Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich den Kollegen Kurt-Dieter
Grill, Siegfried Helias und Dr. Wolfgang Gerhardt im
Namen des Hauses nachträglich die besten Glückwünsche zu ihrem 60. Geburtstag sowie dem Kollegen
Norbert Geis zu seinem 65. Geburtstag übermitteln.
Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Sodann teile ich mit, dass mit In-Kraft-Treten des
Vierten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes der Verwaltungsrat und die Vergabekommission
der Filmförderungsanstalt neu besetzt werden müssen.
Nach diesem Gesetz sollen wie bisher drei ordentliche
und drei stellvertretende Mitglieder für den Verwaltungsrat sowie ein Mitglied und ein Stellvertreter für die
Vergabekommission vom Bundestag benannt werden.
Für den Verwaltungsrat werden von der Fraktion der
SPD die Kollegin Gisela Hilbrecht als ordentliches und
die Kollegin Monika Griefahn als stellvertretendes
Mitglied, von der Fraktion der CDU/CSU der Kollege
Bernd Neumann ({1}) als ordentliches und der
Kollege Wolfgang Börnsen ({2}) als stellvertretendes Mitglied, von der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen Frau Karin Knöbelspies als ordentliches und
Herr Oliver Passek als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen. Für die Vergabekommission schlägt die Fraktion der SPD die Kollegin Gisela Hilbrecht als ordentliches Mitglied und die Fraktion der CDU/CSU den
Kollegen Wolfgang Börnsen ({3}) als stellvertretendes Mitglied vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit
sind die genannten Personen als Mitglieder bzw. Stellvertreter für die genannten Gremien benannt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Haltung der Bundesregierung zu dem von Bundesminister
Schily verkündeten Umzug des Bundeskriminalamtes
({4}) zur Zentralisierung aller operativen Einheiten des
BKA in Berlin ({5})
2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina
Krogmann, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Mehr Wettbewerb, Wachstum und Innovation in der Telekommunikation schaffen
- Drucksache 15/2329 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({7})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und
das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes
- Drucksache 15/2253 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des
Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959
über die Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 15/2254 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom
17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Ergänzung des
Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom
13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 15/2255 Redetext
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({1})
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({2}) zu der Streitsache vor
dem Bundesverfassungsgericht 2 BvK 1/03
- Drucksache 15/2348 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Schmidt ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({4}): Übersicht 5 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem
Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/2347 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu den bereits jetzt erkennbaren Auswirkungen der Gesundheitsreform
6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann,
Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck ({5}), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Entwicklungszusammenarbeit der EU konstruktiv weiterentwickeln - Effizienz und Nachhaltigkeit
verbessern
- Drucksache 15/2338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther
({7}), Eberhard Otto ({8}), Horst Friedrich ({9}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weitgehende Planungserleichterungen bei Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien
- Drucksache 15/2346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
8 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der
erneuerbaren Energien im Strombereich
- Drucksache 15/2327 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen ({12})
- Drucksache 15/2328 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 19 - SED-Unrechtsbereinigungsgesetz - und den
Tagesordnungspunkt 21 - Deutsch-Polnische Wirtschaftsförderungsgesellschaft - abzusetzen sowie den
für Freitag vorgesehenen Tagesordnungspunkt 20 - Vorlage eines städtebaulichen Berichts - heute nach Tagesordnungspunkt 16 zu beraten.
Des Weiteren mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
hier:
Nachträgliche Ausschussüberweisung
Der in der 82. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zur Mitberatung überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Rainer Funke,
Dr. Werner Hoyer, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Gegen eine Aufhebung des
EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China
- Drucksache 15/2169 überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie mit diesen Veränderungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
einen Geschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die
Fraktion der CDU/CSU hat fristgerecht beantragt, die
heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags
„Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Verteidigung zur Konzeption und
Weiterentwicklung der Bundeswehr“ zu erweitern.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat Kollege Christian
Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
({15})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Mit Schreiben vom 12. Januar 2004 hat
unsere Fraktionsvorsitzende den Bundeskanzler ersucht,
({0})
Christian Schmidt ({1})
in diesem Hohen Hause eine Regierungserklärung zur
Konzeption und Weiterentwicklung der Bundeswehr abzugeben. Der entsprechende Antrag der CDU/CSUFraktion vom 14. Januar liegt Ihnen vor.
Seit Freitag, dem 9. Januar, war bekannt, dass Bundesminister Struck für Dienstag dieser Woche zu einer
Pressekonferenz eingeladen hatte. Am letzten Wochenende liefen bereits in verschiedenen Medien Vorabmeldungen über tief greifende Einschnitte und umfassende
konzeptionelle Änderungen der Struktur und des Umfangs der Bundeswehr im Personellen und Sachlichen.
Zwangsläufig wurden politisch Verantwortliche aller
Parteien um Stellungnahmen zu Sachverhalten gebeten,
die sie nur in Fragmenten aus der Presse erfahren und
mühsam zu einem unvollständigen Gesamtbild zusammenfügen konnten.
Es gehört nicht nur zu den parlamentarischen Gepflogenheiten in unserer Republik, sondern es ist auch ein
Zeichen der Achtung vor diesem Hohen Hause, dass das
Parlament als Souverän unseres Volkes vor der Presse in
Kenntnis gesetzt wird.
({2})
Dies gilt insbesondere bei Entscheidungen von einer
Tragweite, wie sie für diese Reform der Bundeswehr
ohne Zweifel zutrifft. Es ist nicht hinnehmbar, dass die
Presse unmittelbar informiert wird und das Parlament irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt. Es ist auch nicht
hinnehmbar, dass die betroffenen Soldaten und ihre Familien von für sie tief greifenden Entscheidungen wiederholt von den Medien
({3})
oder der Homepage des Verteidigungsministeriums erfahren oder sie sich zusammenreimen müssen.
({4})
Im Ergebnis hat diese Pressekonferenz zu einer von
keinem gewünschten abermaligen Verunsicherung der
Soldaten, zivilen Mitarbeiter und deren Angehörigen
geführt. Diese Verunsicherung wurde durch die Äußerungen der Bundesfamilienministerin noch gesteigert,
die im Gegensatz zum Bundesverteidigungsminister die
Frage der Wehrpflicht offen zur Disposition gestellt hat.
Ich höre, dass die Diskussion darüber, wer Koch und wer
Kellner sein solle, im Kabinett andauert. Wir kennen
aber die Speisekarte nicht. Deswegen hätten wir gern
eine verbindliche Erklärung der Bundesregierung dazu,
wie sie sich in diesen zentralen Fragen, die im Grundgesetz verankert sind - bei einer Revision bliebe die Entscheidung dem Parlament vorbehalten -, verhält.
({5})
Die Ankündigungen des Bundesverteidigungsministers zur Reform der Bundeswehr gehen nach Auffassung
unserer Fraktion weit über die Organisationshoheit der
Bundesregierung hinaus. Wer es mit dem Begriff des
Parlamentsheeres ernst meint, sollte das Parlament in
Fragen der Wehrverfassung und -strukturanpassung
einbinden. Wer Art. 87 a unseres Grundgesetzes, in dem
es heißt, dass zur Verteidigung Streitkräfte aufgestellt
werden, dadurch sehr stark verändert und infrage stellt,
dass er die Verteidigung überall in die Welt hinausprojiziert, muss sich im Parlament dazu äußern, bevor er sich
der Presse zuwendet.
({6})
Die Begründung, Bundesminister Struck sei deshalb
vor die Presse getreten, um den öffentlichen Spekulationen in den Medien entgegenzutreten, ist nicht nur durch
die Zeitabläufe widerlegt, sondern kann nur als mühsamer Versuch des Kanzleramtes - vielleicht wurde auch
das Kanzleramt nicht über die Abläufe informiert - verstanden werden, Land zu gewinnen.
Auch das Argument, dass der Bundesminister der
Verteidigung erst nach Abschluss aller Reformplanungen das Parlament durch eine Regierungserklärung informieren will, kann nicht überzeugen.
Die laufenden Debatten in den Ausschüssen reichen
ebenfalls nicht aus; denn in dieser Frage sind alle Kolleginnen und Kollegen, ist das Plenum gefordert. Allein die
vielen Anfragen, die diejenigen, die im Verteidigungsbereich tätig sind, in den letzten Tagen von verunsicherten
Kommunalpolitikern, von Vertretern von Sozialverbänden, aber auch von den Kollegen, die zu Hause danach gefragt werden, wie es weitergehen wird, sind ein deutliches
Zeichen dafür, dass hier anders gehandelt werden muss,
als das bisher der Fall war. Die Verabreichung schmerzhafter Mittel, und dies auch noch mit falscher Indikation,
wird nicht dadurch erträglicher, dass sie dauernd in kleinen Dosen erfolgt.
Da der uns vorliegende Zeitplan für die Reformen der
Bundeswehr die Vorlage eines Stationierungskonzeptes
erst für November 2004 vorsieht - dann sind die Wahlen
dieses Jahres vorbei -, würde das Parlament bis dahin in
völliger Unkenntnis gehalten, wenn nicht jetzt oder bald
eine Debatte stattfindet. Die öffentliche Debatte hat ein
Stadium erreicht, das im Interesse der Sicherheit unseres
Landes eine detaillierte Unterrichtung des Parlaments erforderlich macht.
({7})
Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher den Bundesminister der Verteidigung auf, den Deutschen Bundestag
umgehend in einer Regierungserklärung über Stand und
Planungen der Reformen der Bundeswehr und die Absicht der Bundesregierung, die Wehrstruktur einschneidend zu verändern, zu informieren und sich der parlamentarischen Debatte zu stellen.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Arnold, SPDFraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Opposition schießt heute Morgen in dieser Frage schon
ein bisschen zu scharf. Das Pulver ist allerdings nass.
({0})
Deshalb vernebelt offenbar Pulverdampf den Blick auf
die Wirklichkeit - sowohl auf die Wirklichkeit des Prozederes als auch vor allen Dingen auf die Wirklichkeit
des Inhalts dieser Reform. Es wird gut sein, wenn sich
dieser Pulverdampf legt und wir dann eine sorgsame
Diskussion über die Zukunft der Streitkräfte miteinander
führen.
Herr Kollege Schmidt, die Behauptung, dass der Minister dieser Tage der Öffentlichkeit etwas völlig Neues
präsentiert habe, ist falsch.
({1})
Vielmehr hat er zusammengefasst, was er bereits seit
Monaten und in Teilbereichen auch in den Haushaltsberatungen der beiden letzten Jahre angedeutet hat,
({2})
und es der Öffentlichkeit vorgestellt.
({3})
Gerade Sie, Herr Schmidt, als Fachpolitiker waren bei
dieser Debatte in den letzten Wochen immer wieder dabei.
({4})
Nachdem jeder wusste, dass der Minister um die Jahreswende vor die Presse geht, hätte ich erwartet, dass Sie,
wenn Ihnen das so wichtig ist, ganz regulär im Ältestenrat dafür sorgen, dass der Bundestag diesen Tagesordnungspunkt aufsetzt. Dann bräuchten wir hier keine Inszenierung. Das wäre ein ganz normaler Vorgang gewesen.
({5})
Eine Regierungserklärung erzwingen zu wollen ist
schon ein bisschen merkwürdig. Sie können zwar einen
solchen Antrag formulieren. Aber die Regierung entscheidet selbst, ob und wann sie Regierungserklärungen
abgibt.
({6})
Das liegt in der Natur einer Regierungserklärung. Das ist
eine Frage des Prozederes.
Außerdem: Die Reform geht bis ins Jahr 2010. Was
der Minister jetzt vorgestellt hat, ist eine weitere Etappe,
nicht das Ende der Reformdebatte. Im März werden
- Herr Schmidt weiß das - wichtige weitere Planungen
vorgelegt. Dann geht es um Geräte und Material und die
Umsetzung der groben Struktur in eine feinere. Sie haben selbst von detaillierten Informationen gesprochen.
Die gibt es aber im Augenblick noch gar nicht. Ich
denke, zwischen März und Mai wäre ein guter Zeitpunkt, eine solche Debatte zu führen.
({7})
Herr Schmidt, wir beide haben gestern in der Obleuterunde des Verteidigungsausschusses darüber gesprochen. Wir waren uns alle einig, dass diese Debatte bis
spätestens Mai geführt werden soll. Sie wird geführt
werden. Wir als Sozialdemokraten haben überhaupt keinen Grund, dieser Diskussion auszuweichen. Die Reform, die Minister Struck vorgelegt hat, ist nämlich ein
Musterbeispiel für Innovation in dieser Gesellschaft. Sie
geht in die richtige Richtung.
({8})
- Ja, natürlich.
({9})
- Herr Kauder, wenn Sie in den letzten Tagen einmal genau zugehört hätten, was die Fachjournalisten und im
Übrigen auch Ihre Fachleute, was die Soldaten in den
Streitkräften, was der Bundeswehr-Verband und die Industrie zu den Grundzügen dieser Reform gesagt haben,
dann hätten Sie erkennen müssen, dass diese Reform
richtig ist.
({10})
Sie ist nicht nur notwendig, sondern eine wichtige Zukunftsetappe für die Bundeswehr, weil sie die Streitkräfte daran ausrichtet, was Soldatinnen und Soldaten in
einem völlig veränderten sicherheitspolitischen Umfeld
in Zukunft leisten müssen.
({11})
Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Er ist eine Inszenierung und eine Schau. Wir werden diese Debatte in
Ruhe und mit der gebotenen Sorgfalt führen.
({12})
- Herr Kauder, Sie brauchen da nicht so hereinzuschreien! Gerade weil ich Parlamentarier bin und die Soldaten sehr ernst nehme, möchte ich eine Diskussion, die
den Herausforderungen gerecht wird, nämlich dann,
wenn die nächsten Etappen einer feineren Planung und
der Materialausplanung vonseiten des Bundesministers
vorliegen. Dann wissen wir, worüber wir im Detail reden.
({13})
Bei einem Reformprozess, der Jahre dauert, können
wir nicht alle sechs Wochen jeden Schritt parlamentarisch diskutieren.
({14})
Dafür sind wir Fachpolitiker im Verteidigungsausschuss,
auch der Kollege Schmidt, da. Das ist dort unsere Aufgabe.
Lassen Sie mich noch einen Satz zur Wehrpflicht sagen. Die Behauptung, dass die vorgelegten Reformschritte des Ministers nichts Konkretes zur Wehrpflicht
sagten, ist falsch. Er sagt sehr deutlich, dass er von der
Wehrpflicht ausgeht.
({15})
Das sicherheitspolitische Umfeld kann sich bis zum
Jahr 2010 ändern. Niemand von uns weiß doch, wie die
Welt in sechs, sieben Jahren aussehen wird. Niemand
weiß doch, was um Europa herum, in Nordafrika oder im
Kaukasus, passieren wird. Deshalb sagt der Minister,
dass die Politik die Option haben soll, zum geeigneten
Zeitpunkt frei zu entscheiden.
({16})
Also ist auch dies ein völlig transparenter Prozess.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir freuen uns auf
die Debatte, die wir von März bis Mai dieses Jahres führen werden,
({17})
und wir sind selbstbewusst und stolz auf das, was der
Minister vorgelegt hat.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Arnold, über das, was Sie hier inhaltlich vorgetragen haben, hätte hier heute diskutiert werden können.
Der Minister hätte auch zu den Fragen, die Sie aufgeworfen haben, Stellung nehmen können.
({0})
Ich sage Ihnen eines: Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und sie muss eine Parlamentsarmee bleiben. Dafür treten wir ein. Ich hoffe, auch Sie werden das
unterstützen. Weil es um die Konzeption und die Weiterentwicklung der Bundeswehr geht, muss das gesamte
Parlament hier und heute die Gelegenheit haben, über
die Probleme und die Zukunft der Bundeswehr zu diskutieren. Es reicht nicht aus, wenn der Bundesminister der
Verteidigung am Dienstag weit reichende Veränderungen ankündigt - die wahrscheinlich größten, die es jemals gegeben hat -, das Parlament hierüber aber nicht
zeitnah sprechen darf und soll. Herr Kollege Arnold
- das frage ich auch die Grünen -, welch ein Parlamentsverständnis haben Sie eigentlich? Es geht doch um die
Parlamentsarmee.
({1})
Ich sage Ihnen: So geht das nicht. Wir als FDP sind
mit diesem Verfahren nicht einverstanden. Es reicht
nicht aus, dass der Bundesminister zu diesem Thema
Pressekonferenzen gibt, wir als Parlament hierüber aber
nicht sprechen können. Wir wollen unsere Vorstellungen
als Parlamentarier und auch als Opposition rechtzeitig
einbringen,
({2})
damit die Regierung vielleicht noch etwas davon übernimmt. Wir haben gute Vorschläge zur Reform der Bundeswehr gemacht. Ich denke, wir haben als Parlamentarier auch die Pflicht, uns hierzu zu äußern. Ich frage Sie:
Warum will Rot-Grün das verhindern? Warum will RotGrün eine zeitnahe Diskussion verhindern? Haben Sie
etwas zu verheimlichen?
({3})
Allen ist bekannt, dass die Bundeswehr chronisch unterfinanziert ist. Abhilfe wird aber von Rot-Grün nicht
geschaffen. Die Diskrepanz zwischen Auftrag, Ausrüstung und Bereitstellung der Finanzmittel besteht weiterhin und wird auch durch die anstehenden Veränderungen
nicht geringer. Aber darüber will Rot-Grün hier und
heute nicht sprechen. Rot-Grün will von diesen grundsätzlichen Problemen offensichtlich ablenken. In diesem
Parlament soll hier und heute keine Diskussion stattfinden.
({4})
Ihr Leitsatz lautet: Schieben, strecken und streichen! Er
wird auf dem Rücken der Angehörigen der Bundeswehr
umgesetzt. Ich sage Ihnen: Für uns als FDP steht der
Mensch, stehen die Soldatinnen und Soldaten im Mittelpunkt.
({5})
Ich möchte Ihnen beispielhaft aufzeigen, worüber Sie
heute ebenfalls nicht diskutieren wollen. Die Soldaten in
den Einsatzgebieten brauchen die bestmögliche Versorgung und Unterstützung und den bestmöglichen Schutz.
Aber ist dieser Schutz in ausreichendem Maße gegeben?
({6})
Herr Kollege Arnold, auch das sind Fragen, die hier und
heute beantwortet werden sollten.
Herr Minister, ist es richtig, dass die Fahrzeuge der
Bundeswehr, die im Ausland eingesetzt werden, nur zu
einem geringen Teil gepanzert sind? Wie sieht es mit
dem Minenschutz aus? Wie wollen Sie Abhilfe schaffen? Warum wird die Beschaffung von gepanzerten
Fahrzeugen verschoben oder deren Anzahl sogar verringert? Auch hierüber, Herr Kollege Arnold und Herr
Kollege Nachtwei von den Grünen, hätten wir gerne gesprochen. Wir hätten gerne hier und heute vom Minister
Antworten bekommen. Ich frage Sie noch einmal: Warum will Rot-Grün das verhindern?
({7})
Nun komme ich auf den Eurofighter zu sprechen. Ist
es richtig, dass 180 beschafft werden sollen, oder ist es,
wie man hinter vorgehaltener Hand hört, richtig, dass
nur 120 beschafft werden sollen? Auch über dieses Projekt hätten wir hier und heute gerne gesprochen.
({8})
Herr Minister Struck, Sie sind ein langjähriger Parlamentarier. Aber mittlerweile habe ich den Eindruck, Sie
verhalten sich nur noch vordergründig kollegial. Ist das
nur eine Fassade, um uns einzuwickeln? Ich frage Sie:
Warum wollen Sie, warum will Ihre Regierungskoalition
eine Diskussion am heutigen Tag verhindern? Ich sage
Ihnen klipp und klar: Ab heute ist Schluss mit lustig. Das
ist keine Drohung, sondern ein Versprechen.
({9})
Meine Damen und Herren, die FDP will eine Reform
der Bundeswehr, die den Namen auch verdient, damit sie
ihre Aufträge, die politisch gewollt sind, erfüllen kann.
Die Finanzmittel der Bundeswehr müssen sich an ihren
Aufträgen orientieren und nicht umgekehrt. Die FDP
will die Bundeswehrreformen mit konstruktiver Kritik
begleiten. Sie müssen uns aber auch die Gelegenheit zur
Diskussion geben.
({10})
Stimmen Sie deshalb dem Antrag der Union zu, damit
wir als Parlament hier und heute über die Parlamentsarmee Bundeswehr diskutieren können!
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Union fordert kurzfristig eine Regierungserklärung des
Verteidigungsministers zur Konzeption und Weiterentwicklung der Bundeswehr. Ihr Antrag ist ein Schnellschuss und dient nicht
({0})
- hören Sie sich bitte auch den zweiten Teil des Satzes
an und machen Sie erst dann den Mund auf! - dem richtigen Anliegen, eine breit angelegte und gründliche Debatte zur Zukunft der Bundeswehr zu führen. Dieses ist
aber notwendig.
({1})
Herr Nolting, mir Ihrer Rede haben Sie uns gerade
wieder die schlechte Tradition von verkürzten Bundeswehrdebatten vor Augen geführt. Debatten über Fragen
der Ausstattung und des Haushalts sind angesichts der
Verantwortung für die Soldaten sehr wichtig; aber in Ihren Beiträgen in Bundeswehrdebatten beschränken Sie
sich nur darauf. Deswegen lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt den Antrag auf Abgabe einer Regierungserklärung
und eine anschließende Debatte ab.
Sie scheinen offensichtlich den Überblick über den
Stand der Reformplanung verloren zu haben. Zur Erinnerung: Vor dem Hintergrund der Ereignisse des
11. September und angesichts des finanziell Machbaren
beschloss die Koalition eine Weiterentwicklung der
Bundeswehrreform, ehrlicherweise müssen wir sagen:
eine deutliche Reform der vorherigen Reform. In den
Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai letzten
Jahres wurde der neue Auftrag der Bundeswehr so definiert, dass ihre Aufgabe weg von der Landesverteidigung hin zu Auslandseinsätzen im Dienste kollektiver
Sicherheit und im Rahmen des Völkerrechts geht.
Am 1. Oktober erteilte Minister Struck - das wissen
manche von Ihnen vielleicht nicht - dem Generalinspekteur vor dem Hintergrund der Verteidigungspolitischen Richtlinien und der internationalen Verpflichtung
der Bundesrepublik die Weisung, eine Neukonzeption
der Bundeswehr zu entwickeln und daraus künftige
Struktur, Standortkonzepte usw. abzuleiten. Diese Konzeption des Generalinspekteurs befindet sich noch in Arbeit. Wesentliche Positionierungen wurden in den letzten
Monaten vom Minister und vom Generalinspekteur in
vielen Reden und Artikeln der Öffentlichkeit bekannt
gemacht. Dazu zählt zum Beispiel der grundlegende Aspekt der Differenzierung der Streitkräfte nach Eingreif-,
Stabilisierungs- und Unterstützungskräften; das haben
wir hier in der dritten Lesung des Haushalts thematisieren können. Hieran zeigt sich der Realitätssinn dieses
Ministers.
Seit letzter Woche allerdings - das sollte man bedenken - haben sich in der Presse Falschmeldungen gehäuft.
Aus diesem Grunde gab es Reaktions- und Klarstellungsbedarf vonseiten des Ministers, der eine Pressekonferenz gegeben hat. Die Obleute des Ausschusses sind
kurz vorher schriftlich über diese Stellungnahme gegenüber der Presse informiert worden. Die Abgabe einer
Regierungserklärung zum heutigen Zeitpunkt, vor diesem Hintergrund und vor allem angesichts des Standes
des Planungsprozesses ist weder angemessen noch hilfreich.
Zugleich sind wir aber selbstverständlich der Auffassung, dass eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der
Bundeswehr geführt werden muss, zweckmäßigerweise
nach Vorlage der Konzeption. Dann gibt es nämlich eine
echte Diskussionsgrundlage. In diesem Rahmen ist dann
klarzustellen - Herr Nolting und Herr Schäuble, auch für
Sie könnte diese Frage sehr interessant sein -,
({2})
dass die Bundeswehr nur für die Erreichung von Zielen
und nach Regeln der Vereinten Nationen und des Völkerrechts zum Einsatz kommt.
({3})
Ich will angesichts völlig falscher Vergleiche, die heutzutage manchmal angestellt werden, daran erinnern: Das
ist etwas völlig anderes als das, wofür deutsche Truppen
zum Beispiel vor 100 Jahren in Namibia gegen Hereros
eingesetzt wurden. Dies war ein diametral entgegengesetzter Einsatzzweck.
Klarzustellen und zu klären ist weiterhin, dass die Unterscheidung zwischen Eingreif- und Stabilisierungskräften nichts daran ändert, dass Stabilisierung die wahrscheinlichste und somit Hauptaufgabe der Bundeswehr
sein wird. Klarzustellen ist abschließend, dass weltweite
Einsätze der Bundeswehr zwar möglich, deshalb aber
keineswegs immer wünschenswert oder gar machbar
sind. Wenn man einerseits von einer gewissen Entgrenzung der Möglichkeiten der Bundeswehr spricht, dann
muss man sich andererseits vermehrt vor allem auch Gedanken über die Grenzen solche Einsätze machen.
({4})
Diese Fragen stehen an. Diese Debatte muss breit,
({5})
also nicht nur unter den Fachpolitikern, sondern auch in
und mit der Gesellschaft, also insgesamt, geführt werden.
({6})
- Ich finde es bemerkenswert: Gestern sind wir Obleute
des Verteidigungsausschusses übereingekommen, dass
diese Debatte in den nächsten Monaten hier im Parlament und zusammen mit der Gesellschaft in der Öffentlichkeit geführt werden soll.
Kolleginnen und Kollegen vor allem von der Union,
ich denke, Sie sollten sich endlich auf diese Debatte vorbereiten. Vor allem sollte Ihr in diesem Zusammenhang
bestehender Hühnerhaufen endlich gemeinsame Positionen entwickeln und vorstellen.
({7})
Verschonen Sie uns heute bitte mit der Profilneurose eines Teils Ihrer Fraktion!
Danke schön.
({8})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Erweiterung der
Tagesordnung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/
CSU und FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
4 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Telekommunikationsgesetzes ({0})
- Drucksachen 15/2316, 15/2345 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Krogmann, Dagmar Wöhrl, KarlJosef Laumann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Mehr Wettbewerb, Wachstum und Innovation in der Telekommunikation schaffen
- Drucksache 15/2329 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an der Aussprache teilnehmen wollen, den Plenarsaal möglichst geräuschlos zu
verlassen, damit wir in aller Ruhe und mit aller Konzentration mit der Debatte beginnen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich denke, wir können sagen, dass wir mit der
Liberalisierung der Telekommunikation in den zurückliegenden eineinhalb Jahrzehnten gut vorangekommen
sind.
Wir erinnern uns alle: Am Anfang standen die großen
Themen wie die Privatisierung staatlicher Unternehmen
und die Beseitigung von Monopolrechten. Heute geht es
im Wesentlichen darum, die sektorspezifische Regulierung auszugestalten; denn diese Regulierung ist notwendig und ökonomisch sinnvoll, weil es darum geht, die
ehemaligen Monopolmärkte endgültig zu Wettbewerbsmärkten zu machen.
Ich denke, dass sich die Telekommunikationsregulierung insgesamt als erfolgreich erwiesen hat. Die Zahl
der Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen
in Deutschland ist gewaltig gestiegen. Die Verbraucher
haben dadurch in erheblichem Umfang von Preissenkungen im Bereich der Festnetze, des Mobilfunks und des
Internets profitiert. Inzwischen gibt es mehr Mobilfunkals Festnetzanschlüsse. Das Angebot hat sich enorm verbreitert. Das ehemalige Monopolunternehmen hat seine
Produktivität in der äußerst schwierigen Phase nach der
Zeit der New Economy verbessert, ist effizienter geworden und gehört unverändert zu den weltweit führenden
Telekommunikationsunternehmen. Es gilt, diese Entwicklungen zu stabilisieren und zu sichern.
Wir wollen mit der Novelle unterstützen, dass
Deutschland einer der führenden und besten Telekommunikationsstandorte bleibt und dass deutsche Unternehmen im weltweiten Wettbewerb erfolgreich sein
können.
({0})
Das erreichen wir am besten durch eine Stärkung des
Wettbewerbs. Dafür brauchen wir allerdings, anders als
in anderen Sektoren, noch auf absehbare Zeit gewisse
staatliche Eingriffe. Daran orientiert sich der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf.
Dieser Entwurf ist in weiten Teilen durch die neuen
Richtlinien der Europäischen Union gekennzeichnet.
Wir wollen die Regulierung auf die Märkte beschränken, die strukturelle Zutrittsbarrieren aufweisen, auf denen keine Tendenz zu wirksamem Wettbewerb zu erkennen ist und für die zu erwarten ist, dass das allgemeine
Kartellrecht zur Lösung von Wettbewerbsproblemen
nicht oder noch nicht ausreicht. Aufgrund der Vorgaben
der Europäischen Union wird der Anwendungsbereich
der Regulierung nicht vom Gesetzgeber definiert, sondern von der Regulierungsbehörde. Diese Regulierungsbehörde ist in ihren Entscheidungen zur Marktdefinition
und Marktanalyse weitestgehend an die Empfehlungen
der Europäischen Kommission gebunden.
Wir schaffen mit unserer Novelle für die Unternehmen
im Markt verlässliche und stabile Rahmenbedingungen.
Deshalb haben wir die in den Richtlinien angelegten großen Ermessensspielräume der Regulierungsbehörde in
Absprache mit den Marktbeteiligten strukturiert und
konkretisiert. Das gilt insbesondere in dem für Wettbewerber wichtigen Bereich der Vorleistungen.
Unser Gesetzentwurf zielt auch auf eine vernünftige Balance zwischen Infrastruktur- und Dienstewettbewerb.
Dafür ist es erforderlich, dass Anreize zu effizienten Investitionen in Infrastrukturen nicht verloren gehen. Ich
bin überzeugt, dass sich ein funktionsfähiger Wettbewerb am besten da entwickelt, wo Wettbewerber in Infrastruktur investieren und technologische Innovationen
erfolgen. Dennoch müssen wir auch dort, wo ökonomische Bedingungen einen infrastrukturellen Wettbewerb
behindern, gute Voraussetzungen für einen Dienstewettbewerb schaffen. Auch dies versuchen wir mit unserem
Entwurf. Während wir also die Regulierungen bei den
Vorleistungen aufgrund ihrer Bedeutung für die Wettbewerbsentwicklung weitgehend in ihrer heutigen Form
fortschreiben, lockern wir die Regulierung im Endkundenbereich. So sind künftig Endkundenentgelte nur noch
in begründeten Ausnahmefällen genehmigungspflichtig.
Mit Blick auf die von Wettbewerbern in den letzten
Jahren immer wieder vorgebrachten Beschwerden haben
wir die Missbrauchsaufsicht im Telekommunikationsgesetz präzisiert. Auch das verdient eine intensivere Betrachtung, die mir jetzt aufgrund der Zeitabläufe nicht
möglich ist.
Durch die Aufnahme der Mediation als alternatives
Instrument zur Streitbeilegung können überflüssige Regulierungsverfahren vermieden werden. Und das Wichtigste: Wir haben den Rechtsweg um eine Instanz verkürzt. Wie im Kartellrecht soll es künftig bei zwei
Instanzen bleiben. Damit werden wir in vielen Fällen
schneller zu einer abschließenden Klärung und Entscheidung kommen. Das ist eine wichtige Grundlage für den
sich dynamisch entwickelnden Telekommunikationsmarkt.
Aufgrund der Vorgaben der Europäischen Union entfällt auch das Lizensierungsregime. Das ist wiederum
ein Beitrag zum Bürokratieabbau in unserem Land. Wir
kämpfen uns, wie Sie wissen, Schritt für Schritt - um
nicht zu sagen: Millimeter für Millimeter - nach vorn.
Die Regulierungen zum Universaldienst und zur Frequenzpolitik bleiben weitgehend unverändert. Neu ist allerdings, dass künftig unter bestimmten Bedingungen
Frequenzen gehandelt werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf auf der Basis der neuen Vorgaben der Europäischen Union berücksichtigt, so meine ich, in ausgewogener Weise die Interessen der Beteiligten am Markt.
Wo möglich und sinnvoll, haben wir überflüssige Regulierungen abgebaut. Dem gegenüber haben wir in den
Bereichen, in denen wir auf Regulierung noch nicht verzichten können, weil der Wettbewerb noch nicht ausreichend in Gang gekommen ist, die Effektivität der Regulierung zu verbessern versucht.
Das Wirtschafts- und Arbeitsministerium hat dabei
von Anfang an eine sehr intensive Diskussion mit Ihnen,
vor allen Dingen mit den Fachleuten in den Fraktionen,
geführt, aber auch mit der gesamten Telekommunikationsbranche. Dies war ein außerordentlich intensiver Diskussionsprozess. Ich möchte sehr gern die Gelegenheit
nutzen, mich für die sachliche und sehr konstruktive
Diskussion nicht zuletzt auch bei den beteiligten Unternehmen und Verbänden zu bedanken.
Ich denke, dass auch die Stellungnahme des Bundesrates,
mit dem wir in einer Reihe von Punkten übereinstimmen,
zeigt, dass die Zeit der beinahe ideologisch geprägten
Auseinandersetzung vorüber ist und dass wir uns - poliBundesminister Wolfgang Clement
tisch gesprochen - in einem Wettbewerb um die beste
Gestaltung dieser Märkte befinden. Diese Märkte sind
für uns in Deutschland von außerordentlicher Bedeutung. Wir haben eine gute Ausgangsposition und müssen
sicherstellen, dass sie erhalten bleibt bzw. noch weiter
gestärkt wird. Das ist unsere Aufgabe und soll mit diesem Gesetzentwurf erreicht werden.
Angesichts des sehr sachlichen Ringens um den besten Weg bin ich zuversichtlich - ich darf mir diese Bemerkung erlauben -, dass das Gesetzgebungsverfahren
zügig abläuft und es vielleicht noch vor der Sommerpause abgeschlossen werden kann. Es wäre uns im Interesse der Dynamik des Marktes, mit dem wir zu tun haben und auf dem wir tätig sind, zu wünschen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile der Kollegin Martina Krogmann, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass Sie, Herr Minister Clement, in Ihrer Rede zu
Recht die große Bedeutung der Telekommunikationsbranche für uns alle hervorgehoben haben. Doch wenn
Ihnen die Branche wirklich so sehr am Herzen liegt,
dann frage ich mich, warum Sie es nicht einmal geschafft haben, die entsprechenden EU-Richtlinien rechtzeitig umzusetzen.
({0})
Eigentlich hätten die Richtlinien bis zum 24. Juli vergangenen Jahres umgesetzt werden müssen. Die EU hat inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
Deutschland eingeleitet. Ich kann nur sagen: Glücklicherweise ist unsere Wirtschaft schneller als Sie. Wenn
unsere Telekommunikationsunternehmen in dem gleichen Tempo wie diese Bundesregierung arbeiten würden, dann würden wir heute in Deutschland wahrscheinlich immer noch per Rauchzeichen kommunizieren.
({1})
Es ist schlimm genug, dass wir wieder einmal zu den
Letzten in Europa gehören. Viel schlimmer sind allerdings die Auswirkungen auf diese Zukunftsbranche: Ein
Jahr Rechts- und Planungsunsicherheit bedeutet ein Jahr,
in dem nicht investiert wird und Stillstand herrscht. Dies
ist besonders hart für eine Branche, die Innovationsmotor und Treiber für Wachstum ist. Wir müssen uns immer
wieder klar machen, dass es in dieser Branche im weltweiten Standortwettbewerb darauf ankommt, Spitze zu
sein, um bei uns zukünftig Wachstum und Innovationen
zu schaffen.
Die von der unionsgeführten Bundesregierung eingeleitete Liberalisierung hat große Erfolge hervorgebracht.
({2})
In den ersten Jahren sind 200 000 neue Arbeitsplätze
entstanden. Unter der rot-grünen Bundesregierung hat
die Telekommunikationsbranche ihre Spitzenstellung in
Europa und in der Welt verloren.
({3})
Die Wettbewerbsentwicklung ist ins Stocken geraten.
Die Monopolkommission hat erst kürzlich wieder festgestellt, dass auch nach sechs Jahren Liberalisierung ein
Anschlusswettbewerb im Ortsnetz praktisch nicht stattfindet. Auf dem Zukunftsmarkt Breitband sind wir inzwischen nur noch Mittelmaß. Wir liegen weltweit weit
hinter den USA und Japan zurück. Auch in Europa liegen wir hinter den skandinavischen Ländern, der
Schweiz und Österreich nur noch im Mittelfeld.
Natürlich hat die Krise der New Economy alle erwischt, aber uns hat es unter der rot-grünen Bundesregierung ganz besonders stark getroffen.
({4})
Wir sind im Wachstum überdurchschnittlich zurückgefallen und hinken jetzt den anderen Staaten hinterher.
Deshalb müssen wir jetzt alles dafür tun - mit der Novelle des Telekommunikationsgesetzes haben wir die
große Chance -, ein klares Signal in Richtung Wettbewerb, Wachstum und Innovation zu setzen.
Sie allerdings tun das genaue Gegenteil. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt jegliche ordnungspolitische Grundlinie. Das, was am Anfang an vernünftigen Vorschlägen
aus dem Bundeswirtschaftsministerium kam, ist im Abstimmungsprozess mit dem Bundesfinanzminister, Herrn
Eichel, komplett verwässert worden. Ich finde es wirklich tragisch, dass der Finanzminister wegen der Riesenlöcher in seinen Kassen als Aktionär zuallererst auf den
Kurs der Aktien der Deutschen Telekom schaut,
({5})
anstatt eine vernünftige Telekommunikationspolitik zu
betreiben.
({6})
Telekommunikationspolitik muss sich doch an den Erfordernissen des Marktes orientieren und nicht an den
Begehrlichkeiten eines klammen Finanzministers.
({7})
Wir wollen einen fairen Wettbewerb zwischen den Anbietern. Gerade kleinere und auch neue Marktteilnehmer
brauchen einen wirksamen Schutz vor marktbeherrschenden Unternehmen. Deshalb müssen ihre Antragsrechte
gestärkt werden.
Herr Minister, stellen Sie sich einmal vor, Ihre Aktentasche würde gestohlen,
({8})
Sie hätten aber kein Recht, Anzeige zu erstatten, sondern
müssten das einfach hinnehmen. Ich kann mir Ihre Empörung vorstellen und würde diese Empörung auch teilen.
({9})
Genau so gehen Sie aber, Herr Kollege Wend, mit den
Wettbewerbern um. In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass
Wettbewerbsunternehmen kein Recht auf Beantragung
eines Verfahrens haben, wenn sie sich zum Beispiel
durch Dumpingpreise diskriminiert fühlen. Hier geht es
um Millionenbeträge, hier geht es um Unternehmen und
hier geht es um Arbeitsplätze.
Wir wollen eine faire Chance für Wettbewerber und
deshalb Antragsrechte in drei Bereichen: erstens im Bereich der Marktregulierung, zweitens im Rahmen der
Missbrauchsaufsicht und drittens zur Überprüfung von
Entgelten im Vorleistungs- und im Endkundenbereich.
