufzuarbeiten.
Diese Investitionsanreize wollen wir schaffen, indem
wir das Telekommunikationsgesetz novellieren - die
Novelle ist gerade in der Beratung -, indem wir Investitionen sowohl in den Infrastrukturbereich als auch in den
Dienstewettbewerb attraktiv machen; beides gehört zusammen. Infrastrukturinvestitionen sind die Voraussetzung dafür, dass die notwendige Technik bereitsteht;
aber Dienste sind es, die die Menschen interessieren.
({9})
Breitbandigkeit allein macht keinen froh, aber die Möglichkeiten, die sich über Breitbandigkeit ergeben, sind
für die Bürgerinnen und Bürger interessant; sie entscheiden darüber, welche Innovationen in diesem Land angenommen werden.
Deshalb müssen wir über Anwendungen sprechen.
Einige sind vorhin genannt worden, beispielsweise die
Frage: Was ist möglich im Gesundheitswesen? Beim
Thema E-Health geht es um die Frage, wie wir Effektivitätsreserven nutzen können, aber auch, wie wir die Lebensqualität von Menschen steigern können.
Vieles ist gesetzgeberisch auf den Weg gebracht; das
zeigt der Bericht. Wir haben das Elektronischer-Geschäftsverkehr-Gesetz beschlossen, mit dem Ergebnis,
dass der E-Commerce in Deutschland 100 Milliarden
Euro pro Jahr ausmacht. Unser Defizit liegt in einem
Bereich: Große Unternehmen nützen das Internet auf
allen möglichen Ebenen, aber im mittelständischen Bereich gibt es da Nachholbedarf. Dabei geht es nicht darum, dass der Malermeister bunte Seiten ins Internet
stellt, es geht - wie gesagt - darum, in den Bereichen
Beschaffung, Produktion und Vertrieb diese neuen Informations- und Kommunikationstechnologien als integrierte E-Business-Lösungen einzusetzen, um Produktivitätsfortschritte zu erreichen. Darum geht es, im
Interesse der Modernisierung unserer Volkswirtschaft.
({10})
Ich komme zum Schluss. Informations- und Kommunikationstechnologien sind ein Schlüssel für die Modernisierung unseres Landes. Es geht aber noch um mehr.
Die einen wollen die Modernisierung unserer Gesellschaft. Dieses Thema ist für unsere Freunde von den
Grünen und für die FDP wichtig; auch wir sind dafür.
Die anderen, die Konservativen, wollen eine rein technische oder ökonomische Modernisierung. Wir Sozialdemokraten sagen: Unsere Gesellschaft braucht beides; es
muss beides zusammengehen: die gesellschaftliche und
die technische Modernisierung.
({11})
Deshalb darf es nicht sein, dass wir in diesem Land
eine digitale Spaltung bekommen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gesellschaft in User und Loser, in Anund Ausgeschlossene, gespalten wird. Wir wollen, dass
moderne Informations- und Kommunikationstechnologien allen Menschen zur Verfügung stehen. Wir wollen
kein Privileg und kein Monopol für bestimmte Gruppen
in diesem Bereich. Wir wollen einen Nutzen für alle
Menschen. Die Chancen dieses Landes in diesem Bereich sind größer, als es die Opposition wahrhaben will.
({12})
Deutschland ist noch nicht ganz so weit. Aber wir sind
auf dem Weg.
Meine herzliche Bitte ist: Lassen Sie uns bei den anstehenden Gesetzgebungsverfahren, aber auch bei der
Förderung dieser Technologien, bei der Bereitstellung
von Beteiligungskapital, bei den Kompetenzzentren für
den Mittelstand - da sind wir auf einem guten Weg - und
im Bereich E-Government nicht nach den Risiken, die es
in der Tat gibt, fragen! Lassen Sie uns vor allen Dingen
die Chancen betonen, damit wir die Menschen mitnehmen können, und sie an diesen neuen Möglichkeiten teilhaben können! So können wir selbstbestimmte Menschen im Interesse unseres Landes in die Lage versetzen,
sich die Informationen zu beschaffen, die sie brauchen,
und mithilfe neuer Informations- und Kommunikationstechnologien zu kommunizieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Riesenhuber,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Hubertus Heil hat so schön dargestellt, dass alles, was geschieht, auf kluge Weise von der Bundesregierung koordiniert wird. Wenn man sich allerdings die
Sache genauer anschaut, dann muss man sagen, dass nur
das, wo die Bundesregierung nicht dazwischenfasst, relativ in Ordnung ist.
({0})
Aber überall da, wo die Bundesregierung anfängt, in ihrer überlegenen Weisheit die Zukunft zu konstruieren, da
scheint die Sache schief zu laufen.
({1})
Lieber Herr Heil, mir liegt dieser „vorzügliche“ Bericht der Bundesregierung vor. Ich muss sagen, dass ich
den Bericht im Grundsatz für eine gute Sache halte. Es
ist vernünftig, diese verschiedenen Einzelprogramme zu
einer einzigen integrierten Strategie zusammenzufassen.
Ob sie Erfolg hat, ist wieder eine andere Frage. Die Informationsgesellschaft kann nur funktionieren, wenn
alle Bereiche stimmen. Auch die Ausbildung muss stimmen. Im Rahmen der PISA-Studie haben wir im Bereich
Lesen Platz 21 und im Bereich der Mathematik und der
Naturwissenschaften Platz 20 belegt. Da müssen wir
besser werden. Es geht weiter: Das E-Government
- Martina Krogmann hat dazu etwas gesagt - und die
Rahmenbedingungen, die der Staat vorgibt, müssen
stimmen.
Sie haben in Ihrer Weisheit das World Economic Forum herangezogen. Im Bericht der Bundesregierung
wird voller Stolz aus dem Global IT Report zitiert. Was
kann man dort finden? Prima! Wir sind von Platz 17 auf
Platz 10 vorgerückt - eine erfreuliche Sache.
({2})
Lassen Sie uns aber einmal die Zahlen genauer anschauen. Wenn man sich voller Neugier die neuen Zahlen für dieses Jahr anschaut - in der Zwischenzeit hat ja
die Regierung ein Jahr weiter regiert, wie wir beglückt
feststellen dürfen -,
({3})
dann muss man erkennen, dass wir um einen Platz zurückgefallen sind.
Wenn man sich die Details anschaut, wird die Sache
noch interessanter. Wir haben drei Komplexe, in denen
verschiedene Komponenten zusammengesetzt werden.
Der erste Bereich wird im Wesentlichen vom Staat gestaltet. Die anderen Komplexe umfassen die vorhandenen Infrastrukturen und ihre Nutzung. In dem Bereich,
der im Wesentlichen vom Staat gestaltet wird, sind wir
von Platz 9 auf Platz 17 zurückgefallen. Lieber Herr
Heil, ich muss sagen - das biete ich Ihnen als Dienstleistung an -, dass wir folgende Situation haben, die auch
durch Ihre Zahlen deutlich erkennbar wird: Wo der Staat
dazwischenfasst, wird die Sache schwierig.
Es gibt einzelne Bereiche, die besonders stark betroffen sind. Der Braindrain ist sehr viel stärker geworden.
Hier sind wir von Platz 16 auf Platz 28 zurückgefallen.
Das Marktumfeld ist schlechter geworden. Hier sind wir
von Platz 6 auf Platz 15 abgerutscht. Bei der VentureCapital-Verfügbarkeit sind wir von Platz 17 auf Platz 30
zurückgefallen. Man glaubt es nicht, dass man bei Mathematik und den Naturwissenschaften noch weiter von
Platz 48 zurückrutschen kann: Wir haben Platz 53 erreicht. - Das sind nur einige Beispiele. Ich könnte dazu
weiter ausführen. Wenn Sie mir mehr Zeit geben, bin ich
bereit, zu allen diesen Punkten im Einzelnen zu elaborieren.
Dort, wo der Staat an sich Leistung zu erbringen
hätte, dort, wo man davon ausgehen sollte, dass er die
Voraussetzung dafür schafft, dass die Einzelnen in Wissenschaft, Wirtschaft und im privaten Bereich erfolgreich arbeiten können, liegen wir schlecht. Wo man die
Wirtschaft arbeiten lässt, da läuft die Sache prima. Stört
die Leute nicht bei der Arbeit! Dann geht etwas voran.
({4})
Um einmal auf einen konkreten Bereich einzugehen:
Die Bundesregierung ist ja zu der Erkenntnis gelangt,
dass Forschung wichtig sei,
({5})
dass wir, wie sie im Bericht schreibt, hier eine Schlüsseltechnologie haben und dass die Aufgabe besteht, die
Zahl der zukunftssicheren Arbeitsplätze durch Innovationen zu steigern, was sie unterstützt. Schauen wir uns
einmal Kap. 3006, Titelgruppe 31, an; Sie wissen, das
betrifft IuK usw. Jeder dieser einzelnen Titel ist 2001,
2002, 2003 und 2004 rückläufig. Das heißt, dass wir in
der Situation sind, dass wir, obwohl wir eigentlich beschlossen haben, in Europa in der Forschung Spitze zu
werden - 3 Prozent des Bruttosozialproduktes sollen dafür in 2010 verwendet werden -, und Europa selber
Spitze werden will, immer mehr zurückfallen. Das werfe
ich nicht der Frau Forschungsministerin vor.
({6})
Das ist eine Sache des Bundeskanzlers. Ein Forschungsminister hat gegenüber dem Finanzminister immer eine
relativ schwierige Arbeit.
({7})
- Da habe ich, lieber Herr Kubatschka, hinreichende Erfahrungen.
Aber eines muss ich sagen: Wenn der Kanzler versprochen hat, die Investitionen in Bildung und Forschung zu verdoppeln, und er daraufhin gewählt worden
ist, dann hat die Forschungsministerin eine prachtvolle
Stellung, sich wirklich durchzusetzen.
({8})
Stattdessen schmilzt die Sache ab; das ist nicht gut.
Ich will jetzt nicht alle Punkte im Einzelnen anführen.
Zu der guten Position Deutschlands im IuK-Bereich, von
der im Aktionsprogramm geschrieben wird, gibt es einen
Kommentar aus dem Technologiebericht der Bundesforschungsministerin vom März letzten Jahres. Die Bundesforschungsministerin schreibt in einer Pressemeldung in
der Überschrift: Bei IT ist Deutschland abgeschlagen. Das fasst die Sache zusammen.
Herr Kuhn, das ist keine Frage eines kultivierten Jammerns. Es geht vielmehr darum, dass man die Probleme
beim Namen nennen muss, wenn man sie lösen will. Das
soll wohl der Sinn des Aktionsplans sein. Sein Mangel
ist, dass kein Zusammenhang zwischen dem, was die
Bundesregierung tut, und dem, was sie erreichen will,
hergestellt wird.
({9})
Sie schreiben, dass Sie konkrete Ziele beschreiben und
konkrete Daten angeben. Wenn Sie auf die Seiten 6
und 7 schauen - das ist dazu das Einzige -, dann sehen
Sie Kraut und Rüben in einer bunten Gemengelage. Da
finden Sie die Erwartung im Hinblick auf die Marktpenetration von Handys, die auch der Wirtschaftsminister voller Stolz dargestellt hat. Da finden Sie eine Reihe
von weiteren Punkten, mit denen die Bundesregierung
gar nichts zu tun hat.
Die Frage, wie man in der Bildung, in der Ausbildung und bei den Infrastrukturen Ziele erreicht und Defizite aufarbeitet, ist interessant. Als Beispiel nehme ich
E-Health; Kollege Kuhn hat hierzu einige grundsätzliche Bemerkungen gemacht. Über E-Health wird in dem
Bericht in einem von sechs großen Kapiteln geschrieben, was hier im Einzelnen passieren müsse und wie der
Stand sei. Da ist diese schöne Tabelle - ich glaube, Herr
Kuhn hat sie angesprochen -, in der Sie sagen: Hier in
Deutschland sind - mit weitem Abstand hinter anderen nur 6 Prozent der Allgemeinmediziner in einem medizinerspezifischen Netzwerk. Da fragt man sich: Warum?
Sind deutsche Mediziner dümmer? - Eher unwahrscheinlich.
({10})
- Lieber Herr Heil, ich kann Ihnen eine Antwort geben auch Herr Kuhn war mit dem Begriff „Wettbewerb“
schnell bei der Hand -: Man muss spezifisch und nicht
nur grundsätzlich denken.
({11})
In dem Bericht findet sich eine prächtige Fußnote. Sie
ist ganz klein gedruckt; sie ist die einzige Fußnote in
dem ganzen Bericht. Da wird nämlich geschrieben, dass
die kassenärztlichen Vereinigungen den Medizinern untersagt haben,
({12})
die Daten auszutauschen, weil die entsprechenden Sicherheitsstandards nicht gegeben seien. Wenn es aber so
ist, dann frage ich: Wer setzt denn die Sicherheitsstandards? Das tun doch nicht die Mediziner. Seit fünf Jahren regieren Sie. Wo sind die Standards?
({13})
Wann erbringen Sie die Leistungen, die vom Staat verlangt werden können? Dort, wo Sie ran müssen, sind Sie
nicht da, während Sie dort, wo wir erfolgreich sind, Sie
aber nichts zu tun haben, grundsätzliche Reden halten,
die ganz ausgezeichnet sind.
Dankenswerterweise hat Herr Kuhn eines der Glanzstücke deutscher Public Private Partnership lobend erwähnt: Die Maut ist ein klassisches Beispiel dafür, dass
man eine wirklich exzellente Idee so gegen die Wand
fahren kann, dass die gesamte Bundesregierung mit abgeschnittenen Hosen dasteht, was wirklich kein schöner
Anblick ist.
({14})
Dass Sie etwas, was einmal eine glanzvolle Spitzmarke deutscher Technik sein sollte, so hinstellen, dass
sich ganz Europa vor Heiterkeit den Bauch hält, ist keine
besonders großartige Sache.
Ich möchte zusammenfassen: Es gibt überall, bei
E-Government und E-Health, bei der Erziehung und der
Ausbildung, in der Frage des Braindrain, beim Haushalt
des Forschungsministers, Probleme. Hier sollte die Bundesregierung eigentlich etwas tun.
({15})
- Ja, Sie haben einen schönen Bericht geschrieben. Das
ist eine wirklich wunderbare Sammlung von exzellenten
Euphemismen. Da heißt es nicht: Wir befinden uns in einem schlechten Zustand. Stattdessen heißt es: Wir haben
ein großes Entwicklungspotenzial. Das ist prima.
({16})
Aber bisher haben Sie noch nicht abgeleitet, was Sie tun
sollen.
Zum Glück haben wir ja noch einen Bundeskanzler.
Wenn ein Problem ganz kritisch wird, ist der Bundeskanzler zur Stelle
({17})
und wir bekommen eine Kommission oder einen Arbeitskreis, eine Geschäftsstelle oder einen Berater oder
auch alles zusammen. Gott sei Dank haben wir jetzt das
Jahr der Innovation. Das ist eine tolle Sache, das finde
ich wirklich prima.
Das „Handelsblatt“ fragt etwas skeptisch, ob diese
Politblase mit Inhalt gefüllt werden kann. Das ist sicher
das normale Ressentiment der bürgerlichen Presse. Aber
der Bundeskanzler hat ein großes Wort gesagt - wenn
das keine Wende im Denken der Regierungspartei ist -:
Wir sollten erst über die Chancen und dann über die Risiken nachdenken.
({18})
- Herr Heil, Sie haben das mit Begeisterung aufgegriffen.
({19})
Ich finde das prima, so haben auch wir immer gedacht. Aber ich muss sagen: Größer ist die Freude im
Himmel über einen Bundeskanzler, der sich bekehrt, als
über 99 gerechte Christdemokraten, die der Bekehrung
nicht bedürfen. Das ist etwas, was wir hier in Demut entgegennehmen.
({20})
Wir freuen uns über den Bundeskanzler und seine Bekehrung. Denn dann kann uns nicht mehr so etwas passieren, wie damals in Hessen, als die Insulinanlage von
jemandem, der heute in der Bundesregierung sitzt, über
neun Jahre verzögert wurde. Es wird uns auch nicht
mehr passieren, dass wir aus einer exzellenten Kerntechnik so aussteigen, dass wir nicht einmal Reaktoren in anderen Ländern aufmotzen können.
({21})
Es wird uns auch kein Moratorium für grüne Gentechnik
mehr passieren und es wird uns nicht passieren, dass der
Transrapid in unserem Land zu Tode diskutiert wird,
während er in China fährt und das Know-how wer weiß
wo verloren gegangen ist.
Wenn der Kanzler jetzt wirklich voller Entschlossenheit zu den Chancen steht, dann gibt es eine leuchtende
Zukunft für unser Land. Denn die oben genannten Probleme sind ganz unterschiedlicher Art, aber sie haben
vielleicht einen gemeinsamen Grund, nämlich eine Haltung des Pessimismus. Herr Kuhn sprach vom Jammertal. Woher kommt diese Haltung?
({22})
Sie können nicht eine Technik nach der anderen verteufeln und sich danach wundern, dass ein Jammertal
entsteht. Wenn Sie nicht den Erfolg herausstellen und
nicht Spitzentechnik und Spitzenleistung mit Begeisterung unterstützen, entsteht im Land auch nicht die Zuversicht und die Fröhlichkeit, neue Herausforderungen
aufzugreifen und sie anzugehen.
({23})
Wir haben eine wunderbare Chance. Das, was hier
entstehen kann, ist ein Wachstum das sich aus Intelligenz
speist. Ressourcen und Energien werden nicht verbraucht. Es handelt sich um ein Wachstum, das im
Grunde unbegrenzt ist, weil es keine Ressourcen verbraucht. Das wäre doch etwas, was die Grünen mit Begeisterung aufnehmen sollten. Ich rede ja erst gar nicht
von Ihren alten Diskussionen über die Jobkiller, die ich
auch noch miterlebt habe.
Darin, dieses in den unterschiedlichen Bereichen beharrlich aufzubauen,
({24})
liegt die Chance für die Zukunft, die Chance für ein
Wachstum des guten Gewissens. Ich meine damit keinen
technokratischen Hurrapatriotismus. Dafür plädiert niemand. Mit Blick auf diese Chancen, die unser hoch verehrter Herr Bundeskanzler in einer so vorzüglichen
Weise beschwört, müssen wir die beharrliche Arbeit und
die Entschlossenheit der tüchtigen Leute in Unternehmen und Instituten unterstützen. Diese stützen die Zukunft Deutschlands und hier sollte eine Regierung nicht
stören.
({25})
Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure, dass die Opposition zu diesem für
Deutschland so zukunftsweisenden Thema nicht mehr
als diesen allgemeinen politischen Rundumschlag zu
bieten hatte.
({0})
Die Informationsgesellschaft entwickelt sich rasant
({1})
- da können Sie schlechtreden, was Sie wollen, liebe
Opposition -: Im Jahre 2003 war laut einer Onlinestudie
von ARD und ZDF erstmals die Hälfte der deutschen
Bevölkerung ab 14 Jahren online. Insbesondere der Anteil von Frauen und älteren Menschen ist stark gestiegen.
Rot-grüne Initiativen wie „Frauen ans Netz“ oder „Internet für alle“ zeigen eindeutig Wirkung.
({2})
Die Bedeutung der Informations- und Kommunikationsbranche für die rot-grüne Politik wird mit dem vorgelegten Aktionsprogramm bestätigt und ausgebaut. Wir
müssen insbesondere sicherstellen, dass dieser Masterplan auch wirklich die gesamte Bevölkerung erreicht.
Was nützen uns die tollsten E-Learning-Projekte, solange nicht jeder Schüler oder jeder Student in der Lage
ist, das in der Schule oder an der Uni Gelernte zu Hause
weiter auszuprobieren?
({3})
Bildung heißt auch Chancengleichheit - so lautet einer
der zentralen Leitsätze des Aktionsprogramms. Hier sind
wir - und das ist Aufgabe von Bund und Ländern - sicher noch weit von unserem angestrebten Ziel entfernt.
Ich möchte zwei ehrgeizige Ziele dieses Programms
herausheben: Der Anteil der Internetnutzerinnen und
-nutzer soll bis zum Jahre 2005 auf 75 Prozent steigen
und mittelfristig soll der Anteil von Frauen an den ITBerufsausbildungen und Informatikstudiengängen auf
40 Prozent gesteigert werden. Momentan liegt der Frauenanteil hier bei 10 bis 15 Prozent. Es wird sicher
schwer, diese Zielmarken im angestrebten Zeitraum zu
erreichen, aber gerade deshalb unterstütze ich die Bundesregierung an dieser Stelle ausdrücklich.
Es gilt, die gleichberechtigte Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an der Informationsgesellschaft
sicherzustellen. Eine höhere Nutzung und Akzeptanz
neuer technischer Möglichkeiten ergibt sich bei einer
breiteren Nutzerschicht nahezu von selbst und liefert
wiederum die Grundlage für die permanente Weiterentwicklung neuer zukunftsweisender Technologien und
Wirtschaftszweige.
({4})
Im Zusammenhang mit der Ausweitung der Nutzerschichten möchte ich einige Beispiele nennen: Was nützt
mir die digitale Signatur in Verbindung mit einem entsprechenden Gesetz, wenn ich nicht die Technik zur Verfügung habe, um eine rechtsverbindliche Unterschrift
von meinem PC aus zu leisten? Wie soll ich der elektronischen Gesundheitskarte vertrauen, wenn ich selber
nicht in der Lage bin, die Technik nachzuvollziehen und
die hier gespeicherten Daten einzusehen?
Die Bundesregierung möchte mit diesem Aktionsprogramm eine Spitzenstellung in der globalen Medien- und
Kommunikationslandschaft einnehmen.
({5})
Es ist wenig zielführend, sich über internationale Rankings zu streiten, Herr Kollege Riesenhuber. Fakt ist: Es
geht nach oben, aber - das gebe ich offen zu - es ist noch
Platz für eine höhere Platzierung!
Um eine weitere Verbesserung zu erreichen, finden
wir im Aktionsplan hervorragende Projekte und Maßnahmen wie zum Beispiel die „Deutsche Breitbandinitiative“ oder die „Stiftung Digitale Chancen“.
Neben der wirtschaftspolitischen Dimension des Netzes, das heißt der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle,
ist für uns Grüne gerade auch der gerechte und offene
Zugang zu Wissen eine gleichberechtigte Zielsetzung
bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft. Dabei
darf uns ein zu restriktives Urheber- oder Patentrecht
nicht im Wege stehen. Hier denke ich unter anderem an
den so genannten Zweiten Korb einer Reform des Urheberrechts und an die bevorstehende SoftwarepatentRichtlinie der EU.
Ein weiteres, zukunftsträchtiges Thema der Informationsgesellschaft ist E-Government in Verbindung mit
E-Demokratie. Auch in diesem Aktionsprogramm
spielt der Bereich E-Demokratie eine Rolle, wenn auch
leider nicht mehr ganz so exponiert wie in der Vergangenheit. Der Deutsche Bundestag ist geradezu dafür prädestiniert, in Sachen E-Demokratie mit gutem Beispiel
voranzugehen. Wir müssen unsere politischen Strukturen ebenfalls an die Herausforderungen der Informationsgesellschaft anpassen und innovative Ansätze wie,
unter vielen anderen, das E-Demokratie-Projekt aus der
letzten Legislaturperiode unbedingt weiterentwickeln.
All das hier Aufgezeigte sind spannende, zukunftsweisende Themen, über die es sich zu streiten lohnt.
Letztendlich glaube ich - das wurde auch in der Debatte
deutlich -, dass wir in der Sache durchaus in dieselbe
Richtung streben. Daran sollten wir arbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema Informationsgesellschaft ist seit Jahren in aller
Munde. Jahr für Jahr wird deutlicher, welche großen
Chancen, aber auch welche erheblichen Risiken damit
verbunden sind. Im Alltag sind Handy und Computer
Marken- und Modezeichen dafür. Online-Banking und
-Shopping nehmen zu. Selbst dort, wo die Bürger mit der
Bürokratie ringen, erspart das Internet zunehmend endlose Behördengänge. All das zeigt die Chancen, die modernen Kommunikationstechnologien innewohnen.
({0})
Zur hemmungslosen Euphorie gibt es allerdings keinen Grund. Auch das wird immer klarer. Drei Fakten
können das verdeutlichen. Erstens. Inzwischen verfügen
14 Prozent der Weltbevölkerung über einen Zugang zu
modernen Kommunikationsmitteln und -netzen. Davon leben 79 Prozent in den OECD-Staaten. Anders gesagt: Die Mehrheit der Weltbevölkerung hat keinerlei
Zugang zu der modernen Welt, über die wir hier heute
Morgen reden. Zweitens. Von denen, die Zugang haben,
werden vor allem SMS und E-Mail sowie das Internet
genutzt. Die Menge sagt aber noch nichts über die Qualität der Kommunikation aus. Drittens. Die Zahl der Firmen, die zum IT-Bereich zählen, hat zugenommen; mit
ihnen aber auch die Zahl der Billigjobs. Dort, wo moderne Kommunikationsmittel angewandt werden, werden Arbeitsplätze weiter abgebaut. Selbst unmittelbar in
der Telekommunikationsindustrie gibt es heute nur
4 Prozent mehr Arbeitsplätze als vor sechs Jahren.
Auch das gehört zur Bilanz und beschreibt die Kehrseiten sowie drängende Herausforderungen für die Politik; übrigens nicht nur für die Forschungs-, Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik, sondern vor allem auch für die
Bildungspolitik. Medienkompetenz wird zunehmend
zur Überlebenskompetenz und zur Kulturfrage im weitesten Sinne. Wie man einen Computer bedient, sich
durch das Internet klickt oder per Handy einen Grand
Prix entscheidet, wissen heute schon Vorschulkinder.
Wie man aber all diese Möglichkeiten gebraucht, ohne
missbraucht zu werden, das ist ein sehr weites Feld. Diesen Fragen gebührt viel mehr Aufmerksamkeit als bislang praktiziert.
({1})
Hinzu kommt ein weiteres Problem, das die PDS im
Bundestag auch immer wieder anspricht: Mit der so genannten Informationsgesellschaft wachsen die technischen Möglichkeiten, Herr fremder Daten zu werden. Im
selben Tempo nehmen übrigens die Begehrlichkeiten zu,
persönliche Daten zu sammeln. Leider nimmt auch die
Naivität vieler zu, mit der sie Daten und damit ihre Persönlichkeit preisgeben. Daher wäre es Aufgabe der Politik, vor diese Entwicklung Riegel zu schieben und in
diesem Bereich noch mehr Aufklärung zu fördern.
({2})
In der Praxis geschieht das Gegenteil, leider auch
durch die Politik von Rot-Grün. Der Datenschutz ist zum
Stiefkind des Schicksals geworden. Wer ein Handy benutzt, im Internet surft, sich im Auto navigieren lässt
oder durch den Gebrauch einer Kunden-Card auf Rabatte hofft, hinterlässt Spuren, die eifrig gesammelt, gebündelt und auch vermarktet werden. Die nächste Generation von „Schnüffelchips“ wird bereits millionenfach
produziert und ist in Erprobung. Diese werden nicht nur
von tüchtigen Geschäftsleuten eingesetzt, sondern auch
von Staats wegen; davon war heute schon die Rede. Darüber liest man aber nur sehr wenig im vorliegenden Aktionsprogramm „Informationsgesellschaft Deutschland
2006“. Weshalb eigentlich, Herr Minister?
Ich rede im Übrigen nicht gegen den Chip. Ein Chip
an sich ist unschuldig.
({3})
Das Internet brauche ich für meine Arbeit genauso wie
das Handy. Das macht mich aber nicht blauäugig gegenüber den Gefahren für die Gesellschaft wie für die Demokratie. Gesellschaft und Demokratie ziehen nicht nur
Nutzen, sie sind auch gefährdet, solange die Politik nicht
ihre Hausaufgaben macht.
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Christoph Matschie.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, wer sich im Wettbewerb durchsetzen
will, der braucht Mut und Selbstbewusstsein. Davon war
in Ihren Reden wenig zu spüren. Wer so jammert wie
Sie, der sitzt zu Recht auf der Oppositionsbank.
({0})
Wir brauchen Mut und Selbstbewusstsein, um dieses
Land weiter voranbringen zu können und um zu erreichen, dass wir uns im Wettbewerb durchsetzen. Von mir
aus bedarf es auch der Fröhlichkeit, Herr Riesenhuber.
Ich gebe Ihnen Recht: Sie kann nie schaden. Wenn Sie
dies erreichen wollen, haben Sie in der eigenen Fraktion
aber noch viel vor sich.
({1})
Wenn man sich die Situation anschaut, dann muss
man zu dem Schluss kommen, dass Deutschland trotz aller Probleme, die es noch immer gibt, ein starkes Land
ist. Schließlich bedarf es der Stärke, um wie wir Exportweltmeister und um wie wir mit Abstand der bedeutendste E-Commerce-Markt in Europa zu sein. Sie haben
hier in Ihren Reden nur deutlich gemacht, was wir in diesem Land nicht schaffen. Wie konnte es uns aber gelingen, dass beispielsweise AMD in Dresden eine Milliardeninvestition tätigt und dort eine Chipfabrik baut? ({2})
Die Antwort lautet: Weil wir gut sind an diesem Standort
und weil wir die Voraussetzungen in der Forschung und
Entwicklung geschaffen und ein Cluster aufgebaut haben. Es war diese Bundesregierung, die diese Entwicklung wesentlich vorangetrieben hat.
({3})
Der Raum Dresden ist heute einer der bedeutendsten
Standorte für Mikroelektronik in Europa.
({4})
- Sehen Sie! - Wir werden auf dem Weg der Förderung
der Forschung, den wir eingeschlagen haben, weitergehen.
({5})
Es lassen sich noch andere Beispiele nennen. General
Electric baut in Deutschland gerade ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum. Das sind, wie ich
finde, sehr klare Belege dafür, dass dieses Land stark ist
und dass es gute Voraussetzungen für Forschung und
Entwicklung bietet, auch in dem Bereich, über den wir
heute diskutieren.
Frau Krogmann, wir haben uns nicht erst heute auf
den Weg gemacht; das ist Ihnen vielleicht entgangen.
Das Thema Informationsgesellschaft haben wir schon im
Rahmen des Programms „Innovation und Arbeitsplätze
in der Informationsgesellschaft im 21. Jahrhundert“
1999 aufgegriffen. Das Programm, das wir damals aufgelegt haben, hat deutliche Erfolge erzielt; das sehen Sie
an den Beispielen, die ich Ihnen genannt habe. Diesen
Weg setzen wir mit dem neuen Aktionsprogramm „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ fort.
Wir haben das Förderprogramm „IT-Forschung 2006“
aufgelegt. In diesem Förderprogramm stellt die Bundesregierung insgesamt 3 Milliarden Euro für Forschung
und Entwicklung zur Verfügung. Sie sehen: Wir kleckern in diesem Bereich nicht, sondern klotzen. Wir
bringen das Land voran.
({6})
Ein Beispiel aus diesem Programm will ich Ihnen
nennen, nämlich das Programm „Mobiles Internet“.
Europa ist heute weltweit der größte Markt für Mobilkommunikation. Deutschland spielt dabei eine ganz
wichtige Rolle. Wir wollen diese Stärke Deutschlands
und Europas in diesem Bereich weiter ausbauen und haben deshalb eine Reihe von Projekten initiiert, beispielsweise um einen Standard für ein Gigabit-Wireless-LAN
zu entwickeln oder um Chips für mobile Endgeräte der
nächsten Generation weiterzuentwickeln.
Die Entwicklung von Standards für ein drahtloses Datennetz im Automobilbereich oder der Aufbau eines mobilen Wissenschaftsnetzes werden mit Forschungsprogrammen gefördert. Das Fördervolumen dieser Projekte,
die ich Ihnen eben genannt habe, beträgt in der ersten
Stufe 60 Millionen Euro. Wir packen die vor uns liegenden Aufgaben an und bringen Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet weiter.
Wir wissen aber auch: Innovation ist mehr als ein
technisches Problem und auch mehr als technischer Fortschritt. Es braucht Menschen, die mit dieser Technik umgehen und diesen Fortschritt gestalten können. Deshalb
diskutieren wir über Veränderungen in unserem Bildungssystem. Wir haben die Debatte über die Weiterentwicklung der Schulen in Deutschland hier im Hause
geführt. Sie haben sich anfangs gegen das von uns aufgelegte Programm zur Weiterentwicklung von Ganztagsangeboten gesperrt. Heute ist für alle klar: Solche Ganztagsangebote sind wichtig, um auch auf solchen neuen
Feldern zusätzliche Bildungsangebote für Kinder und
Jugendliche zu machen und dazu beizutragen, dass es
nicht zu einer digitalen Spaltung in der Gesellschaft
kommt.
({7})
Alle Menschen müssen Zugang zu diesen neuen Medien
haben und lernen, damit umzugehen und die Vorteile
dieser neuen Technik zu nutzen.
Wir diskutieren heute über die Weiterentwicklung unserer Hochschullandschaft. Auch hier stehen Sie auf der
Bremse. Sie suchen immer nur das Haar in der Suppe,
anstatt zu sagen: Lasst es uns in diesem Land gemeinsam
anpacken, lasst uns die Entwicklung vorantreiben und
darüber diskutieren, wie unsere Hochschulen Spitze
werden können!
({8})
- Sie können sich gern darüber lustig machen. Auf diese
Art und Weise wird sich unsere Hochschullandschaft
aber nicht weiterentwickeln.
({9})
Dies wird nur geschehen, wenn wir Ideen dafür entwickeln, wie wir die Entwicklung hier voranbringen können.
({10})
Zu diesem Bildungsbereich gehören auch ganz spezifische Programme, durch die die Informationstechnologien in der Bildung stärker zur Anwendung kommen
können. Heute haben alle Schulen einen kostenfreien Internetzugang. Das ist unter dieser Bundesregierung gelungen. Als Sie noch am Ruder waren, haben Sie sich
überhaupt nicht dafür interessiert.
({11})
Bezogen auf die Bildungssoftware sind wir heute international in einer führenden Position. Wir wollen diese
Position weiter ausbauen. Deshalb investieren wir mithilfe unseres Programms „Neue Medien in der Bildung“
in die Forschung und Entwicklung.
Wer sich anschaut, was in den letzten Jahren gelungen
ist, der sieht, dass Deutschland im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien im Aufbruch
ist. Wir haben eine erfolgreiche Kooperation von Wirtschaft, Staat und Forschung etabliert. Beispiele wie die
Initiative D21, die Deutsche Breitbandinitiative oder
auch die Initiative Digitaler Rundfunk stehen dafür. Gemeinsam mit der Wirtschaft und der Forschung wollen
wir diesen Weg weitergehen.
Jammern Sie weiter, wenn Sie wollen. Wir bringen
das Land inzwischen voran.
({12})
Ich erteile Kollegen Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Matschie, dass man in Ihrer Situation und
für Ihr permanentes „Weiter so!“ Selbstbewusstsein und
Fröhlichkeit braucht, ist unbestritten.
({0})
- Gerne. Der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik bestimmt heute - das ist unbestritten das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in einer
Art und Weise, wie es sich selbst die Pioniere dieser
Technik nicht vorstellen konnten. Der IBM-Gründer,
Thomas Watson junior, ging zum Beispiel von einem
weltweiten Bedarf von gerade einmal fünf Computern
aus. Das zeigt uns, dass Innovation nicht planbar ist. Es
zeigt uns aber auch, dass man sich über die technische
Zukunft trotz allem durchaus programmatisch und offen
Gedanken machen kann. Herr Tauss, damit Sie es hören,
ich lobe ich Sie jetzt:
({1})
Insofern ist ein Aktionsprogramm wie das, welches nun
vorliegt, prinzipiell zu begrüßen.
({2})
Den Worten müssen dann aber auch Taten folgen.
({3})
Taten braucht das Land mehr als Ihre Worte, Ihre Megaperls und Ihr TAED-System für die Politik.
({4})
Die Informations- und Telekommunikationstechnologie war ein Quantensprung. Das kann man von dem vorliegenden Programm nicht behaupten; zudem kommt es
reichlich spät. Um noch etwas Positives anzufügen: Es
basiert auf dem, was unter der Regierung Kohl politisch
angestoßen wurde, insbesondere der Liberalisierung des
Telekommunikationsmarktes.
({5})
Es drängt sich der Eindruck auf, dass viele der in dem
Programm genannten Ziele in der Hoffnung formuliert
sind, dass die Wirtschaft sie aus eigener Kraft erreicht:
Internetzugang für 75 Prozent der Bevölkerung bis 2005,
die Breitbandnutzung in 50 Prozent aller Haushalte bis
2010 oder der UMTS-Dienstestart noch heuer.
Stichwort UMTS. Ich weiß, Sie können es vermutlich
nicht mehr hören, aber man muss ganz klar sehen, wie
Aktionsprogramme und Aktionen dieser Regierung auseinander driften. Herr Minister Clement, es ist zynisch,
von der Wirtschaft zu verlangen, es sei höchste Zeit - das
haben Sie gesagt -, etwas zu tun. Der Finanzminister war
es doch, der der Wirtschaft bei dieser Versteigerung mit
51 Milliarden Euro eine riesige Last aufgebürdet hat, die
die Umsetzung jetzt deutlich belastet und verzögert.
({6})
Das zeigt, dass man Innovationen zwar nicht staatlich
verordnen, aber staatlich kaputtmachen kann. Gleiches
gilt für Eliteuniversitäten. Innovation entsteht in den
Köpfen, genauso wie Elitewissen.
({7})
- Sie entstehen nicht automatisch, wie man an Ihnen
deutlich merkt.
({8})
Man braucht Motivation und fördernde Rahmenbedingungen. Dafür ist die Politik zuständig. In der Realität
aber kommt die TKG-Novelle, die in der Tat das Herzstück Ihres Aktionsprogramms zur Informationsgesellschaft darstellt und politisch umzusetzen ist, zu spät.
({9})
Die TKG-Novelle kommt sogar so spät, dass die EU ein
Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Die Unternehmen hatten lange Zeit keine Rechts- und Planungssicherheit und es gibt noch eine ganze Reihe von unbestimmten Termini - das wissen Sie, Kollege Heil -, die es
auszugestalten gilt.
Darüber hinaus besteht Diskussionsbedarf, wie wir einen innovationsfördernden Wettbewerb erreichen wollen, um das Monopol der Deutschen Telekom unumkehrbar zu brechen.
Ich bitte die rot-grüne Mehrheit, über ein paar Punkte
nachzudenken, die ich anführen möchte. Das Antragsrecht für die Wettbewerber ist ein wesentlicher Ansatzpunkt, um die Verfahren zu beschleunigen; meine Vorredner haben das bestätigt. Fakturierung und Inkasso aus
einer Hand dienen nicht nur dem Verbraucherschutz,
sondern auch der Sicherung der Liquidität der Wettbewerber und der Aufrechterhaltung gut funktionierender
Geschäftsmodelle im Dienstleisterbereich.
({10})
Innovation bedingt Investitionen. Investiert wird aber
nur, wenn man kalkulieren kann. Man muss wissen, wie
sich die Zukunft gestaltet. Genau das ist das Problem:
Ihre Politik ist nicht kalkulierbar. Das gilt für eine ganze
Reihe Politikfelder. Ich möchte mich auf Bildung und
Forschung beschränken, weil es zum Thema passt.
Einerseits fordern Sie millionenteure Eliteunis, andererseits kürzen Sie den Bildungs- und Forschungsetat.
({11})
Einerseits kündigen Sie eine Innovationsoffensive an,
zum Beispiel in der Mikro- und Nanotechnologie, der
Bio- und Gentechnologie sowie in den Materialwissenschaften und der Energietechnologie, andererseits kürzen Sie die Mittel in der Genomforschung um 17 Millionen Euro, in der Nanotechnologie um 6 Millionen Euro
und in der Produktionstechnologie um 1,2 Millionen
Euro. Das ist rot-grüne Konsequenz.
({12})
Nun wollen Sie auch die Informations- und Telekommunikationsbranche in die so genannte Innovationsoffensive einbeziehen. Den Delinquenten schwant sicher
schon Böses. Sie sprechen von der Innovationsoffensive
und halten an alten Kamellen fest. Vieles ist schon angeführt worden: keine betrieblichen Bündnisse für Arbeit,
keine Flexibilisierung der Arbeitszeit, Ausbildungsplatzabgabe und mit hoher Wahrscheinlichkeit keine große
Steuerreform bzw. keine weitreichenden Steuervereinfachungen.
({13})
Lassen Sie mich zum Thema E-Government kommen. Die Steuererklärung online abzugeben ist zwar
eine schöne Sache; Voraussetzung wäre aber, dass der
Durchschnittsbürger überhaupt in der Lage ist, seine Erklärung selbst - und sei es in Papierform - auszufüllen.
Das wäre innovativ.
({14})
Statt echter Innovation kommt ein Innovationsbeirat
nach dem anderen. Insgesamt hat dabei die ITK-Branche
noch Glück, weil sie als prinzipiell erwünscht in
Deutschland eingestuft wird. Sonst sagen Sie von der
SPD immer, womit wir in Deutschland in Zukunft unser
Geld nicht verdienen wollen. Jedenfalls lassen Sie sich
das von den Grünen diktieren.
({15})
Forschungsreaktoren, Kern- und Verteidigungstechnik,
Gentechnik, Chemie usw. - überall kann man Bedenken
haben, was die Sicherheit angeht. Wir können aber die
Frage, was wir in Zukunft machen wollen, nicht nur negativ beantworten. Man muss die Frage - das ist die
Aufgabe einer Regierung - positiv beantworten: Womit
wollen wir in Zukunft unser Geld verdienen? Womit
wollen wir vorankommen? Mit einem Dosenpfand zum
Wegwerfen, mit einer Maut, über die Österreich lacht,
und mit einem Transrapid, der nur in China fährt, werden wir nicht weiterkommen.
({16})
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube meinem Fraktionsvorsitzenden. Jemand, der den
Transrapid im Emsland 16 Jahre lang im Kreis hat fahren lassen, sollte zu dem Thema nicht reden.
({0})
Einige Dinge sollten wir klarstellen. Erster Punkt.
Lieber Kollege Nüßlein, Sie haben über das TKG geredet und beklagt, dass dieses noch nicht umgesetzt sei.
Das TKG ist - so haben wir es angekündigt - in einem
sehr offenen und transparenten Prozess mit den Betroffenen diskutiert worden, was bei der Wirtschaft auf große
Zustimmung stieß. So stelle ich mir die Entstehung eines
Gesetzes vor. Die Diskussionsphase dauert noch an. Sie
werden zur Beschlussfassung ein TKG auf den Tisch bekommen, das mit Sicherheit Ihr Gesetz um einiges verbessert. Davon können Sie ausgehen.
({1})
Zweiter Punkt. Ich finde es ausgesprochen putzig,
dass ausgerechnet jemand aus Bayern sich hier hinstellt und über die Kürzungen bei Bildung und Forschung jammert. Ich sage Ihnen: Wir haben den Etat
für Bildung und Forschung kontinuierlich erhöht. Zu
Ihrer Zeit gab es überhaupt kein Genomforschungsnetz, Genomforschung fand zu Ihrer Regierungszeit
nicht statt. Heute sind wir weltweit an der Spitze in diesem Bereich, und zwar dank der Erlöse in Milliardenhöhe im Zusammenhang mit der Vergabe der UMTSLizenzen, die wir - das sage ich, um einer Legendenbildung entgegenzuwirken - auch in diesen Bereich investiert haben.
({2})
Apropos UMTS: Ich kann mich nicht erinnern, dass
Karl Diller, den ich hier sitzen sehe, die Anbieter mit
dem Revolver bedroht hat, als es um die Vergabe der
UMTS-Lizenzen ging. Natürlich hat der Finanzminister
das Geld gerne genommen. Aber wenn hoch bezahlte
Vorstände sich an dieser Versteigerung ohne einen Businessplan in der Tasche beteiligen, dann dürfen Sie das
nicht dem Finanzminister vorwerfen. Mit dem Geld, das
die Firmen bezahlt haben, haben wir zumindest vernünftige Politik in den Bereichen Bildung und Forschung und
Verkehrsinfrastruktur gemacht. Das andere ist nicht unser, sondern deren Bier.
({3})
Dritter Punkt. Liebe Kollegin Krogmann, Sie irren,
wenn Sie sagen, dass MEDIA@Komm keine Standards
hervorgebracht hätte. Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf
kommen. MEDIA@Komm gibt es in Bremen, Nürnberg
und Esslingen. Bremen hat nicht nur den Vorteil einer
guten Regierung, die sozialdemokratisch geführt ist,
sondern auch den Vorteil, dass die Grenzen von Kommune und Land übereinstimmen. Dort wurden Standards
gesetzt, die bundesweit übernommen werden können.
Über 300 E-Government-Lösungen sind zwischenzeitlich aus dem Land Bremen und aus Nürnberg und Esslingen angeboten worden und werden von den Kommunen genutzt. Es ist eine Legende, dass keine Standards
gesetzt wurden. Das stimmt nicht.
Zur Gruppe der PDS, deren Vertreterinnen leider
nicht mehr da sind: Die IT-Sicherheit ist einer der ganz
wesentlichen Punkte. Lesen Sie das im Bericht nach!
Die IT-Sicherheit ist ein Aspekt des Datenschutzes. Die
Kollegin Ute Vogt, die auf der Regierungsbank Platz genommen hat, hat aus diesem Grund schon 1998 begonnen, das Thema moderner Datenschutz systematisch für
den Innenbereich zu bearbeiten.
Zur FDP sage ich nichts, nicht nur, weil Herr Brüderle
gerade in ein Gespräch vertieft ist. Lieber Herr Brüderle,
wir - ich als Badener und Sie als Pfälzer - können uns
hervorragend über Weine unterhalten; davon verstehen
Sie sicherlich etwas. Von dem modernen Datenschutz
verstehen Sie aber weiß Gott nichts.
Die FDP hat sogar versucht, ein digitales Urheberrecht zu verhindern. Sie wollten noch im vergangenen
Jahr in den Schulen das, was auf dem Papier möglich ist,
nämlich dass man eine Kopie fertigt, am Computer verbieten. Sie haben sich am Zustandekommen des Gesetzes noch nicht einmal beteiligt. An dieser Stelle muss ich
ausnahmsweise meinen Freunden von der CDU/CSU zur
Seite springen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr habt euch konstruktiv beteiligt. Gemeinsam haben wir ein digitales Urheberrecht geschaffen, lieber Kollege Krings. Sie von
der FDP aber sind noch nicht einmal zu den Beratungen
gekommen.
Ihr Kollege Hartmann hat völlig Recht, Herr
Brüderle: Die FDP muss endlich aufwachen. Der Kollege Kubicki hat festgestellt, dass Sie ein nicht ernst zu
nehmendes politisches Leichtgewicht geworden sind.
Das ist die einzige Beschreibung, die auf Ihren Verein
zutrifft. Lassen wir das bei dieser Gelegenheit auf sich
beruhen.
({5})
Jetzt erst komme ich zum eigentlichen Thema meiner
Rede, aber der Präsident hat mir noch einige Minuten
Redezeit gewährt.
({6})
- Mir bleiben drei Minuten und 14 Sekunden, die ich
auch nutzen werde.
Wir diskutieren heute nicht zum ersten Mal über die
globale Informationsgesellschaft. Vielmehr hat die
Bundesregierung dieses Thema kontinuierlich vorangebracht und mit dem Aktionsprogramm „Informationsge7726
sellschaft Deutschland 2006“ sind viele Ihrer Versäumnisse zwischenzeitlich korrigiert worden. Sie haben
durchaus Recht, Herr Riesenhuber: Auch mir reicht der
von uns erreichte Platz 10 nicht aus. Gestartet sind wir
aber von Platz 17, den wir von Ihnen übernommen haben. Von dieser Position aus haben wir uns bis heute auf
den zehnten Platz vorgearbeitet. Ich bin aber erst dann
zufrieden, wenn wir den ersten Platz erreicht haben. Das
ist völlig klar.
({7})
In diesem Punkt finden wir vielleicht zueinander.
Wir wollen uns nicht auf dem bisher Erreichten ausruhen. Wenn Sie feststellen, dass die Entwicklung wieder
ein bisschen rückläufig ist, dann will ich Ihnen auch die
Gründe dafür nennen. Gelegentlich gewinnen Sie die
eine oder andere Landtagswahl; das ärgert uns sehr. Mit
jedem Land, das Sie regieren, gehen wir wieder ein paar
Schritte zurück. Das ist unser Problem. Würde nur der
Bund in der Statistik berücksichtigt, lägen wir längst an
der Spitze. Beim E-Government sind wir europäische
Spitze
({8})
und auch den globalen Vergleich brauchen wir, so glaube
ich, nicht zu scheuen. Das sollte der Gerechtigkeit und
der Korrektheit halber auch erwähnt werden.
Lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Thema
Bildung und Forschung machen. Seit dem Jahr 2001 ist
jede Schule in Deutschland online. Ich denke, das reicht
aber nicht aus. In vielen Schulen ist leider immer noch
nur der Rektor online, während die Schülerinnen und
Schüler keinen ausreichenden Zugang zum Internet haben. In vielen Bereichen in Ihrer Verantwortung, insbesondere in den Ländern, besteht auch noch hinsichtlich
der Inhalte Handlungsbedarf. Ich sehe, dass die Bundesratsbank einigermaßen gut besetzt ist. Schreiben Sie sich
alles auf! Es geht um Inhalte, Frau Schipanski. Reden alleine reicht nicht; jetzt müsst ihr in den Ländern ein bisschen was tun.
({9})
Für die technische Infrastruktur haben wir einiges getan.
Ich freue mich, dass Sie hier sind. Wenn es um das
Thema Bildung geht, ist die Bundesratsbank sonst nicht
so gut besetzt.
Wir wollen den Bereich neuer Medien zum Bildungsalltag machen. Bildung heißt in diesem Zusammenhang
Chancengleichheit, barrierefreier Zugang zum Internet
und Medienkompetenz für die Kinder, um sich in der
neuen Welt der Informationsgesellschaft zurechtfinden
zu können.
Ich komme zum E-Government. Liebe Kollegin
Krogmann, ich habe Ihnen dazu schon einiges gesagt.
Frau Ministerin Zypries, die leider nicht mehr im Saal ist
- jetzt sitzt Staatssekretär Hartenbach auf der Regierungsbank -, muss an dieser Stelle ausdrücklich gelobt
werden. Sie hat seinerzeit als Staatssekretärin im Innenministerium im Bereich E-Government Unglaubliches
geleistet. Dafür ist ihr zu danken. Sie hat Deutschland in
diesem Bereich vorangebracht.
({10})
Wären Sie in den Ländern nur einigermaßen vergleichbar nachgezogen, dann sähe unsere Position um einiges
besser aus.
Wir müssen allerdings noch einiges mehr tun. Dazu
gehört beispielsweise - das wurde auch kürzlich auf unserer Klausurtagung angesprochen - der Bereich Datenschutz. An dieser Stelle könnten wir zueinander finden,
Herr Riesenhuber. Das wäre eine Innovation, die keine
Mehrkosten verursacht. Mit einem modernen Datenschutz, in dessen Mittelpunkt die Technik steht - Datenschutz und IT-Sicherheit durch Technik! -, ließe sich
viel erreichen. Wir könnten - da sollte uns das Ministerium behilflich sein - Milliardenmärkte für Deutschland
erschließen; denn dieser Bereich käme dem Sicherheitsbedürfnis der Deutschen, das uns im Vergleich zur Risikofreude der Amerikaner oft vorgeworfen wird, entgegen. Dieses Grundbedürfnis der Deutschen, das uns so
oft blockiert, könnte in der Kombination mit moderner
Technik hier einmal neue Milliardenmärkte öffnen. Darüber müssen wir reden und an diese Bereiche müssen
wir herangehen.
Die rote Lampe leuchtet auf. Deshalb erlauben Sie
nur noch einige Stichworte zum Schluss.
({11})
Zur Informationsgesellschaft gehört, dass nicht desinformiert wird. Es ist über Fröhlichkeit gesprochen worden. Was haben Sie nicht alles über dieses Land erzählt: Sie haben festgestellt, dass wir die höchste
Arbeitslosenquote haben. Die Arbeitslosenquote ist
zwar in der Tat hoch, aber der Höchststand lag in Ihrer
Regierungszeit. Sie haben festgestellt, die Staatsschulden hätten einen Höchststand erreicht. Nein, die höchsten Staatsschulden haben Sie gemacht. Sie haben befürchtet, der Euro werde weich. Heute müssen wir uns
Sorgen darüber machen, dass der Euro zu stark wird.
Wer wie Sie in einen Wettbewerb mit anderen eintreten
will, in dem es darum geht, Deutschland mies zu machen, der sollte mit dem Finger nicht auf andere, sondern auf sich selbst zeigen. Das kann man auch von jemandem erwarten, dessen Inhalte auf einen Bierfilz
passen. Das ist der Punkt, über den parallel diskutiert
werden muss.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2315 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse sowie an den Innenausschuss vorge-
Präsident Wolfgang Thierse
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zu-
satzpunkte 1 a und 1 b auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Perspektiven schaffen für das Jahr der Technik 2004
- Drucksache 15/2161 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Katherina Reiche, Thomas Rachel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Die Innovationskraft Deutschlands stärken - Zukunftschancen durch moderne Forschungsförderung eröffnen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Daniel Bahr ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Aktionsplan für freie, effiziente und innova-
tive Forschung
- Drucksachen 15/1696, 15/1932, 15/2383 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Michael Kretschmer,
Ulrike Flach
ZP 1a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Thomas
Rachel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({3})
- Drucksache 15/2385 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike
Flach, Christoph Hartmann ({5}), Cornelia
Pieper, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({6})
- Drucksache 15/2402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({8})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist im Stimmungstief und bei der SPD haben Verheißungsparolen Konjunktur. Die letzte war die Eliteuni.
Meine Damen und Herren von der Regierung, ich würde
mich freuen, wenn Sie sich wieder einmal auf den alten
Goethe besinnen würden: „Die Macht soll handeln, nicht
reden.“ Ich möchte so gerne glauben, dass Sie die Geröllhalden des ideologischen Widerstands gegen Fortschritt,
Leistung und Wettbewerb beseitigen wollen. Bei Herrn
Matschie gibt es durchaus lichte Momente, zum Beispiel
dann, wenn er wie gestern die Abschaffung der ZVS fordert oder sich für die Einführung von Studiengebühren
stark macht. Nur, dann wird er ins Ministerbüro bestellt,
muss Abbitte leisten und alles verharrt im Stillstand.
Die technologische Dienstleistungsbilanz ist negativ.
Tausende junger Wissenschaftler verlassen das Land. Innovative Branchen brechen weg oder entstehen erst gar
nicht. Der Gegenwartskonsum steigt und die Zukunftsinvestitionen sinken. Gerade erst sind 80 Millionen Euro
aus dem BMBF-Haushalt in die Rentenkasse transferiert
worden.
({0})
Das Schiff Deutschland ist in einer Schräglage. Der Kapitän wirft derzeit allen Ballast über Bord, was damit endet, dass alles weg ist, was noch gut gebraucht werden
könnte, und ergibt sich dann dem Schicksal. Überall
werden Mittel über Bord geworfen, zum Beispiel bei den
Zukunftstechnologien und bei den Hochschulen. Sie
starten Kampagnen ohne Substanz und produzieren fixe
Ideen - Innovation als Placebo!
({1})
Kampagne Nummer eins, die Eliteuni: Erst ging es
nur um eine Eliteuniversität. Dann waren es zehn und
nun sind es vier bis sechs Eliteuniversitäten. Erst sollten
sie verordnet und jetzt über eine Art Preisausschreiben
gesucht werden. Der Preis beträgt 5 mal 50 Millionen
Euro für die deutschen Harvards. Woher das Geld kommen soll, weiß niemand, auf keinen Fall von Herrn
Eichel, wie er gestern über die Presse mitteilen ließ.
({2})
Bislang passte Elite zur SPD wie Atomkraft zu den
Grünen. Hervorragende Hochschulen können nicht verordnet werden. Sie müssen sich im freien Wettbewerb
entwickeln können. Dafür brauchen die deutschen Universitäten vor allem eines: Freiheit ({3})
Freiheit, über ihr eigenes Geld zu verfügen, Freiheit, die
Balance zwischen Forschung und Lehre zu finden, Freiheit, ihr Profil im Wettbewerb zu finden, Freiheit, sich
die Studenten auszusuchen, sowie Freiheit für Auftragsforschung und Kooperation mit der Industrie. Sie verweigern jedoch den Hochschulen zum Beispiel, sich die
qualifiziertesten Bewerber auszusuchen. Sie streichen
im Haushalt 2004 135 Millionen Euro für den Hochschulbau. Sie sperren sich gegen die Einführung von
Studienbeiträgen und gängeln die Hochschulen mit der
Regeleinführung der Juniorprofessur und der De-factoAbschaffung der Habilitation. Seit fünf Jahren kündigen
Sie zudem an, das starre BAT-Gefüge zu lockern. Aber
nichts passiert. Größer kann die Kluft zwischen Ankündigung und Realität nicht sein.
({4})
Harvard ist nicht als Eliteuni gebaut worden. Sie hat sich
vielmehr durch Exzellenz, Konkurrenz und Freiheit für
Experimente zu einer solchen entwickelt.
Kampagne Nummer zwei, mehr Geld für Forschung: Tatsache ist, dass der Haushalt 2004 um satte
0,25 Milliarden Euro sinkt. Der UMTS-Mittelfluss ist
versiegt. Wir haben Sie vor dem kurzsichtigen Einsatz
dieser Mittel gewarnt; denn Forschung braucht langfristige Planungssicherheit. Aber es ist ja nicht so, dass der
Regierung keine Finanzierungsquellen einfielen. Herr
Clement will die Autobahnen privatisieren. Andere wollen die Goldreserven verkaufen. Die SPD-Linke will die
Erbschaftsteuer zugunsten der Forschung erhöhen.
({5})
Tanken für die Rente, Rauchen für die Sicherheit und
jetzt - das ist etwas Neues - Sterben für die Zukunft.
({6})
Kampagne Nummer drei: Innovationsrat. An Räten
und Beiräten hat es nun wirklich nicht gemangelt. Im
Bundesforschungsministerium existierte ein solcher Zirkel; wir haben nie etwas von Ergebnissen gehört. Richtig
schädlich sind solche Treffen nicht; schädlich ist die
Vorstellung, sie könnten irgendwie nützlich sein. Man
wird das Gefühl nicht los, dass bei der SPD das Wort
„Räte“ von „raten“ kommt: Was können wir morgen
tun?
({7})
Kampagne Nummer vier: Neuordnung der Forschungslandschaft. Die Idee ist, die Forschung beim
Bund zu konzentrieren und die Grundlast für den Hochschulbau den Ländern zuzuweisen. Frau Bulmahn, Sie
stehen mit Ihren Ideen ziemlich allein da.
({8})
Die SPD-Wissenschaftsminister und die Forschungsorganisationen haben sich prompt gewehrt.
Was brauchen wir wirklich?
Erstens: Hochschulen in Freiheit, im Wettbewerb und
in eigener Verantwortung. Wir legen Ihnen heute eine
Novelle des Hochschulrahmengesetzes vor. Das ist ein
Lackmustest für Sie; Sie können hier beweisen, wie
ernst sie es mit einer Eliteuniversität tatsächlich meinen.
Der ehemalige Präsident der HRK Professor Roellecke
hat einmal gesagt:
Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme
ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen:
die Gefängnisse und die Universitäten.
({9})
Ohne Selbstauswahl wird es keinen echten Wettbewerb
zwischen den Hochschulen geben. Studenten sollen dorthin gehen, wo sie die beste Forschung, die beste Lehre
und die beste Betreuung finden. Unser heutiges Angebot
an Sie ist auch ein Kompromiss, weil wir die Selbstauswahl stufenweise ermöglichen wollen.
({10})
Zweitens. Das Verbot von Studiengebühren muss
fallen.
({11})
Es führt über kurz oder lang kein Weg daran vorbei. Ein
Studium ist immer eine persönliche Investition in die
Zukunft. Selbst Fritz Kuhn sagte:
Kindergartenplätze … kosten hohe Gebühren, …
Gleichzeitig sind akademische Studien gebührenfrei, … Diesen Widerspruch kann mir niemand erklären.
Auch wir können ihn nicht erklären. Studiengebühren
werden gebraucht, nicht um die Hochschulen maßgeblich zu finanzieren, sondern um einen Beitrag zu Effizienz und Wettbewerb zu leisten.
({12})
Drittens. Habilitation und Juniorprofessur müssen
nebeneinander bestehen bleiben. Hierbei ist die Wahlfreiheit auf der Ebene der Fakultäten notwendig. Die
amerikanischen Universitäten sind deshalb so gut, weil
sie „Lehre aus Forschung“ betreiben. Wir brauchen desKatherina Reiche
halb wieder mehr Forschung an den Hochschulen. Das
muss über gemeinsame Berufungen und Projekte zwischen Universität und außeruniversitärer Forschung hinausgehen.
({13})
Das schaffen wir nicht, wenn der Bund für die Forschung und die Länder für die Hochschulen verantwortlich sind.
Vor allem aber brauchen wir innovationsfreundliche
Rahmenbedingungen. Ständig kommen neue Wachstumsbremsen hinzu: Die Biopatentrichtlinie wurde nicht
umgesetzt. Wenn es mit der EU-Chemikalienpolitik so
weitergeht und Sie auf europäischer Ebene nichts tun,
wird die chemische Industrie in Deutschland kaputtgehen. Wenn die Zulassung eines neuen Fotolacks für die
Chipherstellung künftig sechs Monate dauert, dann hinkt
die deutsche Industrie Produktionszyklen schlichtweg
hinterher. Die ideologischen Scheuklappen werden auch
nicht weniger: Herr Trittin möchte am liebsten die
Atomtechnik in China verbieten; Frau Künast nutzt die
Grüne Woche für einen Feldzug gegen die Gentechnik.
Wir müssen uns deshalb - viertens - um die Stimmung in der Bevölkerung kümmern. Hubert Markl hat
es einmal so ausgedrückt:
Die deutsche Gesellschaft liebt die Wissenschaft
geradezu, so lange nichts dabei herauskommt, was
gewohnte Verhältnisse radikal verändern könnte.
Aber genau das müssen wir den Menschen sagen: Es
muss Veränderungen geben. Wie lange haben wir über
Informationstechnik und Multimedia geredet? Heute ist
klar - diese Debatte wurde gerade geführt -: Die Nationen, die früh darauf gesetzt hatten, hatten im vergangenen Jahrzehnt die höchsten Wachstumsraten. Während
die Deutschen über die Schädlichkeit von gentechnischem Insulin diskutierten, produzierten es andere Staaten. Der Transrapid fährt in China; das ist eine Schande.
Ich prophezeie Ihnen: Andere Länder werden die grüne
Gentechnik zur Herstellung von Pharmaka und allergenfreien Lebensmitteln nutzen und wir werden, wenn Sie
noch lange regieren, die Lizenzgebühren zahlen.
({14})
Es ist die Aufgabe politischer Führung, den Menschen Mut zu machen, Optimismus und Offenheit zu
zeigen und Innovation als Chance zu begreifen. Tun Sie
das endlich, aus Verantwortung diesem Land gegenüber!
({15})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Anfang dieses Jahres haben wir begonnen, das Thema Innovationen ins Zentrum zu rücken. Ich
glaube, dass dieser Aufschlag eine Chance für die Festigung der Reformpolitik und für unser Land ist.
({0})
Ich sehe, dass der Aufschlag, der dagegen jetzt von Ihnen gemacht wird, wieder nur Skandalisierung und Doppelbödigkeit ist. Daher befürchte ich, dass wir diese
Chance nicht so nutzen, wie wir sie nutzen könnten und
müssten. Das ist ein Problem.
({1})
Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Land zu Innovationen fähig ist, wenn wir nicht ein Mindestmaß an
Berechenbarkeit und Sicherheit schaffen. Wenn aber alles skandalisiert und jede Kleinigkeit zur Staatskatastrophe gemacht wird, wie sollen dann die Menschen Vertrauen in die Zukunft gewinnen? Das ist doch nicht
möglich.
({2})
Sie sind deshalb die größte Innovationsbremse. Ich bitte
Sie wirklich zu begreifen: Alle erfolgreichen Epochen in
der Bundesrepublik waren auch mit einem Mindestmaß
an Sicherheit, Klarheit und Orientierung verbunden und
nicht mit dem Niederreden und dem Kaputtmachen jeder
neuen Idee. Wir wollen Innovationen durchsetzen, und
Sie können sicher sein, dass wir uns davon auch nicht
abbringen lassen werden.
Innovationen bedeuten nicht, dass wir jetzt die
Agenda 2010 beenden. Ganz im Gegenteil: Sie gehört
entscheidend dazu. Die Anstrengungen, die wir jetzt unternehmen, beinhalten eine Doppelaufgabe. Auf der einen Seite holen wir Reformen nach, die viele andere
Länder in den 90er-Jahren, als Sie an der Regierung waren, durchgeführt haben. Dänemark, Niederlande, die
anderen skandinavischen Länder und Großbritannien haben diese Reformen begonnen, als hier in der Bundesrepublik die Regierung nicht einmal darüber redete.
({3})
Diese Länder haben damals die Reformen unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen durchgeführt; wir
müssen das heute unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen tun. Aber wir sind dazu bereit, und zwar nicht
weil wir den Menschen Lasten aufbürden wollen, sondern weil Reformen eine Voraussetzung für wieder mehr
politische, ökonomische und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit sind.
({4})
Wir sehen deshalb einen engen Zusammenhang mit der
jetzt beginnenden zweiten Epoche, mit der Gestaltung
einer neuen Phase unserer Entwicklung, der Gestaltung
der Globalisierung.
Meine Damen und Herren, wenn man die derzeitigen
Erkenntnisse der Wissenschaft und die Managementtheorien nachvollzieht, stellt man fest: Dort wird die
Michael Müller ({5})
entscheidende Position vertreten, dass heute nicht mehr
die einseitige Ausrichtung auf ein „kapitalorientiertes
Management“ das wirtschaftliche Leben und auch die
sozialen Systeme bestimmt, wie es in den letzten zehn
bis 15 Jahren der Fall war. Das ist vorbei. Wir treten in
eine neue Phase ein, in der, wie es beispielsweise die renommierte Londoner Business School sagt, wieder die
„Ressource Mensch“ im Zentrum steht.
In den letzten zehn bis 15 Jahren stand eher ein Modell der Kurzfristigkeit und der schnellen Kapitalvermehrung im Zentrum. Diese Phase ist vorbei. Wir haben
große Chancen, das europäische Gesellschaftsmodell
wieder nach vorne zu bringen, weil es in der neuen
Phase wieder auf Teamfähigkeit, Kreativität, soziale
Kompetenz und intelligente Vernetzung ankommt. All
das sind Fähigkeiten, die wir in der Bundesrepublik haben und die wir jetzt nutzen werden und nutzen wollen.
Bitte zerreden Sie das nicht. Das wird unsere Stärke in
der Zukunft werden.
({6})
Meine Damen und Herren, eine geschichtliche Bewertung dessen, warum wir in der Vergangenheit Stabilität in der Bundesrepublik hatten, zeigt: Stabilität hatten
wir immer, wenn wir Innovationen und technologische
Entwicklungen mit sozialer Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt zusammengebracht haben, nur
in diesem Zusammenhang. Plattitüden helfen da nicht
weiter, sondern es muss eine Integration zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und technisch-ökonomischer Entwicklung geben.
({7})
Nach dem Krieg hatten wir zuerst die Phase der Sozialen Marktwirtschaft. „Wohlstand für alle“ war nicht der
Glaube, man könne nur mit ökonomischer Verengung etwas erreichen. Es gab vielmehr einen sozialen Grundkonsens, der die Bundesrepublik zu vielen Innovationen,
zu großen Leistungen und zu hervorragenden Ergebnissen gebracht hat. Das war die erste Phase.
({8})
Ende der 60er-Jahre gab es eine zweite Phase, die
Phase „Mehr Demokratie wagen“ mit inneren Reformen.
Auch in dieser Phase war die wirtschaftlich-technische
Leistungsfähigkeit mit gesellschaftlichem Fortschritt
verbunden. Leider ist diese Grundphilosophie in den
80er-Jahren nicht mehr fortentwickelt worden.
({9})
Das ist ein Kern unserer heutigen Probleme. In den
80er- und speziell in den 90er-Jahren hat es nicht den
Zusammenhang zwischen wirtschaftlich-technischer
Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt gegeben. Sie haben auf die neuen Herausforderungen keine
Antworten gegeben. Mit der Globalisierung wurde es
noch schärfer, weil Sie sich im Kern nur einem ökonomischen Modell angepasst haben, das - das ist das entscheidende Problem - mit den deutschen und europäischen Sozialbedingungen nicht in Einklang zu bringen
ist. Das geht einfach nicht.
({10})
Das amerikanische Modell beispielsweise ist für sich
genommen völlig logisch. Aber die Kurzfristigkeit in
diesem System, die Finanzierungsausrichtung dieses
Systems, die Ranking-Methoden können nicht mit dem
in Einklang gebracht werden, was die europäische
Stärke ist: der Interessenausgleich, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, die langfristigen Innovationsketten.
Jetzt haben wir am Beginn einer neuen Epoche wieder unsere Stärken zu zeigen. Deshalb bitte ich Sie, diese
Phase der Innovationspolitik als Chance zu begreifen,
wieder gesellschaftlichen Konsens, mehr Integration,
mehr Beschäftigung, mehr soziale Stabilität und vor allem mehr Chancen für alle Menschen zu erreichen.
({11})
Nur so wird es funktionieren. Es ist eine Illusion, zu
glauben, wir bekommen Reformen durch, wenn die
Menschen verunsichert sind. Die Menschen brauchen
eine klare Zukunftsperspektive. Diese können wir mit
dem Thema Innovation geben.
({12})
Herr Riesenhuber - ich weiß gar nicht, ob er noch im
Saal ist -, in der Frage der Effizienzrevolution beispielsweise bin ich völlig auf Ihrer Seite.
({13})
Natürlich ist es ein richtiger Weg, in der Zukunft die
Produktivität und den technischen Fortschritt vor allem
auf eine Entwicklung zu lenken, die weniger Ressourcen
und weniger Energie verbraucht. Wenn wir das tun, machen wir aber leider die Erfahrung, dass wir Widerstand
gerade von Ihnen bekommen. Das ist doch die Realität
in dieser Frage.
({14})
Das Gleiche gilt, wenn Sie sich hier hinstellen und
fordern: mehr Mittel für Forschung und Bildung. - Natürlich wollen auch wir das und tun es. - Bitte sagen Sie
das aber auch den von Ihnen regierten Ländern! Überwiegend ist das eine Bund-Länder-Aufgabe, bei der die
Mehrheit von den Ländern getragen wird. Bitte sagen
Sie es ihnen! Es ist ja richtig und wir wollen es auch.
({15})
Was die Bildungspolitik angeht, so warnen wir davor,
nur Spitzenuniversitäten zu schaffen, so wichtig sie
auch sind; ich bin sehr dafür. Wir müssen vielmehr
Spitze mit Breite verbinden.
({16})
Michael Müller ({17})
Die große Stärke Europas ist, in der Breite viel stärker
als beispielsweise Amerika zu sein. Wenn wir dies mit
mehr Spitze verbänden, würde uns das einen unglaublichen Vorteil bringen. Tun wir es! Tun wir es, weil es
richtig ist, meine Damen und Herren!
Zum Abschluss will ich ein Beispiel schildern. Ich
war vor einiger Zeit bei Bosch. Da sagte der Forschungschef: Vor fünf Jahren habe ich auf die Umweltpolitiker
geschimpft. Heute bin ich dankbar dafür, dass es sie gibt.
Nur dadurch haben wir mehr Gelder investiert, beispielsweise in moderne Antriebstechniken. Nur dadurch haben
wir beispielsweise beim TDI, bei den Common-RailSystemen und Ähnlichem Fortschritte gemacht. - Die
Gesellschaft muss Druck für Forschung und Innovation
machen. Sie muss sagen, dass sie das will. Wir brauchen
diese Innovationskultur. Sie fällt nicht vom Himmel. Sie
wird auch nicht dadurch ausgelöst, dass man immer wieder sagt: Der Markt regelt alles. - Nein, der Markt ist immer kurzfristiger geworden. Deshalb brauchen wir politische Rahmensetzungen und gesellschaftlichen Konsens.
({18})
Bei dem Thema Innovation geht es um die Zukunft unserer Gesellschaft, um die Frage, wie wir Nachhaltigkeit,
soziale Sicherheit und mehr Beschäftigung erreichen.
Deshalb sollten wir in der Diskussion nicht mit gegenseitigen Unterstellungen, gegenseitigen Diffamierungen und
bloßer Destruktion arbeiten, sondern wir sollten einen
Wettbewerb der Ideen und der Kreativität entfalten. Das
muss unsere Aufgabe sein.
({19})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer
mehr wird erkennbar, dass das Jahr 2004 zu einem Jahr
der Entscheidung in der deutschen Forschungspolitik
wird. Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Müller, dass wir
das alles gemeinsam tun müssen und dass wir auf diesem
Weg über Diffamierungen natürlich nicht weiterkommen. Da haben wir also überhaupt keinen Dissens. Aber
ich bin nicht der Meinung, Herr Müller, dass wir das
über eine mediale Großkampagne mit dem Namen „Innovation“ schaffen werden.
Was erleben wir im Augenblick bei Ihnen? Sie sind
mit großen Auftritten gestartet und kündigen uns sozusagen von Tag zu Tag neue bahnbrechende Offensiven an.
({0})
„Deutschland. Das von morgen“ - allein schon der Titel
verdient einen linguistischen Innovationspreis.
({1})
„Brain up!“ - das war so innovativ, dass nur noch ein
Bruchteil der Bevölkerung verstand, was das überhaupt
heißen soll. Sie geben jeden Tag in Ihren Reden neue
Millionenbeträge aus, ohne auch nur einen Bruchteil davon in den Haushalt eingestellt zu haben. Innovation,
liebe Kollegen von SPD und Grünen, ist bei Ihnen medialer Verkauf von Luftschlössern. Innovation bei der FDP
ist Reform veralteter Strukturen, Wettbewerb mit dem
klaren Ziel, dieses Land nach vorne zu bringen, und
Freiheit für Wissenschaft und Forschung.
({2})
Ich möchte Ihnen an drei Beispielen vorführen, wie
sich Ihre Vorstellung von Innovation von unserer unterscheidet, lieber Herr Tauss:
Beispiel Elitehochschulen. Zu Beginn dieses Jahres
- Frau Reiche hat schon darauf hingewiesen - kamen
der Kanzler, Herr Scholz und Frau Bulmahn mit ihrer
Forderung, zehn Elitehochschulen - zehn Harvards,
Yales oder Oxfords in Deutschland - zu gründen. Ich
finde allein schon die Reihenfolge der Personen interessant.
({3})
Dann ist Ihnen aufgefallen, dass diese Hochschulen
Etats von rund 2 Milliarden Euro haben. Selbst wenn
man annimmt, dass sich die Wirtschaft engagieren und
zwei Drittel der Etats tragen würde - Studiengebühren
schließen Sie ja nach wie vor aus -, müssten Sie ungefähr 800 Millionen Euro pro Hochschule rechnen, also
8 Milliarden. Das ist aber Ihr derzeitiger Gesamtetat,
Frau Bulmahn. Das ist also nicht realistisch. Hierbei
handelt es sich um ein Wolkenkuckucksheim in Hochpotenz.
({4})
Sie haben es aber wenigstens geschafft, Frau
Bulmahn, den Elitebegriff zu besetzen. Das gebe ich
ohne weiteres zu. Ich begrüße das als Liberale; denn
schließlich haben wir uns jahrelang von Ihnen beschimpfen lassen müssen, wenn wir diesen Begriff verwendeten. Die Kollegen von der Union neigen dazu, auf Sie
hereinzufallen. Uns ist es egal, ob Sie von Eliten, von
Spitzen- oder Höchstleistungen reden. Wir wollen nur,
dass Deutschland bei Forschung und Bildung endlich
wieder Platz eins in der Welt einnimmt.
({5})
Nun ist aus Ihrem Elitehochschulprogramm ein Wettbewerb geworden, demzufolge nicht mehr zehn, sondern
drei bis sechs Universitäten ab dem Wahljahr 2006
- man beachte den Zeitpunkt! - Fördermittel in Höhe
von 50 Millionen Euro fünf Jahre lang erhalten können.
Die FDP ist bekanntlich immer für Wettbewerb, aber es
ist erstaunlich, wie aus zehn Eliteuniversitäten à la Harvard innerhalb von zwei Wochen ein Preisausschreiben
wird, bei dem es 50 Millionen Euro zu gewinnen gibt.
Sie werden als Miniaturisierungsministerin in die Geschichte eingehen, liebe Frau Bulmahn.
({6})
Um wieder in die Spitzenliga vorzustoßen, reicht das
aber nicht. Dazu sind vielmehr andere Strukturen und
mehr Wettbewerb nötig, vor allem natürlich die Wahrung der Autonomie von Hochschulen und Forschungseinrichtungen.
({7})
Deswegen nehmen wir die Kritik des Wissenschaftsrates
in unseren Anträgen auf. Wir wollen ein Forum für Forschungsförderung, Lücken besser erkennen, um Prioritäten und Nachrangigkeiten festzulegen, wir wollen einen
modernen Wissenschaftstarifvertrag und - das ist im
Hinblick auf die Haushalte das Wichtigste - die unselige
Ressortforschung des Bundes neu ordnen, nachdem sie
gründlich evaluiert wurde.
({8})
Frau Kollegin Flach, der Kollege Tauss möchte Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Herrn Tauss habe ich heute schon zweimal gehört. Ich
weiß nicht, ob ich Sie noch ertragen kann, Herr Tauss,
aber ich will es einmal versuchen.
Frau Flach, Sie können; ich will Ihnen Mut machen
bezüglich meiner Frage. Wir sind uns ja bezüglich der
Notwendigkeit eines Wissenschaftstarifvertrages einig.
Das haben wir ja auch festgestellt. Meine Frage lautet:
Welche Initiativen liegen zwischenzeitlich aus den Ländern, in denen die FDP mitregiert, für diesen Wissenschaftstarifvertrag im Rahmen der Tarifgemeinschaft der
Länder vor?
({0})
Lieber Herr Tauss, welche Initiativen liegen denn von
Ländern vor, in denen die SPD regiert? Sie wissen doch,
dass wir jetzt darüber im Bundestag diskutieren. Bei unserem ersten gemeinsamen Auftritt heute Morgen haben
Sie noch darauf hingewiesen, dass man immer über das
reden soll, wofür man auch zuständig ist. In diesem
Punkt bin ich ganz Ihrer Meinung: Ich rede jetzt über
das, was in meine Zuständigkeit fällt. Wir haben Ihnen
einen Vorschlag auf den Tisch gelegt. Ich hoffe, dass in
diesem Fall SPD und Grüne ausnahmsweise einmal mit
uns an einem Strang ziehen.
({0})
Jagen wir doch jetzt einmal Ihren Innenminister. Gehen wir einmal gemeinsam an die TdL. Dann könnte
daraus doch etwas werden. Ich habe nichts dagegen. Ich
fordere von dieser Stelle aus immer gemeinsames Handeln der Bildungs- und Forschungspolitiker ein. Falls
Sie, lieber Herr Tauss, ausnahmsweise in dieser Frage
meiner Meinung sind, kann ich Ihnen zusagen, dass die
FDP Sie unterstützt.
Frau Kollegin Flach, ist meine Vermutung richtig,
dass Sie nun auch eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper akzeptieren würden?
Sie höre ich natürlich immer gerne. Bitte.
Liebe Kollegin Flach, Frau Vorsitzende des zuständigen Ausschusses, können Sie mir Initiativen der SPD-regierten Länder zur Abschaffung der zentralen Vergabestelle für Studienplätze nennen und können Sie mir
Initiativen der FDP - die in den Ländern mitregiert - zur
Abschaffung der ZVS nennen?
({0})
Das ist ein interessantes Gebiet. Diesbezügliche Initiativen der SPD kann ich mir überhaupt nicht vorstellen,
ich kenne auch keine außer dieser wirklich wohl begründeten Initiative von Herrn Matschie, die leider über
Nacht von Frau Bulmahn eingestampft wurde.
({0})
Von den von uns mitregierten Ländern sind es BadenWürttemberg und Hamburg; beide wollen auf diesem
Gebiet tätig werden und sie werden es tun. Insofern bin
ich beruhigt.
({1})
Damit kommen wir zum zweiten Themenpunkt, dem
Jahr der Technik. Frau Bulmahn, Sie haben gestern das
Jahr der Technik eröffnet. Ich will Ihnen ganz klar sagen:
Ich finde es gut, dass es diese Leitthemen bei dieser Veranstaltung gibt. Aber ein Jahr der Technik muss auch ein
Ja zur Technik heißen. Da bin ich mit Frau Reiche völlig
einer Meinung: Sie regieren doch mit einer Partei, die
bei wichtigen Technologien wie der Kernfusion oder der
Roten und der Grünen Gentechnik Nein statt Ja sagt. Natürlich ist es richtig, wie Herr Fell bei jeder Gelegenheit
erklärt, dass dies nur ein kleiner Bereich der Biowissenschaften ist.
({2})
Aber Sie haben am Montag ganz klar gesagt: Wir fördern das, was Produkte bringt, was schnell in die Anwendung geht.
({3})
Was ist denn nun mit der Grünen Gentechnik? Natürlich
stehen wir dort vor der Anwendung: Es gibt Länder wie
Sachsen-Anhalt, die liebend gerne die Grüne Gentechnik
einsetzen würden.
({4})
Aber wer blockiert denn? - Die andere Seite Ihrer Regierungsbank! Ihre Politik ist in diesem Falle klar durch die
grüne Partei gekennzeichnet.
({5})
Sie haben eben keine konsistente, über alle Ressorts
greifende Strategie zur Förderung innovativer Technologie. Während die internationale Konkurrenz Riesenprogramme für neue Technologien bündelt, müssen Sie,
Frau Bulmahn, Mittel kürzen und mit dem Koalitionspartner kämpfen. Was mich besonders erschüttert: Diese
Regierung ist sich noch nicht einmal einig, wenn sie
über den Begriff „Innovation“ streitet. Da lese ich von
Herrn Fischer völlig andere Sachen als das, was ich von
Herrn Tauss oder Frau Bulmahn höre. Wie wollen Sie da
zu einer gemeinsamen Strategie kommen?
({6})
Unabhängig vom fehlenden Geld und ideologischen
Grabenkämpfen müssen Sie sich auch einem anderen
Vorwurf stellen: Frau Bulmahn, Sie haben nicht die
Kraft, die Weichen für eine innovative, autonome und
international konkurrenzfähige Hochschul- und Forschungslandschaft zu stellen.