Denn es kann doch nicht sein, dass die Wettbewerbsunternehmen tatenlos zusehen müssen, wenn eine falsche
Entwicklung auf den Märkten die Existenz ihrer Unternehmen bedroht. Es ist ein Skandal, dass Sie die ursprünglich vorgesehenen Rechte der Wettbewerber einfach vom Tisch gefegt haben. Da machen wir nicht mit.
({10})
Wir alle freuen uns natürlich auch über die positive Entwicklung der Deutschen Telekom AG als unserem einzigen Global Player. Diese positive Entwicklung darf nicht
durch überzogene Regulierung gefährdet werden.
({11})
Wettbewerb darf nicht zum Selbstzweck werden, sondern Wettbewerb ist nachgewiesenermaßen in unserer
sozialen Marktwirtschaft das Instrument, mit dem wir
am besten Innovationen und die besten Produkte für die
Verbraucher schaffen. Dies bedeutet immer, dass sich Innovationen für den Entwickler lohnen müssen; auch für
das marktbeherrschende Unternehmen.
Freie Wahl der Anbieter und die Abrechnung aus
einer Hand - das ist das, was die Verbraucher wollen.
Deshalb wollen wir von der Union, dass der Kunde es
bei Fakturierung, Inkasso und Mahnung für verschiedene Telefondienstleistungen wie bisher auch nur mit einem Partner zu tun hat. Eine Rechnung und eine Mahnung - das ist das, was wir wollen.
({12})
Anders das Vorgehen der Bundesregierung. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Nehmen wir einmal an, Sie haben einen Anschluss bei der Deutschen Telekom AG.
Jetzt nutzen Sie ab und zu die Möglichkeit des Call-byCall, verschiedene Mehrwertdienste oder auch alternative Auskunftsdienste. Am Ende des Monats erhalten Sie
heute nur eine Rechnung von der Deutschen Telekom
AG, auf der alle Beträge stehen. Das muss auch so bleiben. Denn stellen Sie sich einmal vor, Sie würden für
alle diese Dienste von den einzelnen Unternehmen eigene Rechnungen und dann vielleicht auch eigene Mahnungen zum Beispiel über 1,17 Euro, über 5,37 Euro
oder über 73 Cent bekommen.
({13})
Sie würden als Verbraucher mit einem Haufen von Rechnungen und Mahnungen über Kleinstbeträge von Firmen
überschwemmt, die Sie teilweise überhaupt nicht kennen.
({14})
Genau das will aber die Bundesregierung. Da kann ich
nur sagen: Das ist für den Verbraucher absolut unzumutbar und das werden wir nicht mitmachen.
({15})
Der nächste Punkt ist: Ihr Gesetzentwurf ist eigentlich
jetzt schon Makulatur. Sie wissen genau, dass er in einigen
zentralen Bereichen heute schon gegen EU-Recht verstößt.
Seit Vorlage Ihres Arbeitsentwurfs vom März 2003 versuchen EU-Vertreter, Ihnen klar zu machen, dass verschiedene Definitionen und auch Prinzipien in Ihrem Entwurf
nicht mit den EU-Richtlinien übereinstimmen. Das betrifft zum einen die Definition des funktionsfähigen
Wettbewerbs und zum anderen das Prinzip der doppelten
Marktbeherrschung.
Wollen wir doch einmal Klartext reden - das habe ich
übrigens in Ihrer Rede vermisst, Herr Minister Clement -:
Mit dieser EU-rechtswidrigen Politik verfolgen Sie nur
ein Ziel, nämlich den Mobilfunk außen vor zu lassen.
Der Grund dafür ist ganz einfach, Kollege Heil. Sie haben gegenüber den Mobilfunkanbietern einfach ein
schlechtes Gewissen. Und ich sage Ihnen: Das haben Sie
zu Recht. Denn schließlich war es Herr Eichel, der in
Deutschland eine Versteigerung der UMTS-Lizenzen
provoziert hat,
({16})
und zwar mit den weltweit höchsten Gebühren von insgesamt 51 Milliarden Euro.
({17})
Inzwischen wissen alle, dass diese Art von Versteigerung ein Riesenfehler war.
({18})
Die Mobilfunkunternehmen werden von der horrenden
Schuldenlast fast erdrückt. Ein Unternehmen hat die LiDr. Martina Krogmann
zenz bereits zurückgegeben; ein zweites steht praktisch
vor dem Aus. Der Aufbau der Netze für die so genannte
dritte Generation des mobilen Internets gerät ins Stocken.
Auch in diesem Zukunftsbereich drohen wir in Deutschland im internationalen Vergleich zurückzufallen.
({19})
- Ich nenne Ihnen gerne unsere Forderungen. Wie Sie
wissen, haben wir einen detaillierten Antrag eingebracht.
({20})
In diesem Antrag fordern wir erstens, dass die EU-Regeln zwingend eingehalten werden müssen. Zweitens
fordern wir, dass im Interesse des Mobilfunks der von
der EU vorgegebene Rahmen auf nationaler Ebene so
ausgeschöpft werden muss, dass weiche Regulierungsinstrumente - die in Ihrem Gesetzentwurf aber nicht vorgesehen sind - greifen können, sodass die Regulierung
in diesem Zukunftsbereich nicht sofort sozusagen mit
dem scharfen Schwert erfolgen muss. Ich halte es für einen Skandal, dass Sie mit zweifelhaften Gesetzen neue
und zusätzliche Hürden für den Mobilfunk aufbauen
wollen.
({21})
Lassen Sie mich zum Schluss auf ein altbekanntes sozialdemokratisches Grundübel zu sprechen kommen.
Wahrscheinlich gibt es nicht ein einziges Gesetz der rotgrünen Bundesregierung, das keine neuen und zusätzlichen Belastungen und Sonderabgaben für die Bürger
und Unternehmen vorsieht.
({22})
Genauso ist es auch bei Ihrer TKG-Novelle.
({23})
Die Bundesregierung will erstens die Telekommunikationsüberwachung vollständig zulasten und auf Kosten der Unternehmen ausweiten.
({24})
Dabei handelt es sich um finanzielle Belastungen, die für
einzelne Unternehmen im dreistelligen Millionenbereich
liegen, Herr Kollege Heil. Zweitens - das ist der Gipfel,
meine Damen und Herren! - will die Bundesregierung
eine neue Zwangsabgabe für Telekommunikationsunternehmen einführen, um damit die Regulierungsbehörde
zu finanzieren.
Wir lehnen beide Belastungen ab. Es geht nicht an,
dass Rot-Grün gerade dieser Zukunftsbranche immer
neue Abgaben auferlegt.
({25})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
seit Wochen verkünden Sie eine Innovationsoffensive.
Die Wahrheit ist jedoch: Solange Sie so unausgegorene
Gesetze wie den vorliegenden Gesetzentwurf vorlegen,
werden Sie - auch wenn Sie noch so viele Innovationsräte ins Leben rufen - selbst die größte Innovationsbremse bleiben.
({26})
Ihr „Jahr der Innovation“ hat mit diesem Gesetzentwurf denkbar schlecht begonnen. Greifen Sie unsere
Forderungen auf! Dann haben Wettbewerb, Wachstum
und Beschäftigung in unserem Land wieder eine gute
Zukunft.
({27})
Ich erteile der Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Sicherlich sind wir mit der TKG-Novelle in Bezug auf
die Umsetzung der EU-Richtlinien etwas im Verzug.
({0})
Aber das hat seine Ursache auch in dem engen Dialog
mit den Unternehmen, mit denen wir die Novelle entwickelt haben. Dieser Dialog war hilfreich, um einen soliden Entwurf vorzulegen.
({1})
Ich bedanke mich jedenfalls beim Bundeswirtschaftsministerium ausdrücklich für die gute Zusammenarbeit mit
Herrn Tacke und den Mitarbeitern des Ministeriums.
({2})
Die Telekommunikation ist eine Schlüsseltechnologie der Wissensgesellschaft. Ein kostengünstiger Zugang
zu den Telekommunikationsdienstleistungen und zum
Internet entscheidet über die Wettbewerbsfähigkeit der
Wirtschaft und ist damit zugleich Voraussetzung für Innovationen und eine funktionierende Servicegesellschaft.
Die neuen Kommunikationstechnologien sind der
Motor der Globalisierung und helfen uns gleichzeitig
- das sollte uns immer bewusst sein -, die Globalisierung auch im Hinblick auf die Individuen, die Wirtschaft
und die Unternehmen zu bewältigen. Deswegen ist die
heutige Diskussion - auch als Fachdiskussion - sehr
wichtig.
Lassen Sie mich zunächst einmal etwas Positives ansprechen. Der Wettbewerb in der Telekommunikation
hat sich in Deutschland positiv entwickelt. Nach dem
Gutachten der Monopolkommission haben die Wettbewerber der Telekom seit 2001 weitere Marktanteile hinzugewonnen. Außerdem sind in letzter Zeit die Preise
für die Nutzung der Sprachtelefonie, des Internets und
des Mobilfunks gesunken. Das kommt den Verbrauchern
und der Wirtschaft zugute. Frau Krogmann, machen Sie
nicht ständig den Fehler der Opposition, gute Dinge am
Standort Deutschland schlechtzureden. Das schadet
nicht nur Ihnen, sondern auch der wirtschaftlichen Entwicklung.
({3})
Der Wettbewerb verläuft allerdings nicht einheitlich.
Der Infrastrukturwettbewerb kommt nur im Mobilfunkbereich so richtig in Gang. Schade ist in der Tat - hier
müssen wir besonders aufpassen und eventuell nachhelfen -, dass bei der zentralen Zukunftstechnologie Breitband noch keine dynamische Entwicklung in Gang gekommen ist. Das hat aber weniger mit Rot-Grün als
vielmehr mit dem mangelnden Wettbewerb in diesem
Bereich zu tun. Diesen müssen wir verbessern.
Mit der TKG-Novelle sollen weitere wichtige Impulse gegeben werden. Wir haben uns dabei an der Leitlinie orientiert: so wenig Regulierung wie möglich, aber
so viel Regulierung wie nötig. Ich finde, dass der Gesetzentwurf hierzu einen gelungenen Kompromiss darstellt. In der EU-Wettbewerbsrichtlinie wird zwar eine
schrittweise Überführung der Regulierungsvorschriften
in das allgemeine Wettbewerbsrecht gefordert. Aber
dort, wo noch eine marktbeherrschende Stellung besteht,
ist eine harte Regulierung weiterhin notwendig. Frau
Krogmann, im Mobilfunkbereich gibt es einen funktionierenden Wettbewerb mit vier Anbietern. Solange sich
diese vier Anbieter auf dem Markt halten, solange also
Wettbewerb besteht, halte ich eine zusätzliche Regulierung in diesem Bereich für nicht notwendig.
({4})
Der Regierungsentwurf sieht vor, dass zukünftig die
Ex-ante-Regulierung von Endkundenmärkten zurückgeführt werden soll. Das ist entsprechend dem Stand
des Wettbewerbs okay. Allerdings muss dann sichergestellt werden, dass die Vorleistungen der Telekom für
die Wettbewerber schnell und verlässlich bereitgestellt
werden. Aus unserer Sicht wäre eine Verpflichtung der
Telekom zu einer umgehenden Bereitstellung der notwendigen Infrastrukturen insbesondere bei der Einführung neuer Produkte notwendig.
Ein weiterer wichtiger Punkt - Frau Krogmann, Sie
haben ihn bereits angesprochen - ist die Beschleunigung der Gerichtsverfahren. Im Gesetzentwurf wird
vorgeschlagen, auf eine Instanz zu verzichten.
({5})
Ich halte die Beschleunigung der Gerichtsverfahren für
sehr gut; denn kurze Gerichtsverfahren helfen, die Entwicklung der Wettbewerbsintensität zu verstärken. Wenn
ein Wettbewerber Jahre auf ein Gerichtsurteil warten
muss, dann ist er vom Markt verschwunden, weil er
keine Kunden mehr hat. Die Beschleunigung der Gerichtsverfahren ist also absolut zu begrüßen.
Ein weiterer wichtiger Punkt - auch diesen haben Sie
bereits angesprochen - ist der Verbraucherschutz. Sie
sollten nicht behaupten, dass in dem vorliegenden Gesetzentwurf die einheitliche Rechnungsstellung infrage
gestellt werde; denn das ist falsch und verunsichert nur
die Kunden. Richtig ist, dass der Kunde umfassende Informationen bekommt und dass er sich sicher auf den
Märkten bewegen kann, dass er also keine Angst haben
muss, von den Anbietern „beschissen“ zu werden.
({6})
Hier müssen wir für Preistransparenz sorgen. Das ist in
einer Wettbewerbswirtschaft eigentlich eine Selbstverständlichkeit, leider aber noch nicht auf diesem neuen
Markt. Deshalb sind wir für eine Preisansagepflicht für
alle Mehrwert- und Call-by-Call-Dienste, damit der
Kunde weiß, worauf er sich einlässt. Der Verbraucher
darf am Ende des Monats keine böse Überraschung erleben, weil er unwissentlich eine sehr teure Dienstleistung
in Anspruch genommen hat.
Wir müssen außerdem den Missbrauch bei den
0190er- und 0900er-Mehrwertdiensterufnummern einschränken. Vor diesem Hintergrund ist es nach meiner
Meinung nicht optimal, die Missbrauchsbekämpfung
in der Nummerierungsverordnung zu regeln. Sie sollte
weiterhin Teil des Gesetzes bleiben.
Ein weiterer wichtiger Punkt des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Frage des Datenschutzes. Der Entwurf sieht vor, die Dauer und die Qualität des staatlichen
Zugriffs vor allem auf Verkehrsdaten deutlich auszuweiten. Wer hat also wann, wo und mit wem telefoniert?
Hier befindet man sich natürlich im Spannungsfeld zwischen Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung und
den Freiheitsrechten der Bürger.
Den gläsernen Bürger wollen wir, die Grünen, nicht.
Wir geben deswegen zu bedenken - die Behauptung, es
könne zu einer weiteren Kostenbelastung der Bürger
kommen, ist richtig -, ob es nicht besser wäre, diesen
Punkt in das Gesetz nicht aufzunehmen und zwecks
Straffung des - bisher zersplitterten - Datenschutzes die
StPO-Novelle abzuwarten. Zuerst muss klar sein, was
untersucht werden soll; danach muss geklärt werden,
wie es untersucht werden soll. Wäre das nicht ein sinnvoller Weg?
Ich muss aber auch sagen: Dieser - aus meiner Sicht
sinnvolle - Weg ist nur zusammen mit der Opposition
möglich; denn wir brauchen die Zustimmung des Bundesrates. Das Problem besteht in der Tat darin - Frau
Krogmann, wenn Sie diesen Zustand beklagen, dann
müssen Sie auch dazu etwas sagen -, dass im Bundesrat
eine noch weiter gehende Verschärfung, zum Beispiel die
Verlängerung der Mindestspeicherzeit von Daten, gefordert wird. Ich fordere Sie auf, Einfluss auf die Innenminister der von Ihrer Partei regierten Länder auszuüben.
({7})
Kehren Sie zur Verhältnismäßigkeit zurück und unterstützen Sie uns in unserem Ziel, den Datenschutz zu
bündeln!
Wir wollen die Novelle des Telekommunikationsgesetzes nutzen, um den Gehörlosen endlich den Zugang
zur Telekommunikation zu ermöglichen. Rund 130 000
Menschen sind zurzeit von der Nutzung des Telefons
ausgeschlossen. In der heutigen Wissenschaftsgesellschaft ermöglichen es aber moderne Bildtelefone mit
Digitalkamera und Gebärdensprachendolmetscher Gehörlosen und Schwerhörigen, am Telefondienst teilzunehmen.
Wir wollen das fördern und wir wollen, dass die
Mehrkosten auf alle Telekommunikationsteilnehmer
verteilt werden. Das wird für den einzelnen Telekommunikationsteilnehmer kaum zu spüren sein; denn diese
Kosten werden sehr gering sein. Ich glaube, dass es in einer sozialen Bürgergesellschaft für alle zumutbar ist, zur
Deckung der Kosten dieser Dienstleistungen für die Gehörlosen und die Schwerhörigen beizutragen.
({8})
Ich komme zum Schluss. Insgesamt halte ich diesen
Gesetzentwurf für gelungen. Wir glauben, dass an dem
einen oder anderen Punkt im parlamentarischen Verfahren noch einige Verbesserungen vorzunehmen sind.
({9})
Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Rainer Funke, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Telekommunikation ist in der Tat einer der dynamischsten
Sektoren der deutschen Volkswirtschaft. Im Telekommunikationssektor finden derzeit rund 350 000 Menschen
ihren Arbeitsplatz. Im vergangenen Jahr sind allein im
regulierten Bereich der Telekommunikationsdienste geschätzte 63 Milliarden Euro umgesetzt worden.
({0})
In den kommenden Jahren werden weitere Milliardeninvestitionen anstehen. Stichworte hierzu sind „breitbandige Infrastruktur“ und „neue Mobilfunksysteme“. Alle
diese Entwicklungen werden die gesamtwirtschaftliche
Bedeutung des Telekommunikationssektors weiter erhöhen.
Diese Branche braucht dringend Klarheit und Sicherheit bei den rechtlichen Rahmenbedingungen.
Weit über 2 000 Unternehmen warten deshalb sehnsüchtig und voller Ungeduld auf die TKG-Novelle. Die Bundesregierung ist bei der Vorlage dieses Gesetzentwurfs
erheblich in Verzug geraten; schließlich hätte sie die entsprechenden europäischen Richtlinien bereits Mitte des
vergangenen Jahres umsetzen müssen. Mittlerweile hat
sogar die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Ich gebe zu, dass das Telekommunikationsgesetz ausgesprochen komplex und kompliziert ist. Natürlich bedeutet die Regulierung zur Öffnung eines Sektors einen
schwerwiegenden rechtlichen Eingriff in den freien
Wettbewerb und natürlich ist die wirtschaftliche Interessenlage der Beteiligten ausgesprochen unterschiedlich.
Es geht aber nicht, dass ein solch kompliziertes Gesetzesvorhaben aufgehalten wird, obwohl schon ein vernünftiger Vorschlag vom Bundesfinanzminister vorlag.
({1})
Ich will das hier ganz klar beim Namen nennen. Das
geht deswegen nicht, weil er als Aktionär der Telekom
AG auch Eigeninteressen hat. Wir müssen schnell dahin
kommen, dass fiskalische Interessen des Finanzministers
gegenüber dem Interesse an einer politisch sauberen
Trennung zwischen Schiedsrichter- und Mitspielerrolle
zurücktreten. Es muss also eine Trennung zwischen
Eigentümer auf der einen Seite und Regulierer auf der
anderen Seite erfolgen.
({2})
Die Öffnung des Telekommunikationsmarktes in der
Vergangenheit war richtig. Das alte TKG ist auch nicht
überholt. Es ist ein gutes Gesetz gewesen. Der jetzige
Bundeswirtschaftsminister hat in den Gesprächen damals sehr intensiv daran mitgewirkt.
({3})
Die FDP setzt voll und ganz auf die Kraft des Wettbewerbs. Deshalb stimmen wir auch mit der grundsätzlichen Zielrichtung der TKG-Novelle überein. Lassen
Sie mich dennoch ganz deutlich sagen: Die Ex-ante-Regulierung und insbesondere der Eingriff in die freie
Preisbildung durch eine staatliche Institution müssen ein
Übergangsphänomen bleiben.
({4})
Im Telekommunikationssektor bleibt jedoch eine Regulierung des Vorleistungsbereichs vorerst notwendig.
Hier ist die Marktbeherrschung des ehemaligen Staatsmonopolisten - leider auch durch politisch falsche Vorgaben, Stichwort „DSL“ - nach wie vor erdrückend.
Hier muss der Gesetzgeber handeln; Frau Dr. Krogmann
hat schon darauf hingewiesen.
Allerdings sollte der Gesetzgeber der Regulierungsbehörde dabei klarer, als im Gesetzentwurf geschehen,
vorschreiben, wann sie handeln muss. Wie sie handeln
soll, ist hingegen eher in das Ermessen der Behörde zu
stellen. Der flexible Einsatz von Regulierungsinstrumenten mit unterschiedlicher Eingriffsintensität muss möglich werden.
({5})
Aber die Erreichung des Ziels, auch den Telekommunikationssektor bei wirksamem Wettbewerb in die allgemeine Wettbewerbsaufsicht, also die der Kartellbehörde,
zu entlassen, darf nicht durch zu große Ermessensspielräume des Regulierers in der Frage, wann er handelt,
konterkariert werden. Ermessensspielräume können
leicht zu mehr Regulierung als notwendig führen, vielleicht auch verführen.
Deshalb bin ich im Übrigen gemeinsam mit der Bundesregierung der Auffassung, dass wir den Mobilfunk
keiner Ex-ante-Regulierung unterwerfen sollten.
({6})
Hier herrscht derzeit wirksamer Wettbewerb.
({7})
Hier brauchen wir derzeit keine Instanz, die besser sein
will als der Markt.
({8})
Wir werden uns in den anstehenden Beratungen - das
ist schon angeklungen - intensiv über Detailfragen unterhalten müssen. So werden wir über die Gefahr einer
Remonopolisierung einzelner Märkte reden müssen. Wir
werden wohl nicht mehr über das Ob, aber sicherlich
darüber, wie wir Resale-Geschäftsmodelle ermöglichen,
noch im Detail verhandeln müssen. Wir werden uns über
die Notwendigkeit der Inkassoverpflichtungen der Deutschen Telekom austauschen und wir werden sehr entschieden über den Versuch des Bundesrates diskutieren
müssen, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Telekommunikationskunden auszuhöhlen.
Weder eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung
für sechs Monate noch eine Verpflichtung zum Erheben
persönlicher Daten von Prepaid-Karten-Kunden wird die
FDP mitmachen.
({9})
Ich bin sehr gespannt, Frau Hustedt, ob Sie den Mund
nur spitzen oder ob Sie bei den Beratungen dann auch
pfeifen werden.
({10})
Auch wir haben ja Ihre Position eingenommen, nämlich
dass erst einmal das StGB und vor allem die StPO, was
die Telefonüberwachung angeht, überarbeitet werden
müssen.
({11})
- Nicht nur denen, sondern sicherlich auch dem Bundesrat; Herr Senator Kusch, ich begrüße Sie.
({12})
- Leider liegt dieses Problem auch hier,
({13})
beispielsweise in Person von Herrn Schily, der heute allerdings nicht anwesend ist. Machen Sie es sich also
nicht zu leicht!
Herr Kollege Funke, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich will noch ein Wort zu den Rechtswegen sagen.
Wir werden darüber zu diskutieren haben. Ich präferiere
den Zivilrechtsweg,
({0})
allerdings über mindestens zwei Instanzen, damit auch
höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesen wichtigen
wirtschaftlichen Fragen möglich wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In den vergangenen Wochen haben
mehrere Investmentbanken ihre Bewertungen für Telekommunikationstitel angehoben, teilweise von „neutral“ auf „attraktiv“ gestellt. Diese Höherbewertung betraf den ehemaligen Monopolisten genauso wie die
Wettbewerber. Damit ziehen die Analysten die Konsequenz aus den deutlich verbesserten Wirtschaftsdaten
der Telekommunikationsbranche. Von einem Stillstand,
wie Frau Krogmann meinte, kann also keine Rede sein.
({0})
Die Umsätze im TK-Markt sind im Jahre 2002 im
Festnetzbereich um 2 Prozent gegenüber dem Vorjahr
und im letzten Jahr noch einmal um weitere 2,5 Prozent
gestiegen. Bei den Mobilfunkdienstleistungen gab es
2001 sogar einen Zuwachs von 8,5 Prozent und 2002
von weiteren 4,1 Prozent. In den letzten beiden Jahren
sind etwa 20 Milliarden Euro in den Dienstleistungsmarkt Telekommunikationsbranche investiert worden.
An diesen Investitionen war die Deutsche Telekom jedoch nur zu etwa 50 Prozent beteiligt. Die Wettbewerber
tragen bereits, wie an diesen Daten deutlich wird, die
Hälfte der Investitionen. Das macht klar, dass die Zeiten
eines auf allen Ebenen dominierenden Monopolisten
vorbei sind. Das gibt Hoffnung, dass wir in absehbarer
Zeit die Regulierung des Marktes überwinden können.
Das macht auch die Leistungsfähigkeit dieser Branche
deutlich. Trotz allgemeiner Wachstumsschwäche der
deutschen Wirtschaft konnte der Telekommunikationsbereich deutlich zulegen.
Andererseits sind jedoch auch Schattenseiten festzustellen: Die Gesamtzahl der Beschäftigten ging 2002
gegenüber dem Vorjahr um 5 Prozent auf nunmehr
230 000 zurück. Das betraf nahezu ausschließlich die
Wettbewerber. In diesem Jahr steht bei der Deutschen
Telekom ein massiver Stellenabbau in der Größenordnung von 40 000 Arbeitsplätzen bevor. Damit ist erstmals seit Beginn der Liberalisierung im Jahre 1998 ein
Einbruch bei den Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen.
Der Beschäftigungsabbau ist insbesondere sektorspezifisch: Im Festnetzbereich ist er doppelt so hoch ausgefallen wie im Mobilfunkdienst. Das heißt, die Unternehmen
haben sich konsolidiert und damit Konsequenzen aus
dem Platzen der Blase des Neuen Marktes gezogen. Der
Zuwachs von circa 20 000 Stellen nach der Liberalisierung wird durch den aktuellen Arbeitsplatzabbau nicht
nur zunichte gemacht, wir verlieren in dieser Branche
sogar massiv Arbeitsplätze. Das macht klar: Eine Neujustierung ist notwendig; die Rahmenbedingungen der
Telekommunikationsbranche müssen überarbeitet werden. Wir müssen den Trend stoppen, dass die Konsolidierung der Unternehmen zulasten der Beschäftigungszahlen geht. Die Zahlen verdeutlichen aber auch, dass
die Nachfrage ungebrochen ist.
Die Analyse zeigt, dass es nun Aufgabe der Politik
ist, durch eine Anpassung der Rahmenbedingungen an
sich verändernde technische und gesellschaftliche Bedingungen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass
die tatsächlich vorhandenen Umsatzsteigerungen auch
zu einem deutlichen Mehr an Beschäftigung und Ausbildung führen. Damit ist die Zielrichtung aus meiner Sicht
eindeutig vorgegeben: Wir müssen die Rahmenbedingungen so setzen, dass mehr investiert wird, dass die Infrastruktur ausgebaut wird und dass mehr Dienstanbieter
die Netze für ihre Angebote nutzen.
Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, mit der
wir gleichzeitig den Katalog der Maßnahmen zur Förderung von Innovationen in der Wirtschaft eröffnen wollen. Wir werden nach den Reformen am Arbeitsmarkt
mit dem gleichen Reformwillen die TKG-Novelle,
({1})
das Energiewirtschaftsgesetz und weitere Maßnahmen
für Innovationen und für die Etablierung von Zukunftstechnologien im Mittelstand in Angriff nehmen. Aus
meiner Sicht spielt dabei das Telekommunikationsgesetz
bei zwei Projekten eine herausragende Rolle: zum Ersten
die Neugründung von Unternehmen. Dabei sind Hilfestellungen notwendig, die das Eingehen dieses Wagnisses erleichtern. Auch und gerade in der Telekommunikationsbranche brauchen wir eine neue Gründerwelle. Wir
brauchen mehr Angebote von Diensten und mehr Investitionen in die Bereitstellung von Infrastruktur. Dazu
werden, ermöglicht durch die Reformen des letzten Jahres, auch die Ich-AGs bei den Programmierern, die Minijobs in den Callcentern und die Mittelstandsförderung
bei den Netzbetreibern hilfreich sein. Wir haben bei den
Reformen 2003 die Grundlage dafür geschaffen, dass
sich neue innovative Unternehmen leichter gründen lassen, dass sie auch weniger Steuern und Abgaben zahlen
und entrichten müssen und dass die Arbeit Suchenden
schneller und passgenauer in Stellen vermittelt werden
können. Auch die Mittelstandsförderung ist für die hier
angesprochene Branche wichtig. Wir haben gerade für
diese Unternehmen Technologiezentren eingerichtet und
Know-how bereitgestellt, mit denen Gründer unterstützt
werden können.
In diesem Zusammenhang will ich das Thema Bürokratieabbau ansprechen. Dieser erleichtert nicht nur
Unternehmensgründungen. Wir sind auf Unternehmen
im TK-Bereich angewiesen, um Bürokratieabbau, aber
auch Effizienzsteigerung verwirklichen zu können. Die
Branche hat die Technologien, mit denen wir zum Beispiel Behördengänge unnötig machen, Genehmigungen
vereinfachen und inzwischen die Steuererklärung papierlos, einfach, online ermöglichen. Da ist im Übrigen,
meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Modell - „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ - ein alter
Hut. - Ein paar Klicks und einfache Steuererklärungen
über das Internet sind auch schon heute möglich; dessen
sollten wir uns alle bewusst sein.
({2})
- Das ist auch in Deutschland möglich!
Das weist bereits auf das zweite Projekt hin: Wir
brauchen einen neuen Technologieschub. Wir waren bei
der Digitalisierung des Telefons, bei der Einführung der
Breitbandtechnologie und bei der Netzabdeckung für
den Mobilfunk in Europa und weltweit mit an der Spitze.
Diese Zeiten sind vorbei, weil das alte TKG nicht genügend Anreize für Investitionen gelassen hat. Heute haben wir in Europa die zweitschlechtesten Wachstumsraten bei dieser Breitbandtechnologie. Wir sind im Bereich
E-Government weit hinten.
Der Bürokratieabbau setzt auf Onlinelösungen, darauf, Formulare unnötig zu machen. Anmeldungen und
Statistiken werden online erledigt. Das, meine Damen
und Herren, ist die Zukunft, auf die wir uns gemeinsam
konzentrieren sollten.
({3})
Auch im Gesundheitswesen gibt es viele Anwendungsmöglichkeiten: Jedes Rezept wird heute noch sechsmal
erfasst. Wir brauchen Unternehmen, die für diese unnötigen Vorgänge bessere und patente Lösungen entwickeln.
Das ist der Zusammenhang: Wir brauchen Anbieter von
Dienstleistungen und Software, damit die öffentlichen
Verwaltungen mit modernen Lösungen effektiv arbeiten
können.
Damit hat das TKG auch eine Funktion als Bindeglied zum Thema Innovation.
({4})
Kaum ein Bereich hat in unserer Vorstellung die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft so unterstrichen wie die
Kommunikationsmedien. Hier ist auch ein deutlicher
Impuls für eine Zunahme des Wachstums zu erkennen;
auf die wieder zunehmende Bedeutung der Technologiewerte an der Börse habe ich bereits hingewiesen. Allein die Breitbandtechnologie kann bei einem zunehmenden Ausbau der Verfügbarkeit über die vielfältigen
Anwendungsmöglichkeiten einen deutlichen Beitrag
zum Wirtschaftswachstum leisten.
({5})
Wir sind ja erst am Anfang der Nutzung des Internets.
Die Zukunft kann heißen, die mobile Gesellschaft zu
schaffen, Informationen immer dort nutzbar zu machen,
wo sie gerade gebraucht werden. Die Nutzung für Gehörlose ist von Frau Hustedt angesprochen worden.
Diese Nutzung eröffnet Chancen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch neue Technologien.
Ein weiteres Beispiel ist die Jobcard. Stellen Sie sich
vor, wie effektiv wir mit einer solchen Lösung auch gegen Schwarzarbeit vorgehen könnten: Auf dem Bau, in
der Gastronomie und natürlich auch im Reinigungsdienst können Beschäftigungsverhältnisse sofort transparent gemacht werden.
Alles das macht deutlich: Die Telekommunikationsgesetz-Novelle bietet eine Chance für moderne Innovationen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und
Arbeit hat, wie wir von allen Seiten gehört haben, gute
Vorarbeit geleistet. Es kommt jetzt darauf an, eine einvernehmliche Lösung möglichst schnell zu erzielen, damit die Innovationen für die Menschen in diesem Land
positiv spürbar werden. Ich baue auf Ihre konstruktive
Mitarbeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Brandner hat eben in Bezug auf die Telekommunikation einen Zustandsbericht, der die mehr
als fünf Jahre Ihrer Regierungszeit umfasst, vorgelegt.
Herr Kollege Brandner, Sie haben Recht. Herr Minister,
ich kann dazu nur sagen: Packen Sie es an! Es gibt viel
zu tun.
Wir wollen mit einem modernen Telekommunikationsgesetz folgende Ziele erreichen: Das neue Gesetz
muss rasch dazu beitragen, dass die 230 000 Arbeitsplätze im engeren Bereich der Telekommunikation um
einige Zehntausende aufgestockt werden. Wir wollen,
dass mit dem neuen Gesetz Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit der Umsatz der Telekommunikationsindustrie - er betrug im engeren Bereich der Telekommunikation 64 Milliarden Euro - rasch und deutlich
nach oben geht. Wir wollen, dass mit dem neuen Gesetz
Investitionsbremsen gelockert und beseitigt werden. Wir
wollen auch, dass Rechts- und Planungssicherheit geschaffen werden,
({0})
die es erlauben, dass Milliardeninvestitionen, die für die
Verlegung von Leitungskabeln sowie für den Bau von
Relaisstationen oder Sendeanlagen schon längst geplant
sind, endlich realisiert werden.
({1})
Das Telekommunikationsgesetz kann zum Schwungrad werden.
({2})
Es kann das Wachstum der Wirtschaft anschieben, das
wir dringend brauchen.
({3})
Wenn dieses Gesetz richtig gemacht wird, kann Deutschland international verloren gegangenen Boden im Hightechbereich wieder gutmachen.
({4})
- Herr Kollege Kelber, Deutschland hat in den letzten
Jahren in diesem Bereich - das hat die Kollegin
Krogmann zu Recht angeprangert - Boden verloren. Das
bedauern wir.
({5})
- Das ist kein Oppositionsgerede.
Tatsache ist, dass 1996 durch die Liberalisierungen,
die damals unter der früheren Bundesregierung vorgenommen worden sind, erhebliche Wachstumspotenziale
freigesetzt worden sind. Wir waren technologisch
Spitze. Aber Sie haben durch die organisierte politische
Untätigkeit der letzten Monate dazu beigetragen, dass
wir in vielen Bereichen diesen Vorsprung verspielt haben.
({6})
Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann muss es Sie
zumindest nachdenklich stimmen, dass die EU ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Dieses Gesetz
hätte nämlich sehr viel eher vorgelegt werden müssen.
({7})
Wir wollen mehr Wettbewerb und weniger staatliche
Reglementierung und Bevormundung. Wir wollen die
Wachstumskräfte fördern statt einengen. Ich will Ihnen
einige Beispiele nennen. Wir wollen die Zahl der Breitbandanschlüsse - ich denke, in diesem sehr wichtigen
Bereich sind Sie mit der Opposition einig - deutlich erhöhen. Wir wollen, dass diese Technologie eine größere
Verbreitung erfährt und dass die Investitionschancen, die
in dieser Technologie stecken - das geschätzte Volumen
beträgt 20 Milliarden Euro in den nächsten Jahren -, genutzt werden.
({8})
- Auch konkret.
Wir wollen Wettbewerb ermöglichen. Das heißt konkret, dass Fakturierung, Inkasso und Mahnung in einer
Hand bleiben müssen. Das ist richtig und wichtig aus
Gründen des Verbraucherschutzes und um unwirtschaftliche Parallelstrukturen zu vermeiden.
({9})
Wir wollen aber auch, dass Anreize zur Schaffung alternativer Möglichkeiten der Rechnungsstellung genutzt
und gefördert werden, um zu einem größeren Angebot
bei der Fakturierung zu kommen.
({10})
- Das habe ich doch gesagt: Wir wollen alternative Möglichkeiten fördern.
Zum Thema Resale sage ich, dass eine Bündelung des
Resale, die im Ermessen der Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post liegt, zugelassen werden
kann. Ich denke, dass das wichtig ist.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Wir wollen, dass
die Regulierungsbehörde auch in Zukunft ihren Aufgaben nachkommen kann und dass sie richtige Ziele verfolgt. Das bedeutet, dass die Regulierungsbehörde unabhängig ist. Wir wollen präzise Ermessensspielräume an
der richtigen Stelle, sodass Investitionsentscheidungen
möglich werden.
Wir wollen, dass Regulierungsverfügungen nur von
der in der Regulierungsbehörde neu zu schaffenden Präsidentenkammer im Rahmen ihrer erweiterten Aufgabenbereiche getroffen werden. Wir wollen, dass grundsätzlich Weisungen des Bundesministeriums für Wirtschaft
und Arbeit an die Regulierungsbehörde veröffentlicht
werden. Das ist im Hinblick auf den Gesichtspunkt der
Transparenz von besonderer Bedeutung.
Wir wollen, dass der Beirat der Regulierungsbehörde
künftig eine verstärkte Position bei der politischen Kontrolle der Regulierungsbehörde wahrnehmen kann und
damit der Funktion eines Bindegliedes zu den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes und der Länder
nachkommen kann.
({11})
Wir wollen ganz konkret, dass der Beirat neue Möglichkeiten zur universellen Kontrolle der Umsetzung der
Ziele des TKG erhält. Ich sage an dieser Stelle auch: Das
muss nicht mit einer Personalaufblähung und mit neuen
Strukturen verbunden werden. Insbesondere einen dritten Vizepräsidenten bei der Regulierungsbehörde halten
wir für überflüssig.
({12})
Abschließend: Lassen Sie den Tiger aus dem Telekommunikationstank, in den Sie ihn bisher eingesperrt
haben, frei! Eröffnen Sie Möglichkeiten für die Telekommunikation! Wir wollen Ihnen, soweit es Sinn
macht, gerne dabei helfen.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man die Debatte heute hier verfolgt, hat man den
Eindruck, dass es Massenpetitionen zur sofortigen Inkraftsetzung dieses Gesetzentwurfes gibt. Das ist aber
nicht so. Dieser Gesetzentwurf trifft auf harsche Kritik
in der Wirtschaft, aber noch mehr bei Datenschützern.
Deshalb möchte ich Sie eingangs an ein Jubiläum erinnern, das nahezu unbemerkt verstrichen ist: Vor
20 Jahren sprach das Bundesverfassungsgericht sein so
genanntes Volkszählungsurteil. Damit stärkte es das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und
Datenschutz. Das nun vorliegende Telekommunikationsgesetz spricht diesem Urteil Hohn.
({0})
Sie wollen per Gesetz erzwingen, dass bei Telefongesprächen alle anfallenden Verbindungsdaten über sechs
Monate gespeichert werden. Damit werden nicht nur
Anrufer, sondern auch Angerufene erfasst. Das widerspricht dem Datenschutz ebenso wie dem Verbraucherschutz. Mehr noch: Sie behandeln im Informationszeitalter alle, die sich moderner Kommunikationsmittel
bedienen - man kann auch sagen: die gesamte Bevölkerung -, wie potenzielle Verbrecher. Wir alle wissen: Die
technischen Möglichkeiten, Herr fremder Daten zu werden, wachsen immens. Leider wächst auch die Begierde
des Staates, diese Möglichkeiten auszunutzen. Das ist
die eigentliche Krux.