({7})
Verbale Innovationsoffensiven sind nett, aber sie gehen
unseren Problemen nicht an die Wurzel. Wer an die
Spitze will, muss mit der Axt endlich an das unselige
Hochschulrahmengesetz:
({8})
Wir müssen den Hochschulen Luft geben. Nur freie und
selbstständig agierende Hochschulen haben eine
Chance, im Wettbewerb zu bestehen.
({9})
Deswegen legen wir Ihnen heute als einzige Fraktion
eine umfassende Novelle vor - statt des Versuches,
schrittweise, wie es die Kollegen von der CDU/CSU machen, bloß einige kleine Punkte zu ändern. Wir haben
getan, was Sie, Frau Bulmahn, immer fordern. In Ihrem
Ministerium gibt es dagegen nicht einmal eine entsprechende Arbeitsgruppe, die sich mit diesem Thema befasst. Unser Vorschlag gibt den Hochschulen die Freiheit
zurück: Sie werden zuständig für das Personal, welches
natürlich nicht mehr verbeamtet sein muss. Sie entscheiden selbst über die Aufnahme ihrer Studenten - und
zwar aller Studenten, liebe Kollegen von CDU und
CSU! -, durch Eingangstests oder von ihnen selbst festzulegende Verfahren. Das heißt das Aus für die ZVS;
dieses Relikt einer steinzeitlichen Zwangsbewirtschaftung muss abgeschafft werden.
({10})
Wir geben den Hochschulen die Freiheit, Studiengebühren zu erheben. Jede Hochschule soll das Recht haben, Gebühren zu nehmen, wenn sie es will. Genauso
soll jede Hochschule das Recht haben, Gebühren nicht
zu nehmen, wenn sie es nicht will. Das ist Autonomie,
meine Damen und Herren, statt Gängelung von oben.
({11})
Gleiches gilt für die verfassten Studierendenschaften:
Es ist doch absurd, dass einer Kunsthochschule im bisherigen Gesetz vorgeschrieben wird, dass eine Studierendenschaft den Studierendensport zu fördern hat.
Überlegen Sie einmal das Absurde der jetzigen Situation!
Während die Union lediglich die beiden letzten HRGNovellen zurückdrehen will, legen wir Ihnen heute einen
umfassenden Autonomie- und Wettbewerbsentwurf vor.
Wir brauchen ein HRG - kurz, knapp, schlank und liberal. Es wird - das ist besonders charmant - keine Kosten
verursachen.
({12})
Liebe Kollegen, unsere Vorschläge liegen auf dem
Tisch. Sie werden wahrscheinlich in einigen Jahren auch
dahin kommen, wo wir heute sind; daran sind wir Liberale gewöhnt.
({13})
Das ist der Unterschied: Wir machen’s konkret, Sie machen’s zu spät!
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich meine eigenen Argumente vortrage, will ich auf
einige Argumente meiner Vorrednerinnen eingehen.
Ich will zunächst auf das eingehen, was Frau Reiche
gesagt hat. Frau Reiche hat verschiedene Dinge behauptet. Unter anderem hat sie behauptet, es würden Tausende von akademischen Wissenschaftlern auf die andere Seite des Teiches nach Amerika gehen. Sie sagt, es
gebe sozusagen einen großen Exodus aus Deutschland.
Das Gegenteil ist wahr.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Professor Hans
Schöler, einer der führenden Stammzellenforscher der
Welt, der der Union nicht unbekannt ist und der bis vor
kurzem an der University of Pennsylvania geforscht hat,
kehrt jetzt zurück nach Deutschland, und zwar an das
Max-Planck-Institut in Münster. Das ist genau der richtige Weg; das ist genau der Weg, den wir wollen und fördern.
({0})
Professor Schöler kommt gerne nach Deutschland zurück. Er hat vor wenigen Tagen über die Presse verlauten
lassen, dass eine Novellierung des Stammzellgesetzes
nicht notwendig sei. Frau Reiche hat immer wieder betont, das Stammzellgesetz sei eine Hauptbarriere für den
Forschungsfortschritt im Bereich der Biowissenschaften.
Das ist die Wahrheit. Die gleichen Kollegen von der
CDU/CSU, die uns hier immer und immer wieder erzählen, dass das Stammzellgesetz eine große Errungenschaft
sei, klatschen gleichzeitig Beifall, wenn Frau Reiche das
genaue Gegenteil erzählt. Das ist unehrlich. Dieses Reden mit gespaltener Zunge lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({1})
Herr Kollege Loske, möchten Sie gleich zu Beginn
Ihrer Rede eine Zwischenfrage von Frau Flach beantworten?
Nein, ich möchte erst meine Argumente vortragen.
Auch mein zweiter Punkt betrifft die Ausführungen
von Frau Reiche. Ich zitiere einen jungen deutschen
Genwissenschaftler, der zurzeit an der Universität Stanford arbeitet. Er hat vor wenigen Tagen einen langen
Leserbrief veröffentlicht. Unter anderem spricht er über
die Kultur an amerikanischen Universitäten. Ich zitiere
wörtlich aus diesem Brief:
Vergleicht man ... den Einwanderungskinderanteil
an US-Spitzenunis mit dem an deutschen Unis - so
genannte Ausländerkinder -, dann wird eigentlich
schnell klar, was ich meine. Am MIT
- das ist das Massachusetts Institute of Technology hatte fast jeder zweite Student asiatische Features.
Wie viele Deutsche türkischer Herkunft hatte ich in
Berlin in meinem Studium? Einen in ungefähr 150.
Ziemlich ärmlich, oder?
Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Reiche. Sie können
nicht über die Internationalisierung unserer Hochschulen
reden und gleichzeitig den Zuwanderern über das Arbeitsrecht und über das Zuwanderungsrecht einen Knüppel nach dem anderen zwischen die Beine werfen.
({0})
Das lassen wir uns nicht gefallen; das ist absolut widersprüchlich und unehrlich.
Sie sind doch selber einmal Wissenschaftlerin gewesen. Aber offenbar beherrschen Sie die Mathematik
nicht. Zwischen 1994 und 1998 sind die Ausgaben für
Bildung und Forschung um 5 Prozent gesunken. Aber
zwischen 1998 und heute sind sie, wenn man das BAföG
hinzunimmt, um 30 Prozent gestiegen. Jetzt frage ich
Sie: Was ist mehr: minus 5 Prozent oder plus
30 Prozent? Diese Frage müssten Sie doch beantworten
können.
({1})
Ein weiterer Punkt ist die Anzahl der Studierenden.
Als wir 1998 an die Regierung kamen, lag der Anteil
derjenigen eines Jahrgangs, die ein Studium aufgenommen haben, bei 27 Prozent. Heute liegt der Anteil bei
über einem Drittel. Ich will nicht sagen, dass Quantität
alles ist; davon bin ich weit entfernt. Aber die Verlogenheit, die Sie an den Tag legen, ist inakzeptabel. Zu Ihrer
Regierungszeit ist der Anteil der Studierenden immer
weiter gesunken. Auch die Anzahl derer, die BAföG bezogen haben, ist immer weiter zurückgegangen. Was Sie
hier erzählen, ist wirklich vollkommen unglaubwürdig.
Das muss ich ganz klar sagen.
({2})
Frau Flach, man kann viel über die Grüne Gentechnik reden. Aber nur weil Sie der Meinung sind, man
brauche eine Durchbrecherstrategie, kann man noch
lange nicht sämtliche wissenschaftlichen Einwände, aber
auch Befürchtungen der Bürger einfach über den Haufen
werfen.
({3})
Wir wissen, dass 70 Prozent der Bevölkerung gegenüber
der Grünen Gentechnik skeptisch eingestellt sind. Das
haben wir als diejenigen, die wir die Bürger im Parlament vertreten, zu respektieren.
Wir wollen mit dem Gentechnikgesetz Transparenz
und Koexistenz sichern. Wir stellen auch sicher, dass die
ökologische Schädlichkeit, soweit wir heute darüber Bescheid wissen, ausgeschlossen werden kann. Das ist genau der richtige Weg. Deswegen ist das Gentechnikgesetz ein gutes Gesetz. Das möchte ich hier betonen.
({4})
Ich habe meine Redezeit jetzt weitgehend verbraucht.
Aber es war einmal notwendig, auf die Äußerungen der
Kolleginnen einzugehen.
({5})
Die Forschungsdebatte ist für uns eine Debatte über
Finanzen und Strukturen. Das sind zwei Seiten einer
Medaille, die zusammengehören. Für uns geht es bei den
Strukturreformen - ich muss jetzt leider im Telegrammstil sprechen - um Folgendes:
Erstens. Wir müssen zunächst einmal die Hochschulen und Forschungseinrichtungen - da stimme ich Ihnen
zu, Frau Flach - vom Korsett des öffentlichen Dienstrechts befreien.
({6})
Wir brauchen einen Wissenschaftstarifvertrag. Das können wir gerne zusammen machen.
Zweitens. Die Finanzierung der Hochschulen muss
stärker über die Nachfrage gesteuert werden. Unser
Konzept heißt deshalb Bildungsgutscheine; dafür setzen
wir uns ein. In NRW werden diese Gutscheine bereits
eingeführt.
Wir müssen den Hochschulen - da haben Sie Recht mehr Autonomie geben. Sie brauchen mehr Personalautonomie, mehr Haushaltsautonomie und bessere Möglichkeiten, ihre Studierenden selbst auszuwählen.
({7})
Das ist zutreffend. Was aber die Finanzierung der Hochschulen betrifft, warne ich vor einer Verengung der Debatte auf Studiengebühren; ich komme gleich darauf zurück.
Wir müssen auch sehen, wie man zusätzliches Geld
mobilisieren kann: durch Stiftungskapital, durch Patentverwertungsstrukturen und auch durch Weiterbildung.
Es ist doch ein Witz, dass unsere Universitäten fünf Monate im Jahr leer stehen. In dieser Zeit kann Weiterbildung stattfinden; dazu kann auch die Wirtschaft einen
Beitrag leisten. Ich glaube, diese Einnahmequellen müssen wir ausbauen.
In diesen Kontext gehören übrigens auch Wettbewerbe. Ich halte Wettbewerbe für eine gute Idee, will
aber zwei Dinge hinzufügen:
Erstens. Der Titel „Brain up! Deutschland sucht seine
Spitzenuniversitäten“ hat mir nicht gefallen. Das klingt
für mich eher nach Quiz als nach Alexander von Humboldt; das muss ich ohne weiteres zugeben.
({8})
Zweitens. Wir sollten nicht denken, dass unsere Universitäten große Maschinen sind, in die man oben Geld
hineinschüttet und bei denen unten Produkte herauskommen. Unsere Universitäten brauchen mehr Zweckfreiheit. Dann kommen am Ende mehr Innovationen heraus.
Also keine Konditionierung auf marktfähige Produkte,
sondern auf Spitzenforschung - das ist das Entscheidende.
Jetzt wird mir hier signalisiert, dass ich zum Ende
kommen muss, deshalb kann ich zu den Studiengebühren
nur noch sehr wenig sagen. Unser Gegenmodell - das
habe ich bereits gesagt - ist das Modell der Bildungsgutscheine. Es gibt in unserer Fraktion einige - dazu gehöre
auch ich -, die Studiengebühren nicht prinzipiell abgeneigt sind; das gebe ich ohne weiteres zu.
({9})
Aber wir müssen über die Randbedingungen reden. Wir
können heute doch nicht über Studiengebühren sprechen, wenn unsere Universitäten gleichzeitig verlottern.
Das wäre ungefähr so, als wenn ein Kaufmann, dessen
Produkte immer schlechter werden, sagt: Ich muss jetzt
die Preise erhöhen, damit ich überhaupt noch Gewinne
erziele. - So geht das nicht! Wir müssen über die Randbedingungen reden. Wir müssen sicherstellen, dass es
ein Stipendiensystem gibt, dass soziale Selektion ausgeschlossen wird und dass sich der Staat - das ist am allerwichtigsten - nicht aus der Bildungsfinanzierung zurückzieht.
Wenn wir das gemeinsam geschafft haben - im Moment ist das nicht so; Sie wissen genau, dass sich die
Länder mehr und mehr zurückziehen
Herr Kollege!
- ich bin fertig -, dann können wir über Studiengebühren reden, aber nicht aus heiterem Himmel und ohne
Kontext. Da machen wir auf keinen Fall mit.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Loske, darf ich daran erinnern, dass
dann, wenn die Uhr blinkt, nicht die Nachspielzeit beginnt, die Gelegenheit gibt, den eigentlichen Höhepunkt
der Rede einzuleiten, sondern dass dann die Redezeit beendet ist?
({0})
Nun erteile ich das Wort der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Freistaates Thüringen,
Frau Professor Schipanski.
({1})
Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin ({2}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Das Thema Innovation beherrscht im Moment zu einem guten Teil die öffentliche
Diskussion. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde das hervorragend.
({3})
Denn schon lange weist die CDU auf die grundlegende
Bedeutung von Forschung, Wissenschaft und Bildung
für die Zukunft unseres Landes hin.
({4})
Die Bundesregierung hat das Jahr 2004 zum Jahr der
Innovationen und zum Jahr der Technik ausgerufen. Ich
Ministerin Dr. Dagmar Schipanski ({5})
begrüße das. Wir müssen gemeinsam alles dafür tun, ein
technik- und forschungsfreundliches Klima in Deutschland zu fördern. Ich werte es als ein Kompliment für
Thüringen - das sei mir an dieser Stelle gestattet -, dass
die SPD die Bedeutung von Innovation und Eliten gerade in Weimar erkannt hat. Offensichtlich ist sie vom
Geist des Aufbruchs und der Innovation, der in unserem
CDU-regierten Land herrscht, angesteckt worden.
({6})
Jetzt will die Bundesregierung der Ankündigung Taten folgen lassen. Hierzu hat sie einen Wettbewerb ausgerufen: „Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten“. Ich verzichte an dieser Stelle auf die
Untersuchung der Frage, ob die sprachliche Nähe zu einer zweifelhaften Castingshow bewusst gewählt wurde
oder ein Zufall ist.
({7})
Tatsache ist jedoch: Die Länder lehnen diese Pläne einhellig ab. Wir sehen darin einen weiteren Versuch, den
Föderalismus auszuhöhlen und stattdessen mithilfe einzelner Prestigeprojekte Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben.
({8})
Selbst der grüne Koalitionspartner hält dies für ein „fragwürdiges Konzept“.
Der Ansatz ist aber auch ordnungs- und wissenschaftspolitisch inkonsequent und falsch:
Erstens. Laut Zielsetzung der Weimarer Leitlinien
sollen sich in Deutschland Spitzenuniversitäten etablieren, die mit Harvard oder Stanford konkurrieren können.
Ein ehrenwertes Ziel! Nur verkennen Sie dabei völlig,
dass sich die genannten amerikanischen Universitäten in
einem völlig anderen Umfeld entwickelt haben: in einem
Umfeld von Wettbewerb und hochschulpolitischer Freiheit, von Studiengebühren und Stiftungskapital bis hin
zu wirtschaftlicher Betätigung.
Anstatt jetzt eine umfassende Deregulierung einzuleiten, damit sich ein solcher Wettbewerb auch bei uns
entfalten kann, soll eine kleine Zahl von Universitäten
- warum eigentlich fünf? - quasi per Dekret den Ritterschlag zur Spitzenuniversität erhalten.
({9})
Die „FAZ“ hat diese Politik gestern mit Planwirtschaft verglichen. Als guter Kenner der Planwirtschaft
fühle ich mich fatal an Fünfjahrespläne erinnert.
({10})
Kommt die Zahl fünf vielleicht von Fünfjahresplänen?
Derjenige, der Fünfjahrespläne erlebt hat, weiß, dass
diese Pläne nie eingehalten worden sind.
({11})
Wenn Sie also den Universitäten in Deutschland die
Möglichkeit bieten wollen, in die Liga der Eliteuniversitäten aufzusteigen, dann müssen Sie entsprechende Rahmenbedingungen für Freiheit und Wettbewerb schaffen
und dürfen das Hochschulrahmengesetz nicht mit immer
neuen Regulierungen überfrachten. Ich begrüße den Vorschlag von Frau Flach, wir werden uns darüber unterhalten müssen.
({12})
Es kommt darauf an, Rahmenbedingungen für den
Wettbewerb zu schaffen, den Hochschulen und Wissenschaft aus sich selbst heraus betreiben können. Die Realität ist hier nämlich weiter, als die Bundesregierung annimmt. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Fakultäten,
deren Ruf auch international absolut exzellent ist.
Das Gleiche gilt für bestimmte außeruniversitäre Institute. Diesen positiven Ansatz müssen wir nutzen, ihm
müssen wir die Chance geben, sich weiterzuentwickeln.
({13})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin ({0}):
Ja.
Bitte schön, Herr Tauss.
Ich bin dankbar, dass Sie sich in dieser Frage unseren
Überlegungen angenähert haben. Frau Flach hat vorhin
zum Thema Zuständigkeit gefragt. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie hier über das Hochschulrahmengesetz
reden, Frau Ministerin. Ich frage aber an dieser Stelle:
Warum hat das Land Thüringen die Möglichkeiten, die
wir durch die Öffnung des Hochschulrahmengesetzes,
beispielsweise im Besoldungsrecht, gegeben haben, bisher nicht genutzt? Warum haben erst drei Bundesländer
die neuen Regelungen umgesetzt? Warum sind erst drei
Bundesländer an diese Frage herangegangen?
Auf die Frage, warum noch keine Initiativen zum
Wissenschaftstarifvertrag ergriffen worden sind, will ich
der Fairness halber nicht eingehen. Auch da haben Sie
sich nicht durchgesetzt. Ich freue mich aber, dass wir
hier einer Meinung sind.
Meine Frage: Warum setzen Sie das, was heute möglich ist, nicht um?
Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin ({0}):
Das kann ich Ihnen ganz genau beantworten. Wir
werden das insgesamt umsetzen, wenn über die Klage
entschieden ist, wie mit der Habilitation umzugehen ist.
({1})
Ministerin Dr. Dagmar Schipanski ({2})
Das heißt, wir müssen genau das durchsetzen, was uns
richtig erscheint, und nichts anderes.
Lassen Sie mich zu den Universitäten zurückkommen. Wir brauchen Wettbewerb und Freiheit an den
Universitäten. Es ist richtig, hier sind auch wir Länder
gefordert. Die Bundesregierung sollte aber aus gesamtstaatlicher Verantwortung dafür sorgen, dass sich die Voraussetzungen zur Teilnahme am Wettbewerb insgesamt
verbessern. Wir Länder sind selbstverständlich gefordert. In diesem Zusammenhang möchte ich nur erwähnen - Herr Loske hat vorhin ausgeführt, dass sich die
Hochschulen an der Weiterbildung beteiligen sollen -:
Im Thüringer Hochschulgesetz ist das längst verankert.
Unsere Hochschulen können sich an der Weiterbildung
beteiligen und dafür Gebühren erheben. Die Länder nutzen die Freiheiten, die ihnen im Rahmen des engen Regulierungsgesetzes gegeben sind, aber wir brauchen
noch mehr Freiheiten, um unsere Hochschulen für den
Wettbewerb fit zu machen.
Dazu gehört auch ein Wissenschaftstarifvertrag, über
den wir diskutieren, aber ich wünsche mir auch von den
SPD-regierten Ländern einen Vorschlag
({3})
- über den wir diskutieren können. Wir können nicht
einfach die Zeit für die Lehre festlegen, wir können auch
nicht den Zeitraum festlegen, wie lange man an einer
Hochschule bleiben darf, bevor man automatisch gehen
muss. Diese starren Zeitregelungen, die detaillierten
Stundenfestlegungen verhindern angemessene Reaktionen der Hochschulen auf verändertes Studierverhalten
oder auf sich rasch entwickelnde Forschungsgebiete.
Was tut die Bundesregierung? Anstatt die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern, kürzt sie die Mittel für
den Hochschulbau um 135 Millionen Euro. Vergleicht
man diese Politik mit den neuerlich angekündigten Millionen, dann heißt das im Klartext: Die Bundesregierung
will sich mit einzelnen Leuchttürmen auf Kosten der
Fläche profilieren. Diese Politik trifft die neuen Länder
in ganz besonderer Weise;
({4})
denn unsere Hochschulen hatten nicht die Chance, in
15 Jahren 40 Jahre Vorsprung der alten Länder aufzuholen.
({5})
Die Chefsache „Aufbau Ost“, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, erweist sich ein weiteres
Mal als leere Drohung.
({6})
Das war schon einmal so, nämlich als die UMTSErlöse verteilt wurden. Die Messlatte für die Hochschulen zur Teilnahme an dem Programm der DFG-Forschungszentren war so hoch angelegt, dass keine einzige
Universität der neuen Länder überhaupt eine Chance
hatte. Noch sind die Voraussetzungen nicht gleich. Das
muss berücksichtigt werden. Hier erwarten wir ein Engagement für den Aufbau Ost.
({7})
Auf der anderen Seite jedoch möchte ich betonen,
dass gerade die DFG dafür prädestiniert ist, dem wissenschaftlichen Wettbewerb in Deutschland neue Impulse
zu verleihen.
({8})
Schließlich folgt die DFG bei der Mittelvergabe ausschließlich Wissenschafts- und Exzellenzkriterien. Vor
diesem Hintergrund möchte ich einen Vorschlag unterbreiten, der die Forschung in unserem Land nach Wettbewerbskriterien voranbringt und den Willen der Bundesregierung aufgreift, sich zu engagieren: Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft erhält das angekündigte Geld,
({9})
aber ohne an anderer Stelle Mittel zu kürzen, etwa für
den Hochschulbau oder die Projektforschung.
({10})
Damit erhält die DFG die Möglichkeit, nach ihren eigenen Regularien, nämlich nach der Exzellenz von Forschungsanträgen, die besten Vorhaben aus allen Hochschulen zu fördern und auch auszustatten. Dabei sollten
die Nachwuchswissenschaftler, die über diese Förderung
eingestellt werden, zugleich zur Lehre an den Universitäten verpflichtet werden. Denn die Einheit von Forschung und Lehre ist nach wie vor das entscheidende
Merkmal der deutschen Universitäten.
({11})
Damit würde der dringend notwendige wechselseitige
Zusammenhang von Forschung und Lehre in einer ganz
neuen Qualität in den Universitäten verankert. Bei der
Vergabe der Mittel könnten durchaus auch mit außeruniversitären Instituten vernetzte Forschungsvorhaben, verbunden mit Promotionsstudiengängen oder Graduiertenkollegs, Kriterien für Auswahl und Exzellenz sein.
Ich glaube, hieran lässt sich eine gute Diskussion anknüpfen, wie im freien Wettbewerb Elite heranwächst,
ausgebildet und gefördert und nicht per Dekret verordnet
wird.
({12})
Zugleich hätten wir ein Grundproblem der deutschen
Universitäten, nämlich das der unzureichenden Zahl
wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Lehre, mit gelöst.
Das könnte zu mehr und besserer Forschung und Lehre,
aber auch zu veränderten und besser vernetzten neuen
Strukturen in der Forschungslandschaft führen.
Selbstverständlich müsste ein entsprechendes Engagement von Wirtschaft und privaten Förderern für die Universitäten belohnt werden.
Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, die häufig diskutiert wurden. Aber leider erfolgt in unserem Land die Umsetzung häufig nur sehr zögernd. Auch die letzte Auseinandersetzung zwischen Frau Bulmahn und Herrn
Matschie über die Abschaffung der ZVS zeigt das: vor,
zurück, zur Seite, ran. Wir haben aber noch kein Ergebnis.
({13})
Im Übrigen sei mir gestattet, zum Abschluss darauf
hinzuweisen, dass die größte Schwäche von Deutschland
nicht das Finden von Forschungsergebnissen ist. Darin
sind wir nach wie vor exzellent und international sehr
anerkannt. Unsere Schwäche ist die Umsetzung von
Forschungsergebnissen in wirtschaftliche Nutzung.
({14})
Dieses Problem aber lösen wir nicht durch die Festlegung von Eliteuniversitäten. Das Problem lösen wir nur
durch kontinuierliche Verzahnung von Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und deren gemeinsame Verzahnung mit der Wirtschaft. Das muss flächendeckend passieren. Die fünf Leuchttürme, die wir
errichten wollen, werden das Ganze nur überstrahlen,
werden aber keine Tiefenwirkung haben.
({15})
Aber die Clusterbildung, die wir mit dem Bio-Regio-Wettbewerb unter Jürgen Rüttgers initiiert haben, die
wir in den CDU-geführten Ländern aufgenommen haben, die wir pflegen und die wir trotz der schwierigen
Rahmenbedingungen immer weiter voranzutreiben versuchen,
({16})
kann uns dort voranbringen. Dafür sind die neuen Länder ein gutes Beispiel; denn unsere neue Wirtschaft ist
nur aufgrund der direkten Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue Produkte auf den Stand gekommen,
auf dem sie heute ist.
({17})
Dieses Miteinander würden wir kaputtmachen, wenn
wir dem Vorschlag folgen würden, die gut gewachsene
Forschungslandschaft jetzt zu zerschlagen, also bestimmte Forschungseinrichtungen dem Bund und andere
den Ländern zuzuordnen.
({18})
Diese Strukturreformen würden die deutsche Forschungslandschaft nicht voranbringen.
({19})
Deshalb sage ich: Wir sollten die derzeitige Diskussion
offensiv führen und der Wissenschaftspolitik in unserem
Land neue Impulse geben. Dazu brauchen wir keine zentralen Vorgaben. Der föderale Wettbewerb der Länder
bietet genügend Chancen. Wir müssen sie nur nutzen.
({20})
Nun erteile ich der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Edelgard Bulmahn, das Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innovationen sind
der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes hängt wirklich
entscheidend von Bildung, Forschung und Wissenschaft
ab. Aber, liebe Frau Kollegin, es reicht nicht aus, das nur
zu beschwören. Man muss auch entsprechend handeln.
({0})
Die Bundesregierung macht genau das. Sie handelt.
({1})
Der Startschuss dafür ist am 15. Januar dieses Jahres gefallen. Gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und
Gewerkschaften hat die Bundesregierung die Initiative
„Partnerschaft für Innovation“ gestartet. Dabei müssen wir alle bereit sein, ausgetretene Pfade zu verlassen
und neue Wege zu gehen.
({2})
„Wasch mich, aber mach mich nicht nass“: Wenn man
nach dieser Devise vorgeht, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird sich in unserem Lande überhaupt nichts bewegen.
({3})
Deshalb, liebe Frau Schipanski, kann man auch nicht unter Hinweis auf den Föderalismus und Zuständigkeiten
notwendige Modernisierungen und Veränderungen in
unserem Land in Frage stellen und boykottieren. Das
geht nicht.
({4})
Lassen Sie mich ausdrücklich sagen: Jeder ist gefordert, einen Beitrag zum gemeinsamen Aufbruch zu leisten.
Frau Bulmahn, darf die Kollegin Pieper Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Das darf sie.
Vielen Dank, Frau Ministerin. - In Ihrer HumboldtRede haben Sie sich jüngst für mehr Autonomie der
Hochschulen in diesem Land ausgesprochen. Das habe
ich mit großem Wohlwollen gehört. Sie haben sogar gesagt, Sie wollten eine Novelle zum Hochschulrahmengesetz vorlegen und es auf zwei bis drei Seiten kürzen.
Wann legen Sie, Frau Ministerin, eine Novelle zum
Hochschulrahmengesetz vor? Wann können wir Ihren
Gesetzentwurf erwarten?
Das, liebe Frau Pieper, wird Inhalt des Gespräches
sein, das ich mit einigen Landesministern am 4. Februar
dieses Jahres führen werde.
({0})
Deshalb sage ich ausdrücklich: Es reicht nicht, das zu
beschwören.
({1})
Man muss es auch tun.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Hochschullandschaft Deutschlands kann sich sehen lassen. Wäre dem
nicht so, wären deutsche Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler bei amerikanischen
Forschungseinrichtungen und Unternehmen nicht so gefragt, wie sie es sind.
({3})
In der Breite sind wir stark. Aber wir brauchen auch
Spitzenuniversitäten, die internationale Strahlkraft haben, in die Menschen aus aller Welt gehen und dort
forschen wollen. Denn eines ist klar: Wir müssen international attraktiver werden. Wir müssen die Leistungsfähigkeit der Hochschulen in der Breite stärken. Aber wir
brauchen auch die Spitze.
({4})
In den letzten Jahren hat die Bundesregierung die
Hochschulen in der Breite gestärkt. Auch hier sage ich
ausdrücklich: Entscheidend ist das Handeln. Unter dieser Bundesregierung ist die Zahl der Studierenden um
ein Drittel gestiegen.
({5})
Unter dieser Bundesregierung sind die Studienförderung
erheblich verbessert, das BAföG reformiert und Bildungskredite geschaffen worden. Unter dieser Bundesregierung wurden die Mittel für die Hochschulen um
23 Prozent erhöht, unter der vorherigen wurden sie reduziert.
({6})
Zum Vergleich nenne ich Ihnen folgendes Beispiel: Das
Land Bayern, das sich ja immer selbst damit preist, sehr
viel für die Hochschulen zu tun, hat die Ausgaben für
Hochschulen um 2 Prozent erhöht. Wir haben sie im
gleichen Zeitraum um 23 Prozent erhöht.
({7})
Das ist der Unterschied zwischen Taten und Worten.
({8})
Spitzenförderung und Breitenförderung - lassen
Sie mich das ausdrücklich sagen - sind zwei Seiten einer
Medaille und lassen sich nicht gegeneinander ausspielen.
({9})
Es muss uns in Deutschland gelingen, aus unseren vorhandenen Stärken heraus Spitzenzentren zu entwickeln.
({10})
Deshalb habe ich immer so nachdrücklich gesagt: Spitzenuniversitäten können nicht per Dekret erlassen werden. Spitzenuniversitäten müssen sich im Wettbewerb
entwickeln.
({11})
Liebe Frau Schipanski, ich muss Ihnen ausdrücklich
sagen: Das ist das genaue Gegenteil von Planwirtschaft.
({12})
Ich wundere mich, dass Sie sich hier gegen diesen Wettbewerb aussprechen. Denn an anderer Stelle preisen Sie
den Wettbewerb zu Recht,
({13})
zum Beispiel in den Bereichen Bio-Regio und Inno-Regio. Genau das brauchen wir auch in der Wissenschaft.
Denn Wettbewerb ist ein Charakteristikum von Wissenschaft.
({14})
Im Übrigen stelle ich fest: Inzwischen will sich eine
große Zahl von Universitäten diesem Wettbewerb stellen. Deshalb wird auch für mehr Wettbewerb gesorgt.
Mir geht es um die Hochschulen, um die Universitäten
sowie um die Studierenden und um die Lehrenden an
diesen Einrichtungen. Ihnen möchte ich die notwendige
Unterstützung geben. Sie sollen eine Chance bekommen.
({15})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Ja.
Frau Ministerin, Sie könnten sehr zum Dialog und zur
problembezogenen Diskussion beitragen, wenn Sie zu
dem Vorschlag der Thüringer Wissenschaftsministerin
Stellung nehmen könnten, die gesagt hat, Sie sollten die
Mittel, die Sie für Ihren „Preisausschreibenwettbewerb“ eingeplant haben, besser der Deutschen Forschungsgemeinschaft - zusätzlich zu allen übrigen
Verpflichtungen des Bundes - zur Verfügung stellen. Ich
finde, das ist ein sehr wettbewerbsbezogenes Konzept.
({0})
Was sagen Sie zu dem Vorschlag der Thüringer Wissenschaftsministerin?
Ich treffe mich am 16. Februar mit den Präsidenten
der Forschungsorganisationen und der Hochschulrektorenkonferenz, um gemeinsam mit ihnen meinen Vorschlag zu erörtern. Natürlich werde ich gute Änderungsvorschläge von ihnen aufgreifen. Ich habe mit den
Präsidenten bereits gesprochen, bevor ich den Vorschlag
der Öffentlichkeit vorgelegt habe, habe ihre Meinungen
angehört und ihre Ratschläge eingeholt und diese in
mein Konzept eingearbeitet. So werde ich auch weiterhin verfahren.
Ich habe mit ihnen in dem damaligen Gespräch übereingestimmt, dass es richtig ist, dass ein Wettbewerb
ausgeschrieben wird, dass die Universitäten selber ein
Konzept entwickeln, mit dem sie in die Spitze vordringen wollen, und dass sie selber entscheiden, ob sie außeruniversitäre Forschungseinrichtungen oder die Wirtschaft integrieren. Unser gemeinsamer Wunsch war,
dass das jeweilige Bundesland, die Region und die Stadt
das Vorhaben ihrer Universität mit allen Kräften unterstützen. Darauf kommt es an.
({0})
Man wird dann feststellen können, ob die Worte mit den
Taten übereinstimmen.
Nun möchte der Kollege Lensing eine Zwischenfrage
stellen.
Gerne.
({0})
Die spontane Debatte, die sich in den ersten Reihen
unter einzelnen Kollegen abspielt, hat sicherlich einen
gewissen Reiz, entspricht aber nicht ganz den Formvorschriften unserer Plenardebatten.
Zu einer Zwischenfrage hat jetzt der Kollege Lensing
das Wort.
Zu dem, was der Kollege Kauder gesagt hat, erlaube
ich mir noch den Hinweis, dass das immer auch eine
Frage des jeweiligen individuellen intellektuellen Zuschnitts ist.
({0})
Frau Ministerin Bulmahn, der Vorstoß der SPD zur
Förderung von Eliten, von vielen als Paradigmenwechsel verstanden, wird, wenn man die Presse liest, vorrangig als populistisches Wendemanöver begriffen. Ich
frage Sie: Wie soll man diesen Aussagen einer Partei
glauben,
({1})
die früher aus primär ideologischen Gründen das Wort
Elite nicht einmal in den Mund nehmen wollte?
({2})
Darüber hinaus frage ich Sie: Liegt der Grund für die
allgemeine Nivellierung an Schulen und Hochschulen,
vor allem in Nordrhein-Westfalen, nicht zuletzt darin,
weil Sie keinen Unterschied zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit machen? Das Verfolgen
des Ziels der Chancengleichheit führte bekanntlich zur
allgemeinen Gleichmacherei, während die Chancengerechtigkeit die individuelle Kraft des Einzelnen fordert.
Herr Kollege, Ihre Frage bitte.
Können Sie mir in dieser Frage nicht uneingeschränkt
Recht geben - darauf steuern meine Aussagen hin, Herr
Präsident -, schließlich ist Leistung zu fordern human
und Leistung zu verweigern inhuman?
({0})
Frau Kollegin Bulmahn, bevor Sie die Frage freundlicherweise beantworten, darf ich einmal einen gut gemeinten Hinweis geben: Wie im Augenblick sicher der
Kollege Lensing, so empfinde auch ich es als schwer erträgliche Härte, dass die Geschäftsführer der jeweiligen
Fraktionen immer nur einen kleinen Teil der Kollegen
förmlich als Redner anmelden.
({0})
Ich kann aber nichts daran ändern und muss deswegen darauf hinweisen, dass Zwischenfragen so gestellt
werden müssen, wie es der Begriff zum Ausdruck bringt,
nämlich als Zwischenfragen. Es dürfen keine förmlich
nicht angemeldete Reden sein. - Bitte schön, Frau Kollegin.
({1})
Lieber Herr Kollege Lensing, ich sage ausdrücklich:
Unser Land braucht Leistungseliten. Was wir weniger
brauchen, sind Erbeneliten.
({0})
Vielleicht gibt es hier einen Unterschied zwischen unseren Auffassungen. Wir brauchen in unserem Land Leistungseliten und Leistungsträger.
Menschen sind sehr unterschiedlich. Deshalb ist es
eine ganz wichtige Aufgabe der Bildungspolitik, Sorge
dafür zu tragen, dass nicht ein einziges Talent in unserem Land verschüttet wird.
({1})
Ich denke, dabei nützt Ihr diffiziles Auseinanderdefinieren von Begriffen nur sehr wenig. Ich glaube, dass kein
Mensch in diesem Lande wirklich Spaß daran hat oder es
interessant findet, zu differenzieren und über den Unterschied zwischen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit zu diskutieren.
Im Kern geht es doch darum, dass die Kinder in den
Schulen nicht entmutigt werden dürfen, sondern dass sie
ermutigt werden müssen, ihre Talente zu nutzen und ihre
Fähigkeiten zu entwickeln. Dafür ist es notwendig und
wichtig, dass man die Kinder nicht frühzeitig sortiert,
einordnet und entmutigt und - deshalb dränge und bestehe ich so darauf - dass das Prinzip der individuellen
Förderung in unseren Schulen zum Kern des Unterrichtsgeschehens und auch zum Mittelpunkt des Geschehens in unserer Gesellschaft wird.
({2})
Wir müssen in unserem Land endlich wieder auch ein
Stück Bildungsoptimismus entwickeln; denn die Menschen können einfach viel mehr, als wir ihnen häufig zutrauen.
Das ist aus meiner Sicht der eigentlich notwendige
Klima- und Kulturwechsel, den wir in unserem Land
brauchen. Wir müssen begreifen, dass wir jedem Kind
eine Chance geben müssen. Wie dies geschieht, wird immer sehr unterschiedlich aussehen. Die individuelle Förderung, Ermutigung und Unterstützung müssen dabei
das A und O sein. Nur dann werden wir die Leistungseliten haben, die wir brauchen, um unser Land auch weiterhin nach vorne zu bringen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
den Spitzenuniversitäten zurückkommen. Ich habe vorhin gesagt, jede Universität entscheidet selbst, mit welchem Konzept sie in die Spitze vordringt. Die Besten
sollen nicht von Politikern, Beamten oder Ministerien,
sondern von einer international zusammengesetzten
Jury, einer Expertenkommission, ausgewählt werden.
Diese wählt die besten zehn Vorschläge in der ersten
Runde aus. Danach erhalten die Universitäten die notwendige Unterstützung, um die Entwurfsskizzen zu einem umfassenden Konzept auszuarbeiten. Aus diesen
ersten zehn ausgewählten Hochschulen und ihren Konzepten - nicht mehr Entwürfen - werden dann die besten
vier, fünf oder sechs Hochschulen ausgewählt.
Weil ich davon überzeugt bin, dass sich die Spitze, die
Elite immer wieder dem Wettbewerb stellen muss, werden wir nach vier Jahren eine weitere Runde durchführen. Es ist also kein starres, sondern ein offenes System,
sodass zum Beispiel auch die Hochschulen, die beim
ersten Mal noch nicht mitmachen können, eine Chance
erhalten.
({4})
- Frau Flach, der Bund wird den ausgewählten Universitäten 50 Millionen Euro pro Jahr geben. Fünf mal 50
sind 250. 250 Millionen Euro zusätzlich ist eine ganze
Menge Geld für unsere Hochschulen.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef
Fell ({5})
Das entspricht dem gesamten Jahreshaushalt einer sehr
großen Universität. Von daher können wir damit wirklich einen Schub in der Entwicklung von Universitäten
erreichen.
Spitzenuniversitäten sollen sich durch ein klares Profil in Wissenschaft und Forschung auszeichnen. Herausragende wissenschaftliche Leistungen, eine erstklassige,
an internationalen Standards orientierte Lehre und enge
Kooperationen mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft sind dabei wichtige
Kriterien. Auch eine gute Betreuung der Studierenden
und ein modernes Management machen Spitzenuniversitäten aus.
Darüber hinaus - darin stimme ich mit allen Rednern
überein - brauchen unsere Hochschulen die größtmögliche Autonomie. Sie müssen ihr Profil eigenständig bilden können. Dazu zählt für mich, dass die Hochschulen
die Möglichkeit erhalten, ihre Studierenden weitgehend
selbst auszusuchen.
({6})
Wie Sie wissen, verhandeln wir derzeit mit den Ländern über eine konsensfähige Lösung.
({7})
Wie Sie auch wissen, treten die einen Länder für eine
25-prozentige Quote und die anderen Länder für eine
50-prozentige Quote ein. Ich habe gesagt: Ich möchte,
dass der Anteil möglichst hoch ist. Aber wir müssen zu
einer vernünftigen Vereinbarung kommen, die praktikabel und gerecht ist.
({8})
Darüber müssen wir reden. Ich bitte alle Kollegen, die
sich hier geäußert haben, in ihren Parteien dafür Sorge
zu tragen, dass wir zu einem Ergebnis kommen; denn
ohne die Länder können wir nichts machen. Sie sind in
erster Linie gefragt.
({9})
Ich habe bereits mehrfach deutlich gemacht, dass ich
bereit bin, das Hochschulrahmengesetz wirklich gründlich zu entrümpeln. Aus meiner Sicht reichen zwei bis
drei Seiten Gesetzestext.
({10})
Dieser Text sollte nur noch das enthalten, was länderübergreifend geregelt werden kann. Das sind die Bereiche Zulassung, Abschlüsse, Dienstrecht und Qualitätssicherung. Mehr muss im Text nicht stehen.
({11})
Frau Flach, ich bin allerdings nicht so blauäugig, zu
glauben, wir müssten nur Regelungen streichen und
dann hätten die Hochschulen die Freiheit, die sie brauchen und die ich ihnen geben will. Vielmehr müssen wir
hier zu klaren Absprachen kommen, damit die Länder
ihre Hochschulen tatsächlich in die Freiheit entlassen.
({12})
Es hilft den Hochschulen überhaupt nichts, wenn der
Bund Vorschriften streicht - das haben wir im Übrigen
auch schon gemacht - und dann die Länder jeden Freiraum, den sie haben, wieder im Detail ausfüllen. Deshalb müssen wir zu klaren Vereinbarungen kommen.
({13})
Zur Zukunft der ZVS. Ich bin für jede Veränderung
der ZVS offen. Es bringt nichts, wenn von Journalisten
und auch hier behauptet wird, es gebe hier einen Dissens. Darüber gibt es keinen Dissens zwischen uns: Ich
bin für jede Veränderung der ZVS offen. Ich möchte allerdings darauf hinweisen: Die ZVS arbeitet auf der Basis eines Staatsvertrages zwischen den Ländern.
({14})
Der Bund ist nicht Mitträger dieser Einrichtung. Deshalb
müssen die Bundesländer untereinander zu einem Konsens kommen. Punkt.
({15})
Wirtschaft und öffentliche Hand haben die Investitionen in Forschung und Entwicklung seit 1998 von
2,3 auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht.
Hier müssen wir aber noch weiter zulegen, wenn wir das
Ziel, das die Regierungschefs der EU untereinander vereinbart haben, nämlich 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung bereitzustellen,
erreichen wollen.
({16})
Hierzu wünsche ich mir in diesem Parlament den Willen
aller Fraktionen, an der Erreichung dieses Ziel mitzuarbeiten. Das wird nicht einfach sein; das wissen wir. Wir
müssen es aber schaffen. Ich sage ausdrücklich: Es nützt
nichts, wenn es die Bundesregierung alleine macht. Die
Wirtschaft muss kräftig zulegen. Zwei Drittel der Mittel
müssen von der Wirtschaft aufgebracht werden.
({17})
- Sie muss auch weiterhin kräftig zulegen, Frau Flach.
Auch die Länder müssen deutlich aufstocken.
({18})
Wenn wir nämlich die Mittel erhöhen, aber die Länder
kürzen, wie das zum Beispiel das Land Niedersachsen
zurzeit massiv macht,
({19})
dann bringt das den Hochschulen überhaupt nichts.
Dann wird das für sie ein Nullsummenspiel.
({20})
Innovationen brauchen eine exzellente Forschungsbasis. Die Bundesregierung hat seit 1998 die institutionelle
Förderung deshalb erheblich gesteigert. Wissenschaft
benötigt darüber hinaus mittelfristige Planungssicherheit. Daher will ich den Forschungsorganisationen anbieten, ihnen genau diese mittelfristige Planungssicherheit zu geben.
Im Gegenzug erwarte ich die Bereitschaft zu Zielvereinbarungen wie mehr Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, mehr Vernetzung der außeruniversitären Forschung mit der Universität - die Forschung muss
wieder auf den Campus zurückkehren -, keine Auflösung und Veränderung der Forschungsorganisation, aber
mehr Brücken, Vernetzung und Internationalität sowie
mehr Wettbewerb innerhalb der Forschungsorganisationen. Darüber will ich mit den Präsidenten der Forschungs- und Wissenschaftsorganisationen am 16. Februar diskutieren.
({21})
- Ist das eine Frage oder nicht?
({22})
Kurz gesagt: ja zur Grundlagenforschung. Wir dürfen
uns nicht auf Innovationen als mehr oder minder zufällige Nebenprodukte der Forschung verlassen. Deshalb
werde ich die Projektförderung meines Ministeriums
auf Technologien, die neue Wachstumsfelder erschließen, und auf Basistechnologien, die als Wachstumstreiber in vielen Branchen wirken, ausrichten. Das sind die
Informations- und Kommunikationstechnologien, die
Nanotechnologien, die Biotechnologien, die optischen
Technologien und die Umwelttechnologien, die auch
eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend ist immer,
dass das Wissen gezielt genutzt wird. Was die Forscher
entdecken, muss schnell in marktfähige Produkte umgesetzt werden. Das setzt auch neue Formen der Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft voraus,
die neben die klassischen Verbundvorhaben getreten
sind.
Möchten Sie, um die inzwischen abgelaufene Redezeit zu verlängern, eine Zwischenfrage zulassen?
Ja, ich gestatte alle Fragen.
Bitte schön, Herr Kollege Kretschmer.
Frau Ministerin, ich möchte Sie gerne nach Deutschland - in das von heute - zurückholen. Sie sprechen gerade über Projektförderung und mittelfristige Planungssicherheit. Wir sehen, dass an allen möglichen Stellen
gekürzt wird. Ich nenne das Programm FUTOUR, das
wegfällt. Es ist das einzige Programm, das technologieorientierte Unternehmensgründungen aus Hochschulen
heraus, von denen Sie gerade gesprochen haben, ermöglicht.
({0})
„Pro Inno I“ ist im vergangenen Jahr ausgelaufen. Das
neue Programm ist noch nicht angelaufen. Viele Fachprogramme Ihres Hauses laufen nicht mehr weiter. Anträge werden nicht angenommen. Bei uns stapeln sich
die Briefe der Unternehmer, die forschen möchten. Wie
passt es zu dem, was Sie gesagt haben, wenn diese Fachprogramme wegen der globalen Minderausgabe oder aus
welchen Gründen auch immer reduziert werden und
keine neuen Anträge angenommen werden?
({1})
Lieber Herr Kollege, die programmbezogene, projektorientierte Forschungsförderung, die ein Weg der
Forschungsförderung neben der Förderung der Forschungsorganisation und der Deutschen Forschungsgemeinschaft darstellt, ist unter dieser Bundesregierung
ebenfalls verstärkt worden. Wir haben auch die Forschungsförderung zum Beispiel der DFG und der MPG
deutlich gesteigert.
({0})
Die programmbezogene Projektförderung, auf die Sie
sich beziehen, ist gegenüber derjenigen unter der CDU/
CSU-geführten Bundesregierung um 1,1 Milliarden
Euro gestiegen.
({1})
Man muss sich schon mit den Fakten auseinander setzen.
Das gehört auch zur Bildung.
({2})
Damit haben wir es geschafft, dass deutlich mehr
kleinere und mittlere Unternehmen an unseren Programmen partizipieren. Ich sage ausdrücklich, dass ich in diesem Jahr in einigen Bereichen der Programmförderung
auch kürzen musste. Deshalb habe ich hier nachdrücklich gesagt, dass wir in den kommenden Haushaltsjahren
wieder mehr Mittel in Bildung und Forschung investieren müssen. Daran geht kein Weg vorbei.
({3})
Wir müssen das schaffen, damit unsere Wissenschaftler,
aber auch die Forschungseinrichtungen und vor allem
die Unternehmen die Chance haben,
({4})
mit neuen Produkten, neuen Verfahren und neuen
Dienstleistungen wieder Märkte zurückzuerobern.
Das ist uns in zwei Bereichen gelungen, lieber Herr
Kollege Kretschmer. Es ist uns zum Beispiel bei der
Chipmaskentechnologie gelungen. Amerikanische Unternehmen haben ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen wieder nach Deutschland verlagert.
({5})
Vor fünf Jahren hätte niemand hier im Hause geglaubt,
dass das geschehen könnte.
({6})
Wir haben das geschafft. Sie waren dabei und wissen es.
Wir haben es in der Lasertechnik geschafft. In wichtigen Bereichen - ich nenne Industrielaser und Systemlaser - sind wir wieder Weltspitze. Hier haben wir einen
Weltmarktanteil von 40 Prozent. In diesem Sektor arbeiten mittlerweile 50 000 Beschäftigte.
Was die Gründungen von Unternehmen der Biotechnologie und die Zahl der Unternehmen betrifft, sind wir
in Europa an der Spitze. Damit das so bleibt und wir
diese Wachstumsentwicklung aufrechterhalten können,
brauchen wir auch in den kommenden Jahren wieder
mehr Geld für Forschung.
({7})
Ich werde deshalb die Forschungsförderung noch stärker
auf eine Missionsorientierung ausrichten. Das könnte
zum Beispiel „Alzheimer 2010 besiegen“ sein. Das ist
eine solche Missionsorientierung.
({8})
Entscheidend ist immer, dass die Wissenschaft um den
besten Weg zur Erreichung des Ziels konkurriert und
dies an klar definierten Meilensteinen überprüft wird.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich könnte noch vieles
ausführen, aber ich muss jetzt zum Ende kommen.
Ich wünsche mir, dass das Parlament häufiger über
Forschung und Entwicklung diskutiert
({9})
und dass bei allen auch der Wille vorhanden ist, zu handeln. Denn wir haben eine Menge zu bieten und wir können vieles leisten. Richtig ist aber auch, dass andere Länder ebenfalls viel leisten. Deshalb kommt es darauf an,
gemeinsam die Innovationsfähigkeit unseres Landes zu
verbessern.
Vielen Dank.
({10}) -
Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war
doch ganz anders als dieser kritische Kram der
CDU/CSU!)
Bevor ich der Kollegin Marion Seib das Wort erteile,
bitte ich alle Kollegen, die sich noch zu Zwischenfragen
gemeldet hatten, um Nachsicht, dass ich das nach Ablauf
der Redezeit nicht mehr berücksichtigen kann, selbst
wenn der jeweilige Redner oder die jeweilige Rednerin
durchaus Interesse an der Zulassung weiterer Zwischenfragen haben könnte.
Nun hat die Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! „Die Handlungen der Menschen leben fort in
den Wirkungen.“
({0})
- Donnerwetter! Dieser Satz von Gottfried Wilhelm
Leibniz setzt die Überschrift über das derzeit notwendige Handeln in der Hochschul- und Forschungspolitik.
Wenn es darum geht, die Ressourcen von Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, kleinund mittelständischen Unternehmen und auch der Großindustrie zu bündeln und gegenseitig nutzbar zu machen,
dann spielen vor allem Kompetenzzentren oder Hightech-Cluster eine wichtige Rolle.
Die Verknüpfung des Know-hows unterschiedlicher
Akteure und deren interdisziplinäre Zusammenarbeit hat
sich als Innovationsschmiede bestens bewährt. Wir tun
das.
({1})
Wir in Bayern können dabei auf bereits bestehende und
erfolgreiche Kräfteverbünde verweisen, wie im fränkischen Erlangen-Nürnberg im Bereich Material-, Laseroder Medizintechnologie oder im oberbayerischen Martinsried, wo sich in der Umgebung des Genzentrums der
Universität München zahlreiche Unternehmen der so genannten Roten Biotechnologie angesiedelt haben. Wir
wollen keine Elite-Inseln, sondern ein flächendeckendes Qualitätsnetz in Länderzuständigkeit. Jede Hochschule muss in den Bereichen ihres unverwechselbaren
Profils eine Spitzenstellung im internationalen Wettbewerb einnehmen können.
({2})
Das Elitenetzwerk Bayern verknüpft die besten Module der bayerischen Hochschulen nach einem strengen
Auswahlverfahren zu Elitestudiengängen und internationalen Doktorandenkollegs. Statt weniger Qualitätszellen
wollen wir ein weites Qualitätsnetz.
({3})
Aufgrund der Experimentierklausel im bayerischen
Landeshochschulgesetz hat sich die Technische Universität München mit ihrem besonders technikorientierten
Profil als außerordentlich reformfreudig erwiesen. Sie
erprobt neue Organisationsmodelle und lässt diese auch
regelmäßig evaluieren.
In Weihenstephan zum Beispiel ist ein international
hochrangiges Kompetenzzentrum in den Bereichen Ernährung, Landnutzung und Umwelt entstanden. In Garching, Herr Matschie - er ist nicht mehr im Saal -, ist
auf der grünen Wiese ein Campus für moderne Hightechforschung entstanden. Es wurde ein Technologiezentrum von Weltrang geschaffen, das auch zur Ansiedlung
des Forschungszentrums von General Electric führte.
Beim Ausbau der Fakultäten für Maschinenwesen, für
Informatik und Mathematik wurden neue Finanzierungsmodelle gefunden.
Mit den 50 Millionen Euro aus der bayerischen Hightechoffensive, dem Wissenstransfer in die Wirtschaft sowie mit einer laufenden Evaluation wurde die Gestaltung
und Vernetzung auf Länderebene ermöglicht.
({4})
Das brauchen wir auch auf Bundesebene;
({5})
denn in einem Elitenetzwerk kommen viele zum Zug.
Es wurden Anträge aus der Geisteswissenschaft, Neurowissenschaft, Mathematik, Physik, Ökonomie, Recht,
Geowissenschaften und Biomedizin vorgelegt. Derzeit
liegen 29 Anträge vor. Drei wichtige Punkte werden dabei besonders gewertet: neue Formen der Studenten- und
Doktorandenbetreuung, der hohe Grad an internationaler
Vernetzung und der deutliche Wille zur Zusammenarbeit
mit anderen Hochschulen.
Die Beispiele zeigen, dass sich die Hochschulen hervorragend in der Freiheit bewegen und bewähren können.
({6})
Deshalb gilt es, den Hochschulen und den Ländern die
Freiheiten zu bieten, die für die Weiterentwicklung,
Konkurrenzfähigkeit und eine exzellente Forschung und
Lehre wichtig sind.
({7})
Frau Ministerin, offensichtlich haben Sie erkannt,
dass mit staatlicher Gängelung kein Staat zu machen ist.
Aber Ihre Struktureingriffe sind komplett falsch.
({8})
Sie versuchen nun, den an den Hochschulen entstandenen Brand mit Benzin zu löschen. Sie wollen die Mittel,
die Sie dem Hochschulbau entziehen, für wenige einsetzen.
({9})
Die in der Fläche vorhandene, aber von Ihnen ignorierte
Exzellenz wird weiter darben. Offensichtlich wollen Sie
sich aus dem Hochschulbau zurückziehen, indem Sie die
Mittel kontinuierlich zurückfahren.
({10})
Auch wenn Sie bei den Politikern der Union Uneinigkeit
zu konstruieren versuchen, unsere Linie ist klar:
({11})
Entweder halten Sie an der Gemeinschaftsaufgabe im
Hochschulbau fest und stellen kontinuierlich und zuverlässig die entsprechend dynamisierten Mittel zur Verfügung oder Sie verabschieden sich aus der Gemeinschaftsaufgabe und stellen die anteiligen Bundesmittel
für den Hochschulbau den Ländern zur Verfügung, und
zwar in vollem Umfang und dynamisiert.
({12})
Im Hinblick auf die derzeit bis zu einem Jahr dauernden
Genehmigungsverfahren wäre das schlichtweg die bessere Alternative.
({13})
Wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie sich
für alles zuständig erklären, dass Sie aber die notwendige Finanzausstattung ständig zurückführen oder zeitlich begrenzen.
({14})
Wir lassen es Ihnen ebenfalls nicht durchgehen, wenn
Sie sich nach bekanntem Muster in Länderkompetenzen
einzukaufen versuchen. Verabschieden Sie sich nicht nur
von der ZVS in ihrer heutigen Form, sondern auch vom
Studiengebührenverbot und von einem viel zu fett gewordenen Hochschulrahmengesetz.
({15})
Die Länder und die Hochschulen werden unter den
Leitzielen Eigenverantwortung, Wettbewerb und Qualitätssicherung sowie unter Beachtung des Grundsatzes
der Berufsfreiheit,
({16})
wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, das
schaffen, was Sie sich so sehnlichst wünschen: exzellente Forschung und Lehre auch für die von Ihnen nicht
per Preisausschreiben gefundenen 300 Hochschulen der
Republik.
Besten Dank.
({17})
Ich bedanke mich auch für die vorbildliche Unterbietung der Redezeit, was außerordentlich selten vorkommt.
Nun hat das Wort der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dieses Jahr soll das Jahr der Innovationen werden.
({0})
Nein, dieses Jahr muss das Jahr der Innovation werden.
({1})
Denn sonst verlieren wir den Anschluss. Schweden und
Finnland haben es vorgemacht. Sie haben eine erfolgreiche Bildungspolitik und investieren vor allem viel mehr
Geld in Forschung und Entwicklung, als wir das tun.
Auch die steuerlichen Rahmenbedingungen zum Beispiel für Venture Capital sind dort besser als bei uns.
Wir haben in diesem Jahr die Chance, eine Aufbruchstimmung zu erzeugen. Dafür müssen wir aber auch die
Weichen stellen. Innovation muss zwar das wichtigste
Thema sein - das haben wir bereits erreicht -, aber wir
müssen auch handeln. Wir werden dabei darauf angewiesen sein, dass Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, an diesem Strang mitziehen und keine wichtigen Reformen blockieren.
({2})
Wir werden sowohl im Bund als auch in den Ländern
sehr viel Geld umschichten müssen. Weg von den Subventionen für Schädliches und Verkrustetes hin zu Forschung und Entwicklung sowie zu einem besseren Steuerrecht vor allem für junge, innovative Unternehmen!
({3})
Die Union hat im Bundestag Anträge vorgelegt, die
darauf abzielen, die steuerlichen Rahmenbedingungen
für innovative Unternehmen zu verbessern. CDU und
CSU präsentieren aber derzeit alle paar Tage ein neues
Steuerkonzept. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle raten:
Arbeiten Sie das, was Sie in Ihren Anträgen fordern, erst
einmal in Ihre Steuervorschläge ein. Das haben Sie bisher versäumt. In Ihren Steuervorschlägen lässt sich
nichts dazu finden.
Wer an Steinkohlesubventionen, an der Förderung des
Agrardiesels, an der Entfernungspauschale oder an der
Eigenheimzulage festhält und gleichzeitig die Aufstockung der Mittel für Bildung, Forschung und Entwicklung verwehrt, sägt an der Zukunft dieses Landes. Leider
haben Sie sich von der Union im Vermittlungsausschuss
- teilweise sogar mit Erfolg - um die Konservierung der
alten Strukturen bemüht, statt eine Offensive für Bildung
und Forschung einzufordern. Ihre heutigen Forschungsvorschläge greifen zudem viel zu kurz und gehen sogar
in die falsche Richtung. Wir können ihnen nicht zustimmen.
({4})
Ein Wettbewerb der Hochschulen - von Frau
Bulmahn vorgeschlagen - kann, richtig gestaltet, eine
positive Dynamik auslösen. Aber was helfen denn die
vom Bund eingestellten Millionen, wenn in den Ländern
im gleichen Zeitraum das entsprechende Geld eingespart
wird? Frau Seib, Sie haben das bayerische Modell mit
guten Maßnahmen für Bildung und Forschung vorgeschlagen.
({5})
Waren Sie letzte Woche in Würzburg, als Studenten
beim Besuch von Herrn Minister Goppel auf die Straße
gegangen sind, um gegen die massiven Kürzungen im
bayerischen Landeshaushalt zu protestieren? Dieses Modell wollen wir nicht haben. Sie haben hier ein schlechtes Beispiel geliefert. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({6})
Zur Reform des Hochschulrahmengesetzes möchte
ich hier nur so viel sagen: Sie ist zwingend notwendig;
aber Bund und Länder müssen gemeinsam erklären, wie
es weitergehen soll. Diesen Prozess hat Ministerin
Bulmahn begonnen. Aber es kann nicht sein, dass sich
der Bund zurückzieht, um den Hochschulen die von uns
Grünen schon lange geforderte Autonomie zu geben;
denn dann kommen die Länder und regeln alles selbst
wieder genauso wettbewerbsfern wie bisher.
Wenn wir das Thema Innovationen ernst nehmen
- wir müssen es tun -, dann müssen wir in den nächsten
Jahren im Bund und in den Ländern einige Milliarden
Euro hin zu Bildung und Forschung umschichten. Wir
müssen das Geld so umschichten, dass für die Wirtschaft
deutliche Anreize geschaffen werden, dabei mitzumachen. Vor allem muss deutlich mehr Kapital für Innovationen in der Wirtschaft bereitgestellt werden. Aber es
gilt auch: Geld allein wird nicht reichen. Das heißt, wir
brauchen ein Klima, in dem mehr Mut entsteht, neue
Ideen zu entwickeln, zuzulassen und umzusetzen. Wir
brauchen nicht, wie Bush vorschlägt, neue Astronauten
auf dem Mond oder auf dem Mars. Wir brauchen Ideen,
wie die Probleme auf diesem Planeten gelöst werden
können.
({7})
Wir brauchen Unternehmer und Wissenschaftler, die daran arbeiten, und wir brauchen eine Politik, die den Weg
dazu frei macht. Wir brauchen Leitvisionen, die die Gesellschaft mitreißen und Innovationen hervorrufen.
Eine solche Leitvision kann die Problemlösung für
die alternde Gesellschaft sein. Wir Deutschen werden
immer älter und müssen gleichzeitig innovativer werden.
Es muss uns gelingen, die damit verbundenen Herausforderungen zu bewältigen, indem wir neue Dienstleistungen, neue Technologien und neue Medikamente entwickeln. Deutschland als alternde Gesellschaft muss die
Demenz sehr ernst nehmen. Wir wollen Alzheimer besiegen oder wenigstens stark zurückdrängen.
Eine zweite Leitvision ist das solare Zeitalter. Wir
müssen uns darauf einstellen, dass die Erdölressourcen
knapp werden und dass wir eine vollkommen neue Energieversorgung benötigen. Der Klimaschutz verbietet ein
Ausweichen auf die Kohle. Folglich brauchen wir eine
Vision des solaren Wirtschaftens für die Energie- und
Stoffwirtschaft. Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, setzen stattdessen auf alte, von der Mehrheit
der Gesellschaft längst abgelehnte Technologien wie
Kernenergie oder gentechnisch veränderte Lebensmittel.
Beides wird von 80 Prozent der Bürger abgelehnt. Sie
lehnen Reformen wie REACH ab, die der chemischen
Industrie neue, große Chancen für umweltfreundliche
Innovationen gibt. Sie beharren stattdessen auf der jetzigen Altstoffverordnung, die in den letzten 20 Jahren
kaum neue Stoffe entwickeln ließ. Daran erkennt man
Ihre Innovationsfeindlichkeit.
Wir setzen dagegen auf eine Innovationsoffensive, die
Techniken befördert, die eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz haben, wie die Biotechnologie für neue Treibstoffe, für Solartechniken, für neue Dienstleistungen in
der Gesellschaft.
({8})
Wir wollen die Menschen mitreißen und ihnen Mut zur
Arbeit an der Lösung der ökologischen und sozialen Probleme geben. So schaffen wir gleichzeitig Arbeitsplätze.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
Bereits im Jahr 1990 stellte Professor Simon, der damalige Präsident des Wissenschaftsrates, dem Hochschulsystem der Bundesrepublik ein schlechtes Zeugnis
aus. Er sagte: „Das Hochschulsystem der Bundesrepublik ist im Kern verrottet.“ Jetzt, 14 Jahre später, reagiert
die SPD mit dem Vorschlag, Eliteuniversitäten zu
fördern. Angeblich war es eine Idee von Herrn
Müntefering: Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuniversitäten!
({0})
Wenn wir hier über Wissenschaftssysteme reden, sollten wir klar unterscheiden, was wir als Tribut an die
Eventkultur betrachten und was langfristig wissenschaftspolitisch erreicht werden soll. Ich finde, Sie sollten sich weniger von Herrn Henkel oder von den Programmdirektoren von RTL oder SAT 1 beeinflussen
lassen, sondern einfach einmal in eine seriöse Statistik
schauen.
({1})
Die OECD hat für ausgewählte Länder eine schöne
Übersicht über die Studienanfängerquote vorgelegt.
Neuseeland liegt mit 75,8 Prozent auf Platz 1, Deutschland auf Platz - Sie dürfen raten - 23. Unser Nachbarland Polen zum Beispiel liegt auf Platz 4 und Ungarn auf
Platz 8. Schon allein aufgrund dieser Zahlen ist Ihre Idee
von Eliteuniversitäten der Lächerlichkeit preisgegeben.
Wir werden in Deutschland nur dann Spitzenkräfte
hervorbringen können, wenn wir einen breiten Zugang
zur Bildung ermöglichen. Doch davon sind wir weit entfernt. Die kürzlich veröffentlichte IGLU-Studie hat das
wieder einmal untermauert. In unserem Land studieren
nicht zu viele Menschen, sondern zu wenige und ihr Lebensweg wird sehr früh, bereits in der Grundschule, festgelegt. Hinzu kommt, dass sich in der Bundesrepublik
die wenigen Studenten noch weniger Studienplätze teilen müssen. Doch dieses Problem wollen Sie offenbar
gar nicht lösen. Sie wollen einen Bruchteil dieser Studenten besser stellen als den Rest und hoffen, so eine
Elite bilden zu können.
({2})
Ich denke, das wird nicht funktionieren. Das ist leider
der falsche Weg.
Mich erinnert das ein bisschen an den Transrapid. Sie
finanzieren mit sehr viel Steuergeldern einen Schnellzug, der nicht mit dem Schienensystem in unserem Land
kompatibel ist. Sie sind offensichtlich zufrieden, wenn
ein Hochleistungszug im Emsland im Kreis herum fährt,
die Bürger aber weiter auf verspätete Züge der Deutschen Bahn warten müssen. Mit solchen kurzatmigen
Brain-up-Initiativen werden Sie das Wissenschaftssystem auf Dauer nicht stärken; Sie werden es weiter
schwächen, weil Sie nämlich eine Illusion verkaufen.
Wir sollten lieber über die vorhandene Spitzenforschung in der Bundesrepublik reden. Aufgrund der im
letzten Jahr stagnierenden Finanzierung kam es bei der
Max-Planck-Gesellschaft - Herr Tauss ist ja Experte für
die Max-Planck-Gesellschaft ({3})
- meint er, das war von mir auch nicht ganz ernst gemeint; Sie kennen ja die Auseinandersetzung zwischen
uns - zur Streichung von einem Drittel der selbstständigen Nachwuchsgruppen. Ich frage mich: Was machen
Sie denn mit den Elitestudenten nach der Uni, wenn die
Zahl der Stellen für die Spitzenforschung in den Forschungsorganisationen stagniert oder sogar rückläufig
ist? Frau Bulmahn, Sie sollten die vorhandene Spitzenforschung fördern und den Wissenschaftsorganisationen
eine längere Planungssicherheit geben. Das wäre eine
wirklich gute und nachhaltige Wissenschaftspolitik.
Nun noch ein Wort zum Kanzler Gerhard Schröder.
Die „FAZ“ schreibt am 27. Januar, 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts flössen jährlich in die ostdeutschen Länder. Herr Schröder wird zitiert - ich zitiere mit Erlaubnis
des Präsidenten -:
Ich wage mir gar nicht auszudenken, was wäre, hätten wir auch nur zehn Prozent davon für die nationale Forschung …
Abgesehen davon, dass hier wieder einmal der Eindruck
vermittelt wird, das Geld sei für den Osten eigentlich zu
schade, ist es doch gerade Sache des Bundeskanzlers, etwas dafür zu tun, damit mehr Geld aus dem Solidarpakt II für Wissenschaft und Forschung im Osten
ausgegeben wird. Denn gerade im Osten brauchen wir
überproportional viel Wissenschaft und Forschung und
wir brauchen dringend Spitzenforschung.
({4})
Ich kann das auch begründen.
Erstens. Von der Abwicklung von Wissenschaft und
Forschung nach der Wende haben sich die Industrieforschung, die Universitäten und die außeruniversitäre Forschung noch nicht erholt. Auf 1 000 Einwohner kommt
nur noch ein Wissenschaftler. Das ist eine dramatisch
niedrige Zahl.
Zweitens. Ich denke, alle müssten inzwischen erkannt
haben, dass mit Lausitzring und Vergnügungspark der
Osten nicht zu retten ist, sondern nur durch langfristig
wirkende Ansiedlung von Spitzenforschung, zum Beispiel von Max-Planck-Instituten.
Drittens. Wenn wir die Jugend im Osten halten wollen, dann müssen wir Wissenschaft und Forschung im
Osten ansiedeln, um kreativem wissenschaftlichen
Nachwuchs auch hier eine Chance zu geben.
Mein Vorschlag lautet also: Frau Bulmahn, legen Sie
ein Wissenschaftsprogramm für die neuen Länder auf,
treffen Sie eine Vereinbarung mit den Ländern, die sicherstellt, dass mehr Geld aus dem Solidarpakt II in Bildung, Wissenschaft und Forschung fließt. Für ein solches Programm und für eine solche Unternehmung
hätten Sie auch die volle Unterstützung der PDS im
Bundestag.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Hoffmann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich
will mich auf einige Anmerkungen zum Zusammenhang
von Innovation, Forschung und Entwicklung sowie
Wirtschaftspolitik konzentrieren, die in der bisherigen
Diskussion vielleicht noch nicht in angemessenem Umfang einbezogen worden sind.
Erlauben Sie mir einen persönlichen Einstieg. Ich
habe in meinem Bekanntenkreis eine Reihe von Personen, die auf dem chinesischen Markt beruflich tätig sind.
Sie investieren dort, verkaufen Produkte und Dienstleistungen und nutzen alle Chancen, die sich in der Volkswirtschaft des größten Landes der Erde ergeben. Wenn
wir zusammenkommen, berichten sie von den Erfahrungen, die sie dort machen. Diese Erfahrungen sind aus
meiner Sicht für unsere Diskussion zur Modernisierung
unseres Landes von großer Bedeutung.
Sie berichten zum Beispiel, dass in China eine Arbeitsstunde 2,50 Euro kostet und dass die Menschen dort
häufig bereit sind, für diesen Preis rund um die Uhr zu
arbeiten. Wir alle wissen, dass unsere Unternehmen,
Produkte und Dienstleistungen, aber auch die Arbeitnehmer mit chinesischen Unternehmen, Produkten und
Dienstleistungen sowie Arbeitnehmern konkurrieren.
Uns allen ist auch klar, dass wir mit Lohnkosten in Höhe
von 2,50 Euro in der Stunde nicht konkurrieren können
und nicht konkurrieren wollen.
Dennoch sind diese Personen auf dem chinesischen
Markt erfolgreich. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ein ganz entscheidender Faktor ist, dass sie über
eine gute Ausbildung, auch im Vergleich zu chinesischen Arbeitnehmern oder Unternehmern, verfügen. Ein
weiterer Faktor ist, dass sie hoch qualifizierte Mitarbeiter haben, die ebenfalls gut ausgebildet sind. Ein anderer
Faktor ist, dass sie auf dem chinesischen Markt qualitativ hochwertige innovative Produkte vertreiben, die mit
moderner Spitzentechnologie erzeugt werden.
({0})
Ihre Stärke heißt - um es einmal ein bisschen plakativ zu
sagen -: Innovation. Innovation faktisch als Motor für
die Entwicklung dieser Produkte, die dann auf dem chinesischen Markt abgesetzt werden.
Wir alle wissen, dass Deutschland im 20. Jahrhundert
eines der innovativsten Länder der Welt in den Bereichen Technik, Naturwissenschaft und Forschung war.
Wir sind in vielen Bereichen - das ist von vielen Vorrednern schon gesagt worden - nach wie vor vorn. Das belegen nicht nur unsere eigenen Zahlen, sondern auch objektive Studien, zum Beispiel von der Prognos AG; eine
Studie wurde erst vor wenigen Tagen veröffentlicht.
Die Stärken Deutschlands liegen auch - nicht nur - in
der Automobilindustrie, in der Chemieindustrie, im
Werkzeugmaschinenbau und in der Biotechnologie. Das
sind einige wichtige Innovationsbranchen in unserem
Land.
Die Automobilindustrie ist weltweit wohl die innovativste Branche überhaupt. Sie hat ihre Forschungsausgaben in den letzten zehn Jahren deutlich erhöht. In vielen Bereichen, in der Motorentechnik, in der Elektronik,
bei den Sicherheitsstandards, sind wir führend. Darauf
sollten wir und darauf können wir auch stolz sein.
Die chemische Industrie ist der Innovationsmotor in
Deutschland. Ein Großteil der Neuentwicklungen der
chemischen Industrie hat entscheidende Bedeutung für
Prozesse in anderen Branchen, übrigens auch in der Automobilindustrie.
Vorhin ist die Lasertechnik genannt worden. Sie ist
ein Beispiel aus dem Werkzeugmaschinenbau. Jede
fünfte Werkzeugmaschine der Welt kommt aus Deutschland. Die zehn größten Werkzeugmaschinenhersteller,
die größten Unternehmen dieser Branche, sind deutsche
Unternehmen. Ihre Innovationen haben entscheidenden
Anteil an den Innovationen fast aller anderen Branchen.
({1})
Ich hatte am Rande eines Neujahrsempfangs Gelegenheit, mit einem Wissenschaftler der Gesellschaft für
Schwerionenforschung zu sprechen. Er kam nach seiner
Rede auf mich zu und sagte: Herr Hoffmann, wir haben
fast so viele oder sogar mehr Patente als die Vereinigten
Staaten. Darauf können wir stolz sein. Wir sollten das offensiv und selbstbewusst nach außen vertreten.
({2})
Ich habe das deshalb gesagt, weil vorhin Frau Reiche
dieses Horrorszenario gebracht hat. Uns allen ist doch
klar, denke ich, dass Innovationen nicht allein durch
mehr Geld kommen;
({3})
sie hängen mit einem innovationsfreundlichen Klima zusammen. Daran haben auch die Meinungsträger des Deutschen Bundestages einen ganz entscheidenden Anteil.
({4})
Die positive Entwicklung in der Biotechnologie ist
bereits geschildert worden. Darauf einzugehen kann ich
mir hier sparen.
Die Prognos AG befasst sich auch mit der Frage: Wie
könnte es möglicherweise im Jahr 2020 aussehen? Auch
da sieht es gut aus. Sie sagt: Wir werden eine wichtige
Rolle als Hochtechnologieland spielen - aber nur dann,
wenn bestimmte Weichenstellungen vorgenommen werden.
({5})
Walter Hoffmann ({6})
Nur dann bleiben wir an der Spitze, nur dann werden wir
den Wohlstand in unserem Land erhalten. Das bedeutet
im Grunde genommen: Wir müssen die Bedingungen für
Innovationen und Investitionen verbessern, das Problem
der Alterung unserer Gesellschaft in den Griff bekommen, Staat und Gesellschaft modernisieren und Forschung und Bildung stärker fördern, als wir es heute tun.
({7})
Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit; damit
ich nicht missverstanden werde. Das ist gar nicht das
Thema. Die anderen haben nicht geschlafen, sie sind
besser geworden. Wir müssen somit hart daran arbeiten,
dass wir den Vorsprung in den Bereichen, wo wir spitze
sind, aber auch in anderen Bereichen halten. Das geschieht auch. Wir brauchen neue innovative Produkte
und Verfahren mit hoher Qualität, kluge Lösungen bei
wettbewerbsfähigen Lohnkosten und eine Verbesserung
der Standortbedingungen.
Im Jahre 2003 haben wir wichtige Voraussetzungen
geschaffen. Viele Diskussionen, die hier liefen, konzentrierten sich auf die Agenda 2010. Viele Schwerpunkte
betreffen in der Tat den Umbau der sozialen Sicherungssysteme. Aber darum ging es ja nicht alleine. Viele konkrete Schritte, die wir mit der Agenda 2010 beschlossen
haben, betrafen den wirtschaftspolitischen Rahmen und
verbesserten die Möglichkeiten für Innovationen: Senkung der Steuern, Förderung der Gründung von Unternehmen, Abbau hemmender Regelungen. Trotz des
Sparkurses haben wir die Investitionen des Bundes in
Forschung und Entwicklung gestärkt. Wir sind dabei
dem Ziel, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu
drücken, ein Stück näher gekommen. Im steuerlichen
Bereich haben wir einen großen Schritt gemacht. Wir
wollten noch weiter gehen; Sie haben es blockiert. Nun
gut, wir werden weiter daran arbeiten.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch einmal
deutlich sagen: Ohne soziale Sicherheit und ohne sozialen Ausgleich, ohne Solidarität der Starken mit den
Schwachen werden nur wenige die Chance haben, Wissen zu erwerben und zu Innovationen beizutragen. Anders ausgedrückt: Die Erhaltung unseres Sozialstaates ist
wichtiger Bestandteil einer zukunftsgerichteten Wirtschaftspolitik und Voraussetzung für Innovationen. Hier
besteht aus meiner Sicht ein ganz entscheidender Zusammenhang, der häufig nicht ausreichend berücksichtigt wird. Umgekehrt gesagt: Ohne Innovationen gibt es
kein Wachstum und keine soziale Sicherheit. Wir brauchen daher mehr Investitionen - das wurde bereits gesagt - in Wirtschaft und Staat. Wir brauchen eine bessere
Innovationsförderung. Diese muss sich vor allen Dingen
auf kleine und mittlere Betriebe konzentrieren. Wir müssen auch die berufliche Ausbildung verbessern - das ist
ein entscheidender Standortvorteil -, benachteiligten
Gruppen besseren Zugang zu Bildung ermöglichen und
für mehr Kinderfreundlichkeit durch bessere Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen.
Da wird eine ganze Menge getan. Wir haben Milliarden
investiert; diese bleiben aber häufig bei den Ländern
hängen und werden nicht zur Umsetzung von Maßnahmen verwendet.
({8})
Lassen Sie uns auch gemeinsam daran arbeiten, das
Potenzial älterer Arbeitnehmer zu reaktivieren. Wir sollten nicht darauf stolz sein, wenn wir ältere Arbeitnehmer
möglichst frühzeitig, schon mit 50, 51, 52 Jahren, nach
Hause schicken.
({9})
Dieses enorme Potenzial sollten wir mittel- und langfristig auch für Innovationen nutzen.
Wir brauchen eine bessere Verzahnung von Forschung und Unternehmen zur schnelleren Entwicklung
marktreifer Produkte; damit gäbe es auch mehr Weltmarktpatente aus Deutschland.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Abschließend lassen Sie mich noch sagen: Ein wichtiger Punkt ist Bürokratieabbau, denn kleinere und mittlere Betriebe, die forschen und entwickeln wollen, kranken an einem Übermaß an Bürokratie. Von daher ist der
Abbau von Bürokratie und Wettbewerbsbeschränkungen
ein weiterer wichtiger Schwerpunkt.
Innovation ist ein langfristiger Prozess, in den wir alle
gesellschaftlichen Kräfte einbinden müssen. Deshalb ist
es gut, dass der Bundeskanzler das Jahr 2004 zum Jahr
der Innovationen erklärt hat. Hier sind wir alle gefordert
und sollten daran mitarbeiten. Es geht um die Zukunftsfähigkeit unseres Landes auf einem immer schwieriger
werdenden Weltmarkt. In diesem Sinne sollten wir das
ganz aktiv und mit viel Drive unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Frau Professor Böhmer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Rede der Bundesministerin Bulmahn ist
ein Paradebeispiel dafür, wie diese Bundesregierung immer wieder Ankündigungspolitik betreibt.
({0})
Das Auseinanderklaffen zwischen Reden und Handeln,
Frau Bulmahn, ist eklatant. Auf die Frage, wann Sie endlich Gesetzentwürfe zum Hochschulrahmengesetz vorlegen, haben Sie geantwortet, Sie wollten erst reden. Auf
die Frage, wie Sie die Mittel verteilen, haben Sie geantwortet, Sie wollten erst reden. Sie haben doch in den
ganzen Jahren genug Zeit gehabt, um zu reden und zu
handeln! Aber Sie haben kostbare Zeit verstreichen lassen. Das holt Sie jetzt ein; denn Sie haben die Weichen
über Jahre hinweg falsch gestellt.
({1})
Wir müssen auch fragen, was es mit dieser Innovationsrhetorik auf sich hat. Innovation ist kein Selbstzweck. Innovation ist auch nicht planbar; das wissen Sie
genau. Trotzdem versuchen Sie immer wieder, Innovationen zu planen.
({2})
Ich frage mich: Welche Innovationen meinen Sie eigentlich?
({3})
Sie haben in Ihrer Rede am vergangenen Montag gesagt:
Förderung nur von Forschung, die Fortschritt und Beschäftigung schafft. Was ist denn eigentlich Fortschritt?
Wenn ich Herrn Fell höre, wird mir, ehrlich gesagt, doch
etwas angst und bange.
({4})
Ich sehe, dass Sie oft klare Grenzziehungen vornehmen. Aber an bestimmten Stellen - ich nenne die Grüne
Gentechnologie und das REACH-Programm im Zusammenhang mit der Chemikalienpolitik; ich könnte auch
den Emissionshandel hinzufügen - liegen Innovationshemmer erster Klasse auf dem Tisch.
({5})
Das wird dazu führen, dass Chemieunternehmen abwandern, dass Arbeitsplätze wegfallen und dass wir in unserem Land noch weniger Wachstum haben werden, als
es jetzt der Fall ist.
({6})
Ich habe sehr wohl gehört, Herr Hoffmann, dass Sie
davon sprachen, man müsse Deutschland jetzt stärken.
Sie haben auch von der Automobilindustrie gesprochen.
Ich halte eine ganze Menge davon, dass man das, was
man klassische Bereiche nennt - ob Automobil, Chemie,
Pharmazie oder Maschinenbau -, stärkt und mit neuen
Bereichen verbindet. Die Verbindung von Automobilindustrie und Digitalisierung ist ein großer Ansatzpunkt
für uns.
({7})
Das wird kurzfristig zu mehr Arbeitsplätzen und mehr
Wachstum in unserem Land führen. Man muss an der
richtigen Stelle fördern und darf nicht nur Nebelkerzen
werfen.
({8})
Frau Bulmahn, ich habe gerne von Ihnen gehört, dass
Sie die Forschung auf dem Campus stärken wollen und
vor allen Dingen dorthin zurückholen wollen. Aber Ihre
Weichenstellung bewirkt genau das Gegenteil von dem,
was notwendig ist. Wenn Sie in Ihrer Rede vom
20. Januar verkünden, dass Sie die großen Forschungsorganisationen unter Ihr Dach, also in die Zuständigkeit
des Bundes, übernehmen wollen, aber die Leibniz-Gesellschaft gleich zerschlagen und die Finanzierung des
Hochschulbaus in die Zuständigkeit der Länder übertragen wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Herr
Zöllner, Ihr Kollege aus Rheinland-Pfalz, der Sprecher
der SPD-Wissenschaftsminister, hat erklärt, dass diese
Verlagerung der Spitzenorganisationen zum Bund die
deutsche Hochschullandschaft ins Mark treffen würde.
Das stimmt.
({9})
Der Deutsche Hochschulverband hat erklärt, dass das
der Anfang vom Ende der Spitzenforschung an den Universitäten sei.
({10})
Sie zerschlagen das, was gewachsen ist, und schwächen
die Stärken, die wir haben. Das geht in die falsche Richtung.
({11})
Ich fand es eine besonders aparte Antwort von Ihnen,
als Sie uns mit Ihrer neuen Idee „Brain-up“ konfrontiert
haben. Die Wortschöpfung ist heute schon hinreichend
kommentiert worden. Man muss aber auch einmal darüber
nachdenken, welchen Verschnitt diese Idee bedeutet. Peter
Glotz hat Ihnen geraten, von Ihrem Eliteexperiment Abstand zu nehmen, weil er es für den falschen Weg hält.
Er hat sehr wohl gefordert, dass an drei Universitäten
50 Millionen Euro pro Jahr gegeben werden sollten. Das
ist die Idee von Peter Glotz. Aber er hat etwas Wesentliches hinzugefügt, nämlich dass die Hochschulen, gerade
wenn es um Spitzenleistungen gehen soll, aus der Fachaufsicht durch die Ministerien und dem starren Beamtenrecht entlassen werden müssten. Geld allein, noch dazu
in einem Wettbewerb, der formalisiert ist, der neue Bürokratie bedeutet und neue Kommissionen schafft - die
Sie ja alle so lieben -, wird nicht zu dem Ergebnis führen, das Sie sich wünschen und das wir dringend brauchen, nämlich zu einer Wissenschaftselite in unserem
Land. Eine Elite zu schaffen, die nur auf einige wenige
Universitäten konzentriert ist, geht völlig an der Sache
vorbei.
({12})
Sie haben uns erklärt, dass Sie das Hochschulrahmengesetz entrümpeln wollen. Aber in den letzten Jahren haben Sie genau das Gegenteil gemacht. Sie haben die
Hochschulen in die Zwangsjacke eines rechtlichen Korsetts gesteckt. Jetzt spielen Sie sich als Retterin der
Hochschulfreiheit auf. Das finde ich unerhört.
({13})
Wir müssen endlich mit Reformen Ernst machen.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Wege
weist, wie man weniger Bürokratie und weniger rechtliche Einengung erreichen kann, und der deutlich
macht, welche falschen Vorschriften abzuschaffen sind.
Die FDP - Kompliment - hat ebenfalls einen Gesetzentwurf vorgelegt. Es gibt damit zwei grundlegende Initiativen zur Novellierung des HRG. Wenn Sie zu beiden Ja sagen, dann kommen wir ganz schnell - das ist
auch notwendig - zu mehr Freiheit und damit zu mehr
Autonomie für die Hochschulen sowie zu mehr Wettbewerb. Das sind wesentliche Voraussetzungen für
Spitzenleistungen der Wissenschaft in unserem Land.
({14})
Ich sage Ihnen auch ganz klar: Sie greifen immer wieder in die Kiste alter Ideen. Sie haben beispielsweise den
Hochschulen den Juniorprofessor verordnet, obwohl
Sie es längst hätten besser wissen müssen. Der Juniorprofessor ist das, was vor Jahren einmal der Assistenzprofessor war. Dieses Experiment ist gescheitert. Denn
schon damals konnten die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, die sich im Hochschulbereich qualifizieren wollten, nicht forschen, weil sie von der Lehre sozusagen aufgesogen wurden. Sie hatten keinen Tenure
Track und sie standen nachher mit größten Existenzsorgen da.
Jetzt machen Sie wieder den gleichen Fehler. Sie binden Kräfte an der falschen Stelle und schaffen die Habilitation faktisch ab, anstatt den Universitäten die notwendige Freiheit zu geben. Lassen Sie die
Qualifizierungen zu, die angezeigt sind, und schreiben
Sie nicht immer den Ländern und den Universitäten vor,
was sie zu tun haben!
({15})
Die Leitlinien für die Schaffung von Exzellenz und
Wissenschaftselite, die es geben muss, heißen - ganz im
humboldtschen Sinne -: Freiheit und Verantwortung,
Einheit von Forschung und Lehre. Dazu muss man aber
richtig handeln. Das heißt, wir brauchen ein schlankes
Hochschulrahmengesetz ohne Verbot von Studiengebühren und eine Auswahlmöglichkeit für Studenten.
Es muss noch weitergehen. Bei dem Auswahlrecht für
Studenten haben wir uns jetzt an den Vorschlägen orientiert, die von Länderseite entwickelt wurden. Wir sind
uns völlig darin einig, dass die Studierenden zu
100 Prozent von den Universitäten ausgewählt werden
sollten und dass die ZVS in ihrer derzeitigen Form fallen
muss. Damit muss Schluss sein. Sie können sie morgen
abschaffen. Tun Sie es also!
({16})
- Mit der ZVS muss Schluss sein. Das wissen Sie ganz
genau. Herr Tauss, Sie wollen das Gegenteil.
({17})
Wir müssen weitergehen. Auf der Länderebene muss
es schlanke Hochschulgesetze geben. Wir brauchen im
Hochschulbereich einen Dreiklang der Freiheit: erstens
Organisationsfreiheit der Hochschulen, die Möglichkeit
zur Profilbildung und das Herunterbrechen der Kompetenzen auf die Fachbereiche.
Wir brauchen zweitens Personalfreiheit, nicht nur
was die Auswahl der Studenten betrifft. Wir brauchen
die Möglichkeit der staatsfreien Berufung der Professoren durch die Hochschulen. Die Hochschulen müssen
Dienstherreneigenschaft und Arbeitgeberfunktion erhalten.
({18})
Es kann nicht sein, dass der Wissenschaftsminister immer noch derjenige ist, der letztendlich der Dienstherr
ist. Hier müssen der Präsident bzw. der Rektor einer Universität in der Verantwortung stehen.
({19})
Wir brauchen drittens Finanzfreiheit. Frau Ministerin, Sie sträuben sich immer noch gegen die Einführung
von Studiengebühren. Ich stimme sehr der Aussage zu,
dass es den Hochschulen überlassen bleiben muss, ob sie
Studiengebühren einführen wollen oder nicht.
Erforderlich sind aber nicht nur Veränderungen auf
der Einnahmeseite. Auf der Ausgabenseite sind globale
Budgets für die Hochschulen notwendig, damit diese
- entsprechend ihren Schwerpunkten - entscheiden können, wie die finanziellen Mittel für Personal- und Sachkosten eingesetzt werden sollen.
Frau Kollegin, auch Sie denken bitte an die Redezeit.
Ich denke an die Redezeit und möchte nur noch einen
letzten Punkt, nämlich die Finanzierungsfrage, aufgreifen.
Der Bundeskanzler hat am Montag dieser Woche erklärt: Weg von Vergangenheitssubventionen, hin zu Zukunftsinvestitionen!
({0})
Sie können damit Ernst machen. Es gibt derzeit eine Vergangenheitssubvention: Subventionen in Höhe von
16 Milliarden Euro fließen in die Steinkohle. Ich sage
Ihnen: Schichten Sie um!
({1})
Geben Sie 5 Milliarden davon für die Hochschulen aus!
Das wäre ein Hochschulsonderprogramm, das sich
wirklich lohnen und das den Hochschulen helfen würde.
Statt einer punktuellen Förderung von fünf Universitäten
müssen wir alle Universitäten stärken, um wirklich zu
Spitzenleistungen zu kommen.
Wir fordern Sie auf, von den Vergangenheitssubventionen wegzukommen. Investitionen in die Zukunft müssen gelingen. Ich bin zugleich dafür, den Vorschlag zu
realisieren,
Frau Kollegin!
- dass die Hochschule für jeden Euro an Drittmitteln
mit Mitteln aus diesem Hochschulsonderprogramm belohnt wird. Dies ist eine leistungsorientierte Förderung.
Es muss mit der Finanzierung sowie mit der Freiheit der
Forschung vorangehen. Wir wollen den humboldtschen
Gedanken wieder beleben.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Ulrich Kasparick, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worum
geht es heute? Es geht um die Frage, wie wir Deutschland zukunftsfähig gestalten können. Wir dürfen nicht
länger von der Substanz leben, sondern müssen in die
Zukunftsbereiche investieren, von denen sich erwarten
lässt, dass sie Gewähr dafür bieten, dass unsere sozialen
Sicherungssysteme stabil gehalten werden können.
Wer auf die europäische Landkarte schaut und sich
fragt, wo die starken Wirtschaftsräume sind, der sieht:
Sie sind dort, wo es starke Forschungscluster gibt. In deren Zentrum sind die Universitäten. Deswegen ist es
richtig, dass die Bundesregierung jetzt nach einem Erfolg versprechenden Weg sucht und vorgeschlagen hat,
wie man die Zentren dieser Cluster, die Universitäten,
stärkt.
Das macht man nicht auf dem planwirtschaftlichen
Wege, wie dies Frau Schipanski annimmt. Ich widerspreche ihr da. Ich verstehe überhaupt nicht, in was für
einem Land sie lebt, wenn sie von Planwirtschaft redet.
Es geht vielmehr darum, diejenigen, die sich bewegen
wollen, zu unterstützen.
Es gab in Ostdeutschland sehr verschiedene Reaktionen auf den Vorschlag, einen solchen Wettbewerb
durchzuführen. Es gibt einige, die immer noch die alte
Mentalität an sich haben. Sie fangen als Erstes an, zu
jammern, und sagen: Wir sind zu klein; wir können uns
nicht beteiligen; wir sind benachteiligt. - Dann gibt es
andere, wie zum Beispiel die Universität Leipzig, die
sagt: Wir sind dabei,
({0})
wir werden uns bewerben und uns mit der außeruniversitären Forschung vernetzen, wir schauen, dass wir die
Stärken der Region so einsetzen, dass wir wirklich in der
Oberliga mitspielen können.
Dass das geht, zeigen eindrückliche Zahlen aus Regionen in Deutschland, die so manch einer der Kollegen
hier noch nicht kennt, wobei ich die Kollegen einladen
möchte, sich diese Entwicklung einmal anzusehen.
({1})
Innerhalb von zehn Jahren ist es gelungen, an allen gesamtdeutschen Diskussionen vorbei Forschungscluster
in Ostdeutschland aufzubauen, die stärker sind als Wirtschaftsregionen im Westen. Ohne dass es die große Öffentlichkeit gefeiert und wahrgenommen hat, ist es im
Forschungsraum Dresden durch ein zwischen Bund und
Land abgestimmtes Verhalten gelungen, mit der Mikroelektronik einen Bereich aufzubauen, der Nummer eins
in Europa ist.
({2})
Der richtige Weg ist: Ausbau von Forschung, insbesondere der außeruniversitären Forschungsinstitute durch
eine zielgerichtete Ansiedlungspolitik.
Wie ist das erreicht worden? Man hat gelernt, dass
man sich thematisch aufstellen muss. Das kann man exemplarisch in Dresden studieren. Ich finde es toll: Dresden bzw. die dortige Region hat es mittlerweile in einem
zwischen Bund und Land gut abgestimmten Verfahren
geschafft, Stuttgart, was die Zahl der Fraunhofer-Institute anbetrifft, abzuhängen. Das ist gut.
({3})
In dieser ostdeutschen Region befinden sich neun Fraunhofer-Institute; Stuttgart schaut in die Röhre. So muss
der Wettbewerb aufgestellt sein.
Ich finde es bemerkenswert: Als Porsche nach Leipzig kam, hat man die Mitarbeiter gefragt: Warum kommt
ihr ausgerechnet nach Leipzig? Warum bleibt ihr nicht in
Stuttgart oder geht in andere schöne Regionen, wo es ein
viel günstigeres Umfeld gibt? Wissen Sie, was Wendelin
Wiedeking den Journalisten geantwortet hat? Er hat gesagt: Leipzig ist eine so dynamische Region; da muss
man dabei sein.
({4})
Um diese Regionen geht es. Es geht darum, diese Regionen zu stärken. Wie schafft man das? Man erreicht
das durch Wettbewerb und nicht dadurch, dass man wie
Frau Schipanski von Planwirtschaft redet. Genau das
Gegenteil wollen wir auf den Weg bringen; genau das
Gegenteil brauchen wir.
({5})
Wir wollen diejenigen stärken, die sich endlich bewegen
wollen.
Ich möchte noch etwas zu den Themen sagen, um die
es geht. Es ist richtig, was heute bereits angemerkt worden ist: Deutschland hat industriepolitisch Stärken, aber
Deutschland hat auch Schwächen im System. Es ist gut,
wenn wir uns nicht nur europäisch, sondern weltweit
vergleichen. Wir müssen sehen, bei welchen Themen wir
im europäischen und internationalen Vergleich gut sind.
Um Regionen wie Halle, Leipzig oder Jena zu ermutigen, brauchen wir zündende Leitideen. Es geht nicht nur
darum, Technologien nach vorn zu bringen - das sagen
uns die Forscher vom Institut für Innovationsforschung,
das Fraunhofer-Institut macht sehr gute Arbeiten dazu -,
wir brauchen darüber hinaus sehr gute Leitideen. Eine
dieser Ideen ist heute schon genannt worden: die
Bekämpfung von Krankheiten, beispielsweise von
Alzheimer bis 2010.
Ich glaube, wir brauchen darüber hinaus noch andere
Ideen. Ich nenne ein Leitbild, von dem ich glaube, dass
insbesondere Ostdeutschland davon profitieren kann.
Wir fördern zurzeit das Programm „Stadtumbau Ost“
mit über 3 Milliarden Euro. Das müssen wir mit dem
Themenbereich „solares Bauen“ verknüpfen. Es muss
gelingen, die Arbeit der guten Forschungsinstitute wie
der Fraunhofer-Institute und der Blaue-Listen-Institute
mit jener der guten Universitäten bei solchen Themen zu
verknüpfen. Denn wenn wir schon so viel Bundesmittel
in die Hand nehmen und ein großes Stadtumbauprogramm auflegen, dann müssen wir es an moderne Bedingungen knüpfen. Dazu gehört nach meiner Auffassung
zum Beispiel ein Leitbild wie die „solare Stadt“. Das
kann funktionieren, so etwas ist lohnend.
Ich wünsche mir darüber hinaus sehr, dass sich die guten Kraftwerkstechniker, die es zum Beispiel in Sachsen
oder in Sachsen-Anhalt gibt, an dem nächsten großen
Forschungsprojekt, das wir im Energiebereich vorhaben,
nämlich dem kohlendioxidfreien Kohlekraftwerk, beteiligen.
({6})
Das sind doch Modelle, die wir fördern müssen. Wir
müssen heimische Rohstoffe so fördern und Projekte mit
so guter Technologie ausstatten, dass sie exportfähig
sind.
Worum geht es im Kern? Es geht darum, Wirtschaftsräume stark zu machen und diejenigen zu ermutigen, die
sich wirklich bewegen wollen. Wir brauchen keine
Bremser, die nur darüber klagen, was in der Vergangenheit nicht ging, sondern wir brauchen Menschen, die anpacken wollen und sich dem Wettbewerb stellen wollen,
weil sie sich darauf freuen, sich endlich beteiligen zu
können. Diese Menschen werden zeigen, dass wir mit
den starken Regionen in Europa mithalten können.
Ich bin mir sicher, wir werden, wenn wir über die
Auswertung dieses Wettbewerbs sprechen werden, nicht
nur über die Region Dresden reden können, sondern
über weitere starke ostdeutsche Regionen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage zu
Tagesordungspunkt 4 a - das ist die Drucksache 15/2161 -
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen dann zur Abstimmung über die Vorlage
zu Tagesordnungspunkt 4 b.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 15/2383 die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf der
Drucksache 15/1696 mit dem Titel „Die Innovations-
kraft Deutschlands stärken - Zukunftschancen durch
moderne Forschungsförderung eröffnen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf der Drucksache 15/1932 mit dem Titel „Ak-
tionsplan für freie, effiziente und innovative Forschung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Damit kommen wir zu den Zusatzpunkten 1 a und
1 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetz-
entwürfe auf den Drucksachen 15/2385 und 15/2402 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Gebühren in Handels-, Partnerschaftsund Genossenschaftsregistersachen ({0})
- Drucksache 15/2251 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über
die Beförderung im internationalen Luftverkehr ({2})
- Drucksache 15/2285 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Schutz der Intimsphäre
- Drucksache 15/1891 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts ({5})
- Drucksache 15/2403 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr
- Drucksache 15/2359 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Wirtschaftliche und organisatorische Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft
verbessern
- Drucksache 15/2393 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Darf ich dazu Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Änderungsprotokoll vom 22. Juni 1998
zum Europäischen Übereinkommen zum
Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere
- Drucksache 15/2143 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({10})
- Drucksache 15/2401 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Peter Bleser
Ulrike Höfken
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2401, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November 1997 über die
Staatsangehörigkeit
- Drucksache 15/2145 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({12})
- Drucksache 15/2406 Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Norbert Geis
Ernst Burgbacher
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/
2406, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wir kommen zur
Zweiten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Möchte jemand dagegen stimmen oder sich der Stimme
enthalten? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 87 zu Petitionen
- Drucksache 15/2342 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Die Sammelübersicht 87 ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 88 zu Petitionen
- Drucksache 15/2343 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Möchte
sich jemand der Stimme enthalten? - Dann ist auch diese
Sammelübersicht einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen
- Drucksache 15/2344 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist auch diese Sammelübersicht angenommen, aber diesmal gegen die Stimmen der Opposition.
Zusatzpunkt 3:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Ergänzung des Gesetzes zur Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Alt-Sportanlagen
- Drucksache 15/2132 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({17})
- Drucksache 15/2414 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Heinz Seiffert
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2414, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme
enthalten? - Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen Dienstleister
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Bundesminister Wolfgang Clement.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Ereignisse um die Führung der Bundesagentur für Arbeit haben in den letzten Tagen und Wochen
die Öffentlichkeit und uns alle beschäftigt. Ich möchte
heute noch einmal deutlich machen, dass ich es bedaure,
dass es zu dieser Zuspitzung gekommen ist, für die die
Ausschreibungsverfahren bei der Bundesagentur offensichtlich der Anstoß waren.
Im Ergebnis haben sich - das wissen Sie - alle Bänke
des Verwaltungsrats der Bundesagentur nicht in der Lage
gesehen, dem Vorstandsvorsitzenden, Herrn Gerster, das
Vertrauen auszusprechen. Darauf konnte die Bundesregierung, weil sie auf ein Vertrauensverhältnis zwischen
Verwaltungsrat, Vorstandsvorsitzenden und Bundesregierung angewiesen ist, aus meiner Sicht nicht anders reagieren, als das Arbeitsverhältnis mit Herrn Florian
Gerster vorzeitig zu beenden.
Das ist ein Vorgang gewesen, der - nicht nur bei
Herrn Gerster - durchaus Bitterkeit hervorrufen und
auch eine Sekunde lang zum Innehalten veranlassen
kann. Ich jedenfalls möchte Herrn Gerster für seine Arbeit danken. Er ist ein exzellenter Kenner der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland. Ihm
ist es mit seinen Vorstandskollegen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesagentur gelungen,
erste Furchen zu ziehen, die für die weitere Entwicklung
der Beschäftigungspolitik und der konkreten Arbeitsmarktpolitik der Bundesagentur sehr wichtig sind.
({0})
Trotz allem, was sonst über Herrn Gerster und die Arbeit, die er dort getan hat, gesagt werden kann, ist festzuhalten: Das ist eine Leistung, die sich inzwischen ja auch
am Arbeitsmarkt niederschlägt, zwar nicht in gewaltigen
positiven Daten, aber doch in erkennbaren Zeichen, die
darauf hinweisen, dass wir die Arbeitsmarktsituation
nicht nur unter Kontrolle bekommen können, sondern
dass wir sie in überschaubarer Zeit auch verändern bzw.
verbessern können.
({1})
Beispielsweise denke ich daran, dass wir heute, nach
dreijähriger wirtschaftlicher Stagnation in Deutschland,
keine steigenden Arbeitslosenzahlen mehr zu verzeich7756
nen haben, sondern dass die Arbeitslosenquote einigermaßen konstant ist. Das ist natürlich nicht befriedigend.
Aber gemessen an den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ist dies ein Zeichen dafür, dass wir die Trendumkehr schaffen können. Auch ist es nicht zu unterschätzen, dass die Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland im
Dezember letzten Jahres zum ersten Mal seit langer Zeit
niedriger waren als im Dezember des Vorjahres.
({2})
Sicher ist es auch nicht zu unterschätzen - hier werden Sie mir vielleicht zustimmen -, dass es gelungen ist,
die Quote der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland um
etwa 7 Prozentpunkte zu senken. Das alles ist nicht ausreichend und nicht befriedigend. Aber die Signale sind
positiv.
({3})
Daran haben der Vorstand mit Herrn Gerster an der
Spitze und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Bundesagentur maßgeblichen Anteil.
({4})
Die Lage ist so - das habe ich Herrn Gerster gegenüber in aller Offenheit, in der wir miteinander umgegangen sind und miteinander umgehen, deutlich gemacht -,
dass der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit
jetzt einen neuen Vorstandsvorsitzenden vorschlagen
muss - so will es das Gesetz, das wir zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft gesetzt haben -, dass die Bundesregierung an diesen Vorschlag nicht gebunden ist und ihm
zustimmen muss, sodass die Bundesregierung auf
Grundlage des Gesetzes das Letztentscheidungsrecht
hat, von dem sie selbstverständlich auch Gebrauch machen wird.
Aber ungeachtet dessen besteht heute eine Situation,
die niemanden zur Hektik veranlassen muss; wohl dazu,
unverzüglich und ohne Verzögerung zu arbeiten, nicht
aber dazu, hektisch zu arbeiten. Der Vorstand, an dessen
Spitze jetzt Herr Weise, der bisherige stellvertretende
Vorstandsvorsitzende, und Herr Alt stehen, ist nicht nur
handlungsfähig; vielmehr ist er an den Reformprozessen
maßgeblich beteiligt und hat sie teilweise direkt gesteuert. Er hat unser volles Vertrauen, dass die Arbeit so weitergeführt wird, wie sie vom bisherigen Vorstand angelegt worden ist. Darauf kommt es an.
Weil es viele Spekulationen über Leute gibt, die Interesse an einer Veränderung im Vorstand gehabt haben
könnten, sage ich ganz klar: Der Kurs der Bundesagentur und der Bundesregierung wird, bezogen auf die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, beibehalten und
nicht verändert. Er ist richtig. Wir sind auf dem richtigen Weg und werden ihn ohne Abstriche, ungehindert,
mit aller Konsequenz und mit hohem Tempo weitergehen.
({5})
Die Voraussetzungen dafür sind mit den so genannten
Hartz-Gesetzen, die wir ja - teilweise im Vermittlungsverfahren - verabschiedet haben, geschaffen worden.
Insbesondere meine ich die Gesetze Hartz III und IV.
Hierbei geht es um zwei Themen: zum einen um den
Umbau der Bundesagentur für Arbeit, zum anderen um
eine neue Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, die
insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass wir die
beiden Fürsorgesysteme, die es in Deutschland bisher
gibt - das staatliche, die Arbeitslosenhilfe, und das kommunale, die Sozialhilfe -, zusammenführen, um daraus
ein neues System der Arbeitsförderung zu machen. Das
sind die beiden Hauptlinien der Reformen, an denen wir
arbeiten und die jetzt realisiert werden müssen.
Der Umbau der Bundesagentur, über den wir heute
insbesondere sprechen wollen, muss vor dem Hintergrund der bisherigen Strukturen der Bundesanstalt, der
klassischen Arbeitsverwaltung, gesehen werden. Die
klassische Arbeitsverwaltung war gekennzeichnet durch
- ich nenne nur einige Stichworte - eine außerordentlich
hohe Komplexität und eine außerordentlich hohe Regelungsdichte; jeder Schritt und die Verwendung jeder
D-Mark bzw. jedes Euros war festgelegt. Das hat den
Bewegungsspielraum der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel zu sehr eingeengt und hat ihnen fast keinen
Ermessensspielraum mehr gelassen. Es gab außerdem
eine außerordentlich hohe Spezialisierung - das ist Ausdruck der Regulierungsdichte -, was zu mangelnder
Transparenz hinsichtlich Wirkung und Wirtschaftlichkeit
geführt hat. - Das hat, kurz umrissen, die klassische Arbeitsverwaltung in Deutschland gekennzeichnet, die nun
von Grund auf verändert werden muss.
Es hat mir gestern viel Freude bereitet, die Präsentation des zuständigen britischen Staatsministers und
Chefs der dortigen Arbeitsagenturen in der FriedrichEbert-Stiftung zu erleben, in der das Gegenbild zu der
klassischen deutschen Arbeitsverwaltung aufgezeigt
wurde. Die kundenorientierte Dienstleistung in Großbritannien verfolgt einzig das Ziel - das ist deren Hauptaufgabe -, Menschen, die Rat suchen, aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit zu vermitteln. Daran hat es in Deutschland
bisher gemangelt. Schuld daran sind aber nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern Schuld hat unser
Perfektionismus im bürokratischen Umgang mit Problemen.
({6})
Wir haben in Deutschland eine Technik entwickelt, und
zwar nicht nur in der Arbeitsverwaltung, die sich vor allen Dingen auf die Administration und das Finanzieren
versteht. Wir haben gewaltige Behördenapparate aufgebaut, die sich immer mehr von ihrer eigentlichen Aufgabe, der Arbeit am Menschen und mit den Menschen
- im Fall der Bundesagentur mit der Vermittlung der
Menschen in Arbeit -, zu entfernen drohen. Das ist das
Problem. Dieses Problem muss nun angegangen werden.
Den gewaltigen Unterschied habe ich in Stratham,
London bei einem Besuch in einem Jobcenter, Jobcentre
Plus genannt, erlebt. Ich kann nur jedem empfehlen, der
die Chance hat, sich ein solches einmal anzuschauen,
diese auch wahrzunehmen. Man erfährt auf Anhieb den
Unterschied. Herr Kollege Niebel, ich lade Sie ein, dass
wir gemeinsam einmal dorthin fahren.
({7})
Dann erleben Sie den Unterschied zwischen einer klassischen deutschen Verwaltung und einer offenen Vermittlung.
({8})
- Manchmal ist es besser, wenn man sich etwas vorstellen kann. Sie haben eine ausreichende Fantasie und
Kreativität; das merkt man an manchem Ihrer Beiträge.
Dort würden Sie aber vor Ort erleben, wie es wirklich
ist.
In der Zwischenzeit ist viel geschehen. Das ist durch
die Kritik an den Ausschreibungsverfahren in der Bundesagentur aus dem Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden. Tatsächlich wurde in der
Bundesagentur unter Führung von Herrn Gerster zusammen mit dem Vorstand Ende des Jahres 2002 eine intensive Projektarbeit begonnen, in der wirklich alles auf den
Prüfstand gestellt wurde. Das ist unter Mitwirkung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - 250 Führungskräfte
waren in diese Projektarbeit ständig eingebunden - und
der Berater geschehen.
Weil so viel über die Berater gesprochen wird,
möchte ich Folgendes sagen: Dafür sind ungefähr
60 Millionen Euro aufgewendet worden. Das ist viel
Geld. Aber das Ergebnis, das durch die Mitarbeit der externen Berater erzielt worden ist, stellt sich so dar, dass
etwa 5 500 Stellen von Mitarbeitern, die bisher in der
Administration tätig waren, entfallen können. Diese Mitarbeiter können sich nun der Vermittlungsarbeit widmen.
Einen solchen Umbau von Grund auf kann man nicht
mit den eigenen Mitarbeitern bewerkstelligen; das wissen Sie.
({9})
Er wird zu einer beachtlichen Kostenreduktion führen.
Das sage ich, um deutlich zu machen, dass diese Beratungsarbeit natürlich auch Ergebnisse gebracht hat, die
von größter Bedeutung sind und die in erheblichem
Maße zu Buche schlagen.
Es ist in manchen Debatten übersehen worden, dass
die Bundesagentur im Jahr 2003 bereits erfolgreicher
war, als wir es erwartet hatten. Der Bundesfinanzminister, Herr Kollege Eichel, ist beim Zuschuss für die Bundesagentur nicht an der Grenze angekommen. Wir sind
vielmehr um 1,5 Milliarden Euro darunter geblieben.
Was passiert? Ich nenne nur Stichworte. Die Bundesagentur in Nürnberg wird in Zukunft eine Holding sein,
die nicht mehr die Einzelprozesse steuert, sondern die
grundlegende Richtung bestimmt, ansonsten aber wie
eine Holding funktioniert. Deshalb wird die Stellenanzahl in Nürnberg auch von 1 100 auf 400 reduziert. Dieser Prozess ist bereits im Gange. Viele Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, denen das vermutlich nicht leicht gefallen ist, gehen jetzt in die Arbeitsvermittlung vor Ort.
Es werden Kundenzentren der Zukunft aufgebaut.
Das erste Muster eines solchen Kundenzentrums ist in
Heilbronn entstanden. Zehn weitere werden zurzeit in
den verschiedenen Regionen der Bundesrepublik aufgebaut. Diese Kundenzentren ähneln dem, was in Großbritannien - beispielsweise in diesem Jobcentre Plus in
Stratham - zu besichtigen ist, bereits sehr. Das ist das
Kundenzentrum der Zukunft. Hier wählen wir eine völlig andere Herangehensweise
({10})
- ich bin gleich fertig, Herr Kollege Andres -, als das in
der Arbeitsvermittlung bisher der Fall war.
({11})
- Sehen Sie, so sind wir. Wir wollen eben arbeiten. Auch
der Kollege Andres will arbeiten. Damit hat er Recht.
Es werden Servicecenter und ein virtueller Arbeitsmarkt aufgebaut. An diesem virtuellen Arbeitsmarkt habe
ich viel Kritik gehört. Ich stelle mir mal eine Sekunde lang
vor, die Bundesagentur hätte keinen virtuellen Arbeitsmarkt aufgebaut, sondern würde weiterhin - wie bisher mit Papier und Bleistift arbeiten. Die Reden, die Sie
heute Morgen dann gehalten hätten, als wir über die IT
und anderes gesprochen haben, hätte ich dann nicht hören wollen. Dies ist also ein richtiger und vernünftiger
Weg.
({12})
Das gilt sowohl für das Qualitätsmanagement als auch
für das effektive Controlling.
Herr Kollege Laumann, dieser Prozess der Dezentralisierung und Dekonzentration muss stattfinden. Darüber
müssen wir uns ernsthaft unterhalten. Es wird dort kein
Moloch mehr vorhanden sein, wie Sie das so oft - nicht
immer zu Unrecht - skizziert haben. Wir gehen in die
Regionen und in die Arbeitsverwaltungen vor Ort. Das
ist der richtige Weg.
Der Umbau der Bundesagentur wird 2005 abgeschlossen sein. Wir werden uns dann auch in der Umsetzung des Hartz-IV-Gesetzes befinden. Die Bundesregierung wird in sehr überschaubarer Zeit - gestützt auf
Vorschläge der Bundesagentur - einen Vorschlag für die
Ausgestaltung der Arbeitsgemeinschaften entwickeln,
die wir gemäß dem Hartz-IV-Gesetz zwischen der Bundesagentur und den Kommunen vor Ort aufbauen
müssen. Sehr rasch werden wir auch das so genannte
Februargesetz - so heißt es bei uns - auf den Weg bringen. Durch dieses Gesetz soll das Optionsmodell für die
Kommunen geregelt werden. Nach den Vereinbarungen
im Vermittlungsverfahren wollen wir dieses Gesetz
möglichst bis Ende April verabschiedet haben.
All dies geschieht. Ich habe eine Bitte an Sie alle: Das
Thema ist insgesamt zu wichtig, als dass wir es in Personaldiskussionen und -spekulationen versinken lassen
dürften. Es geht darum, die Reformen voranzutreiben.
Wir werden dabei Erfolg haben. Sie haben gesehen, dass
wir im Jahreswirtschaftsbericht davon ausgehen, dass es
in diesem Jahr im Durchschnitt 100 000 Arbeitslose weniger geben wird und dass die Zahl der Arbeitslosen in
der zweiten Hälfte allein aufgrund der konjunkturellen
Entwicklung und der strukturellen Maßnahmen zurückgehen wird, bevor wir im Jahre 2005 eine wirkliche
Trendwende am Arbeitsmarkt erzielen werden.
Das ist nicht nur unser Ziel, sondern daran wird sehr
konkret gearbeitet. Ich bin davon überzeugt, dass wir
dieses Ziel auch erreichen werden.
Herr Kollege Andres, ich danke Ihnen für Ihre Geduld.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Karl-Josef Laumann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal will ich hier feststellen, dass
auch die CDU/CSU-Fraktion der Auffassung ist, dass
der Reformprozess bei der Bundesagentur für Arbeit
weiterentwickelt werden muss.
({0})
Wir sind sehr dafür, dass bei der Bundesagentur für Arbeit endlich weniger verwaltet und mehr vermittelt wird.
({1})
Das wollen wir ja alle. Wir sind auch sehr dafür, dass der
Zentralismus bei der Bundesagentur für Arbeit zunehmend verschwindet und die dezentrale Entscheidungsfreiheit der örtlichen Arbeitsämter erhöht wird.
({2})
Wir sind weiterhin dafür, dass bei der Bundesagentur für
Arbeit das Unwesen der Verordnungen abnimmt und damit die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter zunimmt.
({3})
Zu dieser Debatte gehört ebenso, dass trotz der Arbeit
und der Reformbemühungen von Herrn Gerster die momentane Situation in vielen örtlichen Arbeitsämtern
noch nie von so viel Resignation und Stillstand wie zurzeit gekennzeichnet waren; auch das muss man zugeben.
({4})
Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist - Herr
Clement hat es am Wochenende so formuliert und einige
Zeitungen haben es in ihren heutigen Ausgaben aufgenommen -, um den Rücktritt von Herrn Gerster eine
Mythenbildung zu betreiben: Weil er so großartige Arbeit geleistet habe, sei er von irgendwelchen Leuten, die
keine Reformen wollten, geschasst worden.
({5})
Die Wahrheit ist: Herr Gerster hat - dazu gibt es Berichte des Bundesrechnungshofes - gegen das Vergaberecht und das Haushaltsrecht verstoßen.
({6})
Er hat Verträge laufen lassen und Verträge in Millionenhöhe teilweise selber verhandelt, die rechtswidrig zustande gekommen sind.
({7})
Er hat sich im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in
seiner Darstellung von Ende November bis Anfang Januar in Widersprüche verstrickt. Wir können nicht einmal mehr ausschließen, dass im Nachhinein Dokumente
der Bundesagentur für Arbeit manipuliert worden sind.
Das ist die andere Seite; auch das muss man schlicht und
ergreifend zur Kenntnis nehmen, Herr Niebel.
({8})
Die Wahrheit ist, dass Herr Gerster aufgrund der Art
und Weise, wie er agiert hat, und aufgrund seiner Verfehlungen null Autorität in der Bundesagentur für Arbeit
hatte. Deswegen war seine Entlassung unvermeidlich.
Selbst die Vertreter der Bundesregierung haben ihm am
Samstagnachmittag
({9})
nicht das Vertrauen ausgesprochen; denn im Verwaltungsrat sitzen mehr Vertreter der Bundesregierung, als
es Ja-Stimmen für Herrn Gerster gab. Das ist so sicher
wie das Amen in der Kirche.
Was bleibt, ist, dass wir darüber streiten müssen, ob
wir der Bundesagentur für Arbeit die richtigen Instrumente in die Hand geben. Ich nenne hier nur als ein
Stichwort die PSA. Ist sie wirklich das Instrument, wie
es von Hartz entwickelt wurde? Bringt es für den Arbeitsmarkt etwas? Nach unseren Informationen haben
von 42 000 Leuten, die in dieser Maßnahme geparkt
wurden, durch die Zeitarbeit allenfalls circa 5 400 eine
Beschäftigung gefunden. Die regulären Zeitarbeitsfirmen leiden mehr unter der PSA, als die PSA dem allgemeinen Arbeitsmarkt nutzt. Das ist die Wahrheit.
Stichwort Ich-AG. Ohne Businessplan, ohne Geschäftsidee, ohne Unternehmensplanung kommt man an
Staatsknete der Beitragszahler. Das führt natürlich zu
Verwerfungen im Handwerk. Ich glaube, dass die IchAG dem Arbeitsmarkt mehr schadet als nutzt.
({10})
Weil Sie es so wollen, muss die Bundesagentur etwas
Falsches umsetzen, was ihre Autorität in der Arbeitsmarktpolitik nahezu vollständig untergräbt.
Ein anderes Thema ist das Vermittlungsverfahren im
Dezember: Die Bundesagentur für Arbeit, die aufgrund
ihrer Vielfältigkeit und ihrer Größe kaum mehr beherrschbar ist, bekommt von dieser Regierung - das war
ihr Wille - zusätzlich die Zuständigkeit für
1,2 Millionen arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger.
({11})
Es ist doch Wahnsinn, dieser Agentur, die schon vorher
fast nicht regierbar war, zusätzlich die Sorge für
1,2 Millionen Menschen plus Familienangehörige - wahrscheinlich reden wir über 4 Millionen Menschen - zu
übertragen.
Ich lege großen Wert darauf - schließlich wollen wir
nach vorne blicken, Herr Bundesminister -, dass wir in
den nächsten Wochen ein Optionsgesetz machen,
({12})
mit dem die Gemeinden, die Kreise und kreisfreien
Städte, die es wollen, wirklich optieren können. Sie sollen mit ihren Haushalten, die sie zu verantworten haben,
dieses Risiko eingehen können. Ich biete Ihnen ausdrücklich - wenn Sie es wollen, noch vor Einbringung
des Gesetzes - die Mitarbeit der CDU/CSU an. Wir haben ein großes Interesse daran, dass möglichst viele
Kommunen, die es sich zutrauen und es wollen, verantwortbar optieren können.
({13})
Sie haben erklärt, dass Sie daran kein Interesse haben.
Damit sind Sie dafür verantwortlich, wenn die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland keinen Zentimeter vorankommt. Schließlich übertragen Sie der Agentur immer
mehr Problemfälle.
({14})
Wir wissen alle, dass sie zurzeit nicht über Strukturen
verfügt, selbst mit dem arbeitsmarktnahen Publikum so
umzugehen, wie es die Beitragszahler auf beiden Seiten
von einer vernünftigen Agentur erwarten würden.
Wir hätten die große Chance, mit einem wirklich vernünftig gemachten Optionsmodell einen Riesenbeitrag
zur Entschlackung der Bundesagentur für Arbeit zu leisten.
({15})
Ich sage Ihnen zum Schluss zu den Zwischenrufen zu
Merz und Seehofer: Ich persönlich bin dafür, dass wir
eine Bundesagentur behalten. Wir brauchen Bundesstrukturen in der Arbeitsmarktspolitik.
({16})
Ich kann überhaupt nicht erkennen, dass die Landesarbeitsämter in Sachen Bürokratie einen Deut besser sind
als die Nürnberger Bundesagentur.
({17})
Ich sage hier ganz klar: Wir haben nicht mehr so viele
Chancen, zu erreichen, dass die Bevölkerung dem Umbau dieser Bundesagentur überhaupt noch traut. Deswegen: Nutzen Sie die Chance,
({18})
bei dem Optionsmodell einen klaren Schritt in Richtung
auf eine kommunale Beteiligung bei der Arbeitsmarktpolitik zu machen! Das wird die Bundesagentur im arbeitsmarktnahen Bereich der Arbeitslosenversicherung
stabilisieren.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Laumann, Medaillen haben immer
zwei Seiten. Auch Ihre Reden haben zwei Seiten.
({0})
- Ja, die Rede hat auch eine gute Seite, nämlich wenn
Sie unterstreichen, dass Sie die Reform der Arbeitsmarktpolitik und der Bundesagentur für Arbeit stringent
weiterverfolgen.
Sie wissen, dass wir im Vermittlungsausschuss das
Angebot unterbreitet haben, dass wir optionale Modelle
für eine kommunale Beteiligung erarbeiten werden.
({1})
Es wäre gut, wenn wir eine Lösung hinkriegten, die nicht
wieder im Vermittlungsausschuss landen müsste.
Was die andere Seite Ihrer Rede, Herr Laumann, betrifft, so ist Ihr Vortrag unglaubwürdig. Das ist schon
durch die Zwischenrufe deutlich geworden. Die andere
Seite ist doch, dass die Parole, mit der Herr Niebel und
die FDP durch die Lande laufen, nämlich „Zerschlagt
die BA!“,
({2})
von Ihren Leuten Futter bekommt, an der Spitze von
Herrn Meyer, sekundiert von Herrn Merz und Herrn
Seehofer.
({3})
Wenn Sie dazu keine einheitliche Position in Ihrer eigenen Fraktion herstellen, dann bleiben die sehr freundlichen Angebote, die Sie hier vorgetragen haben, unglaubwürdig.
({4})
Das politische Ziel, das Sie mit der Parole „Zerschlagt
die BA!“ verfolgen,
({5})
ist, die notwendigen und überfälligen Reformen der
Bundesagentur und der Arbeitsmarktpolitik zu torpedieren. Das wollen Sie. Das ist nicht nur populistisch und
dumm, sondern das ist auch zynisch den Arbeitslosen
gegenüber.
({6})
Wir haben über 4 Millionen Arbeitslose, darunter viele
Langzeitarbeitslose. Mit der Bundesanstalt für Arbeit
haben wir eine schwerfällige Verwaltung gehabt. Wir
müssen den notwendigen Reformprozess voranbringen.
({7})
Eines finde ich in dieser Situation wirklich pikant: Herr
Niebel, der selber einmal in der Bundesanstalt für Arbeit
tätig war,
({8})
oder auch andere
({9})
sind über Jahrzehnte mit dafür verantwortlich gewesen,
dass ein Tanker, eine Mammutbehörde, entstanden ist.
1973 hatte sie 32 000 Beschäftigte, heute sind es fast
100 000. Es ist eine Behörde mit Besoldungsstrukturen,
bei denen Leistung keine Rolle spielt, eine Behörde, in
der man den Wettbewerbsgedanken erst verankern muss.
({10})
Als wir die Bundesregierung übernommen haben,
({11})
waren nur 10 Prozent der Beschäftigten der BA mit der
Vermittlung betraut. Sie haben dazu beigetragen, dass
dieser Zustand so lange erhalten geblieben ist.
({12})
Seit zwei Jahren ist damit Schluss. Vor zwei Jahren ist
ein Reformprozess eingeleitet worden. Ich will deutlich
sagen: Herr Gerster hat sehr viel dazu beigetragen, dass
der Reformprozess mit dieser Stringenz in Gang gesetzt
wurde.
Wir sind längst dabei, dezentrale Strukturen zu schaffen. Die Zahlen liegen doch auf dem Tisch. Die Zahl der
Beschäftigten in der Zentrale ist von 11 000 auf 4 000
gesunken.
Die Entlohnungssysteme werden umgestellt. Das Beamtentum an der Spitze ist schon Vergangenheit und
wird Vergangenheit bleiben. Die Jobcenter werden eingerichtet. All das läuft doch bereits.
Wir haben auch - das ist sehr wichtig - das Ziel der
Arbeitsmarktpolitik klar formuliert: Sie muss eine Politik der Integration sein, die sich an den Arbeitslosen orientiert. Um diese beiden Stränge geht es: den Aufbau der
Dienstleistungsagentur und die Integration als Ziel der
Arbeitsmarktpolitik.
({13})
Damit müssen wir weitermachen. Sie aber wollen uns
mit der Parole „Zerschlagt die BA!“ Steine in den Weg
legen.
Richtig ist, dass wir aus Fehlern - auch in diesem Prozess - lernen mussten. Es gab Fehler in der Praxis. Ich
meine nicht die Vergabeverfahren, die schon angesprochen wurden. Dabei sind Fehler unterlaufen, die nicht
wieder vorkommen dürfen. Ich meine vielmehr die Praxis im Umgang mit den Menschen zum Beispiel in der
Weiterbildung und Qualifizierung. Die Zielrichtung hin
zur Integration, zur Qualität und zur Einführung von
Quoten ist richtig. Aber in der alltäglichen Praxis werden dabei Fehler gemacht. Die Lose in den Ausschreibungsverfahren sind zu groß. Die kleinen Träger, die in
den Regionen nahe an den Menschen sind und im Alltagsprozess immer wieder mit Kreativität aufwarten
können, haben es dabei sehr schwer.
({14})
Daran muss einiges geändert werden. Über diese Fragen
müssen wir uns auseinander setzen, nicht über die Zielrichtung. Denn diese ist richtig.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur aktuellen
Situation machen.
({15})
Wir haben am Freitag von der Vorsitzenden des Verwaltungsrats gehört, dass Gesetzesänderungen gewünscht
werden. Ich denke, dass wir mit unserem Gesetz eine
klare Arbeitsteilung - der Verwaltungsrat kontrolliert
und muss wiederum umfassend informiert werden - ermöglicht haben. Das operative Geschäft aber obliegt
dem Vorstand. Das muss auch weiterhin der Fall sein
und kann nicht geändert werden.
Der Verwaltungsrat ist kein Sachwalter von steuerfinanzierten Leistungen; er ist vielmehr Sachwalter der
Beitragszahlungen. Ich spreche das Arbeitslosengeld II
an, weil am Samstag in der Pressekonferenz des Verwaltungsrats gesagt wurde, dass auch darüber diskutiert
werden soll. Wir brauchen das Arbeitslosengeld II.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich komme zum Schluss. - Damit wir mit der Reform
weiterkommen, brauchen wir die klaren Zuschreibungen: Die Kontrolle obliegt dem Verwaltungsrat und das
operative Geschäft dem Vorstand.
({0})
Diese Richtung wollen wir auch weiterhin einschlagen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Florian Gerster ist an zwei Dingen gescheitert:
an sich selbst und seinen Fehlern und an den Strukturen
der Arbeitslosenindustrie in Deutschland. Jeder potenzielle Nachfolger von Florian Gerster wird es noch
schwerer haben als er. Denn er hat nicht nur mit denselben Strukturen zu tun, die von dem Auswechseln des
Vorstandsvorsitzenden unberührt bleiben, sondern er hat
auch dessen Schicksal vor Augen. Das wird, wie auch
immer der neue Vorstandsvorsitzende heißt, seine Tatkraft mit Sicherheit einschränken.
({0})
Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit hat sich in
Deutschland über die Jahrzehnte in der und um die Bundesagentur für Arbeit ein Moloch von Arbeitslosenindustrie entwickelt, der es gewohnt war, mit zig Milliarden erhalten zu bleiben und dafür zu sorgen, dass die
Mittel im System bleiben.
({1})
Ein großer Kreis von Beteiligten in der Bundesagentur
für Arbeit hat zusätzlich noch andere Interessen, die zumindest durch institutionelle Verbundenheiten gekennzeichnet sind, auch wenn es sich bei den Personen um
honorige Menschen handelt.
Die Bundesagentur ist in ihren jetzigen Strukturen
nicht reformierbar. Deshalb wollen wir sie auflösen.
({2})
Liebe Kollegin Dückert und alle anderen, die mit ihren Äußerungen haarscharf an zynischer Demagogie
vorbeischrammen: Auflösen heißt nicht zerschlagen.
Auflösen ist vielmehr das Instrument - sozusagen der
Omnibus -, um die Bundesagentur neu zu ordnen und
von dem Ballast der Arbeitslosenindustrie und all den
Protagonisten, die dazugehören, zu befreien.
({3})
Das Auflösen der Behörde würde bedeuten, Frau
Dückert - das haben Sie beim BMA gesehen -, dass die
Behörde nicht mehr existiert. Dann wäre übrigens auch
der drittelparitätische Verwaltungsrat mit Frau EngelenKefer, dem Dinosaurier des Verbändestaates, nicht mehr
vorhanden.
({4})
Das ist einer der wesentlichen Hemmschuhe der Reformvorhaben in der Bundesrepublik.
Auflösen heißt auch, dass Sie die starren Grenzen des
öffentlichen Dienst- und Tarifvertragrechts flexibel
handhaben können.
({5})
- Herr Müntefering, auch Sie sind einer von denen, die
hart an der Grenze zur Demagogie argumentieren. Sie
sind einer von den ganz harten Demagogen.
({6})
Auflösen heißt, eine schlanke Versicherungsagentur
zu schaffen, die die Lohnersatzleistungen organisiert und
marktgerechte Vermittlungsgutscheine ausgibt statt des
Kroppzeugs, das Sie eingeführt haben und das nicht
funktionieren kann.
({7})
Marktgerechte Vermittlungsgutscheine versetzen die Arbeitsuchenden in die Lage, ihre Marktmacht auszuüben
und zum Vermittler ihres Vertrauens zu gehen. Das kann
ein privater oder ein staatlicher Vermittler in den kommunalen Jobcentern sein, auf die ich später noch eingehen werde.
({8})
- Hören Sie zu! Dann können Sie etwas lernen. Ich
komme nämlich aus der Bundesagentur für Arbeit. Ich
kenne im Gegensatz zu Ihnen den Laden von innen.
Wir brauchen auf Bundesebene eine schmale Arbeitsmarktagentur.
({9})
- Herr Andres, von Ihnen kann ich zumindest lernen,
wie destruktiv Gewerkschaftsfunktionäre sind, wenn sie
vom Postsekretär zum Staatssekretär werden.
({10})
Wie gesagt, nichtsdestotrotz brauchen wir auf Bundesebene eine Arbeitsmarktagentur, die nicht größer sein
muss als das Bundeskartellamt mit 200 bis 300 Mitarbeitern und in der das überregional Notwendige erledigt
wird. Dazu gehören insbesondere Transparenz bei den
gemeldeten offenen Stellen, aber auch entscheidungskompetente Ansprechpartner als Stabsstellen für die
Bundesländer. Denn eines brauchen wir nicht mehr: die
Landesarbeitsämter, die jetzt Regionaldirektionen heißen. Wir brauchen vor Ort, also dort, wo die Menschen
und die Arbeitsplätze sind, Jobcenter - und zwar in kommunaler Trägerschaft und grundgesetzlich abgesichert in
der Finanzierung -, die sich um die Betreuung der arbeitslosen Menschen kümmern.
({11})
Liebe Frau Dückert, das bedeutet Auflösen, um neu
zu ordnen, und nichts anderes. Damit bekommen die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit endlich planbare Zukunftschancen sowie diejenigen, die Arbeit suchen, und diejenigen, die Arbeitskräfte suchen, endlich
ein vernünftiges Betreuungsangebot. Das bedeutet Auflösen, Frau Dückert. Das ist eine riesengroße Chance für
Deutschlands größte Behörde.
({12})
Ich möchte auf die aktuellen Ereignisse zurückkommen - dem Kind sollte man einen Namen geben - und
fragen, wieso Herr Gerster eigentlich erst jetzt entlassen
worden ist. Das Einzige, was rechtswidrig war und ihm
vorgeworfen werden konnte, waren doch die Beraterverträge des letzten Jahres. Wieso hat man ihn nicht schon
damals, sondern erst jetzt entlassen? Wieso hat der Verwaltungsrat noch im Dezember letzten Jahres das Vertrauen ausgesprochen und im Januar dieses Jahres, obwohl sich faktisch nichts geändert hat, das Vertrauen
entzogen? Dahinter stecken doch Interessen.
Erstens, zum Zeitraum. Wäre Herr Gerster schon im
letzten Jahr gegangen, hätte Herr Clement noch einen
Nachfolger berufen können. Aber durch § 382 des
SGB III gilt seit dem 1. Januar dieses Jahres ein neues
Recht. Jetzt kommt der Vorschlag von Frau EngelenKefer. Darüber sollte man einmal nachdenken.
Zweitens, zur Arbeitgeberseite. Herr Clever, der Arbeitgebervertreter im Verwaltungsrat der Bundesagentur
für Arbeit ist, hat jahrelang als Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik im Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung die Bundesanstalt für Arbeit aufgebaut,
die die Arbeitsmarktpolitik vor die Wand gefahren hat.
Exakt dieser Herr Clever sollte jetzt mit demjenigen zusammenarbeiten, der sein eigenes Kind kaputtgemacht
hat? - Hochinteressante Verbindungen!
Wir sollten uns über die Arbeitslosenindustrie und
ihre Protagonisten in Deutschland mehr Gedanken machen; denn das reicht bis in die örtliche Arbeitsamtsebene. In vielen Bereichen geht es gar nicht mehr darum,
die Menschen in Arbeit zu bringen und Arbeitsplätze zu
besetzen, sondern darum, das Geld im System zu lassen,
und zwar zum Wohle derjenigen, die seit Jahrzehnten
vom System gut leben.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Wir alle wissen, was wir nach 40 Jahren
CDU/CSU-Herrschaft in der Bundesanstalt für Arbeit
übernommen haben. Stingl, Franke, Jagoda, all diese
Namen stehen für eine Behörde, die in das Verwalten
verliebt war, die es vergessen hat, sich den Arbeitslosen
zuzuwenden, die keine Aktivitäten entwickelt hat und
die moderne Dienstleistungen ausgeschlossen hat.
({0})
Sie vergessen, dass die Arbeitslosigkeit 1998 am
höchsten war und dass wir eine Behörde übernommen
haben, die damals politisch gesteuert war. Wir dürfen in
dieser Situation nicht außer Acht lassen, dass Sie 1998
diese Behörde genutzt haben, um fast 500 000 politische
Wahlkampf-ABM zu schaffen, damit die Arbeitsmarktstatistik geschönt werden konnte. So haben Sie die Behörde missbraucht!
({1})
- Richtig, das hat nichts genutzt. Deshalb sollte es jetzt
auch nicht mehr Thema sein.
Die SPD-Fraktion weiß jedenfalls um die Bedeutung
einer modernen Arbeitsmarktpolitik. Wir haben deshalb
die Initiative ergriffen, den Umbau der Bundesanstalt für
Arbeit in eine moderne Bundesagentur für Arbeit vorzunehmen. Wir wollen aber nicht nur den Namen ändern,
sondern auch dafür sorgen, dass die Kunden die Veränderungen direkt bei der Inanspruchnahme der Dienstleistungen spüren.
Der Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einem
modernen Dienstleister für Arbeitslose und Arbeitgeber
ist auf gutem Weg. Der bisherige Vorstand hat - das will
ich hier ausdrücklich sagen - durchaus erfolgreich gearbeitet. Wir lassen nicht zu, dass Sie das durch Ihre Debattenbeiträge kleinreden. Parteipolitik auf dem Rücken
der Arbeitslosen auszutragen, das lassen wir ebenfalls
nicht zu. Arbeitslose brauchen eine funktionierende
Bundesagentur für Arbeit. Jugendliche erwarten, dass sie
nach der Schule mithilfe der Bundesagentur in Ausbildungsplätze vermittelt werden, und Behinderte erwarten,
dass sie eine vernünftige Beratung erfahren, damit sie in
Arbeit vermittelt werden können.
({2})
Im Übrigen lassen wir auch nicht zu, dass diese Debatte
auf dem Rücken der Beschäftigten der Bundesagentur
geführt wird.
({3})
In der Tat hat der Aufbau der gemeinsamen Jobcenter
nach dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss eine feste
rechtliche Grundlage. Der damit verbundene Prozess hat
allerdings erst begonnen; das wissen wir. Wir müssen
diese erfolgreiche Arbeit fortsetzen. Das ist im Übrigen
auch die Überzeugung von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Personalentscheidung hält den Reformprozess nicht auf. Wir
werden den Reformprozess unabhängig von dem, was an
der Spitze der BA mittlerweile passiert ist, fortsetzen.
Dafür steht die Koalition.
({4})
Sich die Tarifvertragsparteien als neues Opfer auszugucken ist zwar politisch interessant, aber in der Sache
völlig verfehlt.
({5})
Noch im Vermittlungsausschuss hat gerade die CDU/
CSU die Fahne der Selbstverwaltung hochgehalten und
mehr Rechte für die Selbstverwaltung gefordert. Jetzt
versuchen Sie, insbesondere die FDP, die Bundesagentur
mit plump-populistischen Angriffen auf die Selbstverwaltung ins Gerede zu bringen.
({6})
Ich bin der Meinung: Wer die Bundesagentur entscheidend mitfinanziert, nämlich die Arbeitnehmer und
die Arbeitgeber durch ihre Beiträge, der hat einen Anspruch darauf, an der Kontrolle und an der Aufsicht beteiligt zu sein. Das ist ein Gebot der Fairness, aber auch
der Klugheit. Die Tarifvertragsparteien sind wesentliche
Akteure auf dem Arbeitsmarkt. Wir sollten sie deshalb
verantwortlich einbinden.
({7})
Gerade jetzt, wo es vorwärts geht, zetteln Vertreter
der FDP eine Debatte an, in der sie behaupten, diese
Mammutbehörde gehöre aufgelöst. Das hat nicht nur jemand von den hinteren Bänken getan, sondern auch der
FDP-Vorsitzende, Guido Westerwelle.
({8})
Er sagte: Diese Mammutbehörde gehört aufgelöst. Das
zeigt im Kern nur, dass man eine aktive Arbeitsmarktpolitik mit einer modernen Dienstleistungsagentur nicht
will.
({9})
Die BA ist kein Moloch, wie hier dargestellt worden
ist. Von den 90 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
arbeiten nur noch 1 100 in der Zentrale in Nürnberg;
demnächst sind es nur noch 400. Die übrigen Mitarbeiter
sind auf 181 Agenturen im ganzen Land und auf weitere
660 Geschäftsstellen verteilt; sie arbeiten also dezentral.
({10})
Die Eigenverantwortlichkeit und die Entscheidungskompetenz der dort Tätigen haben wir mit unserem Gesetz
Hartz III herbeigeführt; die Aktivität kann also vor Ort
organisiert werden. Wer das nicht wahrnimmt, betreibt
Wirklichkeitsverweigerung.
({11})
Dazu will ich auch sagen: Die CDU muss endlich einen Klärungsprozess herbeiführen. Herr Merz, nicht gerade ein Hinterbänkler, fordert die Abschaffung der BA
und die Privatisierung der Arbeitslosenversicherung.
Heute haben wir vom Kollegen Laumann gehört, dass er
den Reformprozess fortgesetzt wissen will. In den Debatten hat er aber immer wieder vorgetragen: Die BA
kann es nicht; wir trauen ihr die Arbeit nicht zu. Die BA
ist also schlechtgeredet worden. Lieber Kollege
Laumann, wir haben heute von Ihnen gehört - dem liegt
ein Prozess der Einsicht zugrunde -, dass Sie zur BA stehen. Wir können uns in dieser Hinsicht sicherlich gemeinsam engagieren. Bisher haben Sie diesen Klärungsprozess aber nicht vorangetrieben; Sie haben Ihre Politik
eher auf dem Rücken der Beschäftigten der BA betrieben.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.
Das ist aus meiner Sicht ein schändlicher Vorgang.
Die Beschäftigten haben es verdient, dass wir zu ihnen stehen. Sie sind in der Lage und bereit, den Reformprozess voranzutreiben. Wir werden mit den Beschäftigten der BA eine moderne Bundesagentur schaffen. Alle,
die dabei mitmachen wollen, sind dazu herzlich eingeladen. Wir lassen es jedenfalls nicht zu, dass auf dem Rücken der Beschäftigten der BA Politik betrieben wird.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Kaster,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Vorbemerkung zum Beitrag von
Herrn Brandner machen. Wir müssen aufpassen, dass
wir mit dieser Debatte nicht von den wahren Problemen
ablenken. Ich will auf den Punkt kommen: Wir haben in
diesem Jahr im Monat Januar 400 000 Stellen weniger
als noch vor zwölf Monaten. Das sind die Probleme,
über die wir zu sprechen haben.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen
- so sagt es der Kanzler - über die größte Baustelle in
Deutschland. Vorweg bemerkt: Ob es sich um die größte
Baustelle handelt, sei dahingestellt. Wir sehen inzwischen quer durch alle Ressorts nur noch Baustellen. Wir
warten endlich auf ein erfolgreiches Richtfest.
({1})
Diese Baustellen haben übrigens alle eines gemeinsam:
immer große Ankündigungen, große Theorien, aber
klägliches Versagen in der Umsetzung.
({2})
Wenn wir über den ins Stocken geratenen Umbauprozess in der Bundesagentur sprechen, dann gehört dazu
auch, ganz deutlich zu sagen, welche Fehler zum jetzigen Baustopp auf eben dieser Baustelle geführt haben;
denn aus Fehlern muss jetzt gelernt werden. Sie, Herr
Minister Clement, sind der Verantwortliche auf dieser
Baustelle. Sie müssen daher endlich Ihrer Verantwortung
gerecht werden und Ihre Aufsicht und Verantwortung
gegenüber der Bundesagentur ernst nehmen.
({3})
Wo war denn Ihre Verantwortung, wo war das politische
Handeln bei den Problemen des Vorstandsvorsitzenden,
bei den Problemen zwischen Vorstand und Verwaltungsrat, bei den Problemen zwischen Vorstand und Mitarbeiterschaft, bei den Problemen mit dem Vergaberecht und
der Kritik des Bundesrechnungshofes? Da ist politisches
Handeln des zuständigen Ministers erforderlich.
({4})
Als Abgeordnete haben wir Ihnen konkrete kritische
Fragen gestellt, die von der Bundesregierung auch beantwortet wurden. Aber das Entscheidende haben Sie
versäumt, nämlich aus den eigenen Antworten auch
Konsequenzen zu ziehen. Bereits seit dem 28. November
- das ist schon einige Zeit her - liegen dem Minister
41 Beraterverträge mit einem Volumen von 55 Millionen
Euro vor
({5})
- 55 Millionen Euro, 41 Beraterverträge - mit durchaus
ersichtlichen Hinweisen auf Verstöße gegen das Vergaberecht. Zum Jahresbeginn wurde ein Vertrag über
2,5 Millionen Euro für „Beratung Arbeitslosengeld II“
bekannt. Wie lief das ab? Florian Gerster bestellte, der
Minister bezahlte und der Verwaltungsrat wusste von
nichts. So war die Vorgehensweise.
({6})
Das Vergaberecht, das Sie immer so abtun, ist kein
überflüssiger Bürokratismus.
({7})
Der Präsident des Bundesrechnungshofes hat Recht mit
seiner Kritik zur Bundesagentur, wenn er auf die drei
Kernpunkte des Vergaberechts aufmerksam macht, nämlich Wettbewerb, Transparenz und Vorbeugung gegen
Korruption.
({8})
Grundsätzlich spricht nichts gegen notwendige Beratung. Gerade eine schlechte Regierung braucht selbstverständlich mehr gute Beratung als eine gute Regierung.
({9})
Aber die Lösung kann nicht darin liegen, dass zusätzlich
zur teuersten Verwaltungsspitze, die die BA je hatte, die
Beraterkosten von 832 000 Euro im Jahr 2002 auf jetzt
42 Millionen Euro jährlich gestiegen sind. Wo bleibt da
das Gebot der Verhältnismäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit und wo bleiben die messbaren Ergebnisse? Das
versteht im Lande niemand mehr.
({10})
Aus dem größten Desaster in der Arbeitsverwaltung
müssen endlich Lehren gezogen werden. Eine echte Reform der Arbeitsverwaltung ist in dem Bewusstsein zu
organisieren und die Bundesagentur ist so zu führen,
dass nicht der Eindruck entsteht - so war es in der Vergangenheit -, hier agiere ein Konzern bzw. ein Konzernchef, sondern es muss allen bewusst sein, dass man hier
Verantwortung trägt für die Schwachen in unserer Gesellschaft, nämlich für Arbeitsuchende und Arbeitslose.
Wir brauchen Effektivität, Wirtschaftlichkeit und
Menschennähe. Wir müssen weg von kopflastiger BüroBernhard Kaster
kratie. Das Schlüsselwort heißt Dezentralisierung. Machen Sie das! Setzen Sie es endlich um!
({11})
Die Lösung liegt in der Fläche, in der stärksten nur denkbaren Regionalisierung, in enger Verzahnung mit den
Kommunen. Die Vor-Ort-Kenntnisse sind gefragt. Ich
erinnere hier an unsere Vorschläge im Zusammenhang
mit dem Arbeitslosengeld II.
Es muss damit Schluss sein, dass die Arbeitsverwaltung so manchen Flop des Hartz-Konzepts und eine völlig verfehlte Arbeitsmarktpolitik ausbaden muss.
({12})
Deswegen fordere ich: Stellen Sie die Dinge bei der Diskussion nicht auf den Kopf! Die Arbeitslosigkeit in
Deutschland ist nicht vorwiegend ein Vermittlungs- und
erst recht kein Statistikproblem. Denken Sie über neue
Strukturen nach! Neue Strukturen können zur Auflösung
von Verkrustungen führen. Beseitigen Sie Interessenkonflikte und Interessenkartelle in den Führungsgremien! Steuern Sie die Bundesagentur endlich in ein
Fahrwasser, in dem sie leistungsfähig sein kann - im Interesse der Arbeitsuchenden, der Beitrags- und Steuerzahler und auch der Mitarbeiter!
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, seien Sie doch bitte künftig von Beginn an etwas
kritischer, wenn Ihnen vom Kanzler ein bester Mann,
eine Lichtgestalt oder gar ein Superminister präsentiert
wird!
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Gerd Andres, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir von der SPD-Fraktion haben diese Aktuelle
Stunde beantragt,
({0})
weil wir hier im Bundestag über die Zukunft der Bundesagentur für Arbeit diskutieren wollen.
({1})
Wir sind fest davon überzeugt - das will ich zu Anfang sagen -, dass diese Bundesagentur über eine große
Anzahl von hoch engagierten, hoch motivierten und
hoch qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
verfügt, die eine ordentliche Arbeit machen.
({2})
Wir haben diese Aktuelle Stunde auch beantragt, weil
wir der Überzeugung sind, es wäre allen, die Verantwortung für die Bundesagentur für Arbeit tragen, sehr geholfen,
({3})
wenn die Bundesagentur nach den Diskussionen der vergangenen Wochen allmählich wieder in ein ruhiges
Fahrwasser kommen würde und wenn wir der Bundesagentur ermöglichen würden, den Reformprozess, in
dem sie steckt, mit Unterstützung aller, die hier sitzen,
zu meistern.
({4})
Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Laumann, dass Sie
die öffentlichen Äußerungen von Herrn Merz und von
Herrn Seehofer geradegerückt haben. Ich habe nachgelesen, dass die CDU-Vorsitzende ein Interesse daran hat,
dass die Reform der Bundesagentur weitergeht. Für die
Regierungskoalition und für die Regierung kann ich hier
ganz offen sagen, dass wir uns von der Modernisierung
des Arbeitsmarkts und der Bundesagentur nicht abhalten
lassen. Wir haben diesen Prozess begonnen und wir werden diesen Prozess auch erfolgreich fortsetzen.
({5})
Man muss etwas zu einigen Scharlatanen sagen, die
sich öffentlich äußern und die vor dem Hintergrund des
schwierigen Umbauprozesses glauben, ihre eigene
Suppe kochen zu können. Dazu gehört zunächst einmal
Herr Westerwelle.
({6})
Herr Westerwelle ist FDP-Vorsitzender. Herr
Westerwelle hat erklärt, er halte die Bundesagentur für
nicht reformierbar.
({7})
Wir sind von Herrn Westerwelle viel heiße Luft gewöhnt. Herr Niebel, weil Sie so dazwischenschreien,
({8})
sage ich Ihnen: Wenn sich Herr Westerwelle öffentlich
äußert, sollten Sie ihn vorher informieren, vor allem in
der Sache informieren.
({9})
Es muss ja irgendeinen Sinn haben, dass Sie hier in den
Ausschüssen herumhocken. Sie müssen dafür sorgen,
dass Ihr Vorsitzender nicht immer Unsinn erzählt.
Er hat beispielsweise gesagt, die Bundesagentur habe
90 000 Beschäftigte und davon seien nur 10 Prozent in
der Vermittlung tätig.
({10})
Herr Niebel, Sie wissen es besser. Sie haben in den letzten Jahren die Reformschritte mitbekommen. In der
Zwischenzeit sind über 15 000 Beschäftigte mit der Vermittlung befasst.
({11})
- Wir sind dabei! Wir verstärken das! Wir bauen das
noch aus! Das ist auch völlig richtig. - Meine Empfehlung an Sie, Herr Niebel: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Vorsitzender die Sache kennt, über die er redet!
({12})
Das kann man übrigens so manchem Redner hier wünschen.
Dann komme ich gleich zu Herrn Niebel, der natürlich auch versucht, seine Suppe auf dem Konflikt zu kochen.
({13})
Er tritt hier immer auf - die gestanzten Argumente kann
man zu Dutzenden hören - und spricht von der unglaublichen Industrie, die da tätig sei.
({14})
Er hat gesagt - ich will es im Originaltext zitieren -:
In Deutschland existiert eine riesige Arbeitslosenindustrie,
({15})
vor allem im Bereich der Weiterbildung.
({16})
Da balgen sich 30 000 Unternehmen um 23 Milliarden Euro jährlich. Diese Kreise hat Gerster durch
seine Reformen massiv gestört.
({17})
Herr Niebel, nach meinem Eindruck ist das, was Sie
da machen, pharisäerhaft;
({18})
denn Sie wissen es besser. Der Etat für Weiterbildung
bei der Bundesanstalt für Arbeit betrug im letzten Jahr
5,2 Milliarden Euro.
({19})
Sie reden von 23 Milliarden Euro.
({20})
Sie haben da den gesamten Etat für die aktive Arbeitsmarktpolitik genannt. Darin sind Lohnkostenzuschüsse
usw. enthalten. Lohnkostenzuschüsse bekommen übrigens die Arbeitgeber.
({21})
- „Ja!“ rufen Sie immer. Wissen Sie was? Ich fordere Sie
auf: Sagen Sie einfach einmal die Wahrheit, Herr Niebel,
und führen Sie nicht nur Kampagnen!
({22})
5,2 Milliarden Euro hat die Bundesanstalt im letzten
Jahr für berufliche Weiterbildung ausgegeben, davon alleine 4 Milliarden Euro für Unterhaltsgeld. Dieses Geld
bekommen die Leute, die sich in der Weiterbildung befinden, für den Unterhalt. Das bedeutet faktisch, dass
1,2 Milliarden Euro übrig bleiben. Davon lebt die gigantische Weiterbildungsindustrie, die hier ins Spiel gebracht wurde.
({23})
Herr Niebel, statt hier im Plenum oder woanders dumm
herumzuquatschen,
({24})
empfehle ich Ihnen, bei der Wahrheit zu bleiben und sie
zu sagen. Das ist viel sinnvoller. Ich bin auch überzeugt,
dass Sie es als Mitglied des Fachausschusses besser wissen.
Nun sage ich Ihnen etwas zu dem dritten Argument,
das da lautet, der Moloch Bundesagentur sei nicht reformierbar.
({25})
Da wird dann von Beschäftigtenzahlen und Ähnlichem
geredet. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen,
dass wir in der Zwischenzeit fünf Reformgesetze auf den
Weg gebracht haben
({26})
und dass die Bundesagentur für Arbeit - sie hat gegenwärtig 99 000 Beschäftigte; das entspricht etwa 89 000
Stellen - eine Organisation ist, die dringend reformiert
werden muss. Das, was wir mit befristeter Beschäftigung, mit anderen Vergütungsarten, mit einer neuen Wirkungskontrolle und -steuerung machen, kann sich sehen
lassen. Ich finde, die Bundesagentur hat für den kompletten öffentlichen Dienst Modellcharakter.
Ich würde mir wünschen, dass Sie, statt die Bundesagentur öffentlich madig zu machen und eine eigene
Suppe zu kochen,
({27})
mithelfen und mit daran arbeiten, den schwierigen Reformprozess bei der Bundesagentur für Arbeit erfolgreich zu absolvieren. Dann täten Sie etwas Gutes für die
Menschen in diesem Land und für dieses Land.
({28})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes
Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Minister Clement, Herr Staatssekretär
Andres, nach dem schauerlichen Scheitern von Florian
Gerster hätten wir in der von Ihnen jetzt beantragten Aktuellen Stunde zum Umbau der Bundesagentur natürlich
gerne erfahren, welche konkreten Konsequenzen Sie aus
diesen Vorfällen ziehen.
({0})
Aber die Konturenschärfe Ihrer Ankündigungen kann
man allenfalls mit in Watte gepacktem Pudding vergleichen, mit nichts anderem.
Was wir wollen, kann ich Ihnen sehr genau sagen:
Wir wollen, dass die Bundesagentur in dreierlei Hinsicht
reformiert wird. Sie soll schneller, sie soll schlanker und
sie soll sparsamer werden.
Schneller heißt vor allem: dezentrale Strukturen, Eingehen auf die Erfordernisse des örtlichen Arbeitsmarktes.
({1})
Der Arbeitsmarkt in Rostock unterscheidet sich von dem
Arbeitsmarkt in Berchtesgaden beispielsweise wie Eisbären von Himbeeren.
({2})
Deshalb müssen wir eine regionalspezifische Konzentrierung vornehmen und damit neue Möglichkeiten eröffnen.
Wir wollen aber auch, dass die Bundesagentur schlanker wird. Schlanker heißt nicht - das sage ich auch an
dieser Stelle - Zerschlagung oder Auflösung. Wir wollen
eine schlanke Struktur. Dazu gibt es viele Möglichkeiten.
({3})
- Habe ich doch gerade getan. Haben Sie nicht aufgepasst? Ich habe das gerade gesagt. Wenn Sie nicht aufgepasst haben, brauche ich es nicht zu wiederholen. Lassen
Sie es sich von Ihrem Nachbarn erzählen, Herr Andres.
({4})
Schlanker heißt, dass jetzt insbesondere bei den Ausführungsgesetzen für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die Attraktivität für die Kommunen, die Sache zu übernehmen, so erhöht werden muss,
dass viele Kommunen und Kreise diese Option auch tatsächlich wahrnehmen. Es darf nicht so sein, dass ein Gesetz entsteht, das letztlich den Gebietskörperschaften aus
finanziellen Gründen verbietet, diese Option zu wählen.
Das ist das oberste Prinzip für die Verschlankung.
Sparsamer heißt, dass natürlich auch in der Frage der
Fort- und Weiterbildung eingespart werden kann. Das
gilt auch für die Struktur der Bundesagentur; beispielsweise beim Gebäudemanagement gibt es eine ganze
Reihe von Einsparmöglichkeiten.
({5})
Außerdem hätte ich von Ihnen erwartet, Herr Minister
und Herr Staatssekretär, dass Sie erklären, wie Ihr Ministerium die Rechtsaufsicht nach diesen Vorkommnissen
künftig wahrnehmen will.
({6})
Bei allem Respekt vor der Selbstverwaltung, die wir natürlich wollen und hochhalten, kann doch eines nicht
richtig sein, nämlich die organisierte Verweigerung der
Rechtsaufsicht, die Sie in den letzten Tagen und Wochen
praktiziert haben.
({7})
Damit haben Sie auch den Mitarbeitern in der Bundesagentur schweren Schaden zugefügt. Wenn Sie heute
Krokodilstränen darüber vergießen, sollten Sie sich zunächst an die eigene Brust klopfen und zugeben: Sie haben angesichts dessen, was sich abgezeichnet hat, viel zu
lange abgewartet und gehofft, dass der Fall irgendwie
doch noch gut ausgeht. Aber es war von Anfang an erkennbar - spätestens nach dem Bericht des Bundesrechnungshofes -, dass die Sache nicht gut ausgehen wird.
Kommen wir zu der Praxis der Beraterverträge. Es
mag durchaus gute Gründe geben, sich beraten zu lassen; dagegen ist auch nichts einzuwenden.
({8})
Aber wenn in einem Ausmaß und in einer Dichte Beraterverträge abgeschlossen werden, dass praktisch sämtliche Aufgabengebiete der Bundesagentur nicht nur einmal, sondern doppelt beraten werden,
({9})
dann stellt sich in der Tat die Frage, welche Effekte bei
der Einsparung tatsächlich noch zu erzielen sind.
({10})
- Herr Andres, seien Sie ganz ruhig! Ich lese Ihnen einmal das vor, was Ihr eigenes Ministerium hier bekannt
gegeben hat: Seit dem Amtsantritt von Herrn Gerster
sind Beraterverträge in einem Volumen von 55,5 Millionen Euro vergeben worden; das Gesamtvolumen kann in
diesem Jahr noch um weitere 19,5 Millionen Euro erweitert werden.
({11})
Damit sind wir bei über 75 Millionen Euro für Beratung.
Sie finden praktisch kein einziges Aufgabengebiet der
Bundesagentur, in dem es nicht mindestens einmal eine
Beratung gegeben hat. Ich möchte hier ein paar Beispiele nennen: Beratung und operative Unterstützung
Kommunikationsmanagement, Beratung Vorstand Neuausrichtung BA, Beratung zur Umsetzung des SGB II,
({12})
Reformprojekt BA - Die Agentur, Los D ({13}), Einkaufsprozesse Arbeitsmarktdienstleistungen,
Auswahlverfahren von Führungskräften BA-Systemhaus, Beratungsleistung Einrichtung eines Kommunikationscenters, Projekt virtueller Arbeitsmarkt - ich erspare Ihnen den Rest.
Eines steht doch fest: Wenn die Bundesagentur schon
90 000 Mitarbeiter hat,
({14})
dann müssen Sie sich entscheiden: entweder Sie sourcen
out und kaufen in großem Stil Beratungsleistungen ein
oder aber Sie lassen diese Arbeit von den hoch qualifizierten Mitarbeitern der Bundesagentur erledigen. Das
von Ihnen angeführte Argument, Herr Minister Clement,
dass man möglicherweise 5 500 zusätzliche Stellen gebraucht hätte, wären die Beraterverträge nicht abgeschlossen worden, und diese Stellen seien dadurch „eingespart“ worden, kann mich in keiner Weise überzeugen.
Im Gegenteil: Sparsame Verwaltungsführung heißt, das
vorhandene Potenzial und Personal so zu führen und einzusetzen, wie es Sinn macht. Das haben Sie nicht getan.
Deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle: Hören Sie auf
mit den Beraterverträgen in dem jetzigen Umfang, seien
Sie sparsam und machen Sie jetzt einen Schnitt! Dazu
hätte ich von Ihnen hier und heute eine klare Stellungnahme erwartet. Vielleicht können uns einige weitere
Redner der Koalition diese noch geben; wir warten darauf.
({15})
Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst einmal etwas zu den Beraterverträgen
sagen. Herr Singhammer, ich glaube, dass Sie es sich da
zu einfach machen, wenn Sie populistisch agieren. Sie
denken, dass das Wort Berater schlecht ankommt. Also
sind Sie gegen Beraterverträge.
Wenn ich mir einmal anschaue, welche Landesregierungen in den letzten Jahren Beratung selbstverständlich
in Anspruch genommen haben, als es zum Beispiel um
die Neuordnung der Wirtschaftsförderung ging - dazu
gehört auch die Bayerische Staatsregierung -,
({0})
und wenn ich mir anschaue, dass die gleichen öffentlichrechtlichen Medien, die jetzt skandalisieren, dass Beraterverträge gemacht worden sind, bei Senderfusionen
Beratung durch private Gesellschaften selbstverständlich
in extenso in Anspruch genommen haben, dann kann ich
nur sagen: Das ist eine große Heuchelei.
({1})
Es gilt ein einfacher Satz: Je länger eine große Organisation im eigenen Saft schmort, umso notwendiger ist
externer Sachverstand bei der Neuorganisation.
({2})
Wo trifft das mehr zu als bei der Bundesagentur für Arbeit? Dass es für sie zutrifft, ist doch wohl logisch.
Dies ist typischer Populismus. Sie reden der „Bild“Zeitung nach dem Munde. In Wirklichkeit wissen Sie
aber genau, wie notwendig Beratung ist. Wenn Bundesminister Clement oder der Chef der Bundesagentur für
Arbeit keine Berater hinzugezogen hätte, dann wären Sie
die Ersten gewesen, die gesagt hätten: Sachverstand aus
der Wirtschaft muss her! Wir brauchen externe Beratung! - Das ist doch pure Heuchelei.
({3})
Auch das gehört zum Thema Heuchelei: Wenn Sie
eine Behörde mit fast 90 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die jahrzehntelang in einer bestimmten Art
und Weise gearbeitet haben, zu einer modernen, effektiv
arbeitenden, sparsamen und kundenorientierten Dienstleistungsagentur für Arbeitslose machen wollen, dann
müssen Sie gründlich vorgehen. Das ist ein schwieriges
Unterfangen. Ganz oben an der Spitze ist etwas schief
gegangen. Wenn man diesen Fehler korrigieren will,
dann muss man sagen, dass man nach der Verabschiedung der vielen Reformgesetze zu diesem Reformprozess steht, und dann muss man auch dafür eintreten, dass
gerade jetzt dieser Prozess konsequent weitergeht.
Ich freue mich über den Grundton in der Rede von
Herrn Laumann. Herr Laumann, aber Sie haben natürlich nichts zu dem gesagt, was Ihre Kollegen, zum Beispiel Herr Merz, tatsächlich wollen. Sie wenden die klassische Doppelstrategie an: Für die „Bild“-Zeitung
schlagen die einen feste drauf und andere, die wie Herr
Laumann etwas von Arbeitsmarktpolitik verstehen,
schlagen etwas verständnisvollere Töne an. Weil Sie erklärt haben, dass Sie für die CDU/CSU-Fraktion sprechen, werden wir davon ausgehen, dass die CDU/CSUFraktion in Gänze die Bundesagentur für Arbeit erhalten
will und dass sie ihren Umbau will.
({4})
Das ist die Geschäftsgrundlage für die Auseinandersetzung in den nächsten Wochen. Nicht Westerwelle oder
Merz, sondern Laumann pur ist die Grundlage für die
Gespräche, die wir führen werden.
({5})
Herr Laumann, mit dem, was Sie mit Blick auf die
Kommunen gesagt haben, müssen wir uns ernsthaft auseinander setzen. Wir finden es richtig, dass jetzt ein gutes Gesetz gemacht wird, das es den Gemeinden ermöglicht, in diesem Bereich, wenn sie es denn wollen, tätig
zu werden. Aber eine Konsequenz müssen Sie im Auge
behalten: Auch für die Arbeitslosen, für die die entsprechende Gemeinde diese Aufgabe nicht übernimmt - es
werden sich nämlich nicht alle Gemeinden beteiligen -,
muss es gut funktionierende Jobcenter der Bundesagentur für Arbeit geben. Das heißt, es darf nicht so sein, dass
die guten Fälle zu den Gemeinden gehen und die anderen vernachlässigt werden. Wir haben die Aufgabe, sicherzustellen, dass überall im Land Arbeitslose besser
betreut, besser vermittelt und auch besser behandelt werden, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Herr Niebel hat sich sicherheitshalber verdrückt; das
kann ich nachvollziehen.