Der Bundesrat und, wie ich in der Zeitschrift des Bundes Deutscher Kriminalbeamten las, auch Frau Bundesministerin Zypries wollen sogar prophylaktisch sammeln. Wer ein Prepaidhandy, ein Handy mit beschränkter
Kartenfunktion, aber ohne Vertrag, erwirbt, soll künftig
registriert werden. Kein Rechnungs- und Buchungsverfahren gebietet eine solche Praxis,
({1})
nur die ungehemmte Sammelwut persönlicher Daten.
Diese angestrebte Identifikationspflicht ist nichts anderes als eine Datenspeicherung auf Vorrat und ohne Verdacht. Der Rechtsstaat geht und Big Brother kommt. Das
ist von derselben Güte wie der Vorschlag, künftig die
DNA von Säuglingen unmittelbar nach deren Geburt zu
erfassen. Denn mit höherem Lebensalter wächst die
Wahrscheinlichkeit, dass sie später entweder Verbrecher
oder Opfer von Verbrechen werden. Das ist Ihre Logik,
aber nicht die Logik der PDS im Bundestag.
({2})
Aber nicht nur vonseiten der Nutzer moderner Kommunikation ist Ihr Gesetz ein Unding. Auch für die Anbieter entsprechender Leistungen enthält es Zumutungen.
Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V. hat diese Zumutung
sehr bildlich beschrieben. Ich zitiere den Hauptgeschäftsführer:
Nimmt man allein den E-Mail-Verkehr bei einem
einzigen größeren Internetprovider, ergeben sich
bei der geforderten zwölfmonatigen Dauer etwa
30 000 Gigabyte gespeicherter Daten. Ausgedruckt
und abgeheftet wären das 3 000 Kilometer Ordner.
Das ist mehr als die Strecke von Berlin bis Kairo.
Mit Ökonomie hat ein solches Vorgehen überhaupt
nichts zu tun.
Er rechnet weiter, dass für die Sicherheitsbehörden davon wahrscheinlich nur 10 Meter relevant sind. Ich
möchte hinzufügen: Selbst wenn es 100 Meter wären, wären 99,9 Prozent zu viel und falsch gespeicherte Daten.
Deshalb: Machen Sie ein besseres Gesetz und kommen Sie noch einmal wieder!
({3})
Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Telekommunikationssektor liegt eines der
höchsten Entwicklungspotenziale für wirtschaftliches
Wachstum in unserem Land. Das ist hier bereits mehrfach betont worden. Dieser Markt ist darüber hinaus eine
Schlüsselbranche für die Modernisierung unseres Landes insgesamt, also für Wachstum, Innovation und für
die Schaffung von Arbeitsplätzen. Es gilt, eine solche
Boombranche weiterzuentwickeln und ihr einen Rahmen
zu geben, der gesamtwirtschaftlich zum größtmöglichen
Erfolg wird. In dieser Zielsetzung sind wir uns sicherlich
alle einig.
Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im Jahr 1996 haben
sich die Rahmenbedingungen entscheidend geändert.
Die EU-Richtlinien geben das vor. Aber nicht nur diese
sind dafür verantwortlich, sondern vor allem eine sehr
dynamische Entwicklung auf dem Markt und technischer Fortschritt machen es notwendig, heute ein neues
Telekommunikationsrecht zu schaffen.
Als Gesetzgeber wollen wir heute nicht nur auf die
Veränderungen, die ich beschrieben habe, reagieren,
sondern wir müssen vielmehr vor Augen haben, wie der
Telekommunikationsmarkt in fünf oder zehn Jahren
sein soll und sein kann.
Wir stehen bereits heute an einem Punkt, der 1996 bei
der Beschlussfassung über das TKG so nicht vorstellbar
war. Die Branche hat nach Angaben der Monopolkommission im Jahr 2003 einen Umsatz von 63 Milliarden
Euro erwirtschaftet; das sind fast 20 Milliarden Euro
mehr als im Jahr 1998. Von Stillstand kann also nicht die
Rede sein, Frau Kollegin Krogmann.
({0})
Betrachtet man allein die Zahl von Nutzern von Mobiltelefonie, stellt man fest, dass sie im Jahr 2003 im
Vergleich zu 1998 von 14 Millionen auf über 63 Millionen gestiegen ist. Das ist ein Zuwachs von sage und
schreibe 350 Prozent. Aber auch die technischen Innovationen sind enorm: Im Jahr 2003 gab es 3,2 Millionen
DSL-Anschlüsse. Frau Kollegin Krogmann, die Ursache
für die langsame Ausbreitung von Breitbandigkeit liegt
darin, dass wir nicht frühzeitig genug damit begonnen
haben. Darin sind wir uns doch wohl einig: Wir können
noch viel mehr machen. Wir wollen, dass wir in diesem
Bereich durch kluge Rahmensetzung unterschiedliche
Breitbandangebote in Deutschland nutzen können. Hier
gibt es einen Nachholbedarf, auf den ich gleich noch zurückkommen werde.
Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Gern.
Herr Kollege Heil, Sie haben den Zuwachs bei der
Mobiltelefonie angesprochen. Wir haben uns vorhin von
der Frau Kollegin Krogmann den Vorwurf anhören müssen, wir sollten bei der Regulierung von Mobiltelefonie
mehr den europäischen Vorschlägen folgen.
Können Sie mir bestätigen, dass wir kurz vor Weihnachten mit der Kollegin Krogmann mit den Mobilfunkern zusammengesessen haben und sie diesen gesagt
hat, sie persönlich werde sich gegen jede Regulierung
bei der Mobiltelefonie einsetzen? Uns hat das verwundert, weil sie einem Vertreter der EU-Kommission bei
einer Veranstaltung der American Chamber of Commerce am Abend vorher gesagt hatte, sie sei für mehr
Regulierung im Mobilfunksektor.
Ich kann nur sagen: In der gleichen Art und Weise, in
der die Kollegen von der Union auf den Pudding gehauen haben, benehmen sie sich auch in Gesprächen,
nämlich wie ein Pudding, den man nicht an die Wand nageln kann. Wir haben tatsächlich das Problem, Frau
Dr. Krogmann, dass wir sehr gern mit Ihnen fachlich zusammenarbeiten würden. Das Spiel kann aber nicht so
laufen, dass Sie allen in der Branche in Gesprächen alles
versprechen, statt klare Kante zu zeigen.
Wir wollen, dass im Mobilfunkbereich die deutschen
Besonderheiten betrachtet werden. Es gibt dort eine andere Geschichte als im Festnetzbereich. Es gibt in
Deutschland einen ordentlichen Wettbewerb zwischen
den Netzen, und wir müssen aufpassen, dass wir Regulierung nicht in dem Maß einführen, in dem wir es nicht
brauchen. Das ist vollkommen klar. Deshalb werden wir
dieses Spiel nicht mitmachen.
({0})
Kollege Heil, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Krogmann?
Sehr gern.
({0})
- Nein, kann ich nicht.
Kollege Heil, könnten Sie bitte bestätigen, dass das
Spielchen, das Sie sich mit Ihrem Kollegen Kelber auf
meine Kosten geleistet haben, eine Unverschämtheit
war?
({0})
Nein, das kann ich nicht.
Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, was ich bereits
in meiner Rede ausgeführt habe.
({0})
Ich habe darauf hingewiesen, dass von allen Seiten
- aus der Wirtschaft, von der Monopolkommission, von
der Regulierungsbehörde, aber vor allem auch von der
EU-Kommission - die Art der Umsetzung angeprangert
wird, die Sie im Telekommunikationsgesetz vorsehen.
({1})
Sie versuchen, eine Lex Mobilfunk zu schaffen, die von
vornherein bestimmte Märkte ausgrenzt. Dies ist mit
EU-Recht nicht kompatibel.
Unsere Position dazu ist ganz klar. Wir müssen EURecht einhalten. Es sieht unter anderem vor, dass die
Regulierungsbehörde aufgrund einer Marktanalyse festzustellen hat, auf welchen Märkten - der Terminierungsentgeltmarkt ist vorgegeben - kein wirksamer Wettbewerb herrscht. Im Rahmen der Marktanalyse muss die
Regulierungsbehörde entscheiden, welche Instrumente
anzuwenden sind.
({2})
Wir möchten - das und nichts anderes ist unsere Position; das habe ich zu jedem Zeitpunkt gesagt - weiche
Instrumente ins Gesetz aufnehmen,
({3})
um der Regulierungsbehörde die gesamte Palette der Instrumente zugunsten des Mobilfunkes zu Verfügung zu
stellen.
Wir sind nicht der Regulierer,
({4})
sondern die Ordnungspolitiker, die den Rahmen zu setzen haben. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen,
Kollege Heil?
({5})
Frau Kollegin Krogmann, vielleicht kann ich genauso
lange antworten, wie Sie gefragt haben ({0})
wenn es eine Frage gewesen wäre. Sie müssen keine
stellen; das ist in Ordnung. Ich versuche es zumindest
einmal.
({1})
- Soll ich Ihnen antworten? Das kann ich gern machen.
Die Frage ist doch, ob Sie de facto Regulierung im
Mobilfunkbereich wollen oder nicht.
({2})
Mit dieser Frage haben wir uns auseinander zu setzen.
Ich gebe Ihnen Recht, dass die EU-Richtlinien im
Grundsatz eine technologieneutrale, netzneutrale Regulierung vorsehen. Wir können aber spezifische Regulierungen durchaus möglich machen. Das sagen Ihnen auch
eine ganze Menge Experten.
Sie haben gesagt, die Wirtschaft in Deutschland betrachte das alles als EU-rechtswidrig. Dann haben Sie
die Monopolkommission, die EU-Kommission und die
RegTP zitiert. Reden Sie doch einmal mit der Wirtschaft! Reden Sie einmal mit den Unternehmen! Die machen sich große Sorgen wegen Aussagen wie der Ihren,
die der Kollege Kelber vor der Amerikanischen Handelskammer zitiert hat. Das bringt Sorge und Verunsicherung mit sich.
Deutschland ist im Mobilfunkbereich sehr gut aufgestellt. Wir haben Wettbewerb und ganz ordentliche
Preise - im Mittelfeld in Europa. Die Frage ist, ob Sie in
Bereichen regulieren wollen, wo Regulierung nicht notwendig ist, oder ob Sie die Regulierung dort konzentrieren und durchschlagskräftig machen wollen, wo wir sie
wirklich brauchen. Frau Kollegin Krogmann, das ist die
Frage, die Sie begreifen müssen.
({3})
Insgesamt kommt die Monopolkommission zu dem
Ergebnis, dass die Wettbewerbsentwicklung im Telekommunikationsbereich auch in den vergangenen - gesamtwirtschaftlich durchaus schwierigen - zwei Jahren
sehr positiv verlaufen ist. Auch das zum Stichwort Stillstand, Frau Kollegin Krogmann.
Der Kabinettsentwurf zur Novellierung des Telekommunikationsgesetzes ist eine gute Grundlage für die folgende parlamentarische Arbeit. Für die SPD-Bundestagsfraktion erkläre ich, dass wir den vor uns liegenden
Gesetzentwurf an vier Maßstäben messen werden.
Der erste Maßstab, auf den es uns ankommt, ist, ob der
Gesetzentwurf und die dort definierten Rahmenbedingungen ordnungspolitischen Gesichtpunkten Rechnung tragen. Es gilt, den Rahmen so anzulegen, dass es zu mehr
Wettbewerb kommt. Es geht uns aber nicht um reinen
Preiswettbewerb - vielleicht mag uns das unterscheiden -,
sondern um einen volkswirtschaftlich produktiven, nachhaltigen Wettbewerb. Deshalb ist der Wettbewerbsbegriff
im Verfahren genau zu definieren. Auch die Frage der
Marktdefinition spielt eine wichtige Rolle.
Der zweite Maßstab ist eine Gesetzesfolgenabschätzung, die wir im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
vorzunehmen versuchen, um zu ermessen, welche volkswirtschaftlichen Auswirkungen die vorgesehenen Regelungen haben. Unser Ziel ist es, durch sinnvollen Wettbewerb Innovationen, Wachstum und Beschäftigung in
Deutschland zu fördern. Deshalb müssen wir sowohl
durch Wettbewerb im Infrastrukturbereich als auch
durch Dienstewettbewerb Investitionsanreize schaffen.
Professor Picot, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Arbeitskreises für Regulierungsfragen und ein anerkannter Telekommunikationsexperte, schätzt, dass ein
massiver Ausbau der Breitbandnetze in Deutschland das
Wirtschaftswachstum zwischen 0,3 und 0,5 Prozent pro
Jahr steigern könnte. Diese Perspektive zeigt deutlich,
dass es sich lohnt, in der Gesetzgebung sehr sorgfältig
im Interesse unseres Landes zu arbeiten.
Ich mache mir keine Illusionen: Es geht um ein
Thema, das die Zuschauer, die uns heute zuhören und
nicht in der Diskussion stecken, nicht mitreißt. Es ist
kein Herzblutthema vieler Menschen. Nichtsdestoweniger ist das ein für unsere Volkswirtschaft ganz entscheidendes Thema. Denn hier geht es um die Grundlagen,
die für Wachstum und Beschäftigung gelegt werden.
Drittens werden wir den Gesetzentwurf an den Anforderungen unserer Verfassung messen, viertens - und
zwar in dieser Reihenfolge - an den Vorgaben aus den
fünf in nationales Recht umzusetzenden europäischen
Richtlinien. Konstitutiv für diese Richtlinien ist - das
habe ich gesagt - die Technologieneutralität. Das ist
keine Frage. Aber wir müssen darauf achten, dass den
Rahmenbedingungen, der Geschichte und dem Entwicklungsstand in Deutschland im Rahmen des Korridors,
den wir nutzen können, Rechnung getragen wird.
Wir werden im Gesetzgebungsverfahren also einen
ordnungspolitischen, einen volkswirtschaftlichen, einen
Verfassungsmäßigkeits- und einen EU-Konformitätstest
durchführen, weil wir sehr sorgfältig sein wollen. Natürlich ist es nicht schön, wenn man Zeiträume zur Umsetzung von Richtlinien nicht einhält. Aber, Frau
Dr. Krogmann, ich sagen Ihnen ganz klar: Hier geht
Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir wollen ein gutes Gesetz,
({4})
weil dies, wie auch aus Ihren Reihen immer wieder bestätigt wird, wirklich die Magna Charta für die gesamte
Branche ist.
({5})
Meine Damen und Herren, im Folgenden möchte ich
noch kurz auf einige Einzelheiten des Gesetzentwurfes
eingehen, zum Beispiel, Frau Kollegin Krogmann, auf
die Forderung des Bundesrates nach einer sechsmonatigen Speicherung aller bei der Telekommunikation
anfallenden Verkehrsdaten auf Vorrat. Aus meiner
Sicht stellt eine solche Verpflichtung für die Branche
eine zu große Bürde da. Sie ist in Abwägung mit den
Anforderungen der inneren Sicherheit als unverhältnismäßig zu betrachten.
({6})
Frau Kollegin Krogmann, ich möchte Ihnen eines sagen: Sie müssen in ihren Reihen ein bisschen aufpassen,
dass es nicht zu einer komischen Arbeitsteilung beim
Datenschutz und bei der Sicherheit im Telekommunikationsbereich kommt. Ihre Innenpolitiker, vor allem diejenigen aus den Ländern, fordern immer schärfere Regelungen.
({7})
Dann beklagen Sie im Bundestag die Kosten für die
Branche. Das ist ein Verfahren, das wir so nicht mitmachen werden.
({8})
Wir werden verhältnismäßig vorgehen und dieses Ansinnen des Bundesrates und auch des Landes Hamburg zurückweisen.
({9})
Wir werden die sicherheitsrelevanten Fragestellungen
sehr sorgfältig prüfen. Auch werden wir den Belangen
des Verbraucherschutzes und des Datenschutzes Rechnung tragen. Hier werden wir in den nächsten Tagen und
Wochen eine sehr intensive Debatte zu führen haben.
Denn es geht tatsächlich um Bürgerrechte, aber auch um
Belastungen für die Branche.
Diskussionsbedarf gibt es meines Erachtens auch im
Bereich des Rechtsschutzes. Jetzt haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen, dass es bei der Frage, wie sich Unternehmen gegen Regulierungsentscheidungen gerichtlich wehren können, beim Verwaltungsrechtsweg
bleiben soll.
({10})
Ich will Ihnen sagen, dass ich in dieser Diskussion sehr
offen bin, auch einen anderen Weg zu gehen und in Erwägung zu ziehen, die Zivilgerichtsbarkeit, die Kartellsenate der Zivilgerichte, als zuständig zu betrachten.
Herr Kollege Krings, das werden wir sehr sorgfältig prüHubertus Heil
fen. Hier gibt es, um das klar zu sagen, auf beiden Seiten
gute und schlechte Argumente.
Für mich sind es zwei bzw. drei Argumente, die es
notwendig machen, hier eine Öffnung vorzunehmen. Die
Zivilgerichte haben zukünftig auch über die staatlichen
Regulierungsentscheidungen auf dem Energiesektor zu
urteilen, wo sich ganz ähnliche Fragestellungen ergeben.
Deshalb stellt sich die Frage, ob es zweckmäßig ist, dies
dort anzusiedeln, und ob wir langfristig die Perspektive
in Richtung GWB eröffnen wollen. Dies sind gute Argumente dafür.
Aber es gibt auch ein paar Argumente dagegen. Die
Verwaltungsgerichte haben Kompetenzen aufgebaut. Ich
biete Ihnen an, dass wir uns das in einem Verfahren - zu
zweit, zu dritt oder zu viert - in Ruhe miteinander anschauen und die besten Argumente abwägen. Aus der
Branche wissen auch Sie, dass es, je nachdem, mit welchem Unternehmensvertreter man redet und welcher Jurist gerade eingestellt wurde, unterschiedliche Signale
gibt. Aber wir werden darüber sehr sorgfältig diskutieren.
({11})
Wichtiger ist, dass wir den Rechtsweg verkürzen, dass
wir Regulierungen durchschlagskräftiger machen und
dass wir verhindern, dass Regulierungsentscheidungen
über den Rechtsweg obstruiert werden, wie das in der
Vergangenheit an der einen oder anderen Stelle der Fall
war.
Durch die vielen Zwischenfragen ist mir die Zeit ein
bisschen davongelaufen.
({12})
Daher möchte ich meine Ausführungen zum Schluss auf
folgenden Nenner bringen: Die eigentlichen Entscheidungen, die für die Marktregulierung sehr wichtig sind,
haben mit dem Resale, der Regulierung von Vorleistungen und der Entgeltregulierung zu tun. Diese Punkte
werden wir sehr sorgfältig betrachten.
Lassen Sie mich noch eine Schlussbemerkung zum
Thema Billing und Inkasso machen, weil ich auch hier,
Herr Kollege Singhammer, die Unionsposition für eine
Puddingposition halte. Auf der einen Seite sagen Sie,
dass alles aus einer Hand kommen soll, auf der anderen
Seite wollen Sie alternative Inkasso- und Billingsysteme
fördern. Was denn nun? Ich sage Ihnen, dass wir uns in
Ruhe damit beschäftigen werden. Warum kann man
nicht darüber sprechen, den Marktbeherrscher jetzt auf
absehbare Zeit dazu zu verpflichten, diesen Aspekt mit
einer Sonnenuntergangsklausel zu versehen und dadurch
den Aufbau von alternativen Infrastrukturen zu betreiben? Das halte ich für einen Weg, über den wir diskutieren können. Ich sehe, dass hier bei der FDP mehr Offenheit als bei der Union gibt.
Meine Damen und Herren, wenn wir über den Telekommunikationssektor reden, geht es tatsächlich um
nicht mehr und nicht weniger als Wachstum, Innovation
und Beschäftigung in Deutschland. Ich freue mich auf
die Debatten, die wir in den nächsten Tagen führen werden. Wir werden zügig, aber sorgfältig beraten. So wird
es uns hoffentlich gelingen, ein Vermittlungsverfahren
mit dem Bundesrat zu vermeiden. Deshalb spare ich mir
heute auch die eine oder andere Bemerkung zu den Positionen der Länder.
Ich komme zum Schluss. Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit. Wir verfolgen das Ziel, der
deutschen Wirtschaft einen Schub zu geben. Außerdem
wollen wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern in
Deutschland diese neuen Kommunikationsmittel zur
Verfügung stellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Günter Krings,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Es ist mir ein besonderes Vergnügen, in
der ersten Debatte über ein Gesetz im Jahr eins der Entdeckung der Innovation durch die amtierende Bundesregierung reden zu dürfen. Man kann sich leicht vorstellen,
wie die Mitarbeiter und Referenten der SPD nach der
Vorstandsklausur in Weimar die anstehenden parlamentarischen Themen fieberhaft durchforsten mussten, um
herauszufinden, was man noch alles unter der Überschrift Innovation der staunenden Öffentlichkeit präsentieren könne. Laut den Weimarer Leitlinien gilt sogar die
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe als
Ausweis von Innovation in Deutschland.
Es verwundert daher nicht, dass Sie auch auf das neue
Telekommunikationsgesetz gestoßen sind und dieses
Projekt, das allerdings schon seit einem Jahr läuft, umgewidmet haben und nun in den Dienst Ihrer Innovationskampagne stellen. Dabei hat die Telekommunikationsbranche in der Tat viel mit Innovation und Zukunft in
unserem Land zu tun.
({0})
Das Ergebnis der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte, die die unionsgeführte Bundesregierung
1996 vorgenommen hat,
({1})
waren niedrigere Preise und die Schaffung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen in Deutschland.
({2})
Dieser Erfolg fußt zu einem ganz erheblichen Teil auf
der Entwicklung und der Anwendung neuer Techniken.
Er basiert darauf, dass sich Ingenieure und Techniker
Gedanken darüber machen, wie das Telefonieren, wie
die Datenkommunikation, ja wie mobiles Leben und Arbeiten in Deutschland besser und nutzerfreundlicher
werden kann.
Die Entwicklung der letzten Jahre verlief allerdings
- das ist eben schon angesprochen worden - weitaus weniger erfreulich. Es hat keinen Zweck, das von Ihrer Seite
schönzureden. Im Gegensatz zum weltweit weiterhin expandierenden Telekommunikationsmarkt schrumpfte
der deutsche Markt im Jahr 2002 um 1,3 Prozent. In den
letzten Jahren gingen 40 000 Arbeitsplätze in der Telekommunikationswirtschaft verloren.
Dass unsere Volkswirtschaft die Telekommunikationsbranche dringend als Wachstumslokomotive braucht,
zeigt die jüngste Meldung von heute Morgen. In einer
Verlautbarung des Statistischen Bundesamtes wird festgestellt, dass im vergangenen Jahr das Bruttoinlandsprodukt wieder gesunken ist, und zwar um 0,1 Prozent. Es
ist höchste Zeit, dass Sie mehr unternehmen als bisher,
um die Lokomotive wieder in Gang zu setzen. Die Zahlen, die wir aus Wiesbaden bekommen haben, sind alarmierend.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wirtschaftliches Wachstum braucht Innovation. Für Innovation bedarf es vernünftiger rechtlicher Rahmenbedingungen,
die es erlauben, dass neue Märkte erschlossen und neue
Geschäftsideen umgesetzt werden können. Wer sich von
der nun vorgelegten Novellierung des Telekommunikationsgesetzes allerdings diese dringend benötigten Impulse für neues Wachstum der Telekommunikationsbranche erhofft hat, wird leider bitter enttäuscht.
Herr Heil, Sie haben dankenswerterweise dargestellt,
in welchen Punkten Sie gesprächsbereit und offen sind.
Das finde ich sehr gut. Nur stimmt das leider nicht mit
dem Entwurf überein, den Herr Clement und das Bundeskabinett vorgelegt haben. Es wäre schön gewesen,
wenn Sie diese Offenheit schon in den Beratungen zum
Arbeitsentwurf, zum Referentenentwurf und zum Regierungsentwurf gezeigt hätten. Sie hoffen, dass wir nun gemeinsam nachbessern. Es wäre schöner gewesen, wenn
bis jetzt mehr gekommen wäre.
({4})
Angesichts meiner überschaubaren Redezeit will ich
ein einziges Beispiel anführen, das deutlich macht, an
welcher Stelle dieser Gesetzentwurf eine große Chance
vergibt, Impulse zu setzen; meine Vorredner haben auf
einige andere Punkte schon deutlich hingewiesen.
Einer der größten Standortvorteile, die wir in Deutschland auch nach fünf Jahren Rot-Grün noch besitzen, ist
unser Rechtssystem. Was bringt aber die beste Rechtspflege, wenn die Verfahren zu lange dauern? Das rasche
Tempo auf dem Telekommunikationsmarkt verlangt
schnelle Entscheidungen, damit Unternehmen mit neuen
Produktideen die Leitungen der Deutschen Telekom zu
angemessenen Bedingungen und in angemessener Zeit
nutzen können.
Wenn die gerichtlichen Verfahren mitunter mehr als
fünf Jahre dauern, dann ist das rechtskräftige Urteil oftmals praktisch wertlos. Eine innovative Geschäftsidee
im Jahre 2004 kann 2009 schon ein Ladenhüter sein.
Über die Wachstumsfähigkeit unserer Telekommunikationsunternehmen wird nicht nur in den Labors der Firmen, sondern auch in den Gerichtssälen unseres Landes
entschieden.
Die Bundesregierung schlägt in ihrem Gesetzentwurf
vor, eine Rechtsmittelinstanz zu streichen. Das ist gut
gemeint. Wir alle kennen aber das Gegenteil von gut gemeint, nämlich schlecht gemacht. Wenn wir den Rechtsweg wirklich kürzer, schneller und effektiver gestalten
wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die gerichtlichen Entscheidungen dort getroffen werden, wo seit jeher wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten ausgetragen
werden. Das sind die Kartellgerichte. In diesen Senaten
der Zivilgerichtsbarkeit sitzt seit Jahrzehnten der ökonomische Sachverstand, der gebraucht wird, um Entscheidungen in den Fällen zu treffen, die im TK-Recht anfallen. Dazu zählen etwa die Abgrenzung von Märkten, die
Feststellung eines effektiven Wettbewerbs und eine
Reihe ähnlicher Fragen.
Wir wissen, dass der Kartellrechtsweg ohnehin nur
über zwei Instanzen verfügt, nämlich das Oberlandesgericht und den Bundesgerichtshof. Durch Zuweisung an
diese Gerichte würde zugleich ein Sonderverwaltungsrechtsweg für die Regulierungsbehörde verhindert. Ich
frage: Warum sollen wir einen neuen Instanzenweg erfinden, obwohl es im Kartellrecht einen solchen bereits
gibt, der schneller und effektiver beschritten werden
kann? Wir als Unionsfraktion wollen die gerichtlichen
Verfahren in Deutschland einfacher und überschaubarer
machen und nicht durch neue Varianten und Sonderfälle
anreichern und damit rechtlich verkomplizieren.
({5})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Mobiltelefonie. Ich glaube, die Lage ist hier ganz eindeutig, und
ich verstehe gar nicht, warum Sie mit diesem Pingpongspiel versuchen, eine Kritik aufzubauen, die nicht haltbar
ist. Wir haben klare Vorgaben aus dem EU-Recht und
fünf Richtlinien umzusetzen. Wir setzen also europäisches Recht um. Es sollte auch Ihnen als Nichtjuristen
bekannt sein, dass wir hier bestimmte Vorgaben einzuhalten haben. Gemäß diesen Vorgaben müssen wir uns
jeden Markt anschauen und prüfen, ob dort Regulierung
notwendig ist oder nicht und ob dort bereits ein ausreichender Wettbewerb besteht oder nicht. Im Bereich der
Mobiltelefonie spricht vieles dafür, dass der Wettbewerb
im Großen und Ganzen funktioniert.
Unsere Aufgabe als Politiker ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen und ein ordentliches ordnungspolitisches Konzept in dieses Gesetz hineinzuschreiben, und
nicht, Einzelfallentscheidungen darüber zu treffen, ob
Wettbewerb vorliegt oder nicht. Sie sollten sich an dieser
Stelle von Ihren politischen Allmachtsfantasien verabschieden.
({6})
Wer innovativ sein will, muss seinen Kopf in der Tat
ein bisschen mehr anstrengen und den Mut fassen - zum
Beispiel bezogen auf den Rechtsweg -, auch einmal ausgetretene Pfade zu verlassen. Innovationen kann man
nicht einfach beschließen. Hochleistungen kann man
weder im Sport noch bei den Hochschulen noch in der
Telekommunikation verordnen. Ein Minister oder ein
Abgeordneter, der in der Lage ist, ein Handy zu bedienen, garantiert damit leider noch nicht, dass er auch die
wirtschaftlichen Bedürfnisse der Telekommunikationsbranche erkennt.
({7})
Durch den Entwurf zum Telekommunikationsgesetz
wird gezeigt: Nicht überall da, wo Innovation draufsteht,
ist auch Innovation drin. Wer von Innovation nicht nur
reden, sondern sie tatsächlich auch fördern will, der
muss sich eben leider auch mit so profanen Dingen wie
dem Prozessrecht und dem Rechtsweg beschäftigen.
Meine Damen und Herren Kollegen auf der linken
Seite dieses Hauses, nutzen Sie die Gesetzesberatungen
dazu, das zu tun! Wir werden Sie dabei gerne unterstützen.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 15/2316, 15/2345 und 15/2329 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
- zu dem von den Abgeordneten Dr. Norbert
Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang Götzer,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches
- Graffiti-Bekämpfungsgesetz ({1})
- zu dem von den Abgeordneten Jörg van Essen,
Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten
Schutz des Eigentums
({2})
- zu dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf
eines … Strafrechtsänderungsgesetzes Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({3})
({4})
- Drucksachen 15/302, 15/63, 15/404, 15/2325 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst möchte ich Ihnen allen ein gesundes
und vor allem erfolgreiches neues Jahr wünschen, in
dem wir gemeinsam nützliche und gute Entscheidungen
treffen. Wir können gleich heute damit beginnen, denn
es geht um eine Entscheidung zum Graffiti-Bekämpfungsgesetz. Das Thema hatte eine lange Vorlaufzeit,
eine so lange, dass wir uns von der Union nun genötigt
sahen, nach § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages einen Bericht des Rechtsausschusses anzufordern.
Was das bedeutet, möchte ich vor allem den Zuhörern
auf den Tribünen und auch Ihnen gern erklären. Das bedeutet, dass ganze zehn Sitzungswochen vergangen sind - das
ist umgerechnet fast ein halbes Jahr -, ohne dass von Ihrer Seite eine Reaktion auf unsere Initiative zur Graffitibekämpfung kam. Es hat sich nichts getan. Sie haben uns
hingehalten, Sie haben sich nicht bewegt und Sie haben
verzögert.
({0})
Berichterstattergespräche wurden angesetzt, verschoben
und dann mit vagen Begründungen überhaupt nicht mehr
abgehalten. Da muss ich Sie natürlich fragen: Wie soll
ich unter solchen Bedingungen hier eigentlich ordentlich
arbeiten?
Bereits Ende letzten Jahres hat unsere Fraktion einen
Gesetzentwurf eingebracht, der die Strafbarkeit sämtlicher Graffitischmierereien durch eine Ergänzung des
Strafgesetzbuches normieren wollte.
({1})
Die Behebung dieser Schmierereien verursacht bei
Bund, Ländern und Gemeinden, bei Privatleuten und in
der Wirtschaft jedes Jahr Schäden in Höhe von circa
200 bis 250 Millionen Euro.
({2})
Bislang können derartige Schmierereien nur dann als
Straftat geahndet werden, wenn die Substanz der
besprühten Sache verletzt wird. Das Besprühen von
Glasflächen zum Beispiel, die man unter größerem Aufwand reinigen kann, ist demnach nicht strafbar. Diesen
Missstand wollen wir beheben und wir wissen da auch
die FDP an unserer Seite.
({3})
Eine vergleichbare Bundesratsinitiative läuft ebenfalls
seit 2000.
Heute haben wir in der Kernzeit dieser Plenardebatte
zum wiederholten Male - das muss man zugeben - die
Möglichkeit, unsere Argumente dazu auszutauschen.
Bisher haben unsere Bemühungen, gerade Sie, Herr
Ströbele, zu überzeugen, nicht gefruchtet. Dabei hat sogar Ihre eigene Ministerin die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung eingesehen.
({4})
Ihre Argumentation, Herr Ströbele, eine Gesetzesänderung bringe nichts, weil man ja vorher nicht wisse, wie
sie auf die potenziellen Sprayer wirke,
({5})
überzeugt mich überhaupt nicht.
({6})
Wenn es niemanden interessiert, werden wir das ja sehen. Aber wenn es niemanden interessiert, was im Strafgesetzbuch steht, frage ich Sie ganz ehrlich: Wozu brauchen wir dann eines? Das ist doch Unsinn.
({7})
Dass Strafrecht nicht nur präventiv, sondern auch repressiv wirken kann, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen.
In der öffentlichen Expertenanhörung im Mai 2003
haben wir unter anderem von Vertretern der Polizei und
der Staatsanwaltschaft erfahren, dass auch Sprayer sehr
wohl wissen, was sie bei einer Festnahme erwarten
könnte. Sie wissen, dass sie, wie schon angedeutet, nach
dem Besprühen von Glasflächen, Telefonzellen oder
Wartehäuschen mangels Substanzverletzung nicht strafrechtlich verfolgt werden können.
({8})
- Waren Sie nicht da? Schade.
Wir haben in dieser Anhörung auch erfahren, dass wir
hier beileibe nicht nur über Bagatelldelikte reden, die
von irgendwelchen unreifen Jugendlichen begangen
werden.
({9})
Vielmehr entwickelt sich gerade in Großstädten wie in
Berlin - der Kollege Gewalt wird nachher dazu Stellung
nehmen - eine regelrechte Bandenkriminalität.
({10})
Immer häufiger bleibt es nicht beim Sprühen. Das wissen
Sie auch. Zwischen den Banden entwickeln sich Revierkämpfe darum, wer wo sprühen darf, und diese Revierkämpfe gipfeln nicht selten in massiver Gewaltanwendung.
In den vergangenen Monaten sind wir fast alle aufeinander zugegangen. Auch in der SPD hat sich nach anfänglichem Widerstand die Einsicht durchgesetzt, dass
Handlungsbedarf besteht,
({11})
vor allem vor dem Hintergrund, dass aus diesem vermeintlich rechtspolitisch kleinen Thema nun schon ein
mittelgroßer Aufreger geworden ist, nicht nur in der
Presse. In dem einzigen Berichterstattergespräch, das
nach längerem Hängen und Würgen stattgefunden hat,
hätten wir uns sogar - mit „uns“ meine ich FDP, CDU/
CSU und SPD - auf eine konsensfähige Formulierung
einigen können, nämlich auf die des Bundesratsentwurfs. Wir waren bereit, nicht auf unserer Formulierung
des Verunstaltens zu beharren. Wir haben uns aufeinander zubewegt. Entscheidend sollte nach unserer Auffassung sein, dass die Schmierereien gegen den Willen des
Berechtigten stattfinden. Dieses objektive Kriterium erspart uns juristisch gesehen die Auslegung und in der
Praxis den Gutachterstreit, wann eine Substanzverletzung vorliegt.
({12})
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben
jetzt genau zwei Möglichkeiten: Sie überzeugen Ihren
kleinen Koalitionspartner
({13})
von der Richtigkeit des Vorhabens, die Sie längst erkannt haben. Oder Sie trauen sich endlich und stimmen
ohne die Grünen im Dienste der guten Sache unserem
Gesetzentwurf zu. Alles andere verursacht nur noch
Kopfschütteln, nicht nur bei uns, sondern auch bei den
Bürgern.
In diesem Sinne wünsche ich mir eine baldige Einigung bei diesem Thema. An uns scheitert es nicht.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Strässer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Raab, neben den zwei Möglichkeiten gibt es noch eine
dritte Möglichkeit. Die dritte Möglichkeit, von der wir
Gebrauch machen, ist ganz einfach. Wir sind der Auffassung, dass das, was Sie vorschlagen, eine weit gehende
Veränderung des Strafrechtes darstellt. Wir können uns
nicht damit zufrieden geben, strafrechtliche Veränderungen, die, so wie Sie es vorschlagen, aus unserer Sicht reinen Placebocharakter haben, zu akzeptieren. Deshalb
werden wir diesen Weg nicht mitgehen.
({0})
Wie dem auch sei: Wir alle sind uns einig - ich denke,
das sollte man herausstellen -, dass Graffitischmierereien die Innenstädte verschandeln. Sie sind wie das
Wegwerfen von Zigaretten - ich nenne das immer Lamaverhalten - nicht nur durch Jugendliche, sondern auch
zunehmend durch Erwachsene, aber auch wie die Verunreinigungen durch Hunde und sonstige Haustiere sowie
wie die übrige Vermüllung unserer Städte, unserer Umwelt und unseres gesamten Lebensumfeldes von uns
nicht zu tolerieren.
Niemand von uns will ein solches Verhalten tolerieren; denn wir wissen - diese Zahlen sind korrekt -, dass
allein durch diese Aktionen Schäden von 200 bis
250 Millionen Euro im Jahr entstehen. Allein die Deutsche Bahn hat diesen Schaden - in diesem Fall war sie
korrekt und dies ist pünktlich in die Beratungen eingegangen - im Jahre 2002 auf 35 Millionen Euro beziffert.
Es ist völlig klar, dass dieses Verhalten nicht hinnehmbar
ist. Aber - das ist unsere erste Feststellung -: Es stellt
nach jetzigem Recht in der Regel fast immer die Erfüllung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung dar.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({1})
Mir ist völlig klar: Die Debatte zu diesem Thema in
der Kernzeit hat etwas mit dem 29. Februar dieses Jahres
zu tun.
({2})
Gerade deshalb will ich all denjenigen, die es betrifft,
noch einmal vorhalten: Das Hauptproblem bei der Bekämpfung von Graffitistraftaten ist nicht die gegenwärtige Rechtslage. Hauptproblem ist und bleibt die
Schwierigkeit, die Täter zu fassen.
({3})
Die simple Regel lautet: Wenn die Täter nicht gefasst
werden, können sie nicht bestraft werden.
({4})
- Sie können ruhig weiter lachen. Wenn die Täter nicht
gefasst werden, wird eine Ausdehnung und eine Veränderung des Strafrechts an diesem Problem überhaupt
nichts ändern. Nichts wird dadurch besser, dass wir die
strafrechtlichen Sanktionen in ihrem materiellen Gehalt
ändern.
({5})
Wenn die Täter gefasst werden - auch darüber können
Sie lachen, das lässt sich statistisch nachweisen -, dann
können und werden sie schon heute in der Regel strafund zivilrechtlich belangt. Ich jedenfalls kenne keine
Statistik, wonach in solchen Fällen signifikant viele Verfahren eingestellt werden müssen, weil etwa die Tatbestandsvoraussetzungen nach § § 303 und 304 StGB nicht
erfüllt sind. Eine solche Statistik können Sie nicht liefern.
({6})
Ich kenne aber sehr wohl Statistiken, die belegen, dass
die Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Täter liegen.