({6})
- Er kommt erst gleich wieder; die Präsidentin wird aber
die Debatte nicht unterbrechen. - Ich finde, man muss
einmal klären, was Herrn Niebel in den fünf Jahren, in
denen er bei der Arbeitsverwaltung in Heidelberg gearbeitet hat, persönlich widerfahren ist. Er macht nämlich
keine Analyse des Reformprozesses, sondern er kocht
sein eigenes Süppchen. Ich habe keine Lust, dauernd von
dieser Nummer belästigt zu werden.
({7})
Wer sagt: „Bundesagentur für Arbeit jetzt auflösen“,
der meint natürlich ihre Zerschlagung. Um das zu erkennen, braucht man keine semantischen Turnübungen. Er
fordert dies auf dem Rücken der Arbeitslosen, die die
Hoffnung haben, dass sie eines Tages besser vermittelt
werden. Es handelt sich um einen neoliberalen und kalten Zynismus, den die FDP hier an den Tag legt. Ich bin
froh, dass sich die Haltung von Herrn Laumann davon
unterscheidet.
Wir reichen die Hand, für ein gutes Gesetz. Wir müssen die beste Lösung finden. Es muss gelten, dass die
Dienstleistung für die Arbeitslosen der Maßstab ist. Der
ganze taktische Firlefanz wird zu nichts führen. Was wir
brauchen, ist eine effektive Arbeitsverwaltung. Auf dem
Weg sind wir und diesen Weg werden wir fortsetzen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen - vielleicht auch nicht -,
dass sich die PDS im Bundestag nicht an der monatelangen Debatte beteiligt hat, die letztendlich zur Ablösung
von Herrn Gerster geführt hat.
({0})
Denn es war eine Stellvertreterdebatte, in der viele ihr
Süppchen gekocht haben.
Das eigentliche Problem, die Massenarbeitslosigkeit,
gerät so in der Öffentlichkeit immer mehr zur Nebensache. Sie ist aber die Hauptsache für viele persönliche Erniedrigungen und gesellschaftliche Verwerfungen. Deshalb ist hier darüber zu reden.
({1})
Es kann sein, dass Abgeordnete der PDS öfter mit Arbeitslosen zu tun haben als manch andere.
({2})
Das liegt dann allerdings am Selbstverständnis der Parteien. Jedenfalls weiß ich aus Erfahrung, was die
Agenda 2010, die Hartz-Gesetze und die so genannte
Reform der Bundesagentur für Arbeit für die wirklich
Betroffenen, die Arbeitslosen, bedeutet. Ihnen wird nicht
geholfen. Sie werden vielmehr für eine falsche Steuerund Arbeitsmarktpolitik in Haft genommen.
Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen aus meinem
Bekanntenkreis illustrieren:
Erstes Beispiel. Ein Ingenieur, inzwischen langzeitarbeitslos, bekam vom Arbeitsamt ein Schreiben. Darin
wurde ihm gedroht, er habe gefälligst auch Minijobs anzunehmen; ansonsten würden ihm alle Hilfen gestrichen.
Er schrieb zurück: „Bitte nennen Sie mir Minijobs, die
ich annehmen soll!“ Er wollte solche auch sofort annehmen. Auf eine Antwort wartet er bis heute vergebens.
Zweites Beispiel. Eine Nachbarin von mir ist arbeitslos, ebenfalls seit Jahren. Durch die Agenda 2010 sinken
ihre monatlichen Bezüge auf weniger als 400 Euro - zu
viel zum Sterben, aber viel zu wenig zum Leben. Nun
hat sie die Chance auf einen „Miniminijob“: ganze drei
Stunden in der Woche. Sie meldete das pflichtgemäß
dem Arbeitsamt. Das Einzige, was ihr zuteil wurde: ein
Berg Formulare, damit sie am Ende der Woche diese drei
Stunden beim Arbeitsamt minutiös abrechnet.
Herr Gerster war auserkoren, um all das durchzusetzen. Er sei der Beste, meinte Minister Clement bis zuletzt. Deshalb ist es müßig, über richtige oder gefällige
Beraterverträge zu streiten. Gerster hat eine falsche Politik exekutiert: eine Politik, die Arbeitslose und nicht die
Arbeitslosigkeit bekämpft. Rot-Grün nennt das Reform.
Der Opposition zur Rechten geht das Ganze nicht weit
genug. Die hohe Arbeitslosigkeit muss aber endlich als
strukturelles und anhaltendes Problem begriffen werden.
Ihr ist weder durch statistische Tricks noch durch Konjunkturgebete beizukommen. Die Aufgabe von progressiver Politik wäre es, nicht dem Markt zu gehorchen,
sondern eine Richtung vorzugeben.
({3})
Noch ein letztes Wort. Über Ablösesummen und Übergangsgelder wird in der Öffentlichkeit viel geredet. Da
geht es um 60 Millionen Euro und mehr für außergewöhnliche Leistungen, wie gesagt wird. Man muss als Arbeitsloser 60 000 Jahre alt werden, um mit Herrn Ackermann
und Herrn Gerster gleichzuziehen. Wer bundesdurchschnittlich arbeitet, braucht mehr als 3 000 Jahre, um ähnlich viel zu verdienen. Das ist fürwahr außergewöhnlich,
allerdings nicht die Leistung!
({4})
Das Wort hat der Kollege Rainer Wend, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Niebel, sozusagen außerhalb der Tagesordnung möchte
ich Ihnen vorweg erwidern: Sie haben eben in Bezug auf
den Kollegen Andres ein wenig abfällig gesagt: Vom
Postsekretär zum Staatssekretär.
({0})
Postsekretär ist erstens ein ordentlicher Beruf.
({1})
Zweitens ist Herr Andres damals Maschinenschlosser
gewesen.
({2})
Drittens sind wir Sozialdemokraten nach wie vor stolz
darauf, dass in unseren Reihen auch Maschinenschlosser
Abgeordnete und Staatssekretäre werden können. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
({3})
Wenn wir über die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit reden, sollten wir drei Dinge berücksichtigen.
Das eine ist die politische Klarheit. Minister Clement hat
mit aller Deutlichkeit gesagt: Falls es jemanden geben
sollte, der glaubt, durch die Demontage von Florian
Gerster, die es teilweise gegeben hat, und durch dessen
Abberufung den Reformkurs bei der Bundesagentur
rückgängig machen zu können, so hat sich dieser geirrt.
Die Bundesregierung wird unbeirrt am Reformkurs festhalten. Auf unserer Seite des Hauses ist politische Klarheit geschaffen worden. Auf Ihrer Seite fehlt es an der
Klarheit.
Eines muss ich noch einmal sagen: Ich höre Herrn
Laumann und lese Ausführungen der Kollegin Wöhrl,
darüber hinaus lese ich aber auch die Ausführungen von
Herrn Merz und Herrn Seehofer. Herr Merz ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Herr Seehofer stellvertretender Parteivorsitzender. Ich habe eine Bitte: Die
Parteivorsitzenden Merkel und Stoiber sollten klären, ob
die Unionsparteien zur Bundesagentur und zur Reformierbarkeit der Bundesagentur stehen oder nicht. Die
Klarheit darüber muss auf den Tisch.
({4})
Der zweite Aspekt - neben der politischen Klarheit betrifft Folgendes: Wir brauchen Wirtschaftswachstum.
({5})
Die beste Arbeitsmarktpolitik wird ohne Wirtschaftswachstum keinen durchgreifenden Erfolg haben.
({6})
Deshalb ist es richtig, die Rahmenbedingungen für das
Wirtschaftswachstum verbesert zu haben und weiter zu
verbessern. Ich nenne dazu Stichworte: Wir hätten die
Steuerreform gern etwas weiter getrieben, was aber im
Bundesrat scheiterte. Die Senkung der Lohnnebenkosten
ist ebenso ein Thema, über das wir weiter diskutieren
müssen. Das Thema Innovation in Wirtschaft und Wissenschaft wird uns bewegen. Dies alles macht die Rahmenbedingungen für ein besseres Wirtschaftswachstum
aus.
Ein dritter Punkt, nämlich die Senkung der Beschäftigungsschwelle, steht im Zentrum. Das heißt: Wir brauchen in Deutschland zwischen 1,7 Prozent und 2 Prozent
Wirtschaftswachstum, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Andere Länder sind deutlich besser, sie schaffen es
bei niedrigerem Wachstum.
Was können wir tun? Wir können die Beschäftigungsschwelle durch eine intelligentere und bessere Arbeitsmarktpolitik senken. Hierbei haben wir bzw. die Bundesagentur in der Vergangenheit einiges erreicht. Die
Instrumente beginnen zu greifen. Ich verstehe, wenn bei
den Personal-Service-Agenturen noch nicht alles hundertprozentig funktioniert. Es gibt aber immerhin über
40 000 Beschäftigte, erste so genannte Klebeeffekte
werden deutlich.
Machen Sie die Existenzgründungen nicht nieder!
Wir haben über die Ich-AG ungefähr 90 000 Menschen
aus der Arbeitslosigkeit herausgeholt und in die Selbstständigkeit geführt. In diesem Zusammenhang müssen
wir überlegen, welche Verbesserungen durch Begleitung
noch möglich sind. Mentalitätsmäßig aber müssen wir
erst einmal klar machen, dass der Weg aus der Arbeitslosigkeit nicht nur durch den klassischen Job in der Industrie möglich ist, sondern dass man sich darüber hinaus
auch selbstständig machen kann. Das ist in den letzten
Monaten in Bewegung gebracht worden und das ist eine
gute Sache, die wir loben sollten.
Ich möchte daher meinen Dank an Florian Gerster
richten, der bei aller Problematik der Persönlichkeit, die
ich nicht verschweigen will, die neuen Instrumente mit
viel Intensität und Energie angewandt hat. Ihm sei Dank
dafür. Den Menschen, die in der Bundesagentur beschäftigt sind, wünsche ich Mut, diesen Weg auch in Zukunft
weiterzugehen.
({7})
Weitergehen heißt, die Instrumente, die uns Hartz IV
bringt, zu nutzen. Was soll in diesem Jahr auf den Weg
gebracht werden? Ich will einige Stichworte nennen. Es
geht um die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe. Es geht um Jobcenter, in denen die Bundesagentur zusammen mit den Kommunen durch Bündelung von Kompetenzen eine bessere Vermittlung erreichen will. Wir müssen hinsichtlich der Zumutbarkeit das
Prinzip „Fördern und Fordern“ für Arbeitslose verbessern.
Ich fasse zusammen: Wir müssen erstens die Rahmenbedingungen für das Wirtschaftswachstum verbessern. Wir brauchen zweitens Verlässlichkeit in der Politik. Drittens müssen die Reformen auf dem Arbeitsmarkt
vorankommen und für mindestens den letzten Punkt
brauchen wir eine Bundesagentur, die reformiert und dadurch schlagkräftiger wird. Daran arbeiten wir.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Fuchtel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
wenn das Thema dieser Aktuellen Stunde wie die Flucht
nach vorn aussieht - für uns ist das Vergabethema noch
nicht abgehakt.
({0})
Wer in der letzten Woche in seinem Wahlkreis war, der
hat erlebt, dass das Verhalten der Bundesregierung in
dieser Angelegenheit der Bevölkerung schlichtweg auf
den Keks geht. Es kann auch nicht sein, dass der Bürger
immer weniger in der Tasche hat und in Berlin mal da,
mal dort freihändig mit Millionen jongliert wird. So geht
das einfach nicht weiter.
({1})
Bei diesem Schlendrian, der Kumpanei und der Korruptionsgefahr hilft nur eine generell verstärkte Kontrolle durch uns als Vertreter der Steuerzahler, damit
wieder Vertrauen wachsen kann und geordnete Verhältnisse entstehen können.
Die Kollegin Dückert hat vorhin in etwas hilflosem
Ton gesagt:
({2})
So etwas darf nicht wieder vorkommen. - Das ist zu wenig!
Als Obmann der CDU/CSU im Rechnungsprüfungsausschuss schlage ich heute konkret vor:
Erstens. Die Regierung wird bis auf weiteres verpflichtet, dem Bundesrechnungshof sämtliche Vergaben
von Gutachteraufträgen vorzulegen.
({3})
Zweitens. Der Haushaltsausschuss vereinbart mit dem
Bundesrechnungshof eine Kriterienliste, nach welcher er
vom Bundesrechnungshof die Vergabeentscheidungen
zur Bearbeitung vorgelegt bekommen möchte.
Drittens. Das Ganze wird zunächst ein Jahr lang in
der Hoffnung exerziert, dass die Regierung bis dahin den
rechtmäßigen Umgang mit Vergaben eingeübt hat.
({4})
Diese Maßnahmen sind notwendig, weil die Bevölkerung von uns erwartet, dass hier bald wieder ein anderer
Wind weht und dass wir nicht weiter nach dem Motto
„Weiter so“ und dem Prinzip der Verdrängung handeln.
({5})
Das ist unsere klare Linie für die Zukunft. Diese Linie
wird übrigens auch in einer anderen Frage vom Haushaltsausschuss verfolgt, nämlich bei der Vorlage von
Entscheidungen im Bereich der Garantien und Bürgschaften, die grundsätzlich dem Haushaltsausschuss vorgelegt werden. Hier müssen wir uns einfach eine Zeit
lang die Mühe machen, uns die Dinge anzuschauen, bis
das Durcheinander in der Regierung aufhört.
({6})
Für die Reform der Bundesagentur ist es erforderlich,
dass alle Beteiligten unbelastet sind. Die Besetzung der
Position der Vorsitzenden des Verwaltungsrates mit Frau
Engelen-Kefer ist eine Verneigung von Regierung und
Gewerkschaften vor der personifizierten Reformunfähigkeit.
({7})
- Hier sagt der Kollege Andres: „So ein Quatsch!“
({8})
Wer die Insider gehört hat, weiß: Die haben deshalb so
lange mit sich gerungen, ob sie den Gerster ablösen sollen, weil sie Angst gehabt haben, dass dieser Mann dort
Platz nehmen wollte. Jetzt sitzt er hier und sagt: „So ein
Quatsch!“.
({9})
Bei der Regierung gilt: Die Kleinen dürfen sich nichts
erlauben, die Großen alles! Als zuständiger Berichterstatter im Haushaltsausschuss habe ich seit Oktober
letzten Jahres bei Staatssekretär Andres auf Klärung bezüglich der fraglichen Vergaben gedrängt. Und was hat
er gemacht?
({10})
- Heiße Luft! Er hat gedacht, er könne die Sache aussitzen. Das ist ihm nicht gelungen.
({11})
Der Einschaltung des Bundesrechnungshofes hätte es
eigentlich gar nicht bedurft. Das Ministerium hat genügend qualifizierte Beamte, die die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Vergaben eigentlich von sich aus im Rahmen ihrer Rechtsaufsicht hätten prüfen müssen, und
zwar unverzüglich und völlig unabhängig von dem, was
im Verwaltungsrat im Rahmen der Fachaufsicht durchgeführt wird. Hierin liegt Ihr Versäumnis.
({12})
Ich muss zitieren, was dieser Mann, der sich hier vor
Lachen kaum auf dem Stuhl halten kann, dem es scheinbar völlig egal ist, wenn uns Hunderttausende Euro
durch die Lappen gehen,
({13})
am 28. November 2003 im Ausschuss gesagt hat:
Wir kriegen die Verträge, wir kriegen die Vermerke,
wir kriegen alles. Ich darf Ihnen aber sagen, ich
kenne sie nicht, will sie auch gar nicht kennen.
({14})
So nimmt dieser Mann seine Aufgabe in der Regierung wahr! Unsere Forderung lautet: Nicht nur Gerster
hat zu gehen, sondern auch Andres hat auf jeden Fall
wegen Unfähigkeit seinen Hut zu nehmen!
({15})
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden hier nicht über die Umbesetzung der Bundesregierung, sondern über den Umbau der Bundesagentur
für Arbeit zu einem modernen Dienstleister.
({0})
Der Umbau der Bundesanstalt zu einem Dienstleister,
nämlich zu einer Agentur, ist mittlerweile auf dem Erfolgsweg. Das haben wir gemeinsam mit den Beschäftigten trotz der Ausbremsversuche aus den Reihen der
Opposition hinbekommen.
Der seinerzeitige Vermittlungsskandal - gerade einmal zwei Jahre her - hat uns allen deutlich vor Augen
geführt, dass die Steuerung der Anstalt von einem falschen Weltbild geprägt war, nämlich dem, möglichst
viele Vermittlungen nachzuweisen. Der Kundenbezug
war egal.
Das war altes Denken, das sogar im Gesetz manifestiert wurde. Damit haben wir aber schnell aufgeräumt.
Wir haben der Bundesanstalt neue Instrumente gegeben
und alte verändert. Wir haben sie in die Lage versetzt,
dem Markt und nicht nur sich selbst zu genügen. Die
neue BA ist für die Zukunft gut gerüstet. Sie hat zwei
starke Säulen: Die eine ist ihre Zentralität in der Organisation und der Steuerung, die andere ihre Dezentralität
durch die ortsnahe Leistungserbringung. Gerade das ist
in der Diskussion darüber, wie Hartz IV umgesetzt werden soll, ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Aber das
verstehen noch nicht alle.
Denn durch ihre dezentrale Leistungserbringung ist
sie in einem Netz von rund 850 Dienststellen organisiert,
die vor Ort präsent sind und alle örtlichen Arbeitsmärkte
sowie die dort operierenden Kooperationspartner kennen. Durch ihre Zentralität ist sie in der Lage, Verfahren
sehr schnell bundeseinheitlich umzusetzen und gleiche
Standards zu schaffen. Insellösungen mit unterschiedlichen Angeboten, unterschiedlichem Betreuungsumfang
usw., wie sie von Ihnen, der Opposition, angedacht sind,
würden die Zerschlagung der BA bedeuten. Das wird es
mit uns nicht geben. Auf diesem Weg reißen Sie ein weiteres Stück Sozialstaat ein.
Nicht nur die FDP, sondern auch die CDU gibt der
BA keine Überlebenschance. Wie sonst ist es zu verstehen, dass Herr Schauerte gestern sagte, dass die CDU/
CSU auf absehbare Zeit an einer reformierten BA festDoris Barnett
halten will? Was bedeutet: auf absehbare Zeit? Wann ist
diese Zeit für Sie vorbei? Wenn die Städte optieren? - So
verklausuliert reden die Vertreter der FDP nicht. Sie reden Klartext.
Trotz aller Unkenrufe der Totengräber ist die BA kein
zentralistischer Moloch. Vielmehr ist sie heute mehr
denn je ein kundenorientierter Dienstleister. 1 100 der
90 000 Mitarbeiter waren einmal in Nürnberg beschäftigt. Viele dieser Stellen sind längst nach unten verteilt
worden. In der Zentrale werden nur noch 400 Stellen
bleiben. Denn es geht nicht um das Verwalten, sondern
um Eingliederung, Beratung, Vermittlung, Förderung
und auch um Lohnersatzleistungen. Dafür müssen die
Mitarbeiter der BA aber dort sein, wo auch die betroffenen Menschen sind. Genau das haben wir durch das
Hartz-III-Gesetz geschafft.
Dass die Arbeitsverwaltung immer besser wird, den
arbeitssuchenden Menschen also immer besser helfen
kann, zeigen die Ergebnisse. So ist die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 2003 konjunkturbedingt
zwar stark angestiegen. Trotzdem hält sich die Zunahme
in Grenzen, weil die getroffenen Maßnahmen bereits
umgesetzt wurden und greifen konnten. Die Bemühungen um Integration in den ersten Arbeitsmarkt machen
sich bemerkbar. Es konnten 13,6 Prozent mehr Arbeitslose als im Vorjahr in den ersten Arbeitsmarkt integriert
werden. Es konnten 12,2 Prozent mehr Menschen als im
Vorjahr durch Eigeninitiative eine Arbeit finden. Durch
stärkere Inanspruchnahme von Dritten bei der Vermittlung konnten erheblich mehr Menschen mit besonderen
Erschwernissen wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren. Im letzten Jahr wagten 250 000 Menschen den
Schritt vom Arbeitslosen zum Existenzgründer. Nicht
alle werden Erfolg haben. Aber diejenigen, die durchhalten - das werden viele sein -, schaffen weitere Arbeitsplätze.
Bei der Auswahl der Maßnahmen orientieren sich die
Arbeitsämter immer stärker daran, wie groß der Integrationserfolg ist. So können die Gelder besser eingesetzt
werden. Im Gegensatz zur Auffassung von Herrn Niebel
wird damit nicht eine Arbeitslosenindustrie ausgehalten.
Was hätten Sie als Vermittler nur gemacht, wenn es
keine Bildungsträger gegeben hätte? Hätten Sie den Betroffenen wenigstens die Leistungen ausbezahlt?
({1})
Das wäre für den Vermittler zwar einfach und Zeit sparend, für den Arbeitslosen aber nicht unbedingt optimal.
Die Transformation von einer Versorgungsanstalt in
eine Eingliederungsmaschine läuft. Sie läuft gut. Wir
können den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur danken; denn von ihren Anstrengungen profitiert unsere
ganze Gesellschaft. Dass dieser Prozess begleitet werden
muss, damit Fehlentwicklungen rechtzeitig abgewendet
werden können, weiß hier im Haus eigentlich jeder. Das
macht die Wirtschaft so und das macht auch die BA. In
ihrem 53-Milliarden-Euro-Haushalt setzt sie immerhin
0,08 Prozent für Beratung ein. Das macht sogar die
Herzog-Kommission, die man vielleicht besser in
McKinsey-Kommission umbenennen sollte. Überlegen
Sie sich Ihre Bemerkungen zu den Beraterverträgen also
gut! Denn sonst schaden Sie einem Berufsstand, der hierzulande vieles mit bewegen konnte - selbst bei Ihnen.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Schauerte,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe die Debatte auf mich wirken lassen und
muss mich fragen, was sie eigentlich sollte. Kurz nachdem Sie die Diskussion um den Vorstandsvorsitzenden
der Bundesagentur, die sich über Wochen und Monate
hingezogen hat und für Sie ausgesprochen peinlich war,
mit dessen Entlassung beenden mussten, beantragen Sie
diese Aktuelle Stunde und wollen eine Debatte über den
Umbau der Bundesanstalt zu einem modernen Dienstleistungsunternehmen führen. Wer in aller Welt hindert
Sie daran, den Umbau vorzunehmen? Wo liegt das Problem? Sie haben die Mehrheit und können entscheiden.
({0})
Ich habe von Ihnen zu diesem Thema, das Sie selbst vorgegeben haben, nichts Neues gehört. Sie sind in dieser
Debatte strategisch nicht richtig aufgestellt.
({1})
Herr Gerster war für Gerhard Schröder, der ja schon
häufiger personalpolitische Fehlentscheidungen zu verantworten hatte, und für Wolfgang Clement der beste
Mann für diese Aufgabe. Die Regierung hat ihn nach der
Stellungnahme des Verwaltungsrates entlassen. Warum
sollen wir darüber noch streiten?
({2})
Wir müssen zusehen, dass wir nun den besten Mann für
diese unglaublich große und schwierige Aufgabe finden.
Da Sie aber noch immer Loyalitätsbekundungen abgeben und beteuern, Herr Gerster sei ein guter Mann gewesen, droht uns doch, dass Sie wieder einen Mann von
ähnlicher Qualität nehmen.
({3})
Wollen Sie aus dem, was abgelaufen ist, keine Konsequenzen ziehen? Was soll uns diese Debatte bringen?
({4})
Bis jetzt hat sie uns erstaunlich wenig gebracht.
Sie haben Herrn Clever erwähnt, der übrigens nicht
mein Freund ist. Das ist hier so vorgetragen worden.
({5})
Wollen Sie mit Frau Engelen-Kefer, der ewig freundlichen und liebenswürdigen Begleiterin der Bundesanstalt
für Arbeit alter und neuer Prägung, eine Diskussion darüber anfangen, dass Sie die Befürchtung haben, der
Reformprozess könne behindert werden?
({6})
Sie werfen uns von der Union vor, wir wollten den Reformprozess behindern. Das ist doch abstrus! Wir wollen
Reformen schneller haben als Sie. Die FDP will die
Agentur sogar abschaffen; so schnell will sie reformieren. Die CDU sagt,
({7})
wir sollten es mit dieser Agentur versuchen - hoffentlich
klappt es -, aber so schnell und so effektiv wie möglich
und mit möglichst schlanken Strukturen.
({8})
Gegen wen kämpfen Sie also, wenn Sie mit Kraft in der
Stimme verkünden, der Reformprozess müsse fortgesetzt werden? Die einzigen Personen, bei denen die
Frage berechtigt ist, ob sie den Reformprozess fortsetzen
wollen, sitzen bei Ihnen.
({9})
Sie hatten mit Blick auf Frau Engelen-Kefer doch die
Sorge, ob man ihr den Abschuss von Herrn Gerster erlauben konnte,
({10})
weil Sie glaubten, sie wolle diese Reformen nicht und
deswegen auch nicht Herrn Gerster, weil er ihr zu reformerisch war.
({11})
Das ist die objektive Einschätzung der gesamten Öffentlichkeit. Sie müssen sich darüber klar werden.
Herr Brandner, heute war in den Tageszeitungen die
Bemerkung Ihres Bundeskanzlers zu lesen, mit den Belastungen müsse nun Schluss sein. Ich vermute, bei Ihnen besteht das Problem, dass Sie glauben, mit den Reformen sei nun Schluss.
({12})
Das überdecken Sie hier verbal. Die heute von Ihnen anberaumte Debatte ist völlig unnötig und beweist, dass
Sie sich damit selbst ermutigen wollen, weiterzumachen.
Uns brauchen Sie bei diesem Thema keine Ratschläge zu
geben.
({13})
Ich möchte noch zwei Punkte ansprechen, die mir
darüber hinaus wichtig sind. Zum einen muss man darüber nachdenken, wie es mit der Bundesanstalt und ihren
Gremien weitergehen soll, ob sie richtig besetzt sind und
ob es zu viele Abhängigkeiten gibt.
({14})
Gibt es genügend Transparenz? Ich will das einmal auf
die Aktiengesellschaften in Deutschland übertragen.
Man hört in diesem Zusammenhang die Stichworte
Good Governance und Good Conduct. Cromme und
Professor Braun geben vor, wie sich wer zu verhalten hat
und was er bekannt zu geben hat. Im gesamten öffentlichen Bereich findet eine solche Debatte nicht statt. Ich
möchte aber auch für diesen Bereich wissen, wer warum
wie entscheidet.
({15})
Wir verpflichten die Vorstände der Unternehmen, der
Welt zu erklären, wie viel Geld sie verdienen. Aber das
Einkommen des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit
ist ein Staatsgeheimnis, das nicht einmal der Verwaltungsrat kennen darf. Das sind eigenartige Verhältnisse.
Es gibt eine ganze Menge zu verändern. Machen Sie
mit! Seien Sie mutig!
Der zweite Punkt betrifft die Beraterverträge. Wir
brauchen kluge Beratung. Aber kluge Beratung darf
nicht aus strategischen Gründen eingesetzt werden oder
weil man keinen Mut hat oder weil man taktisch um
Ecken spielen will. Man muss sie vielmehr sparsam und
effektiv einsetzen. Sie muss anhand ganz objektiver Kriterien erfolgen.
Warum bleibt es eigentlich folgenlos, wenn man Beratungsaufträge vergaberechtswidrig vergibt? Überall reden wir über die stärkere Haftung des Managements und
der verantwortlichen Leute. In diesem Bereich zieht die
Rechtswidrigkeit keine Folgen nach sich. Lassen Sie uns
über solche Dinge nachdenken! Im Interesse der Beraterbranche müssen wir dafür sorgen, dass ein Schmuddelimage aufgrund zu vieler rechtswidriger, ungeklärter und
nicht transparenter Entscheidungen, insbesondere in der
Politikberatung, vermieden wird. Hier sind wir und die
Beratungsbranche in der Pflicht, Wege zu finden, durch
die verhindert wird, dass sich das weiter fehlentwickelt.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.
Ich bitte um Entschuldigung. - Ich erinnere an die
Bauwirtschaft. Ich möchte nicht, dass die Beraterbranche in einen negativen Ruf kommt. Lassen Sie uns sorgfältig darüber nachdenken!
Herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Hans-Werner Bertl, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
letzten Jahren Ihrer Regierungszeit bis 1998 - in Zeiten
höchster Arbeitslosigkeit! - haben Sie, CDU/CSU und
FDP, die damalige Bundesanstalt vor sich hindümpeln
lassen und für parteipolitisch fragwürdige Ziele missbraucht. Ich erinnere hier nur an die dubiosen WahlABM. Letztendlich haben eindeutig Sie den Zustand zu
verantworten, der uns dazu zwingt, die Bundesanstalt im
Rekordtempo zu reformieren. Das muss man hier einmal
klar machen.
({0})
Wir waren es, die den Umbau einer der wichtigsten sozialen Sicherungssysteme für die Arbeitnehmer in
Deutschland vorgenommen und eine Reform eingeleitet
haben, die aus der Anstalt eine kompetente Dienstleisterin für Arbeitgeber machen wird.
({1})
Und was machen Sie? Die FDP - Kollege
Westerwelle und Kollege Niebel, der eigentlich besser
wissen müsste, was los ist - verbreitet die Mär von der
gigantischen Mammutbehörde, die irgendwo in Nürnberg mit 90 000 Menschen auf einem Hügel sitzt, unflexibel und Spielball innerhalb mafiöser Strukturen ist.
({2})
- Das ist doch Ihre Position.
({3})
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/
CSU erklärt unterdessen, es müsse eine private Versicherung abgeschlossen werden. Ich frage mich: Wie soll das
funktionieren, Herr Merz? Soll es eine Teilkasko- oder
eine Vollkaskoversicherung sein? Soll sie mit oder ohne
eine Insassenversicherung abgeschlossen werden?
Ich glaube, das, was hier passiert, muss die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die weit über 90 Prozent der
Mittel für die Bundesagentur aufbringen, wach und empört machen. Sie diskreditieren und verleugnen die
Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit. Ich
frage mich, ob Sie sich wirklich bewusst sind, was Sie
den Vertretern der Arbeitgeber, den Vertretern der Arbeitnehmer und der öffentlichen Hand unterstellen, ohne
dass Sie bis heute einen Beweis hier auf den Tisch gelegt
haben.
({4})
Was ist die Bundesagentur für Arbeit wirklich? Ist sie
der von Ihnen geschilderte unbewegliche Moloch? Nein! 181 lokale Arbeitsagenturen, die früheren Arbeitsämter, und 660 Geschäftsstellen verteilen sich über ganz
Deutschland. Von den so oft zitierten 90 000 Mitarbeitern sind ganze 1 100 - demnächst 400 - in Nürnberg
beschäftigt. Mit der von uns betriebenen Reform wollen
wir diese dezentrale Struktur stärken
({5})
und die Mitarbeiter mit denjenigen zusammenbringen,
die in den Städten und Kreisen in den letzten Jahren
kompetent und engagiert gegen die Arbeitslosigkeit angegangen sind und sich um die Probleme der Menschen
gekümmert haben.
({6})
Meine Damen und Herren, das heißt: Unser Reformziel
ist es, für die Menschen vor Ort Ansprechpartner an einer Stelle zu haben, die sich in einer Einrichtung um sie
kümmern und dafür sorgen, dass Stunden und Tage der
Ämterlauferei in diesem Land endlich der Vergangenheit
angehören.
({7})
Wir wollen, dass die Jobcenter und Dienstleistungsagenturen kompetente und erreichbare Partner für die
Unternehmen sind, die einen Job anbieten wollen, Fragen zu Arbeitserlaubnissen haben, einen schwerbehinderten Menschen einstellen wollen oder eine Ausbildungsstelle zur Verfügung stellen können. Da liegt
unsere Perspektive für die neue Agentur für Arbeit: Sie
soll nicht mehr Anstalt, Behörde oder Amt sein, und
zwar nicht mehr in den Köpfen ihrer Mitarbeiter, aber
auch nicht mehr in den Augen derer, die sie als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, als Arbeitslose oder Schüler und
Schülerin aufsuchen.
Wir sind für die Reform und für Veränderungen. Mit
Ihrer Forderung nach Auflösung und Abschaffung werden Sie bei uns aber auf härtesten Granit stoßen. Die
Idee einer privatisierten Arbeitslosenversicherung wird
von uns - ich bin sicher, auch von den Arbeitnehmern
und den Arbeitgebern in Deutschland - als ein Angriff
auf eines der wichtigsten sozialen Sicherungssysteme
verstanden werden. Sie ist aber auch ein Angriff auf ein
Instrument zur Gestaltung unserer regionalen Arbeitsmärkte. Wenn dieser Zusammenhang begriffen wird,
dann wird klar, wie absurd Ihre Position, insbesondere
die der FDP, ist.
Ich kann Ihnen nur eines raten: Unterstützen Sie unseren Reformprozess! Geben Sie - so wie wir das bei dieser schwierigen Umgestaltung machen - denen, die Verantwortung tragen, also den Mitarbeitern in den
Agenturen für Arbeit, und denen, die für die Seite der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die öffentliche Hand
vor Ort Verantwortung tragen, die reelle Chance, diesen
Weg des Umbaus mitzugehen, und geben Sie denen, die
in den Städten und Kreisen eine Entscheidung über die
zukünftige Zusammenarbeit treffen müssen, die Perspektive, gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit
für die Menschen als kompetente Partner tätig zu werden!
Die bisherigen Auswirkungen der umgesetzten HartzKonzepte, die als Gesetz erst vor wenigen Wochen in
Kraft getreten sind, versprechen schon heute zu einem
Erfolg zu werden. Mit Ihrer vordergründigen und skandalösen Kampagne werden Sie an den Bedürfnissen der
Menschen vorbeilaufen.
({8})
Wir hingegen wollen, dass mit der Bundesagentur für
Arbeit ein kompetenter Partner bei der Zusammenarbeit
auf kommunaler und auf Kreisebene zur Verfügung
steht, der den Menschen hilft, wieder in Arbeit zu kommen, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern bei der Besetzung von Stellen zur Verfügung steht und der letztendlich eine Dienstleistung ermöglicht, die bei der
Gestaltung des Arbeitsmarktes allen Seiten gerecht wird.
Danke schön.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck ({1}), Katrin GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Welternährungssituation
und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({2}), Dr. Christian Ruck,
Christa Reichard ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verantwortung für die Sicherheit der Welternährung übernehmen - Chancen der Grünen Gentechnik nutzen
- Drucksachen 15/1316, 15/1216, 15/2234 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhold Hemker
Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wissen, Hunger und Unterernährung sind meistens
die Folge von Arbeitslosigkeit und Armut. Sie wurzeln
vor allem im fehlenden Zugang zu Land, Wasser, Bildung oder Krediten. Wir stellen fest: Es ist ein Skandal,
dass weltweit noch immer rund 840 Millionen Menschen nicht genug zu essen haben, obwohl eine ausreichende Versorgung aller Menschen auf der Grundlage
des heutigen Produktionsumfangs von Nahrung möglich
wäre.
Wir erinnern uns: Erstens. Bereits in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948
wurde das Recht auf Nahrung festgeschrieben.
Zweitens. Schon 1961 wurde das erste Welternährungsprogramm durch die Vereinten Nationen verabschiedet. Dieses Programm konzentrierte sich im
Wesentlichen auf zwei Aufgaben: einerseits auf Nahrungsmittelhilfe als Nothilfe, international „Emergency
Operation“ genannt, und andererseits auf Nahrungsmittelhilfe zur Stützung der wirtschaftlichen und sozialen
Entwicklung, Development Programme.
Drittens. 1966 wurde der Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte vereinbart. In Art. 11 heißt
es, dass das Recht auf einen Lebensstandard mit - ich zitiere - „ausreichender Ernährung“ anerkannt wird. 1996
schließlich wurde auf dem Welternährungsgipfel ein Aktionsplan mit dem Hauptziel verabschiedet, eine Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 zu erreichen. In
einem besonderen Kapitel wurde damals das Recht auf
Nahrung bekräftigt.
Seit 1999 gibt es erstmals eine klare Definition von
„Recht auf Nahrung“. So heißt es unter anderem: Verwirklicht ist das Recht auf Nahrung, wenn Menschen jederzeit durch Eigenproduktion oder Kauf ausreichend
Zugang zu angemessener Nahrung ohne schädliche Inhaltsstoffe haben. Die Nahrungsmittel müssen ausgewogen, gesund und der jeweiligen Kultur angemessen sein.
Bei der Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen hat der Staat drei Grundverpflichtungen: Er
muss den bestehenden Zugang zur Nahrung erstens respektieren, zweitens schützen und drittens gewährleisten.
Nach Schätzungen der FAO über die Anzahl der unterernährten Menschen gibt es einen alarmierenden
Trend. Die Reduzierung der Zahl der Hungernden hat
sich stark verlangsamt, China ausgenommen. Das gilt
insbesondere für das subsaharische Afrika. Die Verringerung beträgt seit 1996 jährlich circa 2,5 Millionen.
Wir wissen aber: Zur Erreichung des Ziels der Halbierung bis 2015 müsste die Zahl der Hungernden jährlich
um 24 Millionen abnehmen. Darum hat der FAO-Gipfel
2002 der Staatengemeinschaft den Auftrag erteilt, Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu entwickeln und alle, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, daran
zu beteiligen.
Dazu gehört: Erstens. Das Recht auf Nahrung muss
Teil der nationalen Gesetzgebung werden, auch der jeweiligen Verfassung. Zweitens. Es müssen öffentliche
und demokratische Gremien mit zivilgesellschaftlicher
Beteiligung sowie Institutionen und Rechtswege geschaffen werden, um das Recht auf Nahrung einklagbar
zu machen.
({0})
Dazu gehören auch Land- und Bodennutzungsreformen
zur nachhaltigen Ernährungssicherung. In einem Richtlinienentwurf, den die Bundesregierung Ende letzten Jahres vorgelegt hat, wird das auch als zentrale Aufgabe herausgestellt.
Hinzukommen müssen Ausbildungsmaßnahmen, bessere landwirtschaftliche Dienstleistungen sowie Infrastruktur und Marktentwicklung. Ziel ist auch die Verbesserung der Produktivität unter Berücksichtigung der
klimatischen und ökologischen Bedingungen. Dabei
sind die Erfahrungen mit der so genannten Grünen Revolution zu berücksichtigen. Diese Maßnahmen müssen
bei der Gestaltung der EZ verstärkt berücksichtigt werden. Die neue Schwerpunktsetzung der Bundesregierung
trägt diesem Ansatz bereits Rechnung. Darauf wird der
Kollege Raabe noch näher eingehen.
Die internationalen Regelungen im Handels-, Finanz-,
Agrar-, Umwelt- und Lebensmittelqualitätsbereich müssen mit dem Ziel fortentwickelt werden, dass sie einen
Beitrag zur Überwindung von Armut und Unterernährung leisten.
({1})
Das heißt unter anderem: Die Verwirklichung des Rechts
auf Nahrung sollte als Zielvorgabe in die Präambel des
WTO-Agrarabkommens aufgenommen werden, wie dies
bereits in unserem Antrag zur Verbesserung der Ernährungssituation und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung formuliert worden ist.
Ein weiterer Punkt ist: Der Marktzugang der Entwicklungsländer im Agrarbereich muss substanziell
verbessert werden. Auch dazu wird der Kollege Raabe
noch Stellung beziehen. Den Forderungen der Welthandelskampagne „Gerechtigkeit jetzt!“, der federführenden
NROs FIAN, Germanwatch und dem Dachverband der
Weltläden ist in diesem Zusammenhang zuzustimmen.
Nahrungsmittelhilfe ist dort notwendig, wo akute
Hungersnöte drohen bzw. schon eingetreten sind. Oft
aber erreicht Nahrungsmittelhilfe die Bedürftigen nicht
oder zur falschen Zeit oder sie belastet die einheimischen Märkte. Die Nahrungsmittelhilfe wird leider international nicht selten dazu benutzt, Überschüsse aus hoch
subventioniertem Anbau - so kann man es nennen - zu
entsorgen. In der letzten Ausgabe der Zeitung der Deutschen Welthungerhilfe wird darauf noch einmal ausdrücklich verwiesen.
Darum nenne ich einige Prinzipien, die von den Hilfeleistern zu beachten sind: Erstens. Nach dem in dem
Leitlinienentwurf genannten Do-no-harm-Prinzip dürfen Hilfslieferungen einheimische Bauern nicht arbeitslos machen und dürfen keine gesundheitsschädigenden
Nahrungsmittel verteilt werden. Nahrungsmittel sollten
wenn möglich vor Ort bzw. in der Region aufgekauft
werden - auch zur Stärkung der lokalen und regionalen
Wirtschaft.
({2})
Zweitens. Hilfe muss als Zuwendung und darf nicht
als Darlehen gegeben werden. Das haben Sie, Frau Ministerin Künast, im letzten Jahr noch einmal ausdrücklich betont. Wichtig ist auch, dass die Hilfe im Budget
des Empfängerlandes nicht als wirtschaftliche Zusammenarbeit verbucht wird.
Drittens. Nahrungsmittelhilfe muss Teil einer langfristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit sein.
Grundlegend ist auch die Problematik der genveränderten Bestandteile in Nahrungsmitteln. Nahrungsmittel aus genveränderten Pflanzen haben in der Vergangenheit schon dazu geführt, dass einheimische Pflanzen
verdrängt wurden.
({3})
- Das wissen Sie selbst, Kollege Carstensen. - Es geht
bei dem gesamten Anliegen - das gilt für Mais, Soja und
viele andere Getreidearten - eben auch darum, deutlich
zu machen, dass die Grüne Gentechnik nicht der Königsweg ist.
({4})
Wie wir wissen, ist Nahrungsmittelhilfe nur ein Mittel
im Kampf gegen den Hunger. Sie darf nicht die Fähigkeit der Menschen zur Selbstversorgung untergraben
und sie muss immer mit einer Politik verbunden sein, die
die nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume zum
Beispiel durch entsprechende Maßnahmen in der Entwicklungszusammenarbeit fördert.
({5})
Mit der Verbindung aller Faktoren kann die Ernährungssicherung weltweit deutlich verbessert und damit
das Menschenrecht auf Nahrung seiner Verwirklichung
näher gebracht werden. Ich begrüße, dass sich die Bundesregierung mit der neuen Schwerpunkt- und Programmentwicklung bereits auf dem richtigen Weg befindet.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
Der Hunger in der Welt ist zwar auch, aber bei weitem nicht nur, ein Verteilungsproblem. Die nachhaltige Sicherung der Welternährung wird ohne die effiziente Nutzung vorhandener und die konsequente
Verwirklichung neuer Agrartechnologien langfristig nicht möglich sein.
({0})
Dabei hat die Grüne Gentechnik das Potenzial,
einen signifikanten Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten.
Besser, so meine ich, kann man die Thematik, die wir
heute debattieren, nicht zusammenfassen.
Woher stammt das Zitat? Es ist aus einem Gutachten
für die Friedrich-Ebert-Stiftung - und die steht sicherlich
nicht auf unserer Payroll. Diese Studie stammt bereits
aus dem Jahr 1999, als wir technologisch noch lange
nicht den heutigen Stand erreicht hatten.
({1})
Die FAO hat diese Erkenntnis im Jahr 2000 mit ihrem
Statement ergänzt: Biotechnik bietet kraftvolle Werkzeuge für eine nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft und weiterer Bereiche.
({2})
- So ist es. - Aber Ministerin Künast scheut sich nicht,
im Plenum und anderenorts die Fakten zu verdrehen, allenfalls Halbwahrheiten darzustellen
({3})
- ich werde es Ihnen gleich verdeutlichen - und die Bürger an einer objektiven Beurteilung dieser Technologie
zu hindern. Das beste Beispiel dafür waren ihre falschen
Behauptungen - Sie erinnern sich sicherlich daran - über
den Goldenen Reis in der letzten Debatte zu diesem
Thema, die sogar den Vater dieser Erfindung, Professor
Potrykus, auf den Plan gerufen haben. Sie haben selbst
nachlesen können - ich nehme an, er hat den Brief auch
an Sie geschickt -, dass er die Künast-Behauptungen als
„offensichtlich nicht sehr sachkundig“ qualifiziert hat
und dann fortfuhr:
Ich bin mit vielen Kollegen in Entwicklungsländern
davon überzeugt, dass die Grüne Gentechnik ein
unverzichtbares Potenzial zur Ernährungssicherung besitzt.
Kollege Hemker hat eben darauf hingewiesen, dass
die Bekämpfung des Hungers weitaus langsamer vorangeht, als man es sich vorgestellt und gewünscht hat. Genau darin liegt das Potenzial der Grünen Gentechnik und das müssen wir nutzen.
({4})
Auch Kanzler Schröder hat seiner Ministerin inzwischen ins Stammbuch geschrieben, dass man in Deutschland nicht ständig über Risiken, sondern vor allem über
Chancen reden solle. Da sei - so Schröder weiter - eine
neue Balance nötig, Frau Künast.
({5})
Doch wenn Schröder das wirklich ernst meinen würde,
müsste er meiner Meinung nach seiner grünen Ministerin die Verantwortung für die Gentechnik schleunigst
entziehen,
({6})
hat sie doch auf dem Parteitag der Grünen Ende November - das ist gerade zwei Monate her - laut Pressemeldungen öffentlich erklärt, dass der Kampf gegen die
Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen und Nahrungsmittel ein wichtiges Ziel grüner Politik bleibe. Und
weiter O-Ton Künast: „Für das Welthungerproblem bietet die Gentechnik keine Lösungen.“
({7})
Wenn man das den wissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüberstellt, dann kann man sich nur wundern, was hier
im deutschen Parlament und von deutscher Regierungsseite verbreitet wird.
Zwar hat man Frau Künast - das haben auch Sie zur
Kenntnis genommen - inzwischen ein wenig die Fittiche
gestutzt. So musste sie zum ersten Mal öffentlich eingestehen, dass die Produkte der Grünen Gentechnik keine
Gefährdung für die Gesundheit der Menschen darstellen.
Mit ihrem Entwurf eines neuen Gentechnikgesetzes
versucht sie aber nun, im Kleingedruckten das durchzusetzen, was sie auf dem Grünenparteitag offiziell angekündigt hat. Sie will den Streit und die Auseinandersetzung in die Dörfer und unter die Bauern tragen, der
Willkür Tür und Tor öffnen sowie die Bürokratie und die
Kosten aufblähen, sodass eine Nutzung dieser Technologie in Deutschland in der Praxis unmöglich wird. Damit
wird ihr Gesetzentwurf zu einer Art unbegrenzter Überseeimportgenehmigung; denn er wird letztendlich den
internationalen Produzenten den Weg in die Regale des
Einzelhandels und auf die Teller der Verbraucher ebnen,
die Nutzung dieser Schlüsseltechnik in Deutschland aber
weiter um Jahre verhindern. Am Ende wird genau das
herauskommen, was Ministerin, Staatssekretär und Sie
von der Koalition uns immer vorgeworfen haben: Frau
Künast als Wegbereiter der großen internationalen Konzerne! Kollege Berninger muss dann seine Reden umschreiben, mich als Feindbild entlassen und sich eine
neue Position suchen.
({8})
Es darf doch nicht sein, dass ausgerechnet im Jahr der
Technik derjenige, der in Deutschland die modernen
Biotechnologien nutzen will, willkürlich zu Schadenersatzzahlungen herangezogen werden kann, und zwar
auch dann, wenn er die gesetzlichen Vorschriften beachtet, sein berufliches Wissen anwendet
({9})
- ich komme gleich auf Sie zurück - und die Regularien
in der Praxis penibel umsetzt. Ich meine, hier warnt der
Bauernverband zu Recht, nicht auf dieses dünne Eis zu
gehen.
({10})
- Hier geht es auch um die Welthungerhilfe. Auf diesen
Punkt komme ich gleich zurück.
Mit dem Untersagen der Nutzung der Grünen Gentechnologie in Deutschland entziehen Sie auch der Forschung in diesem Land den Boden. Dabei war Deutschland in diesem Bereich bisher an der Spitze. Vor
ungefähr zwei Stunden hat die Kabinettskollegin von
Frau Künast von dieser Stelle aus gesagt: Was Forscher
entdecken, muss schnell Zugang zum Markt finden. Das
ist die Aufgabe deutscher Forschungspolitik.
({11})
Setzen Sie das auch im Bereich der Grünen Gentechnik
um! Dann können wir das erreichen, was ich deutlich gemacht habe.
Weltweit - damit komme ich auf Ihre Frage zurück nimmt die Anwendung der Anbauverfahren und -methoden der Grünen Gentechnik rasant zu. Die Vorteile sind
nicht zu übersehen. Inzwischen - das soll mein Schlusssatz sein - sind von den weltweit knapp 7 Millionen Anwendern der Grünen Gentechnik 85 Prozent so genannte
Resource-Poor-Farmers, also Kleinbauern. Ich glaube,
hier liegt ein Potenzial für die Bekämpfung des Hungers
in der Welt. Das sollten wir nutzen, anstatt seine Nutzung weiter zu verhindern.
Schönen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hunger ist kein Schicksal. Hunger wird gemacht. Mehr
als 25 000 Menschen pro Tag - das entspricht der Einwohnerschaft einer mittleren Kleinstadt - verlieren den
Kampf um das Überleben, weil sie nicht die Chance haben, sich ausreichend zu ernähren, und das in einer Welt,
auf der es auch ohne Grüne Gentechnik genug Nahrung
für alle gibt. Trotz aller Millenniumsziele ist die Zahl der
Hungernden im letzten Jahr erstmals wieder gestiegen
und liegt jetzt bei 842 Millionen. Das sind absolut alarmierende Zahlen, die zum Handeln zwingen. Unter den
Menschenrechten sollte das Recht auf Nahrung eine Vorrangstellung haben; denn was nützen die bürgerlichen
Rechte, wenn das Recht auf Nahrung, das Recht auf Leben und Überleben nicht gewährleistet wird? Ich bin
deshalb der Bundesregierung und vor allem Renate
Künast dankbar, dass sie innerhalb der FAO einen Prozess angestoßen haben, der der Implementierung des
Rechts auf Nahrung dienen soll.
({0})
In diesem Zusammenhang ist momentan eine zwischenstaatliche Arbeitsgruppe damit beschäftigt, Leitlinien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu erarbeiten. Ich war auf der konstituierenden Sitzung dieser
zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe in Rom dabei und
konnte einen hochinteressanten Streit mitverfolgen.
Während die reichen Industrienationen auf die Hungerländer verwiesen und meinten, jene seien in erster Linie
dafür verantwortlich, geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung des Hungers zu ergreifen, zeigten wiederum
die Hungerländer auf die Industrienationen und sagten:
Nein, nicht bei uns, bei euch liegt der Schlüssel zur Lösung der Probleme.
Mein Fazit dieses Streites: Beide haben Recht und
Unrecht zugleich. Der Hunger in der Welt kann nur dann
wirkungsvoll bekämpft werden, wenn sowohl die Entwicklungsländer als auch die Industrienationen ihrer
spezifischen Verantwortung gerecht werden. Selbstverständlich hat Hunger viel mit schlechter Regierungsführung, mit Bad Governance, zu tun. Simbabwe ist ein
besonders krasses Beispiel dafür. Deshalb ist es gut, dass
jedes Land im Rahmen der Leitlinien, die in der FAO
diskutiert werden, Rechenschaft darüber ablegen soll,
wie es um die Ernährungssituation innerhalb seiner eigenen Grenzen bestellt ist. Regionen und Bevölkerungsgruppen, die besonders vom Hunger betroffen sind, sollen aufgelistet werden. Dann müssen Strategien zur
Lösung der Probleme entwickelt werden.
Genauso klar und deutlich muss aber auch gesagt werden, dass externe Faktoren wesentlich zum Hunger in der
Welt beitragen. Unsere Weltwirtschaftsordnung ist alles andere als gerecht. Den Entwicklungsländern gehen
allein durch den Protektionismus der Industrienationen
Einnahmen verloren, die bei weitem den Betrag übersteigen, den diese Länder als Entwicklungshilfe bekommen.
Die Agrarexportsubventionen zerstören Märkte in der so
genannten Dritten Welt und behindern die Entwicklung
in den ländlichen Regionen. Noch immer werden vielen
Ländern im Süden vom Weltwährungsfonds Strukturanpassungsmaßnahmen aufgezwungen, die das Hungerproblem dort eher noch verschärfen.
Die Leitlinien zum Recht auf Nahrung dürfen sich
deshalb nicht allein an die nationalen Regierungen wenden; sie müssen auch an die internationalen Organisationen wie den IWF und die WTO appellieren. Handelsliberalisierung darf nicht zum Selbstzweck werden.
({1})
Auch die Maßnahmen der internationalen Organisationen müssen sich daran messen lassen, ob sie der Umsetzung des Rechts auf Nahrung schaden oder dienen.
In der Diskussion um die Lösung des Hungerproblems müssen wirklich beide Ebenen - die nationale und
die internationale Ebene - gleichermaßen bedacht werden. Man kann da schnell rechts oder links vom Pferd
fallen: indem man entweder nur den Hungerländern die
Schuld gibt oder indem man nur ein Argument gelten
lässt, nämlich dass alles am System liege. Der vorliegende Antrag der Koalition fällt weder links noch rechts
vom Pferd: Er benennt wirklich beide Handlungsebenen
und listet alle Handlungsperspektiven auf. Und er verfällt nicht, wie der Antrag der Union, dem Wunderglauben, in der Entwicklung der Grünen Gentechnik liege
einer der wichtigsten Schlüssel zur Lösung des Hungerproblems.
Wie gesagt, nicht die Mengenproduktion ist das Problem; also kann auch die Grüne Gentechnik - von allen
Risiken einmal abgesehen - nicht den entscheidenden
Beitrag zur Lösung des Problems leisten. Es geht hierbei
in erster Linie um ein Verteilungsproblem und um die
Gerechtigkeitsfrage. Wir brauchen Good Governance
auf der nationalen und auf der internationalen Ebene.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Hunger tut weh. Die Sicherung der Welternährung ist
eine globale Aufgabe und sie wird es auch noch lange
bleiben. Ohne ausreichende Ernährung gibt es für die
Menschen keine Bildung, damit keine Entwicklung, keinen Wohlstand und auch keinen Frieden. Schon allein
deswegen ist es auch im Interesse der Menschen der entwickelten Welt, den Menschen in den Entwicklungsländern bei der Überwindung des Hungers zu helfen.
({0})
Vor dem Hintergrund der Internationalen Grünen Woche mit ihren Bildern des Überflusses im reichen Europa
müssen wir uns der Verantwortung für die Sicherung der
Welternährung stellen. Dabei müssen wir uns dessen bewusst sein, dass es auch in Europa Regionen mit Hunger
und Mangelernährung gibt, beispielsweise den Balkan.
Diese Region zeigt ganz deutlich, dass für den Hunger nicht nur extreme Witterungen verantwortlich sind,
sondern gerade auch menschliches Handeln, Machtpolitik von Diktatoren.
({1})
Die Ursachen für den Hunger auf der Welt sind bekannt: Armut und Arbeitslosigkeit, die Verantwortungslosigkeit totalitärer Regime, die ungerechte Verteilung
der Ressourcen an Land und Wasser, ein hohes Bevölkerungswachstum, ohne dass eine Vermehrung der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen möglich wäre.
({2})
Obwohl all dies bekannt ist, müssen wir dennoch feststellen: Die Vorschläge zur Sicherung der Welternährung
orientieren sich nicht nur an den Problemen der Dritten
Welt, sondern vielfach an den nationalen Interessen der
entwickelten Welt oder an Partikularinteressen der verschiedensten Verbände. Solange sich das nicht ändert,
bleiben Aufrufe und Reden Lippenbekenntnisse.
({3})
Ein Beispiel dafür sind die USA, die unter dem Deckmantel der Hilfe Nahrungsmittelspenden geben, um verdeckte Exportförderungen für die eigene Landwirtschaft
zu leisten. Dabei ist erwiesen, dass nur Hilfe zur Selbsthilfe die Menschen in den wenig entwickelten Ländern
dabei unterstützt, ihre Ernährungsprobleme zu lösen,
und daher Nahrungsmittelspenden aus der betroffenen
Region kommen sollten, soweit dies nur irgend möglich
ist.
({4})
Überproduktion bei uns hilft nicht den Hungernden in
Afrika. Auch unser Wohlstand gründet sich auf die von
uns geleistete Sicherung der Ernährung unserer Bevölkerung. Diesen Weg müssen wir anderen Ländern öffnen.
Dazu gehört aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, unser Wissen und unsere Kenntnisse
diesen Ländern zur Verfügung zu stellen.
({5})
Eine weltweit anerkannte Initiative ist die Entwicklung des transgenen Goldenen Reises. Der Generalsekretär der FAO, Jacques Diouf, nennt ihn den bemerkenswertesten Durchbruch der Grünen Gentechnik. Patrick
Moore, Mitbegründer von Greenpeace und langjähriger
Direktor von Greenpeace International, stellt fest: In der
Abwägung ist klar: Die realen Vorteile von genetischer
Modifikation überwiegen bei weitem die hypothetischen
Risiken, die von den Gegnern vorgebracht werden.
({6})
Doch Ministerin Künast ist sich nicht zu schade, mit
Falschbehauptungen gegen den Goldenen Reis ihre Fundamentalopposition gegen die Grüne Gentechnik zum
Ausdruck zu bringen,
({7})
dies wiederum im nationalen Interesse der Grünen und
nicht im Interesse der hungernden Menschen in den Entwicklungsländern.
({8})
Das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancun ist
ein weiterer Rückschlag für die Sicherung der Welternährung. Die Globalisierungsgegner haben bei ihrer Opposition gegen die WTO-Verhandlungen weniger die Interessen der Entwicklungsländer im Auge gehabt als ihre
eigenen Vorbehalte gegen die Globalisierung.
Offene Märkte sind eine entscheidende Voraussetzung für Entwicklung und mehr Wohlstand in der Welt.
Die Liberalisierung des Welthandels ist Voraussetzung
dafür, dass die Länder der Dritten Welt Exportchancen
für ihre Produkte erhalten.
({9})
Schokolade macht gute Laune. 10 Kilogramm Schokolade und Schokoladenprodukte essen die Menschen in
Deutschland pro Kopf und Jahr. Doch die Menschen in
den Tropen, der Region, in der der Kakaobaum wächst,
haben wenig davon; denn sie sind nur die Rohstofflieferanten. Die eigentliche Wertschöpfung aus der Verarbeitung der Produkte findet bei uns statt.
Das muss geändert werden. Zölle und Handelshemmnisse auf verarbeitete Agrarprodukte müssen beseitigt
werden,
({10})
damit die Wertschöpfung aus der Verarbeitung von
Agrarprodukten dort erfolgt, wo die entsprechenden
Kulturpflanzen angebaut werden.
({11})
Auch die EU muss sich beim Abbau von Zöllen, Subventionen und anderen Handelshemmnissen bewegen.
Die gegenwärtig diskutierten Luxemburger Beschlüsse
zur Agrarreform gehen mit der Entkopplung der Beihilfen in die richtige Richtung. Die FDP sieht sich in ihrem
Konzept der Kulturlandschaftsprämie durch diese Beschlüsse bestätigt.
Dabei müssen wir dafür sorgen, dass die Lasten aus
den notwendigen Reformen der EU-Agrarpolitik bei uns
nicht allein von den Menschen in den ländlichen Räumen getragen werden.
({12})
Sie brauchen Planungssicherheit, sie brauchen Einkommensalternativen und sie brauchen, wie die Menschen in
den Entwicklungsländern, faire Wettbewerbschancen
und keine von Rot-Grün diktierten zusätzlichen Reglementierungen, egal unter welchen Vorzeichen sie stehen
({13})
- unterhalten Sie sich mit Ihren Kollegen von den Grünen; die können Ihnen eine Menge von Beispielen dafür
zeigen -, ob Umwelt-, Tier- oder Sonst-was-Schutz,
denn die Standards in Deutschland sind hoch.
Dabei wünschen wir uns auch, dass Frau Merkel für
die CDU/CSU-Fraktion deutlich erklärt, was Sache ist:
({14})
das konservative Beharren auf nicht WTO-kompatiblen
Agrarsubventionen, wie die Agrarier sie vertreten, oder
die Liberalisierung des Welthandels, wofür die Wirtschafts- und Entwicklungspolitiker der Union eintreten.
Beides zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU-Fraktion, geht nicht
({15})
und das stellt auch das Anliegen des ansonsten wirklich
guten und von uns unterstützten Antrags der CDU/CSUFraktion zur Sicherung der Welternährung in Frage.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum letzten Satz.
Allerdings lehnen wir den Antrag der Koalitionsfraktionen aus einem Grund ab: Er enthält neben vielen
wichtigen Forderungen, die wir weitgehend unterstützen, auch die Forderung nach Außenschutz für Entwicklungsländer. Das lehnen wir ab.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Sascha Raabe.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Hier ist schon angesprochen worden:
Nicht das Recht auf Nahrung, sondern das Recht, sich
zu ernähren, ist eigentlich das entscheidende Moment;
denn die ärmsten Menschen wollen keine Almosen, sie
wollen keine Nahrungsmittelhilfe, sondern sie wollen
die Möglichkeit haben, ihre Lebensgrundlage selbstständig zu erwirtschaften.
Diesen Aspekt hat die Bundesregierung in ihrem
Aktionsprogramm 2015 berücksichtigt. Darin werden
viele Faktoren genannt, die dem Ziel dienen, den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, zum Beispiel beim
Aufbau leistungsfähiger Wirtschaftsstrukturen, die armutsminderndes Wachstum schaffen, und beim Abbau
der Verschuldung. In diesem Sinne war auch die Entschuldungsinitiative HIPC ein richtiger Weg, der weitergegangen werden muss. Die Finanzkrisen in vielen Entwicklungsländern, wie erst vor wenigen Jahren in
Argentinien, zeigen uns, dass auch eine Stärkung der internationalen Finanzarchitektur für diesen Weg wichtig
ist. Natürlich müssen auch soziale Grunddienste wie Bildung, Gesundheit, Familienplanung, Bekämpfung von
HIV und Aids gewährleistet sein. Wir alle wissen, dass
der Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung
ein enger ist. Den ärmsten Menschen muss Zugang zu
Trinkwasser und zur Energieversorgung gewährt werden.
Die Stärkung von Menschenrechten, von Kernarbeitsnormen, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der
Demokratie und der Partizipation der ärmeren Menschen
sind weitere wichtige Punkte in diesem Aktionsprogramm 2015. Das kann dazu beitragen, dass sich in den
Entwicklungsländern, wie es zu Recht gefordert wurde,
Good Governance durchsetzt.
Selbstverständlich geht es im Aktionsprogramm 2015
auch um die Frage, wie man das Recht, sich zu ernähren,
durchsetzen kann. Da wird als ganz entscheidender Faktor genannt, dass wir vor allem faire Handelschancen für
die Entwicklungsländer brauchen. Dies ist ein wesentlicher Teil des Antrags. Wir wollen ein Ende der handelsverzerrenden Agrarsubventionen und des Agrarprotektionismus der Industrieländer.
({0})
Laut Weltbank benötigen wir etwa 50 Milliarden USDollar mehr im Jahr, um Armut weltweit wirkungsvoll
bekämpfen zu können. Allein die Industrieländer geben
360 Milliarden Dollar pro Jahr aus, um ihre Landwirtschaft zu subventionieren. Das ist etwa das Sechsfache
dessen, was sie für die Entwicklungszusammenarbeit zur
Verfügung stellen. Ein erfolgreicher Abschluss der
Doha-Welthandelsrunde könnte den Entwicklungsländern nach vorsichtigen Schätzungen etwa 50 bis 100 Milliarden Dollar bringen.
Wenn fast 3 Milliarden Menschen von weniger als
2 Dollar täglich leben, aber jede Kuh in Europa mit
2,5 Dollar pro Tag, in Japan sogar mit 7 Dollar pro Tag
subventioniert wird, dann ist hier eine Schieflage gegeben.
Gegen subventionierte Dumpingpreise haben Kleinbauern
in Entwicklungsländern leider keine Chance.
({1})
Damit wird den Ärmsten der Armen das Recht genommen, sich selbstständig zu ernähren. Wer Ernährungssicherheit will, muss deshalb für eine gerechte Welthandelsordnung eintreten.
Wir haben in unseren Bundestagsbeschlüssen zur
Doha-Welthandelsrunde im vergangenen Jahr auf diese
Punkte hingewiesen. Es war die Bundesministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul, die in Cancun mit der
Baumwollinitiative mutig vorangegangen ist.
({2})
Ich finde es auch im Nachhinein peinlich, dass Sie, Herr
Kollege, und Ihre Fraktion das damals aus parteitaktischen Gründen diskreditiert haben, obwohl sich selbst
die EU-Kommission dieser Initiative angeschlossen hat.
({3})
Ich möchte auch unseren Bundeskanzler Gerhard
Schröder ausdrücklich loben, der bei seiner Afrikareise,
die sehr erfolgreich war, wörtlich gesagt hat:
Es ist keine stringente Politik, wenn die EU von offenen Märkten redet und zugleich aber Spanien und
Griechenland ihre Baumwollproduktion so stark
subventionieren, dass ein Exportland wie Mali
keine Chance hat.
Auch Bundeswirtschaftsminister Clement hat in Davos zu Recht eine Wiederaufnahme der WTO-Verhandlungen über Agrarsubventionen gefordert,
({4})
damit es hier noch in diesem Jahr zu einer Lösung
kommt und sich die Fehler von Cancun nicht wiederholen.
Natürlich ist es wichtig, dass sich auch die USA bewegen. Schließlich liegen hier beim Beispiel Baumwolle
die Subventionen viel höher als in Europa.
({5})
Sie betragen 3,9 Milliarden Dollar, während das gesamte
Hilfsbudget für Afrika lediglich ein Drittel, nämlich
1,3 Milliarden Dollar, ausmacht. Deshalb stimmt es
hoffnungsvoll, dass der US-Handelsbeauftragte Zoellick
in seinem jüngsten Brief an alle WTO-Mitglieder trotz
der US-Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr eine Reduzierung der Baumwollsubventionen und ein definitives Ende aller Agrarexportsubventionen fordert, damit
das Jahr 2004 kein verlorenes Jahr für die WTO-Runde
wird. Dies liegt nicht zuletzt auch im Interesse der deutschen Wirtschaft und Exportindustrie.
Ministerin Renate Künast hat es durch ihre sehr erfolgreichen Bemühungen in Europa im letzten Jahr geschafft, dass langsam die Subventionierung von der Produktion entkoppelt wird. Das wird in Zukunft ein
nachhaltiges Landwirtschaftsmodell ermöglichen.
({6})
Diese Schritte müssen fortgesetzt werden. Schon jetzt
aber müssen die EU und die USA ein klares Zeichen in
Form einer Frist für das definitive Ende der Exportsubventionen und aller handelsverzerrenden sonstigen internen Stützungen setzen.
An dieser Stelle wird uns auch gentechnisch verändertes Saatgut nicht helfen. Wenn wir glauben, damit die
Probleme im ländlichen Raum lösen zu können, ist außer
auf die Chance, die darin steckt, auch darauf hinzuweisen, dass die Lizenzgebühren natürlich zu einem Problem für Bauern in Entwicklungsländern werden können. Ich bin der Ministerin Künast dankbar, dass sie hier
immer wieder die Risiken anspricht und die Rahmenbedingungen so setzt, dass Gentechnik und Entwicklungspolitik zusammenpassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, enden
möchte ich mit einem afrikanischen Sprichwort: Menschen mit leeren Bäuchen wachen auf mit Herzen voller
Hass. Wir können also den Kampf gegen den Terrorismus nur gewinnen, wenn wir Hunger und Armut besiegen. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem
Antrag.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Deß.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der rot-grünen Koalitionsfraktionen
postuliert zwar das hehre Ziel, die Welternährungssituation zu verbessern, wird aber den Realitäten und Erfordernissen nicht gerecht - und das weder in der Analyse
der Ursachen für den Hunger in vielen Entwicklungsländern noch bei den Vorschlägen zu seiner Bekämpfung.
Wer wie Rot-Grün bereits bei der Diagnose der Ursachen versagt, kann auch bei der Therapie eines der größten Übel der Menschheit, nämlich Hunger und Unterernährung, nichts leisten.
Was hier heute, leider in einer Koalition zwischen
SPD, Grünen und FDP, zum Welthandel gesagt wurde,
kann ich so nicht stehen lassen, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen. Bei einem Produkt ist der Welthandel vollkommen liberalisiert, nämlich bei Kaffee. Ich bin der
Vorsitzende der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe und kenne die Situation der Kaffeebauern in Brasilien sehr gut. Bevor der Kaffeemarkt liberalisiert wurde,
als es also noch feste Handelskontingente gab, war die Situation der kleinen Kaffeebauern in Brasilien wesentlich
besser als heute in einem liberalisierten Markt.
({0})
Das Gleiche werden wir wohl auch bei Zucker erleben. Die so genannten AKP-Staaten dürfen zurzeit
1,3 Millionen Tonnen Zucker zu unseren hohen europäischen Zuckerpreisen in die EU liefern. Verbunden ist damit bei ihnen eine hohe Wertschöpfung. Wenn die Zuckermarktordnung, wie vorgesehen, kaputtgemacht wird, dann
dürfen diese Staaten zwar statt 1,3 Millionen Tonnen 7
oder 8 Millionen Tonnen nach Europa liefern; aber sie
werden für 8 Millionen Tonnen brutto nicht mehr Geld
erhalten als bisher für die 1,3 Millionen Tonnen.
({1})
Wie soll denn so eine höhere Wertschöpfung in den Entwicklungsländern möglich werden?
Ich bin ja nicht strikt gegen den weiteren Abbau von
Handelsverzerrungen, aber ich möchte mit dem Märchen
aufräumen, dass durch eine Liberalisierung der Agrarmärkte die armen Bauern in den Entwicklungsländern
reicher werden. Reicher werden dort die Reichen, während die Armen noch ärmer werden.
({2})
Das hat mit sozialdemokratischer und grüner Politik
nichts mehr zu tun. Bei der FDP verstehe ich das; sie
kümmert sich schließlich mehr um die Reichen als um
die Armen.
({3})
- Das ist leider eine Tatsache.
Aber das Schönreden und Verkleistern der Wirklichkeit sind wir bei Rot-Grün leider auch auf anderen Politikfeldern gewohnt, zum Beispiel bei der Bekämpfung
des innenpolitischen Grundübels der Massenarbeitslosigkeit. Auch hier wird nur geredet und es passiert
nichts.
({4})
- Das ist mir schon klar, dass Sie unbequeme Dinge
nicht angesprochen haben wollen; aber ich lasse mir
nicht verbieten, das anzusprechen.
({5})
Eine der Hauptursachen für den Hunger, insbesondere in Afrika mit über 40 Millionen unterernährten Menschen, sind Kriege, Bürgerkriege und politische Fehlentscheidungen korrupter und diktatorischer Regime. Selbst
eine UNO-Organisation wie das Welternährungsprogramm, das sich als internationale Institution diplomatischer Zurückhaltung befleißigen muss, stellt diese Hauptursachen deutlicher dar als Rot-Grün in seinem Antrag, in
dem sie mit keinem Wort erwähnt werden.
Besonders tragisch ist - ein Kollege hat es Gott sei
Dank angesprochen - die Unterernährung in Simbabwe,
das aufgrund der Vertreibung hoch effizienter Farmer
durch die Regierung von einem Agrarüberschussland
und Agrarexportland zu einem Importland und Empfänger von Nahrungsmittelhilfe geworden ist. Simbabwe,
das frühere Rhodesien, war lange Zeit die Kornkammer
des mittleren Afrikas. Der Sozialist Mugabe hat es geschafft, aus diesem Land eine Hungerregion zu machen.
Darin liegen die Ursachen für die schwierigen Verhältnisse in den Entwicklungsländern.
Der Koalitionsantrag konzentriert sich auf die Forderung, das so genannte Recht auf Nahrung national und
international zu verankern. Aber mit dem so genannten
Recht auf Nahrung verhält es sich genauso wie mit dem
von linken Ideologen ständig geforderten Recht auf Arbeit: Wo die materiellen Voraussetzungen für die Durchsetzung fehlen, ist die Proklamation solcher Rechte
Schwindel und Volksverdummung.
({6})
Es sind schlichtweg zu Papier gebrachte Luftblasen. Damit kann man das Welternährungsproblem nicht lösen.
({7})
Grundvoraussetzung der Hungerbekämpfung in den
Entwicklungsländern ist eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es
wiederum verschiedene Mittel, unter anderem die Nutzung der Grünen Gentechnik. Deswegen hat die CDU/
CSU-Fraktion in ihrem Antrag vom 24. Juni 2003 auf
die enormen Chancen hingewiesen, die durch den Einsatz der modernen Biotechnologie für die Sicherung der
Welternährung und die Bekämpfung des Welthungers
bestehen.
Frau Künast, ich habe Ihnen in meiner letzten Rede
zur Gentechnik den Vorwurf gemacht - das steht ja auch
im Protokoll -, dass Sie hier die Unwahrheit gesagt haben, was das Thema Goldener Reis und Konzerne anbelangt. Die Wissenschaftler haben sich sehr deutlich dazu
geäußert - Frau Reichard wird das noch ansprechen -,
dass sie bereit sind, den Ländern ihr Wissen zur Verfügung zu stellen. Hier läge doch eine Chance, meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition: Ihr wollt Eliteuniversitäten schaffen. Schafft eine
Eliteuniversität im Bereich Biotechnologie und stellt die
Forschungsergebnisse, die dort erzielt werden, den Entwicklungsländern kostenlos zur Verfügung. Das wäre
eine Form effektiver Entwicklungshilfe.
({8})
In dieser Richtung muss gearbeitet werden und nicht in
einer ideologischen Richtung, bei der für die Entwicklungsländer nichts herauskommt.
Unser Antrag geht in die richtige Richtung. Wenn die
FDP ihn nicht unterstützt, weil er zu wenige liberale Aspekte enthält, dann könnte ja die Regierungskoalition
diesen Antrag unterstützen. Ich darf Sie dazu auffordern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Renate
Künast.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde es schade, wie die Diskussion hier läuft. Wenn ich
die beiden Redebeiträge vonseiten der CDU/CSU betrachte und schaue, an welcher Stelle sie zusammenpassen, dann stelle ich fest: Sie wollen den europäischen
Markt weiter abschotten und weiterhin Exportsubventionen zahlen. Da Ihnen das aber im Hinblick auf die Diskussion um internationale Gerechtigkeit und angesichts
der Tatsache, dass 800 Millionen Menschen hungern, zu
peinlich ist, suchen Sie einen Trick und bieten diesen
Menschen die Grüne Gentechnik an.
({0})
Einmal abgesehen davon, dass das eigentlich unter Ihrem Niveau ist: Schlimmer ist noch, dass Sie, Herr Deß,
herablassend meinen, das Recht auf Nahrung, das UNOrganisationen und viele andere fordern ({1})
viele Länder handeln entsprechend und können erste Erfolge aufweisen -, sei eine Volksverdummung. Wie soll
man mit Ihnen diskutieren, wenn Sie mit solchen Tricks
und mit doppeltem Boden arbeiten? Das fällt mir wirklich schwer.
Ich hoffe, dass wir an dieser Stelle zu einer ernsthaften und seriösen Debatte zurückkommen können. Vielleicht können wir später die Debatte im Rahmen der
Novellierung des Gentechnikgesetzes endlich einmal unideologisch und seriös führen.
({2})
- Nach Ihren Reden habe ich alles Recht der Welt, Sie
darauf hinzuweisen: Auch Sie müssen sich mit der WTO
auseinander setzen. Man kann nicht - ganz christlich internationale Gerechtigkeit fordern, aber mit Zehen und
Klauen, allen voran die CSU, dieses handelsverzerrende
Agrarsystem der EU, das wir jetzt mühsam reformieren,
verteidigen. Sie können nicht beides gleichzeitig tun. Sie
müssen sich schon zu einem Weg bekennen und springen.
({3})
Wir wissen, dass trotz der Maßnahmen, die sich die
FAO und andere Organisationen vorgenommen haben,
die Zahl der Hungernden größer wird. Die Zahlen wären
noch schlimmer, wenn es nicht eine wesentliche Verbesserung der Ernährungssituation in China geben würde.
Für alle anderen Regionen gilt: Kein Wandel in Sicht.
Deshalb geht es darum, dass wir alle Werkzeuge, die
es gibt, nutzen. Wir müssen zunächst einmal anerkennen, dass es ein Recht auf ausreichende und gesunde
Nahrung überall auf der Welt gibt. Das kann nur heißen,
dass wir uns darum bemühen, alle Regionen aus der Armutsfalle zu holen. Wir wissen von der FAO: Wenn wir
es schaffen würden, das Kalorienangebot für die Menschen in diesen Hungerregionen um 500 Kalorien pro
Kopf und Tag zu erhöhen, dann würde infolgedessen das
reale Pro-Kopf-Einkommen in diesen Regionen um
0,5 Prozent pro Jahr - die Auswirkung potenziert sich
nämlich - steigen.
({4})
Wir brauchen also wirtschaftliches Wachstum nicht nur
für einige Menschen, sondern für alle Menschen. Sie
müssen Zugang zu Arbeit und Produktion haben, und
zwar im Wesentlichen im ländlichen Raum.
Wir wissen eines ganz klar: Ernährungssicherheit
muss absolute Priorität haben. Das heißt als Erstes, dass
wir Kleinbauern unterstützen und fördern müssen. Wir
müssen ferner die Frauen als wichtige Zielgruppe sehen,
({5})
weil sie in den vorhandenen Strukturen diejenigen sind,
die für die Ernährung der Familien sorgen. Wir brauchen
also eine Entwicklungszusammenarbeit, die ihr Augenmerk genau auf diese Dinge richtet. Es kann nicht sein
- der neueste OECD-Bericht weist uns darauf hin -, dass
wir zwar mehr Geld für Entwicklungshilfe, aber weniger
für den ländlichen Raum und für die Agrarproduktion
ausgeben.
({6})
Wir haben angefangen, konkrete bilaterale Projekte
der FAO in Afghanistan und in Westafrika zu unterstützen. Bei diesen Projekten geht es um eine nachhaltige Produktionssteigerung im Ernährungsbereich. Wir
wissen doch haargenau, dass wir es mit einer Vielzahl
ganz spezifischer Probleme zu tun haben, die erst einmal
überhaupt nicht mit dem Gentechnikproblem zusammenhängen. Schauen wir uns das HIV-Problem in Afrika
an. Dort fallen ganze Generationen aus. Deshalb brauchen wir neue Strategien, um Menschen zu fördern, die
das Land bestellen können.
({7})
Schauen wir uns ganz aktuelle Probleme an. In
Afghanistan und in Pakistan zittern die Frauen, die
Kleintiere halten, weil die Vogelgrippe ihre Kleintierbestände, die sie zur Ernährung brauchen, am Ende dahinraffen könnte. Das zeigt, dass wir konkrete Projekte und
günstige Rahmenbedingungen brauchen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehören faire Handelsbedingungen im
Rahmen der WTO. Damit bin ich wieder bei Ihrem kleinen Taschenspielertrick. Sie wollen sich um Konsequenzen drücken. Sie bleiben bei der Abschottung und fangen mit der Grünen Gentechnik an.
Wir sagen eines ganz klar: Der Agrarbereich muss
bei den WTO-Gesprächen vor allen anderen Interessen
oberste Priorität haben. Wir brauchen Fortschritt bei den
Reformen, die wir in Europa begonnen haben. Wir haben dies letztes Jahr in Luxemburg entschieden. Das Kabinett hat diese Woche beschlossen, wie das in nationales Recht umgesetzt wird. Wir haben im kommenden
April Entscheidungen im Bereich Baumwolle zu treffen;
auch der Bereich Zucker wird geregelt.
Wir sagen ganz klar: Alle Formen der Exportförderung müssen auslaufen. Deshalb wollen wir uns konstruktiv daran beteiligen, auf WTO-Ebene konkrete Daten dazu zu finden. Wir brauchen zudem den
Marktzugang für beide Ländergruppen: für die ärmsten
Länder und die Schwellenländer.
An dieser Stelle muss ich klar feststellen: Auch
Dinge, die uns lieb geworden sind - das Zuckerproblem
wurde bereits angesprochen -, müssen auf den Prüfstand. Das heißt allerdings natürlich ebenso, dass wir unseren Landwirten neue Möglichkeiten eröffnen.
Nur mit einem Paket an Maßnahmen kann man den
Welthunger bekämpfen: mit einem fairen WTO-Abkommen, mit einem verankerten Recht auf Nahrung, mit einer Überarbeitung der Nahrungsmittelhilfekonvention
und mit einer hohen Sensibilität bei der Entwicklungszusammenarbeit im ländlichen Raum. Nur dann schaffen
wir es, dass auf dieser Welt jede Frau, jeder Mann und
jedes Kind eine faire Chance hat.
Ich hoffe, dass Sie uns darin unterstützen. Es kann
aber nicht sein, dass wir in einer Art Beglückungsterrorismus andere mit unseren Dingen beglücken, Herr Deß.
Es geht vielmehr darum, im ländlichen Raum Selbstversorgung und Selbstbestimmung zu verankern, das heißt,
Außenschutz und interne Stützung in diesen Ländern
aufzubauen. Insofern sollten auch wir im Norden uns beschränken. Denn nur so schaffen wir mehr Gerechtigkeit
und eine Reduzierung des Welthungers.
({8})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Reichard.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was
nutzt uns ein Recht auf Nahrung, wenn wir nicht alle
Möglichkeiten - und wirklich alle, Frau Ministerin - zu
dessen Umsetzung ausschöpfen? Auf die Chancen der
Grünen Gentechnik haben Sie gerade nicht verwiesen.
({0})
Wir sind zum Handeln gezwungen. Wir tragen Mitverantwortung. Es ist ziemlich banal, zu sagen, dass die
landwirtschaftlich nutzbare Fläche nicht wächst. Also
muss die Flächenproduktivität steigen. Experten sehen
gerade in der Grünen Gentechnik eine Möglichkeit und
eine Chance für eine höhere Flächenproduktivität, und
zwar sowohl für die groß- als auch die kleinflächige Produktion.
Die Vorteile der Genpflanzen bestehen nicht nur in
höheren Erträgen und einer verbesserten Erntequalität,
sondern auch in ernährungsphysiologisch verbesserten
Eigenschaften und in einer Entlastung der Umwelt.
Selbstverständlich müssen auch mögliche Risiken, zum
Beispiel die für die biologische Vielfalt, untersucht werden; da bin ich ganz Ihrer Meinung, meine Damen und
Herren von der Koalition. Aber wie sollen mögliche Risiken untersucht werden, wenn Sie sich gegen jede Möglichkeit des Versuchsanbaus sträuben und sich weigern,
wissenschaftliche Erkenntnisse, die Ihre Befürchtungen
widerlegen, zur Kenntnis zu nehmen? Ich erinnere nur
an den fadenscheinig begründeten Stopp eines Vorhabens in der Bundesanstalt für Züchtungsforschung in
Pillnitz und Quedlinburg; darüber werden wir aber morgen an dieser Stelle genauer sprechen können.
Führende Experten der Weltnaturschutzorganisation
erwarten übrigens durch die Grüne Gentechnik eine
Produktivitätssteigerung im Ackerbau, die eine
Christa Reichard ({1})
weitere Umwandlung von Naturflächen in landwirtschaftliche Monokulturen verhindern kann. Das heißt,
Grüne Gentechnik kann sogar einen Beitrag zum Erhalt
der Artenvielfalt leisten.
({2})
Die Potenziale der Grünen Gentechnik sind ein wichtiger Baustein in einer Vielzahl von Maßnahmen, die
nötig sind, um Hunger und Mangelernährung zu bekämpfen. Es bringt nichts, die Grüne Gentechnik zu verteufeln. Tragen Sie endlich zu einer konstruktiven Auseinandersetzung bei und sprechen Sie nicht davon, dass
sie vielleicht irgendwann einmal kommt!
Ein beliebtes Argument der Kritiker ist, dass es sich
bei der Grünen Gentechnik um ein Instrument der Großindustrie handelt, mit dem bewusst Abhängigkeiten geschaffen werden sollen.
Dazu möchte ich eines sagen: Niemand wird gezwungen, genveränderte Pflanzen anzubauen. Wenn Anwender damit unzufrieden sind, so können sie jederzeit auf
traditionelles Saatgut zurückgreifen.
Wer eine Technologie an sich immer wieder mit einem möglichen Missbrauch, mit bestimmten Formen des
Handels, des Zugangs oder der Patentierung gleichsetzt,
der erinnert mich ganz fatal an die Maschinenstürmer
und ihren erfolglosen Kampf.
({3})
Ein anderes und beliebtes Instrument der Kritiker sind
Falschaussagen. In diesem Zusammenhang, Frau
Künast, hätte ich eigentlich eine Klarstellung von Ihnen
erwartet. Ihre öffentlichen Aussagen zum Goldenen Reis
in der Sitzung vom 23. Oktober waren falsch und sollten
auch öffentlich zurückgenommen werden.
({4})
Auf das Schreiben von Professor Potrykus haben
meine Kollegen Heiderich und Deß bereits hingewiesen.
Herr Potrykus weist in seinem Schreiben unter anderem
darauf hin, dass die Samen kostenlos an die Subsistenzbauern abgegeben werden, dass kein bestimmtes Herbizid gebraucht wird, dass Patente in diesem humanitären
Projekt keine Rolle spielen und ein negativer Einfluss
auf die Artenvielfalt ausgeschlossen werden kann. Denn
all dies haben Sie behauptet. Bitte nehmen Sie es daher
zurück.
({5})
Ich hoffe, dass das von Herrn Professor Potrykus erbetene Gespräch mit Ihnen inzwischen stattgefunden hat
und daraus ein Erkenntniszuwachs gewonnen werden
konnte.
Selbst der Vatikan betont inzwischen ausdrücklich die
Chancen der Grünen Gentechnik für die Bekämpfung
des Hungers in der Welt. In Verantwortung für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung, das Sie in allen Ihren
Reden angesprochen haben: Stimmen Sie unserem Antrag zu, meine Damen und Herren!
({6})
Ich schließe damit die Aussprache.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/2234. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den
Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 15/1316 mit dem Titel „Verbesserung der Welternährungssituation und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung“ in der Ausschussfassung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition
angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
15/1216 mit dem Titel „Verantwortung für die Sicherheit
der Welternährung übernehmen - Chancen der Grünen
Gentechnik nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Günter
Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht ({0})
- Drucksache 15/932 ({1})
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Joachim Günther ({2}),
Horst Friedrich ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von
SED-Unrecht ({4})
- Drucksache 15/1235 ({5})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({6})
- Drucksache 15/2412 -
1) Die Rede der Abgeordneten Petra Pau (fraktionslos wird zu Protokoll gegeben ({7})
Abgeordneter Markus Kurth b) Bericht des Haushaltsausschusses ({0})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/2413 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Walter Schöler
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt
Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Petra
Pau und Dr. Gesine Lötzsch vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Arnold Vaatz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie alle können sich noch an die Gedenkveranstaltung zum 17. Juni vor knapp einem Dreivierteljahr
hier in diesem Parlament erinnern. Damals hat der Herr
Bundespräsident erklärt:
50 Jahre danach müssen die Opfer Anerkennung erfahren …, die in der DDR Unrecht erlitten haben.
Manches geschieht dafür; dennoch begegne ich immer wieder Opfern des DDR-Regimes, die nicht
bekommen haben, worauf sie … billigerweise einen Anspruch haben sollten.
({0})
Der Herr Bundesratspräsident hat mit Blick auf den
gleichen Personenkreis hinzugefügt:
Sie, sofern sie heute noch leben, als Opfer von Unterdrückung und Willkür mit einer Ehrenpension zu
ehren, sollte … für uns ein lösbares Problem und
eine gemeinsame Verpflichtung sein.
({1})
Es haben sich aber nicht nur diese beiden führenden
Repräsentanten unseres Staates zum Handlungsbedarf
erklärt, sondern es sind zum Beispiel auch einige Stimmen aus der SPD-Fraktion nie verstummt. Hier möchte
ich zum Beispiel den Kollegen Hilsberg hervorheben,
der sich mehrfach zu diesem Thema geäußert hat.
Eine Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in
Ostdeutschland hat eine
nachhaltige Verbesserung der Lage der politisch
Verfolgten des DDR-Systems und der sowjetischen
Besatzungszeit gefordert und dabei konkret verlangt, eine monatliche Pauschalsumme als Ausgleichsleistung für erlittenes Unrecht - Haft - abhängig von der Haftdauer und eine Erhöhung der
Entschädigungssumme pro Haftmonat.
Das steht in Ihrem Antrag.
({2})
- Frau Stokar, wir stellen nun heute fest, dass all das
nichts als Lippenbekenntnisse und Sprechblasen gewesen sind.
({3})
Wieder einmal hat in Deutschland die Politik das Gegenteil dessen getan, was sie - mit dem Bundespräsidenten angefangen - vollmundig angekündigt hat:
Erstens haben Sie keinen eigenen Lösungsvorschlag
auf den Tisch gelegt.
({4})
Zweitens haben Sie unseren Gesetzentwurf abgelehnt,
weil er von der Opposition kommt.
Drittens - das ist ganz neu - haben Sie gestern auch
die von Ihnen selbst angekündigte Alternative als Täuschungsmanöver entlarvt.
({5})
- Ich erkläre Ihnen gleich, warum.
Der Herr Kollege Hacker - ich sehe ihn gar nicht; hat
er heute Hausverbot von Ihnen bekommen?
({6})
- gut - hat noch in der ersten Lesung dieses Gesetzes
versichert, Sie wollten darauf achten,
({7})
dass der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um zu
verhindern, dass SED-Opfer in die Sozialhilfe abrutschen.
Selbst darüber hätten wir ohne Probleme reden können. Es gibt ganz sicher Möglichkeiten, es auf diese
Weise zu lösen. Was wir aber jetzt lesen können, haut
dem Fass den Boden aus. Jetzt lesen wir in einem Bericht des Bundesinnenministeriums vom 13. Januar
2004, die Stiftung weise eine Deckungslücke von
3,9 Millionen Euro auf und solle darüber hinaus bis
Ende 2005 auslaufen. Das ist Inhalt dieses Berichts.
({8})
Zur Begründung heißt es, die notwendigen Änderungen im Bereich der SED-Unrechtsbereinigung seien abgeschlossen. Darüber hinausgehende Bestrebungen
seien aus grundsätzlichen Erwägungen und fiskalischen
Gründen abzulehnen.
Das ist nun das genaue Gegenteil dessen, was die führenden Repräsentanten dieses Staates vor einem
Dreivierteljahr hier an dieser Stelle unter dem Beifall des
ganzen Hauses festgestellt haben.
({9})
Ich kann verstehen, wenn die Menschen in diesem
Land und besonders die Betroffenen der SED-Diktatur,
die dieser Debatte heute von der Tribüne aus folgen, von
diesem Bundestag immer weniger halten und uns Politikern immer weniger glauben. Das Schlimmste ist nicht,
dass Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, mit Ihrem Verhalten die Spitzenrepräsentanten unseres Staates brüskieren. Die Botschaft des heutigen Tages wird sein: Die Demokratie verrät ihre Mütter
und Väter. Das ist die Realität.
({10})
Ich will dabei durchaus einräumen, dass das Ganze
zuerst eine Fehlleistung von uns in unserer Regierungszeit gewesen ist. Das ist überhaupt keine Frage. Aber Sie
sind doch mit dem Argument angetreten,
({11})
dass Sie alle unsere - von Ihnen behaupteten - Fehler
richtig stellen und korrigieren wollten.
({12})
Es entschuldigt Sie überhaupt nicht gegenüber den Opfern,
({13})
wenn Sie aus dem Verweis auf die schon von uns unterlassene Zuwendung das Recht ableiten, diese Zuwendung ebenfalls unterlassen zu dürfen.
({14})
Ich will Ihnen bloß sagen: Ein Fehler, den man das
zweite Mal macht, wiegt doppelt. Das müssen Sie sich
hier in aller Deutlichkeit sagen lassen.
({15})
Ich will Ihnen auch noch sagen, dass Ihr Verhalten in
fataler Weise mit der Kälte und der Ablehnung korrespondiert, mit der schon im Jahre 1989 einige heute führende Sozialdemokraten auf die Revolution in der damaligen DDR reagiert haben,
({16})
in der die SED-Opfer durch die Geschichte rehabilitiert
und in ihrem Einsatz bestätigt wurden. Das ist damals
Ihre Reaktion gewesen. Lesen Sie die Aussagen nach,
mit denen Herr Lafontaine und Herr Schröder auf die
damaligen Ereignisse in Ostdeutschland reagiert haben.
Wenn Sie sich nicht mehr erinnern können, schicke ich
sie Ihnen gerne in Ihr Büro. Denn heute ist nicht der
richtige Tag, um Ihnen all das expressis verbis zu sagen.
Meine Damen und Herren, mit der heutigen Entscheidung bringt der Gesetzgeber unseres demokratischen
Staates im Grunde Folgendes zum Ausdruck: Es war ein
großer Fehler, sich für Demokratie und Menschenrechte
einzusetzen.
({17})
Die Demokratie selbst erkennt den Einsatz für Demokratie nicht an. Sie vollbringt zwar für alle Benachteiligten in unserer Gesellschaft große Solidarleistungen,
nicht aber für den durch die Diktatur verletzten Demokraten. Es waren ihrer zu wenige, was offenbar die
schwerste Sünde ist, die man in der Demokratie begehen
kann. Denn dann hat man keine Lobby und man ist zu
gering an Zahl, um wahlrelevant zu sein. Das ist die
wirkliche Botschaft des heutigen Tages.
({18})
Die Bundesrepublik Deutschland sagt weiter: Die Ansprüche, die jemand im Einsatz für seine eigene Karriere
in der DDR aufgebaut hat, erfüllen wir. Das, was jemand
im Einsatz für Freiheit und Demokratie verloren hat, geben wir ihm nicht einmal symbolisch zurück. Das ist die
Botschaft.
({19})
Mit einer solchen Haltung, meine sehr verehrten Damen
und Herren von den Regierungsfraktionen, verraten Sie
genau die Werte, auf denen unsere freiheitlich-demokratische Ordnung beruht. Das ist der eigentliche Schaden,
den Sie heute anrichten werden.
({20})
In der ersten Lesung hatte der Kollege Hacker den
Vorwurf erhoben, in unserem Gesetzentwurf wollten wir
die Lage der SED-Opfer zulasten der Opfer des Faschismus verbessern. Davon kann nicht einmal andeutungsweise die Rede sein. Denn Sie selbst wissen ganz
genau, dass wir niemals auch nur andeutungsweise die
VN-Renten in Ostdeutschland in Frage gestellt haben.
Auch wissen Sie, dass im Bundesentschädigungsgesetz
seinerzeit ein weitaus größerer Begünstigtenkreis angesprochen wurde, als wir es in unserem Gesetzentwurf
tun, und dass die Höhe der Entschädigungen - übertragen auf die Preise von heute - in etwa den Regelungen
des Bundesentschädigungsgesetzes entspricht. Wer etwas anderes behauptet, tut dies wider besseres Wissen.
({21})
- Herr Kollege Ströbele, auch dies sind kein Ehrenpensionen. Wir haben ausdrücklich erklärt, dass wir von Opferpensionen sprechen wollen,
({22})
weil dadurch die Schäden ausgeglichen werden sollen,
die den Menschen zugefügt worden sind.
({23})
Nichts anderes.
({24})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
wird heute auch für den Gesetzentwurf der FDP stimmen, obwohl er sich - sowohl was die Kosten als auch
seine Systematik betrifft - von unserem Gesetzentwurf
etwas unterscheidet. Damit wollen wir aber eines demonstrieren: Die Unterschiede zwischen den beiden Gesetzentwürfen der Opposition betrachten wir gegenüber
der übergreifenden Notwendigkeit, in dieser Frage aktiv
zu werden und den Opfern zu helfen, als geringfügig.
({25})
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, nun denken Sie sicher, dieses Thema sei mit Ihrer
heutigen Ablehnung, die Sie vorbereiten, vom Tisch. Ich
sage Ihnen: Sie täuschen sich. Auch wenn heute ein
schwarzer Tag der jüngeren deutschen Parlamentsgeschichte werden wird,
({26})
wird meine Fraktion die Anliegen der Opfer der SEDDiktatur so lange weiter unterstützen, wie es noch einen
einzigen anspruchsberechtigten Betroffenen in diesem
Land gibt.
({27})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie schon in der heutigen Debatte keinen einzigen ostdeutschen Abgeordneten zu
Wort kommen lassen, seien Sie wenigstens so gut, sich
von diesen Abgeordneten den Brief auszuleihen, den der
thüringische Sozialminister Zeh an alle ostdeutschen
Abgeordneten geschrieben hat, und führen Sie sich seinen Inhalt zu Gemüte. Denn aus diesem Brief geht hervor, dass Sie dieses Thema nicht loswerden und dass die
Vertreter der ostdeutschen Länder, die von unserer Partei
regiert werden, dieses Thema in den Bundesrat einbringen werden. Wir werden uns damit also wieder zu befassen haben.
Vielen Dank.
({28})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Dreßen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
SPD-Fraktion ist sich der politischen und moralischen
Verantwortung bewusst, die sie gegenüber den Opfern
der SED-Diktatur, also gegenüber den Menschen, die
sich für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben, trägt.
({0})
Wir haben großen Respekt vor der Leistung dieser Menschen. Ich möchte Ihnen aufzeigen - die Rede von Herrn
Vaatz macht das notwendig -, welche Gesetze hinsichtlich Rehabilitierung und Entschädigung bisher im Deutschen Bundestag verabschiedet wurden.
Schon die frei gewählte Volkskammer hatte 1990 ein
Rehabilitierungsgesetz beraten und verabschiedet. Darin ging es um die strafrechtliche, berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. In den Einigungsvertrag
wurden nur Teile dieses Gesetzes übernommen. In einem Entschließungsantrag wurde der gesamtdeutsche
Gesetzgeber aufgefordert, diesen Bereich abschließend
zu regeln.
Die damalige, von CDU/CSU und FDP geführte Bundesregierung hat das Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz auf den Weg gebracht, das jedoch von den Opferverbänden und von der damaligen Opposition heftig
kritisiert wurde. Die Kritik bezog sich auf die Differenzierung der Entschädigung nach dem Wohnsitz in Ost
oder West: Wer in den neuen Ländern wohnte, bekam
550 DM für jeden angefangenen Kalendermonat Haftzeit, wer im Westen wohnte nur 300 DM je Monat Haftzeit. Für Angehörige von Hingerichteten, von in politischer Haft oder an der innerdeutschen Grenze
Umgekommen fehlte eine Entschädigungsregelung.
Auch für die Gruppe der Zwangsausgesiedelten fehlte
eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung vollkommen. Haftbedingte Gesundheitsschäden wurden nicht
angemessen bewertet. - Das waren damals die Hauptkritikpunkte der Opferverbände. Konkrete Vorschläge der
SPD-Bundestagsfraktion, die in parlamentarischen Initiativen mündeten und eine deutliche Verbesserung zum
Inhalt hatten, wurden damals von der Koalition aus
CDU/CSU und FDP abgelehnt.
({1})
Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das
die rot-grüne Koalition auf den Weg gebracht hat, beseitigte die Fehler des ersten Gesetzes.
({2})
- Wie Sie, Herr Vaatz, eine solche Rede halten können,
wundert mich also sehr. - Es beinhaltete eine einheitliche Haftentschädigung von 600 DM je angefangenem
Haftmonat unabhängig vom Wohnsitz und soziale Ausgleichsleistungen von nächsten Angehörigen von Hingerichteten und von während des Freiheitsentzugs oder an
der innerdeutschen Grenze Umgekommenen. Die Mittel
für die Stiftung ehemaliger politischer Häftlinge wurde
von 300 000 DM auf 1,5 Millionen DM pro Jahr erhöht.
({3})
Zugleich hatte Bundeskanzler Schröder in einem Brief
an die Ministerpräsidenten der Länder die Forderung
aufgestellt, dass Gutachten, in denen Gesundheitsschäden, die aus politischer Haft resultieren, nicht attestiert
wurden, überprüft werden. Wir haben also die Wahlversprechen, die wir 1998 gemacht haben, umgesetzt.
({4})
Wir haben die Opfer vom Makel persönlicher Diskriminierung durch Rehabilitierung befreit. Durch Kapitalentschädigung, Unterstützungsleistungen, Beschädigtenund Hinterbliebenenversorgung haben wir eine soziale
Ausgleichsleistung gewährt.
Eine Opferpension, wie sie die Union in Art. 1 ihres
Gesetzentwurfes vorgeschlagen hat, kann im Rahmen
der Rehabilitierungsgesetze nicht geregelt werden; nehmen Sie das zur Kenntnis. Dies ist deshalb ausgeschlossen, weil die bundesdeutsche Entschädigungsgesetzgebung für Verfolgte unter der NS-Gewaltherrschaft keine
rentenrechtlichen Anwartschaften, sondern Leistungen
nach dem Bundesentschädigungsgesetz vorsieht. Eine
zusätzliche Pauschalentschädigung für die SED-Opfer in
Form der Gewährung einer Opferpension würde zu einer
Bevorzugung dieser Opfergruppe gegenüber den NSVerfolgten führen und ist im Sinne der Gleichbehandlung sachlich nicht zu rechtfertigen.
({5})
Aktuell will die rot-grüne Koalition mit einer Gesetzesinitiative auf Drucksache 15/1975 wieder für Verbesserungen sorgen. Die Fristen für Anträge nach dem
strafrechtlichen, beruflichen und verwaltungsrechtlichen
Rehabilitierungsgesetz wären 2003 ausgelaufen. Diese
Fristen wurden bis zum 31. Dezember 2007 verlängert.
({6})
Damit haben wir für die Betroffenen den Zeitraum verlängert, Ansprüche auf Rehabilitierung und Gewährung
von sozialen Ausgleichsleistungen geltend machen zu
können. Darum geht es, Herr Kollege.
({7})
Darüber hinaus wurden im Beruflichen Rehabilitierungsgesetz die Ausgleichsleistungen für die wegen der
politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR beruflich
benachteiligten Opfergruppen, die sich in einer wirtschaftlichen Notlage befinden, angehoben.
({8})
Dass wir hiermit den richtigen Weg beschreiten,
({9})
zeigt auch die Tatsache, dass dieser Gesetzentwurf von
allen Fraktionen in diesem Hause unterstützt wurde.
({10})
Im Übrigen setzen wir unsere Bemühungen intensiv
fort, dass die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge
finanziell so ausgestaltet wird, dass politischen Opfern
des SED-Regimes wirksam geholfen werden kann. Das,
was Sie hier gesagt haben, stimmt also nicht. Auch für
uns ist dieses Thema nicht vom Tisch.
Ich habe eingangs erwähnt, dass ich großen Respekt
vor den Menschen habe, die Widerstand gegen das SEDRegime geleistet haben.
({11})
- Nein, Herr Vaatz, ich gestatte sie nicht. - In zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen wurde immer wieder
erwähnt, dass Menschen, die für die Stasi gearbeitet haben, heute oftmals eine höhere Rente erhalten als sie
selbst. Dieser Vorwurf trifft und tut einem weh. Ich darf
aber daran erinnern, dass die ursprünglich vorgesehenen
Abzüge in der Rentenversicherung für Stasi-Mitarbeiter
von deutschen Verfassungsrichtern und nicht von diesem Hause gekippt wurden.
({12})
Schon bei der Formulierung des Gesetzgebungsvorhabens haben wir darauf hingewiesen, dass man das
Strafrecht nicht mit dem Rentenrecht koppeln kann. Ich
erinnere mich noch sehr gut an Rudolf Dreßler, der dies
mehrmals hier im Parlament vorgetragen hat.
({13})
Aufgrund von Gerichtsentscheidungen mussten wir also
die ursprüngliche Regelung ändern. Dies ist uns - insbesondere den Kolleginnen und Kollegen aus den neuen
Ländern - nicht leicht gefallen.
({14})
Ein demokratischer Rechtsstaat zeichnet sich eben dadurch aus, dass er die Entscheidungen des Verfassungsgerichts umsetzt, auch wenn es ihm, wie in diesem Fall,
schwer fällt.
In ihrem Antrag geht die Union davon aus, dass
jährlich Kosten in Höhe von circa 409 Millionen Euro
- mit abnehmender Tendenz - entstehen werden. Selbst
wenn diese Zahlen stimmen sollten, fehlte jeglicher
Hinweis darauf, woher dieses Geld eigentlich kommen
soll.
({15})
Jeden Tag höre ich, dass die Union Steuern senken will.
Nach dem letzten Spitzengespräch der Union belief sich
die Wasserstandsmeldung auf 10 Milliarden Euro pro
Jahr. Gleichzeitig erlebe ich, wie die Union bei den
Haushaltsberatungen zusätzliche Ausgaben im Verteidigungshaushalt, in der Familienpolitik, in der Innenpolitik und in fast jedem anderen Ressort in Höhe von mehreren zig Milliarden Euro fordert. Meine Damen und
Herren von der Opposition, Sie betreiben hier keine seriöse Politik, sondern reinen Populismus.
({16})
Sollten Sie jemals das verwirklichen müssen, was Sie in
der Oppositionszeit versprechen, dann wird dies den
Bankrott dieses Staates bedeuten.
({17})
Abschließend möchte ich doch noch die Frage stellen,
warum Sie die Opferrente, die Sie fordern und die Ihnen
ja offensichtlich so wichtig ist, mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz oder zumindest danach - bis
1998 -, als Sie noch die Möglichkeiten dazu hatten, nicht
umgesetzt haben. Herr Vaatz, auch diese Frage haben Sie
trotz Ihrer gewaltigen Rede nicht beantwortet.
({18})
Die Antwort ist einfach: Sie hatten damals das Geld
nicht und Sie wollten es auch nicht.
({19})
Damit wird deutlich, wie effekthaschend Sie mit Ihrem Gesetzentwurf sind. Herr Vaatz, das sollten Sie sich
einmal dick ins Stammbuch schreiben: Das besonders
Verwerfliche daran ist, dass dies auf dem Rücken älterer
Menschen geschieht, vor deren menschlicher Leistung
das ganze Haus den höchsten Respekt hat.
({20})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP hat die Initiative der CDU/CSU, einen Gesetzentwurf für die Entschädigung von Opfern der SED-Diktatur vorzulegen, ausdrücklich begrüßt.
Dass wir einen eigenen Gesetzentwurf erarbeitet haben, hatte im Wesentlichen zwei Gründe: Wir wollen
den Betroffenen schnell und unbürokratisch helfen und
wir wollen eine Debatte, ob und inwieweit die Haftdauer
das entscheidende Kriterium für das erlittene Unrecht
sein kann, vermeiden.
({0})
In der grundsätzlichen Zielvorstellung sind wir uns aber
einig: SED-Opfer sind bislang nicht ausreichend für das
von ihnen erlittene Unrecht entschädigt worden.
({1})
Ich bedaure, dass sich die SPD nach anderen Signalen
in der vergangenen Sitzungswoche, die zur Vertagung
des Themas auf heute führten, doch nicht zu einer interfraktionellen Initiative durchringen konnte. Wir waren
gesprächsbereit. Ich bedaure außerordentlich, dass in der
bisherigen Debatte versucht worden ist, NS-Opfer gegen
SED-Opfer auszuspielen. Das ist unwürdig.
({2})
Schließlich halte ich es für sehr unerfreulich, dass tatsächlich der Versuch gemacht wurde, die vorliegenden
Anträge parteipolitisch zu diffamieren.
({3})
Dazu kann ich nur sagen: Der soziale und wirtschaftliche Rahmen der NS-Opferentschädigung unterscheidet sich erheblich - das dürfte auch in der SPD bekannt sein - von den heutigen Rahmenbedingungen der
DDR-Vergangenheitsbewältigung. Seitdem die liberalkonservative Koalition den Einstieg in die SED-Opferentschädigung gestaltet hat, hat es ein Bundesverfassungsgerichtsurteil - Sie haben bereits darauf hingewiesen - gegeben, das die Täterrenten de facto deutlich
besser stellt als die der Opfer.
({4})
Die Gerechtigkeitslücke zwischen Tätern und Opfern hat
sich zuungunsten der Opfer weiter vergrößert.
({5})
Wir haben uns in Anerkenntnis dieser Entwicklung
dazu entschlossen, eine pauschalisierte Entschädigung
vorzuschlagen. Eine pauschale Opferpension in Höhe
von 500 Euro führt dazu, dass zusammen mit der jedem
Verfolgten der SED-Diktatur zustehenden Grundsicherungsrente ein Rentenniveau von 1 100 Euro erreicht
wird. Das entspricht zwar noch nicht ganz dem Durchschnittsrentenniveau im Westen, aber liegt immerhin etwas über dem Ostrentenniveau. Zugleich beschränken
wir den Kreis der Berechtigten auf die tatsächlichen
Rentenbezieher. Schließlich schlagen wir vor, gesundheitliche Schäden ehemaliger Häftlinge per gesetzlicher
Vermutung als Haftfolgen anzuerkennen.
({6})
Die Pauschalisierung erscheint uns fairer als das Zugrundelegen eines hypothetischen Einkommens; denn
- darin sind wir uns einig - kein Verwaltungsorgan kann
wirklich beurteilen, wie ein Leben ohne Verfolgung verlaufen wäre.
({7})
Außerdem ermöglicht die Pauschalisierung ein unbürokratisches Verfahren. Die Verwaltungspraxis hat bisher
leider viele Defizite gezeigt, die sich für die Opfer des
SED-Unrechts als belastend ausgewirkt haben.
Dem DDR-Regime sind Menschen zum Opfer gefallen, die erhebliche Nachteile in Kauf nehmen mussten:
von beruflichen Benachteiligungen bis hin zu Haft und
Verfolgung. Deshalb ist es nach Auffassung der FDP
eine Verpflichtung der gesamten Gesellschaft, dafür zu
sorgen, dass die Opfer der SED-Diktatur wenigstens als
Rentner im Schnitt nicht schlechter als die Durchschnittsrentner im Osten dastehen.
({8})
Die Bevorzugung der Täter durch die heutigen Rentenberechnungsverfahren würde damit zwar nicht beseitigt,
aber erheblich vermindert.
Die FDP wird ausdrücklich jede Initiative mit dieser
Zielrichtung unterstützen. Deshalb votieren wir heute
nicht nur für unseren eigenen Antrag, sondern auch für
den der CDU/CSU, um deutlich zu machen: Die Bereinigung des SED-Unrechts ist eine gemeinsame Aufgabe
für die gesamte Gesellschaft und für alle Parteien.
Danke.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde es schon merkwürdig - das ist nicht mein Verständnis von Politik -, dass ich aus Ihren Reihen, während ich zum Pult gehe, den Zwischenruf höre: Wieder
keine aus dem Osten!
({0})
15 Jahre nach dem Mauerfall zeigt dies, dass bei Ihnen
die Wiedervereinigung im Kopf, im Gefühl und auch im
Herzen noch nicht vollzogen ist.
({1})
Ich befasse mich seit 1989 sehr intensiv mit dem
Thema der Bewältigung des SED-Unrechts.
({2})
Ich finde es richtig, dass wir die Entscheidung getroffen
haben, dies nicht als Spezialproblem der Ostabgeordneten anzusehen.
({3})
Vielmehr ist dies ein Thema unserer Fraktion und unserer Partei. Deswegen heißen wir Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben die Vereinigung seit 1989 vollzogen.
Ich fände es im Übrigen fairer, wenn Sie hier vorne
nicht so herumbrüllten. Denn wir reden heute über das
schwere Schicksal von Menschen.
({4})
Wir sollten nicht in einem Brüllton, sondern in einer angemessenen Tonlage darüber reden.
Ich möchte etwas zu dem Antrag der Bundesdelegiertenkonferenz sagen, der im November in Dresden beschlossen worden ist. Ich habe im Dezember mit Herrn
Hacker von der SPD ernsthafte Verhandlungen geführt
und auch mit Teilen der CDU/CSU und der FDP verhandelt. Von fünf geforderten Punkten wurden vier umgesetzt. Das ist ein ermutigendes und gutes Ergebnis. Ich
lasse mir dieses Ergebnis von Ihnen nicht kleinreden.
({5})
Ich finde das unfair.
Ich verstehe nicht, welches Verständnis Sie von Ihrer
Funktion und Rolle als Abgeordnete haben. Ich finde es
nicht richtig, wie hier mit einem Bericht umgegangen
wird, den wir interfraktionell vom Innenministerium angefordert haben. Ich möchte mich ausdrücklich für diesen Bericht bedanken und ihn loben. Ich habe diesen Bericht gelesen.
({6})
- Ich komme gleich zu den Schlussfolgerungen. - Wenn
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
von der FDP, diesen Bericht wirklich durchgearbeitet
hätten,
({7})
dann würden Sie aufhören, einige Lügen und Falschdarstellungen zu verbreiten.
({8})
Ich fange mit einer Falschdarstellung an, weil meine
Redezeit nicht ausreichen wird. Es war 1990 eine bewusste Entscheidung von Herrn Schäuble - es war kein
Versehen -, im Einigungsvertrag das in Westdeutschland gewachsene HHG-Entschädigungsrecht auch auf
die neuen Bundesländer zu übertragen. Dies ist damals
vernünftig begründet worden. Das war eine politische
Entscheidung. Ich halte diese nach wie vor für richtig.
Ich halte es auch für richtig, dass Rot-Grün den Weg der
Entschädigung über die Stiftung und die Ausweitung der
Stiftung weitergegangen ist.
Was ist die Funktion eines Berichts? Hier ist ein sehr
guter, inhaltlich spannender Bericht geliefert worden. In
diesen Bericht sind Schlussfolgerungen aufgenommen
worden, die auf den Aussagen des Bundesrechnungshofs
und anderer basieren. Auf der ersten Seite des Berichts
steht, dass er eine Grundlage für die weiteren Diskussionen in den Fraktionen ist. In meiner Fraktion ist die Diskussion im Dezember abgeschlossen gewesen.
Es wird mit der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen kein Abwicklungsgesetz zum Jahr 2005 geben.
({9})
Wie man bei Rot-Grün so schön sagt: Basta! Das Thema
ist damit gegessen. Ich möchte Ihnen den Wind aus den
Segeln nehmen. Die HHG-Stiftung wird zum Jahre 2005
nicht abgewickelt.
({10})
Wir haben im Dezember beschlossen, die Antragsfristen zu verlängern. Wir haben beschlossen, die Stiftungsmittel zu erhöhen. Ich habe die Anregung im Bericht gelesen und zur Kenntnis genommen. Ich bin souverän
genug, zu sagen: Wir, das Parlament, haben die Stiftungen geschaffen und wir, das Parlament, werden darüber
entscheiden, wie lange diese Stiftungen bestehen. Ansonsten ist der Bericht eine Handreichung aus dem Innenministerium, die ich gerne in die Überlegungen einbeziehe.
Meine Redezeit ist leider fast abgelaufen.
({11})
Ich möchte noch zu einem Punkt und dem Änderungsantrag der FDP etwas sagen. Ich glaube, dass wir nur weiterkommen, wenn wir die Punkte, bei denen es möglich
ist, interfraktionell weiter behandeln.
({12})
Das ist und bleibt mein Angebot. Das war eine gute Tradition in diesem Parlament.
Ich möchte Ihnen auch sagen, was die Länder machen
können. Ich bin mir nicht sicher, ob wir bei der Frage der
Begutachtung von Gesundheitsschäden wirklich weiterkommen, indem wir die Beweislast gesetzlich umkehren. Ich fordere Thüringen auf, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ich fordere Sachsen auf, mit gutem Beispiel
voranzugehen. Für die Begutachtung von Gesundheitsschäden sind die Ämter in den Ländern zuständig. Niemand auf Bundesebene hält sie davon ab, damit menschlich, großzügig und angemessen umzugehen. Wenn Sie
mit dem Bundesrat zusammenarbeiten wollen, dann legen Sie bitte schön einen Antrag oder eine Resolution
vor. Fordern Sie die Länder auf, den betagten Leuten insofern entgegenzukommen und ihre Gesundheitsschäden
anzuerkennen! Das ist eine konkrete Maßnahme, die Sie
umsetzen können.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Michalk.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Juni
vergangenen Jahres den Entwurf zum Dritten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vorgelegt. In den Tagen davor
und vor allem während der Beratungen hat sich immer
wieder die Frage gestellt: Müssen und können wir noch
etwas gutmachen? Zu meinem Wahlkreis gehört auch
Bautzen. Aber nicht nur deshalb beantworte ich diese
Frage immer wieder mit Ja.
Wir müssen die Einzelschicksale betrachten. Ich will
uns in dieser etwas emotionalen Debatte die bohrenden
Stasiverhöre, Knastnächte mit vorschriftsmäßig unter
der Decke liegenden Händen, das ewig brennende Licht,
die Einteilung, wer wann essen oder seine Notdurft verrichten kann, die ständigen Ängste und die Verpflichtung, danach Stillschweigen über das Geschehene zu bewahren, den Rausschmiss aus einer Schule oder das
nicht zugelassene Studium in Erinnerung rufen.
All das und viele weitere Diskriminierungen können
wir nicht eins zu eins wieder gutmachen. Aber wir können heute den Opfern Respekt erweisen. Wir können ihnen heute eine Extrarente zubilligen, damit ihre Rente
nicht länger so viel geringer ist als die ihrer Peiniger.
({0})
Wir alle in diesem Hohen Hause sind uns doch darin
einig, dass wir das vereinte Deutschland haben, weil das
DDR-Regime zusammengebrochen ist, weil es Menschen gab, die sich diesem Regime entgegengestellt haben. Das war - das will ich an dieser Stelle betonen keine Selbstverständlichkeit. Deshalb bedarf es politischer Signale, die unterstreichen, dass Widerstand in einer Diktatur und das Eintreten für Freiheit und Demokratie zentrale Werte sind, von denen heute unsere
gesamte Gesellschaft profitiert.
Die bisherigen einmaligen Haftentschädigungen sind
- auch in ihrem Prozess der ständigen Vervollkommnung, den Sie beschrieben haben, Herr Dreßen - richtig
und wichtig. Wir wissen aber, dass sie keinen ausreichenden Ausgleich darstellen. Darin stimmen wir überein.
Die meisten Verfolgten sind nach der Entlassung aus
dem Gefängnis trotz vieler Bemühungen nicht mehr oder
nur unter erschwerten und zusätzlichen Anstrengungen
beruflich nach oben gekommen. Menschen, die sich dem
SED-Regime untergeordnet haben, hatten einen beruflichen Entwicklungsvorsprung, der von vielen Opfern der
Diktatur auch nach der friedlichen Revolution nicht
aufgeholt werden konnte. Deshalb haben wir den Aspekt
der beruflichen Rehabilitierung in unseren Antrag aufgenommen.
Viele beziehen heute eine sehr niedrige Rente oder leben sogar von Sozialhilfe. Das ist umso mehr eine zum
Himmel schreiende Ungerechtigkeit, als nach Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Mitgliedern von
Zusatz- bzw. Sonderversorgungssystemen erhöhte Renten und sehr hohe Nachzahlungen gewährt werden mussten, auch wenn wir die dafür erforderlichen Mittel nicht
eingeplant hatten.
Die Aufarbeitung des DDR-Unrechtsregimes ist - das
will ich noch einmal unterstreichen - bis heute ein Prozess, der durch immer wieder neu bekannt gewordene
bzw. geschaffene Tatsachen in eine Schieflage geraten
ist. Vieles, was wir heute wissen, war uns nicht bekannt,
als wir den Einigungsvertrag verhandelt und die entsprechenden Gesetze verabschiedet haben.
In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,
dass wir als CDU/CSU-Fraktion mit der Pensionsforderung bereits 2001 an der rot-grünen Mehrheit gescheitert
sind.
({1})
Natürlich haben dabei auch fiskalische Gesichtspunkte
eine Rolle gespielt. Aber wie wir heute wissen - erst
recht aus dem erwähnten Bericht -, ist auch die von der
Koalition favorisierte Stiftungslösung nicht zum Nulltarif zu haben. Unser jetziger Gesetzentwurf enthält deshalb niedrigere Sätze, die ich für die Öffentlichkeit noch
einmal nennen möchte.
Eine monatlich zahlbare Opferpension ist in folgenden Fällen zu leisten: bei einer zu Unrecht erlittenen
Freiheitsentziehung von einem bis zu zwei Jahren
150 Euro monatlich, bei einer zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung, bei einer bescheinigten Verfolgungszeit oder einer bescheinigten verfolgungsbedingten Unterbrechung der Ausbildung von zwei bis zu fünf Jahren
300 Euro monatlich, von fünf bis zu neun Jahren
400 Euro monatlich und ab neun Jahren 500 Euro monatlich. Weiterhin soll die Summe bei der strafrechtlichen Rehabilitierung von jetzt 306,78 Euro auf 500 Euro
je Haftmonat erhöht werden, weil die bisherige Regelung nach unserer Auffassung den besonderen Verhältnissen der politischen Haft in der DDR nicht Rechnung
trägt.
Antragsberechtigt sind ungefähr noch 150 000 Personen, wovon 55 Prozent einer Verfolgungszeit von bis zu
zwei Jahren ausgesetzt gewesen sind. Den Steuerzahler
würde die Schließung der bestehenden Gerechtigkeitslücke, die ich eben beschrieben habe, jährlich etwa mit
180 Millionen Euro belasten, aufgeteilt auf Bund und
Länder in einem Verhältnis von 60 zu 40. Durch die Erhöhung der Entschädigung bei der strafrechtlichen Rehabilitierung entstehen Kosten in Höhe von 409 Millionen
Euro.
Das sind natürlich enorme Summen. Aber ich möchte
auf eines hinweisen: Anlässlich der zweiten und der dritten Lesung der Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung
rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften - die so genannte Fristverlängerung, von der heute schon die Rede
war -, die von der Regierungskoalition sowie von CDU/
CSU und FDP eingebracht wurden, hat Kollege Hacker,
der, wie es heute scheint, eine Schlüsselfigur ist, in einer
Pressemitteilung erklärt:
Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner haben
wir das Gesetz zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften initiiert, dem sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP vernünftigerweise angeschlossen haben.
Ich betone, dass wir hier gestalterisch und zugunsten der
Opfer zusammengearbeitet haben. Ich wünschte aber,
wir könnten dieses Mal feststellen: Die Regierungskoalition hat sich unserem Entwurf eines Dritten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes vernünftigerweise angeschlossen, zumal Bündnis 90/Die Grünen auf dem Parteitag im November 2003 in Dresden einen wesentlich
weitreichenderen Antrag beschlossen und uns damit gute
Signale gegeben hat, was sich in sehr vernünftigen Gesprächen niedergeschlagen hat. Leider konnten sich die
Kollegen der Fraktion der SPD gegenüber ihrer Fraktionsführung offensichtlich nicht durchsetzen.
({2})
Ich bin zutiefst betrübt, dass uns eine einvernehmliche Lösung zugunsten der benachteiligten Opfer nicht
gelungen ist. Es bleibt die Frage: Haben wir alle gemeinsam alles unternommen, damit sich niemand erneut
missachtet fühlt? Da wir, die CDU/CSU-Fraktion, diese
Frage nicht mit Ja beantworten können - Sie haben uns
die Zustimmung verwehrt -, ist dies nicht die Stunde eines erfolgreichen Parlaments. Dies bleibt also eine ständige Aufgabe. Wir werden hier nicht locker lassen.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In der Geschichte Deutschlands gab es zwei
langjährige Diktaturen, denen eine Vielzahl von Menschen auch im Innern zum Opfer gefallen ist. Besonders
leiden mussten diejenigen, die sich für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde eingesetzt und Widerstand,
ob nun im Großen oder im Kleinen, geleistet haben. Es
waren diejenigen, die wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens
oder ihres politischen Bekenntnisses verfolgt, inhaftiert,
misshandelt oder gar getötet wurden. Deswegen werden
wir uns immer wieder vor dem Hintergrund unserer Geschichte mit dem Nationalsozialismus und der SED-DikParl. Staatssekretär Franz Thönnes
tatur befassen müssen. Immer wieder wird sich die Frage
nach einem gerechten Umgang mit den Opfern stellen.
Zur verantwortlichen Beantwortung dieser Frage gehört aber auch die Ehrlichkeit, dass es wohl kaum eine
alles abdeckende Wiedergutmachung oder Gerechtigkeit
geben kann. Viele von uns erhalten immer wieder Briefe
von Betroffenen der SED-Diktatur, denen unermessliches Leid und Demütigungen widerfahren sind. Viele
von ihnen leiden noch heute unter den hieraus resultierenden gesundheitlichen Folgen. Je mehr man nach Lösungen für einen Ausgleich sucht, desto klarer wird, dass
man das Geschehene in Geld wird nie umfassend entschädigen können. Damit sind dem Ausgleich, auch um
mögliches neues Unrecht zu verhindern, Grenzen gesetzt.
Es gilt deshalb, das zu behandelnde Thema mit Ernst
und Sorgfalt zu diskutieren, Erreichtes deutlich zu machen und angesichts der Rahmenbedingungen keine falschen Hoffnungen zu wecken. Seit der Wiedervereinigung haben wir, das geeinte Deutschland, neben der
gigantischen und geschichtlich einmaligen Aufgabe,
gleichwertige Arbeits- und Lebensverhältnisse herzustellen, die große Verantwortung, die Opfer des SED-Regimes für erlittenes Unrecht zu entschädigen und zu rehabilitieren.
1992 und 1994 hat die damalige CDU/CSU-geführte
Bundesregierung ihre SED-Unrechtsbereinigungsgesetze in das Parlament eingebracht. Wir alle wissen jedoch: Von den Opferverbänden, aber auch in der Öffentlichkeit wurde wegen des zögerlichen Vorgehens, wegen
erheblicher Regelungsmängel und wegen der Schieflage
im Vergleich zu den vermögensrechtlichen Rückgaberegelungen viel Kritik geäußert. Herr Kollege Dreßen hat
das hier angeführt.
Hinzuzufügen ist, dass es eine die Opfergruppen spaltende Entschädigungsregelung gegeben hat. Es wurde
nicht berücksichtigt, inwiefern gleiches Haftschicksal
sozusagen entschädigt werden kann. Die Kritik an der
Nichtaufnahme von Zwangsausgesiedelten in das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz war ebenfalls
gerechtfertigt. Das gilt auch für alle Regelungen, durch
die die Haftentschädigung in Ost und West unterschiedlich behandelt wurden.
Sie haben damals die Anträge der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen in diesem Bereich abgelehnt.
Auch das muss erwähnt werden, wenn wir heute offen
und ehrlich über die Frage der so genannten Opferpensionen sprechen wollen. Dazu gehört aber auch, die durch
die Regierung unter Bundeskanzler Schröder seit dem
Regierungswechsel beschlossenen Verbesserungen zu
erwähnen. In der Debatte wurde darauf hingewiesen.
Es muss ergänzt werden, dass neben der Erhöhung
der Mittel für die Stiftung für ehemalige politische
Häftlinge die Verlängerung der Antragsfristen beschlossen wurde. Zudem wurden die Ausgleichsleistungen für
die wegen politischer Verfolgung in der ehemaligen
DDR beruflich benachteiligte Opfergruppe im beruflichen Rehabilitierungsrecht angehoben, und zwar mit
Blick auf diejenigen, die sich in einer wirtschaftlichen
Notlage befinden.
Vorhin wurde auf einen Bericht des Bundesministeriums des Inneren eingegangen und daraus zitiert. Der
Klarheit halber möchte ich ein Zitat hinzufügen - Herr
Vaatz, die folgende Passage auf Seite 39 bezieht sich auf
Ihre Beschreibung des Defizits -:
Eine Vermögensaufstockung ist geboten, um der
Stiftung die abschließende Erfüllung ihrer Aufgaben bis zum Jahre 2005 zu ermöglichen. Dabei sollten aus dem Stiftungsvermögen zunächst die Personal- und Sachkosten bis 2005 abgedeckt und im
Übrigen Mittel zur Gewährung von Unterstützungsleistungen entnommen werden.
Es heißt weiter:
Die Finanzierung der Abwicklung aus dem Bundeshaushalt würde für das Haushaltsjahr 2005 nochmals
Sonderzuweisungen an beide Stiftungen erfordern,
die aufgrund entsprechender Kostenschätzungen im
Zusammenhang mit der Einbringung des Abwicklungsgesetzentwurfs anzustellen und im Haushaltsansatz zu berücksichtigen wären. Ferner müsste auf
dieser Grundlage auch der Fehlbedarf in 2004
durch zusätzliche Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt ausgeglichen werden.
Dies wird im zuständigen Ausschuss beraten werden
müssen.
Ich möchte noch etwas hinzufügen, damit nicht der
Eindruck entsteht, als hätte diese Bundesregierung sozusagen beschlossen, die Stiftungen aufzulösen.
({0})
- Ganz ruhig. Reagieren Sie doch nicht so nervös, Herr
Kollege!
({1})
Hören Sie ganz einfach zu.
7. Oktober 1992, Drucksache 12/3212: In der Begründung zum Regierungsentwurf des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes wurde im Übrigen von einer Leistungsgewährung etwa bis zum Jahre 2005 ausgegangen. Hiervon
ging dementsprechend auch die Stellungnahme des
Haushaltsausschusses zur Finanzierbarkeit dieses Teils
der Leistungsgewährung nach dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz aus. 1992 - Sie kennen die damaligen
Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag. Die
Mehrheit war auf der rechten Seite dieses Hauses.
Der Bundesrechnungshof hat dann noch einmal nachgelegt, aber ich bin Frau Stokar von Neuforn sehr dankbar für ihren Hinweis, dass das hier in diesem Parlament
entschieden werden muss. Ich denke, das Parlament wird
auch entscheiden.
({2})
Das sollten wir alle schlichtweg im Hinterkopf haben,
wenn es jetzt um die beiden Gesetzentwürfe geht. Ich halte
sie für sehr problematisch, weil durch die Zahlung einer pauschalen Leistung für politisch Verfolgte ganz unterschiedliche und unterschiedlich schwere Schicksale vollkommen undifferenziert abgegolten werden könnten. Es ist unbestritten,
dass es in der Vergangenheit Probleme bei der Anerkennung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden gegeben
hat. Aber wenn jetzt von der FDP der Vorschlag gemacht
wird, Vermutungstatbestände für eine pauschale Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden einzuführen,
muss man sagen: Die Rechtsvermutung impliziert auch
schlichtweg die Widerlegbarkeit.
Angesichts der Tatsache, dass die Fälle, um die es
hier geht, von den Landesverwaltungen bereits zweimal
überprüft worden sind, wird es in dem einen oder anderen Fall wahrscheinlich sehr leicht fallen, bei einer
Rechtsvermutung auch nachzuweisen, dass bei einer
dritten Prüfung anders entschieden werden könnte. Hier
werden bei den Betroffenen Hoffnungen geweckt, die
letztendlich nicht erfüllt werden können.
Die vorgeschlagene Regelung würde im Übrigen auch
keine Erleichterung für diejenigen bringen, die weniger
als sechs Monate inhaftiert waren; denn sie beinhaltet
keine Regelung für diejenigen, die weniger als fünf Monate in Haft waren, die im Untersuchungsgefängnis waren und vielleicht sogar noch mehr gepeinigt wurden,
oder für diejenigen, die kurz inhaftiert waren, aber anschließend unter massivem Druck und unter Zersetzungsmaßnahmen und Aktivitäten der Stasi gelitten haben. Dieser Vorschlag erfasst also einerseits gar nicht
alle möglichen Fälle und schert andererseits Einzelschicksale in Wirklichkeit über einen Kamm.
Auf die Frage, woher das Geld kommen soll - weit
über 100 Millionen Euro; 150 bis 500 Euro monatlich -,
lassen Ihre beiden Entwürfe die Antwort offen.
({3})
Pauschalentschädigungen, wie sie im Gesetzentwurf in Form einer sogenannten Opferpension vorgeschlagen werden, können in den Rehabilitierungsgesetzen nicht geregelt werden. Das ist auch deshalb
ausgeschlossen, weil die bundesdeutsche Entschädigungsgesetzgebung für die Verfolgung von Menschen
unter der Nazigewaltherrschaft keine rentenrechtlichen
Anwartschaften, sondern Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz vorsieht. Es ist kein Ausspielen
beider Gruppen. Aber weil wir das Recht im Auge behalten, müssen wir schlichtweg zu dem Ergebnis kommen: Eine zusätzliche Pauschalentschädigung für SEDOpfer würde zu einer Bevorzugung dieser Opfergruppe
gegenüber NS-Verfolgten führen. Auch da gilt es, die
Maßstäbe der Gerechtigkeit im Auge zu behalten.
Bei der Gesetzgebung für die SED-Opfer haben die
Aspekte Inflationsrate und gestiegene Leistungsfähigkeit
des Staates zu einer Festsetzung der Kapitalentschädigung in Höhe von 600 DM für jeden angefangenen Haftmonat geführt. Damit ist viel getan worden, um ein
Stück Ausgleich für das erfahrene Leid und die Pein der
Opfer zu schaffen.
Die Menschen in der ehemaligen DDR, die für Freiheit und Demokratie gekämpft haben und dafür verfolgt
wurden, verdienen unseren vollsten Respekt. Sie haben
Anspruch auf eine gerechte Entschädigung. Den entsprechenden gesetzlichen Rahmen haben wir in den letzten
Jahren geschaffen. Auch deshalb steht die Bundesregierung den vorliegenden Gesetzentwürfen ablehnend gegenüber. Anstatt nicht einlösbare Versprechungen zu
machen, ziehen wir es vor, die gegebenen weitreichenden Möglichkeiten offensiv auszuschöpfen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Bereinigung von
SED-Unrecht. Es liegt ein Änderungsantrag der Abge-
ordneten Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch vor, über den
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände-
rungsantrag auf Drucksache 15/2433? - Wer stimmt da-
gegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist abgelehnt worden mit den Stimmen des ganzen Hau-
ses gegen die Stimme der Abgeordneten Pau.
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt auf Drucksache 15/2412, den Gesetzentwurf
der CDU/CSU abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei einer Enthaltung abgelehnt worden. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Bereinigung von SED-Unrecht. Der Aus-
schuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt
auf Drucksache 15/2412, den Gesetzentwurf abzuleh-
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt wor-
den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta DäublerGmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Volker Beck ({0}), Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Lebensmittelüberwachung effizienter gestalten
- Drucksache 15/2339 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({1})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Heinen, Peter H. Carstensen ({2}), Gerda
Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wirksamere und breitere Lebensmittelüberwachung und -kontrolle in Deutschland
- Drucksache 15/2386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt - „Potenziale zur Erhöhung
der Nahrungsmittelqualität - Entwicklungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot und -nachfrage und ihre Folgen“
- Drucksache 15/1673 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({6}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt - „Potenziale zum Ausbau
der regionalen Nahrungsmittelversorgung Entwicklungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot und -nachfrage und ihre Folgen“
- Drucksache 15/1674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({7})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({8}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt - „Potenziale für eine verbesserte Verbraucherinformation - Entwicklungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot
und -nachfrage und ihre Folgen“
- Drucksache 15/1675 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({9})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
froh darüber, dass wir heute im Bundestag über das so
wichtige Thema Lebensmittelsicherheit diskutieren können. Lebensmittelsicherheit geht uns alle an. Wir müssen
uns auf die Qualität unserer Lebensmittel verlassen können. Wir haben in Deutschland gute Standards in der Lebensmittelsicherheit erreicht. Allerdings hapert es bei
der Umsetzung dieser guten Standards noch erheblich.
Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht.
Warum müssen wir jetzt etwas tun? Gerade in den
letzten Wochen und Monaten ist die Öffentlichkeit immer wieder von Berichten über Lebensmittelskandale
aufgeschreckt worden. Ich nenne nur einige Beispiele:
Acrylamid, Nitrofuran, Dioxin und jetzt schon wieder
BSE. Die Zeitungen haben über Lücken im BSE-Kontrollsystem berichtet.
Was ist hier in den letzten Wochen gelaufen? Wir alle
haben den BSE-Skandal Ende 1999 und vor allem die
zunächst ungeahnten Ausmaße dieses Skandals noch
sehr gut vor Augen. Der BSE-Skandal hat zu einer tiefen
Verunsicherung in der Bevölkerung, bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern, geführt. Das Vertrauen konnte
langsam wieder zurückgewonnen werden. Der Rindfleischmarkt hat sich langsam wieder erholt.
({0})
Jetzt hat uns das Thema BSE erneut eingeholt. Die öffentliche BSE-Debatte wurde durch unseren Kollegen
von der FDP, Herrn Goldmann, zusätzlich angeheizt.
({1})
Sie, Herr Goldmann, haben für eine billige Schlagzeile
in der „Bild“-Zeitung zusätzlich Ängste in der Bevölkerung geschürt,
({2})
Ängste, die unbegründet sind.
({3})
Sie haben der Ministerin Künast in der „Bild“-Zeitung
vom 12. Januar 2004 Schlampereien unterstellt.
({4})
Hat es Schlampereien gegeben?
({5})
- Ja, Herr Goldmann, es hat Schlampereien gegeben.
({6})
Aber nicht Ministerin Künast hat geschlampt, sondern
die Betriebe, die nicht getestet haben, haben geschlampt,
Herr Kollege Goldmann.
({7})
Richtig ist: Die Ministerin hat die ihr vorliegenden Informationen über Kontrolllücken unverzüglich an die Länder weitergegeben, die für die BSE-Kontrolle zuständig
sind.
Ich will eines ganz klar sagen: Wir sind für eine
lückenlose Aufdeckung der Kontrollpannen. Wir werden
alles dafür tun, die schwarzen Schafe dahin zu stellen,
wohin sie gehören, nämlich an den Pranger.
({8})
Wir sind dafür, dass kriminelle Handlungen verfolgt und
auch schwer geahndet werden.
({9})
Sie, Herr Goldmann von der FDP-Fraktion,
({10})
versuchen, den Eindruck zu vermitteln, Deutschland sei
mit einer Bananenrepublik vergleichbar, in der kriminelle Machenschaften das Geschehen bestimmen und die
Regierung wegschauen würde.
({11})
Das entspricht aber nicht der Realität, in der wir hier in
Deutschland leben. Das wissen Sie, Herr Goldmann,
auch ganz genau.
({12})
Wie sieht es bei uns in Deutschland aus, meine Damen und Herren? Die rot-grüne Bundesregierung hat die
Lebensmittelüberwachung einen ganz entscheidenden
Schritt nach vorne gebracht. Sie hat Versäumnisse der
Vorgängerregierung erfolgreich abgearbeitet.
({13})
Das Bundeslandwirtschaftsministerium wurde grundlegend umgebaut.
({14})
Wir haben heute das Bundesinstitut für Risikobewertung
und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Diese Aufteilung ist notwendig, denn
damit haben wir die Trennung von Risikomanagement
und Risikobewertung zum Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher in Deutschland vollzogen. Die Grundlagen für eine gute Lebensmittelüberwachung in
Deutschland sind geschaffen. Wir haben die richtigen
Gesetze und auch die Institutionen zur Umsetzung dessen, was in den Gesetzen steht. Auch bezüglich BSE,
Herr Kollege Goldmann, haben wir ein vorbildliches
Kontrollsystem aufgebaut. Dieses Kontrollsystem wird
jetzt um ein elektronisches Warnsystem erweitert, damit
die aufgetretenen Kontrolllücken endgültig geschlossen
werden können.
Wir haben also gute Standards in Deutschland. Trotzdem kommt es immer wieder zu Problemen. Warum ist
das so, meine Damen und Herren? Die Durchführung
und der Vollzug der Lebensmittelkontrolle liegen nicht
in Händen des Bundes. Durchführung und Vollzug der
Lebensmittelkontrolle gehören in den Verantwortungsbereich der Länder. Die Länder tragen hierfür Verantwortung. Diese Verteilung der Zuständigkeiten ist an
sich nicht schlecht. Es tun sich hier jedoch schwer wiegende Schwachstellen auf: Es fehlt ein länderübergreifendes Gesamtkonzept, es fehlen eine Vereinheitlichung
der Kontrollen und eine Vernetzung, um bundesweit auf
Ergebnisse zugreifen zu können.
({15})
Es fehlt eine Vernetzung zwischen den regionalen Prüfstellen. Diese Schwachstellen, meine Damen und Herren, dürfen wir uns nicht länger leisten.
({16})
Wir fordern deshalb erstens bundeseinheitliche Regelungen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, um die
Überwachungspraxis in den Ländern effektiver und vor
allen Dingen auch kostengünstiger zu gestalten. Gerade
in Zeiten knapper Ressourcen müssen wir unsere Kräfte
bündeln.
Zweitens fordern wir regelmäßige und auch vorsorgende Kontrollen.
({17})
Die Betriebe, die überwacht werden müssen, müssen
auch überwacht werden, und zwar in den Abständen, die
notwendig sind. Das ist in Deutschland leider noch nicht
überall der Fall und hier müssen wir Verbesserungen
vornehmen.
({18})
Drittens fordern wir ein zeitnahes Vorliegen der Ergebnisse. Viele Prüflaboratorien sind nicht in der Lage,
die erforderlichen Untersuchungsaufgaben jederzeit in
vollem Umfang wahrzunehmen. Probenuntersuchungen
und die Erstellung von Gutachten dauern oft zu lange.
Das können wir uns nicht leisten. Wir dürfen nicht so
viel Zeit verstreichen lassen, bis das Problem im wahrsten Sinne des Wortes gegessen ist.
Viertens fordern wir die Einrichtung und Vernetzung
von Qualitätsmanagementsystemen. Wir brauchen diese
ganz dringend, um die nötige Transparenz für die Verbraucherinnen und Verbraucher herzustellen. Der Staat
muss nicht alles machen, auch die Produzenten sind
gefordert. Mit dem QS-Siegel hat sich die Lebensmittelindustrie zu Transparenz, Rückverfolgbarkeit und DoGabriele Hiller-Ohm
kumentation der gesamten Nahrungsmittelkette verpflichtet. Dies ist ein richtiger und auch ganz wichtiger
Schritt, um die Lebensmittelsicherheit in Deutschland
weiter nach vorne zu bringen.
Doch auch hier gibt es Verbesserungspotenziale. Ich
nenne ein Beispiel: Wie kann es sein, dass etwa in Hamburg 90 Prozent der Rinder, die nicht auf BSE getestet
wurden, aus QS-zertifizierten Schlachthöfen stammen?
Das, meine Damen und Herren, darf eigentlich nicht
sein. Dieser Widerspruch muss dringend aufgeklärt werden.
({19})
Beim Qualitätsmanagement müssen wir Schwachstellen überwinden. Das ist ganz wichtig, um das Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen.
({20})
Wir wollen eine effizientere Lebensmittelüberwachung in Deutschland. Deshalb brauchen wir ganz dringend die Umsetzung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über Grundsätze zur Durchführung der amtlichen
Überwachung lebensmittelrechtlicher und weinrechtlicher Vorschriften. Die Bundesregierung hat diese Verwaltungsvorschrift auf den Weg gebracht. Wir brauchen
sie ganz dringend, vor allen Dingen deshalb, weil uns die
EU bereits im Nacken sitzt. Die Europäische Kommission hat gerade in der letzten Zeit immer wieder die
mangelnde Kommunikation zwischen Bundes- und Länderebene in Deutschland bemängelt. Wir brauchen deshalb ganz dringend eine nationale Koordinierungsstelle. Für diese Aufgabe wäre das Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zuständig; es ist dafür ideal geeignet.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSUFraktion, haben sich ebenfalls mit dem Thema Lebensmittelsicherheit befasst und einen Antrag vorgelegt. Mit
der Überschrift Ihres Antrages stimmen wir überein. Sie
wollen eine wirksamere und breitere Lebensmittelüberwachung und -kontrolle in Deutschland. Das wollen
auch wir.
({21})
Wie aber stellen Sie sich das vor? Sie fordern, der Bund
solle die verbesserte Lebensmittelüberwachung bezahlen. Da sagen wir: Stopp! Lebensmittelkontrolle ist Ländersache. Wir sehen sehr wohl das Problem der schwierigen Finanzausstattung der Länder und vor allem der
schwierigen Finanzausstattung der Kommunen. Wir haben deshalb mit viel Kraft eine weit reichende Gemeindefinanzreform auf den Weg gebracht.
({22})
Wir haben das getan, um den Gemeinden und Städten
wieder auf die Beine zu helfen. Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU-Fraktion, hatten die Chance,
mit uns gemeinsam die finanzielle Situation der Städte
und Gemeinden zu verbessern.
({23})
Sie haben diese Chance vertan.
({24})
Sie haben durch Ihre Blockadepolitik die Städte und Gemeinden um mehrere Hundert Millionen Euro gebracht.
Sich jetzt hier hinzustellen und am Haushalt vorbei Geld
für Länderaufgaben einzufordern ist unseriös. Es ist
mehr als scheinheilig und ein ganz klarer Beweis Ihrer
Unglaubwürdigkeit.
({25})
- Ja, da murmeln Sie mal nur!
Aber regen Sie sich ab; Sie haben die Gelegenheit,
Ihre Seriosität noch einmal unter Beweis zu stellen.
Dann können Sie sich bewähren. Es wird nämlich im
Bundesrat in Kürze zum Schwur kommen. Dort müssen
Sie der Verwaltungsvorschrift des Bundes Ihre Zustimmung geben. Ich bin sehr gespannt, ob Ihre Kolleginnen
und Kollegen dort Ernst machen und ihre Hand für die
Verwaltungsvorschrift des Bundes und damit für mehr
Lebensmittelsicherheit in Deutschland heben werden.
({26})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Gar keine Frage: Die Lebensmittelkontrolle ist eines der
entscheidenden Instrumente eines effizienten, umfassenden, wirksamen Verbraucherschutzes. Ich glaube, darüber gibt es in diesem Hause überhaupt keinen Streit.
Ich bin erleichtert, dass wir es jetzt, nach fast zweijähriger Diskussion, geschafft haben, das Thema Lebensmittelüberwachung auf die Tagesordnung des Deutschen
Bundestages zu setzen.
Schon als wir in der letzten Legislaturperiode den ersten Entwurf des Verbraucherinformationsgesetzes debattiert haben, haben wir gesagt, dass erst die Lebensmittelüberwachung in Deutschland richtig funktionieren muss,
bevor wir uns das Verbraucherinformationsgesetz vornehmen können; denn wenn wir die Verbraucher nicht
seriös über Ergebnisse informieren können, ist jede Information nichts wert.
({0})
Kern unseres Kontrollsystems ist die Arbeit der Kontrolleure vor Ort; was sie machen, hilft wirklich weiter.
Bei Ihrer Rede, Frau Hiller-Ohm, hatte ich den Eindruck, dass Sie sich mit dem Thema überhaupt nicht
befasst haben. Sie meinen, das Gesetz sei ein reines
BSE-Verhinderungsgesetz. Aber es geht hier nicht allein
um BSE.
({1})
Ich nenne Ihnen einmal die entsprechenden Zahlen aus
meiner Heimatstadt Köln: In Köln gibt es 15 städtische
Kontrolleure, die tagtäglich unterwegs sind. Diese
15 Kontrolleure müssen 12 200 Betriebe überwachen.
Hinzu kommt die Ahndung von Verstößen gegen die
Kennzeichnungspflicht, etwa das Haltbarkeitsdatum
oder Inhaltsstoffe betreffend. Dass die Arbeit notwendig
ist, belegen die Statistiken. Sie sprachen eben die Statistiken hinsichtlich BSE an. Da gab es gerade einmal
300 Fälle, in denen die Angaben nicht genau gestimmt
haben. Allein in Köln, Frau Hiller-Ohm, gab es im Jahr
2002 403 Strafverfahren, 754 Bußgeldverfahren, 65 Betriebsschließungen und 566 Verstöße gegen die Kennzeichnungspflicht. Die Kosten der Lebensmittelüberwachung für die Stadt Köln lagen bei knapp
6 Millionen Euro. Das ist die Dimension, über die wir
hier sprechen. Wenn Sie - wie eben geschehen - lapidar
sagen, mit der Gemeindefinanzreform helfen wir den
Kommunen, dann kann ich nur sagen: Schauen Sie sich
diese Zahlen aus Köln an! Sie werden dann sehen, dass
das, was Sie auf den Weg gebracht haben, um eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen zu erreichen, bei weitem nicht ausreicht.
({2})
Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht.
Weil mit der staatlichen Kontrolle - auch das haben
die Zahlen gerade gezeigt - kaum alle in Verkehr gebrachten Waren untersucht werden können, muss dieses
System durch private Eigenkontrollen und Meldepflichten abgerundet werden. Anders ist eine vernünftige Arbeit nicht möglich.
Wir müssen aber auch ehrlich sein. Schlagzeilen über
den einen oder anderen Lebensmittelskandal rücken die
Lebensmittelüberwachung insgesamt in ein negatives
Licht. Das ist aber ein falscher Eindruck; denn insgesamt
funktioniert sie ganz gut. Wir unterhalten uns hier darüber, wie Verbesserungen in dem einen oder anderen
Bereich erreicht werden können, vor allen Dingen was
das zügige Abwickeln der Lebensmittelkontrollen angeht.
Der Bund hat auf die Lebensmittelkrisen der vergangenen Jahre nicht immer angemessen reagiert. Das hatte
meistens institutionelle Gründe. Es ist deshalb zum einen erforderlich, die Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern wesentlich besser und präziser zu regeln,
als es heute der Fall ist. Zum anderen müssen in der Tat
- darin stimmen wir alle überein - die Verfahren zur Lebensmittelkontrolle der einzelnen Länder angeglichen
und untereinander entsprechend abgestimmt werden. Insofern begrüßen wir - das ist gar keine Frage -, dass die
Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Grundsätze
zur Durchführung der amtlichen Überwachung lebensmittel- und weinrechtlicher Vorschriften - das ist eine
nur schwer verständliche Überschrift ({3})
endlich auf den Weg gebracht wird. Mit ihr haben wir
eine Chance, das Auseinanderdriften der einzelnen Länder in diesem Bereich zu verhindern und sie zusammenzubringen. Wir brauchen einheitliche Verfahren, die ein
gleichmäßig hohes Niveau gewährleisten.
({4})
Allerdings ist nicht alles gut, was gut gemeint ist. Einigen Punkten im Antrag der Koalitionsfraktionen können wir deshalb nicht zustimmen. Sie wollen einen starren zweijährigen Kontrollrhythmus festlegen und
bundesweite Überwachungsprogramme auflegen bzw.
den Ländern die Pflicht zur Erarbeitung von bestimmten
Überwachungsprogrammen auferlegen. Das wird der
Sache nicht zwangsläufig nutzen. Wir brauchen eher
eine bedarfsgerechte Flexibilität, die gerade bei der störanfälligen und vielen Schwankungen unterworfenen Lebensmittelüberwachung erforderlich ist. Wenn wir in
Richtung eines starren Rasters gehen, bekommen wir
noch mehr Bürokratie und Papier. Letztendlich wird das
der Kontrolle und der Überwachung nicht nutzen.
({5})
Zudem wird den Besonderheiten der Länderstrukturen in der Verwaltung nicht Rechnung getragen. Hier
sind offenere Regelungen erforderlich, die auch die unterschiedlichen Strukturen in den einzelnen Bundesländern berücksichtigen. Wir können den Ländern nicht
auferlegen, ihre Verwaltungsstrukturen komplett über
den Haufen zu werfen. Man sollte schon zusehen, dass
man im Rahmen der Verwaltungsvorschrift den Ländern
noch einen eigenen Spielraum gibt.
Hinzu kommt, dass die Bund-Länder-Koordination
erheblich verbessert werden muss. Das Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ist schon
angesprochen worden. Die Koordinierungsfunktion, obgleich im Gesetz vorgesehen, ist überhaupt noch nicht
richtig ausgeprägt. Es gibt Doppelzuständigkeiten zwischen dem Bundesamt, dem Bundesinstitut für Risikobewertung und den Ländern. Sie sind unnötig und überflüssig. Wir könnten wesentlich besser arbeiten, wenn
wir die Personalstrukturen anders nutzen und diese Doppelzuständigkeiten verhindern würden.
Schließlich brauchen wir - auch dieses Thema ist
schon angesprochen worden - ein besseres Finanzierungskonzept für den Bund und die Länder. Wir drücken den Ländern immer mehr Aufgaben auf. Man
denke nur daran, dass ab April auch das Vorhandensein
gentechnisch veränderter Bestandteile bzw. solcher Zutaten kontrollierbar sein muss. Damit wird den Ländern
bzw. den Kommunen wieder eine neue Aufgabe übertragen, ohne dass sie eine bessere Finanzausstattung erhalten.
({6})
Lediglich das Land Niedersachsen ist vorbildlich.
Denn es unterstützt seine Kommunen bei der LebensmitUrsula Heinen
telüberwachung und -kontrolle. Dort gibt es pro Jahr und
Einwohner 3 Euro zur Finanzierung der Lebensmittelkontrolle.
({7})
Dies ist sicher ein sehr guter Schritt.
Last not least: Denken Sie in den weiteren Beratungen darüber nach, sich unseren Vorschlägen anzuschließen! Wir haben demnächst im Ausschuss noch Zeit
dazu. Wir haben insgesamt die Chance, zu einer besseren Lebensmittelüberwachung und auch zu Verhandlungen über ein Verbraucherinformationsgesetz - ich habe
das eingangs angesprochen - zu kommen.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Matthias Berninger.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von
Walt Whitman stammt das Zitat: „Krisen meistert man
am besten, indem man ihnen zuvorkommt.“ Die amtliche Lebensmittelüberwachung in Deutschland ist eine
der ganz wesentlichen Einrichtungen, die dazu da sind,
diesen Krisen zuvorzukommen.
Wir müssen von dieser Stelle aus eines klar sagen:
Die Verantwortung dafür, dass sichere Lebensmittel über
den Ladentresen gehen und dass Rückstände in Lebensmitteln vermieden werden, hat weder die Bundesregierung noch eine Landesregierung noch ein kommunaler
Lebensmittelkontrolleur zum Beispiel in Köln. Die Verantwortung dafür hat die Lebensmittelwirtschaft in
Deutschland. Wir brauchen die Lebensmittelkontrolle,
um der Lebensmittelwirtschaft insgesamt, den Produzenten und dem Handel, auf die Finger zu schauen.
({0})
Nur wenn wir eine funktionierende Lebensmittelkontrolle haben, wird die Wirtschaft ihrer Verantwortung gerecht werden.
({1})
Denn die Erfahrung aus den vergangenen Jahren
zeigt: Überall dort, wo nicht kontrolliert wird, ist, wenn
man genau hinsieht, die Zahl der Verstöße besonders
hoch. Es ist nur allzu menschlich, dass sich dort, wo
keine amtliche Lebensmittelkontrolle zu erwarten ist,
schwarze Schafe ausbreiten und es zu vermehrten Verstößen kommt. Einer der wichtigen Gründe, weswegen
wir mehr Lebensmittelkontrolle brauchen, ist, dass nur
so die Rede vom vorsorgenden Verbraucherschutz mit
Leben gefüllt wird.
Vor diesem Hintergrund bin ich sehr dankbar, dass
man sich in den beiden heute zur Debatte stehenden Anträgen in dieser Frage einig ist. Mehr Ressourcen und
mehr Personal in der Lebensmittelüberwachung zu
schaffen ist Konsens in diesem Parlament. Ich finde, das
sollte man bei allem Streit zunächst einmal festhalten.
({2})
Darüber hinaus ist diese Bundestagsdebatte außerordentlich hilfreich. Denn die Gespräche mit dem Bundesrat, die wir seit einiger Zeit führen, sind nicht nur
freudvoll. Die Frage, wann die Allgemeine Verwaltungsvorschrift, um die es hier geht, im Bundesrat behandelt werden soll, ist zum Beispiel schon der erste
Streitpunkt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Mehrheit der Länder nicht dem Antrag zugestimmt hat, die
Behandlung dieses Themas auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Ich glaube, dass die öffentliche Diskussion über dieses Thema deshalb besonders
wichtig ist, weil nur so Bewegung in die Sache kommt.
Hedda von Wedel hat, vom Bundeskanzler beauftragt,
eine Schwachstellenanalyse im Bereich der Lebensmittelkontrolle in Deutschland erarbeitet und uns vorgelegt.
Sie hat uns ins Stammbuch geschrieben, dass wir auf
Bundesebene erhebliche Verbesserungen beim Risikomanagement und bei den Verbraucherbehörden in Gang
setzen müssen. Ich kann nun, ungefähr zweieinhalb
Jahre nach Vorlage dieser Schwachstellenanalyse, sehr
klar sagen, dass es der Bundesregierung gelungen ist,
mehr Personal und mehr Ressourcen bereitzustellen und
die von Frau von Wedel vor allem gewünschten effizienteren Strukturen auf den Weg zu bringen. Wenn es, Frau
Heinen, noch an der einen oder anderen Stelle in der Koordination hakt, dann bitte ich um Verständnis: Wir
mussten den Verbraucherschutz als Lehre aus der BSEKrise komplett neu aufbauen.
Entscheidend ist, dass wir im Deutschen Bundestag
quer über alle Fraktionen nahezu jedes Jahr in den Haushaltsberatungen die dafür notwendigen finanziellen Mittel und Ressourcen bewilligt bekommen haben. Auch
dafür allen Fraktionen einen besonderen Dank!
Frau von Wedel hat auch gesagt: Bund und Länder sowie die Länder untereinander müssen besser zusammenarbeiten. Die wissenschaftlichen Testmethoden bei der
Lebensmittelüberwachung sind zwischen den einzelnen
Ländern nicht koordiniert. Das eine Bundesland weiß
nicht, was das andere Bundesland überprüft. Die so genannten Hot Spots, die Problembereiche, sind fast gut
gehütete Staatsgeheimnisse in jedem einzelnen Bundesland. Das kann in einem Land, das die Gleichwertigkeit
der Lebensverhältnisse über die Verfassung sicherstellen
möchte, nicht der richtige Weg sein. Deswegen ist es
Ziel der Bundesregierung, mit der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift genau in diesem Punkt Fortschritte zu erzielen. Bund und Länder müssen besser zusammenarbeiten und die Länder müssen sich untereinander in die
Karten gucken lassen.
Warum das so schwer ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen. Frau Heinen hat die Probleme in Köln beschrieben.
Addiert man die vielen Kölns in Deutschland, kommt
man zu dem Ergebnis, dass in ganz Deutschland in
Sachen Investitionen und Personalkosten nahezu
100 Millionen Euro fehlen. Diese Zahl basiert auf Daten,
die die Länder im Rahmen der Beratung des Bundesrates
bekannt gegeben haben und die in einer Drucksache
schlummern. Das zeigt das Problem, vor dem wir gemeinsam stehen.
Die CDU/CSU sagt in ihrem Antrag, der Bund solle
das mal eben finanzieren. Das kann doch nicht die Lösung sein; denn die Verfassung gibt uns überhaupt keine
Möglichkeiten, die Lebensmittelkontrolle zu finanzieren. Das Grundgesetz sagt: Das ist originäre Aufgabe der
Länder. Wir haben nicht, wie im Bereich des Strahlenschutzes, die Möglichkeit, im Auftragsverwaltungsverfahren die Kosten zu übernehmen. Wir können gerne im
Rahmen der Föderalismuskommission darüber reden,
dem Bund mehr Kompetenzen für Verbraucherschutz zu
geben; das ist auch eine Forderung des Bundesverbraucherschutzministeriums. Nichtsdestotrotz werden die
Länder in diesem Bereich investieren müssen.
Das wird drei Vorteile für die Verbraucher haben. Erstens: Die Lebensmittel sind sicherer. Zweitens: Die
Unternehmen investieren dann aus Angst vor diesen
Kontrollen mehr in die Lebensmittelsicherheit. Drittens:
Lebensmittelkrisen wie etwa im Falle von Paprika mit zu
hohen Rückständen, im Falle von BSE oder im Falle von
Futtermittelverseuchung werden zwar am Anfang auftreten, in der Folgezeit aber nicht mehr. Der wichtigste Vorteil ist aber: Deutschland kommt endlich in Europa an,
wenn wir die Reform durchsetzen. Bisher ist es so, dass
alle Berichte, die wir nach Brüssel geben, voll von Peinlichkeiten sind. Wie anders kann man es nennen, wenn
wir zum Beispiel für einige Länder konstatieren müssen,
dass dort nicht einmal ein Drittel aller Betriebe jährlich
routinemäßig kontrolliert wird? Insofern ist die Regelung, dass bestimmte Kontrollen nur alle zwei Jahre
stattfinden sollen, schon ein Zugeständnis an die Realität
in Deutschland.
Man muss nicht länger darüber reden, sondern muss
handeln und finanzielle Ressourcen zugunsten des Verbraucherschutzes in den Ländern bereitstellen, so wie es
der Bund gemacht hat.
({3})
Es spricht jetzt der Abgeordnete Michael Goldmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns sicherlich in einem Punkt fraktionsübergreifend einig: Effiziente Lebensmittelüberwachung und gute Lebensmittelkontrolle sind die Grundlage für sichere, qualitativ hochwertige Lebensmittel.
Dazu sagen wir als FDP natürlich Ja.
({0})
Ich komme aber natürlich auch zu dem Punkt, der hier
angesprochen worden ist und der das Klima zwischen
uns deutlich verschlechtert hat. Frau Hiller-Ohm, Sie haben gesagt, wir hätten ein vorbildliches Kontrollsystem
aufgebaut. Es ist erstaunlich, dass Sie im selben Zusammenhang, unmittelbar daran anschließend, Vorschläge
machen, wie man dieses Kontrollsystem deutlich verbessern kann.
({1})
Sie haben die Idee der Task Force genannt. Sie haben die
Idee der direkten Abgleiche genannt.
({2})
Das sind übrigens Ideen, die nicht aus dem Künast-Ministerium kommen, sondern aus dem Freistaat Bayern. Der
Freistaat Bayern hat diese Vorschläge schon vor längerer
Zeit gemacht. Ich bin sehr froh darüber, dass jetzt entsprechende Regelungen auf den Weg gebracht werden.
Sie, Herr Berninger, haben gesagt, Krisen meistere
man am besten, wenn man ihnen zuvorkommt. Genau
das hätten Sie tun müssen.
({3})
Die Krise bezüglich der Abgleiche von BSE-Tests ist
dem Haus seit 2003 bekannt. Der Umgang mit der BSEProblematik ist auch nicht erst jetzt von mir kritisiert
worden, sondern ist schon in einem Bericht des Bundesrechnungshofes kritisiert worden. Was haben Sie zu dem
Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass es die Probleme gibt
- nicht nur der Landkreis Emsland über das Land Niedersachsen, auch andere haben darüber informiert -, gemacht, um Ihrem Grundsatz, den Sie sich ja immer auf
die Fahne schreiben, nämlich vorsorgenden Verbraucherschutz zu betreiben, gerecht zu werden? Sie haben
die Stellen, die nötig sind, um die BSE-Problematik zu
verhindern bzw. auszuschalten, gekürzt.
({4})
Genau das sagt der Bericht des Bundesrechnungshofes. Er betont ausdrücklich: Im Zusammenhang mit BSE
und Fleischhygiene gab es erhebliche Unterlassungen.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Herr
Berninger, ich wiederhole Ihre Aussage, die ich hoch interessant finde, noch einmal: Krisen meistert man am
besten, indem man ihnen zuvorkommt.
In der Ausschusssitzung am 14. Januar 2004 haben
Sie die gesamte Verantwortung auf die Länder abgeschoben. Ich habe Sie damals gefragt: Warum haben Sie eigentlich nicht von dem Recht auf Erlass einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift Gebrauch gemacht? Damals
sind Sie die Antwort darauf schuldig geblieben.
({5})
Heute, noch nicht einmal 14 Tage später, liegt die Allgemeine Verwaltungsvorschrift, die in diesem Bereich Verbesserungen bringt, auf dem Tisch.
Herr Berninger, es bleibt dabei: Ihr Haus hat in der
Frage der Bekämpfung von BSE die Fahne unheimlich
hoch gezogen, hat aber in der Frage der Bewältigung der
BSE-Problematik wie auch anderer Problematiken in
meinen Augen, um es politisch zu sagen, unglaublich
- das heißt: es ist nicht zu glauben - geschlampt. Das ist
unser Vorwurf, der auch bestehen bleibt.
({6})
- Frau Hiller-Ohm, lesen Sie es nach. Wenn Sie eines
der von mir genannten Fakten widerlegen können, können wir gerne so in eine Sachdiskussion einsteigen, wie
wir jetzt natürlich in die Sachdiskussion darüber einsteigen,
({7})
ob das, was Sie hier auf den Weg bringen, wirklich dem
Rechnung trägt, was Sie vorhin angesprochen haben.
Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie schlicht und einfach
einmal in schon lange bestehende Vereinbarungen. Es
gibt schon jede Menge Vereinbarungen zur Lebensmittelkontrolle und zur Lebensmittelsicherheit. Wenn sie Ihnen fehlen, gebe ich Ihnen gerne die Vereinbarung, die
zum Beispiel der Freistaat Bayern und das Land Thüringen unterschrieben haben. Dort sind tägliche bis monatliche Kontrollen oder auch Kontrollen vier Mal im Jahr
vorgesehen.
({8})
Die Grundlagen dafür gibt es sehr wohl.
Wenn der Bund den Ländern nicht auch ein Stück bei
der Ausstattung mit entsprechendem Personal für die Lebensmittelkontrollen hilft, wenn Sie nicht bereit sind,
auch private Anbieter mit einzubeziehen, werden wir
auch hier ein Problem bekommen.
Mein Vorwurf bleibt: Bei der BSE-Aufklärung und
der BSE-Bekämpfung ist schlampig gearbeitet worden.
Ich habe in diesem Punkt nichts zurückzunehmen.
({9})
Eine Kurzintervention des Abgeordneten Berninger.
({0})
- Weil das sein Abgeordnetenrecht ist. Herr Kollege, ich
muss Sie als alten Hasen doch nicht über Parlamentarierrechte aufklären.