Auch an eine gesteigerte Abschreckungswirkung
bei einer Ausdehnung des Straftatbestandes, wie Sie es
vorschlagen, vermag ich nicht zu glauben. Wenn Sie sich
wirklich mit der Szene befassen, dann werden Sie feststellen können - diese Erfahrung haben Jugendpsychologen und -soziologen gemacht -, dass der Kick, um den
es dabei geht, nicht dadurch minimiert wird, dass Sanktionen erhöht werden. Im Gegenteil: Bei vielen dieser
Gruppen ist genau das ausschlaggebend. Je höher die
Sanktion, desto stärker ist der Reiz, gegen die Regelung
zu verstoßen.
({7})
Es soll also nicht der Eindruck entstehen, eine Gesetzesänderung sei notwendig, weil Farbschmierereien
nicht bereits heute vom Tatbestand der Sachbeschädigung erfasst würden. Dem ist nicht so. Ich interpretiere
auch beim Nachlesen sämtlicher Protokolle der Anhörung, die wir im letzten Jahr durchgeführt haben, die
Mehrheit der Sachverständigen so, dass auch sie der
Auffassung sind, dass es nicht wirklich um Auffüllung
einer Strafbarkeitslücke geht, sondern dass in der Tat
- das sagt auch die neueste BGH-Rechtsprechung ({8})
der Tatbestand der Sachbeschädigung auch dann erfüllt
ist, wenn beim Entfernen Schaden entsteht.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Ich habe sehr sorgfältig die Protokolle der letzten Debatten zu diesem Thema gelesen. Der Kollege
Bachmaier, der das bisher getan hat, hat gesagt: Das
müssen wir nicht machen. Ich schließe mich ihm in dieser Frage völlig an.
Wir haben festgestellt, dass an bestimmten Stellen, in
Großstädten und anderswo, die Strafermittlungsbehörden Schwierigkeiten haben. Dem ist so. Ich habe allerdings - das kann jeder in seinem Bereich tun - in
meinem Wahlkreis in Münster mit den zuständigen Ermittlungsbehörden geredet.
({0})
Münster ist auch eine Stadt, in der das erhebliche Auswirkungen hat. Der dortige Staatsanwalt, der die Ermittlungen koordiniert, hat eine ganz eindeutige Position.
Das gültige Strafrecht und seine effektive Anwendung
ist in der Regel völlig ausreichend. Das Hauptproblem
ist nicht eine angeblich defizitäre Rechtslage, sondern
die Hauptprobleme liegen in der Prävention und in der
Strafverfolgung. Neben der konsequenten Verfolgung
der Straftäter, der repressiven Arbeit, haben wir deshalb
in unserer Stadt eine Ordnungspartnerschaft zwischen
der Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Stadt und Organisationen und Verbänden, die dort arbeiten, gegründet.
Die haben das getan, was ich an dieser Stelle für das
Richtige halte, nämlich aufklären, präventiv arbeiten und
insbesondere den Jugendlichen Alternativen aufzeigen.
({1})
Gerade in diesem Bereich geht es um Möglichkeiten, das
zu verbessern.
Wir sehen aber auch - das will ich Ihnen gar nicht absprechen -, dass bei vielen Menschen gerade in Ballungszentren angesichts der vielfältigen Schmierereien
eine erhebliche Verunsicherung und ein Gefühl entsteht, dass dort Sicherheitsdefizite vorhanden sind. Das
kann niemand in Abrede stellen.
({2})
Deshalb ist es richtig und vernünftig, dass wir uns auch
in unserer Fraktion mit einer Gesetzesänderung beschäftigen und darüber nachdenken, welche Möglichkeiten es
gibt
({3})
- warten Sie doch mal ab -, in den Fällen, in denen keine
Substanzverletzung entsteht, eine etwa vorhandene
Strafbarkeitslücke in den Bereichen der Sachbeschädigung und gemeinschaftlichen Sachbeschädigung zu
schließen. Wir sind dabei, daran zu arbeiten, aber wir
können es uns nicht einfach so leicht machen. Das ist
eine strafrechtliche Sanktion.
({4})
Eine strafrechtliche Sanktion macht man nicht mal eben
so, weil Wahlkampf ist und weil man damit auf populistische Art und Weise Stimmen fangen will. Das geht
nicht.
({5})
Ich sage Ihnen - das ist kein Geheimnis -: Wir diskutieren und wir werden Ihnen in Zukunft etwas vorlegen.
Wir haben - das ist auch unstreitig - einen Dissens in
unserer Koalition.
({6})
Ich bin aber davon überzeugt, dass wir auch an dieser
Stelle einen Konsens finden, der besser ist als das, was
bisher vorliegt.
Zu den vorliegenden Gesetzesvorschlägen in aller
Kürze: Wir werden den Entwürfen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion in der vorliegenden Form
nicht zustimmen. Wir bleiben der Meinung, dass das Tatbestandsmerkmal des Verunstaltens kein tauglicher Ansatzpunkt für eine Strafverfolgung ist. Ich schließe mich
nicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt der Position der Bundesministerin der Justiz an, die in einem
umfangreichen Vortrag vor dem Verband der Haus- und
Grundeigentümer Deutschlands zu diesem Tatbestand
des Verunstaltens gesagt hat: Wir wollen nicht das
Kunstgutachten im Amtsgerichtsprozess einführen.
({7})
Ich kann mich an eine Diskussion hier erinnern, in der
gerade Sie gesagt haben, man solle doch das Strafgesetzbuch nicht ständig mit neuen unbestimmten Rechtsbegriffen anfüllen.
({8})
Genau dies tun Sie mit dem Begriff des Verunstaltens.
All diese Dinge wollen wir nicht haben.
({9})
Wir wollen gerade das Gegenteil von dem erreichen.
({10})
- Es ähnelt sich, Herr Kollege Gehb. Ihre Zwischenrufe
ähneln auch denjenigen, die ich gelesen habe. Aber das
macht nichts. Das ist das Problem bei dem Tatbestand,
um den es geht. Ich rede über Ihren Gesetzentwurf und
den der FDP.
({11})
Wir wollen eher Klarheit als Unklarheit. Sie verunsichern die Justiz und alle diejenigen, die in diesem
Bereich arbeiten. Ich sage ganz deutlich: An diesem
Punkt - darüber wird man sicherlich reden können - formuliert der Entwurf des Bundesrates deutlich schärfer.
({12})
- Wir reden über drei Anträge, Herr Kollege van Essen.
Drei Anträge liegen zur Diskussion vor. Die Kollegin
Raab hat sich deutlich auf Ihren Antrag bezogen. Ziehen
Sie Ihre Gesetzentwürfe zurück! Dann ist es für uns einfacher.
Die Gesetzentwürfe werfen zudem Auslegungsschwierigkeiten auf. Diese ergeben sich zum einen aus
dem Merkmal „nicht nur unerheblich“. Zum anderen
muss ein Verstoß gegen den Willen des Eigentümers
vorliegen. Das aber ist doch völlig klar. Bei vorliegendem Willen des Eigentümers kann schließlich nicht
irgendeine strafbare Handlung unterstellt werden. Die
Frage, wie der erklärte Wille des Eigentümers nach außen dringen muss, wird aber in Ihrem Gesetzentwurf und
auch in dem des Bundesrates nicht klar beantwortet.
({13})
Das zeigt schlicht und ergreifend, dass Auslegungsprobleme bestehen. Wir wollen, dass diese Fragen geklärt
werden.
({14})
Wir stellen fest, dass die vorliegenden Gesetzentwürfe nicht unsere Zustimmung finden. Ich kann, will
und werde nicht ausschließen, dass sich in Zukunft eine
Lösung finden lässt. Das würde ich sogar begrüßen.
Die Koalition wird ihre Regierungsfähigkeit auch in
dieser Frage beweisen. Es macht aber keinen Sinn, dass
die Oppositionsfraktionen ihre Gesetzentwürfe in schöner Regelmäßigkeit unverändert einbringen. Diesen Entwürfen werden wir nicht zustimmen.
({15})
Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen
von der FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin über die Rede des Kollegen Strässer außerordentlich
überrascht.
({0})
Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich sogar eher
fassungslos über das, was uns der Kollege Strässer vorgetragen hat.
({1})
Zunächst einmal hat er den Eindruck erweckt, als ob
die Debatte etwas mit dem 29. Februar dieses Jahres zu
tun hat.
({2})
Ich darf darauf hinweisen, dass die FDP-Bundestagsfraktion schon vor fünf Jahren einen Gesetzentwurf zur
besseren Bekämpfung von Graffiti eingebracht hat. Wir
wussten damals noch nicht, dass am 29. Februar 2004 in
Hamburg Wahlen stattfinden würden.
({3})
Aber was wir schon damals wussten und auch heute wissen, ist, dass es in unseren Städten Schmierereien gibt,
die erhebliche Schäden verursachen und die Städte in einer Weise verunstalten, die den Bürgern nicht zuzumuten ist.
({4})
Wir wussten auch schon damals, dass jährlich Millionenbeträge aus Steuermitteln - aus den Kassen der Bürger - aufgewandt werden müssen, um die Schäden wieder in Ordnung zu bringen.
({5})
- Ja, unser Gesetzesvorschlag ändert etwas daran. Auch
das hat die Debatte gezeigt.
({6})
Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Anhörungen zu
diesem Thema stattgefunden haben. Die Anhörungen
haben ein klares Ergebnis gebracht: Es besteht ein strafrechtliches Defizit,
({7})
und zwar deswegen, weil die Rechtsprechung eine Substanzverletzung erfordert. Nur dann, wenn die Farbe in
die Substanz, auf die sie aufgetragen wird, eingedrungen
ist, liegt eine Sachbeschädigung vor.
({8})
Als jemandem, der aus der Justiz kommt - übrigens
vertritt der Behördenleiter offensichtlich eine andere
Meinung als der Dezernent, mit dem Sie wohl gesprochen haben; ich habe ihn nämlich in der vergangenen
Woche beim Dämmerschoppen getroffen; das war interessant -,
({9})
ist mir völlig klar, dass viele meiner Staatsanwaltskollegen aufgrund der bestehenden Rechtsunsicherheit nicht
noch zusätzliche Kosten für die Steuerzahler verursachen wollen, indem sie teure Gutachten anfordern; vielmehr stellen sie das Verfahren wegen Geringfügigkeit
ein.
({10})
Dadurch ergeht an die Täter das Signal, dass ihr Vergehen nicht so schlimm ist. Das aber darf in Zukunft nicht
mehr geschehen. Diejenigen, die beispielsweise eine
Hauswand besprühen, die eine alte Dame, die lange
dafür gespart hat, wieder einmal hat streichen lassen,
müssen wissen, dass das Konsequenzen hat.
({11})
- Ich habe Ihnen doch gerade deutlich gemacht, dass das
Erwischtwerden häufig zur Folge hat, dass das Verfahren
wegen Geringfügigkeit eingestellt wird. Deshalb bin ich
sehr dankbar dafür, dass die Bundesjustizministerin offensichtlich inzwischen weiter ist als der eine oder andere Kollege in der SPD-Bundestagsfraktion.
({12})
Das Allerschlimmste ist allerdings, dass es in diesem
Bundestag eine Fraktion gibt, der der Rechtsstaat nichts
bedeutet.
({13})
Denn das, was wir wollen, ist ein klarer Eigentumsschutz. Insbesondere der Kollege Ströbele ist all den Argumenten, die uns in der Anhörung vorgetragen worden
sind, offenbar nicht zugänglich.
({14})
Man hofft zwar immer auf Altersweisheit, aber davon
profitiert leider nicht jeder.
Das, was mir ebenfalls große Sorgen bereitet, ist:
Wenn wir kein entsprechendes Signal geben, dann wird
das eventuell zu dem führen, was uns die Staatsanwälte
aus Berlin, die übrigens die Sachverständigen der SPD
waren, vorgetragen haben, nämlich in den kriminellen
Szenen zu einer weiteren Zunahme der Gewaltkriminalität.
({15})
Wenn wir kein entsprechendes Gesetz verabschieden,
dann ist das Signal: Im Bundestag geschieht nichts; es
wird hingenommen. Dadurch werden die Probleme nicht
geringer, sondern größer.
Wir, die FDP, haben vor fünf Jahren die erste Initiative ergriffen. Wir werden bei diesem Thema nicht locker lassen, bis wir zu einer vernünftigen Regelung gekommen sind.
({16})
Dass es uns um eine vernünftige Regelung geht, können
Sie daran sehen, dass wir in den Berichterstattergesprächen - genauso wie die CDU/CSU - deutlich gemacht
haben, dass wir aufgrund von Einwänden der Sachverständigen nicht mehr auf der Durchsetzung unserer Entwürfe bestehen, sondern bereit sind, auf den Vorschlag
des Bundesrates einzugehen. Das ist eine wunderbare
Möglichkeit - warum nutzen Sie sie nicht? -, zu einem
fraktionsübergreifenden Kompromiss zu kommen.
({17})
Ich hoffe, dass die SPD mitmacht und dass es ihr gelingen wird, die Grünen zu überzeugen, dass dieses Land
ein Rechtsstaat ist und dass auch die Grundrechte in diesem Staat durchgesetzt werden müssen. Wir jedenfalls
werden dafür kämpfen.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian
Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege van Essen, das war scheinheilig;
({0})
denn Sie wissen ganz genau, dass diese Debatte am heutigen Vormittag nur deshalb angesetzt worden ist, weil
am 29. Februar Wahlen in Hamburg stattfinden werden.
({1})
Oder warum hat sich der Hamburger Justizsenator gerade am heutigen Tage hierher verirrt? Können Sie mir
einen anderen Grund dafür nennen?
({2})
Wenn das richtig ist - Sie wissen das eigentlich; aber Sie
stellen es anders dar -, dann sind alle Ihre Argumente als
scheinheilig entlarvt.
({3})
Wir Grüne stehen dazu, dass wir eine Verschärfung
von Vorschriften des Strafgesetzbuches im Hinblick auf
Graffiti für falsch halten. Deshalb haben wir im Innenausschuss gemeinsam mit den Sozialdemokraten die drei
vorliegenden Gesetzentwürfe abgelehnt.
({4})
Das haben wir nicht deshalb getan, weil wir meinen,
dass jedes Graffito ein Kunstwerk ist, das geschützt werden muss, oder weil wir nicht darüber empört und ärgerlich sind, wenn in U- und S-Bahnen die Fenster zerkratzt
sind oder wenn auf gerade neu gestrichene Wände von
Privathäusern Graffiti gesprüht werden. Auch wir finden
das ärgerlich und wollen etwas dagegen tun. Aber Ihre
Gesetzesvorschläge sind ungeeignet, unnötig und falsch.
({5})
Sie sind ungeeignet, weil Sie mit dem Begriff „Verunstaltung“ den Gerichten Steine statt Brot geben. Denn
wie soll der Richter im Einzelfall entscheiden, ob es sich
um eine Verunstaltung oder um eine Verschönerung handelt?
({6})
Denken Sie nur an die Diskussion über die Verhüllung
des deutschen Reichstags in diesem Hohen Haus. Die
Verhüllung wurde zuerst von vielen als Verunstaltung
angesehen. Nachher wurde sie weltweit als großes
Kunstwerk gefeiert. Nach Ihren Vorstellungen sollen die
Gerichte mithilfe von Sachverständigen zum Beispiel
die Frage beantworten, ob es sich bei dem Anbringen eines Kopftuchs, eines Bartes oder einer Pappnase an einer
Statue im öffentlichen Raum um eine Verunstaltung handelt oder nicht. Aber das führt nicht zu besseren Ergebnissen und nicht zu mehr Rechtsklarheit, sondern zu Unklarheit.
({7})
Herr Kollege van Essen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, sehr geehrter Herr Justizsenator aus Hamburg, ich behaupte, dass Sie die Eigentümer von Häusern und die Kommunalpolitiker, die sich
in ihrer Not auch an uns wenden und darauf hinweisen,
dass ihnen das alles über den Kopf wachse, dass das zu
teuer werde und dass es sich hier um ein Riesenproblem
handle, in die Irre führen und täuschen wollen.
({8})
Sie wollen nämlich diesen Menschen wider besseres
Wissen - das ist viel schlimmer - klar machen, dass
durch die von Ihnen vorgeschlagene Gesetzesänderung
mehr Täter gefasst und dass mehr Straftaten verhindert
werden können. Das ist aber nicht richtig. Hier sind Sie
auf dem Holzweg.
({9})
Herr Kollege Bergner hat hier am 30. Januar vergangenen Jahres eine Rede gehalten, in der er behauptet hat,
die Polizei habe auf einer Anhörung in Halle erklärt, sie
könne 70 Prozent der Taten aufklären, aber es komme zu
nur drei Verurteilungen. Wir haben uns die Unterlagen
von der Staatsanwaltschaft in Halle kommen lassen. Es
ist genau umgekehrt: Im Jahre 2000 wurden gegen
490 Personen Strafverfahren wegen Graffitisprayens
eingeleitet. Drei dieser Verfahren wurden eingestellt,
weil man der Meinung war, der Tatbestand sei nicht erfüllt. Im Jahr 2001 wurden gegen 1 100 und im Jahr
2002 gegen 1 500 Personen Strafverfahren eingeleitet. In
keinem dieser Fälle ist das Verfahren eingestellt worden
und keiner dieser Fälle hat mit einem Freispruch geendet, weil die Voraussetzungen des heutigen Tatbestandes
der Sachbeschädigung nicht gegeben waren.
({10})
Es ist also ganz einfach nicht richtig, dass dort eine Tatbestandslücke besteht und dass Verurteilungen deshalb
scheitern.
Wir müssen zu anderen Überlegungen kommen. In
der Anhörung - ich habe das bereits im Rechtsausschuss
gesagt - hat uns eine Frau über die Praxis informiert. Sie
nahm an einem Senatsprojekt in meinem Wahlkreis, in
Berlin-Friedrichshain, mit dem Namen „BÖ 9“ teil. Sie
können sich das gern vor Ort anschauen. Ich bin auch
bereit, die Teilnehmer dieses Projekts hierher zu holen.
Im Rahmen dieses Projekts werden einige Dutzend
junge Männer zwischen 11 und 25 Jahren betreut, nachdem sie einmal wegen Graffitisprayens, wegen Haschischkonsums oder wegen anderer Delikte in Erscheinung getreten sind. Ich habe diesen jungen Männern von
diesen Gesetzesvorhaben erzählt. Sie fanden dies nicht
nur nicht cool, sondern sie haben klar gesagt: Das wird
keinen von uns oder von denen, die wir in all den Szenen
kennen, davon abhalten, Graffiti-Tags an eine Wand zu
sprayen.
({11})
Diese jungen Männer haben mir klar gemacht, dass es
eine ganze Reihe von Graffitisprayern gibt, die wirkliche
Kunstwerke oder Kunsthandwerksprodukte erstellen.
({12})
Beispiele dafür waren in Büchern und Kalendern zu finden, die sie mir gegeben haben. Sie haben gesagt: Wenn
ihr uns in Berlin öffentliche Flächen zur Verfügung
stellt, wo wir das präsentieren können, wo wir uns selbst
verwirklichen können, dann würden diejenigen, die
wirklich künstlerisch tätig werden wollen, nicht an anderen Stellen sprayen, wo sie diese Ärgernisse erregen.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wo wir etwas machen
können.
Gegen die anderen, also gegen diejenigen, die sich
dadurch selbst verwirklichen wollen, dass sie in der
U-Bahn, in der S-Bahn oder an Häuserwänden ihre Graffiti-Tags setzen, kommen Sie mit Ihren Gesetzesvorhaben nicht an.
({13})
Da müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen. Wir
sind dabei.
Hierbei handelt es sich nicht um ein Strafbarkeitsdefizit im Strafgesetzbuch, das ausgeglichen werden soll,
sondern ganz einfach um ein Vollzugsdefizit, weil man
die entsprechenden Personen nicht erwischt. Das ist das
Problem. Das sollten Sie den Hauseigentümern, den
Kommunalpolitikern und all denjenigen, die sich darüber zu Recht beschweren, sagen. Man sollte gemeinsam
darüber nachdenken, wie man mehr derer habhaft werden
kann, die wirkliche Sachbeschädigungen anrichten, etwa
weil sie die Scheiben ganzer U-Bahnen so zerkratzen,
dass man nicht mehr hindurchschauen kann. In dieser
Hinsicht sollten wir uns gemeinsam etwas einfallen lassen. Aber eine Gesetzesänderung, so wie Sie sie vorgeschlagen haben, ist ungeeignet und falsch. Deshalb werden wir unsere Stimme dafür nicht hergeben.
({14})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Christoph Bergner von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Herr Kollege Ströbele, Sie haben auf
meinen Redebeitrag vom letzten Jahr verwiesen. Sie haben Zahlen infrage gestellt, die ich von der Polizeidirektion Halle erhalten habe und die mir der zuständige
Oberstaatsanwalt bestätigt hat.
Zum Ersten möchte ich feststellen: Diese Zahlen sind
richtig.
({0})
Ich kann Ihnen nur raten, diese Zahlen auch ernst zu
nehmen.
Zweitens. Was die Interpretation der Einstellung der
Verfahren betrifft, verweise ich auf die Ausführungen
des Kollegen van Essen: Die Einstellung eines Verfahrens wegen Geringfügigkeit hat mit genau der Rechtslage zu tun, die wir ändern wollen.
({1})
Drittens möchte ich Sie auf einen Umstand aufmerksam machen. Ich bin mit dem Phänomen seit längerem
beschäftigt. Mir sind Internetseiten bekannt geworden,
in denen Spraydosen mit Geräuschschutz angeboten
werden, damit die Täter nachts nicht gefasst werden
können.
({2})
Mir sind Internetseiten bekannt geworden, in denen neben diesen Spraydosen mit Geräuschschutz Nachtsichtgeräte für Sprayer angeboten werden. Ich muss Sie fragen: Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass wir es
dann, wenn das Strafgesetzbuch nicht eine eindeutige
Antwort auf solches Verhalten gibt, irgendwann einmal
mit dem Tatbestand der organisierten Kriminalität zu
tun haben werden?
({3})
Herr Ströbele zur Erwiderung.
Herr Kollege Bergner, können Sie mir erstens sagen,
({0})
was diese Ihre Vorhalte mit den hier zu diskutierenden
Gesetzesvorschlägen zu tun haben?
({1})
Wo in den Gesetzentwürfen der CDU/CSU oder der FDP
oder des Bundesrates ist die Rede von Schallschützern
für Spraydosen?
({2})
Wo ist darin die Rede von Nachtsichtgeräten? Wo ist darin die Rede von Firmen, die so etwas im Internet anbieten? Sagen Sie mir, was das mit dem Thema der Erweiterung der Strafvorschrift über die Sachbeschädigung zu
tun hat! Was Sie hier betreiben, ist reiner Populismus.
Das mag ja alles so sein, aber dann müssen Sie andere
Gesetzentwürfe vorlegen oder in anderer Weise vorgehen.
({3})
Die zweite Frage. Verehrter Kollege Bergner, kennen
Sie die Statistiken Ihrer Staatsanwaltschaft in Halle, die
mir durch den Leitenden Oberstaatsanwalt von Halle am
11. Februar 2003, also kurz nach Ihrer Rede hier, übersandt wurden? Es handelt sich um die Statistiken für die
Jahre 1999, 2000, 2001 und 2002. Sagen Sie mir bitte,
welche der Zahlen, die ich vorhin in meiner Rede genannt habe, unrichtig sind und welche richtig sind!
Wenn Sie sich damit beschäftigen, müssen Sie zu dem
Ergebnis kommen, dass beim rapiden Anstieg der Zahlen auch bei der Staatsanwaltschaft in Halle keines der
Verfahren in den Jahren 2001 und 2002 eingestellt worden ist oder mit einem Freispruch geendet hat, weil der
Straftatbestand der Sachbeschädigung nicht gegeben gewesen ist.
({4})
Ich bitte Sie, dem Hohen Hause gegenüber dieses Zugeständnis zu machen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Senator für Justiz der Freien
und Hansestadt Hamburg, Dr. Roger Kusch.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Ströbele, erlauben Sie mir zunächst eine kleine Korrektur. Ich habe mich nicht hierher verirrt. Ich bin ganz bewusst hierher gekommen.
({0})
Ich fühle mich in diesem Hohen Haus außerordentlich
wohl,
({1})
weil uns in diesem wunderschönen Plenarsaal Graffiti
erspart bleiben.
In Hamburg wie in anderen Großstädten ist das Erscheinungsbild leider nicht ganz so schön wie hier im Inneren des Reichstages. Hamburg wird wie andere Großstädte in erheblichem Maß von Schmierereien und
Verunstaltungen geprägt. Was für viele Jugendliche ein
Zeitvertreib mit besonderem Kick ist, wird von der Bevölkerung überwiegend als Ausdruck von Zerstörungslust und mangelndem Respekt vor fremdem Eigentum
angesehen.
({2})
Die Verschmutzungen werden oft als Symbol des Verfalls der Ordnung gewertet, von wo aus der Weg zu weiterer Zerstörung und Vandalismus geebnet ist. Graffiti
führen bei vielen Bürgern zur Beeinträchtigung ihres
persönlichen Sicherheitsgefühls, vor allem dann, wenn
sie gehäuft auftreten, wie es an vielen Stellen in den
Großstädten mittlerweile üblich ist. Welche Dimension
das Problem angenommen hat, kann ich an der Hamburger Zahl zeigen. Wir haben derzeit jährlich 4 000 Ermittlungsverfahren in Sachen Graffiti.
Graffiti verursachen neben der Beeinträchtigung des
Sicherheitsgefühls der Bevölkerung auch erhebliche
Kosten; denn die Beseitigung der Schmierereien ist zumeist mit hohem Aufwand verbunden. Diese Kosten belasten sowohl private Eigentümer als auch die öffentlichen Haushalte.
({3})
Dabei trifft es die besonders hart, die es ohnehin schon
schwer haben. Schmierereien finden sich viel häufiger
an Wohnblocks des sozialen Wohnungsbaus als an weitläufigen Heckenanlagen in wohlhabenden Gegenden.
({4})
Mieter können nicht einfach eine Reinigungsfirma beauftragen, sondern müssen vorher sehr unerfreuliche Gespräche mit ihrem Vermieter führen, denn auch dieser
hat Probleme damit, alle paar Wochen Geld dafür aufzubringen, dass sein Mietshaus wieder schön aussieht.
Die Beseitigung von Graffiti entpuppt sich bei der
gegenwärtigen Rechtslage als Sisyphusarbeit: Kaum ist
ein Graffito beseitigt, da wird es schon durch mindestens
ein neues ersetzt. Dies führt nicht nur bei den Opfern zu
Resignation und Frustration,
({5})
auch die Beamten des Bundesgrenzschutzes und der Polizei müssen oft erleben, dass trotz ihrer mühsamen Arbeit ständig neue Graffiti entstehen.
Die Strafverfolgung läuft bereits deswegen in vielen
Fällen leer,
({6})
weil nach der Rechtsprechung - das wurde hier schon
mehrfach angesprochen - die Substanzverletzung ein
Tatbestandsmerkmal ist. Die Substanzverletzung nachzuweisen ist bei dem einzelnen Graffito, bei der einzelnen Tat oftmals so aufwendig, dass in Bezug auf die einzelne Tat kein Gutachten eingeholt wird
({7})
und deshalb die Strafverfolgung bezüglich dieser einzelnen Tat - darauf haben Sie schon mehrfach hingewiesen,
Herr van Essen - eingestellt wird.
({8})
Die Einstellung der Verfolgung einer einzelnen, möglicherweise unbedeutenden Tat führt in der Masse zu dem
Aussehen der deutschen Großstädte, wie wir es kennen.
({9})
Meine Damen und Herren, die Problematik ist nicht
neu; auch darauf wurde schon hingewiesen. Seit 1999
laufen die Bemühungen, und zwar, wie der heutige Tag
zeigt, bislang ohne Erfolg. Trotz zahlreicher Gesetzesinitiativen ist bisher im Deutschen Bundestag kein Gesetz zustande gekommen, das die Rechtslage verbessert.
Im Übrigen ist der Umgang mit Graffiti kein Einzelfall, sondern symptomatisch für den politischen Stellenwert der inneren Sicherheit in Deutschland.
({10})
Senator Dr. Roger Kusch ({11})
Unser Graffiti-Antrag ist nicht der einzige, der in der
letzten Zeit von der rot-grünen Bundestagsmehrheit boykottiert wurde.
({12})
Denken Sie etwa an die Bundesratsinitiative zur verbesserten Bekämpfung der Jugenddelinquenz, die bereits im
August 2003 in den Bundestag eingebracht wurde, oder
die Gesetzesinitiative Baden-Württembergs zur Erweiterung des Einsatzes der DNA-Analyse bei Sexualstraftaten. Sie teilt ein ähnliches Schicksal, denn sie wurde bereits im Juli 2003 in die Ausschüsse überwiesen, wo sie
noch heute schmort.
({13})
Ich frage mich immer wieder, warum SPD und Grüne
das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht ernst
nehmen. Eine denkbare Erklärung wäre, dass die früher
für Rot-Grün undenkbaren Auslandseinsätze der Bundeswehr derart viel Kraft und Überwindung gekostet haben bzw. immer noch kosten, dass es nicht auch noch zur
Überwindung innenpolitischer Tabus reicht.
({14})
Nach meiner Beobachtung rot-grüner Regierungsarbeit
im Bund und in den Ländern muss die Antwort allerdings differenzierter ausfallen. Nicht nur Bundesinnenminister Schily verdient in mancherlei Hinsicht Anerkennung, aus hamburgischer Sicht insbesondere für die
hervorragende Arbeit, die der Bundesgrenzschutz für die
Sicherheit in unserer Stadt leistet.
({15})
Auch in der Justizministerkonferenz gibt es vielfache
Übereinstimmung zwischen CDU, CSU, SPD und FDP.
Der schleswig-holsteinische Innenminister schließlich
erhebt Forderungen zur DNA-Analyse, die in jedem
CDU-Wahlprogramm stehen könnten.
Aber was nützt diese - gegenüber früheren Positionen
durchaus gewandelte - Einstellung im politischen Alltag? Jedenfalls dort überhaupt nichts, wo die SPD in einer rot-grünen Koalition regiert.
({16})
Für die Grünen im Bund und in den Ländern ist alleiniger
Maßstab ihres innenpolitischen Handelns, das verschrobene Geborgenheitsgefühl ihrer kleinen, aber politisch
relevanten Klientel zu bedienen. Generelles Misstrauen,
ja sogar Widerwille gegen staatliche Autorität, gegen Polizei, Staatsanwaltschaft, geschlossenen Strafvollzug,
({17})
das ist die Maxime grüner Innen- und Rechtspolitik.
({18})
Es ist ja nicht ganz ungewöhnlich, dass kleine Koalitionspartner manchmal ein Vetorecht haben. Die Grünen
nehmen es in Sachen innerer Sicherheit immer für sich
in Anspruch.
Mag die SPD Graffiti als kriminelle Taten ansehen entscheidend ist die grüne Sicht: Graffiti als harmlosbunte Entfaltung jugendlichen Übermuts. Diese Sicht,
der die SPD zwar nicht in Worten, aber in Taten folgt,
macht der Polizei unendlich viel überflüssige Arbeit und
kostet Staat und Gesellschaft viel Geld, das dringend an
anderer Stelle gebraucht würde.
({19})
Ich fordere die Koalitionsfraktionen daher auf, ihren
Widerstand gegen den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf aufzugeben.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr van Essen, ich weiß, dass Sie bei dem Thema
Graffiti schon lange und ernsthaft engagiert sind. Deshalb habe ich es mir vorhin zu Herzen genommen, als
Sie sagten: Mit Wahlkampf hat das heute nichts zu tun.
Aber nachdem ich die Rede von Herrn Kusch gehört
habe, der zum Sachverhalt überhaupt nichts beigetragen
hat, muss ich sagen: Da wurden Sie durch Ihren Vorredner leider Lügen gestraft.
({0})
Es wäre ja auch möglich gewesen, dass ein Justizsenator,
der die Praxis kennt oder kennen müsste, einiges aussagt
dazu, wie man nun in Hamburg gegen Sprayer vorgeht,
was man nun im Einzelnen ermittelt. - Nichts davon, nur
ein allgemeines Referat über rechtspolitische Grundsatzfragen! Das bringt uns nicht weiter, meine Damen und
Herren.
({1})
Damit wir uns nicht missverstehen: Wenn eine Hauswand beschmiert wird, wenn Bahnen beschmutzt werden, Scheiben zerkratzt werden, Sitze aufgeschlitzt werden, dann hat das nichts mit jugendlichem Übermut zu
tun, sondern das ist eine Straftat, die zu ahnden ist. Da
Michael Hartmann ({2})
sind wir uns völlig einig, da liegen wir nicht auseinander: Das ist Vandalismus; dem muss begegnet werden.
Worüber wir streiten - deshalb sollten wir die Gräben
nicht mehr vertiefen, als es unbedingt notwendig ist -,
ist doch die Frage - und so verstehe ich Sie auch, Herr
van Essen -: Wie bekämpft man das, wie macht man das
gescheit, klug und effizient? Da sagen wir: Wir brauchen
ein entschlossenes Vorgehen; das ist vor allen Dingen
mit polizeilichen Mitteln zu erreichen. Nicht gedient ist
uns mit einer bloßen symbolischen Politik,
({3})
die einen Paragraphen verändert und im Übrigen mit Begrifflichkeiten, die unbestimmt sind, arbeitet. Es hilft
nicht, mit unbestimmten Rechtsbegriffen, mit quasiästhetischen Begriffen wie dem der Verunstaltung zu arbeiten, wenn es darum geht, eine millimetergroße Regelungslücke zu schließen.
Deshalb bitte ich, dass wir vielleicht einen Moment
lang nicht nur die rein strafrechtliche Seite sehen - die
ist nur ein Aspekt und sie ist bei weitem nicht der wichtigste in der Fragestellung -, sondern auch einmal
schauen: Wie sieht das denn nun aus mit den Möglichkeiten, die der Polizei zur Verfügung stehen - Ländersache im Übrigen -, und mit den Mitteln, die den Kommunen zur Verfügung stehen?
Es gibt zwei klassische Begriffe in der Polizeiarbeit,
und zwar den der Prävention und den der Repression.
Wenn man sich umschaut und schlau macht, was geschieht - insbesondere in den Ballungszentren, wo das
Problem am drängendsten ist -, findet man doch gute
Ansätze: bei der Prävention beispielsweise, dass die
Kommunen Flächen zur Verfügung stellen, dass Jugendbetreuer in die Schulen gehen und da versuchen, die jungen Menschen zu betreuen, sich um sie zu kümmern und
zu verhindern, dass sie illegal sprayen, im Übrigen auch
dadurch, dass Eltern eingebunden werden; denn das Problem, über das wir reden, ist auch ein Problem der Erziehung, weniger aber eines des Strafrechtes.
Zum anderen gibt es die Mittel der Repression, die
klassischen polizeilichen Mittel. Wo das gemacht wird,
funktioniert das auch und erhöht sich auch deutlich die
Aufklärungsquote, Herr Bergner. Denn der alte Satz gilt
- da können Sie Gesetze verändern, wie Sie wollen -:
Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn!
({4})
Wir müssen versuchen, die Aufklärungsquote zu heben. Das geht beispielsweise, indem man anlassbezogene Observationen durchführt.
({5})
Wo das gemacht wird, steigt die Aufklärungsquote, und
die Kriminalitätsrate nimmt ab. Es geht, indem man einen schnappt und damit zugleich viele Fälle löst: erstens,
weil das auch organisiert geschieht - kein Zweifel -,
zweitens, weil die Sprayerinnen und Sprayer sich verewigen, mit ihren Tags, mit ihren Unterschriften. Das
heißt, wenn man einen Sprayer ermittelt hat, hat man zugleich viele Fälle geklärt. Der Punkt, warum viele Verfahren eingestellt werden, ist doch nicht der, dass die
Richter nonchalant darüber hinweggehen - ob der § 303
des Strafgesetzbuches geändert wird oder nicht. Der
Punkt ist der, dass sie niemanden erwischen, dass sie die
Leute nicht kriegen. Wir haben eine bundesdurchschnittliche Aufklärungsquote von etwa 30 Prozent; das zeigt
doch, wo das wahre Defizit liegt.
({6})
Im Übrigen glaube ich, dass es sinnvoller ist, beispielsweise im Sinne eines Täter-Opfer-Ausgleiches,
die Lümmel, die eine Bahnunterführung beschmutzen,
da hinzustellen und das abschrubben zu lassen, als einfach nur einen Paragraphen zu verändern.
({7})
Um das noch einmal zu sagen: Wir bewegen uns im
Bereich eines nur millimeterweit ungeregelten Sachverhalts - einverstanden. Es ist weder geheim noch verboten, hier auszusprechen: Auch wir hätten uns gewünscht,
dass wir einen Schritt weiterkommen. Allerdings ist das
mit Ihrem Verunstaltungsbegriff nicht möglich.
({8})
- Herr van Essen, da Sie gerade dazwischenrufen, muss
ich Ihnen sagen: Ich sehe nicht, dass der Gesetzentwurf
zurückgezogen wurde. Wir reden also über drei Gesetzentwürfe: einen der Union, einen der FDP und einen des
Bundesrates,
({9})
den wir als diskussionswürdig betrachten.
Versuchen Sie doch bitte nicht, mit symbolischer Politik diesen Bereich zu regeln,
({10})
sondern helfen Sie mit, dass wir über polizeiliche Arbeit
und über Prävention auf kommunaler Ebene effektiv in
der Sache vorankommen! Denn: Nicht das Strafmaß,
sondern das Risiko der Überführung schreckt ab.
Angesichts dieses drängenden Problems wünsche ich
uns ernsthaftes Bemühen, wenig Schaufenster und wenig Wahlkampf.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Roland Gewalt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hartmann, Sie haben eben den Täter-Opfer-Ausgleich angesprochen: Die Täter sollen das Graffiti selbst
beseitigen. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass
man in einem Rechtsstaat das Vorliegen eines Straftatbestandes braucht, ehe dieser Täter-Opfer-Ausgleich
durchgeführt werden kann.
({0})
Bereits zum dritten Mal hat der Bundesrat den Versuch unternommen, eine dringend notwendige Veränderung der §§ 303 und 304 des Strafgesetzbuches zu erreichen. Wir brauchen endlich eine Vorschrift, die für die
Polizei und die Staatsanwaltschaft kein Hindernis, sondern eine Hilfestellung bei der Strafverfolgung von
Graffitischmierern ist. Deshalb ist auch von Mal zu Mal
die Mehrheit im Bundesrat für eine Gesetzesänderung
größer geworden. Ich darf darauf verweisen, dass es die
Justiz- und Innenminister der SPD sind, die mittlerweile
gemeinsam mit der CDU und der CSU immer drängender eine Gesetzesänderung einfordern. Am Sonntag titelte eine Berliner Tageszeitung: Innensenator Körting
({1}): Sprayer in den Knast. - Ich will darauf verweisen, dass es sich bei dem Senator um einen Ihrer Landespolitiker handelt.
({2})
Herr Hartmann, ich gestehe es als Christdemokrat nur
ungern ein, dass es Ihr Parteifreund, der ehemalige Justizsenator und heutige Innensenator von Berlin Ehrhart
Körting, war, der den ersten Entwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes in den Bundesrat eingebracht hat.
Sie haben ihn damals wie heute aus Rücksicht auf Herrn
Ströbele im Regen stehen lassen. Das ist die Wahrheit.