({1})
Bitte.
Frau Präsidentin! Der Abgeordnete Goldmann hat in
seiner Rede wieder einmal verschiedene Themen durcheinander geworfen, weswegen ich vonseiten der Bundesregierung hier eines klarstellen möchte:
Erstens. Wir sind seit längerem mit dem Bundesrat
über diese Allgemeine Verwaltungsvorschrift im Gespräch. Der hier erweckte Eindruck, diese Allgemeine
Verwaltungsvorschrift sei eine Reaktion auf die jüngsten
Vorkommnisse, auf die Unregelmäßigkeiten bei BSETests, entbehrt jeglicher Grundlage, wie ein Blick auf die
einzelnen Fristen und Daten der Diskussion zeigt. Im
Übrigen ist es so, dass - wie ich schon gesagt habe diese Allgemeine Verwaltungsvorschrift ein elementarer
Bestandteil der Umsetzung der Vorschläge von Frau von
Wedel ist, auf die sich alle verständigen konnten, als
BSE noch ein großes Thema war.
Zweitens. Der Abgeordnete Goldmann erweckt wieder den Eindruck, es hätte grobe Unregelmäßigkeiten
und Schlampereien gegeben. Er hat in der Ausschusssitzung sogar einzelne Mitarbeiter im Abgeordnetenbüro
von Renate Künast dieser Unregelmäßigkeiten bezichtigt. Es konnte im Ausschuss zweifelsfrei nachgewiesen
werden, dass die Vorwürfe haltlos waren. Die FDP stand
damit im Ausschuss auch alleine. Da der Abgeordnete
Goldmann nicht Manns genug ist, sich dafür zu entschuldigen, muss ich hier deutlich sagen, dass ich es bedaure, dass er diese Vorwürfe weiterhin aufrechterhält.
({0})
Drittens ist es so, dass für die Probleme im Bereich
der BSE-Tests im Rahmen der Rinderdatenbank die Länder originär zuständig sind. Die Bundesregierung hat im
Ausschuss erklärt, dass sie Hinweise auf einzelne Unregelmäßigkeiten bei einer Gesamtzahl von 2,5 Millionen
BSE-Tests im Jahr bekommen und an die jeweils zuständigen Länder weitergegeben hat. Sie hat aber erst verspätet davon Kunde bekommen, dass die Länder insgesamt einen Abgleich gemacht haben. Erst als einzelne
Bundesländer beim Bund nachgefragt haben, haben wir
festgestellt, dass es hier systematische Unregelmäßigkeiten und Probleme gibt. Unmittelbar nachdem wir davon
Kenntnis hatten, haben wir die Öffentlichkeit darüber informiert. Auch hier ist der Vorwurf der Schlamperei absolut haltlos und nützt in der Debatte überhaupt nichts.
({1})
Bei 2,5 Millionen BSE-Tests haben wir einige Hundert Unregelmäßigkeiten zu konstatieren. Das als große
Schlamperei darzustellen unterläuft meiner Meinung
nach die Errungenschaften, die wir, Bund und Länder
gemeinsam, mit den neuen Vorsorgemaßnahmen im
BSE-Bereich erreicht haben. Es handelt sich um den
durchsichtigen Versuch, ein Detailproblem, für das auch
noch die Länder zuständig sind, Frau Bundesministerin
Künast vorzuwerfen. Das weise ich mit aller Entschiedenheit zurück.
({2})
Herr Berninger, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich
als Kollegen ansprechen.
({0})
- Ja; denn im Moment agiert er ja nicht als Regierungsvertreter, sondern als Abgeordneter, der meint, seine Ministerin ein bisschen in Schutz nehmen zu müssen.
({1})
Herr Berninger, der Fall ist ganz simpel. Jeder, der
von dem HIT-System Ahnung hat - ich gehe davon aus,
dass Sie davon Ahnung haben -, und jeder, der vom Abgleich von BSE-Test- und Schlachtdaten Ahnung hat,
wusste, dass hier ein besonderes Problem besteht. Trotz
der Klasse, die dieses System ansonsten hat, wussten das
alle, die damit zu tun hatten. Dabei handelt es sich, nebenbei gesagt, nicht um Ihre Erfindung. Im Prinzip ist
dieses System von Bauern entwickelt worden, um in diesem Bereich für mehr Sicherheit zu sorgen.
({2})
Alle, die von diesem System Kenntnis hatten, wussten, dass es Probleme gab, dass es bei der Eingabe von
Ohrmarkendaten beispielsweise zu Zahlendrehern gekommen ist. Auch wussten sie, dass das eine oder andere
Tier verschwindet. Lassen Sie uns nicht darüber streiten,
wie viele Tiere es waren. Aber das Problem von
Schwarzschlachtungen ist keine Erfindung in einem
bestimmten Jahr. Es hat sie immer gegeben und jeder
weiß, dass es in diesem Zusammenhang Probleme gibt.
Herr Berninger, auch Sie haben das gewusst; denn das
war Gegenstand von Erörterungen auf Landesebene. So
haben zum Beispiel Vertreter des Landkreises Emsland
in einem Schreiben darauf aufmerksam gemacht, dass
bei diesem System die Gefahr besteht, dass sich kriminelle Energie entfaltet. Genau dies hat Ihr Staatssekretärskollege in einer Pressemitteilung bestätigt.
Darin hieß es, dass es Fälle krimineller Energie auszumerzen gibt. Also hat er doch gewusst, dass es in diesem
Bereich Probleme gibt. Darauf haben Sie nicht zeitgerecht reagiert.
({3})
Das BSE-System ist zum 1. Januar 2003 eingeführt
worden. Aber Sie haben die Chancen dieses Systems
nicht energisch genug genutzt. Sie haben nicht darauf
hingewirkt, dass es zu schnelleren Abgleichen kommt.
Nicht Sie, sondern die Verantwortlichen des Freistaates
Bayern haben diese Idee entwickelt. Herr Berninger
- Sie brauchen gar nicht abzuwinken -, gegen Ende des
Jahres 2003 haben Sie erst noch einen anderen Sachverhalt geklärt, nämlich die Frage, wann ein Tier 24 Monate
alt ist.
({4})
Auch Ihnen war bekannt, dass auf europäischer Ebene
folgende Regelung gilt: 24 Monate plus ein Tag. Aber in
der Bundesrepublik Deutschland ist immer auf eine
Weise verfahren worden, dass man nie genau wusste,
wann 24 Monate abgelaufen waren. Sie kannten das Problem und haben erst Ende Dezember letzten Jahres darauf reagiert.
Ebenso sind Frau von Wedels Anmerkungen zu Verbesserungen keine Erfindungen des Jahres 2004. Sie reichen lange zurück. In der Ausschusssitzung habe ich sie
ganz konkret gefragt, ob sie von diesen Problemen gewusst hat; sie muss davon gewusst haben. Sie selbst haben gerade bestätigt, dass Sie schon lange an dem Problem arbeiten, die Lebensmittelkontrolle effizienter zu
gestalten. Also haben Sie um die Schwächen dieses Systems gewusst. Deswegen erhebe ich nach wie vor den
Vorwurf, dass Sie in dieser Sache nicht auf den Punkt
hin gearbeitet haben. Ich sage es Ihnen ganz simpel: Es
war für mich nicht zu glauben, dass Sie in dieser Frage
so schlampig vorgegangen sind.
({5})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Uda Heller, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Sprichwort sagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist
besser. In diesem Sinne wollen wir eine wirksame Lebensmittelüberwachung und -kontrolle. Der Bürger hat
einen Anspruch darauf, dass die Behörden ihn sowohl
bei Produkten aus dem eigenen Land wie auch bei Importen vor gesundheitlichen Risiken und Gefahren
schützen und aufklären. Eine Einfuhrkontrolle bei letzteren Produkten ist deshalb sinnvoll und angebracht. Bei
grenzüberschreitenden Märkten - auch im Lebensmittelbereich - ist das ein schwieriges Unterfangen, wie wir
alle wissen. Die gerade zu Ende gegangene Grüne Woche hat uns allen wieder die wunderbare Vielfalt, aber
auch die Komplexität des Angebotes vor Augen geführt.
Staatliche Lebensmittelüberwachung und -kontrolle
kann aber nur gemeinsam mit verbindlicher Eigenkontrolle der Unternehmen, entsprechenden Meldepflichten
der Erzeuger und Produzenten sowie der Eigenverantwortung der Verbraucher einen effizienten Verbraucherschutz garantieren.
({0})
So begrüßenswert der Föderalismus als solcher ist, so
hinderlich ist er in der Frage des vorbeugenden Verbraucherschutzes: Unterschiedliche Zuständigkeiten, unterschiedliche Regelungen, unterschiedliche Prüfzyklen
und unterschiedliche Ausstattungen der jeweiligen
Prüfinstitutionen führen natürlich auch zu unterschiedlichen Bewertungen und enormen Reibungsverlusten und
Abstimmungsschwierigkeiten, wie wir sie ja in der Vergangenheit auch öfters erlebt haben.
Deshalb kann und muss die Lösung für einen effizienten
vorbeugenden Verbraucherschutz eine koordinierte und
abgestimmte Lebensmittelüberwachung und -kontrolle
sein, die die Pflichten klar regelt, nämlich was wann und
wie gemacht werden soll. Dies muss bundeseinheitlich
geschehen, denn es darf nicht sein, dass die Menschen in
dem einen Bundesland durch andere Prüfmethoden und -zyklen einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind
als in einem anderen Bundesland.
Meine Damen und Herren, ich bin dankbar dafür, dass
wir uns in diesem Hohen Hause über den dringenden Regelungsbedarf in dieser Sache in weiten Teilen einig
sind.
({1})
Der Bund muss Regelungen vorgeben, die bundeseinheitlich gelten und einen flächendeckenden Verbraucherschutz garantieren. Die Lebensmittelkontrollen müssen
sowohl personell als auch sachlich besser ausgestattet
werden, damit sie den umfangreicher werdenden Aufgaben auch gerecht werden können. Dazu zählt natürlich
auch eine verbesserte Aus- und Weiterbildung aller Mitarbeiter, die in diesem Bereich tätig sind.
Damit sie präventiv wirken können, müssen die Prüfzyklen engmaschig sein; dies setzt eine entsprechende
Kontrolldichte voraus. Beim Verbraucherschutz darf
nicht am falschen Ende gespart werden.
Bei aller Sympathie für Privatisierung - bei der Lebensmittelüberwachung muss die Autorität des Staates
sichergestellt sein. Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern hat Sachsen-Anhalt zum Beispiel die Durchführung der BSE-Tests nach wie vor einem eigenen Testlabor unterstellt, während andere Bundesländer diese
Aufgabe an private abgegeben haben, ohne deren Kontrolle sicherzustellen. Die damit verbundenen Unsicherheiten sind uns allen noch gegenwärtig. Das darf nicht
wieder vorkommen!
Mit dem Bundesamt für Verbraucherschutz und
Lebensmittelsicherheit haben wir nun eine Institution
geschaffen, die grundsätzlich für eine solche Koordinierungsaufgabe zuständig sein soll. In der konkreten Ausgestaltung besteht unseres Erachtens aber noch dringender
Handlungsbedarf. Einheitliche Verwaltungsvorschriften,
wie sie in dem Entwurf der Bundesregierung ansatzweise vorliegen, sollten die Zuständigkeiten und Verfahrenswege klar festlegen, wobei die Bundesregierung die
Kosten und die unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen
der Länder berücksichtigen sollte.
Wenn zum Beispiel die Kommunen die personelle
Last der Lebensmittelüberwachung zu tragen haben,
wird es ihnen bei ihrer katastrophalen finanziellen Lage
und steigender Aufgabenfülle und Bürokratie nicht möglich sein, mehr Personal zur Verfügung zu stellen; auf
dieses Problem hat Frau Heinen vorhin schon sehr richtig hingewiesen.
({2})
In meinem Landkreis etwa müssen zurzeit drei Personen
circa 800 Einrichtungen kontrollieren; auf die Fläche gerechnet ist das natürlich eine große Zahl. Die vom Land
festgelegte Häufigkeit der Kontrollen in diesem Bereich
ist da wirklich nur schwer einzuhalten.
Eine sinnvolle Einsparmöglichkeit wäre nach meiner
Ansicht das gemeinsame Betreiben von Untersuchungslabors durch mehrere Länder. Für die Realisierung, gibt
es schon Ansätze zwischen einzelnen Ländern.
({3})
Was jedoch nicht geschehen darf, ist, dass wir Bundesregelungen schaffen, mit denen wir den Ländern
nicht nur Pflichten auferlegen, sondern ihnen auch noch
die Rechnung dafür präsentieren. Hier bin ich anderer
Meinung. Sicherlich müssen wir uns über dieses Thema
noch unterhalten.
Wenn die einzelnen Länder darüber hinaus Handlungsbedarf bei der Überwachung sehen, dann seien ihnen entsprechende Maßnahmen anheim gestellt. Hier
darf der Bund sie nicht einengen.
Ich denke, wenn wir die heute angesprochenen Aufgaben hier im Hause gemeinsam vom Tisch bekommen,
dann haben wir zumindest eine Basis dafür geschaffen,
die künftigen Herausforderungen im Bereich der Lebensmittelsicherheit konsequent in den Griff zu bekommen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2339 und 15/2386 zur federführen-
den Beratung an den Ausschuss für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Aus-
schuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie an
den Haushaltsausschuss zu überweisen. Weiterhin ist
vereinbart, die Vorlagen auf den Drucksachen 15/1673,
15/1674 und 15/1675 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Hartmann ({0}), Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Akkreditierte Masterabschlüsse von Fachhochschulen und Universitäten im öffentlichen
Dienst gleichstellen
- Drucksache 15/1710 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Horst Friedrich ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eckpunkte für einen Wissenschaftstarifvertrag
- Drucksache 15/1716 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Damit greifen wir die Zwischenfragen des Kollegen
Tauss von heute Morgen auf und machen sie, wie es sich
gehört, zu einem ordentlichen Tagesordnungspunkt, was
hoffentlich nicht nur bei ihm große Befriedigung auslöst.
({4})
- Zumindest dieser Hinweis wird ihn in den Plenarsaal
zurücktreiben.
({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Auch dazu höre ich
keinen Widerspruch.
Ich eröffne hiermit die Aussprache und erteile zunächst der Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben
Recht: Wir haben heute Morgen sehr ausführlich über
Innovationen gesprochen. Ich habe darauf verwiesen,
dass uns nicht Sprechblasen - apropos, Herr Tauss -,
sondern nur handfeste Reformvorschläge weiterhelfen.
({0})
Innovation darf keine Worthülse bleiben, sondern
muss sich in konkreten Handlungen und nachprüfbaren
Taten ausdrücken. Mit unseren beiden Anträgen geben
wir Ihnen heute eine sehr gute Gelegenheit dazu. Die
Forderungen in unseren beiden Anträgen sind im Grundsatz - da bin ich mir sehr sicher - nicht einmal streitig.
Es geht heute wirklich nur darum, ob Sie den Mut haben,
der Innovationsrhetorik der vergangenen Wochen endlich auch einmal innovative Taten folgen zu lassen.
({1})
Wir alle wissen, dass das bestehende Tarif- und Beamtenrecht keine ausreichenden Leistungsanreize bietet,
um wissenschaftliche Spitzenleistungen angemessen zu
honorieren. Das gilt für Forschungseinrichtungen genauso wie für Hochschulen. Die im Haushalt des BMBF
vorgesehene Möglichkeit, übertarifliche Zulagen für
Wissenschaftler der HGF und der FhG in Höhe von maximal 5 Prozent zu zahlen, ist nun wirklich eine Krückenlösung. Ich glaube, darin sind wir alle uns einig. Hochleistungsforschung werden wir damit nicht bekommen.
({2})
Ein Land wie Nordrhein-Westfalen kann an besonders
förderungswürdige Mitarbeiter Zulagen in Höhe von gerade einmal 300 Euro vergeben. Ich glaube, wir alle sind
uns einig, dass das eine Lachnummer und ganz bestimmt
kein Anreiz für die besten Köpfe dieser Welt ist.
({3})
Wir brauchen einen wirklichen Tarifvertrag für die
Sparte Wissenschaft mit Öffnungsmöglichkeiten für betriebliche Regelungen an Instituten und Hochschulen.
Dabei kann es nicht nur - darauf lege ich ausdrücklich
Wert - um Professoren gehen, sondern es muss alle am
Forschungsprozess wissenschaftlich und technisch beteiligten Mitarbeiter umfassen. Es muss eine flexible, moderne und entbürokratisierte Vergütung sein. Wissenschaft soll Grenzen überschreiten. Sie muss kreativ,
ideenreich und fantasievoll sein. Das passt nach Meinung der FDP nicht mit einem starren Beamten- und Angestelltentarifvertragsrecht, mit Reisekostenverordnungen und dreifachen Durchschlägen zusammen.
({4})
Vor vier Jahren hat die Expertenkommission „Reform
des Hochschuldienstrechts“ ihre Empfehlungen vorgelegt. Vier Jahre lang fordern wir jetzt die Umsetzung.
Aber trotz hochheiliger Versprechungen Ihrerseits und
ziemlich großartig angelegter Koalitionsverträge zwischen Rot und Grün hat sich nichts bewegt.
({5})
- Lieber Herr Tauss, Sie und Ihre Ministerin sind ganz
offensichtlich in die Mühlen Ihres eigenen Innenministers und natürlich in die der Innen- und Finanzminister
der Länder geraten:
({6})
statt zügiger Innovation zähflüssige BAT-Debatten.
({7})
Wir aber wollen nicht, dass der Wissenschaftstarifvertrag bis zu einer allgemeinen Reform des Beamtenund Angestelltentarifvertragsrechtes verschoben wird,
von der wirklich niemand weiß, wann sie kommt. Wissenschaft ist eine Sparte mit besonderen Anforderungen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Verhandlungen
mit der Tarifgemeinschaft der Länder voranzutreiben
und nicht passiver Zuschauer zu bleiben.
In vielen Forschungszentren - das wissen wir alle steht ein Generationenwechsel an. Das ist die Chance,
neue Formen der Vergütung durchzusetzen. Wenn Sie
diese nicht nutzen, wird sich das ganze Gerede von Innovation sehr schnell als Placebo entlarven. Denken Sie
also bitte nicht daran, wie Sie mediengerecht Begriffe
besetzen, sondern daran wie Deutschlands Forschung
möglichst bald wieder Spitzenplätze besetzen kann.
({8})
Ein weiterer Prüfstein für Innovationskraft ist die
Gleichstellung von Masterabschlüssen von Universitäten und Fachhochschulen im öffentlichen Dienst. Master
ist Master.
({9})
Das war die Intention, mit der der Deutsche Bundestag
die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge
beschlossen hat. Es kann unserer Meinung nach nicht
angehen, dass für den Master, der von der Fachhochschule kommt, ein besonderes Akkreditierungsverfahren
für den Zugang zum höheren Dienst nachgeschaltet
wird.
({10})
Wenn ein Masterstudiengang an einer Fachhochschule zugelassen wurde, dann sind seine Absolventen
berechtigt, sich für den höheren Dienst zu bewerben.
Dazu braucht es kein zusätzliches Verfahren. Das bedeutet auch keine zusätzlichen Belastungen, wie unsere Finanzminister über alle Parteigrenzen hinweg immer wieder behaupten. Dies wird die öffentlichen Kassen nicht
treffen. Durch diese Abschlüsse stehen mehr Menschen
zur Verfügung. Das ist nicht schlecht, sondern gut für
den Staat.
({11})
Zugangserschwernisse sind Innovationsbremsen für
die neuen Studienabschlüsse, die wir im Hinblick auf
mehr Internationalität des deutschen Hochschulwesens
eingeführt haben. Liebe Kollegen von SPD und Grünen,
wenn Sie wirklich Innovation wollen, dann lösen Sie die
Bremsen und lassen den Wissenschaftszug endlich Fahrt
aufnehmen. Wir brauchen junge Wissenschaftler, die in
diesen Zug einsteigen und etwas leisten wollen. Dafür
verlangen sie aber eine entsprechende Anerkennung. Im
Jahr der Technik und der Innovationen darf es nicht mit
der Bimmelbahn vorangehen, sondern wir müssen uns
mit Schallgeschwindigkeit fortbewegen.
({12})
Mit der Zustimmung zu unseren liberalen Anträgen können Sie heute hierzu einen Beitrag leisten.
({13})
Das Wort hat der Kollege Hans-Peter Kemper, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident, dies ist nicht meine erste Rede im Bundestag, aber wenn ich es richtig in Erinnerung habe,
dann ist dies meine erste Rede unter Ihrer Regentschaft.
Vielleicht wirkt sich das günstig auf meine Redezeit aus.
({0})
Die ersten zehn Sekunden sind für diese Dankadresse
leider schon verbraucht.
Diese habe ich der Einleitung geopfert.
Frau Flach, ich stimme Ihnen in dem zu, was Sie hier
gesagt haben. Ihre Taten sehen allerdings ein bisschen
anders aus. Natürlich brauchen wir den Wettbewerb um
die besten Köpfe. Natürlich müssen wir die besten
Leute in die Bundesrepublik holen. Natürlich müssen
wir den jungen Leuten die Möglichkeit geben, hier zu
studieren und Wissen zu erwerben.
Dazu haben Sie zwei Anträge eingebracht. Lassen Sie
mich darauf eingehen. Ich kann mich des Eindrucks
nicht erwehren, dass in Ihren beiden Anträgen eine gehörige Portion Populismus mitschwingt.
({0})
- Doch. Wir haben die Bachelor- und Masterstudiengänge 1998 zunächst probeweise eingeführt und 2002
ins Regelangebot übernommen. Das basiert auf einer
klaren Vereinbarung zwischen IMK und KMK. Sie kennen den Inhalt dieser Vereinbarung genau. Die Masterabschlüsse ermöglichen den Zugang zum höheren und
gehobenen Dienst. Dazu bedarf es eines Akkreditierungsverfahrens. Das ist richtig. Mit der Reform der
Professorenbesoldung in der letzten Legislaturperiode
haben wir eine Menge an Flexibilität in dieses System
gebracht.
({1})
Wir haben flexible, leistungsbezogene Bezahlungssysteme eingerichtet. Vieles von dem, was Sie jetzt fordern,
steht in diesem Gesetz. Aber wenn mich mein Gedächtnis nicht ganz im Stich lässt, war es die FDP, die damals
sowohl im Ausschuss als auch hier im Plenum gegen
diese Änderung der Professorenbesoldung gestimmt hat.
Sie haben also gegen das gestimmt, was Sie heute vehement fordern.
({2})
Ich kann Ihnen den Vorwurf des Populismus nicht ersparen.
({3})
In diesem Gesetz sind variable Gehaltsbestandteile, insbesondere für besondere Leistungen in Forschung und
Innovation, für Professoren an Fachhochschulen und anderen Einrichtungen vorgesehen.
Herr Kollege Kemper, jetzt besteht die Chance, die
zehn Sekunden über eine Zwischenfrage der Kollegin
Flach wieder einzuspielen.
Sehr gerne.
Herr Kemper, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass wir im
Grunde genommen auf demselben Weg sind. Insofern
möchte ich Ihnen einfach nur die freundliche Frage stellen, ob Sie sich wirklich nicht erinnern, warum wir abgelehnt haben. Wir haben abgelehnt, weil nicht genug Geld
zur Verfügung gestellt wurde und das Ganze damit ein
Witz war.
({0})
Ich bitte darum, ehrlich mit den historischen Tatsachen
umzugehen.
Mir sind die Ablehnungsgründe noch sehr gut bekannt. Die Ablehnungsgründe der FDP gleichen sich
sehr oft. Es wird gesagt, es sei nicht genügend Geld im
Topf, oder es wird gesagt, die Maßnahmen gingen nicht
weit genug. Im Prinzip haben Sie diese Gesamtreform
damals sowohl im Ausschuss als auch im Plenum abgelehnt.
Ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt, der
mit Ihrer Frage im Zusammenhang steht. Schauen Sie
sich einmal die Länder an, in denen Sie mitregieren. Sie
wissen genau wie ich, dass es zu einem erheblichen Teil
in der Kompetenz der Länder liegt, ob diese Dinge umgesetzt werden oder nicht. Welche Länder haben bisher
die Reform, die wir beschlossen haben, umgesetzt? Welche Länder haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht?
({0})
Die Länder Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen
haben sich bewegt. Aber in den Ländern BadenWürttemberg und Hamburg, in denen Sie mitregieren,
hat sich bisher nicht allzu viel bewegt.
({1})
Sie sollten die Chance nutzen, das, was Sie hier im Deutschen Bundestag fordern, in den Ländern, in denen unter
anderem Sie das Sagen haben, umzusetzen. Das wäre
eine ehrliche Geschichte. Damit würden Sie uns überzeugen.
({2})
Natürlich muss das gesamte System der Bezahlung
variabler und leistungsorientierter werden. Das ist gar
keine Frage. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die alten Zöpfe Lebensaltersstufen und Bewährungsaufstieg
noch ihre Berechtigung haben. Wir müssen das Tarifrecht ändern. Das ist überhaupt nicht strittig. Diese
Punkte sind im Übrigen Gegenstand der Koalitionsverhandlungen gewesen. Sie sind nicht strittig und werden
umgesetzt.
({3})
Wir sind dabei, das gesamte Tarifrecht zu reformieren
und diese Punkte umzusetzen, unter anderem auch die,
die Sie fordern. Deshalb wäre es wenig sinnvoll, jetzt einen kleinen Bereich herauszunehmen und in dem Sonderbereich der Hochschulen und Fachhochschulen vorab
Regelungen zu treffen.
({4})
Ich empfehle Ihnen: Lassen Sie uns gemeinsam abwarten. Ich bin guter Hoffnung, dass wir eine Veränderung des BAT bis zum Sommer, spätestens jedoch bis
zum Herbst erreichen. Wir sollten uns gemeinsam bemühen, diese Dinge in einer großen Reform des BAT umzusetzen. Da sind wir völlig einer Meinung. Wir sind da
auf einem guten Weg und sollten auf diesem auch vorangehen.
Die angesprochene Vereinbarung der IMK und KMK
beinhaltet nun einmal dieses Akkreditierungsverfahren.
Ihre Anträge sind der Versuch, das zu unterlaufen.
({5})
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, eine Vereinbarung,
die Mitte des Jahres 2002 getroffen worden ist, jetzt zu
unterlaufen.
({6})
Das ist eine mühsame Vereinbarung zwischen Bund und
Ländern gewesen, die akzeptiert worden ist. Wir sollten
zunächst einmal die Wirkungen abwarten und nicht nach
anderthalb Jahren das Gesetz nachbessern. Wir sollten
Gesetze, die wir selbst auf den Weg gebracht haben,
nicht verändern, nachbessern oder gar verschlechtern,
bevor wir ihre Wirkungen ausgelotet haben.
({7})
Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Punkt.
Wir streben in jedem Fall eine Regelung an, die von
Bund und Ländern gleichermaßen akzeptiert und getragen wird. Bei einer einseitigen Veränderung gäbe es
ohne Frage Probleme zwischen der Bundes- und der
Landesebene. Es gäbe Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Versetzung und - wegen der unterschiedlichen Einordnung - große Motivationsprobleme unter
den Beamten.
({8})
Von daher ist es sinnvoll, eine Regelung im Gleichklang mit den Ländern anzustreben. Geben Sie Ihrem
Herzen einen Stoß und bringen Sie die Regelung in den
Ländern, in denen Sie daran mitwirken können, auf eine
vernünftige Grundlage!
Wir haben eine Regelung vorgesehen, die neben einem festen Grundgehalt starke leistungsbezogene Elemente beinhaltet. Das ist der richtige Weg, den wir auch
weiterhin beschreiten wollen. Ich kann Sie nur ermuntern, mitzumachen. Machen Sie das aber nicht mit Anträgen, wie Sie es bisher getan haben, sondern im Rahmen eines Gesamtkonzepts.
Sie können sich nicht einfach die Punkte herausgreifen, die Ihnen genehm sind. Es geht auch nicht an, dass
Sie sich auf Landesebene nicht bewegen, aber hier gegen
unseren Gesetzentwurf stimmen und dann noch so tun,
als seien Sie die Retter des öffentlichen Dienstes und der
Studenten.
Schönen Dank.
({9})
Herr Kollege Kemper, ich hätte Ihnen glatt eine weitere Verlängerung der Redezeit durch eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss ermöglicht. Aber Sie waren
von den Zwischenrufen der Kollegin Flach so fasziniert,
dass Sie diesen gut gemeinten Versuch offenkundig nicht
einmal bemerkt haben. Wir nehmen das auf Wiedervorlage und versuchen es beim nächsten Mal erneut.
Herr Präsident, ich habe das ständige Leuchten der
Lampe mit der Aufschrift „Präsident“ als Mahnung verstanden, aufzuhören. Ich habe das fehlgedeutet.
Nicht immer ist das Aufblinken der „PräsidentenLampe“ eine Mahnung. Manchmal ist es auch der Hinweis darauf, dass eine Zwischenfrage gewünscht wird.
Nun erteile ich dem Kollegen Thomas Rachel, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einführung der Universitätsabschlüsse Bachelor und Master
ist ein Verdienst des ehemaligen christdemokratischen
Wissenschaftsministers Jürgen Rüttgers. Er nahm damit
eine wichtige Weichenstellung zugunsten der Internationalisierung der deutschen Hochschulen vor. Im Sinne
des Bologna-Prozesses sind Bachelor- und Masterstudiengänge mittlerweile weitgehend flächendeckend in
Deutschland eingeführt.
Gleichwohl gibt es aus der Sicht der Fachhochschulen
Schwierigkeiten. Während die Masterabschlüsse an den
Unis regelmäßig dem höheren Dienst zugeordnet werden, werden die Masterabschlüsse an Fachhochschulen
regelmäßig dem gehobenen Dienst zugeordnet. Nur ausnahmsweise kann ein FH-Abschluss dem höheren Dienst
zugeordnet werden, wenn ein gesondertes Akkreditierungsverfahren durchlaufen wurde, in dem festgestellt
wird, dass ein FH-Masterabschluss einem Uniabschluss
gleichwertig sei. Diese zusätzliche Hürde wird von den
Fachhochschulen im Interesse ihrer Absolventen kritisiert.
Das Verfahren soll erst im Jahre 2007 überprüft werden. Ich denke, diese Regelung kann zweifellos nicht befriedigen. Sie steht letztlich auch in einem Widerspruch
zur Gleichbehandlung von Fachhochschulen und Universitäten im Hochschulrahmengesetz.
({0})
Es ist auch äußerst unglaubwürdig, wenn der bildungspolitische Sprecher der SPD, Tauss, dem Hochschullehrerbund die Gleichbehandlung ankündigt, während die
Vertreter von SPD und Grünen im Petitionsausschuss des
Bundestags dies jedoch in den konkreten Fällen ablehnen. Das ist keine stringente Politik.
({1})
Mit der Ankündigung von Eliteuniversitäten hat Bildungsministerin Bulmahn zwar die Schlagzeilen gefüllt,
aber in Wirklichkeit mit Nebelkerzen von den tatsächlich notwendigen Strukturreformen in der deutschen
Hochschullandschaft abgelenkt. Das Problem von Frau
Bulmahn ist, dass sie kein inhaltliches Strukturreformkonzept hat.
Spitzenuniversitäten entstehen nicht allein durch
mehr Geld und schon gar nicht durch Regierungsdekret,
sondern nur durch umfassende Strukturreformen. Dazu
war die Ministerin bislang nicht fähig.
({2})
Herr Kollege Rachel, der Kollege Tauss möchte Ihnen
jetzt den Zeitvorteil einräumen, der dem Kollegen
Kemper vorenthalten geblieben ist.
Das ist mir eine besondere Freude.
Diese Freude teile ich natürlich, lieber Kollege
Rachel. - Würden Sie freundlicherweise - um jeder
Form von Legendenbildung vorzubeugen - meiner Tatsachenfeststellung zustimmen, dass das, was Sie hier kritisieren, im Wesentlichen auf Forderungen der Länder
beruht? Können Sie sich so wie ich vorstellen, dass wir
das Evaluierungsverfahren schneller durchführen als bis
zum Jahr 2007? Wissen Sie, dass wir, die Bundespolitiker, über eine schnellere Umsetzung glücklich gewesen
wären und dass es die Länder waren - ich glaube, dies
geschah parteiübergreifend -, die um diesen langen Zeitraum gebeten haben? Können Sie sich vorstellen, dass
wir gemeinsam den für das Verfahren vorhergesehenen
Zeitraum bis 2007 möglicherweise verkürzen?
Ich bin generell der Meinung, dass wir, das Parlament, in Sachfragen über Fraktionsgrenzen hinaus zusammenarbeiten sollten. Ich halte überhaupt nichts davon, dauernd einen parteipolitischen Schlagabtausch zu
führen.
({0})
Deswegen möchte ich Folgendes ausdrücklich bestätigen: Es gibt gemeinsame bildungspolitische Anliegen,
die die Bildungspolitiker aller Fraktionen auch in diesem
Hause gemeinsam vertreten sollten. Allerdings wünsche
ich mir, dass - wie in diesem Fall geschehen - SPD und
Grüne im Petitionsausschuss nicht das genaue Gegenteil
von dem entscheiden, was man dem Hochschullehrerbund in bildungspolitischer Hinsicht versprochen hat.
Das ist widersprüchlich.
Zurück zum eigentlichen Thema, zu den Strukturreformen. Wir brauchen endlich eine Autonomie der
Hochschulen, eine leistungsgerechtere Bezahlung der
Lehrenden, ein Recht der Hochschulen, die Studierenden
auszuwählen, und die Rücknahme des Studiengebührenverbots. Sicherlich gehört zu den Reformen aber auch
ein flexibles Vergütungs- und Entlohnungssystem für
die Hochschulen und die Forschungseinrichtungen in
Deutschland. Das jetzige BAT-System ist ohne Zweifel
für die guten Wissenschaftler in Deutschland nicht attraktiv.
({1})
Dieses BAT-Korsett muss abgeschafft werden, damit unsere Wissenschaftseinrichtungen in Konkurrenz mit den
ausländischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen treten können. Das bestehende tarifliche Regelwerk
bietet keine ausreichenden Leistungsanreize, um zum
Beispiel hervorragende Leistungen oder erfolgreiche
Drittmitteleinwerbungen zu honorieren. Der Braindrain
aus Deutschland wird immer stärker. Schon die Expertenkommission „Reform des Hochschuldienstrechts“ hat
im April 2000 einen neuen Wissenschaftstarifvertrag gefordert. Im rot-grünen Koalitionsvertrag vom Oktober
2002 heißt es:
Mit einem Wissenschaftstarifvertrag für Hochschulen und Forschungseinrichtungen wollen wir den
besonderen Bedingungen in Wissenschaft und Forschung Rechnung tragen und Mobilitätshemmnisse
zwischen Wissenschaft und Wirtschaft abbauen.
So weit die Ankündigung. Die Realität ist aber: Die von
Rot-Grün groß angekündigte Reform des Besoldungssystems für alle wissenschaftlich Tätigen findet nicht
statt. Außer Spesen nichts gewesen! Das ist die Realität
der deutschen Bildungslandschaft.
({2})
Woran liegt es? Ganz einfach, Bildungsministerin
Bulmahn kann sich gegen Innenminister Schily nicht
durchsetzen. Das Problem kennen wir ja; denn Frau
Bulmahn hat sich bereits bei der Grünen Gentechnik
nicht gegen ihre grüne Ministerkollegin Künast durchsetzen können. Wenn das so weitergeht, verschläft RotGrün auch in diesem wichtigen Bereich längst überfällige Reformen, die den Hochschulen größere Autonomie und einen Anreiz für unternehmerisches Denken
geben sollen. Anstatt selbst aktiv zu werden, wartet die
Bildungsministerin - sie wohnt der heutigen Debatte leider nicht bei - auf die Entscheidungen des Bundesinnenministers und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder.
Das ist keine politische Führung und zeugt von Konzeptund Ideenlosigkeit.
({3})
So wird die internationale Konkurrenzfähigkeit unseres
Wissenschaftsstandorts nicht gefördert, sondern torpediert.
({4})
Anstatt sich als Ministerin für Bildung und Forschung
in diese Themen einzumischen, kümmert sich Frau
Bulmahn um Themen wie die Schulpolitik, für die sie
überhaupt keine Kompetenz hat. Ich fordere sie auf, sich
endlich um Ihre ureigenen Aufgaben als Wissenschaftsministerin zu kümmern. Dazu gehört unzweifelhaft auch
die Verbesserung der Beschäftigungs- und der Besoldungsbedingungen für das wissenschaftliche Personal.
({5})
Das ist eine ganz klare Sache. Hier ist der Bund gefordert. Schließlich geht es um die großen Forschungseinrichtungen, an denen der Bund die Mehrheit der Anteile
hat.
Die größte Schwäche des Wissenschaftsstandorts
Deutschland ist die politische Schwäche der zuständigen
Bildungsministerin. Hier muss dringend eine Änderung
erfolgen.
({6})
Nach der lückenhaften und in Teilen verfehlten Reform der Professorenbesoldung muss auf der Baustelle
„neue tarifliche Bedingungen für die Wissenschaft“ endlich mit dem Bau begonnen werden. Hier ist der Bund in
der Pflicht.
({7})
Frau Ministerin Bulmahn, ergreifen Sie die Initiative!
Tun Sie etwas entsprechend Ihrem Amtseid und Ihrer
Dienstpflicht als Ministerin! Die zur Verfügung stehende
Zeit ist sehr knapp bemessen. Derzeit findet in den Wissenschaftseinrichtungen ein Generationenwechsel statt.
Dieser eröffnet Spielräume für eine Veränderung der
Arbeitsbedingungen, die wir jetzt nutzen müssen. Frau
Bulmahn, andernfalls bleibt dank Ihrer rot-grünen Politik „Deutschland. Das von morgen.“ in Wirklichkeit
„Deutschland. Das von gestern.“ - Genau das hat der
Wissenschaftsstandort Deutschland nicht verdient.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zum Antrag der FDP bezüglich der
Gleichstellung akkreditierter Masterabschlüsse im öffentlichen Dienst: Die grundsätzliche Gleichwertigkeit
von Fachhochschulen und Universitäten ist verfassungsrechtlich und in § 1 HRG verankert. Diese Gleichwertigkeit findet sich leider - auch zu unserem Bedauern nicht in allen notwendigen Bereichen wieder. Der vorliegende Antrag greift einen - aber leider nur einen - dieser
Bereiche heraus: die Unterschiede innerhalb der laufbahnrechtlichen Zuordnung von Masterabschlüssen.
Wenn das Laufbahnrecht die Universitätsabsolventen dem höheren Dienst, die Fachhochschulabsolventen
hingegen dem gehobenen Dienst zuordnet - Herr Kollege Rachel hat es bereits angesprochen -, dann ist das
logischerweise eine Ungleichbehandlung der Hochschulabsolventen. Sieht man sich das Studium an Fachhochschulen genauer an, dann erscheint eine solche Ungleichbehandlung als absolut nicht verständlich. Aus
meiner Sicht entspricht das Fachhochschulstudium mit
seiner Praxisorientierung gerade den Leistungsanforderungen der Laufbahn des höheren Dienstes. Ich sage hier
ganz klar: Aus grüner Sicht darf es bei der Zulassung
zum höheren Dienst keine Vorauslese durch verschieden
bewertete Masterabschlüsse geben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wie
Sie richtig bemerken, haben die Innenminister und die
Kultusminister die Ungleichbewertung von Fachhochschulen in ihren Vereinbarungen erneut hervorgehoben.
Diese Vereinbarungen müssen aufgehoben werden.
({1})
Es gilt jedoch, noch einige Schritte weiter zu gehen.
Es gibt bereits vonseiten der Wissenschaft veröffentlichte Gesetzentwürfe, die einer flächendeckenden
Gleichstellung von Fachhochschulen, wie wir sie begrüßen, Rechnung tragen. Alle politisch erforderlichen
Schritte sind darin ganz konkret aufgezählt.
Leider wurde es in der Ära Kohl - damit auch von der
FDP - versäumt, den Hochschulcharakter von Fachhochschulen in allen Bereichen konsequent anzuerkennen. Indem der vorliegende Antrag nur eine Problematik
herausgreift, reiht er sich jedoch in das übliche Verfahren häppchenweiser Änderungen ein.
({2})
In den letzten Tagen war viel von Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im Bildungssektor die Rede. Durch die
Gleichwertigkeit von Fachhochschulen und Universitäten kann ein solcher Wettbewerb aus meiner Sicht auf
nationaler und internationaler Ebene gefördert werden.
Frau Ministerin Bulmahn hat diese Woche eine stärkere
Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft angemahnt. Dafür sind Fachhochschulen doch geradezu prädestiniert.
({3})
Jedoch wird bei dem Wort „Elite“ immer nur an Universitäten gedacht. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass
es mit der Umsetzung der Gleichwertigkeit von Fachhochschulen nicht weit her ist.
({4})
Wie Sie alle wissen, werden Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler bislang nach dem BAT bezahlt.
Dies hat sich aus grüner Sicht nicht bewährt. Wir brauchen einen eigenen, flexiblen Tarif für Angestellte in
wissenschaftlichen Einrichtungen. Hier muss und soll
die begonnene Reform mit der Einführung der W-Besoldung vollendet werden. Wir können es uns nicht leisten, dass hoch begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen
und Nachwuchswissenschaftler ins Ausland gehen, weil
dort die Arbeitsbedingungen attraktiver sind. Wir brauchen flexible und leistungsorientierte Arbeitsbedingungen für Forschende und Lehrende. Dies wird auch im
zweiten vorliegenden Antrag berücksichtigt.
Die eigentlich entscheidenden Fragen stellen sich jedoch in Bezug auf die Umsetzung und Durchsetzung eines solchen Wissenschaftstarifvertrags. Herangehensweisen für die Umsetzung Ihrer Vorschläge kann ich aus
Ihrem Antrag leider nicht ersehen.
({5})
Ebenso wenig kann ich ersehen, wie Sie sich die an dieser Stelle - übrigens auch in Bezug auf die Masterabschlüsse - notwendige Kommunikation mit den Ländern
vorstellen. Aber nicht nur die Länder müssen bei dieser
Debatte mit einbezogen werden, auch die Gewerkschaften und ganz besonders die Hochschulen selbst. Wir
wollen, dass die Hochschulen eine entscheidende Rolle
bei den tariflichen Absprachen übernehmen.
Wie Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, stehen wir den Vorschlägen Ihrer Anträge sehr aufgeschlossen gegenüber. Bei der Konkretisierung, gerade auch auf
Länderebene, werden wir Sie an Ihre Worte hier erinnern. Ich hoffe, dass wir gemeinsam im Interesse der
Wissenschaft in unserem Land hier sehr bald zu Änderungen kommen werden.
Vielen Dank.
({6})
Nun hat das Wort die Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Forschungseinrichtungen in Deutschland
stehen mit vergleichbaren Einrichtungen im Ausland im
Wettbewerb um die besten Wissenschaftler. Um in diesem Wettstreit bestehen zu können, ist es für Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen absolut notwendig, attraktive Beschäftigungsbedingungen
zu bieten und hoch qualifizierte Beschäftigte zu gewinnen.
({0})
Trotz - verunglückter - Reform der Professorenbesoldung steht bislang kein ausreichendes und flexibles Vergütungs- und Entlohnungssystem zur Verfügung,
({1})
das unsere Forschungseinrichtungen in die Lage versetzt, erfolgreich in Konkurrenz mit ausländischen Forschungseinrichtungen, aber auch mit der Wirtschaft treten zu können. Es ergeben sich zunehmend gravierende
Probleme bei der Gewinnung und dem Halten von hoch
qualifizierten wissenschaftlichen Mitarbeitern und Technikern, aber auch von professionellen Mitarbeitern im
Wissensmanagement.
Hochschule und Wissenschaft müssen strategisch
handeln, um die ihnen gesetzten Ziele zu erreichen.
Doch die geltenden Bestimmungen des Arbeits- und Tarifrechts bieten dafür nicht die richtigen Instrumente.
Hochschulen und Wissenschaft müssen auch wirtschaftlich handeln. Doch auch hierzu geben die geltenden
Regelungen zur Beschäftigung von Mitarbeitern kaum
Hilfestellung.
Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen fordern bereits seit Jahren einen Wissenschaftstarifvertrag,
der den besonderen Bedingungen Rechnung trägt und
die Realitäten des hoch dynamischen Arbeitsmarktes für
Wissenschaftler berücksichtigt.
({2})
Ziel einer eigenständigen tariflichen Regelung muss
es natürlich sein, erstens die Stärkung der Autonomie
und Eigenverantwortlichkeit von Wissenschaftseinrichtungen und zweitens die Attraktivität der Arbeit
im Wissenschaftsbereich zu sichern. Drittens müssen wir
die Wettbewerbsstrukturen der Wissenschaft sachgerecht
weiterentwickeln und viertens die Leistungsfähigkeit der
Wissenschaftseinrichtungen steigern und deren Wirtschaftlichkeit verbessern.
Was brauchen wir konkret?
({3})
Erstens: eine stärkere Leistungsorientierung. Die traditionellen Laufbahnschranken müssen für Aufstiege durchlässiger gemacht werden. Zweitens muss die Eingruppierung von Tätigkeiten umfassend vereinfacht werden.
Sie sollte primär aufgabenbezogen sein und nicht nach
formalen Qualifikationen erfolgen. Drittens muss das
System der Entgeltbestimmung entschieden vereinfacht
werden. Es muss eine attraktive und konkurrenzfähige
Vergütung ermöglichen. Viertens brauchen wir die Einführung von Regelungen, die eine Ertragspartizipation
der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an eingeworbenen
Drittmitteln ermöglichen. Fünftens brauchen wir die Abschaffung der Bewährungs- und Zeitaufstiege.
({4})
Sechstens brauchen wir eine Reduzierung der Lebensaltersstufen und vor allem die Umwidmung in Berufserfahrungsstufen.
Außerdem, meine sehr verehrten Damen und Herren,
brauchen wir eine Verbesserung der Möglichkeiten, Beschäftigungsverhältnisse zu beenden, insbesondere auch
durch Einführung von Abfindungszahlungen. Außerdem brauchen wir verbesserte Möglichkeiten zur Veränderung von Aufgabengebieten durch Umsetzung oder
Abordnung sowie verbesserte Möglichkeiten zur Befristung von Beschäftigungsverhältnissen. Heute ist eine
unbefristete Beschäftigung praktisch mit der Unkündbarkeit verbunden und Wissenschaftseinrichtungen stellen wissenschaftliche Mitarbeiter unter diesen Bedingungen nur sehr zurückhaltend ein.
({5})
Ebenso problematisch ist das Signal an die Nachwuchskräfte. Soweit es nicht gelingt, innerhalb von
zwölf Jahren eine Professur zu erreichen, kann die Entscheidung für eine wissenschaftliche Karriere in eine berufliche Sackgasse führen. Diese Situation lässt sich
nicht länger verantworten. Daran ändert auch die Juniorprofessur nichts.
Allerdings stellten 2001 die Vertreter des Bundes, der
Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Vereinigung kommunaler Arbeitgeber fest, aufgrund unterschiedlicher Ausgangssituationen im Bereich der
Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen sei ein flächendeckender Ansatz für eine tarifliche Sonderregelung in einem ersten Schritt eben nicht
zu bewältigen.
Bei den letzten Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst wurde auf Initiative der Arbeitgeber eine
Prozessvereinbarung zur Neugestaltung bis zum 31. Januar 2005 abgeschlossen. Dabei hat man sich auf eine
zweistufige Vorgehensweise verständigt: Zunächst soll
diskutiert werden, welche Veränderungen im allgemeinen Teil des BAT erfolgen sollen, und danach soll der
Änderungsbedarf bei spartenspezifischen Regelungen
ausgelotet werden. Solange die Beratungen über die Änderungen im allgemeinen Teil nicht abgeschlossen sind,
ist es wenig aussichtsreich, erneut in Verhandlungen
über einen Wissenschaftstarifvertrag einzutreten. Wenn
die Beratung über diese Änderungen im Sommer abgeschlossen sein sollte, wie Sie verkündet haben, könnten
wir erneut einen Vorstoß unternehmen, aber nur unter
Beachtung der Autonomie der Tarifparteien.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Es
ist Aufgabe der Regierung, den Menschen Mut zu machen“, so Katherina Reiche heute Morgen in ihrer Rede.
Genau das tut diese Regierung. Wir als Regierungsfraktion unterstützen sie dabei.
({0})
Ich möchte daher heute betonen: Wir sind auf einem
guten Weg. Nach notwendigen Strukturveränderungen
der sozialen Sicherungssysteme wendet sich die Bundesregierung nun verstärkt einem wichtigen anderen BeUte Berg
standteil der Agenda 2010 zu, dem Bereich Innovationen
in Bildung und Forschung.
({1})
Die Debatte um eine gezielte Förderung der Spitzenforschung ist in vollem Gang. Ich bin natürlich hocherfreut darüber, dass die Bundesregierung dieses Thema,
das maßgeblich über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entscheidet, ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt
hat.
Nun kann man aber - wir alle wissen das - Spitzenleistung nicht staatlich verordnen. Sie wird durch Leistungsanreize und Wettbewerb erreicht bzw. unterstützt.
Dem tragen wir Rechnung. Wir werden die Autonomie
der Hochschulen stärken - das ist auch ihre Forderung -,
und gezielt Leistungsorientierung und Anreize geben,
damit noch mehr Spitzenleistungen erzielt werden.
({2})
Aber auch in der Vergangenheit waren wir nicht untätig. So haben wir bereits Anfang des Jahres 2002 eine
stärkere Flexibilisierung der Professorenbesoldung
gesetzlich verankert und damit eine attraktive und konkurrenzfähige Entlohnung in Form von Grundgehalt und
Leistungszulage eingeführt.
Diese Entwicklung muss nun bei der Vergütung des
Tarifpersonals an Hochschulen fortgesetzt werden.
Frau Schipanski hat diesbezüglich wiederholt und vollmundig eine Initiative aus Thüringen angekündigt,
({3})
auf die wir leider immer noch warten.
({4})
Wie Sie alle wissen, laufen zurzeit Verhandlungen zwischen Experten des Bundesinnen- und des Bundesfinanzministeriums, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder, der kommunalen Arbeitgeberverbände und von
Verdi mit dem Ziel, den BAT zu flexibilisieren und zu
modernisieren. Parallel dazu beschäftigt sich der Wissenschaftsrat mit der Frage der tariflichen Regelungen
im Wissenschaftsbereich. Ende der Woche werden die
Empfehlungen dieses Expertengremiums veröffentlicht.
({5})
Außerdem gibt es Kontakte zwischen dem Wissenschaftsrat und den Tarifpartnern. Wir sind zuversichtlich,
dass man hier zu guten, tragfähigen Vorschlägen kommen wird.
({6})
Aus unserer Sicht jedenfalls sind tarifliche Regelungen für mehr Leistungsorientierung nötig,
({7})
aber auch - in dieser Frage sind wir uns sicherlich einig der Abbau von bürokratischen Hemmnissen für Nebentätigkeiten, um die Zusammenarbeit von Wissenschaft
und Wirtschaft zu intensivieren und Ausgründungen aus
der Hochschule zu erleichtern.
Eine Tatsache darf man in diesem Zusammenhang
nicht außer Acht lassen - darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden; ich nenne das noch einmal -: Die Umsetzung der bereits beschlossenen Flexibilisierung der
Professorenbesoldung geht nur sehr schleppend voran.
({8})
Gerade mal drei Länder - Rheinland-Pfalz, Bremen und
Niedersachsen - haben die Dienstrechtsreform für
Professoren bis heute umgesetzt.
({9})
Nur zur Erinnerung: Das Gesetz ist, wie gesagt, schon
seit zwei Jahren in Kraft. Uns allen wäre wirklich sehr
geholfen, Frau Flach, wenn Sie Ihre Parteifreundinnen
und -freunde in den Ländern von Ihren eigenen Ideen
überzeugen würden.
({10})
Dasselbe gilt für Ihren Vorschlag, den Masterabschluss
an Fachhochschulen generell für den Zugang zum höheren Dienst zuzulassen. Sie wollen die Vereinbarung
der Kultusminister- und der Innenministerkonferenz mit
dem eingängigen Titel „Zugang zu den Laufbahnen des
öffentlichen Dienstes durch Masterabschluss an Fachhochschulen“ aus der Welt schaffen. In dieser Vereinbarung steht - Herr Rachel hat es schon ausführlich dargestellt -, dass diejenigen, die einen Masterabschluss an
einer Fachhochschule gemacht haben, dem höheren
Dienst zugeordnet werden können, aber vorher ein gesondertes Prüfungsverfahren durchlaufen müssen. Auch
hier ist es so, dass die Vereinbarung auch von den Ländern, in denen Sie mitregieren, unterzeichnet wurde.
({11})
Ich schlage also vor, dass Sie erst einmal Ihre eigenen
Leute mit ins Boot nehmen und von Ihrem Kurs überzeugen.
({12})
Es nützt nämlich nichts, wenn Sie von der Brücke „volle
Kraft voraus“ rufen, während die Mannschaft den Anker
nicht lichtet.
({13})
Die erwähnte Vereinbarung der Kultusministerund der Innenministerkonferenz trägt in der Tat die
unverkennbare Handschrift eines Kompromisses. Sie ist
lediglich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aus
bildungspolitischer Sicht hätten wir uns schon damals
weitere Schritte gewünscht,
({14})
um Ernst zu machen mit der politisch gewollten Gleichwertigkeit der Fachhochschulen.
Durch den Bologna-Prozess und die damit verbundene rasante Verbreitung der Bachelor- und Master-Studiengänge hat in den letzten Monaten eine dynamische
Entwicklung stattgefunden, der auch die Politik Rechnung tragen muss. Die Vereinbarungen der Innen- und
der Kultusminister der Länder sind gerade auch vor diesem Hintergrund nicht der Weisheit letzter Schluss.
({15})
Sie können aber nicht, wie es sich die FDP vorstellt, einfach mit einem Handstreich weggefegt oder vom Bund
ignoriert werden.
Aus bildungspolitischer Sicht betone ich abschließend aber ganz klar: Auf eine sorgfältige Evaluation der
Vereinbarungen können und dürfen wir nicht mehr lange
warten. Sie sollte zügig durchgeführt werden, damit wir
dann zu Entscheidungen kommen können, die sicherlich
im Sinne aller Bildungspolitiker sind.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1710 und 15/1716 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Vorlagen federführend im Innenausschuss beraten werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? Mit Ausnahme des Kollegen Tauss, der seinen Widerspruch allerdings nur in Form eines Zwischenrufs artikulierte und nicht förmlich anmelden möchte, stelle ich das
Einverständnis des Hauses fest. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Die deutsch-koreanischen Beziehungen dynamisch fortentwickeln
- Drucksachen 15/2167, 15/2411 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Pflug
Dr. Klaus Rose
Dr. Rainer Stinner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Johannes Pflug für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meine Fraktion begrüßt es sehr, dass es gelungen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu Korea
einzubringen. Das erhöht unsere Möglichkeiten, auf parlamentarischer Ebene einen Beitrag zur Vertiefung der
deutsch-koreanischen Beziehungen zu leisten. Es erhöht
auch die Möglichkeiten, zur Annäherung der beiden Koreas beizutragen.
Die Parlamentarier Süd- und Nordkoreas haben schon
vor zwei Jahren anlässlich des Besuchs der deutsch-koreanischen Parlamentariergruppe in Süd- und Nordkorea
ihr Interesse an gemeinsamen Gesprächen und Kontakten bekundet. Wir sollten, Herr Kollege Koschyk, bei
unserem Besuch, der hoffentlich noch in diesem Jahr
stattfindet, unsere Einladung nach Deutschland erneuern
und betonen, dass wir als Gastgeber und Gesprächspartner zur Verfügung stehen.
({0})
Es ist wichtig, gerade die bisherige Isolation der nordkoreanischen Repräsentanten zu mindern und für sie
Möglichkeiten zu schaffen, sich mit der Welt außerhalb
Nordkoreas vertraut zu machen. Dabei geht es nicht um
Vermittlung zwischen Nord und Süd, auch nicht um die
Regelung der Nuklear- und Sicherheitsfragen. Darum
kümmern sich andere Staaten. Hier sollten wir uns und
auch die Möglichkeiten der Europäischen Union nicht
überschätzen. Es handelt sich dabei auch eher um Fragen
der Exekutive als der Legislative. Aber deutsche Parlamentarier können zur Verbesserung des politischen Klimas beitragen und Bedingungen für einen offeneren Dialog schaffen.
({1})
Die frühere Teilung Deutschlands und unsere politischen Entscheidungen zur Überwindung der Folgen dieser Teilung sind in Korea aufmerksam verfolgt worden,
nicht als Modell, das importiert werden könnte, sondern
als Ermutigung, dass ein Land - wenn auch unter anderen Bedingungen - mit einer Entspannungspolitik positive Erfahrungen hat machen können.
Die Bedingungen für eine Entspannungspolitik, die
in Südkorea eine Zeit lang unter dem Begriff „Sonnenscheinpolitik“ Unterstützung fand, sind in der Tat sehr
viel anders, als sie es in Deutschland waren. Die Spaltung reicht sehr viel tiefer; die Isolierung beider Länder
war und ist nach wie vor viel umfassender als zwischen
den beiden Teilen Deutschlands. Die Auswirkungen erleben wir noch heute immer wieder. Der Fall des Professors Song Du-Yul ist ein Beispiel dafür. Ohne den konkreten Sachverhalt der Anklage gegen Professor Song
Du-Yul von dieser Stelle aus bewerten zu wollen und zu
können, bin ich der Meinung, dass Gesetze aus der eisigsten Zeit des Kalten Krieges überprüft und aufgehoben werden sollten. Wir werden den Prozess weiterhin
sehr aufmerksam beobachten und unterstützen die Bundesregierung dabei, auf eine schnelle Lösung hinzuwirJohannes Pflug
ken, wie sie es auch bisher getan hat; denn schließlich ist
Professor Song Du-Yul deutscher Staatsbürger.
Aber es gibt den unübersehbaren Willen, den heutigen Zustand zu ändern. Wo immer wir als Deutsche etwas dazu beitragen können - durch unsere Erfahrungen
und durch unsere politische Praxis -, sollten wir es tun.
Nordkorea ist ein schwieriger Partner in der Region,
aber auch darüber hinaus. Nordkorea macht immer wieder von sich reden: als Lieferant von Raketen und
Waffentechnologien, als Staat mit nuklearen Ambitionen.
Wir unterstützen die internationalen Bemühungen zur
Beendigung der nordkoreanischen Atomwaffenprogramme und fordern Nordkorea auf, sich dem Regime
des Nichtverbreitungsvertrages wieder anzuschließen
({2})
und sich dem Kontrollregime der IAEO wieder zu unterstellen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass eine amerikanische Delegation die Gelegenheit hatte, die nuklearen
Anlagen in Yongbyon zu besichtigen. Wir legen aber zugleich Wert darauf, dass Nordkorea sich wieder der internationalen Kontrolle unterstellt.
({3})
Wir halten es zugleich für richtig, zu versuchen,
Nordkorea auch politisch international einzubinden und
seine Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen mit dem
Ziel, nordkoreanischen Politikern zu verdeutlichen, dass
sie auch für ihre Sicherheitsbedürfnisse durch internationale Kooperation mehr gewinnen können als durch
Rüstungsprogramme und nukleare Drohoptionen. Wir
sind sicher, dass dies auch im Interesse Südkoreas liegt.
In diesem Geiste lässt sich sicherlich auch die diplomatische Schlacht um die Herausgabe einer japanischen
Briefmarke über die Insel Dokdo - wie sie auf Koreanisch heißt - oder Takeshima - wie sie auf Japanisch
heißt - sehr schnell beenden. Der Streit um die Staatszugehörigkeit dieses Felsstückes ist keinen Konflikt wert.
({4})
Vor zwei Monaten, am 26. November letzten Jahres,
haben wir den 120. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Korea
begangen. Beide Länder unterzeichneten damals in Chemulpo den ersten Handels-, Freundschafts- und Schifffahrtsvertrag. Dieser Jahrestag war der Anlass für unseren fraktionsübergreifenden Antrag. Es ist wichtig, mit
dieser Debatte deutlich zu machen, dass Deutschland
schon sehr lange freundschaftliche Beziehungen zu Korea unterhält und dass daran auch die Spaltung des Landes nichts grundlegend geändert hat.
Deutschland bemüht sich heute darum, den Annäherungsprozess zwischen Nord- und Südkorea zu fördern.
Das Goethe-Institut in Seoul leistet hierzu wichtige Arbeit. Es ist das einzige Institut, das auch in Nordkorea
Projekte durchführt und von Pjöngjang zur Kooperation
ermuntert wird. Wichtig ist: Es handelt sich hierbei um
echte Kooperation und ist keine Alibiteilnahme einiger
weniger Personen an bestimmten Programmen.
Natürlich darf man sich über das Ausmaß und das
Tempo der Annäherung keine Illusionen machen. Auch
in Seoul ist die anfängliche Euphorie über den Sonnenscheinprozess einer nüchternen Betrachtungsweise gewichen. Aber entscheidend ist, dass die Einsicht wächst,
dass es keine Alternative zur beiderseitigen Verständigung gibt. Wo immer wir als Deutsche oder Europäer
eine Gelegenheit haben, diese Einsicht zu fördern, sollten wir sie nutzen.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Hartmut Koschyk,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heute zu verabschiedenden interfraktionellen Antrag
unterstreicht der Deutsche Bundestag erneut, welch hohen
Stellenwert er den deutsch-koreanischen Beziehungen
einräumt. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode
hatten wir durch einen interfraktionellen Antrag mit dem
Titel „Frieden, Stabilität und Einheit auf der koreanischen
Halbinsel“ unsere uneingeschränkte Unterstützung der so
genannten Sonnenscheinpolitik des damaligen südkoreanischen Staatspräsidenten und Friedensnobelpreisträgers
Kim Dae Jung zum Ausdruck gebracht.
In dem heute zu verabschiedenden Antrag sprechen
wir uns dafür aus, die deutsch-koreanischen Beziehungen dynamisch fortzuentwickeln. Anlass für diesen Antrag - der Herr Kollege Pflug hat es bereits erwähnt - ist
die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor 120 Jahren durch den am 26. November 1883 unterzeichneten
ersten Handels-, Freundschafts- und Schifffahrtsvertrag.
Aus den anfänglichen Handelsbeziehungen hat sich bis
heute ein alle Bereiche der Staatenzusammenarbeit umfassendes Beziehungsgeflecht entwickelt, das erfreulicherweise auch zu einer Vertiefung der menschlichen
Beziehungen führte.
Wenn man sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Korea in den letzten 120 Jahren ansieht, wird
man feststellen, dass sie in den verschiedenen Phasen
unterschiedlich intensiv waren. Sie waren aber immer
gänzlich frei von Spannungen. Die Teilung Deutschlands und Europas, aber auch die Teilung Koreas nach
dem Zweiten Weltkrieg, die durch den Koreakrieg zementiert wurde, bewirkten, dass die Beziehungen beider
Staaten in Deutschland zu den beiden Staaten auf der koreanischen Halbinsel immer in den internationalen OstWest-Beziehungen eingebettet waren, dass sie aber auch
dadurch ihre Grenzen fanden.
Heute verfügt das wiedervereinigte Deutschland sowohl über diplomatische und freundschaftliche Beziehungen zur Republik Korea als auch seit März 2001 über
diplomatische Beziehungen zur Demokratischen Volksrepublik Korea. Die deutsche Politik lässt sich sicher so
beschreiben: Deutschland begleitet, eingedenk seiner
eigenen Teilung und deren Überwindung, den innerkoreanischen Annäherungsprozess mit großer Anteilnahme.
Weil Deutschland und Europa ihre Teilung 1989/90
friedlich überwinden konnten, unterstützen sie alle Bemühungen zur Überwindung der Teilung Koreas.
({0})
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir erkennen, dass dieser aktive Beitrag Deutschlands und Europas für Frieden,
Stabilität und Demokratie auf der koreanischen Halbinsel
international erwünscht wird. Deshalb ist es richtig, dass
die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische
Union die gegenwärtigen Sechsergespräche, die durch
die Volksrepublik China angestoßen wurden, mit großer
Aufmerksamkeit verfolgen. In diesen Gesprächen suchen die beiden koreanischen Staaten, China, die USA,
Japan und die Russische Föderation nach einer Lösung
der Nuklearkrise auf der koreanischen Halbinsel. Dieser
Prozess wird von Deutschland sehr intensiv unterstützt
und begleitet.
({1})
In dem heute zu verabschiedenden Antrag spricht sich
der Deutsche Bundestag dafür aus, dass die Bundesregierung den Teilnehmern dieser Sechsparteiengespräche
die guten Erfahrungen des KSZE-Prozesses in Europa
vermittelt. Wir meinen, dass zur Überwindung der gegenwärtigen Spannungen auf der koreanischen Halbinsel
auch Deutschland und die Europäische Union einen Prozess unterstützen sollen, der eben nicht nur eindimensional auf die Lösung des Nuklearproblems abzielt, sondern
auch vertrauensbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle,
Wirtschafts- und Energiethemen, innergesellschaftlichen
Wandel, die Lage der Menschenrechte und einen breiten
Dialog darüber sowie einen Interessenausgleich zwischen Nordkorea und den benachbarten Staaten umfasst.
({2})
Wir meinen, dass Deutschland und die Europäische
Union das regionale Bemühen um Sicherheit in Nordostasien dahin gehend unterstützen können, dass die Demokratische Volksrepublik Korea ihre Nuklearwaffenambitionen aufgibt, internationale Kontrollen wieder
zulässt, dafür aber auch mittel- bis langfristig international eingebunden wird, Sicherheitsgarantien erhält und
effektive Hilfsmaßnahmen zur Energieversorgung, zur
Verbesserung der humanitären Lage der Bevölkerung
und zur wirtschaftlichen Entwicklung bekommt, die
dann langfristig auch in eine politische Öffnung des Landes münden.
Ich meine, dass ein stärkeres deutsches und europäisches Engagement in dieser Richtung auch in der Region
begrüßt und gewünscht wird. Dabei ist zum Beispiel
denkbar, dass sich bei einem erfolgreichen Verlauf aus
den Sechsparteiengesprächen eine Art NordostasienKSZE entwickelt, in der Deutschland und die Europäische Union eine wesentlich aktivere Rolle als gegenwärtig spielen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist kein
Zweifel: Das Fundament eines stärkeren deutschen Engagements auf der koreanischen Halbinsel bilden die hervorragenden Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea. Wir können in allen Bereichen,
vor allem aber was unsere Wirtschaftsbeziehungen anbelangt, eine erfreuliche Entwicklung feststellen. Deutsche
Unternehmen haben in Korea mehr als 5 Milliarden
Euro vor allem in den Produktionssektor investiert. Aber
auch koreanische Unternehmen haben zunehmend den
Weg nach Deutschland und - dafür sind wir besonders
dankbar - gerade in die neuen Bundesländer gefunden.
Unser bilateraler Handel ist mit 10 Milliarden Euro hoch
und fast ausgeglichen. Wir sollten all denen danken, die
zu diesen sehr erfolgreichen Wirtschaftsbeziehungen
beigetragen haben. Ich nenne stellvertretend die
Deutsch-Koreanische Handelskammer in Seoul, aber
auch den Deutsch-Koreanischen Wirtschaftskreis in
Deutschland.
({3})
Es geht jedoch auch um die menschliche und die kulturelle Dimension unserer Beziehungen. In den 60erJahren prägten koreanische Bergleute und Krankenschwestern positiv das Bild Koreas in der damaligen
Bundesrepublik Deutschland. Heute sind es zahlreiche
in Deutschland tätige koreanische Unternehmen mit ihren Mitarbeitern, aber auch Tausende koreanische Studenten. Im Hinblick auf die Beziehungen zur Demokratischen Volksrepublik Korea leisten die Bürger
Nordkoreas, die in der ehemaligen DDR eine berufliche
Aus- und Weiterbildung absolviert haben, einen wichtigen menschlichen Anknüpfungspunkt.
Wir können feststellen, dass beiden koreanischen Staaten ein sehr großes Interesse an deutscher Sprache und
Kultur gemeinsam ist, ein Interesse, dem leider von deutscher Seite im Hinblick auf die koreanische Sprache
und Kultur nicht in gleichem Umfang entsprochen
wird.
({4})
Gleichwohl gibt es bedeutsame kulturelle Brückenbauer in unseren Beziehungen. Der deutsche Koreanist
Andre Eckardt, der in Deutschland wirkende Schriftsteller Mirok Li, aber auch der aus Nordkorea stammende
Musiker und spätere deutsche Staatsbürger Isang Yun
seien genannt. Gegenwärtig können wir in Berlin eine
Ausstellung der sehr jungen koreanischen Künstlerin
und Baselitz-Schülerin Soo-Kyoung Seo mit dem sehr
schönen Titel „Meine deutschen Träume“ sehen, in der
in hervorragender Art und Weise eine koreanisch-deutsche Kultursymbiose dokumentiert wird.
({5})
Das Goethe-Institut mit seiner hervorragenden Arbeit
in Süd- und Nordkorea, der Deutsche Akademische AusHartmut Koschyk
tauschdienst, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, politische Stiftungen, aber auch die deutsch-koreanischen
Gesellschaften haben eine breite Basis kulturell-wissenschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Deutschland und
den beiden koreanischen Staaten geschaffen. Sie ergänzen so als dritte Säule in hervorragender Weise die deutsche Außenpolitik, wobei wir unseren Diplomaten sowie
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen
diplomatischen Vertretungen in Seoul und Pjöngjang
große Anerkennung für ihre hervorragende Arbeit zollen
sollten.
({6})
Für das Bild Deutschlands vor allem in Nordkorea ist jedoch der Einsatz unserer humanitären Hilfsorganisationen
entscheidend. Wir konnten bei mehreren Delegationsreisen der deutsch-koreanischen Parlamentariergruppe,
aber auch durch Reisen einzelner Kollegen spüren, welchen entscheidenden Beitrag die Deutsche Welthungerhilfe und das Deutsche Rote Kreuz gemeinsam mit internationalen humanitären Organisationen in hervorragender
Weise zur Verbesserung der Versorgungslage der Menschen in Nordkorea geleistet haben, was wir sehr anerkennen und wofür wir herzlichen Dank sagen.
({7})
Das Jahr 2005 wird ein besonderes Jahr in unseren
Beziehungen sein. Die Republik Korea wird Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse und der AsienPazifik-Wochen in Berlin sein. Es bleibt zu wünschen,
dass sich daraus wichtige Impulse für die Beziehungen
Deutschlands zu beiden koreanischen Staaten entwickeln. Dank einer hervorragenden Initiative der Botschaft der Republik Korea hier in Berlin wurde von südkoreanischer Seite das Jahr 2005 zum „Korea-Jahr“
deklariert, was durch zahlreiche Veranstaltungen über
Korea und die deutsch-koreanischen Beziehungen zum
Ausdruck kommen wird.
Wir sind sehr dankbar für das im Jahr 2002 unter
Schirmherrschaft beider Staatsoberhäupter ins Leben gerufene Deutsch-Koreanische Forum, das seit seinem Bestehen wichtige Impulse in den Bereichen Wirtschaft,
Handel, Umweltpolitik sowie Kultur und Bildung gesetzt hat.
In dem heute zu verabschiedenden Antrag fordern wir
die Bundesregierung auf, auch geeignete Maßnahmen
für einen deutsch-koreanischen Jugendaustausch unter Einbeziehung beider koreanischer Staaten zu entwickeln. Wir unterstreichen - darauf hat Herr Pflug hingewiesen - erneut unsere Bereitschaft, einmal in Berlin ein
Treffen mit Parlamentariern aus Nord- und Südkorea
durchzuführen, um auch als Deutscher Bundestag einen
Beitrag zur weiteren Vertrauensbildung und Annäherung
auf der koreanischen Halbinsel zu leisten.
({8})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nicht nur
wir beschäftigen uns heute durch diesen Antrag mit Vergangenheit und Zukunft der deutsch-koreanischen Beziehungen. Es ist sehr erfreulich, dass bereits im Dezember die Nationalversammlung der Republik Korea,
ebenfalls mit großer Mehrheit, einen Parlamentsantrag
mit dem Titel „Anlässlich des 120-jährigen Bestehens
der koreanisch-deutschen Beziehungen die freundschaftliche Kooperation zwischen beiden Staaten ausbauen“
angenommen hat und dass sich die Nationalversammlung der Republik Korea ihrerseits für eine Intensivierung unserer Beziehungen ausgesprochen hat.
In diesem Sinne setzen wir hier in großer politischer
Einigkeit ein gutes Signal, nämlich dass unsere Beziehungen zu beiden Staaten auf der koreanischen Halbinsel weiter intensiviert werden können. Ich bitte Sie um
Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
ich den Ausführungen des Kollegen Pflug und des Kollegen Koschyk vollständig zustimmen kann, insbesondere was unsere Beziehungen zu Südkorea und unsere
Haltung zum zwischenkoreanischen Annäherungsprozess angeht, möchte ich das Augenmerk auf die Sicherheitsprobleme richten, die es im Zusammenhang mit
Nordkorea gibt.
Die Bundesregierung - und zusammen mit ihr fast
alle anderen Staaten der Europäischen Union - hat vor
einigen Jahren die diplomatischen Beziehungen zu
Nordkorea aufgenommen. Dieser Schritt war wichtig,
um Nordkorea überhaupt wieder in internationale Gesprächs- und Verhandlungsprozesse einzubeziehen.
({0})
Wir waren damals der Auffassung, dass der richtige Ansatz gegenüber Nordkorea nicht derjenige ist, dieses
Land immer weiter in die Isolation zu treiben, sondern
derjenige, dieses Land trotz aller Dialogprobleme im
Sinne einer integrativen Außenpolitik in die internationale Staatengemeinschaft hineinzuholen.
Zum Glück konnten wir damals an die südkoreanischen Ambitionen anknüpfen, über die „Sonnenscheinpolitik“ die Annäherung zwischen den beiden koreanischen Staaten zu betreiben. Diesen Prozess haben wir
mit sehr viel Hoffnung und Engagement begleitet.
Leider hat sich seitdem auf der nordkoreanischen
Seite ein Problem erneut zugespitzt, das wir eigentlich
für überwunden geglaubt haben, nämlich die Frage der
atomaren Rüstung. Auch dieses Thema sollten wir, so
meine ich, im Sinne einer integrativen Außenpolitik behandeln.
({1})
Wir sollten uns die Frage stellen, wie wir Nordkorea
dazu bewegen können, auf nukleare Optionen zu verzichten und nicht als Gefährder des Weltfriedens aufzutreten.
Die Appelle an Nordkorea, das internationale Kontrollregime zu akzeptieren, sind völlig richtig. Ich kann
mich dem nur anschließen. Wir müssen uns aber auch
die Frage stellen, ob wir Nordkorea den Weg dorthin erleichtern können.
Erinnern wir uns an die innere Lage Nordkoreas.
Nordkorea war jahrzehntelang von Subventionen aus
dem Ostblock abhängig. Es hing am Tropf Moskaus und
hat anders als andere Drittweltstaaten 1989/1990 den
richtigen Zeitpunkt verpasst, um sich vom kommunistischen Staat zu einem reformorientierten und demokratisch orientierten Staat zu entwickeln. Das ist zwar bedauerlich, aber Faktum.
Das Ergebnis dieser verpassten Chance ist, dass die
Bevölkerung Nordkoreas heute hungert. Nordkorea
glaubt zwar aufgrund seiner Juche-Ideologie, einen
autochthonen Prozess, abgekoppelt von der Weltwirtschaft, organisieren zu können. Aber im Ergebnis wird
das Volk strukturell verhungern. Eine unserer ersten
Maßnahmen im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen war, die humanitäre Hilfe zu intensivieren. Der Preis, den wir von
Nordkorea verlangten, war gering. Wir wollten, dass
sich unsere humanitären Helfer frei bewegen können
und auch Journalisten Zugang haben, sodass wir mehr
Informationen bekommen können. Die Informationslage
hat sich seitdem verbessert, die reale Lage im Lande
nicht.
Ich befürchte, dass die atomare Option gar nicht in
erster Linie dazu gedacht ist, sich über militärisches Imponiergehabe in der Region einen besonderen Status zu
verschaffen, sondern dass es sich dabei um eine Exportoption handelt, mit der Devisen erwirtschaftet und damit
die notwendigsten Dinge eingekauft werden können, die
zum Überleben in diesem Lande notwendig sind.
Daraus ergibt sich für uns die Aufgabe, Nordkorea
den Weg in eine integrierte Weltwirtschaft zu ebnen,
Nordkorea zu motivieren, die Grenzen zu öffnen und
von dieser kruden und antiquierten Ideologie der Selbstbehauptung Abschied zu nehmen, und im Zuge der Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft
und der Einbeziehung in den internationalen Handel
dazu zu bewegen, auf die atomaren Optionen zu verzichten.
Ich möchte deshalb ausdrücklich begrüßen, dass unser transatlantischer Partner, die Vereinigten Staaten, den
Gesprächsfaden zu Nordkorea wieder aufgenommen hat,
vielleicht auch motiviert durch die guten Erfahrungen,
die wir gemacht haben, als wir mit dem Iran oder
Libyen, Staaten, die in der Vergangenheit ebenfalls Besorgnis auslösten, einen Verhandlungsweg gefunden haben. Das ist besser, als wenn man versucht,
({2})
- ja, Herr Pflüger, das sage ich ja -, sie über Druck in die
Ecke zu treiben und zum Einlenken zu bewegen.
In diesem Kontext kann Deutschland eine Rolle spielen, denn beide Koreas schauen mit sehr viel Interesse
auf den deutschen Weg zur Wiedervereinigung. Wir
wissen - wenn man beide Situationen vergleicht -, dass
die Situation Koreas ungleich schwieriger ist. Deshalb
halten wir uns mit klugen Ratschlägen zurück, sind aber
immer bereit, mit beiden Seiten zu reden, wenn unser
Rat gefragt ist.
Auch ich kann hier nur betonen: Wir begrüßen, dass
Korea das Schwerpunktland der Asien-Pazifik-Wochen
im nächsten Jahr sein wird. Wir freuen uns auf eine vertiefte Diskussion über diese beiden Länder, die uns kulturell so viel zu bieten haben und von denen wir hoffen,
dass sie zueinander finden, um eine ähnlich gemeinsame
Zukunft zu haben, wie wir das heute im wiedervereinigten Deutschland erleben.
Danke.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Harald Leibrecht, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir von der FDP-Bundestagsfraktion freuen uns
ganz besonders, dass sich der Deutsche Bundestag endlich mit der koreanischen Halbinsel befasst. Korea gehört zu den schwierigsten und brennendsten Krisenherden auf der Welt; und das nicht nur wegen des
Atomwaffenprogramms Nordkoreas.
Die Befassung mit diesem Thema geht auf einen Antrag der FDP-Fraktion zurück, den wir schon im Februar
letzten Jahres in den Deutschen Bundestag eingebracht
haben. Damals haben wir eine internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien gefordert, um über einen
multilateralen Zugang Auswege aus der verfahrenen Situation dort zu finden.
Inzwischen findet ein Dialog im Rahmen der so genannten Sechsergespräche statt. An den Verhandlungen
ist die EU nicht beteiligt. Daher möchte ich an dieser
Stelle unser Plädoyer für eine stärkere Beteiligung der
Europäischen Union am Entspannungsprozess in Korea
wiederholen.
({0})
Wir haben darauf hingewiesen, dass in Europa mit dem
KSZE-Prozess ein Modell entwickelt wurde, wie ein
Kalter Krieg überwunden werden kann. Wir freuen uns,
dass sich dieser Ansatz in unserem interfraktionellen
Antrag wiederfindet.
Die koreanische Halbinsel ist, wie einst Deutschland,
geteilt. Wenn ich aber heute höre, dass junge Koreaner
nach Deutschland kommen, um den Prozess der deutHarald Leibrecht
schen Wiedervereinigung zu studieren, dann stimmt
mich das sehr zuversichtlich. Dies zeigt, dass Deutschland aufgrund geschichtlicher Parallelen Wege für eine
Wiedervereinigung beider koreanischer Staaten aufzeigen kann.
So ging der deutschen Wiedervereinigung auch ein
intensiver Kulturaustausch und dadurch eine zwischenmenschliche Annäherung voraus. Diesen Ansatz unterstützen deutsche Organisationen auf der koreanischen
Halbinsel. Auch Sie, Herr Koschyk, haben das ja gerade
angesprochen. Dabei handelt es sich beispielsweise um
das Goethe-Institut, aber auch um die politischen Stiftungen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung war eine der
ersten, die in Nordkorea aktiv wurden. Die deutschen
Botschaften in Seoul oder Pjöngjang sind tagtäglich um
eine Annäherung beider Staaten bemüht. Die Nichtregierungsorganisationen, zum Beispiel die Welthungerhilfe,
versorgen Hunderttausende von Menschen in Nordkorea
mit Lebensmitteln.
Trotzdem müssen wir heute eine Tickermeldung zur
Kenntnis nehmen, die uns mit großer Sorge belastet. Darin wird auf die Verschlechterung der Ernährungslage
in Nordkorea hingewiesen, weil schlichtweg die Spenden ausbleiben. Hier muss an die westliche Welt appelliert werden, ihren Selbstverpflichtungen nachzukommen und das Welternährungsprogramm am Leben zu
halten, dem im Moment schlichtweg die Nahrungsmittel
ausgehen.
Meine Damen und Herren, im August letzten Jahres
stellten die Koreaner die internationale Studentenolympiade „Universiade“ unter das Motto „Dream for Unity“.
Was mir sehr gut gefallen hat, war, dass die deutsche Delegation auf eine Tafel geschrieben hat: „Unity is possible“. Dieses Ziel müssen wir weiterverfolgen und
Nord- und Südkorea auch weiterhin Unterstützung zukommen lassen. Dann wird auch dort endlich eine Vereinigung im demokratischen Sinne möglich sein.
Besten Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 15/2411 zu dem interfraktionellen Antrag mit dem Titel „Die deutsch-koreanischen Beziehungen dynamisch fortentwickeln“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2167
in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Peter Hintze, Peter Altmaier, Veronika Bellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Strukturveränderungen der Bundeszollverwaltung sowie Auswirkungen der Beitritte
Polens und Tschechiens zur Europäischen
Union 2004
- Drucksachen 15/1379, 15/1623 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Veronika Bellmann, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Osterweiterung der Europäischen Union stellt
für die deutsche Zollverwaltung eine ihrer größten Herausforderungen dar, und dies, nachdem bereits im Zuge
der Wiedervereinigung ein enormer Umstrukturierungsprozess vollzogen wurde bzw. vollzogen werden sollte.
Denn dieser Prozess ist leider noch nicht vollkommen
abgeschlossen. Manchmal hat man den Eindruck, dass
das Wort „Reform“ an dieser Stelle nicht zutreffend ist.