({3})
Frau Schubert, die Nachfolgerin von Herrn Senator
Körting als Justizsenator - ebenfalls von der SPD -, hat
deshalb im letzten Jahr im Bundesrat eindringlich an den
Bundestag appelliert, endlich eine Gesetzesänderung
herbeizuführen. Ich darf aus dieser Rede zitieren:
Der - auch strafrechtlich - wirksame Schutz öffentlichen und privaten Eigentums sowie das Erscheinungsbild unserer Städte und Gemeinden gebieten,
dass der Gesetzgeber unverzüglich handelt.
Wo Frau Schubert Recht hat, hat sie Recht. Von „unverzüglich“ kann im Bundestag wirklich keine Rede sein,
nachdem bereits zwei Versuche des Bundesrates sowie
mehrere Versuche der CDU/CSU-Fraktion und der FDPFraktion immer wieder an der rot-grünen Mehrheit im
Bundestag gescheitert sind.
Es sieht so aus - ich muss hinzufügen: leider -, dass
sich die SPD-Fraktion wiederum dem Druck von Herrn
Ströbele und seiner Fraktion beugen will.
({4})
Noch im November letzten Jahres hat der Kollege
Wiefelspütz dem Berliner Verein mit dem schönen Namen „Noffiti“ versprochen, dass bis Weihnachten ein
Gesetzentwurf von Rot-Grün in den Bundestag eingebracht wird. Wir müssen heute feststellen: wieder Fehlanzeige.
({5})
Dabei scheinen selbst die Grünen Herrn Ströbele in seiner Fundamentalopposition gegen ein Graffiti-Bekämpfungsgesetz zumindest nicht mehr in Gänze zu folgen.
Herr Kollege Beck, Nordrhein-Westfalen, das ja bekanntlich von Ihnen mitregiert wird, hat nämlich im
Bundesrat zugestimmt.
({6})
Man kann doch niemandem in diesem Land mehr erklären, dass eine dringend notwendige Strafrechtsnovelle, die mit Ausnahme von Schleswig-Holstein von allen Bundesländern in dieser Republik gewollt wird, an
einer Handvoll - mehr sind es wirklich nicht - grüner
Bundestagsabgeordneten immer wieder scheitert.
({7})
Graffiti ist weit mehr als nur ein Ärgernis, Herr
Ströbele. Es hat sich in Deutschland zu einer hochgefährlichen Kriminalitätsform entwickelt.
({8})
- Ihr Lachen kann ich überhaupt nicht verstehen.
({9})
- Sie haben offensichtlich die Fakten noch nicht zur
Kenntnis genommen, Herr Ströbele. Denn allein in Berlin gibt es nach Schätzungen der Berliner Polizei 3 000
bis 4 000 Sprayer, die nicht nur am Wochenende sporadisch zur Spraydose greifen, sondern ganze Wohnviertel
der Stadt in mehrere Hundert Gruppen aufgeteilt haben,
also organisiert auftreten. Das ist die Wahrheit.
({10})
Die Gewalttätigkeit unter diesen rivalisierenden
Sprayergruppen, auch die Waffengewalt - Herr Ströbele,
das ist wahrlich nicht komisch -, nimmt ständig zu.
({11})
Es gibt ein hohes Maß an Beschaffungskriminalität und
eine zunehmende Vernetzung mit der Drogenszene. Das
sind die Erkenntnisse der Berliner Polizei und des rot-roten Berliner Senates. Deshalb will auch der Senat, dem
ja die SPD angehört, eine Gesetzesänderung.
Der Berliner SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder
- Sie sehen, ich versuche immer wieder, Brücken zu Ihnen zu bauen - hat sich im letzten Jahr endlich der Forderung der Berliner Verkehrsbetriebe, der Haus- und
Grundbesitzervereine und der CDU angeschlossen und
will nun im rot-roten Senat erreichen, dass Polizei und
Ordnungsämter nach skandinavischem Vorbild Graffitibekämpfungsgruppen bilden. Dies ist ohne Frage ein
Schritt in die richtige Richtung.
({12})
Aber Sie sollten solchen Ermittlungsgruppen endlich
eine handhabbare Strafvorschrift geben, die nicht aus
Angst vor hohen Gutachterkosten immer wieder zur Einstellung von Verfahren führt!
Es ist allerhöchste Zeit. Oder um es mit den Worten
Ihrer Parteifreundin Frau Schubert zu sagen: Handeln
Sie unverzüglich!
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Da zu diesem Tagesordnungspunkt keine Abstim-
mungen erfolgen, gehen wir gleich zum nächsten Tages-
ordnungspunkt über. Ich rufe die Tagesordnungspunkte
22 a bis 22 f sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:
22 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
- Drucksache 15/2286 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem See-
verkehrsabkommen vom 10. Dezember 2002
zwischen der Europäischen Gemeinschaft und
ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Re-
gierung der Volksrepublik China andererseits
- Drucksache 15/2284 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Ergänzung des
Gesetzes zur Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von Altsportanlagen
- Drucksache 15/2132 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Sportausschuss
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes
- Drucksache 15/2136 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Internationalen Maasübereinkommen vom
3. Dezember 2002
- Drucksache 15/2147 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Fleischhygienegesetzes, des Geflügel-
fleischhygienegesetzes und des Lebensmittel-
und Bedarfsgegenständegesetzes und sonstiger
Vorschriften
- Drucksache 15/2293 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
ZP 3a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung
der Vaterschaft und das Umgangsrecht von
Bezugspersonen des Kindes
- Drucksache 15/2253 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen
über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die
Rechtshilfe in Strafsachen und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 15/2254 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juli 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen
über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember
1957 und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 15/2255 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. April
2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die
Festlegung der Grenze auf den ausgebauten
Strecken des Rheins
- Drucksache 15/1650 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({8})
- Drucksache 15/2196 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Griefahn
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ludger Volmer
Harald Leibrecht
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/2196, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({9}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Auflage
eines Aktionsprogramms der Gemeinschaft
zur Förderung von Maßnahmen auf dem Gebiet des Schutzes der finanziellen Interessen
der Gemeinschaft
KOM ({10}) 278 endg.; Ratsdok. 11237/03
- Drucksachen 15/1547 Nr. 2.83, 15/2048 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Georg Fahrenschon
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvK 1/03
- Drucksache 15/2348 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({12})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, im Verfassungsstreitverfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({13})
Übersicht 5
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 15/2347 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zu den bereits
jetzt erkennbaren Auswirkungen der Gesundheitsreform
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für
den Antragsteller, die FDP-Fraktion, der Kollege
Dr. Dieter Thomae das Wort.
({14})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz wurde von der SPD, von den Grünen
und leider auch von der CDU/CSU verabschiedet. Wir
sind ausgestiegen, weil es ganz entscheidende Gründe
dafür gab, dem Gesetz nicht zuzustimmen.
({0})
Der erste Grund war, dass das Finanztableau nicht
stimmte. Das beweist sich heute.
({1})
Der zweite Grund war, dass wir wichtige Forderungen
wie die Festschreibung des Arbeitgeberanteils nicht
durchsetzen konnten.
({2})
Der dritte Grund war, dass in diesem Gesetz keine Kapitalbildung zur Finanzierung der anstehenden Alterspyramide vorgesehen war.
({3})
Das sind für uns drei entscheidende Gründe gewesen.
Wir stellen jetzt fest, dass unsere Überlegungen und
unsere Argumente stimmen;
({4})
denn die Zusage der Ministerin, dass die Beitragssätze
ab 1. Januar nennenswert gesenkt werden und damit eine
Kompensation für die Patienten erfolgen wird, trifft
nicht zu. Sie ist unglaubwürdig.
({5})
Die Fakten zeigen vielmehr, dass die Krankenkassen
stark verschuldet sind und die Verschuldungsgrenze höher ist, als sie angegeben wurde. Sie werden feststellen:
Aufgrund von Basel II werden die Krankenkassen in Zukunft bei der Kreditlinie noch enger begrenzt werden
und die Haftungsthematik für den Vorstand der einzelnen Krankenkassen wird eine exorbitante Rolle spielen.
Von daher sage ich Ihnen voraus: Es wird nicht dazu
kommen - so lautete das Versprechen der Ministerin, das
nicht eingelöst wurde -, dass die Beiträge in diesem Jahr
deutlich gesenkt werden.
({6})
- Sie werden aufgrund der Fakten kaum gesenkt werden
können.
Ich komme jetzt zu den handwerklichen Fehlern. Ich
höre immer wieder, dass die Ministerin davon spricht,
sie sei unschuldig, die Selbstverwaltung würde falsch
handeln. Aber die Ministerin trägt die volle Verantwortung.
({7})
Fangen wir mit der Praxisgebühr an. Die FDP hat in
allen gesundheitspolitischen Diskussionen gesagt, dass
es nicht ohne Zuzahlung geht. Für die Zuzahlung muss
es allerdings eine Härtefall- und eine Überforderungsregelung geben. Dazu stehen wir und das bleibt auch so.
({8})
Ohne eine vernünftige Selbstbeteiligung, die eine
steuernde und eine Finanzierungswirkung hat, werden
wir die Gesundheitskosten nicht in den Griff bekommen.
Wir können aber der Art und Weise, wie die Gebühr in
den Praxen erhoben wird, nicht zustimmen.
({9})
Hier wird ein Verwaltungsaufwand betrieben, der überhaupt nicht zu akzeptieren ist.
({10})
Wir haben Ihnen genug Vorschläge gemacht. Ich
weiß, Sie werden jetzt wieder sagen, dass Sie die Kostenerstattung ablehnen. Ich sage Ihnen aber voraus:
Letztlich werden Sie dieses System nur mit einer vernünftigen Selbstbeteiligung im Rahmen einer Kostenerstattung in den Griff bekommen.
({11})
Die Ministerin lässt alles schleifen. Im September
wurde das Gesetz verabschiedet. Ich kann leider nur
Stichworte nennen, zum Beispiel die Problematik der
chronisch Kranken. Natürlich sind auch wir dafür, dass
es für chronisch Kranke Begrenzungen gibt; das ist überhaupt kein Thema. Aber wenn Sie ein solches Gesetz auf
den Weg bringen, Frau Ministerin, dann müssen Sie innerhalb von drei Monaten in der Lage sein, zusammen
mit der Selbstverwaltung zu definieren, wer unter diese
Regelung fällt und wer nicht.
({12})
Das schüfe Vertrauen bei den Patienten. Hier ist ein Fehler gemacht worden.
Sie argumentieren, der alte Bundesausschuss habe angefangen; der neue beginne jetzt seine Arbeit. - Vor
Ende Januar werden Sie nicht entscheiden können, wer
unter die Chronikerregelung fällt und wer nicht. Ich
schätze sogar, dass es erst im Februar so weit sein wird.
Bei rezeptfreien Arzneimitteln haben wir Liberale
völlig andere Vorstellungen. Dass Arzneimittel, die nur
eine geringe Wirkung haben, von gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr ersetzt werden, finde ich völlig schizophren. Jetzt haben Sie aber diese Entscheidung getroffen und eine Sonderregelung versprochen. Wie sieht sie
aus? Kein Mensch weiß heute, wie diese Sonderregelung
aussieht. Ärzte und Patienten sind verunsichert.
Meine Damen und Herren, wie wollen Sie dies bewerkstelligen? Diese schwierige Thematik werden Sie
nicht innerhalb von zwei Monaten aufarbeiten können.
Sie wissen, wie schwer das ist. Wer in dieser Thematik
steckt, weiß, dass es eine irre schwere Aufgabe ist, hier
eine vernünftige Abgrenzung zu finden. Von daher haben wir Liberale immer gesagt: Wir wollen diese Abgrenzung nicht. Wir wollen eine generelle Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln. Dies käme den Patienten, die
diese OTC-Präparate und andere Arzneimittel wollen,
zugute.
({13})
Zur Thematik „Betriebsrente und Direktversicherung“ kann ich nur sagen: Die Aussagen gestern im Gesundheitsausschuss waren für mich völlig verwirrend.
Ich habe das Gefühl, dass das Ministerium überhaupt
nicht weiß, wie es dieses Thema anpacken und lösen
soll;
({14})
denn nach den Aussagen der Staatssekretärin war gestern Chaos. Da wurde eine Formulierung in das Gesetz
eingefügt und man weiß nicht, wie man sie handeln soll.
Das ist eine Katastrophe.
Wenn Sie nicht in der Lage sind, mit den Fachleuten
im Ministerium darüber zu entscheiden, wie ein verabschiedetes Gesetz zu handhaben ist, wird es Zeit, abzudanken.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun SchaichWalch von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wenn hier
jemand abdanken muss, dann ist es die FDP mit ihren
Vorstellungen zur Gesundheitspolitik.
({0})
Sie bejammern hier ernsthaft
({1})
eine überzogene Inanspruchnahme durch Versicherte
und Patienten.
({2})
Was glauben Sie, wie es mit Ihrer Kostenerstattung aussehen würde? Dann müsste jeder in der Praxis erst einmal das Geld hinlegen, bevor der Arzt loslegt.
Wer hat denn bei den Verhandlungen permanent erklärt, wir brauchten die Selbstverwaltung, sie könne es
am besten? Wir teilen die Einschätzung, dass sie es am
besten können müsste. Im Moment zeigt sie das aber
nicht. Sie waren bis zum Toresschluss bei den Gesprächen dabei. Ich möchte hier daran erinnern, dass alle
FDP-mitregierten Länder im Bundesrat zugestimmt haben. Da gab es keine Ausnahme.
({3})
Was Sie jetzt hier abliefern, ist eine Form von purem
Populismus. Sie sagen: Zwölf Tage nach In-Kraft-Treten
der Gesundheitsreform stellen wir fest, dass es nicht
funktioniert.
({4})
Ich sage hier sehr klar: Bei diesem Gesetz sehe ich an
keiner Stelle Änderungsbedarf.
({5})
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir seine Wirkungsweise sehr genau beobachten müssen. Das haben
wir aber miteinander besprochen. Das Ministerium wird
ein Auge darauf haben.
({6})
Wir brauchen jetzt den festen Willen aller Beteiligten
zur Umsetzung. Wir haben daher kein Verständnis für
Blockaden, wie sie sich im Augenblick an der einen oder
anderen Stelle auftun.
Dieses Gesetz ist nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über uns gekommen, bestätigt in einem KBVSchriftstück, im Gegensatz zum Lahnstein-Gesetz. Vielmehr hatten wir den ganzen Sommer über einen offenen
Diskussionsprozess. Am Ende des Sommers stand für
die Selbstverwaltung, für die Ärzte und für die Krankenkassen klar fest, was sie inhaltlich auszufüllen haben.
Es ist richtig und gut, dass die Ärzte und die Krankenkassen auszufüllen haben, wie die einzelnen Leistungen
auszugestalten sind. An diesem Punkt müssen wir als
Parlament sie mit Unterstützung des Ministeriums packen und ihnen deutlich machen: Wir brauchen so
schnell wie möglich die Festlegung, wer als Chroniker
gilt und wie es mit der Kostenübernahme der Transporte
aussieht.
Wenn man kein staatliches Gesundheitssystem
möchte - es bestand Konsens, dass dies gewollt ist -,
dann muss man als Parlamentarier klar dazu stehen, dass
die Selbstverwaltung das, was sie zu tun hat, auch einlöst. Das ist ihre letzte Chance.
({7})
Die Selbstverwaltung kann jetzt deutlich machen, dass
sie willens ist, dazu beizutragen, dass sich die Qualität
im Gesundheitswesen verbessert, dass wir bei den Leistungen ein vernünftiges Preis-Leistungs-Verhältnis bekommen und dass die Beiträge gesenkt und langfristig
stabilisiert werden können. Das sind die wesentlichen
Punkte, die sie umzusetzen hat. Wenn sie diese Chance
nicht nutzt, dann müssen wir darüber diskutieren, ob
man in der Zukunft andere politische Wege einschlägt
und die Selbstverwaltung nicht mehr in dem Maße, wie
es jetzt der Fall ist, beteiligt.
({8})
Lassen Sie mich jetzt noch sagen, worauf ich eine gewisse Hoffnung setze. Ich setze meine Hoffnung auf den
neu zusammengesetzten Bundesausschuss, und zwar
deshalb, weil ihm Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter angehören. Ich gehe davon aus, dass die Ministerin bestimmte Vorschläge zu Recht beanstandet hat,
weil sich die Belange der Patienten in ihnen nicht genügend widergespiegelt haben. In dieser Frage müssen wir
zu besseren Entscheidungen kommen. Ich gehe aber
auch davon aus, dass wir keine Zeit haben, darauf bis
Ende Januar dieses Jahres zu warten.
Zum Abschluss noch etwas zu der Härtefalllösung:
Ich bin der Überzeugung, dass die Härtefallregelung, die
eine Zuzahlung von 2 Prozent und für Chroniker eine
Zuzahlung von 1 Prozent des gesamten Bruttoeinkommens vorsieht, gerecht ist, weil sie alle entsprechend ihrer Wirtschaftskraft einbezieht und niemanden überfordert.
({9})
Ich erwarte, dass wir gemeinsam, wie wir auch den Konsens beschlossen haben, für die Umsetzung eintreten und
in diesem Lande deutlich machen, welche Ziele wir haben. Dabei sollten wir auch stark für die Selbstverwaltung eintreten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Storm von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist unübersehbar, dass wenige Tage nach dem In-Kraft-Treten
der Gesundheitsreform erhebliche Anlaufschwierigkeiten zu verzeichnen sind. Man muss aber auch feststellen,
dass wesentliche Teile der Reform überhaupt noch nicht
wirken konnten.
({0})
Das betrifft beispielsweise die neuen Regelungen für die
Qualitätssicherung und die neuen Versorgungsformen
wie die integrierte Versorgung, all das, was in den nächsten Monaten anlaufen wird.
Trotzdem führt kein Weg daran vorbei: Wenn ein Dialysepatient - das ist kein Einzelfall -, der zu 100 Prozent
gehbehindert ist und in dieser Woche eine Taxifahrt für
eine Entfernung von 50 Kilometern braucht, von seiner
Krankenkasse keine Aussage bekommt, ob seine Fahrkosten auch in Zukunft übernommen werden - so wird
es sein; das wird ihm nicht mitgeteilt -, dann macht das
deutlich, dass diese Reform handwerklich schlampig
umgesetzt wurde. Darin liegt das Problem.
({1})
Meine Damen und Herren, die Reform ist rechtzeitig
verabschiedet worden: im September letzten Jahres im
Bundestag und nahezu unverändert im Oktober letzten
Jahres im Bundesrat. Es war also genug Zeit, alle Vorkehrungen zu treffen, damit die Regelungen dieser Reform zum Jahreswechsel klar sind. Aber bis zum heutigen Tag sind zentrale Fragen ungeklärt. Dabei handelt es
sich nicht um Fragen, die der Gesetzgeber zu lösen hat,
sondern um Fragen, die die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen klären muss.
({2})
Dazu gehören beispielsweise folgende Fragen: Wer ist
als chronisch Kranker anerkannt? Wer finanziert in Zukunft notwendige Taxifahrten? - Natürlich werden die
notwendigen Taxifahrten auch in Zukunft von der Krankenkasse bezahlt; aber hier muss der entsprechende Personenkreis festgelegt werden. - Wie sieht es mit Zuzahlungen für Heimbewohner aus?
Wenn das zuständige Gremium aber bis kurz vor Weihnachten wartet und erst dann eine Entscheidung trifft - sie
ist an dieser Stelle von der Ministerin zu Recht blockiert
worden -, dann muss man sich nicht wundern, dass am
1. Januar zu vielen Punkten Unklarheit herrscht.
Aber an dieser Stelle beginnt nun Ihre Verantwortung,
Frau Ministerin. Der Gemeinsame Ausschuss hat in dieser Woche verkündet, er wolle erst Ende Januar über
diese zentralen Fragen entscheiden.
({3})
Das ist inakzeptabel;
({4})
denn diese Fragen brennen den Betroffenen tagtäglich
unter den Nägeln. Hier ist Gefahr im Verzug; rasches
Handeln ist gefordert. Ich fordere Sie deshalb nachdrücklich auf, Frau Ministerin: Sorgen Sie dafür, dass
diese noch offenen zentralen Fragen unverzüglich geklärt werden! Wir können auf die Klärung dieser Fragen,
die entscheidend für die Akzeptanz der Reform ist, nicht
bis Ende Januar oder Anfang Februar warten.
Es ist in den letzten Tagen immer wieder gefordert
worden, man müsse das Gesetz nachbessern und novellieren. Das ist Unsinn. Erst muss die Reform so anlaufen, wie es vorgesehen ist.
({5})
Es macht jetzt beispielsweise keinen Sinn, gesetzliche
Ausnahmen bei der Praxisgebühr zu beschließen. Das
gilt auch für die Antibabypille. Bei einer begrenzten
Zahl von Leistungen, für die Rezepte über einen längeren Zeitraum hinweg ausgestellt werden, muss man
überlegen, ob für einen begrenzten Kreis von Leistungen
beispielsweise Wiederholungsrezepte eingeführt werden
könnten. Dafür müsste man aber keine Änderung dieser
Reform vornehmen. Das ist eine Frage der praktischen
Umsetzung, die pragmatisch geklärt werden kann. Das
geht aber nicht, indem man jeden Tag neue Ausnahmen
von dieser Reform verkündet.
({6})
Zur Zuzahlung von Heimbewohnern. Das Taschengeld dieser Menschen beträgt mindestens 85 Euro. Natürlich können sie keine hohe Zuzahlung leisten. Eine
pragmatische Lösung hierzu ist vorbereitet, sie liegt
griffbereit in der Schublade. Sie sieht eine Zuzahlung
von 3 Euro für chronisch Kranke und von maximal
6 Euro für alle anderen Personen vor. Eine rasche Umsetzung ist notwendig, Frau Ministerin. Nur deswegen
herrscht in Heimen noch Unklarheit, weil die Umsetzung dieser praktikablen Lösung, die vorliegt, noch immer nicht auf den Weg gebracht worden ist.
Diese Beispiele zeigen: Wir haben in erster Linie ein
Umsetzungsproblem. Es tut Not, dass die Selbstverwaltung nun unverzüglich darangeht, die offenen Fragen,
deren Klärung der Gesetzgeber in ihre Hände gelegt hat,
unverzüglich zu regeln und dafür zu sorgen, dass die Reform so anlaufen kann, wie sie im September im Bundestag verabschiedet worden ist. Wenn das geschehen
ist, muss man nach einigen Monaten prüfen, wo es Probleme gibt, und kann dann in Ruhe überlegen, ob eine
Notwendigkeit für die eine oder andere Korrektur besteht. Ein Schnellschuss zu dieser Zeit wäre ein falsches
Signal, das nicht gegeben werden darf.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP
beklagt die Auswirkungen der Gesundheitsreform, an
deren Ausarbeitung sie sich bewusst nicht beteiligt hat.
({0})
Aber wie sähe eine Gesundheitsreform à la FDP aus? - Wir
haben es von Ihnen gehört: Die Zahnbehandlung insgesamt und nicht nur der Zahnersatz wäre nicht mehr Teil
des Leistungskataloges, sondern müsste von den Menschen privat versichert werden.
({1})
Das würde auch für die Behandlung von Unfällen gelten,
die ebenfalls nicht mehr Teil des Leistungskataloges
wäre und privat versichert werden müsste. Auch das
Krankengeld gehörte nicht mehr zum Leistungsspektrum
und müsste von den Arbeitgebern privat versichert werden.
Beim Restbestand der Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung könnten nach dem FDP-Modell
die Ärzte nach Privattarif, also mit dem 2,3-fachen Gebührensatz, abrechnen und würden ihren Patienten eine
Rechnung darüber ausstellen. Diese müssten die Patienten bezahlen und müssten sich darum kümmern, von ihrer Krankenkasse das Geld wiederzubekommen. Diese
würden aber nicht den gesamten Betrag erstatten. - Sie
wollen uns erzählen, dass das die bessere Lösung wäre?
Darüber kann ich nur lachen! Wenn diese Vorstellungen
Realität würden, bekämen wir ganz andere Auseinandersetzungen als die über die Praxisgebühr.
({2})
Bei der FDP läuft das letztlich doch nach dem Motto:
Sozialstaat - nein, danke. Das ist glücklicherweise nicht
der Weg, den wir in der Gesundheitsreform beschritten
haben.
Trotzdem will ich sagen: Wäre dies eine grüne Gesundheitsreform, dann sähe sie anders aus. Sie würde
nämlich weniger Belastungen für die Patienten und mehr
Wettbewerb für die Leistungserbringer mit sich bringen.
({3})
Ich erinnere auch daran, dass unsere Idee für die Reform
der Krankenversicherung in der Zukunft die Bürgerversicherung ist, in der alle, Beamte, Abgeordnete und
sonstige Bürgerinnen und Bürger, den gleichen Spielregeln unterliegen.
({4})
- Herr Kollege Zöller, wir haben - dazu stehen wir auch diese Gesundheitsreform letztlich im Konsens verabschiedet. Herr Seehofer, einen schönen Gruß an Herrn
Rüttgers. Auch Herrn Kauder dürfen Sie einmal ins Gebet nehmen. Davonlaufen gilt auch für die Union nicht.
({5})
Es wurde schon zu Recht gesagt, gegenwärtig gehe es
um Umsetzungsfragen.
({6})
Dass es um die Umsetzung geht, sollte man nicht kritisieren. Ich kann nämlich nur sagen: Wer fordert, es
müsse alles klar sein und die Politik habe doch schon
längst zu entscheiden gehabt, der fordert eine wesentlich
höhere Regelungsdichte. Hätten wir in unseren Konsensverhandlungen und nachfolgend im Bundestag wirklich
alles bis ins kleinste Detail regeln sollen? Ich meine:
Nein. Deswegen war es richtig, dass wir der Selbstverwaltung Aufträge erteilt haben. Man kann sagen: Die
Selbstverwaltung hat sich hier nicht unbedingt mit Ruhm
bekleckert.
Andererseits ist aber auch Folgendes richtig: Wir haben gemeinsam beschlossen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss ab dem 1. Januar 2004 nicht mehr nur eine
Versammlung alter Herren der Kassen und Ärztevereinigungen ist,
({7})
sondern dass auch die Patienten beteiligt werden.
({8})
Im letzten Jahr hat der Bundesausschuss in alter Zusammensetzung eine Chronikerregelung verabschiedet, die
absolut inakzeptabel war, weil es im Wesentlichen darauf ankam, wie oft man im Krankenhaus gewesen ist.
Vom Bundesausschuss in neuer Zusammensetzung erhoffe ich mir eine sozial intelligentere Lösung. Ich gehe
davon aus, dass er das in nächster Zeit hinbekommt und
somit diese Frage genauso wie die Frage der Taxifahrten
beantwortet wird. Selbstverständlich ist auch eine RegeBirgitt Bender
lung zwischen den Kassen, den Heimen und den Sozialhilfeträgern überfällig, damit klar ist, was die Menschen
im Heim auf welche Weise zuzuzahlen haben.
Eines aber muss klar sein: Da wir diesen Weg nun
einmal gegangen sind, darf man das alles nicht wieder
zurücknehmen und sagen, dass es nicht ernst gemeint
gewesen sei, nur weil sich die Ärzte über die Praxisgebühr, diese über jenes und andere über anderes beschweren. Das geht deswegen nicht, weil das Finanztableau
dann nicht mehr aufgehen würde. Der Verzicht auf Zuzahlungen, wie wir sie nun einmal vorgesehen haben,
hieße höhere Ausgaben für die Kassen und höhere Beiträge. Das kann nicht unser Weg sein.
({9})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Bender, nicht die FDP bejammert die Gesundheitsreform,
({0})
Millionen Menschen draußen sind empört über diese Gesundheitsreform. Das nehmen Sie bitte endlich einmal
zur Kenntnis!
({1})
Als wir uns im Sommer des vergangenen Jahres gemeinsam an einen Tisch gesetzt haben, waren wir uns
einig, dass für eine Gesundheitsreform vier Kriterien
maßgeblich sein sollten.
Das erste Kriterium. Jede beabsichtigte Maßnahme
muss vor der Entscheidung daraufhin überprüft werden,
wie viel Bürokratie durch sie in Gang gesetzt wird oder
ob sie zu einem Abbau unserer Überregulierungen führt.
Ein Ergebnis ist die Praxis- oder, besser gesagt, Krankenkassengebühr. Das Ziel wurde erkennbar nicht erreicht.
({2})
Zweites Kriterium. Ein solides und seriöses Finanztableau muss erstellt werden. Ein Ergebnis: Versicherungsfremde Leistungen sind endlich ausgegliedert worden. Die Gegenfinanzierung sollte durch eine Erhöhung
der Tabaksteuer sichergestellt werden. Das ist eine durch
den Vermittlungsausschuss noch verschärfte Fehlkalkulation. Das Ziel wurde meilenweit verfehlt.
({3})
Das dritte Kriterium - Horst Seehofer lässt grüßen ist die soziale Balance. Sie ist durch die besonderen Belastungen zum Beispiel für Rentner und für die bis heute
nicht definierten chronisch Kranken sowie durch das
Ausbleiben versprochener Beitragssenkungen erheblich
aus den Fugen geraten. In der Schule würde es heißen:
Setzen - Sechs!
({4})
Ich weiß nicht, ob Sie sich heute auch die Augen gerieben haben - ich glaube, ich war nicht der Einzige -,
als Sie den Blick in die Zeitung „Die Welt“ geworfen
und den Artikel mit dem Titel „Das Chaos war vermeidbar“ - das ist ein Zitat des Kollegen Seehofer - gelesen
haben.
Es war die FDP, die nicht nur einmal, leider vergebens, ein Gesamtkonzept eingeklagt und die Forderung
erhoben hat, dass die Belastung der Rentner vor Einzelentscheidungen in der Gesundheitsreform zu prüfen sei.
Wir haben vor vorschnellen, nicht zusammenpassenden
Einzelentscheidungen und damit verbundenen Überforderungen rechtzeitig gewarnt. Wenn Sie heute in der Öffentlichkeit diskutieren oder am Telefon Fragen beantworten, dann werden Sie feststellen, dass sich vor allen
Dingen die Rentner beklagen und im Stich gelassen fühlen, und das zu Recht.
({5})
Es war die CDU/CSU-Fraktion, die der Einrichtung
eines neuen Gemeinsamen Bundesausschusses zugestimmt hat, den auch wir für richtig halten. Beginn seiner
Arbeit: 1. Januar 2004. Jeder musste wissen, dass dieser
Ausschuss Detailregelungen zum Beispiel für die Einstufung chronischer Krankheiten oder für die Übernahme von Fahrkosten erst noch erarbeiten musste. Dieser Teil des Gesetzes hätte also gar nicht zum selben
Zeitpunkt in Kraft treten dürfen. Die Selbstverwaltung
jetzt in die Haftung zu nehmen ist nicht in Ordnung. So
billig darf sich niemand aus der Verantwortung stehlen.
({6})
Viertes und letztes Kriterium: die Öffentlichkeitsarbeit. Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, dass Gesetzesänderungen rechtzeitig vor In-Kraft-Treten verständlich kommuniziert werden müssen. Wir sitzen zwar
unter einer Glaskuppel, nicht aber unter einer Käseglocke oder in einem Elfenbeinturm. Die Bevölkerung muss
mitgenommen werden auf dem Reformkurs. Ihr muss erklärt werden, welche mittel- und langfristigen Vorteile
sich aus Änderungen ergeben, warum sie notwendig sind
und was bei Nichtstun alternativ gedroht hätte. Ergebnis:
1,9 Millionen Euro wurden zusätzlich zur Information
bereitgestellt und verpulvert für ganzseitige nichtssagende Anzeigen. Die Menschen haben zu Recht das Gefühl, klammheimlich über den Tisch gezogen worden zu
sein. Auch dieses Ziel wurde nicht erreicht.
({7})
Was bleibt, ist Empörung, ist Verunsicherung, ist Resignation. Die Bereitschaft der Menschen, sich Reformen zuzumuten - sie ist ja vorhanden -, weicht dem
Misstrauen und der Furcht vor der Willkür staatlichen
Handelns. Jedem Menschen in unserem Land wird immer klarer, dass er besser damit fährt, zukünftig sein
Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen, wenn er
dazu in der Lage ist.
Jetzt ist eigentlich der Zeitpunkt für mehr Selbstbestimmung und mehr Eigenverantwortung gekommen,
wie sie die FDP seit langem fordert. Aber was die große
Koalition aus SPD, Union und Grünen von Entscheidungsfreiheiten hält, beweist ein Zitat aus „vigo extra“,
einer Beilage zur AOK-Verbandszeitschrift. Dieter
Thomae hat auf die Bedeutung von Rechnungen und
Kostenerstattung hingewiesen. Laut Gesetz erhalten alle
Versicherten künftig die Möglichkeit zur Wahl der Kostenerstattung - sehr großzügig. Zitat aus „vigo“, an die
Versicherten gerichtet:
Diese Rechnung begleichen Sie selbst. Anschließend bekommen Sie die Kosten auf der Grundlage
der geltenden Vertragssätze zum Teil erstattet.
Kommen Sie nämlich als „Privatpatient“ zum Arzt,
was bei der gewählten Kostenerstattung quasi der
Fall ist, räumt der Gesetzgeber den Ärzten die
Möglichkeit ein, höhere Gebühren für die Behandlung abzurechnen. Die Differenz müssen Sie selbst
bezahlen, wenn Sie dafür nicht wiederum eine private Zusatzversicherung abgeschlossen haben.
Daher sollten Sie diesen Schritt gut überlegen und
sich unbedingt vor einer Entscheidung für die Kostenerstattung von Ihrer AOK Rheinland beraten lassen. Denn Sie sind an Ihre Entscheidung dann mindestens ein Jahr lang gebunden.
Meine Damen und Herren, das ist keine Wahlfreiheit,
das ist ein blankes Kostenerstattungsabschreckungsgesetz.
({8})
Ich komme zum Schluss. In diesem Gesetz ist manches gut gewollt, aber vieles schlecht gemacht. Nehmen
Sie erst einmal die Sorgen der Menschen ernst, die in
Leserbriefen, in Telefonaktionen und in Briefen an uns
Abgeordnete deutlich werden! Schaffen Sie die Praxisgebühr ab und ersetzen Sie sie durch die Regelung, die
wir heute vorgeschlagen haben! Setzen Sie die Teile des
Gesetzes aus, die noch im Detail geregelt werden müssen! Schaffen Sie wieder Vertrauen in die Politik!
({9})
Wir alle leiden unter dieser Gesundheitsreform. Sie ist
ein Riesenmurks.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Erika Lotz von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Mein lieber Herr Parr, was meinen Sie, was es an Leserbriefen und Schreiben gegeben hätte, welcher Unmut in
der Bevölkerung wäre, wenn dieses Gesetz mit der von
Ihnen gewollten Kostenerstattung beschlossen worden
wäre?
({0})
Ein Blick in die jüngere Geschichte wird die Erregung über unsere Gesundheitsreform, aber auch die
künstliche Erregung der FDP relativieren.
In der heutigen Ausgabe der „Frankfurter Rundschau“ wurden die Überschriften der Artikel zu den Gesundheitsreformen aus den Jahren 1989, 1993 und 1997
zusammengetragen. Damals wurde getitelt: „Reform
sorgt für kräftige Konfusion“, „Höhere Zuzahlungen
skandalös“, „75,8 Prozent finden sie krank“. Damals
hießen die Minister Norbert Blüm und Horst Seehofer.
Deren Bemühungen um eine Stabilisierung des Gesundheitswesens brachten ihnen ähnlich viel Ärger ein. Auch
die FDP war damals daran beteiligt.
Ich sehe es heute als großen Fortschritt an, dass Regierung und Opposition für die zusammen beschlossene
Reform bei allem Gegenwind gemeinsam einstehen
müssen. Ich appelliere noch einmal eindringlich an die
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, dies zu tun
und sich jetzt nicht vor der Verantwortung zu drücken.
Herr Storm, wenn Sie Kritik an der Gesundheitsministerin üben, will ich Ihnen dazu Folgendes sagen: Das
BMGS begleitet die ganzen Bemühungen. Heute haben
die Krankenkassen in einem auf Bitten der Patientenbeauftragten geführten Gespräch im BMGS zugestanden,
dass man bei der Frage der Dialyse - um Ihr Beispiel
aufzugreifen - beweglich sein wird und dieses Problem
im Sinne der Patienten lösen wird.
Lassen Sie mich auch sagen: Das Gesetz beinhaltet
natürlich nicht die reine Lehre dessen, was wir gewollt
haben. Wir hatten andere Vorstellungen. Wir wollten
mehr Wettbewerb und Einzelverträge mit Ärzten.
({1})
Auch die Praxisgebühr in diesem Umfang war nicht unser Baby. Jetzt den Zorn der Betroffenen allein bei der
Gesundheitsministerin abzuladen, Herr Storm, finde ich
nicht redlich. Das ist nicht in Ordnung.
({2})
Bei Reformen dieses Ausmaßes sind nachträgliche
Korrekturen nicht ungewöhnlich. Die meisten Patienten
wissen, dass sie für eine nach wie vor gute Versorgung
tiefer in die eigene Tasche greifen müssen. Sie wissen,
dass die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen, um
die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu verbessern. Richtig ist sicher, dass das
Praxispersonal des einen oder anderen Arztes mit den
neuen Regelungen nicht auf Anhieb klarkommt. Das ist
aber kein Grund, das Gesetz in Bausch und Bogen zu
verdammen.
Wenn Sie von der FDP beklagen, dass die Krankenkassenbeiträge noch nicht gesenkt worden sind, dann
muss ich Ihnen sagen: Heute ist der 15. Januar.
({3})
Die Beiträge senken kann man nur, wenn Einsparungen
erzielt worden sind. Diese Einsparungen werden nun
möglich sein. Einzelne Kassen haben ihre Beiträge
schon gesenkt.
({4})
Das verschweigen Sie natürlich gerne. Der Erfolg des
Gesetzes wird anhand von Beitragssenkungen deutlich
werden.
Sorgen machen mir natürlich die Chroniker- und
Fahrkostenrichtlinien.
({5})
Die Patienten hatten aus meiner Sicht einen Anspruch
darauf, zu wissen, was mit Jahresbeginn 2004 für sie als
chronisch Kranke gilt und wann die einkommensabhängigen Belastungsgrenzen erreicht werden. Darüber hinaus hätten sie darüber informiert werden müssen, ob
die Krankenkassen weiterhin die Kosten für Fahrten zur
ambulanten Behandlung übernehmen und welche Kriterien dafür gelten. Das muss die Selbstverwaltung von
Ärzten und Krankenversicherungen definieren. Eine politische Entscheidung stünde zu Recht im Verdacht der
Staatsmedizin. Das ist doch etwas, was Sie ganz und gar
nicht wollen.
In beiden Punkten hat die gemeinsame Selbstverwaltung sowohl die Patienten als auch die Ärzte als auch die
Politik hängen lassen. Der Bundesausschuss der Ärzte
und Krankenkassen war nicht in der Lage, bis zum
31. Dezember 2003 sach- und problemgerechte Chroniker- und Fahrkostenrichtlinien zu verabschieden. Die
Richtlinien, die der Bundesausschuss beschlossen hatte,
waren einseitig auf Zuzahlungsmaximierung und Ausgabenminimierung ausgerichtet. Überdies hat der Bundesausschuss den Irrweg eingeschlagen, chronisch Kranke
primär unter dem Blickwinkel der stationären Versorgung zu definieren. Deshalb war es richtig, dass die Ministerin ein Veto eingelegt und eine Änderung gefordert
hat.