Die Reformbemühungen des Bundesfinanzministeriums innerhalb der Zollverwaltung waren an mancher
Stelle wenig zukunftsweisend und nicht auf Dauer tragfähig. Jetzt hat das Bundesfinanzministerium zur Sozialverträglichkeit, zu Berufsperspektiven und zur heimatnahen Verwendung Zusagen gegeben. Es dient nicht der
Glaubwürdigkeit der Verwaltung, wenn die zugesagte
Überführung des einfaches Zolldienstes in den mittleren
Dienst noch nicht vorangekommen ist. Hier ist die Aufforderung der Union an die Bundesregierung, diese Aufgabe endlich zu lösen.
Der Aufgabenbereich der Zollverwaltung hat sich
vor allem in den letzten 20 Jahren, insbesondere durch
das Schengener Abkommen - die Binnengrenzen der
Europäischen Union werden verschwinden - stark verändert. Der große Unterschied zur Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte ist aber, dass wir für unsere
Zöllner keine Folgeaufgaben mehr haben, jedenfalls
nicht im klassischen Sinne. Hinzu kommt, dass ein
Großteil der circa 6 000 von der Osterweiterung der Europäischen Union betroffenen Zöllner in strukturschwachen Regionen an der Ostgrenze Deutschlands beschäftigt ist. Bis zu zwei Drittel von ihnen werden
voraussichtlich ihre jetzige Arbeitsstelle verlieren. Eine
beträchtliche Zahl derer, die keine ortsnahe Anschlussverwendung finden können, wird damit diesen Regionen
verloren gehen. Entsprechende Ausgleichsmaßnahmen
werden von der Bundesregierung allerdings nicht in Betracht gezogen, wie in der Antwort zu Punkt 11 unserer
Großen Anfrage zu lesen ist. Die Bundesregierung hat
zwar keine Erhebungen - so sagt sie -, aber sie geht davon aus, dass keine nennenswerte Auswirkung auf die
Kaufkraft der betroffenen Regionen eintreten werde. Man sieht daran auch, welche Wertigkeit der Osten für
die Bundesregierung hat.
Doch die Bundesregierung schafft auch - durch ihre
ureigene Form der Arbeitsbeschaffung - neue Aufgaben
für den Zoll: Zum Beispiel wird die weitere Erhöhung
der Tabaksteuer für erheblichen Kontrollbedarf sorgen,
denn insbesondere zum Schmuggel werden besondere
Anreize entstehen. Die Filterfunktion der Zigarette
bleibt, die Filterfunktion des Grenzübertritts aber entfällt. Diesem Problem kann nicht durch unmittelbare und
statische zöllnerische Grenzkontrollen begegnet werden.
Die Gewerkschaft der Polizei, der Bundesgrenzschutz, der Zoll, selbst der Generalstaatsanwalt sagen
dazu, dass die Neuordnung des Zollfahndungsdienstes
die bisher erfolgreich praktizierte zeit- und ortsnahe Zusammenarbeit weitgehend zunichte machen würde. Das
zeigt sich am Umfang sichergestellter Schmuggelware
- da gibt es eine Halbierung -, aber auch an der Halbierung der Anzahl von Straf- und Bußgeldverfahren. All
das führt zu einem Verlust von Zoll- und Steuermitteln.
({0})
Die Gewerkschaft der Polizei sagt weiter: Was tut Bundesminister Eichel? Er schwächt die Zollverwaltung. 2 300 Stellen sind anvisiert - so war der Großen Anfrage
zu entnehmen -, gut 400 seien bisher unbesetzt, das Ist
liegt bei 1 293. Und das bei der Veränderung und den
vielfältigen Aufgaben! Wir brauchen also eine größere
Kontrolldichte an den Grenzen. Die Arbeitsgruppe
„Ost“, die im Bundesfinanzministerium dazu gebildet
wurde, hat vorgeschlagen, 15 mobile Kontrollgruppen
zu bilden. Wir regen an, diese Zahl auf 21 zu erhöhen;
das entspricht in etwa der bisherigen Anzahl der Zollkommissariate. Lieber dem Bedarf entsprechend anfangen und später gegebenenfalls reduzieren, als schon mit
zu geringer Zahl anfangen und feststellen, dass man den
Aufgaben nicht gerecht werden kann.
Auch die vollständige Übernahme der Bekämpfung
von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung und die
dadurch notwendige Integration der bisher bei der Bundesanstalt für Arbeit Beschäftigten bedeuten eine große
Herausforderung für die Zollverwaltung. Statt Putzfrauenverfolgung brauchen wir eine spezielle Verfolgung der
organisierten Kriminalität.
Eine möglichst heimatnahe, sozialverträgliche
Anschlussverwendung muss angestrebt werden. Sollte
letztlich aus Gründen der Funktionsfähigkeit keine Anschlussverwendung im eigenen Bezirk möglich sein, bedarf es deutlicher Mobilitätsanreize. Hier könnte man
nach dem Beispiel des Umzuges der Regierung von
Bonn nach Berlin vorgehen: wöchentliche Heimfahrten,
finanzielle Unterstützung beim Wohnortwechsel - all
das, was dem Staatssekretär zugestanden hat oder für ihn
Recht und billig war, sollte auch für den kleinen Zollsekretär gelten, der garantiert nicht so gut betucht ist wie
ein Staatssekretär.
Zurück zu den Arbeitsplätzen im Osten. Es gibt den
unmittelbaren Kaufkraftverlust in Ostdeutschland durch
eine Versetzung der Beschäftigten der Zollverwaltung.
Darüber hinaus sind weitere Arbeitsplätze durch den
Wegfall der bisherigen EU-Ostgrenze gefährdet. So werden nach dem 1. Mai 2004 bis zu 400 Grenzspeditionsmitarbeiter ohne Anstellung sein. Das Bundesamt für
Güterverkehr hat in Erwartung des neuen - technisch leider sehr unvollkommenen - Mautsystems Hunderte
neuer Mitarbeiter eingestellt, ohne dabei die bei den
Grenzspediteuren frei werdenden Arbeitskräfte zu berücksichtigen.
Auch die Bundesagentur für Arbeit hat ihre besondere
Fürsorge für die aufgrund politischer Strukturveränderungen freigesetzten Arbeitskräfte bisher nicht erkennen
lassen. Man kann hier nur feststellen: Das ist bei den
Turbulenzen und der Egomanie in den Führungsgremien
kein Wunder. Bei den Mitarbeitern der Zolldienstleister
handelt es sich vorwiegend um Quereinsteiger. Für diese
Zöllner brauchen wir also eine Fortbildung, um ihre
Marktchancen deutlich zu erhöhen. Insofern ist die Bundesagentur für Arbeit hier sehr gefragt.
Das würde die Menschen genauso fit für die Zukunft
machen, wie es auch die Zollverwaltung werden muss;
denn es wird nicht nur der Wegfall der Außengrenze,
sondern auch der technische Fortschritt auf uns zukommen. Das heißt, die Steuererklärung wird in Zukunft
überwiegend online an die Finanzbehörde geschickt
werden. Auch das wird dazu führen, dass die Zollverwaltung nicht mehr in gleichem Maße wie vorher direkt
vor Ort sein muss.
Diese Möglichkeiten der neuen Technologien zielen
bei der Warenabfertigung nicht mehr auf die klassische
Einheit von Anmeldung und Abfertigung. Vielmehr wird
die Erhebung der Einfuhrabgaben und Verbrauchsteuern
schon bald EDV-gestützt, papierlos und ohne Nähe zur
Ware erfolgen. Solche Tätigkeiten können prinzipiell
auch zentral erledigt werden. Eine in der Fläche notwendige Präsenz von Finanzbehörden als Steuererhebungsund -verwaltungsbehörden ist aus diesen Gründen nicht
mehr erforderlich.
Im Gegensatz dazu wird der Bereich der Zollverwaltung, der die Maßnahmen der fiskalischen und polizeilichen Überwachung, Kontrolle und Verfolgung von
Zuwiderhandlungen gewährleistet, aufgrund der Notwendigkeit der körperlichen Nähe zur Ware, zum Herstellerbetrieb, zur Tat oder zum Täter in der Fläche
immer präsent sein müssen. Betriebsüberwachung,
Schmuggelbekämpfung, Strafverfolgung und Gefahrenabwehr sind Aufgaben, die sich nicht von einem zentralen Ort aus erledigen lassen. Dem Umstand, dass verschiedene Behördenteile des Zolls in bestimmten Fällen
vor Ort präsent sein müssen, wird die heutige Struktur
der Zollverwaltung nicht gerecht. Keine der bisher angedachten Strukturmaßnahmen lässt solche Überlegungen
erkennen.
Selbst die Gewerkschaft der Polizei stimmt uns zu
und fordert eine zukunftsweisende Struktur für die
Kollegen in der Zollverwaltung. Der Zoll soll im Vollzug eben nicht nur eine Bundesfinanzverwaltung, sondern quasi eine Bundesfinanzpolizei sein. Genau darin
liegt die Zukunft. Wir brauchen also weitere tragfähige
Konzepte für die Zukunft der Zollverwaltung. Die Union
wird sich konsequent und konstruktiv an dem Entwurf
einer neuen Struktur der Zollverwaltung und des Vollzugs beteiligen.
Ich komme zum Schluss: Dabei werden wir uns an
den Erfordernissen, die uns die Praktiker vor Ort schildern, und nicht an den fiskalischen Begründungen der
Ministerien orientieren; denn wie sagt man so schön:
Nicht jeder, der aus dem Rahmen fällt - das kommt bei
den Ministerien der Bundesregierung ja häufig vor -,
war vorher über die Sache auch im Bilde.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin
Barbara Hendricks das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich war doch glatt der irrigen Annahme, man
könnte über ein solches Thema auch ohne irgendwelche
polemischen Spitzen reden. Da habe ich mich getäuscht.
Dass die einführenden Worte der Kollegin Bellmann
nicht ohne solche polemischen Spitzen auskamen, fand
ich vor allen Dingen vor dem Hintergrund dessen verwunderlich, was die Bundesfinanzverwaltung schon getan hat und weiterhin in die Wege leitet, um genau die
Probleme zu minimieren, die zulasten der Bediensteten
der Zollverwaltung zwangsläufig entstehen werden,
wenn im Mai die Grenzen zu unseren östlichen Nachbarn geöffnet werden. Ich glaube, manchmal wäre es
ganz gut, einfach einmal vorurteilsfrei zu schauen, was
schon geschehen ist und zur Kenntnis zu nehmen, was in
manchen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland, die nicht an die bald zur EU und zum Binnenmarkt
gehörenden neuen Mitgliedsländer im Osten grenzen,
geschehen ist.
Die Anträge auf Vergütung der Mineralölsteuer, die
so genannte Agrardieselvergütung, werden zum Beispiel
zentral in den Hauptzollbezirken Cottbus und Löbau und
nicht mehr in Karlsruhe, Koblenz, Köln und Hannover
bearbeitet. Sollte im Interesse der Zöllner, die es im
Bundesgebiet insgesamt gibt, nicht auch das einmal positiv gewürdigt werden? Ein bisschen weniger Polemik
wäre wirklich angemessen gewesen.
({0})
Bundesfinanzminister Hans Eichel hatte Mitte 1999
entschieden, die Strukturen der Bundesfinanzverwaltung, insbesondere die der Zollverwaltung, zu modernisieren. Strukturanpassungen in der Zollverwaltung sind
besonders mit Blick auf die Osterweiterung der Europäischen Union zum 1. Mai 2004 geboten. Wir werden
das Konzept zur umfassenden Neustrukturierung der
Zollverwaltung, welches wir schon damals beschlossen
haben, schrittweise realisieren und haben damit natürlich
schon angefangen.
Bis zur EU-Osterweiterung werden wir die folgenden
Straffungsmaßnahmen im Wesentlichen vollziehen: Die
Zahl der Hauptzollämter wurde bereits von 83 auf 54
verringert - auch dies ein Ausweis von modernem Staat
und schlanker Verwaltung. Die Zahl der Zollfahndungsämter wurde auf acht und deren Außenstellen auf 24 reduziert. Die Zahl der Zollämter wird von 388 auf 277
abgeschmolzen. Die Bekämpfung der Schwarzarbeit genießt hohe Priorität und wird durch verstärkten Personaleinsatz intensiviert. Dabei geht es, Frau Kollegin
Bellmann, nicht um die Jagd auf illegal beschäftigte
Putzfrauen, sondern um die Bekämpfung der gewerblichen illegalen Beschäftigung.
Der Grenzaufsichtsdienst an den Grenzen zu Polen
und Tschechien wird schrittweise umgebaut. Die für Intensivkontrollen zuständigen Sondergrenzaufsichtsstellen werden verstärkt. Die Mobilen Kontrollgruppen für
Kontrollen im Hinterland werden auf- und ausgebaut,
also auch personell verstärkt. Jede Mobile Kontrollgruppe wird mit doppelt so viel Personal wie bisher ausgestattet, nämlich 36 statt bisher 18 Stellen umfassen.
Auch dies soll man bitte beachten.
Die Straffungsmaßnahmen auf der Ebene der
Hauptzollämter und Zollfahndungsämter sind schon zum
1. Januar 2002 umgesetzt worden. Nach der EU-Osterweiterung kommt es bei der Aufgabenwahrnehmung
natürlich zu erheblichen Veränderungen. Die übertragenen grenzpolizeilichen Aufgaben werden im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern nicht mehr
durch die Zollverwaltung, sondern durch den Bundesgrenzschutz wahrgenommen. Zudem entfallen alle
grenzbezogenen zollrechtlichen Warenkontrollen, da
nach dem Gemeinschaftsrecht an allen EU-Binnengrenzen grundsätzlich freier Warenverkehr herrscht.
Die Osterweiterung der Europäischen Union wird
aufgrund dieser Aufgabenminderungen in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Bayern zu weit reichenden strukturellen Veränderungen im Bereich der Zollverwaltung führen. Im
Grenzabfertigungs- und im Grenzaufsichtsdienst an den
Grenzen zu Polen und Tschechien wird Personal in einer
Größenordnung von 3 900 Arbeitskräften freigesetzt,
und zwar wegen EU-rechtlich gebotener Aufgabenreduzierung. Diese Beschäftigten sind, soweit sie bei den
fortbestehenden grenznahen Dienststellen nicht weiter
eingesetzt werden können, für andere Aufgaben der
Zollverwaltung, zum Beispiel für die verstärkte Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und auch des Zigarettenschmuggels, vorgesehen.
Eine Arbeitsgruppe im Bundesfinanzministerium hat
sich im ersten Halbjahr 2003 eingehend mit den personalwirtschaftlichen Auswirkungen der EU-Osterweiterung befasst und eine Reihe von Vorschlägen zur
Aufgabenverlagerung bzw. für eine intensivierte Wahrnehmung bestimmter Zollaufgaben wie zum Beispiel bei
den Mobilen Kontrollgruppen in den Grenzbereichen zu
Polen und Tschechien entwickelt, die eine sozialverträgliche Weiterbeschäftigung der unter sozialen Aspekten
besonders betroffenen Beschäftigten gewährleisten.
Insgesamt ist es uns gelungen, für rund 2 570 Beschäftigte der Zollverwaltung eine heimatnahe Verwendung vorzusehen. Für rund 1 000 Beschäftigte kommen
überregionale Verwendungen in Betracht. Für sie gilt
selbstverständlich, Frau Kollegin Bellmann, das Umzugskostenrecht des Bundes: Wenn sie denn wirklich
umziehen müssen, was nicht sicher ist, werden sie entsprechend dem geltenden Umzugskostenrecht des Bundes, welches auch bei der Verlagerung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin Anwendung gefunden hat,
entschädigt und in ihren Kosten entlastet. Auch da war
Polemik nicht notwendig, Frau Kollegin Bellmann; darauf will ich noch einmal deutlich hinweisen.
Aus den absehbaren weit reichenden Aufgabenveränderungen müssen zwangsläufig die notwendigen aufbauorganisatorischen Konsequenzen gezogen werden, um
eine effiziente Struktur der Zollverwaltung auch künftig sicherstellen zu können. Es ist vorgesehen, zehn
große Grenzzollämter an der deutsch-polnischen und
deutsch-tschechischen Grenze bis auf weiteres als Binnenzollämter mit einem Personaleinsatz von insgesamt
zunächst rund 500 Arbeitskräften fortzuführen. Die Planungen der deutschen Zollverwaltung sehen vor, die zukünftigen Binnenzollämter durch ein umfangreiches Serviceangebot für die Wirtschaftsbeteiligten besonders
attraktiv zu machen. Mit dem modernen elektronischen
Abfertigungsverfahren ATLAS wurde übrigens neuerdings erstmals die Möglichkeit einer vollständigen elektronischen Kommunikation zwischen Wirtschaft und
Zollverwaltung geschaffen.
Der vorgestellte Umstrukturierungsprozess schafft
eine leistungsfähige Zollverwaltung, die den neuen Herausforderungen in einem zusammenwachsenden Europa voll gewachsen und effizient aufgebaut ist. Er ist übrigens selbstverständlich, Frau Kollegin Bellmann, auch
mit denjenigen, die vor Ort tätig sind, abgestimmt worden, und zwar über die Gremien örtlicher Personalrat,
Bezirkspersonalrat und Hauptpersonalrat. Auch ich persönlich bin vor Ort gewesen. Die Bediensteten, zum Beispiel die in Löbau, haben sich bei mir, stellvertretend für
den Bundesfinanzminister, dafür bedankt, dass wir an
den bisherigen Ostgrenzen unsere Aufgaben weiter
wahrnehmen. Ich glaube nicht, dass die CDU uns dabei
helfen muss, alles neu anzufangen. Aber vielleicht haben
Sie das auch gar nicht so gemeint.
({1})
Das Wort hat der Kollege Professor Pinkwart, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst ist positiv hervorzuheben, dass offensichtlich alle Bemühungen unternommen werden - das
ist eben ausgeführt worden -, für eine sozialverträgliche
Umstrukturierung zu sorgen. Darauf legen wir ausdrücklich Wert, genauso wie darauf, dass dabei die spezifischen Strukturprobleme der neuen Bundesländer und der
veränderte Kontrollbedarf im Zuge der EU-Osterweiterung Berücksichtigung finden. Unser besonderer Dank
gilt an dieser Stelle den Zollbeamten, die sich auf diesen
Strukturwandel in der den Beamten eigenen Weise fair,
staatsbezogen und verantwortlich eingelassen haben.
({0})
Gleichwohl möchte ich hier auf zwei Probleme aufmerksam machen, die mit der Zollverwaltung zu tun haben. Das eine Problem, das wir aktuell zu diskutieren haben, ist die Übertragung der Zuständigkeit für die
Bekämpfung der Schwarzarbeit von der Bundesagentur für Arbeit auf die Zollverwaltung. Man liest zumindest in der Tagespresse, dass das noch nicht optimal erfolgt, um das sehr freundlich, Frau Staatssekretärin, zu
formulieren. Ich wäre dankbar, wenn die Bundesregierung zu diesen aktuellen Berichten vielleicht einmal im
Finanzausschuss oder an anderer Stelle Stellung nehmen
könnte.
Es gibt einen zweiten, viel grundsätzlicheren Aspekt
im Zusammenhang mit der Übertragung der Zuständigkeit für die Bekämpfung der Schwarzarbeit. Wir haben
das wiederholt im Finanzausschuss diskutiert, einmal
auch im Kontext der Tabaksteuererhöhung. Wir müssen
feststellen: Das Phänomen Schwarzarbeit hat wachsende
Tendenz und sicherlich können Zollbeamte oder andere
Beamte eingesetzt werden, um diese zu bekämpfen.
Aber ist das wirklich die Lösung zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit? Das ist es nicht.
Hier verweisen wir auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP aus dem vergangenen
Jahr. Es ist immer gut, wenn man sich auf die Bundesregierung beziehen kann. Denn sie antwortet auf die Frage,
welches denn die Ursachen für die Schattenwirtschaft
seien, wie folgt:
Als maßgebliche Determinanten des Umfangs der
Schattenwirtschaft werden in einschlägigen Abhandlungen zum Thema die Steuer- und Abgabenbelastung, die Regulierungsdichte, das Niveau der
Lohnersatzleistungen … angeführt.
({1})
Das sind die eigentlichen Probleme. Solange wir die
nicht angehen, können wir noch so viel kontrollieren.
Wir werden nicht die notwendigen Wachstumskräfte entfachen, die wir gerade für die neuen Bundesländer brauchen, damit es dort zu einer nachhaltigen Verbesserung
der Lebensbedingungen kommt. Deswegen wollen wir
alles tun, was hier, auch in der Zollverwaltung, notwendig ist, um einen sozialverträglichen Umstrukturierungsprozess zu begleiten. Aber bitte - diese Bitte richte ich
an die Bundesregierung, aber auch an die Oppositionsfraktionen - lassen Sie uns alles tun, damit die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass die Wirtschaft für
die notwendigen Arbeitsplätze in diesem Land sorgen
kann. Dann müssen wir uns auch nicht immer wieder
neue Aufgaben für den öffentlichen Dienst erarbeiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die bevorstehenden Strukturveränderungen in der Bundeszollverwaltung stehen in direktem Zusammenhang mit dem
Beitritt von Polen und Tschechien zur EU. Der europäische Binnenmarkt wird sich zum 1. Mai 2004, wie wir
alle wissen, um insgesamt zehn Länder vergrößern. Wir
begrüßen diesen wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozess sehr.
({0})
Als Ergebnis dieses Integrationsprozesses werden
zum 30. April 2004 wesentliche Aufgaben der Zollämter
entfallen, vor allem an unseren Grenzen zu Polen und
Tschechien; die Frau Staatssekretärin hat bereits darauf
hingewiesen. Denn innerhalb der Europäischen Union
gibt es bekanntlich keine Zölle, sodass sich die Zollaußengrenzen der Europäischen Union in Richtung
Ukraine verschieben.
Es ist völlig logisch - das sage ich auch an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion gewandt -, dass es infolgedessen zu umfangreichen Veränderungen in den Strukturen der Bundeszollverwaltung
kommen muss. Auf der einen Seite fallen Aufgaben ersatzlos weg; auf der anderen Seite kommen neue Aufgaben hinzu.
Insgesamt 4 310 Beschäftigte in der Zollverwaltung
sind von den Veränderungen betroffen. Für die meisten
Zollbeamten und -beamtinnen ist eine so genannte
heimatnahe Verwendung vorgesehen, die mit neuen
Aufgaben verbunden ist. 2 570 Beschäftigte finden in
den jeweiligen Regionen eine neue Aufgabe, rund
1 000 Beschäftigte sind für eine überregionale Verwendung vorgesehen. Hierfür liegt ein gemeinsam mit der
Verwaltung ausgearbeitetes sehr langfristiges Konzept
vor, mit dem die durch den Beitritt entstehende Situation
auch sozialverträglich vorbereitet wurde.
Wichtig für die Umsetzung der Strukturreform sind
die neuen Aufgaben, die auf die Beamtinnen und Beamten zukommen. Ich möchte nur zwei Aufgabenbereiche
herausgreifen: die so genannten Mobilen Kontrollgruppen und die Bekämpfung der organisierten gewerblichen
Schwarzarbeit.
Das Personal in den Mobilen Kontrollgruppen bekommt eine gute Ausbildung, die effiziente Arbeitsergebnisse gewährleisten soll. Denn dort wird man stärker
mit der Problematik des Schmuggels konfrontiert werden. Schätzungen zufolge wird beispielsweise der durch
den Schwarzmarkt im Zigarettenhandel entstehende
Schaden im Jahr 2005 1,4 Milliarden Euro betragen. Die
Zollfahndung setzt Mobile Kontrollgruppen hinter den
Grenzen ein, deren Zahl sie von derzeit 43 auf 48 erhöhen wird. Diese Erhöhung ist angemessen und sinnvoll.
Hierbei wird auf die Beschäftigten zurückgegriffen, die
bislang an den Grenzen eingesetzt waren. Auch das ist
sinnvoll und es ermöglicht eine ortsnahe Verwendung,
die die jeweilige Lebenssituation der Beschäftigen in der
Zollverwaltung berücksichtigt.
Ich möchte einmal deutlich machen, welche Arbeit
von den Beschäftigten geleistet wird. Ein Container mit
10 Millionen Zigaretten, die auf den Schwarzmarkt gebracht werden, bringt den Schwarzhändlern einen Gewinn von ungefähr einer halben Million Euro, weil sie
Steuern in Höhe von 1 Million Euro einsparen. Wenn
man diese Zahlen hochrechnet, kommen Gewinnvolumina im Bereich von 1 Milliarde bis 2 Milliarden Euro
zusammen. Insofern ist die Arbeit der Mobilen Kontrollgruppen sehr wichtig.
Auch bei der Bekämpfung der gewerbsmäßigen
Schwarzarbeit besteht großer Handlungsbedarf, vor allem im Sinne fairer Wettbewerbsbedingungen auf dem
Bau und im Handel. Wir haben gestern im Finanzausschuss erfahren, dass der internationale Umsatzsteuerbetrug - beispielsweise durch Karussellgeschäfte - auf
nationaler Ebene allein im Umsatzsteuerbereich zu Steuerausfällen in Höhe von schätzungsweise 16 Milliarden
bis 18 Milliarden Euro führt. Die durch nicht abgeführte
Sozialversicherungsbeiträge in der Bauwirtschaft entstehenden Verluste sind in dieser Summe noch nicht berücksichtigt.
({1})
Deswegen ist es wichtig, dass die Beschäftigten des
Zolls und der Bundesagentur für Arbeit ihren Beitrag bei
der Bekämpfung der Schwarzarbeit leisten, damit wir
der organisierten Wirtschaftskriminalität verstärkt entgegentreten können.
Letzte Bemerkung: Die Personalaufstockungen unter
dem neu strukturierten Dach „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ an 113 Standorten in der Bundesrepublik unter
der Regie der Oberfinanzdirektion Köln - die dortigen
Beschäftigten sind sehr qualifiziert ausgebildet, die Zusammenarbeit ist überaus modern - werden einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass wir der organisierten Schwarzarbeit insgesamt mit größerem Erfolg
entgegentreten können. Deswegen sind die Verlagerungen und die neuen Schwerpunktsetzungen durchaus zukunftsgerichtet, sorgen für mehr Steuereinnahmen und
Wettbewerb und richten sich auch gegen wirtschaftspolitische Verzerrungen im Zusammenhang mit der Osterweiterung.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unwidersprochen: In exakt 92 Tagen haben wir es mit einer der
größten Umstrukturierungen bundesstaatlicher Organisationseinheiten zu tun. Die Frau Staatssekretärin hat die
Zahlen, die die Hauptzollämter, die Zollämter und die
Zollfahndungsämter angehen, schon genannt. Ich
möchte ein anderes Beispiel wählen, um den Umfang
der Veränderung darzustellen. Von den bislang 1 500 Kilometern, die Deutschlands Drittlandsgrenzen umfassten, bleiben im Grunde nur noch die 407 Kilometer
Drittlandsgrenze zur Schweiz übrig. Alles andere fällt
weg. Damit sind im Grunde alle unsere Zöllnerinnen und
Zöllner betroffen.
({0})
- Das ist keine Lösung, Herr Ströbele. Ich möchte herausarbeiten, was die Union mit ihrer Großen Anfrage
erreichen will und wo das Problem liegt.
Es handelt sich um ein ernsthaftes Problem. Wir wollen mit unserer Großen Anfrage endlich Klarheit darüber erreichen, was mit den betroffenen zwei Dritteln
unserer Angestellten sowie Beamtinnen und Beamten in
diesem Bereich geschehen wird. Noch auf der großen
Tagung der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft
am 4./5. Dezember 2003 war dies nicht klar. Es gab
36 offene Fragen, angefangen bei der Frage, welche
Einsatzmöglichkeiten der einfache Dienst bei den Mobilen Kontrollgruppen hat, über die Fragen, wann die zugesagten Kräfte von der Ostgrenze eigentlich an ihren
neuen Standorten zu erwarten sind, wie der Sprechfunk
funktioniert, wann der Digitalfunk beim Zoll eingeführt
wird, bis hin zu den Fragen, was mit den Binnendienstleistungen nach der EU-Osterweiterung geschehen soll
und wie sich die dafür zuständigen Dienststellen entwickeln werden. Frau Staatssekretärin, der Aufgabenbereich Agrardieselvergütung ist zwar im Konzept aufgeführt. Aber am 1. Mai dieses Jahres wird man in diesem
Bereich noch nicht arbeitsfähig sein. Es ist außerdem
nicht klar, wie mit den Arbeitern, also den einfachen Angestellten, verfahren werden soll, die zum Beispiel zur
Bundesvermögensverwaltung abgeordnet sind. Was geschieht mit den Beschäftigten an den Standorten, an denen der Bund noch nicht einmal im Besitz der notwendigen Liegenschaften ist? Es gibt also Fälle, in denen noch
nicht einmal Büros vorhanden sind, damit der Zoll seine
Arbeit aufnehmen kann.
Angesichts dessen ist es nicht in Ordnung, uns Polemik vorzuwerfen. Sie wollen nur verschleiern, dass wir
mit unserer Großen Anfrage den Menschen, die wir angestellt haben und die für uns arbeiten, klar machen wollen, was auf sie zukommt.
({1})
Nur eine Petitesse - man kann sich natürlich auch im
Detail verlieren -: Auch die Zukunft der Zollboten ist
nicht geklärt. Das muss ebenfalls gesagt werden.
Liebe Frau Staatssekretärin, unser Vorwurf ist nachvollziehbar, was besonders bei der Antwort der Bundesregierung auf die Frage 24 unserer Großen Anfrage deutlich wird. Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob es
ein Personalkonzept für die Umstellung gibt. Von
6 000 Zöllnerinnen und Zöllnern sind rund zwei Drittel
- laut Antwort der Bundesregierung 4 300 - betroffen.
Angesichts dessen ist es doch notwendig, der Umstellung ein Personalkonzept zugrunde zu legen, aus dem
hervorgeht, was ab dem 1. Mai dieses Jahres mit den betroffenen Beschäftigten geschieht.
({2})
Laut der Antwort der Bundesregierung auf die Frage 24
unserer Großen Anfrage - lesen Sie das ruhig nach - gibt
es kein Personalkonzept.
({3})
Die Standorte und die Stellen sind zwar in etwa ausgewiesen, aber wann mit der Arbeit an den einzelnen
Standorten begonnen werden soll, können Sie heute
noch nicht sagen.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, wir wollen doch,
dass der Zoll ordentlich arbeitet. Ich versuche - gestehen
Sie mir das als jungem Abgeordneten zu -, mir der Tatsache bewusst zu sein, dass wir hier in gewissem Sinne
auch als Arbeitgeber auftreten. Das ist zwar in erster Linie Ihr Job, aber wir, die Mitglieder des Bundestages, haben auch eine gewisse Personalverantwortung. Wir wissen, dass der Zoll es mit organisierter Kriminalität, mit
Schmuggel und wirklichem Bandentum zu tun hat. Daher ist klarzustellen, dass dort eine wichtige Aufgabe erfüllt wird. Wenn wir von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zolls verlangen, dass sie ordentlich
arbeiten, dann müssen wir ihnen Planungssicherheit
geben. Wir müssen sie motivieren, statt sie nicht zu informieren. Wir müssen auf Vertrauen statt auf Verunsicherung setzen.
({4})
Die Informationspolitik des Finanzministeriums als
Dienstherr ist zu kritisieren. Der bisherige Zustand hat
dazu geführt, dass der Vorsitzende der Deutschen Zollund Finanzgewerkschaft es im Dezember in Dortmund
auf den Punkt gebracht hat, als er Hans Eichel ins
Stammbuch geschrieben hat:
Noch funktioniert das deutsche Zollwesen. Herr
Minister Eichel, sorgen Sie dafür, dass es so bleibt.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ich bedanke mich.
({5})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Gegensatz zu Herrn Fahrenschon bin ich der CDU/CSU
für diese Große Anfrage außerordentlich dankbar,
({0})
weil sie dokumentiert, wie verantwortlich die rot-grüne
Bundesregierung sowohl mit den Interessen der Beschäftigten als auch der betroffenen Regionen umgegangen ist.
Wir alle sind uns einig, dass der Anlass dieser Großen
Anfrage ein sehr freudiges Ereignis ist. Erst vor zwei Tagen hat hier die Sonderveranstaltung des Deutschen
Bundestages aus Anlass des Gedenktages für die Opfer
des Nationalsozialismus stattgefunden. Gerade diese bedrückende Erinnerung muss uns die Osterweiterung der
Europäischen Gemeinschaft, den Beitritt von Ländern
wie Tschechien und Polen wie ein Wunder erscheinen
lassen. Jetzt debattieren wir die praktischen Auswirkungen der Entwicklung von Feind zu Freund, von Bewachung von Grenzen bis zur - sicherlich auch für Sie,
Kollegin Bellmann - wünschenswerten Unsichtbarkeit
dieser Mauern.
Das letzte Jahrzehnt war wirklich eine Herausforderung
für die Zollverwaltung. Wir haben das im Finanzausschuss viele Jahre lang verfolgt. Da ich an der französischen Grenze wohne, kann ich mich noch an viele Gespräche und Eingaben aus der Zeit der Öffnung des
Binnenmarktes erinnern. Wir Politiker haben damals
freudestrahlend Grenzschranken durchgesägt; aber die
Zöllner haben zur gleichen Zeit ihre Koffer gepackt, um
nach Frankfurt ({1}), Chemnitz oder Forst, also mehr
als 800 Kilometer von ihrem bisherigen Einsatzort entfernt, zu fahren.
Jetzt sägen wir dort an den Grenzpfählen. Die Konsequenzen für die Zollverwaltung werden in der Antwort
der Bundesregierung beschrieben. Deshalb ist es - nicht
nur heute - angebracht, den Menschen, die diese Verwaltung bilden und tragen, wirklich unseren Respekt auszudrücken. Herr Pinkwart, Sie haben deutlich gesagt: Die
Flexibilität, die diese Verwaltung an den Tag gelegt hat,
können sich andere Behörden und Unternehmen nur zum
Vorbild nehmen.
Die Aufgaben, die dieser Verwaltung im Laufe der
Jahre zugeflossen sind, haben sie in hohem Maße verändert: von der Bekämpfung des international organisierten Zigarettenschmuggels, Kontrollen an den Baustellen,
Bearbeitung von Agrardieselvergütungsanträgen bis hin
zu der jetzt beim Zoll konzentrierten wichtigen Aufgabe
der Bekämpfung der Schwarzarbeit. Alles, was neu ist,
erfordert von den Beschäftigten die Bereitschaft zu Um-,
Fort- und Weiterbildung und insgesamt ein hohes Engagement jedes Einzelnen.
Auf das, was sie bei der Neustrukturierung und
Modernisierung ihrer Behörde bisher geleistet haben,
können alle Beschäftigten wirklich stolz sein.
({2})
Es gibt dort viele hoch qualifizierte Spezialisten. Die
Möglichkeiten zum prüfungsfreien Aufstieg eröffnen
vielen Mitarbeitern neue Chancen. Ob dieser Aufstieg so
funktioniert, wie er funktionieren soll, das können wir
noch überprüfen. Die entsprechenden Aufstiegschancen
sind jedenfalls vorhanden. Meine Damen und Herren
von der Opposition, aus den Beratungen im Finanzausschuss wissen Sie genau, wie sorgfältig das Finanzministerium diesen Umbau vorbereitet und begleitet hat.
Wir alle, die Mitglieder des Finanzausschusses, haben
in vielen Sitzungen in den letzten Jahren darauf gedrungen und geachtet, dass alle erdenklichen sozialverträglichen Maßnahmen ergriffen werden. Zumindest wir Abgeordnete der Koalitionsfraktionen haben im Laufe der
letzten Jahre wiederholt Gespräche mit den Personalräten, den Verbänden und Gewerkschaften geführt.
Insgesamt ist die Riesenleistung der Umstrukturierung des Zolls nur durch die Mitarbeit der Zöllnerinnen
und Zöllner geschultert worden. Es sieht nicht so aus,
Frau Bellmann, als ob die Beschäftigten bei der jetzt notwendigen Umstrukturierung an der Ostgrenze die Mitarbeit verweigern, obwohl es schmerzhafte Einschnitte in
das berufliche und persönliche Leben Tausender Beschäftigter geben wird.
Wenn wir uns die Antworten auf die Große Anfrage
genauer ansehen, stellen wir fest, dass die jetzige Umstrukturierung mehr Chancen als Härten - es gibt sicher
auch solche - aufweist, angefangen vom Bleiberecht für
Beschäftigte des einfachen Dienstes über die vereinfachten Aufstiegsmöglichkeiten in den verschiedenen Bereichen bis hin zu hoch qualifizierten Arbeitsplätzen, die
gerade jungen motivierten Mitarbeitern beste Chancen in
den wirtschaftlich schwachen Regionen bieten.
Beim Ministerium hat - im Gegensatz zu dem, was
Sie, Herr Fahrenschon, gesagt haben - die Arbeitsgruppe
„Arbeit für den Osten“ zusammen mit den Beschäftigten
ein Konzept entwickelt, das grundsätzlich eine Weiterbeschäftigung in der Zollverwaltung sicherstellt.
({3})
Rund zwei Drittel der Beschäftigten werden in der Region weiterbeschäftigt, sie werden dort bleiben können.
Sie werden sich, wie ihre Kollegen in den anderen Bundesländern auch, natürlich verstärkt den neuen Aufgaben
des Zolls widmen müssen, wie zum Beispiel den Mobilen Kontrollgruppen. Wir haben Aufgaben von Behörden aus anderen Regionen Deutschlands dorthin verlegt
und andere Länder mussten das schlucken.
Die sorgfältige und sehr transparente Planung des Finanzministeriums ist wirklich zu loben. In anderen Bereichen haben wir ganz anderes erleben müssen.
Wir, Herr Pinkwart und sicher auch Herr
Fahrenschon, Frau Scheel sowieso, werden im Finanzausschuss diese neuen Strukturveränderungen im Zoll
sorgfältig begleiten. Ich bin der Überzeugung, dass die
Zollverwaltung so, wie sie ist, eine interessante Zukunft
mit neuen, für uns alle wichtigen Aufgaben vor sich hat.
Ich bin sicher, dass sie diese Aufgaben meistern wird.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache und rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Eine politische Lösung für den Westsaharakonflikt voranbringen - Baker-Plan unterstützen
- Drucksache 15/2391 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Jelena Hoffmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute gemeinsam den Antrag
zur politischen Lösung des Westsaharakonflikts und unterstützen damit den so genannten Baker-Plan. Mit der
UNO zusammen treten alle Fraktionen im Bundestag für
eine gerechte und dauerhafte Lösung des Konfliktes zwischen Marokko und den Sahraouis ein.
({0})
Für mich ist es aber auch ein etwas trauriges Wiedersehen. Ich habe schon einmal zu diesem Thema im Bundestag gesprochen, und zwar im Jahre 1996, damals
noch in Bonn. Ich glaube, das war sogar meine erste
Rede im Bundestag.
Damals haben wir auch über einen gemeinsamen Antrag abgestimmt und die Bundesregierung gebeten, alles
zu tun, um Frieden zwischen den Konfliktparteien zu erreichen. Ich stand damals unter dem Eindruck einer
Reise in die Region des Konfliktes. Bei dieser Reise
hatte ich die Gelegenheit, das Wüstenvolk der Sahraouis
kennen zu lernen. Ich hatte starke Hoffnungen, dass die
damaligen Pläne schnell Realität werden.
Diese Hoffnungen haben sich leider noch nicht erfüllt. Es ist zwar gelungen, eine Eskalation des Konfliktes mithilfe der UNO-Mission zu vermeiden, aber eine
richtige Lösung ist immer noch nicht gefunden worden
und alle internationalen Bemühungen sind gescheitert.
Nun liegt ein neuer Friedensplan vor, der Plan des
Sonderbeauftragten Baker, den wir unterstützen wollen.
Er gibt beiden Seiten die Möglichkeit, das Problem gemeinsam zu lösen.
Ich denke, dass sich meine Kolleginnen und Kollegen, die jetzt hier sitzen, mit der Geschichte des Konfliktes etwas vertraut gemacht haben, weil, wie so oft,
gerade in der Geschichte, in der Besetzung der Westsahara durch die Spanier im Jahre 1884, die Wurzeln
dieser Auseinandersetzung liegen.
In den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts erlangten Marokko, Mauretanien und Algerien ihre Unabhängigkeit und Spanien gab seine Kolonie in der Westsahara im Jahr 1974 auf. Der damalige marokkanische
König beanspruchte aber das Gebiet und entsandte Truppen in die Westsahara. So ist es zum Krieg mit der Befreiungsfront Frente POLISARIO gekommen.
Es folgten viele Jahre des Krieges. Erst 1988 wurde
zwischen Marokko und der POLISARIO ein Waffenstillstand vereinbart. Seit 1991 hilft die UNO-Mission
MINURSO, diesen Frieden zu halten. Seine Souveränitätsansprüche hat das marokkanische Königreich jedoch
nie aufgegeben. Ein Verlust der Sahara würde in den Augen der Marokkaner die Einheit aus König, Gott und Vaterland gefährden sowie die Legitimität des Königs und
des politischen Systems infrage stellen.
Dieser Konflikt zog weitere Probleme nach sich. Damals haben etwa 70 000 Menschen die Region verlassen.
Sie leben seit 1975 in der Wüste im Südwesten Algeriens, in Lager aufgeteilt, entsprechend ihren früheren
Städten in der Westsahara. Im Sommer leben die Familien in Zelten und im Winter in ganz kleinen Lehmhäuschen, solange diese nicht durch Regen zerstört werden.
Man schätzt die Zahl der Sahraouis heute auf etwa
155 000.
Zum Überleben sind diese Menschen vollständig auf
Hilfe von außen angewiesen. Es fehlen Lebensmittel,
Medikamente und auch einfache medizinische Geräte.
Das Trinkwasser ist immer knapp. Ungefähr 30 Prozent
der Kinder sind unterernährt.
Ich habe die Lager im Jahre 1996 mit eigenen Augen
gesehen. Ich habe gesehen, wie dürftig die Lebensbedingungen dort sind. Doch war es erstaunlich, wie freundlich die Menschen uns aus den Zelten entgegengekommen sind und mit welcher Geduld sie das Zeltleben
ertragen haben.
Die Bundesregierung hat im Jahre 2002 mithilfe von
deutschen NGOs Hilfsprojekte im Umfang von
355 000 Euro finanziert. Im letzten Jahr waren es
500 000 Euro. Aber für diese Menschen in den Zelten
muss eine endgültige und stabile Lösung gefunden werden.
({1})
Wie in jedem Krieg gab es im POLISARIO-Krieg
Gefangene auf beiden Seiten. Von marokkanischer Seite
wurden die letzten Häftlinge schon 1996 freigelassen.
Hilfe kam dabei von der deutschen Seite. Nach Angaben
des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz hält die
Frente POLISARIO noch 613 Kriegsgefangene fest.
Mehrere Hundert davon sind schon seit über 20 Jahren in
Gefangenschaft. Es kam auch zu Freilassungen. 300 Gefangene konnten ihre Gefängnisse im November verganJelena Hoffmann ({2})
genen Jahres verlassen. Doch über 600 Gefangene warten noch auf ihre Freiheit.
Über die Zukunft der Westsahara sollte schon einmal
in einem Referendum entschieden werden, das für Juli
2000 geplant war. Dafür sollte ausgezählt werden, wie
viele Menschen dem Volk der Sahraouis überhaupt angehören. Aufgrund von großen Schwierigkeiten bei der
Feststellung der Teilnahmeberechtigten kamen die Vorbereitungen aber zum Stillstand. So blieb dem Generalsekretär der UNO nichts anderes übrig, als in seinem
Bericht vom 19. Februar 2002 das Scheitern des Referendums zu erklären.
Nun wird mit dem Baker-Plan II der Versuch unternommen, den Konflikt endgültig zu lösen. Baker schlägt
vor, der Sahara eine weitgehende Autonomie unter marokkanischer Souveränität zuzugestehen. Diese Autonomie soll in mehreren Schritten verwirklicht werden. Im
ersten Schritt sollen, wenn das Abkommen unterschrieben wird, alle Verhafteten und Kriegsgefangenen freigelassen werden. Drei Monate später sollen die Streitkräfte
auf beiden Seiten reduziert werden.
Ein Jahr nachdem das Abkommen unterschrieben
worden ist, sollen ein Parlament und ein Oberhaupt der
Exekutive gewählt werden. Sie sollen für das territoriale
Budget, die Steuereinnahmen und die Polizei zuständig
sein. Der marokkanische König - das ist sehr wichtig bleibt der Souverän, weisungsbefugt in den Außenbeziehungen, in Verteidigungsfragen und bei der Kontrolle
der Waffen.
Vier oder fünf Jahre nach der Unterschrift wird ein
Referendum durchgeführt, in dem die Wahlberechtigten
über drei Optionen abstimmen können. Sie können darüber abstimmen, ob die Westsahara einen Autonomiestatus innerhalb Marokkos erhält, ob ihre Unabhängigkeit
oder die volle Integration in das marokkanische Staatsgebilde angestrebt werden soll.
Mit der Resolution 1495 hat sich der Sicherheitsrat
schon im letzten Jahr für die Unterstützung des BakerPlans ausgesprochen. Jetzt müssen internationale Anstrengungen auf diplomatischer Ebene zur Unterstützung
des Baker-Plans unternommen werden, damit die Region
die Aussicht auf eine langfristig tragende Lösung erhält.
Aus heutiger Sicht gibt es nämlich zu dem Baker-Vorschlag keine Alternative. Jetzt müssen sich alle Beteiligten mit der UNO und unseren europäischen Partnern an
einen Tisch setzen und mit der Umsetzung beginnen.
Von den Konfliktparteien haben bisher die Frente
POLISARIO sowie die Beobachterländer Mauretanien
und Algerien zugestimmt. Marokko tut sich bis jetzt
schwer. Deshalb muss es auch und vor allem zu intensiven Verhandlungen mit der marokkanischen Seite kommen. Für die Dauer der Verhandlungen muss für stabilen
Frieden gesorgt werden, das heißt, dass die MINURSOMission verlängert werden muss. Ich hoffe, dass das in
dieser Woche im Sicherheitsrat geschieht.
Wenn mit der Umsetzung begonnen wird und unsere
Hilfe angefragt wird, sollten wir uns nicht verweigern
und innerhalb unserer Möglichkeiten Hilfe leisten, zum
Beispiel indem wir Militärbeobachter und Polizisten zur
Verfügung stellen. Wenn sich die Konfliktparteien geeinigt haben, muss auch ein Rückführungsprogramm für
die Flüchtlinge auf den Weg gebracht werden, und die
POLISARIO muss sich so schnell wie möglich bereit erklären, die Gefangenen freizulassen.
Ich weiß, dass sich nicht jeder von uns an Ort und
Stelle von dem Westsaharakonflikt ein Bild machen
konnte. Doch wer die Augen der Kinder, die in Zelten
geboren sind und dort aufwachsen, gesehen hat, weiß,
dass es zum Baker-Plan keine friedliche Alternative gibt.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen
Sie mit Vertretern der POLISARIO in Deutschland,
sprechen Sie aber auch und vor allem mit der marokkanischen und algerischen Seite. Unser Ziel ist es, die
UNO nach allen Kräften zu unterstützen. Ich bin überzeugt, dass unser gemeinsamer Antrag diesem Ziel voll
und ganz dient.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Kollegin Hoffmann hat ausreichend die Geschichte und die Umstände des Westsaharakonflikts geschildert und sie ist auch sehr eindringlich auf die Situation der Menschen in dieser Region eingegangen.
Deswegen kann ich mich im Wesentlichen auf ergänzende Anmerkungen beschränken.
Gleich zu Beginn, meine sehr verehrten Damen und
Herren, möchte ich Lob und Tadel verteilen. Ein Lob
geht an die Bundesregierung, weil sie es im Jahr 2000
den Konfliktparteien ermöglichte, in Berlin unter
Schirmherrschaft der UN zusammenzutreffen und hier
an neutraler Stelle zu verhandeln.
Zu loben ist auch, dass sich SPD und Bündnis 90/Die
Grünen mit der Opposition auf einen Allparteienantrag
zum Thema Westsahara verständigt haben. Damit ist allerdings gleichzeitig mein Tadel verbunden; denn das,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
hätten wir auch schon früher haben können.
({0})
Der heutige Antrag stimmt im Kern mit dem von der
FDP vor Jahresfrist eingebrachten Antrag zur Lösung
des Westsaharakonflikts überein.
({1})
Die CDU/CSU hatte die Liberalen damals auch aus dem
Grund unterstützt, weil Deutschland den Vorsitz im UNSicherheitsrat hatte und eine gemeinsame Resolution des
deutschen Parlaments zum damaligen Zeitpunkt ein
noch größeres Gewicht gehabt hätte.
({2})
Trotzdem begrüße ich es für meine Fraktion, dass wir
heute einen gemeinsamen Nenner gefunden haben, auch
wenn wir festhalten müssen, dass wir bei unserem Vorhaben, den Menschen in der Westsahara und im übrigen Marokko ein eindeutiges Signal zu geben, ein Jahr verloren
haben. Es geht aber nicht nur darum, ein Signal zu geben;
es geht auch darum, einen schier endlosen Verhandlungsmarathon zu einem guten Abschluss zu bringen.
Seit 1991 schweigen in der umstrittenen Region die
Waffen. Wir alle wollen, dass dies auch weiterhin so
bleibt. Immerhin kämpfen die Bewohner der Westsahara
seit 13 Jahren mit friedlichen Mitteln um ihre Selbstbestimmung. Es ist Zeit, dass die Menschen dafür auch die
Friedensdividende erhalten. Hier meine ich vor allen
Dingen das Recht auf Selbstbestimmung.
({3})
Ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen liegt
vor allem im Interesse der noch immer in der Gewalt der
Befreiungsbewegung POLISARIO befindlichen marokkanischen Kriegsgefangenen und der sahraouischen
Flüchtlinge in den Lagern im algerischen Tindouf. Darauf wird mein Kollege Hermann Gröhe nachher in seinem Redebeitrag noch gesondert eingehen.
Kein Zweifel: Die Lösung der Westsaharaproblematik
dient in erster Linie den Menschen in dem genannten
Gebiet. Außerdem müssen wir aber alle Aktivitäten in
dieser Frage im Zusammenhang mit der Friedenspolitik
im angrenzenden Mittelmeerraum sehen. Die CDU/
CSU unterstützt auch deshalb die internationalen Vermittlungsbemühungen für die Westsahara nachdrücklich.
Wir erhoffen uns ähnliche Ergebnisse wie in anderen
Krisengebieten der Region. Ich denke da insbesondere
an die Erfahrungen auf dem Balkan und an die derzeitige
Entwicklung in Zypern. Die internationalen Bemühungen haben speziell im Nordteil der Insel Zypern einen
neuen Prozess in Gang gesetzt.
Bei den eingangs erwähnten Verhandlungen in Berlin
wurde erstmals ein dritter Weg ins Spiel gebracht, der
auf eine Autonomie der Westsahara unter marokkanischer Oberhoheit hinauslaufen könnte. An eine solche
Kompromisslösung versuchen die Vereinten Nationen
anzuknüpfen, zumal das Mandat der Friedensmission
MINURSO vom UN-Sicherheitsrat immer wieder verlängert werden musste. Die Kollegin Hoffmann hat die
Resolution 1513 vom 28. Oktober 2003 angesprochen.
Sie sieht einen Einsatz der Blauhelme bis zum 31. Januar
2004, also bis übermorgen, vor. Allerdings hat UN-Generalsekretär Kofi Annan eine Verlängerung des Mandats bis Ende April in Aussicht gestellt. Er will damit
Marokko eine weitere Verhandlungsfrist einräumen.
Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen einen so
renommierten Diplomaten wie den ehemaligen US-Außenminister James Baker zum Sonderbeauftragten für
die Westsahara ernannt haben, zeigt, welch hohen Stellenwert die Staatengemeinschaft der Lösung des Konflikts beimisst. Seit 1997 verhandelt James Baker sowohl mit der POLISARIO als auch mit der Regierung in
Rabat. Der von ihm entwickelte Stufenplan scheint aus
unserer Sicht ein gangbarer Weg zu sein. Deswegen wird
er von meiner Fraktion unterstützt. Wir unterstützen,
dass die Westsahara in einer Interimsperiode unter marokkanischer Oberhoheit bleibt, aber eine begrenzte innenpolitische Autonomie erhält. Wir begrüßen, dass Marokko in diesem Zeitraum vorrangig die Zuständigkeit
für die Außen- und Sicherheitspolitik inne hat. Wir begrüßen ebenfalls, dass nach einer Übergangsfrist von
längstens fünf Jahren eine Volksabstimmung über den
endgültigen Status der Westsahara unter Aufsicht der
Vereinten Nationen stattfinden soll.
Die Zeichen für eine Einigung auf der Grundlage des
Baker-Plans sind nach allgemeiner Einschätzung günstiger als im Allgemeinen angenommen. Die POLISARIO
hat dem Plan bereits zugestimmt. Auch die Regierung in
Rabat signalisiert ein gewisses Entgegenkommen, wenngleich sie in ihrem jüngsten Gegenvorschlag noch auf
einem dauerhaften Autonomiestatus beharrt. Die
Möglichkeit einer Einigung mit der POLISARIO scheint
auch in der marokkanischen Innenpolitik immer mehr an
Bedeutung zu gewinnen. So hat Marokko mit Ali
Lmrabet einen der schärfsten Kritiker der Westsaharapolitik vorzeitig aus der Haft entlassen.
Beiden Parteien, Marokko und den Sahraouis, könnte
eine Beilegung des Westsaharakonfliktes auf der Grundlage des Baker-Plans neue Perspektiven eröffnen, nicht
zuletzt auch im Hinblick auf die rund 200 000 Flüchtlinge, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in
algerischen Lagern leben. Das Gleiche gilt für die mehr
als 500 marokkanischen Kriegsgefangenen, die sich immer noch in der Gewalt der POLISARIO befinden.
Mit Lob und Tadel habe ich begonnen; mit einem
Dank möchte ich schließen. Wir sollten all denen unseren Dank aussprechen, die auch von deutscher Seite
dazu beigetragen haben, dass über 500 marokkanische
Kriegsgefangene aus den Gefängnissen freigelassen
wurden und nach Hause heimkehren konnten. Dies war
ein Erfolg zäher Verhandlungen. Darum setzen wir auch
weiterhin auf die Kraft der Gespräche und der Diplomatie, um mit Geduld und Umsicht eine politische Lösung
für die Westsahara zu finden.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian
Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ihr Lob nehme ich gerne entgegen, Herr Kollege
Helias. Ihre Kritik kann ich allerdings nicht akzeptieren.
Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung - Sie waren nicht dabei - waren wir von
Anfang an mit Vertretern der FDP-Fraktion im Gespräch
und haben Neuformulierungen des Antrags immer wieder abgestimmt. Das hatte sachliche Gründe.
({0})
- Natürlich hatte das sachliche Gründe. Deutschland
hatte zu der Zeit den Vorsitz im Weltsicherheitsrat, als
der Baker-Plan geboren war und angenommen werden
sollte. Wir wollten die entsprechenden Gespräche abwarten, um entscheiden zu können, wie wir die Entwicklung unterstützen könnten.
({1})
Nachdem der Baker-Plan jetzt auf dem Tisch liegt,
nachdem die Sahraouis, die POLISARIO und auch die
UNO den Plan akzeptiert haben und Marokko signalisiert hat, dass es trotz einiger kritischer Punkte dem
Grunde nach ähnlich denkt, ist es jetzt tatsächlich an der
Zeit, der UNO und auch der Bundesregierung einen zusätzlichen Anstoß zu geben, möglichst viel zu tun, damit
dieser Plan umgesetzt und Wirklichkeit werden kann.
({2})
Auch ich war - es ist noch nicht allzu lange her, es
war im letzten Jahr - in der Westsahara, Frau Kollegin
Hoffmann, und habe dort die gegenwärtige Situation erlebt. Die Westsahara ist heute durch unendlich lange
Mauern, Wälle und durch Stacheldraht in mehrere Teile
geteilt. Um von einem Teil in den anderen zu kommen,
kann man nicht durch irgendein Tor gehen, sondern man
muss Tausende von Kilometern über Algerien oder über
andere Nachbarstaaten zurücklegen und dann über den
Atlantik oder über Marokko in den anderen Teil fahren.
Das sind Zustände, die uns Deutschen aus unserer eigenen Vergangenheit nicht ganz unbekannt sind. Diese Situation ist für die Menschen, die dort wohnen, unerträglich.
Unerträglich ist vor allen Dingen das Schicksal der
über 150 000 Flüchtlinge, die noch in Lagern in Teilen
Algeriens, also noch nicht einmal in der Westsahara, leben, die praktisch am Tropf der internationalen Gemeinschaft hängen und überhaupt keine Perspektive haben.
Dieser Konfliktherd ist für die Menschen, die Region
dort und auch für die Welt insgesamt völlig unerträglich.
Deshalb müssen wir alles dafür tun, dieses Schicksal zu
ändern.
Ich gehöre zu denjenigen, die sich sehr früh in ihrem
politischen Leben mit der POLISARIO - seinerzeit hat
sie noch einen bewaffneten Kampf gegen Marokko geführt - solidarisiert haben. Der Kampf ist damals eingestellt worden, weil die UNO die Resolution 690 beschlossen hatte, mit der der Westsahara garantiert
worden ist, im Februar 1992 ein Referendum durchzuführen, in dem über das Schicksal des Landes entschieden werden sollte. Die Sahraouis warten jetzt zwölf
Jahre auf die Umsetzung dieses Beschlusses des Weltsicherheitsrates der Vereinten Nationen. Es gab in der Folgezeit eine ganze Reihe weiterer Entschließungen und
Beschlüsse. Sie sind also immer wieder vertröstet worden. Ich kann nur sagen: Ich bewundere ihre Langmut.
Es darf aber nicht sein, dass UNO-Resolutionen,
wenn sie nicht eingehalten werden, in einem Teil der
Welt zu Sanktionen führen und man gar den Bruch von
UNO-Resolutionen als Grund nimmt, um einen Krieg zu
führen, und dass man im Hinblick auf die Westsahara
über Jahrzehnte in Kauf nimmt, dass wichtige UNO-Resolutionen einfach nicht beachtet werden.
({3})
Das macht UNO-Resolutionen weltweit unglaubwürdig.
Wir müssen alles dafür tun, dass dieser Zustand beendet
wird.
Deshalb ist die neue UNO-Resolution, die wir jetzt
unterstützen, die hoffentlich auch von Marokko akzeptiert wird und die den Baker-Plan beinhaltet, der richtige
Weg, um aus diesem unerträglichen Zustand herauszukommen, damit die Vereinten Nationen zu stärken, die
Region zu beruhigen und dort Sicherheit sowie Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen. Wir alle wissen, dass es
in dieser Region Bodenschätze gibt, dass es möglicherweise vor der Küste oder auch im Land selber Erdölvorkommen gibt. Das heißt, das Land hätte eine sehr gute
Chance, sich auch ökonomisch gut zu entwickeln. Wir
müssen vor allen Dingen für die dort betroffenen und
seit über 20 Jahren leidenden Menschen etwas tun.
Deshalb halte ich den Antrag, den wir Gott sei Dank
gemeinsam auf den Weg bringen, für einen richtigen Ansatz, indem wir die Bundesregierung zusätzlich motivieren, ihr Mandat im UNO-Sicherheitsrat zu nutzen, um
den Baker-Plan mit allen Mitteln zu fördern. Das heißt
natürlich auch, unsere nächsten Nachbarn, beispielsweise Frankreich und andere EU-Partner, anzuhalten,
diesen Plan ebenfalls zu unterstützen. Ansonsten klappt
eine positive Entwicklung wieder nicht.
Ich hoffe im Interesse der Bevölkerung dort, dass wir
dieses Mal mehr Erfolg haben und dem sahraouischen
Volk nicht wieder nur Versprechungen geben, von denen
wir in zehn oder zwölf Jahren wieder sagen, dass sie
nicht eingehalten worden sind. Es kann nicht sein, dass
man einen bewaffneten Kampf führen muss, um unseren
UNO-Resolutionen zur Wirksamkeit zu verhelfen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, es ist eine gute Meldung, dass sich die
Fraktionen zusammengefunden und einen gemeinsamen
Antrag formuliert haben. Aber ich gebe dem Sprecher
der CDU/CSU, Herrn Helias, ganz besonders Recht.
Wenn Sie den Inhalt des Antrages, der heute vorliegt,
mit dem vergleichen, den Sie vor einem Jahr abgelehnt
haben, dann werden Sie feststellen, dass überhaupt kein
Grund besteht, warum man ein Jahr lang hat warten
müssen.
({0})
Ein bisschen mehr Substanz, Herr Ströbele, sollten Sie
dem hinzufügen. Es ist in der Tat ein verlorenes Jahr.
Aber ich will jetzt nicht weinerlich sein. Wir sollten jetzt
vielmehr vorangehen
({1})
und die Chancen und die Möglichkeiten nutzen, die der
zweite Baker-Plan bietet.
Frau Hoffmann hat bereits lobenswerterweise auf die
Geschichte Bezug genommen. Diesen gesamten Prozess
kann man nur richtig verstehen, wenn man die Geschichte kennt und weiß, dass dies ursprünglich französisches und dann spanisches Hoheitsgebiet war und dass
sich die Spanier 1975 zurückgezogen haben. Bereits
1975 ist eine Entscheidung des Haager Gerichtshofes gefällt worden, wonach eindeutig zugunsten der Selbstbestimmung des Westsaharagebietes geurteilt wurde. Es ist
jetzt 27 Jahre her, dass diese Grundsätze vom Haager
Gerichtshof postuliert worden sind, und wir sind immer
noch nicht sehr viel weitergekommen.
1981 hat König Hassan II. die UN-Forderung, den völkerrechtlichen Status des Gebietes durch ein Referendum
festzulegen, angenommen. In der Zwischenzeit haben
wir leider Gottes sehr viele negative Entwicklungen hinnehmen müssen.
1997 wurde das erste Baker-Abkommen verabschiedet, in dem es darum ging, den Teilabzug marokkanischer Truppen sicherzustellen, Gefangene auszutauschen
und Flüchtlinge rückzuführen. Die Konfliktparteien
konnten sich aber leider Gottes nicht einigen.
So ging es immer weiter, bis dann letztendlich im Jahr
2000 Kofi Annan das für dasselbe Jahr geplante Referendum mehr oder weniger auf unbestimmte Zeit verschoben hat.
In der Zwischenzeit hat sich etwas Entspannung ergeben. Die POLISARIO hat einige hundert Flüchtlinge
bzw. Kriegsgefangene entlassen. Nach Angaben des
Roten Kreuzes sind aber nach wie vor auf beiden Seiten
insgesamt fast noch 2 000 Menschen in Gefangenschaft.
Dazu kommen noch die 150 000 Flüchtlinge, die in
Camps auf algerischer Seite leben. Es ist bereits deutlich
geworden, deshalb kann ich mich kurz fassen: Die Verhältnisse, die dort herrschen, sind absolut menschenunwürdig und nicht akzeptabel. Die Aufgabe, diese Menschen in ihre Heimat zurückzuführen, verlangt unser
volles Engagement.
({2})
Seit 2003 liegt der neue Baker-Plan vor. In seiner
Resolution 1495 fordert der UN-Sicherheitsrat die Konfliktparteien auf, diesem Plan zuzustimmen. Wiederum
ist es Marokko, das allergrößte Bedenken hat. Die POLISARIO, Algerien und Mauretanien haben dem Plan im
Wesentlichen zugestimmt. Es scheint so, als seien die
Marokkaner ohne zusätzlichen Druck von außen nicht
bereit, einzulenken. Sie sind nicht bereit, die Ungewissheit über die Entwicklung der Zukunft, die in diesem
Stufenplan liegt, heute zu akzeptieren. Wer dazu nicht
bereit ist, hat von uns natürlich keine Lobeshymne zu erwarten, sondern muss von uns getadelt werden und muss
aufgefordert werden, eine andere Sicht der Dinge einzunehmen.
({3})
Ich möchte darauf hinweisen: Es gibt derzeit in Afrika zwölf bewaffnete Auseinandersetzungen und Kriege.
Muss dem noch eine weitere bewaffnete Auseinandersetzung hinzugefügt werden, um dann endlich noch einmal die Völkergemeinschaft auf den Plan zu rufen und
Druck auszuüben? Ich meine, es ist allerhöchste Zeit,
dass die Verantwortung der Europäischen Union
deutlicher zum Vorschein kommt.
({4})
Es reicht nicht aus, in einem Verfassungsentwurf die
Zuständigkeit für die Europäische Union niederzuschreiben und die Außen- sowie die Sicherheitspolitik zu
wichtigen Bereichen unserer gemeinsamen Politik zu erklären. Wir müssen immer wieder feststellen, dass der
Druck auf die Länder, um die es hier geht - teilweise
wurden sie schon angesprochen -, nicht erfolgt. Aus
Rücksichtnahme auf Länderinteressen und durch Nichteinmischung wird hier das Menschenrecht zu Grabe getragen. Das ist nicht in Ordnung und kann nicht in Ordnung sein. Hier muss Europa eine stärkere Sprache
sprechen.
({5})
Es sind jetzt wirklich die Europäer am Zug. Es geht nun
nicht darum, dass wir einen afrikanischen Staat auffordern müssen, einzulenken.
Für uns als deutsches Parlament - das möchte ich hier
ganz klar und deutlich sagen - ist natürlich die Bundesregierung der wichtigste Ansprechpartner. Es ist auch
endlich der Antrag an die Bundesregierung gerichtet
worden, Druck zu machen und diesen Druck voll und
ganz auf die Waagschale zu bringen, damit wir vorankommen. Es ist nicht zu verantworten, dass dieser Prozess noch weitere 25 oder 30 Jahre dauert.
Lassen Sie mich meine Rede mit einem kurzen Satz abschließen. Wir kennen die grüne Bewegung der Marokkaner.
Das hört sich nicht nach einem kurzen Satz an.
Das ist ein Satz. ({0})
Diese Bewegung hat zum Ziel, die dortige Bevölkerung
zu unterwandern. Wenn diese Strategie Erfolg hat, kann
man absehen, dass irgendwann ein Referendum nicht
mehr die Interessen der Saharauis widerspiegelt und damit nicht mehr dem eigentlichen Zwecke dient.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir mit diesem gemeinsamen Antrag ein Stück weit vorankommen und ein
Stück gute Politik machen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte
Herren! Mit diesem von allen Fraktionen dieses Hauses getragenen Antrag leisten wir gemeinsam einen Beitrag dazu,
den Westsaharakonflikt dem Vergessen zu entreißen. Wir
drängen auf eine politische Lösung. Das ist auch deshalb
erforderlich, weil dieser seit Jahrzehnten anhaltende Konflikt auch nach dem Waffenstillstand von 1991 noch immer
die Ursache für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen
und die humanitäre Notlage Tausender Flüchtlinge ist.
So berichtet Amnesty International, dass in Marokko
noch immer zahlreiche Menschenrechtsverteidiger, die
als Befürworter der Unabhängigkeit der Westsahara gelten, schikaniert und eingeschüchtert werden.
({0})
Auch wenn 1999 der begrüßenswerte Prozess der
Entschädigung von Opfern des so genannten Verschwindenlassens und von Opfern willkürlicher Festnahmen
begonnen hat, würden die marokkanischen Behörden
noch immer nicht das Verschwinden von mehreren Hundert Menschen aus der Westsahara aufklären, die bis in
die 90er-Jahre hinein Opfer der Methode des Verschwindenlassens wurden.
Gerade weil es in Marokko in anderen Bereichen der
Menschenrechte so beachtliche Fortschritte gibt - ich
nenne nur das vor wenigen Tagen verabschiedete Gesetz
zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern -,
({1})
ist es erforderlich, dass die Menschenrechtsverletzungen, die mit dem Westsaharakonflikt in Zusammenhang
stehen, beendet, aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt
werden.
({2})
Die Forderung unseres gemeinsamen Antrages, dass
die Bundesregierung an Marokko appellieren soll, mit
dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zusammenzuarbeiten, um das Schicksal der seit Beginn des
Krieges vermissten Personen aufzuklären, ist daher besonders wichtig. Auch hierbei darf die Straflosigkeit der
für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen
nicht hingenommen werden.
Jedoch sind in diesem Konflikt nicht nur Marokko Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen. Auch in den Flüchtlingslagern, die unter der Kontrolle der POLISARIO stehen, werden das Recht auf freie Meinungsäußerung, die
Versammlungs- und die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die für die Menschenrechtsverletzungen in
diesen Lagern Verantwortlichen bleiben straffrei und
werden auch nicht an die algerischen Behörden überstellt, damit sie dort vor Gericht gestellt werden können.
Die anhaltende Inhaftierung von über 600 marokkanischen Gefangenen durch die POLISARIO verstößt klar
gegen internationales humanitäres Völkerrecht. Nach
Art. 118 der III. Genfer Konvention müssen alle Kriegsgefangenen „ohne Verzug“ nach Ende der Kampfhandlungen freigelassen werden.
({3})
Die meisten Gefangenen sind jedoch seit mehr als
20 Jahren in Gefangenschaft. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat sich wiederholt besorgt über
den Gesundheitszustand dieser Gefangenen geäußert.
Bisher können diese Gefangenen nur durch den vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz organisierten
Nachrichtenaustausch mit ihren Familien kommunizieren.
Dagegen hat sich die Situation der Flüchtlinge in den
algerischen Flüchtlingscamps insoweit geringfügig
verbessert, als sie seit dem 12. Januar dieses Jahres immerhin die Möglichkeit haben, kostenfreie Telefongespräche mit ihren Angehörigen in der Westsahara zu
führen. Das ist ein Projekt, das der UNHCR im Zusammenhang mit den laufenden vertrauensbildenden Maßnahmen ermöglicht hat.
Trotzdem muss die Lage der über 150 000 Flüchtlinge
aus der Westsahara in den algerischen Flüchtlingscamps
weiterhin Anlass zur Sorge sein. Die Flüchtlinge leiden
an chronischer Unterernährung, an Knappheit von Hilfsgütern, wie es der Generalsekretär der Vereinten Nationen in seinem Bericht vom 19. Januar 2004 erneut festgestellt hat. Gerade aus diesem Grund ist die Aufforderung
an die Bundesregierung, einen Appell an die Geberkonferenz für das World Food Program zu richten, sowie auf
ECHO einzuwirken, für eine hinreichende Unterstützung
hinsichtlich der Ernährungslage dieser Flüchtlinge zu
sorgen, besonders wichtig.
Angesichts dieser humanitären Notlage und der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Westsaharakonflikt ist es in der Tat geboten, auf eine politische Lösung dieses Konflikts zu
drängen. Der Baker-Plan, der hier schon ausführlich dargestellt wurde, bietet hierfür eine Chance. Die Bundesregierung, die diesen Plan unterstützt, muss auch darauf
drängen, alle europäischen Partner dazu zu bewegen,
diesen Referendums- und Friedensprozess zu unterstützen.
Eine solche politische Lösung des Westsaharakonflikts ist nicht nur eine Voraussetzung dafür, die Zusammenarbeit der Westsaharastaaten untereinander zu verbessern. Eine politische Lösung dieses Konflikts würde
auch die Möglichkeiten verstärken, im Rahmen der Zusammenarbeit im Mittelmeerraum, also im Rahmen des
so genannten Barcelona-Prozesses, zu deutlichen Fortschritten zu kommen. Gerade die Maghreb-Staaten erhielten so eine deutlich verbesserte Entwicklungsperspektive. Daher ist es klug, dass wir heute gemeinsam
diese Initiative starten.
({4})
Danke schön. Damit schließe ich die Aussprache. Wir
kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen
Antrag auf Drucksache 15/2391 mit dem Titel „Eine politische Lösung für den Westsaharakonflikt voranbringen - Baker-Plan unterstützen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig
angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang
Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in
Moldau unterstützen
- Drucksache 15/1987 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir, zu Beginn - sicherlich auch in Ihrem
Namen - erst einmal den Botschafter, Herrn Corman, in
unserer Debatte zu begrüßen.
({0})
Es kommt ja häufiger vor, dass wir im Bundestag Anträge behandeln, die sich mit der Situation in anderen
Ländern - egal wie groß und wie weit entfernt sie sind befassen. Insofern überrascht es nicht, dass wir dies auch
heute tun. Allerdings ist es ein Novum, dass wir diesmal
über einen außenpolitischen Antrag zur Republik Moldau sprechen. Das überrascht schon. Schließlich ist das
Land, das zwischen der Ukraine und Rumänien liegt, in
Europa und es hat eine ganze Menge Probleme, die uns
nicht kalt lassen dürfen. Als Länderbeauftragte des
Deutschen Bundestages für die Republik Moldau konnte
ich mich im letzten Jahr sehr intensiv mit den Gegebenheiten in Moldau vertraut machen. Es ist in der Tat so,
dass die dortige Situation besorgniserregend ist. Deswegen finde ich es auch wichtig, dass wir uns heute damit
befassen.
Die Republik Moldau existierte in ihren heutigen
Grenzen erstmals 1941, als sie als Teil der Sowjetunion
zur Sozialistischen Sowjetrepublik Moldau wurde. Mit
dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde diese Republik unabhängig. Aber sie trat ein sehr schweres Erbe an.
Man merkte sehr deutlich, dass es auf beiden Seiten des
Dnjestr unterschiedliche Traditionen gab. Transnistrien
auf der einen Seite ist historisch anders verwurzelt als
das vor allen Dingen rumänisch geprägte Moldau auf
der anderen Seite.
Zu sowjetischer Zeit war Moldau aufgrund der dortigen Landwirtschaft vor allen Dingen der Garten der Sowjetunion, während im transnistrischen Teil vor allem
die Stahl- und Rüstungsindustrie angesiedelt wurde, die
dort bis heute eine wesentliche Bedeutung hat. 1991
brach zwischen diesen beiden Teilen ein blutiger Konflikt aus. Man schätzt, dass er zwischen 800 und 900 Tote
zur Folge hatte. Dabei erhielt die transnistrische Seite
Unterstützung von den sowjetischen und später von den
russischen Truppen, die Teil der 14. Armee der Sowjetunion waren und dort stationiert waren. Im Übrigen sind
sie dort immer noch mit Munition in erheblichem Umfang stationiert.
Das 1992 abgeschlossene Waffenstillstandsabkommen
zwischen dem damaligen Moldauer Staatspräsidenten
Snegur und dem damaligen russischen Präsidenten Jelzin führte dazu, dass Soldaten aus Russland, Moldau und
Transnistrien die Dnjestr-Grenze schützten und dies bis
heute tun. Das ist auch der Grund, warum wir von einem
„frozen conflict“ sprechen. Niemand kann garantieren,
dass es nicht wieder zu neuen Auseinandersetzungen
kommt.
Seit diesem Konflikt 1991 haben die in Moldau demokratisch gewählten, legitimierten und international
anerkannten Regierungen praktisch keinen Einfluss auf
den transnistrischen Teil.
Das selbst ernannte Regime in diesem Teil ist nach allem, was wir erleben und hören, in höchstem Maße autoritär und korrupt. Das Hauptproblem ist die wachsende
organisierte Kriminalität, vor allem die Schmuggelgeschäfte mit allem, was man so schmuggeln kann - mit
Waffen, mit Drogen und, was ich besonders verachtenswert finde, mit Frauen. In beiden Teilen des Landes ist
die Bevölkerung bitterarm: Wenn man nach den ILOStandards misst, liegt die Arbeitslosigkeit in Moldau bei
etwa 30 Prozent; viele leben von Subsistenzwirtschaft.
Der durchschnittliche Monatslohn von umgerechnet
25 Euro reicht kaum zum Leben, vor allen Dingen die
Rentner sind betroffen. Man schätzt, dass etwa zwei
Drittel aller Moldauer mit weniger als 2 Dollar am Tag
auskommen müssen, also in bitterster Armut leben müssen. Infolge der sich verschlechternden Lebensbedingungen sinkt die Lebenserwartung nahezu aller sozialen
Gruppen in Moldau. Die berechenbaren Sozialfaktoren,
die von der UNDP im Human-Development-Index dargestellt werden, machen die desolate Lage in Moldau eigentlich deutlich. Von den 173 ausgewerteten Staaten
rangiert Moldau im Jahr 2002 auf Platz 105 und hat damit in Europa den hintersten Platz.
Aber auch die politische Situation in der Republik
Moldau muss uns zu denken geben. Im demokratischen
Moldau, also in dem Teil Moldaus, in dem demokratische Wahlen stattfinden, gab es zwischen 1991 und 2001
eigentlich eine positive Entwicklung: Politische Freiheiten wurden gewährt, es gab Pluralismus und eine
Parteiendemokratie, die sich stetig verbesserten. Das
Problem war, dass die Regierungen es nicht schafften,
mit den großen Herausforderungen der Transformation
fertig zu werden, das heißt, die wirtschaftliche Situation,
die soziale Lage für die Menschen dort zu verbessern.
Das führte dazu, dass das Vertrauen in die Politik, in die
Parteien, in das System schwankt, sodass wir im Ergebnis bei den Wahlen 2001 erleben konnten, dass eine
kommunistische Regierung mit einer recht stattlichen
Mehrheit gewählt worden ist.
Obwohl sich jetzt in Transnistrien und Moldau zwei
kommunistische Regierungen gegenüberstehen, bekämpfen sie sich auf öffentlichen Schauplätzen, wie es
eben nur möglich ist. Seit der Übernahme der Herrschaft
2001 stellt die kommunistische Partei in Moldau mit
Herrn Woronin den Präsidenten. Dieser hat in den letzten
zwei Jahren viele, wenn nicht fast alle wichtigen Posten
mit Gefolgsleuten besetzt. Die Opposition wird zunehmend bedrängt, politische Freiheiten und demokratische
Spielregeln werden immer wieder missachtet. Rechte für
die Opposition im Parlament gibt es de facto nicht.
Manchmal fragt man sich: Ist die Anwesenheit der Opposition im Parlament denn überhaupt noch nötig, wenn
sie für Abstimmungen nicht mehr erforderlich ist? Leider agiert auch die Opposition nicht immer glücklich
und auch nicht immer geschlossen, was sich in der letzten Zeit aber etwas zu ändern scheint.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon 2007 wird
die Republik Moldau eventuell - durch den Beitritt von
Rumänien - an der Außengrenze der Europäischen
Union liegen. Meines Erachtens ist es nicht schwer zu
erkennen, welche Probleme sich für die EU und auch für
uns ergeben, wenn wir einen Staat als Nachbarn haben,
der zu verfallen droht. Schon heute gehen Schätzungen
davon aus, dass von den 4,3 Millionen Moldauern etwa
800 000 außerhalb Moldaus leben und arbeiten. Da es
historisch viele Verbindungen mit Rumänien gibt, haben viele Moldauer auch rumänische Pässe, sodass zu
befürchten ist, dass die Migration aus diesem Land, auch
in die EU, entsprechend größer wird. Das ist nicht nur
ein Problem für uns, sondern auch ein Problem für das
Land selbst, denn wenn die Elite dort weggeht - die jungen Leute; diejenigen, die gebildet sind -, dann wird dieses Land den wirtschaftlichen Aufschwung nicht schaffen können. Schätzungen zufolge sind nämlich schon
heute etwa 30 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre
alt.
Was muss getan werden und was können wir tun? Das ist ja nicht immer dasselbe. Ich denke, es ist vor allem nötig, die wirtschaftliche Situation zu verbessern
und damit die Lebensbedingungen der Menschen dort zu
verbessern. Aber das wird uns nur gelingen - deswegen
ist das Folgende das Entscheidende -, wenn wir den
Transnistrien-Konflikt gelöst bekommen. Um eine Wiedervereinigung zu ermöglichen und die Demokratisierung zu unterstützen, sind sowohl die OSZE als auch der
Europarat seit vielen Jahren aktiv. Die OSZE-Mission in
Moldau besteht seit elf Jahren und leistet sehr gute Arbeit. Gerade die niederländische Präsidentschaft, die im
letzten Jahr zu Ende gegangen ist, hat große Anstrengungen unternommen, um beide Seiten ins Gespräch zu
bringen. Ein Ergebnis war, dass beide Seiten eine Kommission zur Erarbeitung einer gemeinsamen Verfassung
eingesetzt haben, auch wenn man nicht wirklich vom Erfolg dieser Arbeit sprechen kann. Das deutet aber darauf
hin, wie viele Bemühungen unternommen worden sind.
Ich persönlich glaube, dass wir eine Lösung dieses
Konflikts nur unter Einschluss von Russland erreichen
werden. Wir brauchen die Unterstützung Russlands und
vor allen Dingen auch seinen Willen, dieses Problem zu
lösen. Hierin steckt eine Ambivalenz. Wir alle wissen,
Moldau ist in hohem Maße von Russland abhängig
- insbesondere im Bereich der Energielieferungen - und
mit ihm wirtschaftlich verflochten. Im transnistrischen
Teil gibt es inzwischen viele russische Firmen. Das
heißt, Russland hat Einfluss auf beide Seiten. Es könnte
diese beiden Seiten zusammenführen.
Ich habe aber in wachsendem Maße den Eindruck,
dass die Russen nur dann wirklich für eine Lösung sind,
wenn diese ihnen einen dauerhaften Einfluss in diesem
Land ermöglicht. Das kann wiederum nicht im Sinne
dieses Landes sein. Man muss es sich einmal anschauen:
Trotz Zusagen hat Russland bis heute seine Armee nicht
abgezogen und seine Munition nicht entfernt. Der PutinVertraute und stellvertretende Leiter der Präsidialadministration, Dimitri Kosak, hat ohne die Einbindung der
OSZE, der EU, der USA und des Europarates Parallelverhandlungen für eine gemeinsame Verfassung geführt.
Dementsprechend sah auch das Konzept aus. Auch die
jüngsten Versuche, Moldau für die Gasschulden Transnistriens in die Pflicht zu nehmen, zeigen in diese Richtung. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch ganz
genau, dass die Mehrheit der Bevölkerung zumindest im
moldauischen Teil nicht für eine Anbindung an Russland
zu gewinnen sein wird. Ich halte es für unabdingbar,
dass Russland die Unabhängigkeit und Integrität von
Moldau voll respektiert.
({1})
Herr Staatsminister, meines Erachtens ist es eben
auch an uns, zu versuchen, Russland auf diese Dinge
hinzuweisen und anzusprechen.
({2})
Wir müssen Russland in die Pflicht nehmen. Russland
muss seinen Beitrag zur Konfliktlösung leisten, ohne die
Republik Moldau in dauerhafte Abhängigkeit zu bringen. Moldau ist keine innere Angelegenheit Russlands,
wie es in anderen Fällen gerne ins Felde geführt wird.
Ich denke, das muss ein Thema sein, wenn der Bundeskanzler oder der Außenminister auf ihre Kollegen treffen. Welchen Wert haben Freundschaften, wenn man
nicht auch kritische Worte miteinander sprechen kann?