({6})
Dies muss man einmal lobend erwähnen; man darf nicht
immer nur Kritik üben.
Das Ministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung hat die Richtlinien zu Recht beanstandet. Der Ausschuss wird in Bälde neue Regelungen mit klaren Definitionen vorlegen. Ich bin froh, dass dies auch unter
Mitwirkung der Patientenbeauftragten geschieht. Die
Patientenbeauftragte ist von der SPD gewollt worden.
Ich denke, dass Frau Kühn-Mengel eine glückliche Hand
haben wird. Wir wünschen ihr auf jeden Fall viel Erfolg.
({7})
Wir denken, dass es unter ihrer Mitwirkung gelingen
wird, die noch vorhandenen Ungereimtheiten zu beseitigen. Ich wünsche uns allen, dass wir letztendlich gemeinsam für das, was wir zusammen beschlossen haben,
({8})
einstehen.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von
der CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Ursache dieser Aktuellen Stunde ist in der
totalen Verunsicherung der Patienten zu sehen. Man
muss sich die Frage stellen: Warum entstand diese Verunsicherung
({0})
und wer ist für was verantwortlich? Gleichzeitig will ich
aber auch notwendige Maßnahmen zur Behebung dieser
Missstände aufzeigen.
Wie entstand die Verunsicherung? Wenn am 1. Januar
ein Gesetz in Kraft tritt, dann müssen die erforderlichen
Regelungen, die der Bundesausschuss der Ärzte und
Krankenkassen zu treffen hat, ebenfalls zu diesem Zeitpunkt in Kraft treten bzw. vorliegen.
({1})
Hier hätte man zum Beispiel mit etwas mehr Nachdruck
und vielleicht auch Verhandlungsgeschick für die Einhaltung dieses Zeitplans sorgen müssen.
({2})
Ich glaube, die zur Verfügung stehenden drei Monate
wurden nicht optimal genutzt.
({3})
Eine weitere Ursache der Verunsicherung waren und
sind die zum Teil widersprüchlichen Äußerungen. Es
sind da zu nennen: die Hotline des Ministeriums, die
Ärzte, die Kassen, das Ministerium und seit gestern sogar der Kanzler höchstpersönlich. Ich will das an dem
Beispiel der Praxisgebühr bei einem Folgerezept klar
machen. Die Auskunft der Hotline war: Da fällt eine
Praxisgebühr an. Die Auskunft des Ministeriums: Die
Praxisgebühr gilt generell, aber bei der Pille könnte es
eine Ausnahme geben. Gestern der Kanzler: Bei Folgerezepten fällt überhaupt keine Gebühr an. - Wenn dem
nämlich so wäre, dann brauchte man auch keine Ausnahmeregelung für die Pille.
Ein Stück Verunsicherung ist hausgemacht. Heute
habe ich eine ganzseitige Anzeige in der Zeitung gelesen. Sie trägt den Titel: Die Wahrheit über die Praxisgebühr. - Ich habe mir die Anzeige angeschaut. Sie sieht
gut und übersichtlich aus. Aber im Gesetz steht etwas
anderes.
({4})
In der Anzeige steht, dass die Praxisgebühr für den Besuch beim Arzt und Zahnarzt zu entrichten ist; im Gesetz
werden auch noch die Psychotherapeuten genannt. Wer
über die Wahrheit berichtet, darf nicht für weitere Verunsicherung sorgen. Wir haben also auch hier ein hausgemachtes Problem.
Ich bin ganz offen. Mich hat persönlich geärgert, dass
Sie, Frau Ministerin, für das so genannte Pillenproblem
innerhalb von zwei Tagen eine Lösung vorgeschlagen
haben, obwohl dieses Problem frühestens im zweiten
Quartal 2004 ansteht.
({5})
Es wäre wesentlich wichtiger gewesen, die Fragen der
Praxisgebühr, der Fahrkosten, der Regelung für chronisch Kranke und der nicht verschreibungspflichtigen
Arzneimittel vordringlich zu lösen.
({6})
Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen aller Beteiligten am Gesundheitswesen können wir dem Patienten
nicht helfen. Daher appelliere ich an alle Beteiligten im
Gesundheitswesen, die für die Patienten unerträgliche
Situation schnellstmöglich zu beenden.
Erstens. Ich appelliere an das Ministerium, endlich
dafür zu sorgen, dass klare, nachvollziehbare Festlegungen auf den Tisch kommen. Zweitens. Ich appelliere an
die Selbstverwaltung von Kassen und Ärzten, dass die
Richtlinien, deren Erarbeitung ihr im Gesetz zugewiesen
ist, schnellstmöglich festgelegt werden. Drittens. In der
Übergangszeit - das halte ich für ganz wichtig - müssen
Ärzte und Kassen entsprechend dem Sinn des Gesetzes
den Bedürfnissen der Patienten gerecht werden.
Ich will das an einem Beispiel klar machen. Laut Gesetz heißt es betreffend die Fahrkosten, wenn es zwingende medizinische Gründe gebe, könne die Kasse in
besonderen Fällen eine Genehmigung erteilen und die
Fahrkosten übernehmen. Es sollte sich niemand - weder
eine Kasse noch ein Arzt - auf die Position zurückziehen, in der ersten Festlegung seien nur Dialyse, Chemound Strahlentherapie genannt worden. Es gibt noch mehr
Patientengruppen, für die diese Sonderregelung gelten
muss. Ich denke hierbei besonders an Patienten mit bestimmten Behinderungen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Menschlichkeit muss vor Formalismus gehen!
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Umfrageergebnisse kann ich gut
verstehen, dass die FDP - wie schon vor Weihnachten jede Möglichkeit einer Aktuellen Stunde nutzt, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Auch Homestorys über Hanfpflänzchen oder Noppensocken tragende Fraktionsvorsitzende helfen nicht mehr weiter. Daher glaube ich
nicht, dass es Ihnen bei dem Thema dieser Aktuellen
Stunde ernsthaft darum geht, etwas zur Versachlichung
dieses Themas beizutragen.
({0})
Ihnen geht es nur darum, zwei Wochen nach der Einführung eines so umfassenden Gesetzes weiterhin zur
Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger beizutragen, wie es auch bei der Kampagne in der Zeitung mit
den vier großen Buchstaben der Fall war.
({1})
- Ich lebe in derselben Welt wie Sie, Herr Parr. Auf Sie
komme ich noch zurück.
({2})
Ihre Fraktion war an der Konsensfindung beteiligt.
Sie haben das Gesetz abgelehnt und versuchen jetzt, es
an den Pranger zu stellen.
({3})
Dennoch, lieber Herr Parr, nicht Millionen von Menschen lehnen es ab, sondern haben Fragen und Sie betätigen sich gerade in der Zeitung mit den vier großen
Buchstaben als Aufklärer über diese Reform. Dafür
möchte ich mich herzlich bedanken.
({4})
Wir haben mit dem Gesetz den politischen Rahmen
vorgegeben und in vielen Bereichen große, weit reichende Strukturreformen vorangebracht. Ich erinnere an
die vielen Maßnahmen, zum Beispiel solche zur integrierten Versorgung, die Einführung der Gesundheitszentren und die Öffnung der Krankenhäuser für hoch
spezialisierte Leistungen.
Manche Regelungen im Zusammenhang mit den Gebühren oder den Medikamenten waren in unserem Gesetzentwurf anders vorgesehen, Herr Storm, als sie in der
Konsensrunde zustande kamen. Dennoch trage ich diesen Konsens mit und in einem waren wir uns einig, dass
wir mit dem Gesetz vor allem zum Bürokratieabbau beitragen wollten und dass die Politiker nicht alles bis ins
Kleinste regeln sollten. Deshalb haben wir der Selbstverwaltung drei Monate Zeit gegeben, um bestimmte Fragen, die heute mit Sicherheit nicht ausreichend geklärt
sind, zu regeln. Gerade aber was die Chronikerregelung
angeht, die uns die Selbstverwaltung vorgeschlagen hat,
kann ich mich erinnern, dass Sie mit dem Vorschlag der
Selbstverwaltung nicht einverstanden waren, Herr
Zöller.
Was die Praxisgebühr oder auch die anderen Regelungen betrifft, möchte ich die FDP erinnern, dass Sie bei
den Beratungen immer nur einen Begriff wiederholt haben - das hatte schon fast autistische Züge -, nämlich:
Kostenerstattungsprinzip.
({5})
Das wäre aber meiner Ansicht nach für viele Patientinnen und Patienten völlig unsozial. Deswegen lehne ich
es nach wie vor ab.
({6})
Sie haben noch ein weiteres Ziel verfolgt - das wurde von manchen Ihrer großen Ehrenvorsitzenden bemängelt -: Sie wollten Schutzzäune um Ihre Lobbygruppen
ziehen, die nicht hoch genug sein konnten: Die Apotheker und Ärzte sollten möglichst geschont werden.
Aber gerade Ärztinnen und Ärzte aus meinem Wahlkreis haben mir bei Neujahrsempfängen gesagt - das hat
auch der KBV-Vorsitzende Richter-Reichhelm heute
Morgen, 14 Tage nach In-Kraft-Treten des Gesetzes, in
einer Nachrichtensendung festgestellt -: Bitte lasst das
Gesetz so, wie es ist! Regelt nicht wieder alles bis ins
letzte Klein-Klein! Lasst uns erst einmal schauen, wie
sich dieses umfassende Gesetzesreformwerk in der Praxis bewährt!
Ich bin mir absolut sicher, dass der kürzlich neu zusammengetretene Bundesausschuss, an dem - das ist
meines Erachtens sensationell und stellt einen riesigen
Reformfortschritt dar - zum ersten Mal Patientinnen und
Patienten mit beteiligt sind, in all diesen Fragen eine gerechte und gute Lösung erarbeiten wird.
Ich komme zum Schluss.
({7})
Ich denke, dieses Reformwerk war ein wirklich großes
Vorhaben, das den allergrößten Respekt verdient. Deshalb fordere ich Sie auf: Hören Sie auf, ständig irgendwelche Themen populistisch anzugehen! Arbeiten Sie
lieber konstruktiv mit! Wir wissen genau, was wir für die
Patientinnen und Patienten in diesem Land tun wollen,
Herr Thomae.
({8})
Sie wissen das nicht. Sie erzeugen mit solchen Debatten
nur Chaos. Lassen Sie das bitte sein!
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Chaos und Wut in vielen Arztpraxen und Apotheken lächelt Frau Ministerin Schmidt einfach weg. In den
Medien - so haben wir das in dieser Woche erlebt - redet
die Ministerin lieber über ihr eigenes Wohlbefinden als
über das der Patienten. Wir, die PDS im Bundestag, bekommen jeden Tag Anrufe von Menschen, die völlig
verunsichert und entsetzt über das sind, was finanziell
auf sie zukommt. Die Gesundheitsreform der ganz großen Koalition aus SPD, CDU, CSU und Grünen ist
schon in der ersten Woche nach der Einführung ein Desaster. Rot-Grün verhöhnt mit der Argumentation, man
solle abwarten, wie sich die Umsetzung des Gesetzes
weiter entwickle, die Menschen, die jetzt das Geld auf
den Tisch legen müssen.
({0})
Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Voraussetzungen
für die Umsetzung eines Gesetzes zu schaffen, dann ist
doch die einzige logische Schlussfolgerung, dass ein solches Gesetz später in Kraft treten muss.
Für das Chaos, das Sie angerichtet haben, ist aber
nicht Ministerin Schmidt allein verantwortlich, sondern
auch Bundeskanzler Schröder, Frau Merkel, Herr Stoiber
und die Parteiführung der Grünen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CSU, ich darf Sie daran erinnern,
dass Herr Seehofer noch im April letzten Jahres erklärt
hat, dass die Praxisgebühr „sehr problematisch“ sei.
Herr Laurenz Meyer von der CDU erklärte, die Praxisgebühren seien „eine reine Schröpfmaßnahme für Patienten, die keinerlei Steuerungsfunktion hat“. Alles
schon vergessen, meine Herren?
Alle Fraktionen dieses Hauses haben gekniffen, als es
darum ging, die Lobbymacht von Pharmaindustrie und
Ärzteverbänden einzuschränken. Sie sind den einfachen und bequemen Weg gegangen. Für Ihre Feigheit
müssen jetzt die Ärmsten der Armen bluten. Sie ziehen
den alten Menschen, die in Heimen wohnen, die Praxisgebühren vom Taschengeld ab. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe hat mitgeteilt, dass bereits in der ersten
Kalenderwoche - ich betone: in der ersten Kalenderwoche - zahlreiche Heimbewohner die 2-Prozent-Zuzahlungsgrenze überschritten haben. Freistellungsbescheide können noch nicht erteilt werden, weil es noch
keine entsprechenden Regelungen gibt und folglich niemand weiß, wie das geht. Ergebnis des Gesetzes ist, dass
von schwer krebskranken Menschen für eine Behandlung über 300 Euro gefordert werden und dass mit todkranken Menschen darüber gestritten wird, ob ihre
Krankheit chronisch ist oder nicht. Ich finde, es ist einfach würdelos, wie infolge des Gesetzes mit den Menschen umgegangen wird.
({1})
Kaum ist die so genannte Gesundheitsreform angelaufen, müssen Sie nachbessern. Da Sie die Wirtschaft
so gerne als Vorbild nehmen, sage ich Ihnen: Jedes Unternehmen wäre in einem solchen Fall zu einer Rückrufaktion gezwungen. Aber anstatt ihre Fehler einzugestehen, zeigt die Bundesregierung mit dem Finger auf
andere. Eine Vorrednerin von der SPD machte sogar
Sprechstundenhilfen dafür verantwortlich, dass das Gesetz die Menschen in Bedrängnis bringt. Das Problem ist
nur: Der kranke Mensch, der alte Mensch und der Sozialhilfeempfänger müssen jetzt das Geld hinlegen, während Sie über die Schuldfrage streiten.
Ich kann Sie nur dringend auffordern: Nehmen Sie die
Praxisgebühren und die erhöhten Zuzahlungen zu den
Medikamenten zurück, und zwar besser heute als morgen. Diese Reform macht Deutschland nicht gesund,
sondern krank. Ändern Sie das Gesetz!
({2})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rolf
Stöckel von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle waren sich einig: Unser Gesundheitssystem muss effizienter, finanzierbarer und leistungsfähiger werden. Die
Lohnnebenkosten sollen zurückgeführt werden. Die
FDP-Position dazu war bekannt: stärkere Privatisierung
der Risiken, Kostenerstattungsprinzip - meine persönliche Meinung ist, dass einiges dafür spricht; aber das
hätte bei der Umsetzung einen nicht minder bürokratischen Aufwand besonders von den sozial Schwachen erfordert -, mehr Eigenverantwortung und -beteiligung.
Nur eines sollte es nicht geben: mehr Wettbewerb für die
Klientel, die Sie vertreten, wie Freiberufler und Apotheker. Diesen Gruppen sollten nicht mehr Leistung und
Konkurrenz abverlangt werden.
({0})
Sie haben sich dem Kompromiss entzogen, damit Sie
sich jetzt sozusagen das Mäntelchen der Unschuld umhängen und den Robin Hood der Patienten spielen können. Ich habe angesichts der Flut der Neuregelungen
Verständnis dafür, dass Patienten noch keinen Überblick
haben. Kein Wunder, dass sie angesichts der vielen
Detailinformationen, aber auch der gezielten Desinformationen und Halbwahrheiten von Medien und Interessenverbänden verunsichert sind.
Die Art und Weise aber, wie die Gesundheitsreform
hier in den 14 Tagen, nachdem sie in Kraft getreten ist,
von einigen in Grund und Boden geredet wird, finde ich
schlicht - Herr Präsident, verzeihen Sie den unparlamentarischen Ausdruck - zum Kotzen.
({1})
Wenn der Ruck, der durch Deutschland gehen soll,
auch in anderen Reformbereichen so aussieht, dann gute
Nacht. Natürlich gibt es praktische Umsetzungsprobleme, egal ob das Ministerium, die Selbstverwaltung,
die Ärztekartelle oder die Krankenkassen dafür Verantwortung tragen. Ein Arzt sagte am Montag in den „Tagesthemen“, Krankheiten würden nicht behandelt und es
entstehe eine Abwärtsspirale von Armut, Krankheit und
Sozialhilfe wegen nicht erfolgter Behandlung. Dem
kann ich nur entgegnen: Ein Arzt, der erst nach der
Kohle fragt und dann einen Kranken behandelt, der gehört nicht in dieses Gesundheitssystem.
({2})
Ich gebe zu: Auch unter Sozialdemokraten herrscht
noch Unverständnis darüber - Kollegin Lötzsch hat das
gerade angesprochen -, warum Sozialhilfeempfänger
und insbesondere Heimbewohner, bei denen die Kosten
für ihre Unterbringung in einem Heim und für ihre Gesundheitsleistungen von der Sozialhilfe getragen werden
müssen, mit einer Eigenbeteiligung belastet werden.
Christoph Lütgert hat in einem Kommentar in den
„Tagesthemen“ über erschütternde Fälle aus dem sozialen Alltag berichtet. Ich möchte die Fakten hier darstellen: Sozialhilfeempfänger leisten Zuzahlungen; chronisch Kranke zahlen 1 Prozent und nicht chronisch
Kranke zahlen 2 Prozent vom Regelsatz des Haushaltsvorstandes, der im Durchschnitt bei 295 Euro liegt. Das
heißt: Wer 1 Prozent Zuzahlungen leisten muss, zahlt
etwa 3 Euro pro Monat; wer 2 Prozent Zuzahlungen leisten muss, zahlt etwa 6 Euro pro Monat. Wer kein eigenes
Einkommen hat, bekommt ein durchschnittliches Taschengeld von ungefähr 88 Euro. Diese Zuzahlung ist
sozial verträglich.
Frau Kollegin Lötzsch, das gilt vor allen Dingen
dann, wenn man berücksichtigt, dass alle Sozialhilfeempfänger durch die Neuregelungen im Sozialhilferecht
krankenversichert sind. Wer hier aus Eigeninteresse die
Ärmsten und die sozial Schwächsten missbraucht, weil
er ganz andere Ziele verfolgt, dem kann ich nur Heuchelei und Unmoral vorwerfen.
({3})
Ich fordere die Parteivorsitzende der CDU, Frau
Merkel, hier auf, den Kollegen Rüttgers zurechtzuweisen, der sich genau wie die FDP einen „weißen Fuß“ machen will. Er weist die Praxisgebühren zurück und macht
allein Ulla Schmidt für die Probleme mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz verantwortlich. Wir erinnern
daran, dass die CDU/CSU höhere Praxisgebühren wollte
und dass sie auch höhere Zuzahlungen wollte, nämlich
10 Prozent. Wir waren diejenigen, die diese Begrenzung
vorgenommen haben. Unser Gesetzentwurf sah Praxisgebühren lediglich für diejenigen Facharztbesuche vor,
die nicht durch Überweisungen von Hausärzten, Kinderärzten und Frauenärzten gedeckt worden sind.
({4})
Die SPD bleibt dabei: Unser Gesundheitssystem muss
den Versicherten weiterhin - unabhängig vom Geldbeutel - alle notwendigen medizinischen Leistungen auf
neuestem Stand gewährleisten. Unser Gesundheitssystem muss mehr Gesundheit produzieren, auch durch
mehr Eigenverantwortung und mehr Vorsorge der Patienten. Es muss aber auch durch Strukturreformen und mehr
Wettbewerb, vor allen Dingen bei den Leistungserbringern, effizienter werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, unterstützen Sie uns, anstatt sich hier
parteitaktisch zu verhalten und sich an den ohne Frage
vorhandenen Problemen bei der Umsetzung zu weiden!
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Kollege Stöckel, wenn Sie selbst einen Begriff
für unparlamentarisch halten, dann sollten Sie ihn hier
nicht gebrauchen.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Monika
Brüning von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Am 26. September 2003 hat
dieses Haus die Gesundheitsreform verabschiedet. Der
Bundesrat hat am 17. Oktober zugestimmt und am
1. Januar 2004 ist dieses Gesetz in Kraft getreten. Man
möchte glauben, dass das Ministerium für Gesundheit
und Soziale Sicherung die letzten zweieinhalb Monate
des vergangenen Jahres genutzt hat, um noch offene Einzelfragen rechtzeitig und ausreichend vor In-Kraft-Treten des Gesetzes zu klären. Wir von der CDU/CSU wollten mit diesem Gesetz Transparenz und Verlässlichkeit
für alle Beteiligten. Aber was passiert stattdessen?
- Chaos bricht aus und - wen verwundert es? - Verunsicherung bei den Menschen macht sich breit!
Wir von der CDU/CSU haben uns angesichts der Finanzkrise der gesetzlichen Krankenversicherung im
Sommer entschieden, an den Verhandlungen zur Gesundheitsreform teilzunehmen, weil wir wollten, dass
die Menschen auch zukünftig unabhängig vom Alter
oder Einkommen eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung erhalten.
Angesichts der demographischen Entwicklung, des
medizinischen Fortschritts, der wirtschaftlichen Schwäche und der vielen Veränderungen in der Arbeitswelt war
es unausweichlich, dass sich die Patientinnen und Patienten an den Kosten ihrer Behandlung beteiligen. Wir
wollten, dass dies in einem sozialverträglichen Maß geschieht. Deswegen haben wir uns für eine Belastungsobergrenze eingesetzt. Daher wurde für Menschen, die
aufgrund chronischer Erkrankungen besonders hohe finanzielle Belastungen haben, die Zuzahlung auf 1 Prozent des versicherungspflichtigen Bruttoeinkommens
begrenzt.
Was bei der Umsetzung herausgekommen ist, belastet
aber gerade die Menschen, die wir vor einer Überforderung bewahren wollten. Das darf nicht sein. Der vorgelegte Entwurf einer Definition einer chronischen
Krankheit stellt zu sehr auf stationäre Aspekte ab. Es
macht betroffen, zu lesen, dass es hierdurch zu Jahresbeginn bereits Fälle gegeben haben soll, in denen chronisch kranke Patienten ausschließlich wegen der engen
Definition dessen, was „chronisch krank“ bedeutet, ins
Krankenhaus eingeliefert wurden.
Chronisch kranke Menschen wissen zurzeit nicht,
welche Kosten sie selbst tragen müssen, sie wissen noch
nicht einmal, ob sie überhaupt chronisch Kranke im
Sinne des Gesetzes sind. Das ist absurd.
({0})
Bis zum Frühjahr sollen die Betroffenen endlich Klarheit
haben. Aber das ist viel zu spät. Ähnliches gilt bei den
Fahrkosten.
Wir wollten mit dem GMG mehr Transparenz für den
Versicherten im Gesundheitswesen. Davon kann zurzeit
leider keine Rede sein. Wenn empfohlen wird, Kostenbelege aufzubewahren, um nach einer Klärung der offenen Fragen nachträglich bei der Kasse die Kostenerstattung zu beantragen, setzt sich leider das fort, was wir
schon in der letzten Phase der Verhandlungen zur Gesundheitsreform erleben mussten: Verwirrung.
Lassen Sie mich zu einer zweiten Personengruppe
kommen, die besonders verunsichert ist: die sozialhilfebedürftigen Heimpatienten. Die Zeitung „Die Welt“
schrieb am 5. Januar dieses Jahres „Heimbewohnern
droht Versorgungsnotstand“. Für die Berechnung der
normalen Belastungsgrenze von 2 Prozent wird zurzeit
der volle Regelsatz der Sozialhilfe zugrunde gelegt, der
durchschnittlich 285 Euro beträgt.
({1})
Damit liegt die Belastungsgrenze bei circa 70 Euro. Erst
wenn sie erreicht ist, kann ein Sozialhilfeempfänger eine
Befreiung beantragen. Bei einem Taschengeld der Heimbewohner von circa 85 Euro pro Monat kann man sich
ausrechnen, dass der Betroffene schnell in Geldnöte gerät. CDU und CSU hatten bei den Verhandlungen gefordert, dass die Befreiungsbescheide unverzüglich ausgestellt werden müssen. Wenn der Betroffene nun zu hören
bekommt, eine Befreiung könne sich bis zum Sommer
hinziehen, ist das nicht akzeptabel. Wir brauchen schnell
eine unbürokratische Regelung.
({2})
Bei der Umsetzung darf aber nicht die Genauigkeit
auf der Strecke bleiben. Wenn die Schuld allein der
Selbstverwaltung in die Schuhe geschoben wird,
({3})
entspricht das nicht der Wahrheit, Frau Schmidt. So ist
Politik nicht glaubwürdig. Ich fordere Sie auf, Ihre Aufsichtspflicht ernst zu nehmen. Sorgen Sie endlich dafür,
dass die Patientinnen und Patienten wissen, woran sie
sind! Sofortiges zielgerichtetes Handeln ist erforderlich.
Das fordere ich hiermit ein.
({4})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla
Schmidt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann ja eine solche Debatte führen
({0})
und man muss sie auch führen, aber ein bisschen Redlichkeit sollte es wirklich geben.
({1})
Mit Verlaub gesagt, ich finde es nicht in Ordnung,
Krankheitsschicksale schamlos für Politikkampagnen auszunutzen. Ich bitte sehr herzlich, nicht so
zu verfahren. Ich leugne nicht, dass es Detailprobleme gibt. Die meisten sind übrigens durch die
Selbstverwaltung lösbar und werden auch gelöst.
({2})
Dies ist nicht von mir, sondern - ich spreche auch den
Kollegen Thomae an, weil er damals schon gesundheitspolitische Verantwortung trug - das hat der Kollege
Cronenberg, FDP, am 31. Mai 1989, fünf Monate nach
In-Kraft-Treten der damaligen Reform, gesagt. Ich
könnte Ihnen ähnliche Beispiele aus den Jahren 1993,
1996 und 1997 nennen.
Ich halte also fest: Man kann über vieles reden, aber
auch diejenigen, die früher Regierungsverantwortung
getragen haben, sollten sich daran erinnern, wie es damals war, und nicht einfach fordern, dass es heute,
14 Tage nach In-Kraft-Treten eines Gesetzes, keine Probleme mehr geben dürfe.
({3})
Ich bitte Sie, in diesem Punkt redlich zu sein; dann können wir über alles reden.
Nun sage ich Ihnen, was das Ministerium getan hat: Es
hat vom Tag der Verabschiedung des Gesetzes über Weihnachten hinweg bis heute gearbeitet. Wir haben auch nie
aufgehört, auf die Verantwortung der Selbstverwaltung
hinzuweisen. Diese wird aber durch Beschlüsse wie den
folgenden einfach ignoriert:
Die Vertreterversammlung der KZV Bayern fordert
den Vorstand auf, in allen Bereichen, in denen das
Gesundheitsmodernisierungsgesetz Ersatzvornahmen vorgesehen hat, keinerlei Vereinbarungen von
sich aus zu schließen oder mit den Krankenkassen
zu vereinbaren, sondern die Umsetzung des Gesetzes durch Ersatzvornahmen des BMG wirksam
werden zu lassen.
Dies ist ein Beispiel dafür, wie in den Monaten nach Verabschiedung des GMG die sehr klaren gesetzlichen Regelungen - ich bleibe dabei, das Gesetz regelt diese Fragen alle eindeutig - von der Selbstverwaltung nicht
umgesetzt wurden.
Wir haben noch im Oktober diejenigen eingeladen,
die in der Selbstverwaltung die Umsetzung partnerschaftlich hätten organisieren sollen. Ich habe die Einladungen und die Protokolle über die Gespräche, die stattgefunden haben, mitgebracht.
Wenn aber in Deutschland die organisierte Ärzteschaft - ich meine nicht den einzelnen Arzt, sondern die
Ärztefunktionäre - lange darüber redet, wie gesetzliche
Regelungen wie zum Beispiel zur Praxisgebühr - Gesetze, die im Übrigen, mit Verlaub, Kollegen Thomae
und Parr, mit den Stimmen der FDP aus den vier Ländern, wo sie Regierungsverantwortung trägt, verabschiedet wurden; Sie haben sich hier einen schlanken Fuß machen wollen und sonst überhaupt nichts -,
({4})
verhindert werden können, weil sie so etwas nicht will,
und so lange wartet, bis Schiedssprüche gefällt werden,
dann kann unter diesen Umständen nur schwer dafür gesorgt werden, dass selbst dort, wo der Bundesmanteltarifvertrag fristgerecht fertig gestellt und gedruckt war,
bei In-Kraft-Treten des Gesetzes keine Probleme auftreten. Dies bedauere ich natürlich genauso wie jeder, der
an der Reform mitgearbeitet hat. Wir wissen, dass es
sich um ein sehr großes Reformwerk handelt und dass
wir alles tun müssen, damit Konflikte schon im Vorfeld
vermieden werden können. Es sollte aber doch niemand
so tun, als hätte er nicht bei anderen Gesetzen in früheren Jahren schon ähnliche Erfahrungen machen müssen.
({5})
All die Redner, die in den Debatten immer die Forderung nach Freiheit erheben, staatliche Reglementierung
so weit wie möglich reduzieren und der Selbstverwaltung so viele Aufgabe wie möglich übertragen wollen
- das wollen auch wir -, bitte ich, die Verantwortlichen
in der Selbstverwaltung, die an den Beratungen zum Gesetz beteiligt waren und uns gesagt haben, dass sie in der
Lage seien, die ausstehenden Fragen zu regeln, und der
Gesetzgeber so wenig wie möglich machen solle, daran
zu erinnern, dass zur Freiheit auch Verantwortung gehört.
({6})
Verantwortung bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass
nicht bei Millionen Menschen in diesem Land Angst und
Verunsicherung hervorgerufen werden. Dass eine Politik
gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen Angst bekommen, berührt mich als Einziges wirklich; nicht so
sehr dagegen der Ärger mit den Funktionären. Mein
Kreuz ist breit genug, um das zu tragen.
({7})
Die Frage der Heimbewohner, Frau Kollegin
Brüning, möchte ich nun auch einmal ansprechen. Wir
haben sehr intensiv darüber geredet, ob wir für Heimbewohner, die Taschengeld beziehen, eine Ausnahme machen sollen.
Wir haben lange darüber diskutiert, denn das war uns ein
wichtiges Anliegen. Wir haben uns gemeinsam, auch auf
Wunsch der CDU/CSU, entschieden, das nicht zu machen; denn jede Ausnahme in einem Bereich führt zu
Ausnahmen auch in anderen Bereichen. Wir haben sehr
bewusst nicht das gesamte Einkommen der TaschengeldBundesministerin Ulla Schmidt
bezieherinnen und -bezieher, sondern nur den Regelsatz
der Sozialhilfe zugrunde gelegt. Das bedeutet - ich bitte
Sie, das überall, wo Sie darauf angesprochen werden, zu
sagen -, dass ein chronisch kranker Mensch im Heim
nicht mehr als 3 Euro pro Monat zahlt, denn der Regelsatz liegt unter 300 Euro, und ein nicht chronisch kranker Mensch nicht mehr als 6 Euro pro Monat zahlt. Da
lobe ich mir die Initiativen zum Beispiel der Arbeiterwohlfahrt und vieler guter Heime, die zu Beginn des
Jahres für ihre Pflegebedürftigen in Vorleistung getreten
sind. Ich sage noch einmal ganz klar: Ein Mensch, der in
die Pflegestufe II oder III eingestuft ist, in einem Pflegeheim untergebracht ist und regelmäßig ärztlich behandelt
wird, ist auch nach den bisher verabschiedeten Definitionen chronisch krank. In der Regel werden nun bis zu
3 Euro pro Monat vom Taschengeld abgezogen.
Man kann in diesem Zusammenhang über die Frage
der sozialen Gerechtigkeit diskutieren, auch mit den
Kolleginnen von der PDS. Ich bin nach all den Diskussionen, die wir geführt haben - auch im Rahmen der Verhandlungen zu diesem Gesetz -, zu der Auffassung gekommen: Jede andere Regelung ist wesentlich
ungerechter. Zu dieser Auffassung stehe ich. Darüber zu
reden, ob 3 Euro bei einem Taschengeld von 90 Euro zumutbar sind - ich würde mir wünschen, dass wir diese
Debatte offensiv führen -, ist mir immer noch lieber als
eine Debatte darüber, ob Menschen, die mit Pflegestufe II
oder III in einem Pflegeheim liegen, überhaupt noch die
notwendige medizinische Behandlung bekommen.
({8})
Diesen Aspekt sollten wir in den Vordergrund stellen.
Deshalb sind wir mit dem GKV-Modernisierungsgesetz
den Weg gegangen, die medizinische Versorgung sicherzustellen.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zu den noch offenen
Fragen, die geklärt werden müssen: Ich habe bewusst die
„Chronikerrichtlinie“ nicht abgelehnt. Aber ich habe
die dort festgelegte Definition, den Bezug auf den stationären Bereich, die Pflegestufen II und III und eine
Schwerbehinderung von 70 Prozent, nur mit der Auflage
genehmigt, dass diese Definition ergänzt wird und auch
die dauerhafte Behandlung in der ambulanten Versorgung einschließt. In diesem Moment, da wir hier sitzen,
sitzen die entscheidenden Vertreter der Kassen und der
Ärzteschaft zusammen. Sie haben zugesagt, sich auf erweiterte Regelungen zu einigen, dass es beispielsweise
eine Liste mit Erkrankungen geben wird, weil es selbstverständlich ist, dass ein insulinpflichtiger Diabetiker
ein chronisch kranker Mensch ist, ebenso wie Krebskranke, Aidskranke und andere.
({9})
Ergänzungen müssen immer wieder erfolgen, auch in
Zusammenarbeit mit den Patientenverbänden. Es muss
klargestellt sein, dass die Ärzte und Krankenkassen entsprechende Definitionen - angelehnt an die Regelungen
für Erkrankungen, die eine dauerhafte Behandlung erfordern - auch für seltene Erkrankungen vornehmen.
Das Gleiche gilt für die Fahrkosten: Die Regelung
gilt bei allgemein schlechtem Gesundheitszustand, etwa
bei Behandlung durch Dialyse, Strahlenbehandlung,
Chemotherapie. Ich habe mich darüber hinaus dafür ausgesprochen, dass die Regelung auf in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, die zum Arzt müssen, ausgeweitet wird. Auch dem hat der zuständige Unterausschuss
des Bundesausschusses jetzt zugestimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die noch offenen
Einzelfragen können geregelt werden, aber wir sollten
vor allem gemeinsam dafür sorgen, dass den Menschen
die Angst genommen wird. Denn nichts ist schlimmer,
als wenn kranke oder behinderte Menschen oder Menschen mit kranken Kindern Angst davor haben, morgen
keine Behandlung mehr zu bekommen. Wir haben dafür
gesorgt, dass sie sie bekommen; wir haben dafür gesorgt,
dass das Gesundheitswesen bezahlbar bleibt. Jetzt sollten wir dafür sorgen, dass auch die anderen, die der Gesetzgeber dazu verpflichtet hat, Beschlüsse fassen: Das
bin nicht ich, das ist nicht der Bundestag, sondern das ist
die Selbstverwaltung.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Reform des Gesundheitswesens ist ein ständiger
Prozess. Je nach Inhalt und Umfang nimmt man sie in
der Öffentlichkeit unterschiedlich stark wahr. Dieses
Mal aber sind die Veränderungen so komplex, dass ich
bisher niemandem begegnet bin, der sich nicht für die
Gesundheitsreform interessiert. Ob durch Berichte in
den Medien oder durch eigenes Erleben in den letzten
Tagen: Alle haben schon Erfahrungen und halten ihre
Kommentare bereit - positive, aber auch negative; wir
haben sie in dieser Debatte schon Revue passieren lassen.
Das ist auch gut so. Denn die Kommentare zeigen,
dass sich mehr Menschen als gedacht an einem Prozess
beteiligen, der zwar in vielen Einzelfällen sehr schmerzlich, aber für das Fortbestehen unseres leistungsfähigen
Gesundheitswesens unabdingbar ist. Reformen sind für
mich notwendige Regelungen, um Bewährtes in einem
veränderten Umfeld zu erhalten. Das liegt im Interesse
aller.
Es wäre deshalb ein Passivposten, wenn das wichtigste Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten durch Beitragssatzsenkungen zu verringern, nicht eintritt. Gerade
hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland will ich das besonders betonen; denn in wenigen Monaten stehen wir mit dem Beitritt unserer
Nachbarländer zur Europäischen Union im direkten und
schonungslosen Vergleich der Löhne. Wir haben die
Pflicht, alles zu tun, damit Arbeitsplätze entstehen und
bestehen bleiben können. Dass unser Gesundheitswesen
eine Wachstumsbranche ist, ist nichts Negatives. Im Gegenteil: In dieser Branche sind sehr viele effiziente Arbeitsplätze entstanden, die Lebensperspektiven bieten.
({0})
Weil wir immer älter werden, weil sich Medizin und
Technik immer weiter entwickeln und weil wir daher immer mehr Geld im Gesundheitsbereich ausgeben können, haben wir mit unserem Verhalten für das Bestehen
unseres Gesundheitssystems zu sorgen und dürfen nicht
zulassen, dass ihm ein Kollaps droht. Wir kommen ohne
stärkere, aber sozial ausgewogene Eigenbeteiligung
nicht mehr aus. Das ist der Grundgedanke dieses Reformgesetzes.
({1})
Dass es aber zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens noch
viele offene Einzelfragen gibt, ist schon fatal. Dazu gehört die Regelung der Fahrkostenerstattung. Verbindliche Auskünfte sind wichtig, insbesondere - das will ich
herausstellen - in ländlichen und strukturschwachen Regionen.
Da sich in meinem Wahlkreis solche Regionen befinden, habe ich viele Fragen zu der Regelung der Fahrkostenerstattung bekommen. Ich habe bereits im November
bei der Bundesregierung schriftlich angefragt, wie sie sicherstellt, dass entsprechende Regelungen fristgerecht
zum In-Kraft-Treten des Gesetzes vorliegen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort bekräftigt, dass alles
getan wird, damit diese Regelungen fristgerecht vorliegen. Warum nun das Gesundheitsministerium nicht
rechtzeitig vor dem 1. Januar 2004 die Umsetzung im
Rahmen seiner Aufsichtspflicht eingefordert hat, bleibt
mir ein Rätsel. Den Patienten bleibt jetzt nur das Rätselraten, was denn gilt. Das ist schade.
Ich will einen weiteren Punkt aufgreifen, der sehr
ernst zu nehmen ist und den ich immer wieder betone.
Seit Jahren - besonders im letzten Jahr - weise ich immer wieder darauf hin, dass die ambulante Versorgung in
den neuen Bundesländern aufgrund von immer weniger
Ärzten in Gefahr ist. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Juli letzten Jahres hat die Bundesregierung diesen drohenden
Arztmangel negiert und festgestellt, dass es keine Unterversorgung, eher eine Überversorgung gibt. Die unterschiedliche Altersstruktur der Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten im Vergleich zu Ballungsräumen
und die damit verbundene Mehrbelastung der dort tätigen Ärzte wollte man nicht zur Kenntnis nehmen.
({2})
In der Antwort auf eine Anfrage der FDP korrigiert die
Bundesregierung ihre Position ein wenig.
({3})
Dass der real existierende Verdienstunterschied auch
nicht gerade ein Stimulus für junge Ärzte ist, sich in diesen Regionen niederzulassen, musste oft gesagt und geschrieben werden.
Dankenswerterweise ist dies aber nun in den Konsensverhandlungen berücksichtigt und eine Angleichung
im Gesetz beschlossen worden, allerdings auf der Basis
von 95,7 Prozent des Westeinkommens.
Es blieb dabei unberücksichtigt, dass die Fallzahl pro
Arzt in den neuen Ländern im Durchschnitt um 28 Prozent höher liegt. Das wirkt sich selbstverständlich beim
Aufwand für die Praxisgebühr aus. Für weniger Lohn
bei 28 Prozent mehr Patienten mit entsprechend mehr
Aufwand für die Praxisgebühr und bei hoher medizinischer Versorgung - das ist schon eine Leistung.
Ich will an dieser Stelle den Ärzten einmal Dank dafür aussprechen, dass die meisten ihre Aufgabe sehr
ernst nehmen, sich ihr stellen und eine ordnungsgemäße
und ruhige Versorgung - zwar mit langen Wartezeiten sichern.
({4})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Sie
haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.
({0})
Ich bin gleich am Ende. - Die Politik hat die Selbstverwaltung zu Recht mit einbezogen. Der Gemeinsame
Bundesausschuss hat sich unter dem Motto „Einer für
alle“ konstituiert. Ich erwarte, dass der Gemeinsame
Bundesausschuss auch einen Blick auf die besondere Situation in den neuen Bundesländern richtet. Ansonsten
gelingt die Reform nicht.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Karl Hermann
Haack, SPD-Fraktion.
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten:
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Michalk, zu Ihrem Lamento über die Praxisgebühr sage
ich Ihnen Folgendes: Ich bin Apotheker und kassiere
täglich in meiner Apotheke Bargeld von meinen Patientinnen und Patienten. Wenn Sie zum Physiotherapeuten
gehen, erleben Sie das Gleiche. Auch die Ärzte werden
das lernen. Da bleibt die Frage, die nur die Ärzte selber
zusammen mit ihren Funktionären beantworten können:
Sind sie entweder zu blöd, mit Bargeld umzugehen, oder
sind sie zu vornehm?
({0})
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten
Mit Bürokratie hat das alles überhaupt nichts zu tun.
({1})
Das Ganze wird hochgekocht, um eine Verweigerung
und ein Scheitern im Hinblick auf das Gesundheitsmodernisierungsgesetz zu organisieren, an dem Sie mitgearbeitet und das Sie mitbeschlossen haben.
({2})
Das Gleiche gilt für Sie, Frau Brüning; Sie haben in
Ihrer Arbeitsgruppe darüber gesprochen. Warum haben
wir keine Eigenbeteiligung in Höhe von 10 Prozent, sondern eine Ein- bzw. Zwei-Prozent-Regelung beschlossen?
({3})
Das haben doch Sie von der CDU/CSU entschieden. Sagen Sie also nicht: „Wir möchten die Menschen vor
Überforderung schützen“! So geht es doch nun wirklich
nicht!
({4})
Herr Dr. Thomae, damit komme ich zu Ihnen. Sie haben auf Ihrem Dreikönigstreffen bzw. auf Ihrem Parteitag eine Rückkehr zur Realität und eine Abkehr von dem
Ziel, 18 Prozent der Wählerstimmen zu erhalten, beschlossen. Sie sind also wieder in der alten Situation, bei
5 Prozent herumzukrebsen. Sie müssen wahrnehmbar
gegenüber zwei großen Volksparteien und der innovativen Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sein.
({5})
Darum verhalten Sie sich heute so. Sie sind nicht auf der
Seite der kleinen Leute, für die wir zusammen mit der
CDU/CSU versuchen in den nächsten Jahren eine gesundheitliche Versorgung zu garantieren. Das ist die
Wahrheit.
({6})
- Ich schreie nicht. Ich rede immer so laut.
Kommen wir einmal zum nächsten Punkt. Diese Gesundheitsreform ist in meiner politischen Biografie die
neunte Gesundheitsreform, die ich durchführe. Man
sollte einmal ehrlich sein: Wenn diese Legislaturperiode
zu Ende ist, bin ich 20 Jahre im Deutschen Bundestag.
Ich habe erlebt, dass der Umbau des Sozialstaates mehr
oder weniger immer wieder gescheitert ist. Warum? Weil
wir bis heute folgende Tabubrüche nicht organisiert haben:
Das ist zum Ersten die Entflechtung der sozialpolitischen Verantwortung zwischen Bund, Ländern und
Kommunen. Als Beauftragter für Menschen mit Behinderungen kann ich in der Umsetzung des SGB IX, also
in der Frage der Frühförderung, eine Menge zu der dringend notwendigen Entflechtung beitragen.
Zum Zweiten sollten wir über folgenden Tabubruch
diskutieren: Wie ist die Verantwortung in der subsidiären Struktur der Verbändeorganisation? Frau Schmidt
hat zu Recht vorgetragen, dass einige, zum Beispiel die
Arbeiterwohlfahrt - ich nenne das Beispiel 3 Euro und
6 Euro -, positiv vorgehen. Sie tritt in Vorleistung, bis
eine endgültige Regelung vorhanden ist. Andere tun es
nicht, sondern schreiben Briefe an die „Bild“-Zeitung.
({7})
Es besteht also Handlungsbedarf. Wenn man subsidiäre
Verantwortung übernehmen will, muss man dies auch
tun und sollte nicht herummeckern.
Ich komme jetzt zum nächsten Punkt und finde es gut,
dass wir hier Schützenhilfe erhalten. In der „Süddeutschen Zeitung“ von heute steht auf Seite 4: „Selbstverwaltung - klingt nur gut“. Darin wird das ganze Dilemma beschrieben. Jeder von den Verbänden und
Organisationen war eingeladen, an den Runden teilzunehmen. Es ging doch bei der Beratung dieses GKV-Modernisierungsgesetzes nicht wie bei der Papstwahl zu:
Alle in ein Zimmer, Türen zu, weißer Rauch steigt auf
und wir haben ein GKV-Modernisierungsgesetz. Es hat
vielmehr immer Rückkopplung zu den Verbänden und
Organisationen gegeben. Es war also bekannt, dass es
zwei Probleme der Selbstverwaltung zu regeln gab,
nämlich die Regelung für die chronisch Kranken und die
Fahrkostenregelung.
Spätestens seit Oktober hatte man Zeit, darüber zu reden.
({8})
Ich weiß aus dem Haus, dass die Ministerin zu Gesprächen eingeladen hat und die Selbstverwaltung abwarten
wollte, bis das Gesetz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde. Danach wollte die Selbstverwaltung weitersehen. Dann wurde eine Regelung auf den Tisch gelegt,
von der Sie wussten, dass sie der informellen Verabredung nicht entsprach. Das Konstrukt, das die Ministerin
heute vorgetragen hat, war bereits Ende Oktober informell verabredet und die Selbstverwaltung hat nichts getan.
Wir werden über einen weiteren Punkt diskutieren
müssen. Hierbei bin ich gespannt, wie viel Zivilcourage
insbesondere Sie von der FDP dazu aufbringen werden.
Wir werden eine Arbeitsgruppe „Institutionelle Reformen sozialer Sicherungssysteme“ einrichten, um die
Verantwortlichkeiten endgültig neu zu definieren. Wir
werden damit die eigene Geschichte und das eigene Verständnis hinterfragen und in eine große gesellschaftliche
Debatte eintreten.
Karl Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten
Wir müssen dazu kommen, dass die Selbstverwaltung
ihrer Verantwortung nachkommt und die notwendige Arbeit erledigt. Es kann nicht so bleiben wie bei der Chroniker- und der Fahrkostenregelung, bei der die Selbstverwaltung ihre Verantwortung nicht wahrgenommen und
anschließend den Politikern in einer riesigen Medienkampagne Vorwürfe gemacht hat. So etwas möchte ich
nicht noch einmal erleben.
({9})
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dem Kollegen Haack wünsche ich, dass er genauso gut hören wie er laut reden kann; denn er hat die
Union und die Frau Kollegin Brüning völlig falsch zitiert. Herr Kollege Haack, die CDU/CSU steht uneingeschränkt zu den Kernentscheidungen dieser Gesundheitsreform. Es dient niemandem in der Politik - darüber
soll sich niemand täuschen -, wenn er zunächst gemeinsam beschließt und anschließend nicht zu dem gemeinsam Entschiedenen steht.
({0})
Ich erlebe das jetzt zum fünften Mal nach einer Gesundheitsreform. Die Kommentare, die ich in den letzten
Tagen und Wochen gelesen habe, könnten genauso aus
den Jahren 1997, 1993 oder 1989 stammen. Es ist immer
der gleiche Ablauf.
Der größte Fehler ist 1997 passiert. Seinerzeit fand
die gleiche Diskussion statt. Übrigens haben wir damals
die Selbstbeteiligung ebenso wie die Erhöhung der Zuzahlung und die Ausgrenzung des Zahnersatzes für Jugendliche gemeinsam beschlossen. Damals gab es eine
andere Opposition, sie ist nicht ganz so verantwortungsvoll mit der Notlage im Gesundheitswesen umgegangen
wie heute die CDU/CSU.
({1})
1997 wurde den Bürgern versprochen: Wenn ihr uns
wählt, dann schaffen wir das wieder ab.
({2})
Damit sich der gleiche Fehler nicht wiederholt, sage ich
hier bewusst: Damals hat man die Selbstbeteiligung reduziert, den Zahnersatz wieder aufgenommen und das
Krankenhausnotopfer abgeschafft. Das war einer der
größten Fehler in der jüngeren deutschen Sozialgeschichte; denn es war der Anfang des finanziellen Niedergangs der gesetzlichen Krankenkassen.
({3})
- Es gibt keine Zwischenfragen in der Aktuellen Stunde.
Deshalb möchte ich uns alle auffordern, diesen Fehler
jetzt nicht zu wiederholen. Stattdessen müssen wir zu
dem, was wir entschieden haben und was richtig ist, stehen.
Dieter Thomae, ich bin dir sehr dankbar, dass du hier
klipp und klar gesagt hast, dass die FDP zur Zuzahlung
steht. Denn das In-Kraft-Treten von Gesundheitsreformen ist immer die Stunde der Heuchler, der Feiglinge,
der Charakterlosen und auch der Bösartigen. Das habe
ich oft genug erlebt. Deshalb bin ich dankbar, dass du
hier heute nicht geheuchelt hast. Du hast das Gesetz
zwar kritisiert, dich aber zur Zuzahlung bekannt. Allzu
viele tun nämlich jetzt so, als seien sie der soziale Anwalt der Menschen. Wenn sie mir gegenübersitzen, und
zwar seit Jahren, sind sie aber die größten Verfechter der
Zuzahlung.
({4})
Meine Damen und Herren, diese Heuchelei mancher
Funktionäre im deutschen Gesundheitswesen müssen
wir zerstören.
({5})
Wenn sich die FDP gegen diesen Kompromiss stellt,
dann darf man aber schon darauf hinweisen, dass die
Landesregierungen, an denen sie beteiligt ist - in Sachsen-Anhalt, in Baden-Württemberg und in RheinlandPfalz -, im Bundesrat zugestimmt haben.
({6})
Hier wird die Kostenerstattung als Alternative zur
Praxisgebühr genannt.
({7})
Ich sage es ganz sachlich, Dieter Thomae, du kennst
meine Meinung; ich habe viel Verständnis für die Idee
der Kostenerstattung. Nur zahlt man dann nicht jedes
Quartal 10 Euro Praxisgebühr, sondern bei jedem Arztbesuch eine Selbstbeteiligung. Jeder Arztbesuch ist dann
teurer als diese 10 Euro Praxisgebühr. Das gehört zur
Wahrheit.
({8})
Zweiter Punkt. Warum haben wir das gemacht - Frau
Michalk hat eben noch einmal darauf hingewiesen -: Die
Grundentscheidung dieser Gesundheitsreform war unausweichlich. Wir wären besser beraten gewesen, wenn
wir diese Grundentscheidung aus den Jahren 1997 und
1998 damals beibehalten hätten. Hintergrund dieser
Grundentscheidung ist, dass die gesetzliche Krankenversicherung in der größten Finanzkrise ihrer Geschichte
steckt: höchste Beiträge, höchste Schulden, keine Rücklagen mehr. Wir haben keine Versorgungskrise, sondern
eine Finanzkrise.
Übrigens ist das in allen hoch entwickelten Ländern
so, nicht nur bei uns in Deutschland. Das ist die Konsequenz aus Arbeitslosigkeit, medizinischem Fortschritt
und steigender Lebenserwartung. Im Sorgenbarometer
des so oft zitierten Vorbildes Schweiz stehen an vorderster Stelle Arbeitslosigkeit und Gesundheitskosten.
({9})
Deshalb mussten wir eine Antwort auf die Finanzierungskrise geben. Hier ging es um eine Weichenstellung.
Die Erhöhung der Arbeitskosten ist wirklich nicht
möglich. Der bequeme Weg der letzten 30 Jahre, die
Beiträge und damit die Arbeitskosten zu erhöhen, steht
uns nicht zur Verfügung. Da besteht Konsens. Im letzten
Jahr sind 400 000 Arbeitsplätze aus Deutschland abgewandert. Es kann niemand mehr ernsthaft vorschlagen,
die Finanzlücke in der Krankenversicherung durch steigende Beiträge zu schließen.
Wenn man die Arbeitskosten nicht erhöhen will,
bleibt nur die Wahl, entweder die Kernleistungen zusammenzustreichen oder die Menschen in sozial verträglicher Form an den Gesundheitskosten zu beteiligen. Es
gibt keine andere Möglichkeit.
1993 habe ich als Gesundheitsminister die gesetzliche
Budgetierung eingeführt. Ich habe aus diesen Jahren gelernt, dass man vorübergehend budgetieren kann. Budgetieren bedeutet aber immer Leistungseinschränkung.
Wenn man auf Dauer budgetiert, geht es zulasten der
chronisch Kranken.
({10})
Auch in diesen aufgeregten Tagen bin ich klipp und
klar dafür, bei der Grundentscheidung zu bleiben, nicht
die Kernleistungen zusammenzustreichen, sondern die
Menschen in verträglicher Form an den Gesundheitskosten zu beteiligen. Eine Beteiligung an den Kosten ist
besser als ein Ausschluss von der medizinischen Versorgung. Sie wäre die Alternative.
({11})
Die Probleme liegen nicht im Gesetz. Vielmehr wären
manche Dinge besser im alten Jahr geklärt worden.
Wenn man sagt, der chronisch Kranke zahlt nur
1 Prozent, dann muss zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens klar sein, wer als chronisch krank gilt. Wenn Gehbehinderte und schwer Kranke weiterhin Krankentransporte zulasten der Krankenversicherung bekommen
sollen, dann verstehe ich nicht, warum manche Kassen
wieder auf irgendein Ministerium verweisen, anstatt die
vom Gesetz eingeräumten Möglichkeiten zu nutzen. Im
Gesetz steht, dass sie das bei schweren Krankheiten so
entscheiden können.
({12})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist um.
Gleich. - Das ist ein Schwarzer-Peter-Spiel.
Frau Ministerin, mir persönlich genügt es nicht, wenn
man sagt, das werde bald entschieden. Vielmehr müssen
diese Fragen sofort entschieden werden.
({0})
Sie müssen heute und morgen entschieden werden, damit Klarheit herrscht.
Ich bin dankbar dafür, dass man jetzt, wie Sie gesagt
haben, zusammensitzt. Es stellt sich nur die Frage, warum es jetzt in wenigen Stunden geht, wenn es vor Weihnachten nicht ging.
({1})
Letzte Bemerkung.
Herr Kollege, Sie haben aber die Redezeit schon weit
überschritten. In der Aktuellen Stunde beträgt sie fünf
Minuten.
Ich dachte, wenn eine Ministerin überzieht, ist es
auch das Recht der Opposition, die Redezeit leicht zu
überziehen.
({0})
Die Opposition überzieht zum zweiten Mal.
Ich komme zum Schluss. - Das ist ein wichtiges
Thema, das die Leute bewegt.
({0})
Trotzdem haben wir in der Aktuellen Stunde fünf Minuten Redezeit, Herr Kollege.
Okay. Seien Sie tolerant.
Sie sind lange genug im Parlament, um das zu wissen.
Meine Damen und Herren, ich schließe mit einer Bemerkung dazu, wie es jetzt weitergeht. Diese Zweifelsfragen müssen schnell geklärt werden. All denen, die
jetzt über Gesetzesänderungen nachdenken, rate ich aus
der Erfahrung der Jahre 1997 und 1998, die nächsten
Monate in Ruhe zu beobachten, Mitte des Jahres Bilanz
zu ziehen und dann zu entscheiden, ob da oder dort vielleicht Veränderungsbedarf besteht.
({0})
Für Veränderungen gibt es nur zwei Maßstäbe: Erstens. Wird die Versorgung der kranken Bevölkerung
weiterhin auf hohem Niveau gewährleistet? Das funktioniert im Moment. Zweitens. Wie verhält es sich bei all
den Maßnahmen, die wir beschlossen haben, mit der sozialen Betroffenheit? Die Antworten auf diese zwei Fragen müssen die Maßstäbe sein, nicht die Stärke irgendwelcher Lobbyistenorganisationen.
({1})
Ich möchte schließen mit einem Auszug aus dem
Kommentar von Rolf Kleine aus der heutigen „Bild“Zeitung - das ist die Losung des heutigen Tages -:
Natürlich gibt es in Deutschland Probleme - auch
ein paar gravierende …
Herr Kollege!
Und die „deutsche Krankheit“? Sie besteht am ehesten im Miesmachen, Klagen und Jammern - und das auf
allerhöchstem Niveau. Die Therapie? Selbstbewusst die
Mundwinkel nach oben - und in die Hände spucken!
Ich finde, das, was uns die „Bild“-Zeitung heute empfiehlt, ist die Losung des Tages. Nur, sie sollte sich auch
selbst daran halten.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht der Bundesrepublik
Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau ({1})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Renate Gradistanac, Sabine Bätzing, Ute
Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Ekin Deligöz, Josef Philip
Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Bericht der Bundesrepublik
Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau ({2})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ina Lenke, Dr. Heinrich L. Kolb, Daniel
Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung
Fünfter Bericht der Bundesrepublik
Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Hannelore Roedel, Dr. Maria
Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Benachteiligung von Frauen wirksam bekämpfen - Konsequenzen ziehen aus dem
CEDAW-Bericht der Bundesregierung
- Drucksachen 15/105, 15/599, 15/601, 15/740,
15/1171 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Gradistanac
Hannelore Roedel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Christel RiemannHanewinckel.
({5})
- Ich habe die Aussprache über einen neuen Tagesordnungspunkt eröffnet und bitte die Kolleginnen und Kollegen, die bei diesem Tagesordnungspunkt nicht anwesend sein wollen, den Saal zu verlassen. - Bitte schön,
Frau Staatssekretärin.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Anlass und Grundlage dieser Debatte ist der Fünfte Staatenbericht der Bundesrepublik
Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der
Frau. Nach den Vorgaben des Übereinkommens ist die
Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, alle vier Jahre
über dessen Umsetzung zu berichten.
Den Fünften Bericht werde ich in der kommenden Woche vor dem dafür zuständigen Expertinnenausschuss
der Vereinten Nationen in New York vorstellen. Die
Expertinnen ziehen für die Bewertung der Staatenberichte auch die Meinung der Nichtregierungsorganisationen heran. Die Frauen- und Menschenrechtsorganisationen haben von der Möglichkeit der Erstellung eines so
genannten Schattenberichtes auch diesmal in Deutschland Gebrauch gemacht. Dafür sage ich an dieser Stelle
ein herzliches Dankeschön.
({0})
Am 15. Dezember letzten Jahres habe ich den Schattenbericht entgegennehmen können. Wir werden uns sehr
eingehend damit auseinander setzen und den begonnenen Dialog mit den Verbänden fortsetzen.
Ich freue mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
es gelungen ist, noch vor der Präsentation in New York
heute hier im Deutschen Bundestag die Aussprache zum
Bericht durchzuführen. Die Debatte eines Staatenberichtes im Deutschen Bundestag ist hier in Deutschland ein
Novum in der Geschichte der Staatenberichte und zugleich ein wichtiges Signal an den UN-Ausschuss. Das
zeigt, dass die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung und die im Deutschen Bundestag vertretenen
politischen Parteien den völkerrechtlichen Vorgaben des
Übereinkommens eine große politische Bedeutung beimessen.
Der Fünfte Staatenbericht zum CEDAW-Übereinkommen zeichnet nicht nur die Entwicklung der Gleichstellungspolitik seit dem vorangegangenen Vierten Bericht nach, sondern er ist zugleich eine Bilanz der
gleichstellungspolitischen Initiativen der rot-grünen
Bundesregierung seit 1998. Diese Bilanz, meine Damen und Herren, kann sich sehen lassen. Mit dem Programm „Frau und Beruf“ und dem nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen haben
wir Maßstäbe gesetzt. Im Gegensatz zum Vierten Staatenbericht können wir in diesen beiden zentralen Bereichen der Gleichstellungspolitik erstmals eine Gesamtstrategie vorlegen. Dieser Bundesregierung ist es
gelungen, erfolgreiche Maßnahmen zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen einzuleiten.
Ein wesentlicher Teil der erfolgreichen Umsetzung
des Aktionsplans ist das Gewaltschutzgesetz des Bundes. Durch dieses Gesetz kommen von Gewalt betroffene Opfer schneller und einfacher zu ihrem Recht und
können Schutzanordnungen gegen den Gewalttäter, auch
gegen den gewalttätigen Beziehungspartner erreichen. In
Zusammenhang mit diesem Gesetz haben inzwischen
mehrere Bundesländer ihre Polizeigesetze angepasst.
Die gesetzlichen Verbesserungen beginnen zu wirken.
Immer mehr betroffene Frauen fühlen sich gestärkt und
setzen sich gegen den gewalttätigen Partner zur Wehr.
Einrichtungen wie Frauenhäuser, Beratungsstellen und
Zufluchtswohnungen sowie die Notrufe sind stärker
denn je gefragt. Erste Trends aus der repräsentativen
Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von
Frauen in Deutschland“, die im Sommer abgeschlossen
sein wird, zeigen, dass die betroffenen Frauen niedrigschwellige Unterstützung brauchen, weil sie häufig die
belastenden rechtlichen Verfahren alleine nicht durchstehen.
Aufbau und Finanzierung der Infrastruktur zur Unterstützung von von Gewalt betroffenen Frauen und Mädchen liegt in der Verantwortung der Bundesländer. Angesichts der sich dort abzeichnenden Sparmaßnahmen
appelliere ich von dieser Stelle eindrücklich an die Verantwortlichen in den Ländern, Kommunen und Verbänden, aber auch an private Unterstützerinnen und Unterstützer, weiterhin ihr Möglichstes zu tun, um Frauen und
Kindern aus Gewaltsituationen herauszuhelfen.
({1})
Das Zusammenwirken aller Ebenen ist notwendig. Es
geht um strukturelle Veränderungen in unserer Gesellschaft. In diesem Sinne werden wir den Aktionsplan, der
eine sehr hohe Priorität für die Bundesregierung hat, in
dieser Legislaturperiode fortschreiben.
Die Bundesregierung hat 1997 die bundesweite
Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet. Vertreterinnen und Vertreter von sieben Bundesministerien gehören dieser Arbeitsgruppe ebenso an wie die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen,
Vertreter des Bundeskriminalamtes, der Länderfachkonferenzen und Beratungsstellen. In der Arbeitsgruppe
werden umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung des
Frauenhandels erarbeitet.
Zurzeit wird im Europarat ein Übereinkommen zur
Bekämpfung des Menschenhandels erstellt. In dem für
die Erarbeitung dieses Übereinkommens zuständigen
Ausschuss hat Deutschland, namentlich unser Ministerium, im September 2003 den Vizevorsitz übernommen.
- Das sind nur zwei Beispiele von vielen Aktivitäten auf
internationaler Ebene gegen Menschenhandel.
Meine Damen und Herren, 1999 hat die Bundesregierung Gender Mainstreaming zum Leitprinzip ihres politischen Handelns gemacht. Die Ergebnisse, die wir
seither unter Führung einer interministeriellen Arbeitsgruppe in nahezu allen Ressorts vorweisen können, sind
beachtlich. Ein wichtiges Vorhaben für diese Legislaturperiode war die Einrichtung des Genderkompetenzzentrums. Ende Oktober des vergangenen Jahres haben wir
es an der Humboldt-Universität in Berlin eröffnet.
({2})
- Ja, an dieser Stelle muss es Beifall geben. - Dieses
Kompetenzzentrum soll die Einführung und die Umsetzung von Gender Mainstreaming in allen Bereichen der
Gesellschaft, der Verwaltung, der Politik und der Wirtschaft unterstützen. Das Zentrum wird beraten, Forschung initiieren und koordinieren, Wissen bündeln und
Expertinnen und Experten ausbilden. Dass sich die Bundesregierung in Zeiten von Sparzwängen am Aufbau eines solchen Kompetenzzentrums beteiligt, zeigt die Bedeutung, die Gender Mainstreaming als Strategie und
Methode zur Erlangung von mehr Chancengerechtigkeit zwischen den Geschlechtern bekommen hat. Gender Mainstreaming hat eine neue, qualitativ erweiterte
Phase der Gleichstellungspolitik eingeleitet. Gender
Mainstreaming führt vor allem zu strukturellen Veränderungen.
Der Bekämpfung noch vorhandener Diskriminierungstatbestände vor allem im Erwerbsleben dient die
Umsetzung der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien in nationales Recht, an der wir mit Hochdruck arbeiten.
Meine Damen und Herren, wir werden dem Deutschen Bundestag, wie im Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert,
erstmals in dieser Legislaturperiode einen Bericht zur
Lage der Gleichstellung von Frauen und Männern in
Deutschland vorlegen. Grundlage dieses Berichtes wird
ein Datenreport sein, in dem zu zentralen Fragestellungen wie Bildung, Erwerbstätigkeit, soziale Sicherung
und gesellschaftliche Partizipation die jeweiligen Lebenslagen von Frauen und Männern gegenübergestellt
werden. Damit wird im Sinne des Gender Mainstreaming der politische Handlungsbedarf in den unterschiedlichen Themenbereichen sichtbar gemacht. Uns
werden erstmals wirklich verlässliche Daten vorliegen.
Frauen haben von der Arbeitsmarktpolitik der rotgrünen Bundesregierung in den vergangenen fünf Jahren
in nicht unerheblichem Maße profitiert.
({3})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst,
({4})
die Einführung der Elternzeit, den Rechtsanspruch auf
einen Teilzeitarbeitsplatz, die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, die damit verbundene Einführung einer Quote zur Steigerung des Frauenanteils in den Betriebsräten und nicht zuletzt an das Job-AQTIV-Gesetz,
durch das vorgegeben wird, Frauen an allen Maßnahmen
der aktiven Arbeitsmarktförderung zu beteiligen.
Mit der Agenda 2010 haben wir in den vergangenen
Wochen und Monaten weitreichende Reformen in den
Bereichen Wirtschaft, Arbeit, Gesundheit, Finanzen und
Bildung auf den Weg gebracht. Ziel ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern einen gleichberechtigten Zugang zu
allen Erwerbstätigkeiten zu eröffnen. Wir werden die
Wirkungen des Reformpaketes mit besonderem Blick
auf die Wirkung auf Frauen sehr genau überprüfen.
Meine Damen und Herren, in Deutschland hatten wir
noch nie eine so gut ausgebildete Frauengeneration wie
heute.
({5})
Dennoch: Wenn wir uns die Karriereverläufe von Frauen
und Männern ansehen, dann stellen wir fest, dass sie bis
zum 30. Lebensjahr nahezu identisch sind. Danach öffnet sich allerdings eine Schere in den Erwerbs- und Einkommensverläufen, die sich im gesamten Erwerbsleben
nicht mehr schließt, wenn Frauen wegen der Kindererziehung ihre berufliche Laufbahn unterbrechen. Spätestens in dieser Lebensphase machen Frauen die Erfahrung, dass sie nicht gleich behandelt werden.
Die Lohn- und Einkommensunterschiede zwischen
den Geschlechtern haben sich seit der Veröffentlichung
des Vierten Staatenberichts nicht verringert. Allerdings
haben wir als Bundesregierung hier nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten. Diese wollen wir aber nutzen.
Im bereits erwähnten Gleichstellungsbericht wird der
Lohn- und Einkommenssituation von Frauen und Männern ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Wenn uns
diese Ergebnisse vorliegen, werden die Tarifparteien am
Zuge sein.
Dass wir in Deutschland ohne Not Humankapital
brachliegen lassen, sehen wir an dem Anteil von Frauen
in Führungspositionen. In der Wirtschaft beträgt der Anteil der Frauen in diesem Bereich gerade einmal knapp
11 Prozent.
({6})
Wir liegen damit deutlich hinter vergleichbaren Industrienationen.
({7})
Wir sehen aber auch, dass die Teilzeitbeschäftigung in
Deutschland mit einer Frauenquote von 86 Prozent nach
wie vor eine absolute Frauendomäne ist. Auch das muss
sich ändern.
({8})
Der soziale Schutz der Teilzeitbeschäftigten hat sich seit
dem letzten Staatenbericht allerdings verbessert. Hier
sind vor allen Dingen die Männer und Väter gefragt.
Der Weg zu mehr Chancengerechtigkeit in der Wirtschaft führt immer noch über die Auflösung des Zielkonflikts von Familie und Beruf. Viele Unternehmen in
Deutschland - bei den Großbetrieben sind es fast 50 Prozent - bieten ihren Beschäftigten heute die Möglichkeit
einer besseren Balance von Familie und Beruf an. Bei
diesem Thema gibt es inzwischen also eine gewisse Aufgeschlossenheit. Das hat auch eine Betriebsbefragung im
Auftrag des DGB ergeben. Es muss aber endlich integraler Bestandteil der Unternehmenspolitik werden, dass
auch Familien- und Gleichstellungspolitik für die Unternehmen notwendig und wichtig sind.
({9})
Im letzten Jahr haben wir den betriebswirtschaftlichen Nutzen von familienfreundlichen Maßnahmen prüfen lassen und festgestellt, dass die Unternehmen gleichzeitig ihren Beitrag für eine bessere Balance von Familie
und Arbeitswelt leisten und die Wirtschaftlichkeit verbessern können. Diese Strategie der Kooperation liegt
auch der Vereinbarung der Bundesregierung mit den
Spitzenverbänden der Wirtschaft zur Durchsetzung der
Chancengleichheit zugrunde.
({10})
Uns ist es in der Vergangenheit mit der Reformgesetzgebung gelungen, vor allen Dingen für die Kinder etwas
zu tun, die an der Armutsgrenze leben. Wir haben einen
Kinderzuschlag eingeführt,
({11})
der 150 000 Kinder und deren Eltern - vor allen Dingen
die Alleinerziehenden - aus der Sozialhilfe holen wird.
Daneben haben wir einen Steuerfreibetrag für Alleinerziehende eingeführt. Wir kommen damit auch einer ForParl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel
derung des CEDAW-Ausschusses und der Nichtregierungsorganisationen nach.
Die materiellen Leistungen für Familien in Deutschland können sich sehen lassen, aber bei der Kinderbetreuung bilden wir europaweit nach wie vor das
Schlusslicht. Deshalb wollen wir für Kinder aller Altersgruppen bis zum Jahr 2010 eine bedarfsgerechte Angebotsstruktur schaffen. Die finanziellen Voraussetzungen
haben wir geschaffen; jetzt sind die Kommunen am
Zuge. Denn die Balance von Familien- und Erwerbsarbeit ist nach wie vor der Schlüssel zur Chancengerechtigkeit für Frauen in Arbeitswelt und Gesellschaft.
({12})
Sie ist auch der Schlüssel für wirtschaftliches Wachstum
und gesellschaftlichen Fortschritt in diesem Land. Wir
werden mit Sicherheit daran weiterarbeiten.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hannelore Roedel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen!
Pflegerin und Trösterin sollte die Frau sein; Sinnbild bescheidener Harmonie, Ordnungsfaktor in der
einzig verlässlichen Welt des Privaten; Erwerbstätigkeit und gesellschaftliches Engagement sollte die
Frau nur eingehen, wenn es die familiären Anforderungen zulassen.
Ein Zitat, meine Damen und Herren, aus dem Bericht der
Bundesregierung über die Situation der Frau in Beruf,
Familie und Gesellschaft aus dem Jahr 1966.
Inzwischen ist das 20. Jahrhundert vergangen und ein
Umdenken ist erreicht. Die Situation der Frauen in Politik und Gesellschaft hat sich deutlich verbessert. Aber
die tatsächliche Gleichberechtigung von Frau und
Mann haben wir in Deutschland noch immer nicht erreicht. Darüber kann auch der Fünfte Bericht der Bundesregierung zu CEDAW nicht hinwegtäuschen, denn er
stellt die frauenpolitischen Defizite in Deutschland nicht
im gegebenen Maß dar, sondern er beschönigt.
Wir von der Union teilen nicht Ihre Meinung, sehr
verehrte Damen und Herren von der Koalition, die Sie in
Ihrem Entschließungsantrag kundtun. Sie schreiben dort
- ich zitiere -:
Vieles von dem, was der CEDAW-Ausschuss bei
der Prüfung des vierten CEDAW-Berichts ... noch
anmahnte, hat die Bundesregierung seit 1998 umgesetzt.
Weiter heißt es in Ihrem Antrag:
Im Mittelpunkt des fünften Berichts steht die Weiterentwicklung der Gleichstellung von Frauen und
Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen in
Deutschland. Diese konnte in den vergangenen vier
Jahren mit vielfältigen Maßnahmen vorangebracht
werden.
Das sind vollmundige Aussagen und ich frage: Welche konkreten Erfolge kann die Bundesregierung denn
vorweisen? Frauen leiden immer noch in allen Lebensbereichen unter erheblichen Benachteiligungen: auf dem
Arbeitsmarkt, bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und in den sozialen Sicherungssystemen. Ich will nur
einige davon herausgreifen, die vor allem Arbeitsmarkt
und Beruf betreffen.
Beispiel Arbeitsmarkt. Die Chancen für Frauen, eine
unbefristete Stelle zu finden, sind gegenwärtig denkbar
schlecht. Dafür trägt die Bundesregierung zu einem gehörigen Teil die Verantwortung;
({0})
nicht nur, weil es ihr nicht gelingt, unsere Wirtschaft aus
dem Tief herauszumanövrieren, sondern auch, weil sie
darüber hinaus noch vermeintlich frauenfördernde Maßnahmen ergreift, die wirkungslos oder kontraproduktiv
sind. Die schlechte Lage auf dem Arbeitsmarkt gefährdet die Gleichberechtigung mehr als alles andere und die
Zahlen der vergangenen Monate und die Ausblicke sind
wenig ermutigend.
Es kann uns auch nicht beruhigen, wenn die Bundesregierung in ihrem Bericht frohlockt, dass die Frauenerwerbsquote im Jahr 2000 in den neuen Bundesländern
zum ersten Mal unter der der alten Bundesländer lag.
Denn diesem Erfolg muss man die stille Reserve hinzurechnen; das sind die Frauen, die sich entmutigt vom Arbeitsmarkt verabschiedet haben.
Beispiel Teilzeit. Wie erwartet und von allen Fachleuten vorhergesagt, hat das neue Gesetz über Teilzeit und
befristete Arbeitsverträge, das seit 1. Januar 2001 in
Kraft ist, keine positive Wirkung erzielt. Im Gegenteil,
dieses Gesetz wirkt sich beschäftigungshemmend aus,
weil Unternehmen im Rechtsanspruch auf Teilzeit ein
Einstellungshindernis und eben keine Chance für Frauen
sehen. Diese Konsequenzen und Auswirkungen treffen
in erster Linie Frauen, denn sie sind es, die in Teilzeit arbeiten. 86 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten sind
Frauen.
({1})
Teilzeit bedeutet aber nicht nur weniger Gesamteinkommen, sondern auch eine schlechtere soziale Absicherung und schlechtere Aufstiegschancen. Deshalb ist
der im Bericht der Bundesregierung erwähnte Anstieg
der Teilzeitquote, der auf der anderen Seite mit einem
Sinken der Vollzeitquote verbunden ist, unter frauenpolitischem Blickwinkel als äußerst bedenklich einzuschätzen. Der Grund für Teilzeitarbeit liegt in den westlichen
Bundesländern zu 80 Prozent in Familienverpflichtungen, wobei jedoch bei 30 Prozent der Frauen der
gewünschte Wechsel in die Vollzeittätigkeit an fehlender
Kinderbetreuung scheitert.
({2})
Im Osten dagegen ist der Mangel an Vollzeitbeschäftigungen zu über 50 Prozent der Grund für die Teilzeitarbeit der Frauen. Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit,
verehrte Damen und Herren von der Regierungsbank
- wie ich sehe, befindet sich zurzeit nur eine Dame auf
der Regierungsbank -, bringen Sie also die Frauen einer
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, deren Sie
sich im Entschließungsantrag rühmen, keinen Deut näher, sondern das Gegenteil ist der Fall.
Beispiel Einkommensunterschiede. Nach wie vor
gibt es große Unterschiede beim Verdienst von Frauen
und Männern. Am gravierendsten sind diese Abstände
im Handel und im produzierenden Gewerbe. Vollzeitbeschäftigte Arbeiterinnen und Angestellte verdienen in
diesen Branchen durchschnittlich ein Viertel weniger als
ihre männlichen Kollegen. Wie so oft outen sich damit
auch hier die groß angekündigten Maßnahmen der Bundesregierung als für die Medien inszenierte Schnellschüsse. An den Fakten hat sich - Sie haben es zugegeben - seit dem Regierungsantritt von Rot-Grün bislang
nichts geändert. Wir brauchen eine Politik für Frauen,
die bei den Ursachen der Lohndiskriminierung ansetzt,
beispielsweise bei der herkömmlichen Aufteilung des
Arbeitsmarktes in Frauen- und Männerberufe oder beim
Berufswahlverhalten von Frauen.
({3})
Beispiel beruflicher Wiedereinstieg. Wir beklagen
überall den Mangel an Frauen in Führungspositionen.
Einer der Hauptgründe dafür ist in den wechselnden
Phasen von Erwerbs- und Familientätigkeit bei Frauen
zu sehen. Bei einem Wiedereinstieg in den Beruf nach
einer Familienpause müssen viele Frauen in einer niedrigeren Position beginnen als der, die sie verlassen haben,
wenn denn der Wiedereinstieg überhaupt möglich ist.
Frauen werden dadurch in niedriger bezahlte Erwerbsbereiche abgedrängt und ein kontinuierlicher Karriereweg
wird verhindert. Weder Elternzeitgesetz noch der
Rechtsanspruch auf Teilzeit bringen hier Erleichterung
für Frauen.
Wir sind der Meinung, dass zu einem erfolgreichen
Wiedereinstieg Folgendes nötig ist: erstens freiwillige
Vereinbarungen zwischen Unternehmen und ihren Mitarbeitern für Teilzeit, zweitens gemeinsam mit der Wirtschaft ausgearbeitete Konzepte für den Wiedereinstieg
und drittens eine effiziente Beratung und Vorbereitung
der Frauen.