({3})
Deutschland hat sehr wohl wichtige Beiträge geleistet: Bereits im Dezember 1991 haben wir Moldau diplomatisch anerkannt. Seit 1992 haben wir offizielle Beziehungen. Wir waren die ersten Westeuropäer und lange
Zeit auch die Einzigen mit einer voll funktionierenden
Botschaft in Chisinau. Inzwischen arbeitet sie unglaublich professionell und gut und hat sich im Land eine
große Reputation erworben. Außerdem hat Deutschland
interveniert, nachdem die Kommunisten die Partei der
Christdemokraten willkürlich suspendiert hatten.
Ich finde aber, wir könnten insbesondere im Hinblick
auf die Verbesserung der humanitären und wirtschaftlichen Situation mehr tun. Obwohl Moldau das ärmste
Land in Europa ist, erhält es die wenigsten internationalen Hilfsgelder. In der Zeit von 1991 bis 2003 - das
sind zwölf Jahre - bekam Moldau Hilfsgelder der EU in
Höhe von gerade einmal 66 Euro pro Kopf. Die Bundesregierung hatte sogar geplant, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit in diesem Jahr ganz zu streichen.
Nur aufgrund von Interventionen ist dies nicht geschehen. Ich denke, dass die wirtschaftliche Hilfe für Moldau
Sinn macht.
Allerdings - hier besteht eines der Probleme - muss
Moldau selbst zur Kooperation bereit sein.
({4})
Das hat die Regierung dort lange nicht unter Beweis gestellt. Ich denke hier an die Verbesserung der Investitions- und Rechtsbedingungen im Land und vor allen
Dingen auch an die Grundsatzfrage, die Moldau beantworten muss: Wohin will Moldau gehören? Will es eine
Anbindung an Russland? Will es eine Anbindung an
Europa? Wir haben von dieser Regierung keine klare Politik erlebt. Sie muss sich entscheiden und darf nicht wie
derzeit je nach politischer Großwetterlage hin- und herwanken.
Ich sage aber auch ehrlich: Die EU hat auch nicht
allzu viel dazu beigetragen, den Moldauern diese Entscheidung einfacher zu machen.
({5})
Sie ist kaum präsent. Die Oppositionsfraktionen fordern
schon lange einen EU-Repräsentanten vor Ort. Wo sind
die Vertretungen der anderen europäischen Staaten? Gerade weil wir in Deutschland auf diesem Gebiet einiges
getan haben, sollten wir auch andere Partner in der EU
um Mitwirkung bitten und für einen EU-Repräsentanten
vor Ort werben.
({6})
Derzeit werden von der EU-Kommission auf der
Grundlage des Nachbarschaftskonzepts die Aktionspläne für die einzelnen Länder ausgearbeitet. Wenn es
einen konkreten und substanziellen Aktionsplan gibt,
dann ist das für die Republik Moldau sehr hilfreich. Ich
wünsche mir, dass sich die Bundesregierung dort einbringt, gerade aufgrund der guten Erfahrungen mit unserer Botschaft vor Ort. Für die Ausschussberatungen
wünsche ich mir, dass wir uns auf einen gemeinsamen
Antrag verständigen können, damit wir die Bundesregierung mit einem Mandat für ihre Aktivitäten ausstatten
können.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Nolte, die Schärfe in Ihrer Schlusspassage war, wie
Sie selber genau wissen, nicht angebracht, soweit sie
sich an die Bundesregierung richtete. Die Bundesrepublik Deutschland war das erste Land
({0})
- eben -, das eine Botschaft in Moldau aufgebaut hat. Sie
ist lange Zeit auch das letzte Land geblieben. Allein von
daher leitet sich schon ab, dass sich die Bundesrepublik
Deutschland - das wird auch in Moldau so gesehen nicht im Geringsten verstecken muss.
({1})
- Sie haben es nur angedeutet. Deswegen will ich dies
ganz deutlich hervorheben. Die Bundesrepublik hat dort
ein Zeichen gesetzt. Sie hat deutlich gemacht, dass wir
alles daransetzen werden, dass Moldau eben nicht im
Schatten der Europäischen Union verschwindet.
Für uns ist wichtig, dass Moldau eine Chance bekommt. Allerdings - darauf haben Sie zu Recht hingewiesen - liegt die Chance in Moldau selbst. Die Republik Moldau muss selbst versuchen, sich zu europäisieren. Sie hat dazu die Chance. Der Aktionsplan wird in
diesen Tagen in Brüssel gemeinsam mit den Kollegen
aus der Regierung in Chisinau erarbeitet. Sie werden so
lange miteinander debattieren, bis sie einen ganz konkreten Plan erstellt haben werden. Wenn der vorgegebene
Zeitplan eingehalten wird, dann bedeutet das, dass der
Aktionsplan bereits im Juni dieses Jahres verabschiedet
werden wird.
Das ist ein gutes Zeichen für dieses kleine Land. Es
ist allerdings größer als Slowenien, das jetzt Mitglied der
Europäischen Union wird. Es hat mehr Einwohner als
Estland, das ebenfalls bald Mitglied wird.
({2})
Die 4,5 Millionen Einwohner Moldaus warten darauf,
dass wir mit ihnen gemeinsam eine Perspektive erarbeiten. Wer das Land zwischen Pruth und Dnjestr einmal
besucht hat, der wird erkennen - Sie haben es erwähnt,
das darf man hier lobend hervorheben -, wie schön diese
Landschaft ist. Derjenige, der den Rot- oder Weißwein
liebt, wird erkennen - ich kenne mich damit ein bisschen
aus -, dass dieser Wein von wunderbarer Qualität ist.
({3})
Er ist leider bei uns noch nicht so bekannt, wie es ihm eigentlich zustünde.
Gert Weisskirchen ({4})
({5})
- Davon verstehe ich wiederum nichts. Sie kennen sich
da bestimmt besser aus als ich.
Ganz ernsthaft. Was ich sagen will, ist: Dies ist ein
schönes Land. Es verdient unsere Zuneigung. Es ist ein
Land - Sie haben es erwähnt, Frau Nolte -, in dem viele
arme Menschen leben, die aber gleichzeitig reich an
Freundlichkeit, Offenheit und Zuneigung gegenüber
Deutschland sind. Wer einmal in diesem Land war und
seine Menschen kennen gelernt hat, wird es nicht mehr
vergessen. Es kommt in der Tat darauf an, dass wir eine
kluge und rationale Politik entwickeln. Ich glaube, dass
die Europäische Union mit dem Nachbarschaftskonzept auf einem vernünftigen Weg ist. Ich weiß, dass dies
in der Republik Moldau zunächst nicht konstruktiv aufgenommen worden ist. Dort ist man - das ist völlig verständlich - davon ausgegangen, dass man wie eine Reihe
anderer Länder eine direkte Mitgliedschaftsperspektive
für die Europäische Union erhalten wird. Wären wir dort
Politiker, wie sollten wir eine andere als jene Position
beziehen? Das ist völlig verständlich.
Ich glaube, dass sich die Verantwortlichen in der
Republik Moldau umschauen sollten, wie etwa Kroatien
gegenwärtig mit der Mitgliedschaftsperspektive umgeht.
Kroatien hat bisher keine feste Perspektive, anders als
Slowenien, das nördlich an Kroatien grenzt. Dennoch,
wer einmal in Kroatien gewesen ist, der wird erkannt haben, dass unabhängig davon, wer jetzt regiert - vorher
war das die Sozialdemokratie, jetzt sind es Ihre Parteifreunde -, die unterschiedlichen Gruppen in diesem
Land bereit sind, die europäische Perspektive ernst zu
nehmen. Sie fragen gar nicht lange, was Brüssel dazu
beiträgt, dass Kroatien Mitglied der Europäischen Union
wird. Diese Gruppen sehen vielmehr, dass der Weg nach
Brüssel bei ihnen selber anfängt.
Sie haben sich vor einer Woche an der dreitägigen
Veranstaltung der Südosteuropa-Gesellschaft, deren Präsident unser Kollege Gernot Erler ist, beteiligt. Dort
wurde gesagt: Der Weg nach Brüssel beginnt nicht in
Brüssel, sondern er beginnt in Chisinau. Der richtige Ansatz ist, sich selbst zu modernisieren und sich selbst zu
reformieren, ohne darauf zu warten, bis man von Brüssel
als Partner, der eine Chance auf den Beitritt hat, betrachtet wird. Wenn man sich selbst modernisiert, reformiert
und europäisiert, dann wird man zwangsläufig eine Perspektive haben. Wenn Rumänien und Bulgarien Mitglieder der Europäischen Union sein werden, dann wird sich
die Antwort auf die Frage nach dem Beitritt aus dem Reformprozess heraus fast von alleine ergeben. Dann hat
Moldau eine wirkliche Perspektive, auch Mitglied der
Europäischen Union zu werden. Selbstanstrengung ist
der richtige Weg.
({6})
Die Republik Moldau ist ein Land, das seine Blicke
jetzt auf uns richtet. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung diesen einen Disput, den es zwischen dem
BMZ und dem Auswärtigen Amt gegeben hat - Sie haben ihn erwähnt -, geklärt hat. Es ist jetzt dafür gesorgt,
dass die Finanzmittel wieder in einer Weise fließen können, dass das, was Moldau selber tun kann, wirklich vorangebracht wird. Das muss mit dem sinnvollen Konzept
und dem Aktionsplan der Europäischen Union verknüpft
werden.
Frau Nolte, Sie haben die Zahlen ein wenig dramatisiert. Es waren seit 1991 - da sollten wir fair sein - insgesamt 240 Millionen Euro,
({7})
die von der Europäischen Union für das Land bereitgestellt worden sind. Das ist schon eine ganze Menge. Wir
sind durchaus bereit, unser Engagement aufrechtzuerhalten.
Sie haben in einem weiteren Punkt Recht. Schauen
Sie sich einmal die politische Landschaft in Moldau an.
Sie, Frau Nolte, kennen sie sehr gut. Es gibt nicht nur
Woronin und seine kommunistische Partei, die sehr bürokratisch und zum Teil nicht sehr reformfreundlich ist,
sondern es gibt auch - das muss man leider erwähnen innerhalb der demokratischen Opposition Blockaden.
Der frühere Ministerpräsident Braghis, ein sehr kluger
und vernünftiger Mann, versucht jetzt, eine neue Entwicklung im Land in Gang zu setzen. Wir hoffen alle gemeinsam, dass die demokratischen Gruppen und Parteien in diesem Land eine Chance haben, sich gut zu
entwickeln.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist dort und hilft dabei,
zivilgesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Ich möchte
Sie von der CDU/CSU und die Kollegen von der FDP
bitten: Sorgen Sie auch dafür, dass die KonradAdenauer-Stiftung und andere politische Stiftungen dort
arbeiten.
Gerade weil dieses Land darauf wartet, dass man ihm
hilft, und weil die jungen politischen Kräfte und Gruppierungen versuchen, die demokratischen Institutionen
zu festigen und zu stärken, sollten wir ihnen eine helfende Hand reichen. Sie werden in der Lage sein, dafür
zu sorgen, dass aus diesem wunderbaren Land, dem
Obst- und Weingarten Moldau, ein vernünftiger Partner
für uns alle wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass das
gelingt. Wir sollten unseren Beitrag dazu leisten.
({8})
Ich möchte mit folgender Bemerkung schließen: Der
Fluß Pruth, der die Grenze zwischen Rumänien und
Moldau bildet, entspringt am Howerla, dem höchsten
Berg der Ukraine. In dieser wunderbaren Region ist
Rose Ausländer geboren, die in sehr schönen lyrischen
Bildern ihre Kindheit beschrieben hat und dem Leser
nahe bringt, wie sie versucht hat, mit der Beschreibung
dieser versunkenen Welt ihre eigenen Emotionen und
ihre Hoffnung auf eine gute Zukunft zu verbinden. Leider zerbrachen diese Bilder, als der Krieg mit deutschen
Uniformen ihre Heimat überfiel. Ich möchte die wunderbaren Zeilen zitieren:
Sie kamen mit giftblauem Feuer, versengten unsere
Kleider und Haut.
Gert Weisskirchen ({9})
Sie beendet ihr Gedicht mit den Worten:
Wir waren die Scheiterhaufen unserer Zeit.
Rose Ausländer, die aus dieser Region stammt, war
eine jüdische Lyrikerin, die Bessarabien und Moldau
sehr gut gekannt hat. Wer ihre Zeilen liest, wird wissen:
Diese Region gehört zu Europa. Ich denke, wir alle sollten uns verpflichten, diesem schönen Land eine Chance
zu geben. Moldau ist nicht vergessen.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Rainer
Stinner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben gerade eine Stunde der Harmonie, in der wir
uns in vielen Fragen inhaltlich einig sind. Das begrüße
ich und das eint uns auch. Dennoch müssen wir auch in
dieser Debatte einzelne Details genauer betrachten.
Die Situation Moldaus als ärmstes Land Europas ist
bereits beschrieben worden. Die Situation ist ohne jeden
Zweifel kritisch. Ein Großteil der Bevölkerung hat rumänische Pässe und daher ab 2007 Zugang zur Europäischen Union. All das sind Fakten, mit denen wir fertig
werden müssen.
Moldau steht zurzeit am Scheideweg zwischen der
Orientierung nach Russland oder Europa. Die Entscheidung, welcher Weg eingeschlagen wird, muss - Sie
haben völlig Recht, Herr Weisskirchen - in Moldau getroffen werden. In der Tat erhalten wir aus dieser Region
bisher unklare Signale. Aber wir müssen uns selbst fragen, was wir tun können und tun sollten.
Wir müssen uns fragen, inwiefern es in unserem Interesse liegt, dass wir in dieser Region aktiv werden. Ohne
jeden Zweifel haben Deutschland und Europa ein vitales
Interesse daran, dass Moldau an diesem Scheideweg
nicht von Europa wegrückt, sondern - wie Sie es so
schön ausgedrückt haben, Herr Weisskirchen - zu einem
Teil Europas wird.
Es gibt seit einigen Monaten eine gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie, in der wir expressis verbis
vereinbart haben, dass wir Europäer dafür sorgen wollen, dass um das Kerneuropa herum ein Kordon von
Staaten entsteht, die demokratisch und gesellschaftlich
stabil sind und auch in unserem eigenen wirtschaftlichen
Interesse und Sicherheitsinteresse demokratische Strukturen aufweisen. Darin besteht - darin sind wir uns hoffentlich einig - unser Interesse. Aber wir müssen uns in
diesem Zusammenhang fragen, was die Bundesrepublik
konkret macht. Das ist - in dieser Einschätzung ist die
Meinung in diesem Hause sicherlich geteilt - leider bisher relativ wenig.
Wir leisten wirtschaftliche und technische Hilfe. Das
ist keine Frage; die Zahlen sind bekannt. Aber ein Volumen von circa 8 Millionen bis zum Jahr 2000 ist nicht
gerade viel. Eine politische Heranführung an Europa findet jedenfalls mit aktiver Unterstützung der Bundesregierung bisher nicht statt. Auch im Rahmen des von der
Bundesregierung so hoch gelobten Stabilitäts- und
Wachstumspaktes ist das Land Moldau links liegen gelassen worden. Im Jahre 2002 sind im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumpaktes 170 Projekte vom Auswärtigen Amt finanziert worden. Auf die Republik Moldau
entfielen null. Das ist ja nun kein Ausdruck von großer
Hinwendung zu diesem Staat. Deshalb stelle ich die
Frage: Haben wir Moldau vergessen? Sie werden sicherlich antworten, dass das nicht der Fall sei. Aber was tun
wir aktiv dafür, um es an Europa heranzuführen?
Moldau ist ein weiteres Beispiel der facettenreichen, negativen Deutschland-Russland-Politik, Herr
Weisskirchen.
({0})
Denn Faktum ist, dass sich Russland in Moldau auf eine
Art und Weise benimmt, die für uns nicht akzeptabel ist.
Russland hat 1999 auf der OSZE-Konferenz in Istanbul
versprochen, bis Ende 2002 seine Truppen und Waffen
abzuziehen.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Eine Verlängerung ist bis 2003 gewährt worden. Aber
bisher ist nichts geschehen.
({0})
Daher müssen wir die Bundesregierung drängen, diese
Dinge auch in Gesprächen mit Russland anzusprechen.
({1})
- Wir hoffen das sehr. Aber das hat bisher jedenfalls
nicht zu Folgen geführt. Auch das ist Faktum, Herr
Weisskirchen.
Herr Kollege, achten Sie bitte darauf, dass Sie Ihre
Redezeit bereits überschritten haben. Auch Ihr Kollege
hat schon vorher sehr viel überzogen.
Wir, die Europäer und insbesondere die Deutschen,
haben ein Eigeninteresse, gemäß dem wir handeln sollten. In diesem Sinne ist der Antrag der Union, den wir
unterstützen, ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die CDU/CSU fordert ein Konzept zur Unterstützung
Moldaus auf dem Weg in die Demokratie. Dabei gibt es
bereits eine Vielzahl von Abkommen und Vereinbarungen, die jetzt von der Regierung Moldaus umgesetzt
werden müssen.
In der Republik Moldau ist beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen eine Reihe von Rückschritten zu verzeichnen. Die Schaffung des öffentlich-rechtlichen
Rundfunkwesens geht nicht voran. Bei der Durchführung freier und demokratischer Wahlen sind schwere
Defizite festzustellen. Es gibt unter anderem die Probleme des Schmuggels und des Menschenhandels sowie
den ungelösten Transnistrienkonflikt.
Die Lage ist folgende: Seit Jahren bemühen sich die
OSZE, die EU und der Europarat, die rechtsstaatlichen,
die politischen, die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Strukturen in Moldau zu stärken. Die moldauische Regierung ist mit der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zahlreiche Verpflichtungen
eingegangen. Dazu gehören die Einrichtung eines runden Tisches, die Verbesserung der Mediengesetze, eine
Justizreform und ein anderer Umgang mit der Opposition. Das Kooperationsprogramm mit dem Europarat
in den Bereichen Menschenrechte, Demokratieförderung, Rechtsstaatlichkeit und Erziehungswesen wird in
ein Programm mit der EU-Kommission überführt. Entsprechende Reformen im Innen- und Justizbereich der
Republik Moldau werden von der Bundesregierung unterstützt.
Weiterhin hat man sich im Transnistrienkonflikt auf
einen Beobachterstatus der EU in der bilateralen Verfassungskommission geeinigt. Die Europäische Union hat
das Nachbarschaftskonzept vorgestellt. In Verbindung
mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates
werden differenzierte Aktionspläne auch für die Republik Moldau entwickelt. Ausführliche Vorschläge der
Kommission zu den Bereichen Justiz und Inneres,
Vertiefung der wirtschaftlichen Integration, Investitionsförderung und gemeinsame Sicherheit sind vorgelegt
worden. Die Bundesregierung wird sich an der Ausgestaltung der Aktionspläne aktiv beteiligen.
({0})
Das Kooperationsabkommen zwischen der EU
und Moldau soll die Rahmenbedingungen schaffen, damit Moldau in Zukunft am europäischen Binnenmarkt
teilnehmen kann. Zusätzlich enthält es Vereinbarungen
zur Kooperation in der Industrie, beim Handel, in der
Wissenschaft und in der Verwaltung. Es ist eine Reihe
von bilateralen Institutionen auf Minister-, Parlamentsund Beamtenebene eingesetzt worden. Im Februar dieses
Jahres wird auf der Tagesordnung des EU-MoldauKooperationsrates die Bekämpfung der organisierten
Kriminalität, der Geldwäsche und des Menschenhandels
stehen. Deutschland macht in Gesprächen mit Russland
die Transnistrienfrage immer wieder zum Thema und
drängt auch auf Umsetzung der Verpflichtung Russlands, seine Truppen abzuziehen. Weiterhin setzt sich die
Bundesregierung in der EU-Kommission für die Einrichtung einer EU-Delegation in Chisinau ein.
({1})
Seit 1993 wurden im Rahmen der bilateralen staatlichen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Moldau mehr als
20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aus den Restmitteln der Jahre 1999 und 2000 in Höhe von
4,6 Millionen Euro wird vom BMZ ein Programm zur
Verbesserung der kommunalen Infrastruktur finanziert.
Zusätzlich fördert das BMZ eine moldauische NGO, die
den Frauen und Mädchen, die im Ausland zur Prostitution gezwungen wurden, durch Ausbildung und Existenzgründungsdarlehen neue Perspektiven eröffnet.
Die Konferenz der Südosteuropa-Gesellschaft, die die
Möglichkeiten einer weiteren Annäherung Moldaus an
die EU beleuchtet hat, zeigt, dass Moldau nach wie vor
im Fokus der EU ist. Alle Maßnahmen zielen darauf ab,
Moldau stärker an die EU heranzuführen - wir teilen den
in Ihrem Antrag geäußerten Wunsch - und zu stabilisieren. Gleichwohl gibt es aufgrund der zahlreichen Defizite in Moldau momentan keine Beitrittsperspektive.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
lassen Sie uns das Thema Moldau in den Ausschüssen
sehr sorgfältig beraten. Wir prüfen dann gemeinsam die
vorhandenen Konzepte und den Stand der Umsetzung.
Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass
alle Hilfestellungen, die die OSZE, die EU, der Europarat und auch die Bundesrepublik Deutschland der Republik Moldau zukommen lassen, nur dann greifen können,
wenn der Wille zur Veränderung bei den politisch Verantwortlichen in Moldau vorhanden ist. Diesbezüglich
kommen manchmal erhebliche Zweifel auf.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1987 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesärzteordnung und anderer
Gesetze
- Drucksache 15/2350 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Die Kolleginnen Ober, Brüning, Selg und Caspers-
Merk sowie der Kollege Parr haben gebeten, ihre Reden
zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 15/2350 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 14 a und
14 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dirk Fischer ({2}), Klaus
Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Sicherheit im Busverkehr
- Drucksachen 15/1528, 15/2023 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Paula
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Gerhard Wächter, Dirk Fischer
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergängen
- Drucksache 15/1984 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Wie ich
sehe, gibt es dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Heinz Paula.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Immer wieder erschrecken uns Meldungen über Unfälle
mit Reisebussen. Angesichts der Häufung dieser Unfälle
stellt man sich zu Recht die Frage: Wie sicher sind Rei-
sebusse? Nebenbei bemerkt: Sie gehören zu den sichers-
ten Verkehrsmitteln, die es gibt. Vor allen Dingen muss
gefragt werden: Was muss getan werden, um das Bus-
fahren noch sicherer zu machen?
Das Bundesamt für Güterverkehr hat seine Überwa-
chungen deutlich intensiviert. Allein im ersten Halbjahr
2003 wurden durch den Kontrolldienst des Bundesamtes
4 600 Busse überprüft. Davon wurden 488 beanstandet.
Das entspricht einer Quote von 10,6 Prozent. Wir kön-
nen feststellen: Unsere Bundesregierung handelt. Ein
1) Anlage 3
großes Dankeschön geht an Staatssekretärin Gleicke für
all die Bemühungen, von denen uns im Verkehrsausschuss immer wieder berichtet wird.
({0})
Zum Beispiel wurde im Oktober letzten Jahres eine
Reihe von Maßnahmen, wie - ich möchte nur einige
nennen - die Verschärfung von Sanktionen, wenn Busfahrer oder Busunternehmer gegen wesentliche technische Vorschriften verstoßen, härtere Strafen bei Geschwindigkeitsüberschreitungen usw., vorgestellt.
Die Bund-Länder-Initiative „Reisebussicherheit“
wird weitergeführt. Einig sind wir uns ebenfalls, dass es
schon einen umfassenden rechtlichen Rahmen gibt, auch
europaweit, wie zum Beispiel einheitliche Lenk- und
Ruhezeiten, Gurtausrüstungspflicht der Reisebusse,
Gurtanlegepflicht usw.
Minister Stolpe hat bereits im Mai vergangenen Jahres mit den wichtigsten einschlägigen Verbänden wie
dem BDO und dem VDA Gespräche mit dem Ziel geführt, zur Erhöhung der Bussicherheit beizutragen. Auch
bei allen Verbänden besteht Übereinstimmung, dass der
geltende gesetzliche Rahmen bereits ausreicht.
Kolleginnen und Kollegen, allerdings nützen die bestehenden Vorschriften sehr wenig, wenn sie nicht wirksam kontrolliert werden.
({1})
Die Durchführung von Buskontrollen ist verfassungsrechtlich schwerpunktmäßig Aufgabe der Länder. Daneben ist auch das Bundesamt für Güterverkehr für Kontrollen zuständig. Allerdings - jetzt kommt der wesentliche
Punkt und ich bitte gerade die Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU um große Aufmerksamkeit - kann nur
kontrolliert werden, wenn die Länder auch das Recht einräumen, Reisebusse zur Kontrolle anzuhalten.
Kolleginnen und Kollegen aus Bayern, da fragt man
sich natürlich zuerst: Was macht unser Haupttransitland,
was macht Bayern in diesem Fall? Wie wir wissen, wird
das Anhalterecht verweigert. Als neu gewählter Abgeordneter schreibt man natürlich postwendend dem bayerischen Ministerpräsidenten einen Brief und bittet, er
möge sich in dieser Frage bewegen. Und, siehe da, man
bekommt nach einigen Monaten eine sehr interessante
Antwort.
Der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, Herr Huber,
schreibt am 15. Januar - ich darf zitieren -,
… dass aus fachlicher Sicht eine isolierte Kontrollmöglichkeit des Bundesamtes für Güterverkehr
nicht angezeigt ist.
Weiter:
Die Synergieeffekte gemeinsamer Kontrollen würden verloren gehen, weil bei der zwangsläufig
begrenzten Kapazität des Bundesamtes bei einer
stärkeren Anzahl von Einzelkontrollen GemeinHeinz Paula
schaftsaktionen nicht mehr im bisherigen Umfang
möglich wären.
({2})
Jetzt stellt sich wirklich die Frage: Wieso ist denn
Bayern unbedingt gegen weitere zusätzliche Kontrollen?
Vor allen Dingen fragt man sich, Kolleginnen und Kollegen: Wie wollen Sie denn den Punkt Ihres Antrages realisieren, wonach mit mehr Kontrollen die schwarzen
Schafe tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden
sollen?
({3})
Irgendwie müssen Sie uns schon erklären, wie das
Ganze funktionieren soll.
({4})
Neben verschärften Kontrollen setzen wir natürlich
auch auf präventive Maßnahmen und Qualitätsförderung, und zwar - das ist entscheidend - in enger Zusammenarbeit mit den Busunternehmen. Dabei geht es um
die Einführung eines obligatorischen Fahrsicherheitstrainings für Busfahrer, um ein Gütesiegel für Verkehrssicherheit und um eine anerkannte Qualitätszertifizierung
von Busunternehmen. Mit diesem Maßnahmenbündel
aus gesetzlichen Verschärfungen, verstärkten Kontrollen und Aufbau eines Qualitätsmanagements sind wir
zweifelsohne auf dem richtigen Weg.
Zu Ihrem Antrag ganz kurz, Kolleginnen und Kollegen: In Anbetracht dessen, was bisher bereits in vorbildlicher Weise auf den Weg gebracht worden ist, kann er
eigentlich nur abgelehnt werden. Ich möchte aber trotzdem noch einmal zur Verdeutlichung, gerade an Sie gerichtet, die wesentlichen Punkte zusammenfassen: Verstärkung und Koordinierung der Kontrollen des
Bundesamtes für Güterverkehr auf europäischer Ebene.
Wie Sie wissen, ist Deutschland seit dem 5. April 2001
durch das Bundesamt für Güterverkehr Teilnehmer des
Euro-Controle-Route-Abkommens. Insoweit ist Ihrer
Forderung bereits voll Genüge getan. Darüber hinaus ist
laut EU-Beschluss festgelegt, dass alle relevanten
Neufahrzeuge mit digitalen Fahrtenschreibern ausgerüstet werden müssen. Das obligatorische Busfahrertraining
für Berufskraftfahrer ist ebenfalls seit dem 1. August
2001 neu geregelt.
Wenn wir es jetzt noch schaffen - mit Ihrer Unterstützung, Kolleginnen und Kollegen gerade von der CSU -,
auch Bayern zu überzeugen, sodass in Zukunft verstärkt
Buskontrollen durchgeführt werden können, ist eines
festzustellen: Wir sind auf dem absolut richtigen Weg.
Von daher gesehen bitte ich um Verständnis, wenn ich
sage: Dieser Antrag kann nur abgelehnt werden.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volkmar Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Paula, es ist sicherlich richtig,
dass eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet worden
sind. Aber die Ereignisse in den letzten Wochen zeigen,
dass diese Maßnahmen noch nicht ausreichen und dass
man über die Problematik auch nicht oft genug reden
kann. Es ist auch schade, dass hier im Parlament zu so
später Stunde darüber geredet wird.
({0})
Der Bus ist dank hoher Sicherheitsstandards und vieler verantwortungsbewusster Busfahrer immer noch das
sicherste Verkehrsmittel, noch vor Bahn und Flugzeug.
Doch damit können wir uns angesichts der Nachrichten
von Busunglücken aus Europa nicht zufrieden geben.
({1})
Diese Unglücke - darin sind wir uns einig - bringen viel
menschliches Leid. Jede Möglichkeit, die hilft, auch nur
ein Menschenleben zu retten, verdient unsere besondere
Aufmerksamkeit.
({2})
Ganz verhindern können wir Unglücke natürlich
nicht. Ich sage das auch aus einem aktuellen Anlass. Erst
am vergangenen Wochenende kam es in meiner Heimat
bei Bad Klosterlausnitz, nicht einmal 10 Kilometer von
meinem Heimatort entfernt, zu einem schrecklichen Busunglück mit drei Toten und über 40 Verletzten. Touristen
aus Dänemark waren auf dem Weg zum Skiurlaub nach
Österreich, als eine norwegische Busfahrerin die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Liebe Kollegen, ich
möchte an dieser Stelle den Einsatzkräften vor Ort nochmals für ihre schnelle und professionelle Hilfe danken.
Sie haben noch mehr menschliches Leid verhindert.
Gleichzeitig möchte ich den Angehörigen der Opfer unser tiefes Mitgefühl aussprechen und den Verletzten alles
Gute für ihre Genesung wünschen.
Dieser letzte Busunfall zeigt uns auf erschreckende
Weise nicht nur die europäische Dimension des Problems, sondern auch die Grenzen unserer Möglichkeiten
recht deutlich. Der Unfall in Bad Klosterlausnitz ist
wahrscheinlich auf menschliches Versagen zurückzuführen. Aber wir müssen auch bedenken: Die Arbeitsbedingungen für die Busfahrer werden immer komplizierter.
Deutschland ist ein Transitland. Das heißt, wir werden
im Hinblick auf die EU-Osterweiterung mit einem weiteren Anstieg des Verkehrsaufkommens rechnen müssen.
Wir diskutieren in diesen Tagen im Verkehrsausschuss den Bundesverkehrswegeplan. Wir treffen unsere
Entscheidungen nach Verkehrsaufkommen, nach dem
Kosten-Nutzen-Verhältnis und nach blanken Zahlen. Der
Faktor Sicherheit kommt zu kurz. Dabei müssen wir
aber gerade den Sicherheitsaspekt viel stärker als Kriterium in unsere Entscheidungen einfließen lassen, wenn
es beispielsweise um Umgehungsstraßen oder um Bahnübergänge - auch das ist heute Thema der Debatte geht. Es geht schließlich um die Sicherheit auf unseren
Straßen und damit um die Sicherheit der Menschen.
Ich sagte es bereits: Der Bus gehört zu den sichersten
Verkehrsmitteln. Zudem ist Busreisen eine umweltfreundliche und kostengünstige Ergänzung zum Individualverkehr. In Deutschland wurden im vergangenen
Jahr über 100 Millionen Fahrgäste mit Bussen befördert.
Doch gerade wegen der ungewöhnlichen Häufung von
Unfällen in der letzten Zeit dürfen wir bei der Sicherheit
nicht zurückstecken. Hierbei sollten wir auch auf eine
europäische Harmonisierung achten. Unabhängig von
allen Maßnahmen, die bisher getroffen worden sind,
muss sich die Bundesregierung mit den bestehenden Defiziten auseinander setzen und - der Meinung sind wir
jedenfalls - spätestens bis zum Jahresende ein entsprechendes Verkehrskonzept vorlegen. Hier darf es keinerlei Tabus geben; denn es geht um die Sicherheit auf unseren Straßen und das ist das höchste Gut.
({3})
Als Sofortmaßnahmen fordern wir in unserem Antrag
von Verkehrsminister Stolpe nochmals nachdrücklich:
Die Kontrollen durch das Bundesamt für Güterverkehr
müssen im Zusammenwirken mit den Polizeien der Länder verstärkt werden. Wenn die Polizei in Bayern in der
Lage ist, diese Kontrollen effektiv durchzuführen - das
kann ich auch für unsere Polizei in Thüringen sagen -,
dann können das die Polizeien machen und dann ist der
Einsatz des Bundesamts für Güterverkehr nicht unbedingt erforderlich. Wichtig ist dabei: Das aufgedeckte
Fehlverhalten darf nicht nur dem Kraftfahrt-Bundesamt
gemeldet werden, sondern muss auch der für die Zulassung des Unternehmens zuständigen Behörde vor Ort
gemeldet werden. Nur dadurch kann man die schwarzen
Schafe schnell erkennen und aussortieren.
Zusätzlich müssen wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern auf den wichtigsten Urlaubsstrecken
die bestehenden Kontrollsysteme verstärken, weil gerade auch im europäischen Ausland schlimme Unfälle
passiert sind und eines klar ist: Ungefähr ein Viertel aller
Busunfälle beruht auf der Überschreitung der Lenkzeiten.
Zugleich - auch darauf muss man noch einmal hinweisen und dieses mit Nachdruck einfordern - ist europaweit die Verpflichtung zum Einbau eines digitalen
Fahrtenschreibers durchzusetzen, um so die Manipulationsmöglichkeiten an den Fahrtenschreibern zu minimieren. Ganz verhindern wird man sie wahrscheinlich
nicht können.
Schließlich fordern wir ein obligatorisches Fahrsicherheitstraining für die Busfahrer, damit gerade typische Gefahrensituationen in der Praxis geübt werden
können und so auch eigenes Fehlverhalten abgestellt
werden kann.
Neben diesen Maßnahmen, die sofort Wirkung zeigen, sollten wir auch die Entwicklung technischer
Möglichkeiten zur Erhöhung der aktiven Sicherheit an
Fahrzeugen vorantreiben und den gesetzlichen Rahmen
dazu schaffen. Wir unterstützen die im Zuge der europäischen Harmonisierung vorgesehene Einführung von aktiven elektronischen Warnsystemen in Bussen, die etwa
den Sekundenschlaf anzeigen oder beim ungewollten
Wechsel der Fahrspur ein Warnsignal abgeben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Zeit
ist um. Ich komme deswegen zum Schluss: Wir sind der
Auffassung, das Thema Sicherheit im Busverkehr eignet
sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen.
Darin sind wir uns einig. Es geht hier ja letztendlich um
die Sicherheit auf unseren Straßen und Autobahnen und
damit um Menschenleben. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Danke schön.
({4})
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Peter Hettlich das
Wort und gratuliere ihm im Namen des ganzen Hauses
zu seinem heutigen Geburtstag.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich freue mich, dass es mir gelungen ist,
meinen Geburtstag auf den heutigen Tag zu schieben,
und bedanke mich für die Gratulationen, die ich von vielen Leuten in schriftlicher oder in mündlicher Form bekommen habe. Ich werde diesen Geburtstag also so
schnell nicht vergessen.
Das Jahr 2003 war für die deutschen Busunternehmen
kein gutes Jahr. Man könnte sogar von einem sehr bitteren Jahr sprechen, denn die Bemühungen der Akteure
um mehr Sicherheit im Busverkehr erlitten mehrere
herbe Rückschläge. Nach wie vor ist der Bus ein sicheres Verkehrsmittel. Aber wir dürfen unsere Augen nicht
vor der Tatsache verschließen, dass sich die Situation im
vergangenen Jahr offensichtlich deutlich verschlechtert
hat. Dabei darf uns die allseits bekannte Statistik nicht
beruhigen, die für die Bussicherheit einen Wert von nur
0,16 getöteten Insassen pro Milliarden Personenkilometer für das Jahr 2002 ausweist. Damit wäre der Bus nach
wie vor das sicherste Verkehrsmittel deutlich vor der
Bahn, dem Flugverkehr und dem motorisierten Individualverkehr.
In diese Berechnung gehen allerdings nur die Busunfälle in Deutschland ein. Wir müssen unser Augenmerk
aber leider auch auf die Unfälle richten, an denen deutsche Busunternehmen im Ausland beteiligt waren. Ich
erinnere in diesem Zusammenhang nochmals an die
schrecklichen Unfälle von Lyon mit 28 Toten, von Siofok mit 33 Toten oder an den Unfall am 20. Dezember
letzten Jahres an der belgisch-französischen Grenze mit
elf Toten.
Nach unseren Recherchen waren 2003 bei zwölf Unfällen insgesamt 80 getötete Deutsche europaweit zu beklagen; diese Unfälle müssen wir deutschen Busunternehmen zuordnen. Sie entfallen beinahe ausschließlich
auf den Gelegenheitsverkehr, das heißt den Fernreiseverkehr. Im Linienverkehr kommt es dagegen nur selten
zu Unfällen mit Todesfolgen, sodass hier für 2003 eigentlich eine Null oder maximal eine Eins anzusetzen
wäre.
Wenn wir jetzt berücksichtigen, dass auf den Gelegenheitsverkehr circa 10 Prozent der beförderten Personen entfallen, jedoch 28 Prozent der Personenkilometer,
und wir die Zahl der getöteten Insassen diesen beiden
Gruppen, Linien- und Gelegenheitsverkehr, zuordnen, so
ergibt sich ein völlig anderes Bild. Für den Linienverkehr ergibt sich jetzt nämlich ein Wert von 0,02 getöteten Insassen je Milliarden Personenkilometer, für den
Gelegenheitsverkehr, also den Fernverkehr, dagegen von
3,5 bis 4,0 getöteten Insassen je Milliarden Personenkilometer. Durch die Berücksichtigung der europaweiten
Zahlen ergibt sich für den Busverkehr sogar ein Gesamtwert von größer als Eins. Damit ergibt sich eine völlig
andere Rangfolge. Zunächst kommt der Linienverkehr
per Bus mit 0,02 getöteten Insassen je Milliarden Personenkilometern, dann die Bahn mit 0,56, dann der Busverkehr insgesamt mit 1,08, dann der Flugverkehr und
dann der Gelegenheitsverkehr, also der Busfernverkehr,
mit 3,77. Der Wert für den motorisierten Individualverkehr liegt nach wie vor bei 7,3.
Wir können also feststellen, dass der Bus nach wie
vor ein sicheres Transportmittel ist. Wir können an dieser Berechnung aber auch erkennen, dass es Handlungsbedarf gibt. Wir müssen handeln, wenn wir nicht wollen,
dass das Vertrauen der Kunden in dieses Verkehrsmittel
nachhaltig erschüttert wird.
Daher hat die Politik zu Recht bereits eine Vielzahl
von Maßnahmen eingeleitet, von denen ich nur die wesentlichsten nennen möchte: Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzern; scharfe und nochmals verschärfte
Sanktionen bei Verstößen gegen Geschwindigkeitsvorschriften; europaweit einheitliche Lenk- und Ruhezeiten;
Gurtausrüstungspflicht; Gurtanlegepflicht; Neuregelung
der Berufskraftfahrerausbildung; Durchführung intensiver Kontrollen - 400 Prozent über dem europäischen
Durchschnitt - in enger Zusammenarbeit mit den Ländern und dem BAG. Insofern halte ich den Antrag der
CDU/CSU für überzogen, was die Verschärfung und
Ausweitung der Kontrollen angeht. Ich kann nicht sehen,
dass dieser Antrag zielführend ist. Darüber hinaus wird
dieses Jahr - hoffentlich im August - für Neufahrzeuge
der digitale Fahrtenschreiber eingeführt. Alle diese Maßnahmen werden sicher dazu führen, dass die Sicherheit
im Busverkehr verstärkt wird.
Auch die Omnibusunternehmen und ihre Verbände
sowie die Omnibushersteller sind sich ihrer Verantwortung bewusst und arbeiten aktiv an einer Verbesserung
der Sicherheit im Busverkehr mit, unter anderem durch
konzertiertes Vorgehen gegen schwarze Schafe in ihren
eigenen Reihen, durch erweitertes Sicherheitstraining
für Omnibusfahrer und durch die Einführung aktiver und
passiver Sicherheitspakete in der Fahrzeugtechnik, zum
Beispiel Antiblockiersystem, elektronisches Bremssystem, elektronischer Bremsassistent oder das elektronische Stabilitätsprogramm.
Diese Maßnahmen haben ein Ziel: Wir müssen alles
tun, damit der Schwachpunkt in diesem Transportsystem, nämlich der Mensch, durch flankierende Maßnahmen weiter gestärkt und unterstützt wird. Eine breit angelegte Fahrerschule, wie dies bdo und RDA favorisieren,
kann hier sicherlich einen Lösungsbeitrag liefern.
Andererseits halte ich es auch für sehr wichtig - der
Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen -, dass wir
durch die beschleunigte Entwicklung und Einführung
von technischen Innovationen wie zum Beispiel dem
Spurassistenten oder dem intelligenten Tempomat den
Busfahrern effektive Unterstützungsinstrumente an die
Hand geben. Auch wenn diese Neuerungen nicht zum
Nulltarif zu bekommen sind, die Sicherheit der Passagiere muss weiterhin oberste Priorität genießen. Daher
sind auch die Verbände ausdrücklich aufgefordert, hier
in ihren Bemühungen nicht nachzulassen.
Ich wünsche mir und uns allen, dass das Jahr 2004 ein
positives Jahr für die Busbranche wird, dass sie das verloren gegangene Vertrauen zurückgewinnen kann und
dass uns - Iris Gleicke möge es mir verzeihen - Unterrichtungen über schwere Unfälle in unserem Ausschuss
erspart bleiben.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon ironisch gesagt worden: Das Thema Verkehrssicherheit zu telegener Zeit im fast vollen Plenum
des Deutschen Bundestages. Dabei sind die Probleme sicherlich ernst zu nehmen, gerade im Busbereich. Der
Unfall an der belgischen Grenze ist schon angesprochen
worden. Der Busunternehmer kommt aus der Fränkischen Schweiz, aus der Nähe meines Wahlkreises. Der
Unfall hat deutlich gemacht, dass das ständige Rufen
nach neuen technischen Vorschriften, die gewissermaßen
reflexhafte Reaktion auf einen Unfall, mit der Forderung, weitere technische Geräte einzubauen, erkennbar
nicht ausreicht; denn offensichtlich war der Faktor
Mensch, derjenige, der das Fahrzeug bedient, in den
meisten Fällen die Schwachstelle.
Deshalb muss überlegt werden: Muss man die Kontrollen nicht vielleicht doch noch verschärfen? Aus meiner Sicht ist und bleibt eines der großen Probleme des
GüKG, das am 1. Juli 1998 in Kraft getreten ist, dass die
Kontrollrechte des Bundesamtes für Güterverkehr
im Bereich Bus nicht so ausreichend zur Verfügung stehen, wie sie vom Bundestag zunächst vorgesehen waren,
und zwar aufgrund einer aus meiner Sicht nicht mehr
nachvollziehbaren Begründung der Länder. Diese ist
Horst Friedrich ({0})
schon gar nicht mehr nachvollziehbar, wenn man weiß,
dass das Bundesamt für Güterverkehr knapp 900 Mitarbeiter zusätzlich bekommt, die eigentlich die Maut kontrollieren sollten, was sie nun - durch die kurzfristige
Verzögerung der Maut - aber nicht können, und die deshalb für andere Aufgaben zur Verfügung stehen, denn sie
werden ja bezahlt. Deswegen, sehr verehrte Frau Staatssekretärin, wäre es aus liberaler Sicht, sicherlich angemessener, der Herr Verkehrsminister würde sich nicht
um ein neues Qualitätssiegel für Busse kümmern, sondern mit den Ländern reden, um vielleicht bei diesem
Thema weiterzukommen.
Herr Kollege Paula, bei aller Akzeptanz: Ihr Brief an
den bayerischen Ministerpräsidenten löst das Problem
sicherlich nicht. Da muss man schon mehr Hintergrund
bieten.
({1})
Aufgrund Ihrer Haltung im Ausschuss und vor dem Hintergrund dessen, was Sie gesagt haben, wundert es mich,
dass Sie den Antrag ablehnen.
Diese Position trifft sicherlich auch für den Antrag
mit dem Titel „Mehr Sicherheit an unbeschrankten
Bahnübergängen“ zu, in dem reflektierende Hinweisschilder an unbeschrankten Bahnübergängen gefordert werden und über den wir später im Ausschuss debattieren werden. Man muss hinsichtlich der Unfälle an
unbeschrankten Bahnübergängen zur Kenntnis nehmen,
dass der eine oder andere Autofahrer bzw. die eine oder
andere Autofahrerin der Meinung ist, dass ihm bzw. ihr
nichts passieren kann, wenn der Zug noch nicht da ist.
Bei mir in der Region hat es in letzter Zeit sogar Unfälle
an Bahnübergängen mit Halbschranken gegeben. Es gibt
offensichtlich Todesmutige, die meinen, dass man noch
zwischen den geschlossenen Halbschranken hindurchfahren kann.
({2})
Sie wundern sich dann, dass sie auf dem Gleiskörper auf
den Zug treffen.
Es gibt in Niederbayern einen Versuch auf freiwilliger
Basis, bei dem die Bahnübergänge mit reflektierenden
Andreaskreuzen ausgestattet worden sind. Siehe da: In
den Landkreisen ist die Zahl der Unfälle an unbeschrankten Bahnübergängen drastisch zurückgegangen.
Deswegen freue ich mich auf die Beratung und die relativ gute Behandlung dieses Themas im Ausschuss in der
Hoffnung, dass Rot-Grün diesmal nicht Nein sagt.
Ansonsten glaube ich, dass wir das Thema Verkehrssicherheit noch des Öfteren in diesem Hause debattieren
werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Wright.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
Friedrich hat schon vom ersten Antrag der CDU/CSU
mit dem Titel „Sicherheit im Busverkehr“ zum zweiten
Antrag mit dem Titel „Mehr Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergängen“ übergeleitet.
Hintergrund des Antrages mit dem Titel „Mehr Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergängen“, der heute
eingebracht und dann im Fachausschuss beraten wird,
sind tragische Unfälle an unbeschrankten Bahnübergängen. Etwas zum Trost: Die Zahl der Unfälle an
Bahnübergängen in Deutschland ist insgesamt rückläufig. Dies ist uns Ansporn, die Zahl noch weiter zu senken.
Zu den Tatsachen. Nur rund 12 000 der bundesweit
mehr als 26 000 Bahnübergänge sind mit Schranken und
Signallichtern ausgestattet. Die Mehrzahl - das sind
14 000 - ist unbeschrankt.
Vorrangiges Ziel der Verkehrspolitik der rot-grünen
Koalition und jeder Verkehrspolitik - das haben wir
heute schon oft gehört - muss die Erhöhung der Verkehrssicherheit und damit der Schutz der Verkehrsteilnehmer sein. Aus diesem Grund begrüße ich die Intention des Antrages, wenngleich er einseitig ist und nicht
dem aktuellen Stand entspricht.
Es hat mich erstaunt, dass keine Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit an Bahnübergängen mit Blinklicht bzw. Lichtzeichen ohne Halbschranken gemacht
wurden. Eine Statistik der Deutschen Bahn AG aus dem
Jahre 2002 belegt, dass an Bahnübergängen mit Lichtzeichen ohne Halbschranken die Unfallhäufigkeit pro
Bahnübergang viermal so hoch ist wie an nicht technisch
gesicherten Bahnübergängen.
({0})
Das ist etwas schwierig zu begreifen. Aber diese Beobachtung hat die Bahn gemacht. Man kann das nachlesen.
Ich werde Ihnen die entsprechende Unterlage im Ausschuss zeigen.
An oberster Stelle des Maßnahmenkataloges müssten
daher technische Maßnahmen wie die Nachrüstung mit
Voll- oder Halbschranken stehen. Ich weiß, das ist die
teuerste Anlage. Dennoch müsste diese Nachrüstung unser Ziel sein, insbesondere bei Bahnübergängen, die häufig von Schul- und Linienbussen oder Touristenbussen
überquert werden.
Ich begrüße auch die von der Bundesregierung vorgeschlagene Maßnahme, die straßenbauliche Situation in
den Zufahrtsbereichen von Bahnübergängen insgesamt
zu verbessern. Das ist sicherlich richtig.
Ein Satz zu der Maßnahme, auf die Sie am meisten
fokussieren, nämlich zu dem Andreaskreuz auf gelber
Hintergrundtafel. Vorliegende Ergebnisse eines PilotHeidi Wright
versuches zeigen - anders als es der Kollege Friedrich
dargestellt hat -, dass Verbesserungen im Fahrverhalten
infolge der hohen Auffälligkeit der gelb-fluoreszierenden Hintergrundtafel wegen der sich dann einstellenden
Gewöhnung nur von kurzer Dauer sind.
({1})
Gerade die Ergebnisse in Bayern zeigen - die entsprechenden Zahlen werden wir im Ausschuss beraten -,
dass diese Maßnahme eben nicht zielführend ist.
({2})
Weiter greife ich aus dem Maßnahmenkatalog des
Antrages die Kombination von Andreaskreuz und
Stoppschild auf. Dazu eine Hintergrundinformation:
Eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Bahn lässt vermuten, dass wahrscheinlich mehr als 20 Prozent der Befragten die Bedeutung des Andreaskreuzes als Wartepflichtgebot nicht kennen.
({3})
- Das ist ein richtiger Vorschlag. - Trotz der laufenden
Informations- und Aufklärungskampagne müssen dauerhaft wirksame Maßnahmen zu einer Verdeutlichung
der Wartepflicht an Bahnübergängen ergriffen werden. Naheliegend ist in der Tat, ein Verkehrsschild wie
das Stoppschild in Betracht zu ziehen, da dessen Bedeutung allen Verkehrsteilnehmern bekannt sein dürfte.
Der zuständige Bund-Länder-Fachausschuss prüft zurzeit gemeinsam mit dem Eisenbahn-Bundesamt und der
Deutschen Bahn AG, ob die Umsetzung dieser Maßnahme einen zusätzlichen Sicherheitsgewinn erwarten
lässt.
Hier sind wir meines Erachtens an einem kritischen
Punkt: Es gibt zu viele Zuständigkeiten. Es reden zu
viele mit. Es gibt zu viele Ebenen. Es gibt zu viele Meinungen und es passiert über Jahrzehnte zu wenig. Sie
kennen den einfachen Spruch: Gefahr erkannt, Gefahr
gebannt. Bei kompetenz- und länderübergreifenden Regelungen scheint dies nicht zuzutreffen. Alles dreht sich
viele Male, ohne dass wirklich etwas zum Schutz der
Verkehrsbeteiligten und zur Verkehrssicherheit geschieht. Dies führt zu einem Fazit mit tragischen Folgen:
Man war nicht untätig; aber es ist nichts passiert, bis etwas passiert.
Ich erkenne die Intention Ihres Antrages und freue
mich auf die Beratungen im Ausschuss. Es gibt viel zu
tun; dies wurde mir von vielen Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion signalisiert. Ihr Antrag ist etwas
einseitig. Wir werden ihn miteinander beraten, uns die
Zahlen noch einmal genauer ansehen, Herr Friedrich,
und zu einem guten Ende kommen.
({4})
Als letztem Redner erteile ich jetzt dem Abgeordneten Gero Storjohann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute über einen Antrag meiner
Fraktion, in dem wir fordern, dass es endlich zu mehr
Verkehrssicherheit an unbeschrankten Bahnübergängen kommt. Es gibt viel zu tun. Es wäre schön, wenn
ein gemeinsames Signal dieses Parlaments an die Verantwortlichen gehen würde. Damit würden wir viel mehr
erreichen.
({0})
Es handelt sich bei unbeschrankten Bahnübergängen
um gefährliche Todesfallen. Das hat auch ein gewisser
Herr Werner Kuhlmann aus Verl vor sechs Jahren erfahren müssen. Er hat nämlich persönlich beobachtet, wie
ein Güterzug an einem unbeschrankten Bahnübergang
ein Auto rammte und wie dabei ein junges Mädchen direkt vor seinen Augen starb. Dieses schlimme Erlebnis
hat ihn auf die Idee gebracht, uns Politikern eine neue
Schilderkombination anzudienen, um an unbeschrankten
Bahnübergängen eine Verbesserung herbeizuführen, die
nicht besonders viel Geld kostet.
Sie wissen, wie viele unbeschrankte Bahnübergänge
es in Deutschland gibt und wie viele Unfälle dort passieren; die Zahlen gehen aus unserem Antrag hervor.
Ich möchte auf einen Versuch in meiner schleswigholsteinischen Heimat eingehen. Im Bereich Eutin
wurde ein Versuch mit einer besonderen Schilderkombination an unbeschrankten Bahnübergängen unternommen, und zwar rechtswidrig, wie sich im Nachhinein
herausstellte. Diese Schilderkombination wurde dann
abgebaut. Kurze Zeit später stellten sich wieder Unfälle
ein. Insofern widerspreche ich ausdrücklich der Behauptung, durch neue Schilderkombinationen könne eventuell ein Gewöhnungseffekt hervorgerufen werden.
({1})
Kollege Friedrich hat auf Versuche in Bayern mit einem gelb leuchtenden Schild unter dem Andreaskreuz
hingewiesen. Auch hier gab es nur positive Rückmeldungen. Deswegen lautet unser Appell an die Mehrheitsfraktionen, sich gemeinsam für eine neue Schilderkombination einzusetzen.
Natürlich wäre es sinnvoller, in Technik mit Halbschranken oder Vollschranken zu investieren. Diese
Maßnahmen kosten aber in der Regel 300 000 Euro. Sie
können sich leicht ausrechnen, wie weit wir bei 12 000
unbeschrankten Bahnübergängen mit dem Geld kommen
würden, das zur Verfügung steht. Deswegen sollten wir
nicht nur reden. Wir brauchen endlich Erfolge.
({2})
Auch aus dem Ausland gibt es positive Erfahrungen
zu vermelden. Leuchtende Verkehrsschilder werden bereits in den Niederlanden, in Belgien, in Österreich, in
Italien, in Spanien und in Großbritannien verwendet und das erfolgreich. Deswegen noch einmal der Appell
an uns: Wir müssen jetzt handeln. Ich freue mich auf die
Beratungen im Ausschuss.
Ich fordere Sie deshalb auf: Stimmen Sie unserem
Antrag in den Beratungen zu. Es dient nicht nur der Verkehrssicherheit, es dient unserem gemeinsamen Erlebnis, dass wir etwas für die Verkehrssicherheit getan haben.
Ich bin noch nicht lange im Parlament, aber angesichts der Busunfälle und der Unfälle an unbeschrankten
Bahnübergängen, die ich in dieser Zeit schon erlebt
habe, bin ich immer stärker der Auffassung, dass wir
handeln müssen. Ich habe Ihnen auch ein Beispiel dafür
mitgebracht, wie ein entsprechendes Schild aussehen
kann.
({3})
Da sieht man sogar in einem großen Parlament, in dem
gerade nicht viele Abgeordnete sitzen, wer die entsprechende Kraft hat.
Ich wünsche uns gute Beratungen.
({4})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/2023 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Sicherheit im Busverkehr“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
15/1528 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1984 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Arbeitsmarktzugang im Rahmen der EU-Erweiterung
- Drucksache 15/2378 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Abgeordneten Krüger-Leißner, Hofbauer, Schulz
({1}) und Winterstein haben darum gebeten, ihre Re-
den zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einver-
standen? - Dann verfahren wir so.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2378 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes
2005 ({2})
- Drucksache 15/2249 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen
Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara
Hendricks.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Im Osten Deutschlands hat in den 13 Jahren seit
der deutschen Vereinigung ein umfassender Modernisierungsprozess stattgefunden. Trotz aller Anstrengungen,
die ganz Deutschland unternommen hat, reicht diese Basis für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung
und ein ausreichendes Arbeitsplatzangebot leider noch
nicht aus.
({0})
Die Zahl der Erwerbstätigen hat abgenommen. Die Be-
völkerungszahl in den neuen Ländern ist seit Mitte der
90er-Jahre geringer geworden. Die Arbeitslosenquote in
den neuen Ländern liegt weit über dem Bundesdurch-
schnitt. Arbeitslosigkeit und Abwanderung von jungen
und gut qualifizierten Arbeitsuchenden sind Ursachen
vieler ostdeutscher Probleme. Trotz beachtlicher Anpas-
sungsfortschritte besteht noch immer ein Produktivitäts-
rückstand gegenüber dem Westen Deutschlands. Zu den
Defizitbereichen der ostdeutschen Wirtschaft gehören
die zu schwache Investitionsdynamik und - trotz einer
ermutigenden Entwicklung - die immer noch zu schmale
industrielle Basis.
Deswegen bleibt die Fortsetzung der Investitions-
förderung in den neuen Ländern ein zentraler Baustein
1) Anlage 4
der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Investitionen sind die Triebfeder jeder wirtschaftlichen Entwicklung. Die Gemeinschaftsaufgabe der Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur und die Investitionszulage bilden dabei die Eckpfeiler. Die Erfahrungen der
letzten Jahre haben bewiesen: Die Zulagenförderung hat
vielfältige Investitionsanreize für die Ansiedlung und
das Wachstum von Betrieben des verarbeitenden Gewerbes in den neuen Bundesländern geschaffen. Die Chancen der geförderten Regionen im Wettbewerb um Unternehmensansiedlungen konnten gestärkt und bestehende
Standortnachteile abgebaut werden.
Die Bundesregierung ist daher der Auffassung, dass
das Ende 2004 auslaufende Investitionszulagengesetz
von 1999 einer gleichwertigen Anschlussregelung bedarf. Sie begrüßt deshalb die Bundesratsinitiative für ein
Investitionszulagengesetz 2005 ausdrücklich. Die Bundesregierung hat das Gesetzesvorhaben von Anfang an
unterstützt. Die Weichenstellung hierfür haben der Bundeskanzler und die Regierungschefs der alten und neuen
Länder bereits im Sommer 2003 vorgenommen.
({1})
Wichtig ist, dass wir frühzeitig Planungssicherheit
für die Investoren schaffen. Deswegen ist es notwendig,
dass wir rechtzeitig vor Auslaufen der geltenden Zulagenförderung über die Nachfolgeregelung entscheiden.
Durch das Investitionszulagengesetz 2005 sollen in
den Jahren 2005 und 2006 getätigte Investitionen in Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und der produktionsnahen Dienstleistungen in den neuen Ländern und
Berlin weiterhin gefördert werden. Mit diesem Gesetz
und der damit verbundenen Verlängerung der Investitionszulage um weitere zwei Jahre schöpfen wir die, uns
mit den EU-Beihilferegelungen gegebenen Möglichkeiten voll aus und leisten einen deutlichen Beitrag, den
wirtschaftlichen Aufholprozess Ostdeutschlands weiter
voranzutreiben.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Kolbe von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Investitionszulagengesetz 1999 läuft zum
Ende dieses Jahres aus. Der heute eingebrachte Gesetzentwurf schafft eine Nachfolgeregelung für die Jahre
2005 und 2006. Meine Fraktion begrüßt das ausdrücklich, denn - ich zitiere den einstimmig beschlossenen
Gesetzentwurf des Bundesrates -: Die Förderung von
betrieblichen Investitionen in den neuen Ländern durch
eine Investitionszulage ist nach wie vor geboten.“
Sie ist nach wie vor geboten, weil die wirtschaftliche
Entwicklung im Osten trotz unbestrittener Fortschritte in
den letzten 13 Jahren im Ganzen seit 1998 doch eher enttäuschend verlief. Seit 1998 stagniert das Wirtschaftswachstum im Osten. Die Wachstumsraten sind geringer
als im Westen. Die Zahl der Erwerbstätigen geht seit
1998 konstant zurück, und zwar von 5,49 Millionen
1998 auf nur noch 5,740 Millionen im Jahr 2002. Die
Arbeitslosenquote war in den letzten fünf Jahren mit
17 bis 18 Prozent zweieinhalbmal so hoch wie im Westen, wo sie bei 7 bis 8 Prozent liegt. Deutschland wächst
also nicht zusammen. Das ist der traurige Befund, den
wir alle konstatieren müssen. Die Schere geht in den
letzten fünf bis sechs Jahren vielmehr wieder auseinander.
Frau Hendricks, darüber, ob das zufällig oder nicht
zufällig mit Ihrem Regierungsantritt zusammenfällt,
kann man lange streiten. Einen Vorwurf kann man Ihnen
aber nicht ersparen: Sie haben dieser negativen Entwicklung seit 1998 nicht entschieden genug gegengesteuert.
({0})
Diese Möglichkeit hätten Sie gehabt.
Besondere Sorge muss uns die seit 1998 wieder stark
zunehmende Abwanderung machen, die wir alle im
Deutschen Bundestag meines Erachtens viel zu wenig
thematisieren. Der Osten droht auszubluten, weil Arbeits- und Ausbildungsplätze fehlen. Seit 1991 haben im
Saldo über 700 000 Menschen die östlichen Bundesländer verlassen. Es gehen - seit 1998 in steigendem Umfang - insbesondere Jüngere, Frauen und gut Ausgebildete. Dies muss uns allen Sorgen machen.
Wie ist dieser Entwicklung nun zu begegnen? Wie
können wir dem Aufbau Ost neue Impulse verleihen?
Neben einem weiteren Ausbau der Infrastruktur und der
Bewahrung der finanziellen Handlungsfähigkeit der
Kommunen müssen wir insbesondere die direkte Investitionsförderung beibehalten, möglicherweise sogar revitalisieren.
In diesem Zusammenhang müssen in den nächsten
Monaten wichtige Entscheidungen gefällt werden, weil
das Investitionszulagengesetz 1999 Ende dieses Jahres
ausläuft, weil die Mittelausstattung der Investitionszuschüsse nach der GA Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur degressiv ist und weil mit der EUOsterweiterung Ungewissheit über die zukünftige Zielgebietszuordnung der östlichen Bundesländer besteht.
Es steht eine Reihe fundamentaler Entscheidungen an,
die in unterschiedlichen Gremien und auf unterschiedlichen Ebenen getroffen werden müssen, damit der Aufbau Ost wieder in Gang kommt.
Die direkte Investitionsförderung hat in den letzten
Jahren durchaus beachtliche Wachstumsimpulse gesetzt. Nach Untersuchungen der Universität Münster hat
allein die Investitionszulage seit 2000 Investitionen in
Höhe von rund 13 Milliarden Euro angestoßen und damit rund 170 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert. Von Anfang 2000 bis Ende 2002 wurden im Rahmen der GA Investitionszuschüsse in Höhe von über
7,3 Milliarden Euro bewilligt. Damit wurde ein Investitionsvolumen von über 26 Milliarden Euro angestoßen.
Daher sprechen sich die Verfasser des heute vorliegenden Gesetzentwurfs, den wir alle begrüßen, für eine
Fortführung der Investitionsförderung aus. Ich zitiere
aus der Begründung:
Die schwache wirtschaftliche Entwicklung in den
neuen Ländern und der nach wie vor bestehende
Niveauunterschied der Wirtschaftskraft im Vergleich zu den alten Ländern lassen einen Verzicht
auf die ergänzenden Hilfen zur Ansiedlung und Erweiterung von Unternehmen und zur Förderung
von Unternehmensgründungen nicht sinnvoll erscheinen.
Es ist gut, dass der Bundesrat dies einstimmig beschlossen hat;
({1})
denn immer noch bestehen Standortnachteile durch Erreichbarkeitsdefizite, eine schwächere Eigenkapitalausstattung und eine um 30 Prozent geringere Arbeitsproduktivität.
Abschließend komme ich auf den Entwurf eines Investitionszulagengesetzes 2005, über den wir in den
kommenden Wochen und Monaten beraten werden, im
Einzelnen zu sprechen. Dieser Entwurf führt im Bereich
der betrieblichen Investitionen in Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und der produktionsnahen Dienstleistungen die Ende 2004 auslaufende Förderung durch das
Investitionszulagengesetz 1999 bis Ende 2006 fort.
Begünstigte Investitionen sind wie bisher die Anschaffung und die Herstellung von neuen abnutzbaren
beweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens,
die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen eines
Betriebes oder einer Betriebsstätte im Fördergebiet gehören. Aufgrund von Vorgaben der EU fällt die Förderung für Ersatzinvestitionen sowie für Investitionen des
Handwerks und des innerstädtischen Handels weg und
es gilt ein neuer, eingeschränkter Begriff für kleine und
mittlere Unternehmen.
Die Investitionszulage beträgt wie bisher
12,5 Prozent der Anschaffungs- und Herstellungskosten
bzw. 25 Prozent bei kleinen und mittleren Unternehmen.
In so genannten Randgebieten, also zum Beispiel in
Grenzregionen, kommen noch 2,5 Prozent hinzu. Die Investitionszulage ist wie bisher nach Ablauf des Wirtschafts- oder Kalenderjahres festzusetzen.
Anhand vieler Umfragen können wir konstatieren,
dass die Wirtschaft die Investitionszulage schätzt, weil
sie Rechtssicherheit gibt. Auf die Investitionszulage besteht ein Rechtsanspruch. Diese Planungssicherheit ist
für Investition in der Wirtschaft wichtig,
({2})
auch wenn seitens der Wirtschaft mitunter die lange
Zeitspanne zwischen Investition und Auszahlung der Investitionszulage beklagt wird. Der Grund hierfür liegt im
Steuersystem; denn die Investitionszulage kann erst nach
Ablauf des Veranlagungszeitraums beansprucht werden.
Die europarechtlichen Vorgaben, die ich schon erwähnt habe, führen in etwa zu einer Halbierung des bisherigen Fördervolumens von 1,174 Millionen Euro auf
das neue Fördervolumen von 601,3 Millionen Euro in
den Jahren 2005 und 2006. Durch diese Straffung werden bisher mitunter vorkommende Mitnahmeeffekte
oder Fehlallokationen vermieden.
Lassen Sie uns über diesen Gesetzentwurf, der, wie
gesagt, vom Bundesrat einstimmig beschlossen worden
ist, auch im Deutschen Bundestag zügig beraten und ihn
verabschieden, damit wir im Osten Deutschlands weitere
Investitionen anstoßen. Denn die brauchen wir im Interesse aller.
Danke.
({3})
Die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig möchte ihre
Rede zu Protokoll geben, was wir mit Ihrer Zustimmung
akzeptieren.1)
({0})
Deswegen hat jetzt der Minister der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt, Herr Professor Dr. Karl-Heinz
Paqué, das Wort.
({1})
Dr. Karl-Heinz Paqué, Minister ({2}):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen liegt der Entwurf eines Investitionszulagengesetzes 2005 vor. Es ist mehrfach gesagt worden, dass es
sich hierbei um eine Anschlussregelung für das Investitionszulagengesetz 1999 handelt, das Ende dieses Jahres
ausläuft. Dieser Entwurf ist das Ergebnis einer Arbeitsgruppe, die auf Bundesebene eingerichtet wurde. Damit
stellt er insbesondere einen Konsens zwischen den alten
und den neuen Ländern dar. Er ist ja auch einstimmig
vom Bundesrat beschlossen worden.
({3})
Inhaltlich - da kann ich mich ganz kurz fassen - unter-
scheidet sich dieser Entwurf vom geltenden Recht da-
durch, dass einerseits europarechtliche Änderungen
berücksichtigt wurden, dass andererseits Ersatzinvesti-
tionen nicht mehr gefordert werden und dass schließlich
die Förderung des Mietwohnbereichs nicht mehr enthal-
ten ist, was ja bei der Wohnungssituation in Ostdeutsch-
land nachvollziehbar ist. Im Ergebnis wird unter der Bei-
behaltung der derzeit geltenden Fördersätze die
Investitionszulage für das verarbeitende Gewerbe bis
Ende 2006 fortgeführt. Förderfähig sind hierbei auch die
bis Ende 2006 angefallenen Anzahlungen und Teilher-
stellungskosten für diejenigen Wirtschaftsgüter, die nicht
bis zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt werden konnten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der vorlie-
gende Entwurf ist mehr als ein vernünftiger Kompromiss
1) Anlage 5
Dr. Karl-Heinz Paqué, Minister ({4})
über Länder- und Parteigrenzen hinweg: Er ist ein Beitrag zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands,
({5})
dies in einer Zeit, in der zu Recht jede Form einer staatlichen Förderung einer strengen Prüfung unterzogen werden muss. In unserem derzeitigen System der Besteuerung ist die Investitionszulage für das verarbeitende
Gewerbe und für produktionsnahe Dienstleistungen in
Ostdeutschland allerdings weiterhin an einem sehr wichtigen Platz.
({6})
Die ökonomische Logik spricht für die Fortführung
der Investitionszulage. Es ist gesagt worden: Der Produktivitätsrückstand in den mittel- und ostdeutschen
Ländern beträgt gegenüber dem Westen noch immer
30 Prozent; die Produktivitätsschere hat sich in den letzten Jahren nicht weiter geschlossen. Die Arbeitslosenquoten sind immer noch sehr hoch und wir leiden leider
weiterhin unter einer starken Abwanderung junger und
gut qualifizierter Menschen.
Volkswirtschaftliche Analysen dieses Rückstands
kommen immer wieder zu einem ganz eindeutigen Ergebnis: Das Hauptproblem liegt in der noch immer viel
zu schwachen industriellen Basis.
({7})
Es gibt zu wenige hoch qualifizierte Arbeitsplätze, es
gibt noch immer zu wenig Innovations- und Exportkraft
und es gibt zu wenig moderne Dienstleistungen. Gerade
moderne, produktionsbezogene Dienstleistungen entstehen erst in der Verzahnung mit dem verarbeitenden Gewerbe. Jeder, der einmal die gesunden urbanen Zentren
in Westdeutschland besucht und die wirtschaftliche Verflechtung mit den erst entstehenden moderneren Zentren
des Ostens verglichen hat, der weiß, dass da noch ein gewaltiger Unterschied besteht. Es ist genau die Investitionszulage, die uns hilft, diesen Rückstand wenigstens
ein Stück weit auszugleichen.
({8})
Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Investitionszulage ein außerordentlich wirksames Instrument
ist; dies ist auch gutachtlich bestätigt worden. Es ist deshalb ein wichtiger Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg Mittel- und Ostdeutschlands, wenn wir die Investitionszulage zwei weitere Jahre gewähren; dies gilt
umso mehr, je früher die Entscheidung dafür fällt. Meine
Damen und Herren, es wurde gesagt: Investoren brauchen klare Signale, sie brauchen verlässliche Rahmenbedingungen.
({9})
- Planungssicherheit, ganz richtig.
Deshalb müssen wir frühzeitig durch zügige Beratungen in den Ausschüssen - darum möchte ich Sie bitten ein verlässliches Signal setzen, damit wir für den Aufbau
Ost einen weiteren wichtigen Schritt tun können.
({10})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen
in Mittel- und Ostdeutschland immer mehr dichte wirtschaftliche Ballungszentren schaffen. Nur so wird es uns
gelingen, die jungen Menschen und die qualifizierten
Facharbeiter in der Region zu halten.
({11})
Auch wenn es hier nur um eine Perspektive von zwei
Jahren geht, haben wir mit dieser Verlängerung einen
wichtigen Schritt in Richtung der deutschen Einheit im
wirtschaftlichen Bereich vor uns. Diese hat sich als
schwerer erwiesen, als wir alle lange Zeit dachten.
({12})
Jetzt haben wir die Chance, noch ein weiteres Stück darauf zuzugehen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Bevor ich näher auf das Investitionszulagengesetz eingehe, möchte ich es nicht versäumen, an dieser
Stelle all den Menschen zu danken, die tatkräftig mitgeholfen haben und immer noch mithelfen, die neuen Länder nach vorn zu bringen.
({0})
Hiermit meine ich ausdrücklich alle, egal, ob im Osten
oder Westen.
Dennoch ist die gegenwärtige Lage nicht befriedigend. Wir haben nach wie vor Defizite in der Kapitalund Infrastrukturausstattung, die zusammen mit der
schwachen weltwirtschaftlichen Wachstumsdynamik den
Aufholprozess in den neuen Ländern hemmen. Daher
ist es unumgänglich, dass der Aufholprozess unterstützt
wird, damit er weitergeht. Das haben wir übrigens auch
schon in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben.
Darin haben wir festgestellt, dass Investitionen für die
weitere Verbesserung und Entwicklung der regionalen
Wirtschaftsstruktur unerlässlich sind und wir deshalb die
Investitionsförderung in Ostdeutschland auf hohem Niveau beibehalten.
Da die Geltungsdauer des Investitionszulagengesetzes von 1999 Ende 2004 ausläuft, ist eine Nachfolgeregelung notwendig. Darüber besteht Konsens zwischen
den Bundesländern, der Bundesregierung und ich denke
auch dem Parlament. Zumindest für die rot-grüne Koalition kann ich das hier zusichern.
({1})
Wir unterstützen die weitere Förderung von Erstinvestitionen in Betrieben des verarbeitenden Gewerbes
und der produktionsnahen Dienstleistungen ausdrücklich.
({2})
Es ist wichtig, dass diese weitere Förderung auf der Basis eines EU-konformen Konzeptes erstellt wurde. Das
gibt nicht nur denjenigen, die diese Förderung in Anspruch nehmen, sondern auch für unsere Arbeit Rechtssicherheit. Ich bin froh, dass bereits im Vorfeld im ganzen Hause ein gewisser Konsens bei diesem Thema
vorhanden war.
Herr Kolbe hat vorhin gesagt, dass die Bundesregierung seit 1998 nicht genug getan hat. Dazu muss ich Ihnen leider sagen, dass die CDU/CSU-Fraktion im
Jahre 2000 - das ist ja noch nicht so lange her - die Änderung des Investitionszulagengesetzes abgelehnt hat.
Die FDP hat zugestimmt, die CDU/CSU hat dagegen gestimmt.
({3})
- Nein, Sie können das gerne nachlesen. Im Wirtschaftsausschuss haben sich einige Ihrer Kollegen enthalten
und im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten haben sie komplett dagegen gestimmt.
({4})
Auch Ihre Zustimmungsfreudigkeit zum notwendigen
Stadtumbauprogramm, das eindeutig ein hervorragendes
Instrument zur Gestaltung der Infrastruktur in den neuen
Ländern ist, war nicht unbedingt ausgeprägt. Vielleicht,
weil Sie in den neuen Ländern einmal nachgefragt haben, was man dort von diesen Programmen hält, haben
Sie sich zum Glück mittlerweile offensichtlich eines
Besseren belehren lassen. Wenn das so ist, dann ist das
gut so; denn das Investitionszulagengesetz hat sich bisher als sehr gutes und wirksames Instrument zum weiteren wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands erwiesen.
Viele haben den Standortvorteil, den dieses Gesetz
mit sich bringt, für sich bereits entdeckt. Es gibt genügend Beispiele für gelungene Umsetzungen. Dabei sind
es nicht nur die großen und bekannten Namen, die sich
durch einen Unternehmensstandort bei uns in den neuen
Ländern zu ihrer Mitverantwortung für den wirtschaftlichen Aufschwung bekennen, sondern es sind auch die
vielen Männer und Frauen, deren unternehmerischer
Mut so wichtig für den Wirtschaftsstandort neue Länder
ist. Darauf wollen und können wir auch in Zukunft nicht
verzichten. Ein Beitrag der Politik, dabei unterstützend
tätig zu sein, ist es, die Investitionsförderung auf hohem
Niveau fortzusetzen und das Investitionszulagengesetz
fortzuschreiben.
Ich möchte an dieser Stelle dafür werben, dass sich
auch zukünftig weitere Unternehmen bewusst für den
Standort Ostdeutschland entscheiden. Wer seine Produkte deutschlandweit verkaufen will, der muss seinen
Beitrag dazu leisten, dass die Menschen deutschlandweit
in die Lage versetzt werden, sich diese leisten zu können. Das können sie aber nur, wenn sie einen Arbeitsplatz und persönliche Perspektiven haben.
Es gibt in den neuen Ländern nach wie vor viele motivierte Menschen aller Altersgruppen, die gern bereit
sind, dazu ihren Beitrag zu leisten.
({5})
Wir unterstützen sie und ihr Engagement durch regionale Förderung, um Standortnachteile weiter auszugleichen und die Chancen der Regionen im Wettbewerb um
Unternehmensansiedlungen nachhaltig zu verbessern. Es
gibt in Ostdeutschland Anzeichen dafür, dass dies auch
gelingt.
Vor kurzem konnten wir in Stollberg eine hervorragende Unternehmensansiedlung begrüßen. Ich denke,
dass einige Standorte wie Leipzig auch in den umliegenden Regionen dafür sorgen werden, dass sich viele Industrieunternehmen ansiedeln werden und sich auch
kleine Betriebe aus Ostdeutschland stabilisieren können,
um damit ihren Beitrag zur Wirtschaftlichkeit in den
neuen Ländern zu erbringen und den Standort der neuen
Länder weiter zu verbessern.
Daher ist es unerlässlich, die Investitionsförderung
über das Jahr 2004 hinaus sicherzustellen. Wir Parlamentarier können dies durch eine zügige Beratung weiterhin unterstützen.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Michael Luther von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch zu später Stunde sollte man die Gelegenheit nutzen, miteinander zu reden. Es lohnt sich, über
das Investitionszulagengesetz ein paar Sätze zu verlieren.
Wir sind uns darüber einig: Die Zulage ist für die
neuen Bundesländer und Unternehmensansiedlungen
wichtig. Deshalb bin ich froh, dass in dieser Debatte alle
signalisieren, dass dieses Instrument fortgeführt werden
soll.
({0})
Nicht nur das Investitionszulagengesetz muss fortgeschrieben werden. Wir brauchen auch weiterhin die Gemeinschaftsaufgabe Ost, was ich an dieser Stelle nicht
unerwähnt lassen will.
({1})
Diese Instrumente sind für den Aufholprozess sehr wichtig. Sie sind aber auch - darauf will ich kurz eingehen vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung wichtig.
Staatssekretär Tilo Braune aus dem Wirtschaftsministerium hat am Montag dieser Woche in einem Artikel der
„FAZ“ sehr richtig erkennen lassen, wie die Situation in
den neuen Bundesländern ist. Er hat festgestellt, dass wir
das Instrument der Investitionszulage brauchen. Er hat
richtig analysiert, dass die Schere zwischen Ost und
West weiter auseinander geht. Gleichzeitig hat er aber
unterstellt, dies läge daran, dass nach 1990 zu wenig für
den Aufholprozess gemacht worden sei. Dieser letzte
Punkt seiner Analyse ist falsch. Ich habe das Gefühl:
Seitdem der Aufbau Ost zur Chefsache geworden ist
- ich kann mich an das Jahr 1998 sehr gut erinnern -,
leidet der Aufbau Ost Not.
({2})
Warum ist die Investitionszulage so wichtig? Ich will
drei Gründe aufzeigen, um es noch einmal zu verdeutlichen.
Erstens. Es hat sich gezeigt, dass dies ein wirksames
Instrument ist. Ich komme aus Sachsen. In Dresden hat
sich jüngst das Chipwerk AMD angesiedelt. Ein anderes
Beispiel ist BMW in Leipzig. Diese Aufzählung könnte
man für andere Bundesländer fortsetzen. Ich denke, darin sind wir alle einer Meinung.
Zweitens. Ich möchte auf einen Umstand hinweisen:
Vor nicht allzu langer Zeit wurde der Solidarpakt II
vereinbart. Beim Solidarpakt II, der erst 2005 in Kraft
treten soll, wurde festgestellt, dass ein dringender Nachholbedarf besteht und dafür Investitionsmittel bereitgestellt werden müssen. Der darin enthaltene Korb II beinhaltet unter anderem die Gemeinschaftsaufgabe und die
Investitionszulage. Das Volumen soll ungefähr 10 Milliarden DM jährlich umfassen.
({3})
- Damals wurden diese Vereinbarungen auf D-Mark-Basis getroffen. In Euro umgerechnet, sind es circa
5 Milliarden Euro. Das bedeutet: Wenn man die Investitionszulage kürzen und die Gemeinschaftsaufgabe Ost
zurückführen würde, könnte man das gesteckte Ziel
nicht erreichen. Dann würde man den Pakt, den man miteinander vereinbart hat, verletzen.
Drittens - das ist der letzte Punkt -: die europäische
Osterweiterung. Am 1. Mai 2004 kommt eine Reihe
von Ländern in die Europäische Union. Dann greifen
dort die Instrumentarien der Europäischen Union. Das
heißt, die Gebiete an den Grenzen von MecklenburgVorpommern, Brandenburg, Sachsen und natürlich auch
von Bayern sind Höchstfördergebiete. Auch bei uns
sollte es nach dem, was die EU-Kommission, hier Herr
Banier, vorhat, ein Hochfördergebiet geben.
Wir dürfen aber nicht signalisieren, wir brauchten die
Investitionszulage nicht mehr, sie könne wegfallen. Wir
dürfen auch nicht signalisieren, dass die Mittel für die
GA Ost eingeschränkt werden. Es kann nicht sein, dass
wir auf der einen Seite einen hohen Förderrahmen fordern, damit wir Investitionen fördern können, auf der anderen Seite aber kein Geld zur Verfügung stellen; denn
wir würden damit das Signal aussenden, dass wir die
Förderung nicht mehr brauchen.
Aus diesem Grunde ist der vorliegende Gesetzentwurf, der vom Bundesrat eingebracht und mit der Bundesregierung abgestimmt worden ist, ein sehr wichtiges
Signal. Damit zeigen wir, dass wir hinter dem Aufbau
Ost stehen, dass wir nach wie vor eine Menge Mittel und
die dazugehörige Förderkulisse brauchen. Deshalb
möchte ich an dieser Stelle die Bundesregierung noch
einmal auffordern, sich dafür einzusetzen, dass wir nicht
durch einen statistischen Effekt aus dem Ziel-1-Gebiet
herausfallen, sondern entsprechend den gemachten Vorschlägen weiterhin einen hohen Förderrahmen erhalten.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2249 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kretschmer, Katherina Reiche, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Konzeption zur Struktur und zur Finanzierung eines Osteuropazentrums für Wirtschaft
und Kultur jetzt vorlegen
- Drucksache 15/2162 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Es ist vereinbart, dass wir die Redebeiträge zu Proto-
koll nehmen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einver-
standen sind. Es handelt sich um die Beiträge der Kolle-
gen Andrea Wicklein von der SPD, Michael Kretschmer
und Werner Kuhn von der CDU/CSU, Peter Hettlich
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
vom Bündnis 90/Die Grünen, Cornelia Pieper von der
FDP und der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris
Gleicke für die Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2162 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
soll abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen liegen. Sind Sie
1) Anlage 6
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.