({4})
Beispiel Frauen in Wissenschaft und Technik. In
den Entscheidungs- und Führungspositionen von Wissenschaft und Forschung sowie in technikorientierten
Berufs- und Studiengängen sind Frauen nach wie vor
ganz besonders unterrepräsentiert. Mittlerweile ist zwar
jede fünfte Habilitation von einer Frau geschrieben, aber
nur etwas mehr als jede zehnte Professur von einer Frau
besetzt. An den außeruniversitären Forschungseinrichtungen liegt sogar nur jede 20. Führungsposition in
weiblicher Hand. Damit liegt Deutschland auch im europäischen Vergleich weit zurück.
Mit pseudofortschrittlichen Initiativen vonseiten der
Regierung wie der Juniorprofessur lassen sich diese
Missstände nicht beheben. Sie zeugen nur vom wilden
Aktionismus dieser Regierung. „Innovaktionismus“ hat
die „Rheinische Post“ vom 5. Januar 2004 dieses Gebaren anlässlich der jüngsten Kanzlerpläne zur Eliteuniversität nicht umsonst getauft. Hier gilt: vom Fortschritt reden, ohne viel dafür zu tun.
Statt mit der Frauenförderung erst im Alter von
30 Jahren zu beginnen, müssen die Weichen schon früher gestellt werden. Das Interesse an Naturwissenschaft
und Technik muss bei Mädchen schon in der Grundschule gefördert werden. Nur so kann verhindert werden,
dass Mädchen ein spezifisch weibliches Selbstkonzept
entwickeln, das unter Umständen später die Entscheidung bei der Berufswahl zum Nachteil einer Laufbahn
im naturwissenschaftlich-technischen Bereich beeinflusst. Gerade Forscherinnen vermissen familienfreundliche Arbeitszeiten und Kinderbetreuungseinrichtungen.
Als letztes Beispiel Altersarmut. Altersarmut wie
Armut überhaupt wird im Bericht der Bundesregierung
komplett vernachlässigt, als ob es sie in Deutschland gar
nicht gebe. Dabei sind gerade Frauen viel stärker als
Männer von Altersarmut betroffen, was auch aus den hohen Langzeitarbeitslosenzahlen bei Frauen resultiert.
Ich fasse zusammen: Frauenförderung hat keine gute
Konjunktur. Der Weg aus der Flaute ist vordringlich. Wir
müssen uns aber alle dessen bewusst werden, dass Frauenförderung kein Gnadenakt und kein karitativer
Schnickschnack ist, auf den in schwierigen Zeiten verzichtet werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Sie dient der Gesamtgesellschaft. Wissenschaftliche Untersuchungen weisen immer wieder auf einen wichtigen
Zusammenhang hin: Wenn Frauen ihre Kinder gut betreut wissen, wenn Frauen eine ausreichend bezahlte Arbeit haben und wenn sie wegen ihrer Kinder nicht benachteiligt werden, dann ist die Geburtenrate hoch.
Der Bericht der Bundesregierung wird dieser Situation nicht gerecht. Anspruch und Wirklichkeit werden
wie immer auf Kosten der Frauen vermischt.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Roedel, ich war mir nicht ganz im Klaren,
ob Sie Ihre Rede zum Vierten oder den Fünften Bericht
der Bundesregierung gehalten haben. Der Vierte Bericht
ging nämlich bis zum Jahr 1998 und ich entnehme dem
Bericht ganz andere Informationen.
Wenn die Bundesregierung in der nächsten Woche
vor dem UN-Frauenrechtsausschuss in New York ihren
Fünften Bericht zur Lage der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern abgibt,
({0})
dann kann sie in der Tat über eine rot-grüne Erfolgsgeschichte in der Frauenpolitik berichten.
({1})
Dieser Fünfte Bericht bezieht sich nämlich auf die Jahre
1998 - das war das Jahr des Regierungsantritts - bis
2001. Seitdem haben wir viel für Frauen auf den Weg
gebracht. Ich will es gerne konkret machen: das Teilzeitgesetz,
({2})
das Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst,
({3})
die Elternzeit, das Lebenspartnerschaftsgesetz,
({4})
das Prostitutionsgesetz,
({5})
das Gewaltschutzgesetz, das eigenständige Aufenthaltsrecht für ausländische Ehefrauen und der finanzielle Anschub für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen; und
das, obwohl der Bund dafür überhaupt nicht zuständig
ist, Frau Kollegin Lenke.
({6})
Aber natürlich bleibt auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft noch viel zu tun.
Wo viel Licht ist, kann natürlich auch Schatten sein.
Darum freue ich mich, einige der Autorinnen des Schattenberichtes heute auf der Tribüne begrüßen zu können.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich dafür
danken, dass Sie der Aufforderung des CEDAW-Übereinkommens gefolgt sind und in ehrenamtlicher Arbeit
einen sehr detaillierten Bericht, der 250 Seiten umfasst,
verfasst haben, der die Regierungsarbeit aus der Sicht
der NGOs kommentiert. Im Wesentlichen zeigt Ihr Bericht Probleme auf, bei denen auch wir Handlungsbedarf
sehen, wie unser Entschließungsantrag zeigt.
Ich konzentriere mich auf zwei Punkte: auf die Frauenerwerbsarbeit und auf die Situation von Migrantinnen,
die auch in Ihrem Bericht besonders beleuchtet wurde.
Gerade was den Arbeitsmarkt angeht - da gebe ich Ihnen, Frau Roedel, Recht - sind wir von einer wirklichen
Gleichstellung von Frauen und Männern weit entfernt.
Da wäre zunächst die fortbestehende Lohnungleichheit.
Die Bundesregierung hat im Jahr 2002 einen Bericht zur
Berufs- und Einkommenssituation vorgelegt, der die diskriminierende Praxis bei der Arbeitsbewertung deutlich
macht. Nach wie vor werden Kompetenzen, die zur
Übernahme von Verantwortung für Kinder, Kranke und
alte Menschen befähigen, niedriger bewertet als solche,
die für technische Tätigkeiten notwendig sind. Wir können es nicht länger hinnehmen, dass Frauen im Durchschnitt immer noch annähernd 30 Prozent weniger verdienen als Männer.
({7})
Hier sind die Tarifparteien gefordert. Wir fangen auch
bei uns an. Der BAT wird zurzeit überarbeitet. In unserem direkten Zuständigkeitsbereich sind wir also schon
aktiv.
Dass gerade Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in ihren
Wirkungen auf Männer und Frauen sehr unterschiedlich
sein können, ist bekannt. Das Prinzip des Gender Mainstreaming jedoch ist leider noch nicht überall angekommen. Darum freue ich mich, dass das Ministerium einen
Auftrag vergeben wird, um die Auswirkungen der
Agenda 2010 sehr genau auf ihre Geschlechtergerechtigkeit zu untersuchen. Eine Sache ist allerdings schon jetzt
klar: Die um 15 Prozent höheren Beiträge für Frauen bei
der Riester-Rente sind nicht hinnehmbar. Eine staatliche
Förderung darf es nur geben, wenn gleiche Tarife bei
gleichen Leistungen gelten.
({8})
- Da könnte eigentlich auch die CDU/CSU klatschen,
denn Frau Böhmer ist in dieser Frage mit uns einer Meinung. Ich bitte auch ausdrücklich um Ihre Unterstützung
in dieser Angelegenheit.
Auch bei der Gleichstellung in der Privatwirtschaft
liegt noch manches im Argen. Ende des Monats wird im
Blick auf die Vereinbarung zwischen Arbeitgeberverbänden und Bundesregierung aus dem Jahre 2001 Bilanz
gezogen. Aber sowohl die Ergebnisse des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung als auch die Studie,
die der Deutsche Gewerkschaftsbund erstellt hat, zeigen,
dass noch viel zu tun ist. Das Bild ist ein düsteres.
Sollte sich bestätigen, dass sich bei der Gleichstellung
von Männern und Frauen in der Privatwirtschaft tatsächlich nichts oder nur wenig getan hat, sind konkrete
- auch gesetzliche - Schritte erforderlich. Die Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien ist nur ein
erster Schritt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lenke?
Selbstverständlich.
Bitte schön.
Frau Schewe-Gerigk, wenn Sie konkrete Schritte für
den Fall ankündigen, dass die Vereinbarung aus dem
Jahre 2003 nicht die gewünschten Ergebnisse bringen
sollte, werde ich neugierig. Können Sie mir erläutern,
welche Schritte Sie sich vorstellen?
Die Umsetzung der EU-Richtlinien ist, wie gesagt,
ein erster Schritt. Wir müssen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes neu regeln. Wir wollen auch ein
Verbandsklagerecht einrichten, sodass Frauenverbände zum Beispiel gegen Lohnungleichheit und Diskriminierung bei der Einstellung oder Beförderung klagen
können.
Wir haben aber noch viele andere Ideen. Die EURichtlinien sehen zum Beispiel vor, dass Unternehmen
angeregt werden sollen, die Situation der Frauen in ihren
Betrieben systematisch zu erfassen. Das würde eine gute
Datengrundlage bieten, um zu prüfen, wie Frauen der
Zugang zu Führungspositionen ermöglicht werden
kann. Denn in diesem Bereich ergibt sich ein düsteres
Bild. In den Vorständen der über 100 an der Börse vertretenen Aktiengesellschaften ist nicht eine Frau vertreten. Sie sind sicherlich mit mir der Meinung, dass wir
das ändern müssen.
({0})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Wenn sie mich so charmant ansieht.
Danke schön. Das gibt es auch unter Frauen. Man
kann auch freundlich zueinander sein.
({0})
- Opposition und Regierung müssen sich nicht immer
fetzen, Herr Küster, wie wir beide das tun.
({1})
Aber um wieder ernst zu werden: Sie erinnern sich sicherlich, Frau Schewe-Gerigk, dass Sie im letzten Bundestagswahlkampf ein Gleichstellungsgesetz für die
Wirtschaft gefordert haben. Was ist aus diesem Gleichstellungsgesetz geworden?
Sie haben die Koalitionsvereinbarung offensichtlich
doch nicht so gründlich gelesen.
({0})
Darin war von gesetzlichen Regelungen in einzelnen
Punkten die Rede. Ich habe gerade schon einige Vorschläge genannt, was zu tun wäre. Dazu gehört die systematische Untersuchung der Situation der Frauen in den
Betrieben. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat die Unternehmen aufgesucht und dort im
Rahmen des Betriebspanels Fragen gestellt. Es geht zunächst einmal darum, herauszufinden, warum so wenig
Frauen in der Privatwirtschaft und vor allen Dingen in
Führungspositionen tätig sind. - Ich danke für die Fragen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
komme jetzt zu der unerfreulichen Zuwanderungsdebatte. Für uns Grüne gilt: Geschlechtsspezifische und
nicht staatliche Verfolgung muss im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention anerkannt werden.
({1})
- Genau. - Mit der Nichtanerkennung verstößt Deutschland gegen die Empfehlungen der UN-Menschenrechtskommission und des UN-Flüchtlingskommissars.
Ich bitte Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU: Nehmen Sie Ihren Einfluss wahr, damit im
Zuwanderungsgesetz die geschlechtsspezifische und
nicht staatliche Verfolgung endlich so geregelt wird, wie
es von einem weltoffenen Land wie Deutschland erwartet wird! Wir müssen dort nicht immer das Schlusslicht
sein, nur weil Sie uns bremsen.
({2})
Mit Menschenhandel wird mehr Gewinn gemacht
als mit illegalen Drogen- und Waffengeschäften. Das
deutsche Strafrecht bezieht bisher den Handel zum
Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft, den Heiratshandel und die Zwangsheirat nicht mit ein. Entsprechende
Änderungen nehmen wir derzeit auf der Grundlage des
VN-Abkommens und des EU-Rahmenbeschlusses von
2002 vor.
Im kürzlich verabschiedeten Opferrechtsreformgesetz
haben wir bereits einige Verbesserungen zum Schutz
der Opfer vorgesehen. Der EU-Rahmenbeschluss verlangt allerdings weitere Änderungen. So ist der aufentIrmingard Schewe-Gerigk
halts- und sozialrechtliche Status für Opferzeuginnen bei
weitem nicht ausreichend.
Wer Frauenhandel wirksam bekämpfen will, muss die
Opfer besser schützen.
({3})
Meist können die Täter doch nur durch die Aussagen der
Opfer ermittelt werden. Unter Abschöpfung der Gewinne aus diesem menschenverachtenden Geschäft wollen wir Opferfonds einrichten und die notwendige Arbeit
der Beratungsstellen finanzieren.
Es gibt aber nicht nur die sexuelle Ausbeutung von
Frauen. Gerade Migrantinnen finden oft nur eine Tätigkeit im informellen Sektor. Dazu gehört vor allen Dingen
die Arbeit in privaten Haushalten. Das sind Bereiche, in
denen sie arbeitsrechtlich weitgehend ungeschützt sowie
der Willkür der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen ausgesetzt sind. Ein unklarer oder illegaler Status kann Ausbeutung und Gewalt verstärken, und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten.
Die Nichtregierungsorganisation Ban Ying hat im
Auftrag von zehn weiblichen Angestellten in Diplomatenhaushalten in Deutschland die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens vor dem CEDAW-Ausschuss beantragt. Das ist die erste konkrete Handlung aufgrund der
bestehenden gesetzlichen Regelung. Es werden sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen und Freiheitsentzug beklagt. Nach unseren Informationen hat sich der VN-Ausschuss zur Einleitung des Verfahrens entschlossen, da in
Deutschland auf dem Rechtsweg nichts gegenüber Diplomaten und Diplomatinnen erreicht werden kann. Es
ist zwar bitter, aber die Immunität steht über den Menschenrechten.
Ich komme zu dem Antrag der CDU/CSU. Frau
Eichhorn, Ihr Antrag ist in den meisten Punkten gut:
mehr Kinderbetreuungsangebote, Verbesserung der
Gleichstellung gerade in den Bereichen Wissenschaft
und Forschung sowie familienfreundliche Gestaltung der
Arbeitszeit. Aber er hat einen Schönheitsfehler: Das,
was Sie in Ihrem Antrag fordern, machen wir schon.
1,5 Milliarden Euro für die Betreuung von Kindern unter
drei Jahren sowie Bündnisse für die Familie sind nur einige Stichworte. Was wir aber nicht machen werden, ist
eine Rücknahme des Rechts auf Teilzeitarbeit, wie es
auch die FPD fordert. In den Niederlanden ist daraus im
Übrigen ein Jobwunder entstanden. Bei uns dauert es offensichtlich etwas länger. Aber die pessimistische Einstellung von Frau Roedel kann ich nicht teilen. Auch
Ihre Forderungen nach Änderung der Arbeitsvermittlung
und des Kündigungsschutzes wurden bereits umgesetzt.
Sie sehen: Die rot-grüne Regierung tut etwas. Aber
sie weiß auch, dass in frauenpolitischer Hinsicht noch
viel zu tun ist. Nachhilfeunterricht brauchen wir jedenfalls nicht.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen von SPD und
Grünen loben den CEDAW-Bericht der Bundesregierung; das ist sicherlich richtig.
({0})
Aber die Aufgabe der FDP in der Opposition ist natürlich, die Arbeit der Bundesregierung auf den Prüfstand
zu stellen.
({1})
- Mit solchen lockeren Sprüchen wäre ich an Ihrer Stelle
sehr vorsichtig. Das bekommen Sie bei Gelegenheit von
mir zurück.
({2})
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Es gibt sicherlich positive Maßnahmen der Bundesregierung. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Gewaltschutzgesetz, wonach der Täter, der schlägt, aus der
gemeinsamen Wohnung verbannt werden kann. Das ist
richtig. Sie wissen, dass auch die FDP diesem Gesetz zugestimmt hat. Aber andere rot-grüne Gesetze sind kontraproduktiv.
Unter arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten - ich
möchte in diesem Zusammenhang auf die Forderungen
der CDU/CSU-Fraktion zu sprechen kommen - muss ich
sagen: Das Gesetz, wonach Männer und Frauen einen
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit haben, ist ein Bumeranggesetz.
({3})
Wir alle wissen, dass viele Frauen Teilzeit arbeiten wollen. Aber sie werden wegen dieses Rechtsanspruchs von
skeptischen Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen erst gar
nicht eingestellt. Deshalb ist das ein schlechtes Gesetz;
denn es verstellt den Frauen jedenfalls in der Praxis den
Zugang zum Arbeitsmarkt. In der Theorie mag das ja anders sein.
Wir alle wissen, dass die Integration der Frauen auf
dem Arbeitsmarkt der zentrale Schlüssel zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung der Geschlechter in allen
Berufen und auf allen Ebenen, bis in die höchsten Führungs- und Entscheidungspositionen hinein, ist. Unsere
Gesellschaft ist natürlich auch grundsätzlich gefordert,
die enormen Leistungen, die Frauen heute noch in Familien und Ehrenämtern erbringen, endlich angemessen anzuerkennen. Auch das wäre ein wichtiges Thema für unsere Ausschussberatungen.
Die überwiegende Mehrzahl der Frauen jedenfalls
will heute auf eine berufliche Karriere nicht mehr verzichten. In unserem Entschließungsantrag zum Bericht
der Bundesregierung haben wir aufgezeigt, welche
Barrieren beseitigt werden müssen, damit die gleichberechtigte Integration der Frauen auf dem Arbeitsmarkt
endlich besser gelingt.
Wir haben unsere Forderungen im Hinblick auf zwei
Bereiche konkretisiert und dem Bundestag vorgelegt.
Was unseren Antrag zu Tagesmüttern und -vätern angeht, will ich hier einmal klarstellen, dass die Verabschiedung unseres Antrages zur Tagespflege die mit der
von der Bundesregierung jahrelang ignorierten Betreuungsmisere verbundenen Probleme nicht allein lösen
kann. Das ist ganz klar. Meine Damen von der SPD und
vom Bündnis 90/Die Grünen, angesichts dessen, was Sie
zu unserem Antrag in Bezug auf Tagesmütter gesagt haben, bin ich wirklich schwer enttäuscht, weil Ihre starke
Kritik total unberechtigt ist.
({4})
Sie hätten diesen Antrag, auch wenn er von der FDP
kommt, vorurteilsfrei prüfen und sich wirklich überlegen
sollen, ob es nicht besser gewesen wäre, eine andere
Stellungnahme abzugeben. Selbst die Ministerin hat im
Ausschuss gesagt, dass dieser Antrag gut ist und dass einige Teile dieses Antrags übernommen werden. Ihnen
bleibt auch gar nichts anderes übrig, weil Sie die Hälfte
der Betreuung von Kindern unter drei Jahren den Tagesmüttern zuschieben; denn die Krippenplätze sind zu
teuer. Also: Ich finde Ihre Kritik sehr unberechtigt. Es
hat mich als Frau in diesem Ausschuss sehr geschmerzt,
wie parteipolitisch Sie mit diesem Thema umgehen.
({5})
Ich will Ihnen zu diesem Thema noch eines sagen:
Die Zuschriften, die ich von Verbänden, Bürgern und
von unserem Tagesmütterverein bekommen habe, enthalten auf der ganzen Linie Zustimmung.
Außerdem fordern wir alle, die Frauen aus der
Schwarzarbeit herauszuholen. Auch dazu hat die FDP
ein Konzept mit ihren neuen Steuerplänen vorgelegt.
Dieses Konzept hat Sie wahrscheinlich noch nicht erreicht. Ich will in dieser frauenpolitischen Debatte deutlich sagen: Unser Konzept, das so genannte Solms-Konzept - die FDP hat diese Woche eine entsprechende
Vorlage in den Bundestag eingebracht -, sieht die Abschaffung der Steuerklasse V vor. Wirtschaftsexperten
sagen, dass die „Frauensteuerklasse“ eindeutig einen negativen Anreiz zur Beschäftigungsaufnahme bedeutet.
Dass das so ist, wissen wir alle. Das brauche ich Ihnen
heute nicht mehr zu erklären.
Mit dem CEDAW-Bericht haben die Fraktionen von
SPD und Grünen im Frühjahr 2003 Forderungen an die
Bundesregierung gestellt, die Steuerklasse V abzuschaffen, und zwar mit dem Ziel, Diskriminierung abzubauen.
Das war am 12. März 2003. Trotz Ihrer Ankündigungen
ist bis heute nichts passiert. Wir haben das umgesetzt.
Ich gehe davon aus, dass einige Frauen von Ihnen sehr
deutlich sagen werden: Die in dem neuen Steuerkonzept
der FDP enthaltene Forderung übernehmen wir vielleicht in unser Steuerkonzept. Ich erwarte, dass hier
nicht parteipolitisch agiert wird. Die FDP hat gehandelt.
Wir werden sehen, wie Sie sich dazu stellen.
Ich möchte noch auf ein wichtiges Thema, das Ehegattensplitting, zu sprechen kommen. Bis heute hat
keine Fraktion im Deutschen Bundestag ein Konzept
vorgelegt, das eine Weiterentwicklung des Ehegattensplittings hin zu einem Familienrealsplitting vorsieht.
Sie von Rot-Grün beteuern in jeder Podiumsdiskussion,
dass auch Sie den bisherigen Zustand ungerecht finden
und das Ehegattensplitting ändern wollen. Frau ScheweGerigk, ich persönlich finde es ausgesprochen diskriminierend, dass ein Ehepaar, bei dem nur ein Ehepartner
arbeitet und das - wohlgemerkt - keine Kinder hat, auf
der Grundlage des Ehegattensplittings im Jahr circa
9 000 Euro Steuern spart, während eine Ehefrau, die genauso viel wie ihr Mann verdient und Kinder erzieht, mit
keinem Cent vom Ehegattensplitting profitiert. Ist das
gerecht?
({6})
Weder das SPD-geführte Familienministerium noch
die Mehrheit in diesem Hause noch die Mehrheit in einer
der Fraktionen wollen etwas ändern.
({7})
- Frau Schewe-Gerigk, fassen Sie sich erst einmal an
Ihre eigene Nase und setzen Sie diese Sache in Ihrer eigenen Fraktion und in dieser Koalition durch! Ich habe
sehr deutlich gesagt, dass das meine persönliche Meinung ist. Ich sage auch sehr deutlich, dass es hier, im
Deutschen Bundestag, derzeit keine Mehrheit dafür gibt.
Es würde mich freuen, wenn wir Frauen an diesem
Punkt einmal zusammenarbeiten würden.
Ich komme jetzt zum Schluss. Die schlechte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik verursacht eine hohe
Arbeitslosigkeit. Frauen sind davon ganz besonders betroffen. Meine Damen und Herren von der Koalition,
nicht neue Gesetze mit hoher politischer Lenkungswirkung schaffen mehr Gleichberechtigung, sondern ein liberaler Staat, der seinen Bürgern und Bürgerinnen vertraut, viel Spielraum für Eigenverantwortung und
Eigeninitiative lässt und die Bürger und Bürgerinnen da
unterstützt, wo sie nicht allein tätig werden können, zum
Beispiel bei der Organisation der Kinderbetreuung. Das
ist ein liberaler Weg und nicht der von Rot-Grün.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besuchertribünen! Herr Seehofer hat uns in der Aktuellen Stunde gerade dazu aufgefordert, Optimismus zu zeigen. Die
Angelika Graf ({0})
Staatssekretärin hat in ihren Ausführungen gezeigt, dass
wir mit der Bundesregierung eine gute frauenfreundliche
Politik machen. Sie hat damit alles widerlegt, was von
Ihnen, Frau Roedel und Frau Lenke, vorgetragen worden
ist. Ich meine, dass die Chancen, im Berufsleben zu bleiben, insbesondere mit der Teilzeitregelung und der Möglichkeit, nach einer Unterbrechung wieder Teilzeit arbeiten zu können, durchaus gegeben sind.
({1})
Die Frauenrechte sind entgegen allen Unkenrufen auf
einem relativ guten Weg. Das zeigt sich schon an der Tageszeit, zu der wir hier diskutieren. Früher gab es solche
Debatten immer erst nachmittags oder in den frühen
Abendstunden.
Wir reden heute über den Fünften Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau - ein schwieriger Titel. Deswegen
hilft uns die Abkürzung CEDAW da weiter. Ich hätte mir
allerdings gewünscht, dass mehr Kolleginnen, insbesondere auch mehr Kollegen - das gilt für alle Fraktionen -,
dieser Debatte folgen.
({2})
Die Staatenberichte zeigen deutlich, dass wir etwas
gegen die komplexen und ineinander greifenden Diskriminierungen von Frauen in der Lebensrealität tun müssen. CEDAW fordert die Staaten zu konkreten Maßnahmen zur Abschaffung dieser Diskriminierungen auf und
ist seit 1979 von 160 Staaten auf dieser Welt unterzeichnet worden. Es gibt allerdings zu keiner anderen völkerrechtlichen Konvention so viele Vorbehalte wie zu
CEDAW. Das zeigt, wie schwierig der Umgang mit Themen dieser Art ist.
Erstaunlicherweise beschäftigt sich CEDAW erst seit
der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 mit
dem Komplex „Gewalt gegen Frauen und Kinder“
und enttabuisiert damit dieses Thema. Es gewinnt sowohl national - Stichwort „häusliche Gewalt“ - als auch
im Zuge der Globalisierung immer mehr an Aktualität.
Das ist übrigens ein Aspekt, den ich in dem Antrag der
CDU/CSU nur wenig und in dem Entschließungsantrag
der FDP überhaupt nicht gefunden habe. Deswegen werden wir beide ablehnen.
({3})
Das kriminologische Institut Hannover stellt fest, dass
jede siebte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder sexuellen
Nötigung wird. Die Bundesregierung - die Staatssekretärin hat das geschildert - unternimmt große Anstrengungen, sexistischer Gewalt nicht nur mit gesetzlichen
Regelungen entgegenzutreten. Wichtig ist die Förderung
der Kooperation zwischen den verschiedenen beteiligten
Behörden und den nicht staatlichen Hilfsangeboten.
({4})
Das hat übrigens auch etwas mit der Diskussion über
Menschenrechte und Frauenrechte im schulischen Bereich und in der Bildung sowie darüber hinaus mit der
Sprache zu tun, die wir benutzen. Sie können sich vielleicht erinnern, dass wir uns in der letzten Sitzung unseres Ausschusses über das Thema Sprache unterhalten haben.
Die Arbeit in diesem Bereich trägt durchaus Früchte.
Von Gewalt betroffene Frauen haben durch die fortschreitende bundesweite Vernetzung von Hilfsprojekten
und Hilfsorganisationen zunehmend eine Lobby. Das
zeigt der heute schon oft zitierte so genannte Schattenbericht. Er beleuchtet den Staatenbericht der Bundesregierung. Ich empfehle diesen Schattenbericht jedem, der an
diesem Themenkreis interessiert ist. Er gibt viele Anregungen und viel Grund zum Nachdenken. Ich danke den
Verfassern ganz ausdrücklich.
({5})
Einer der Schwerpunkte des Schattenberichts ist die
Situation von Migrantinnen, welche oft Opfer von
Gewalt sind. Der Kampf gegen Genitalverstümmelung,
Schandemorde, Zwangsverheiratung und andere Formen
der geschlechtsspezifischen Verfolgung auf dieser Welt
ist nicht gewonnen. Ich appelliere deshalb genauso wie
die Kollegin Schewe-Gerigk an Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union: Es wird Zeit, dass wir
im neuen Zuwanderungsgesetz den frauenspezifischen
Fluchtgründen Rechnung tragen!
({6})
Ebenso müssen die Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonventionen endlich zurückgenommen werden.
({7})
Überdenken Sie Ihre diesbezüglichen Ressentiments und
wirken Sie auch auf die von Ihnen getragenen Landesregierungen entsprechend ein!
Ein besonders hässliches Kapitel im Bereich der
Menschenrechtsverletzungen an Frauen - die Kollegin
Schewe-Gerigk hat das auch schon angesprochen - ist
der Menschenhandel. Frauen werden von Banden der
organisierten Kriminalität nach Westeuropa verschleppt
und hier sexuell ausgebeutet und missbraucht. Aber auch
moderne Sklaverei in Haushalten nimmt anscheinend
immer mehr zu. Deutschland ist Ziel- und Transitland in
einem. Es ist deshalb zu begrüßen, dass das Bundesministerium der Justiz zur Umsetzung des EU-Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung des Menschenhandels demnächst einen Referentenentwurf vorlegen wird.
Im Jahr 2002 wurden laut Bundeskriminalamt
811 Opfer von Menschenhandel registriert, davon waren
mindestens 800 weiblich. Die Zahl der Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels stagniert seit Jahren bei
etwa 300. Schätzungen sprechen auf der anderen Seite
jedoch von 500 000 Zwangsprostituierten, die jährlich
nach Europa gebracht werden. Mit Frauenhandel wird in
Angelika Graf ({8})
Europa mehr Geld gemacht - die Kollegin ScheweGerigk hat das schon gesagt - als im Drogengeschäft.
Deshalb ist es gut, dass die bundesweite Arbeitsgruppe
Frauenhandel seit 1997 die Arbeit der Bundes- und Landesregierungen, des BKA und der Nichtregierungsorganisationen koordiniert. Polizei und Fachberatungsstellen
im In- und Ausland ziehen inzwischen an einem Strang,
wobei ich den dringenden Appell an die Landesregierungen richte, dafür zu sorgen, dass in ihren Ländern die Finanzierung der bestehenden Beratungsstellen sichergestellt wird und mehr Beratungsstellen eingerichtet
werden.
({9})
Die Beratungsstellen sind der Schlüssel dafür, dass das
Krebsübel Frauenhandel eingedämmt werden kann.
Ich hoffe, dass es uns zukünftig gelingt, mehr Opfer
zu Aussagen zu bewegen und damit mehr Täter vor Gericht zu bringen. Damit würden wir uns ganz im Sinne
von CEDAW entwickeln, nämlich Menschenrechtsverletzungen an Frauen nicht zu tolerieren, sondern sie zu
erschweren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Pawelski,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich stelle mit großer Freude fest, dass die SPD-Fraktion
seit einigen Minuten den Status der männerfreien Zone
verloren hat. Ich begrüße die Kollegen der SPD-Fraktion, die, wie gesagt, jetzt seit wenigen Minuten hier
sind. Aber man merkt doch, wie unwichtig das Thema in
Ihrer Fraktion genommen wird.
Ich bedauere auch sehr, dass die zuständige Ministerin nicht hier ist.
({0})
Es gibt weiß Gott nicht viele Anträge, bei deren Beratung das Frauen- und Familienministerium federführend
tätig ist. Sie hätte sich wirklich einmal Zeit für diese Debatte nehmen sollen.
({1})
Meine Damen und Herren, der Bericht, über den wir
reden und den der CEDAW-Ausschuss den einzelnen
Nationen, also auch Deutschland, ausgestellt hat, ist vergleichbar mit einem Zeugnis. Dieses Zeugnis ist für unser Land miserabel ausgefallen. In der Schule würde
man sagen: Nicht versetzt, Klasse wiederholen!
({2})
- Diesen Bericht, verehrte Frau Kollegin, nicht den letzten. - In der Zusammenfassung lesen wir Artikel für Artikel, dass der Ausschuss mit großer Sorge den mangelhaften Fortschritt bei der Gleichstellung von Frauen in
Deutschland beobachtet.
({3})
- Lesen Sie es bitte, bevor Sie darüber reden. - Fast jeder Absatz fängt mit negativen Feststellungen an: der
Ausschuss sorgt sich, der Ausschuss mahnt an, der Ausschuss äußert seine Bedenken.
({4})
Die Familienministerin hat sich die Durchsetzung der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf ganz groß auf die
Fahne geschrieben. Bislang wird aber nur geredet, werden nur runde Tische ins Leben gerufen. Das mag sehr
hilfreich sein, aber die Frauen und die Familien brauchen Taten. Sonntagsreden gehen denen langsam auf die
Nerven. Sie hören gar nicht mehr zu, wenn über diesen
Politikbereich geredet wird. Darum haben immer mehr
Frauen in unserem Lande ihre ganz persönlichen Rückschlüsse aus Ihrer Politik gezogen. Weil sie wissen, dass
es kaum möglich ist, Familie und Beruf zu verbinden,
verabschieden sie sich zunehmend von der Mutterrolle.
Von den 1964 geborenen Frauen haben 36 Prozent keine
Kinder. Bei den Akademikerinnen ist das Verhältnis
noch gravierender: 44 Prozent sind kinderlos. In einem
Vergleich von 190 Staaten durch die Weltbank belegte
Deutschland mit einer Geburtenrate von 1,35 den 185.
Platz.
Die Folgen dieser Entwicklung für unser Land sind
verheerend; das wissen wir alle. Trotzdem wird nicht
richtig oder nur zu zögerlich gehandelt.
({5})
Wir brauchen mehr Kindergärten, mehr Tagesmütter und
-väter, mehr Hortplätze, mehr Ganztagsschulen.
Kurzum: Wir brauchen mehr Betreuung.
({6})
Auch hier hat der Ausschuss in seinem Bericht Mängel festgestellt. Er nahm mit Sorge zur Kenntnis, dass
das Betreuungsangebot für Kinder bis drei Jahre sowie
das Ganztagsangebot für Schulkinder bei weitem nicht
ausreicht. Fakt ist: Für unter Dreijährige gibt es einen
Versorgungsgrad von nur 8,5 Prozent.
({7})
Dabei gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den
alten und den neuen Bundesländern. Spätestens bis
2006, so hat die Familienministerin versprochen, soll es
für 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz geben - ein schönes Versprechen.
({8})
Aber wie so oft hat die Bundesregierung die Musik bestellt, ein anderer jedoch soll sie bezahlen.
({9})
Sie sollen zwar, so die Bundesregierung, 1,5 Milliarden
Euro aus den Einsparungen
({10})
- ich erkläre doch gerade, wie das bezahlt werden soll,
hören Sie doch einfach einmal zu! ({11})
durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Ausbau der Betreuung für Kinder unter
drei Jahren erhalten; ob diese Mittel allerdings wirklich
ausreichen und ob diese Einsparungen wirklich zustande
kommen, ist mehr als fraglich.
({12})
Nach Berechnungen der kommunalen Spitzenverbände
werden die tatsächlichen Kosten deutlich höher ausfallen; sie haben 2,5 Milliarden Euro ausgerechnet, also
1 Milliarde Euro mehr.
Weiterhin will die Bundesregierung 10 000 zusätzliche Ganztagsschulen aufbauen und dafür den Kommunen insgesamt 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen
({13})
- ja, da klatschen Sie mal ordentlich! -, allerdings nur
für die Investitionen.
({14})
- Immer wenn Sie schreien, weiß ich, dass ich etwas
Richtiges gesagt habe.
({15})
Mit den Personalkosten werden die Länder und Kommunen alleine gelassen. Aber aufgrund ihrer katastrophalen Finanzsituation, verursacht von Rot-Grün,
({16})
sind sie nicht in der Lage, diese zu bewältigen. Die
Kommunen sind finanziell am Ende; sie können nicht
mehr. Aus diesem Grund wurden 2003 aus dem Programm statt der zur Verfügung gestellten 300 Millionen
Euro gerade einmal 35 Millionen Euro abgerufen.
({17})
- Richtige, ganz aktuelle Zahlen.
Das Ergebnis dieser Politik ist: In Deutschland gibt es
pro 100 Kinder nur 9,6 Ganztagsplätze.
({18})
- Ist es nicht schön, dieses Herumschreien? - Diese Bilanz spricht nicht dafür, dass Sie es mit der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf ernst meinen.
({19})
Meine Damen und Herren, Deutschland ist in Sachen
Kinderbetreuung ein Entwicklungsland. Im europäischen
Vergleich nimmt Deutschland eine Schlusslichtposition
ein. In Dänemark sind 64 Prozent der unter Dreijährigen
in öffentlichen Betreuungseinrichtungen. In Frankreich
besuchen 50 Prozent der Kinder unter drei Jahren eine
Krippe; 99 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen gehen
von früh bis spät in die Vorschule. Das Ergebnis: In
Frankreich sind 72,3 Prozent aller Mütter mit zwei Kindern und 51 Prozent der Mütter mit drei Kindern berufstätig. Frankreich hat eine Geburtenrate von 1,9.
Wir wollen den jungen Eltern die Freiheit geben, selber zu entscheiden, ob sie ihr Kind selbst betreuen oder
ob sie es stundenweise in die Obhut von Erziehern geben
wollen. Diese Freiheit ist jedoch nicht gegeben, wenn
nicht genügend Betreuungsangebote zur Verfügung stehen, wie es zurzeit der Fall ist.
Bei aller Kritik an den handelnden Akteuren: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Unterstützung von
Familien ist nicht nur Angelegenheit der Politik. Um Familien wieder mehr Akzeptanz zu sichern, müssen alle
gesellschaftlichen Gruppen mithelfen.
({20})
In diesem Zusammenhang spreche ich eine Bitte an unsere Unternehmen aus: Ohne ihr Zutun gibt es keine
Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ohne diese
Vereinbarkeit gibt es - leider - immer weniger Kinder.
({21})
Es gibt erfreulich viele Unternehmen, die ihren Mitarbeitern dieses ermöglichen. Sie haben erkannt, dass gerade die Mitarbeiter, die bereit sind, Verantwortung für
zwei Bereiche, nämlich für Beruf und Familie, zu übernehmen, besonders wertvolle Leistungsträger sind. Die
Beschäftigten sind zufriedener, leistungsstärker und kreativer, wenn sie Beruf und Familie in Balance bringen
können. Außerdem brauchen Unternehmen die gut ausgebildeten Frauen, in einigen Jahren noch mehr als
heute. Aber man muss den Unternehmen auch die finanziellen Möglichkeiten geben, familienfreundlich zu handeln. Sie belasten die Unternehmen finanziell so stark,
dass sie dazu kaum in der Lage sind.
Im CEDAW-Bericht wird auch die Diskriminierung
unserer ausländischen Mitbürgerinnen angesprochen.
Zur Beseitigung jeglicher Diskriminierung der Frau gehört auch, dass wir in Deutschland keine frauendiskriminierenden Umstände zulassen. Wir wollen durchsetzen,
dass auch Migrantinnen eine Chance auf ein gleichberechtigtes Leben bei uns haben.
({22})
Aber oft hört die Gleichberechtigung dieser Frauen
dort auf, wo Religion, Tradition und Herkunft einen starken Einfluss ausüben. Wollen wir es zulassen, dass Mädchen zum Beispiel nicht am Sportunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen dürfen, weil die Religion es
angeblich verbietet und weil es Mädchen sind?
({23})
Das erzwungene Tragen eines Kopftuches ist mit der
gleichberechtigten Rolle der Frau in Deutschland nicht
vereinbar.
({24})
Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.
Ja. - Noch eine letzte Bemerkung. Das Kopftuch wird
selbst von vielen gläubigen Musliminnen als politisches
Kampfinstrument angesehen. Einen rein religiösen
Grund kann es dafür kaum geben. Vor 15 Jahren trugen
die Türkinnen in Berlin kaum Kopftücher. Heute beherrschen sie in manchen Stadtteilen das Straßenbild.
({0})
- Das hat Herr Sorgec gesagt, der für die Migrantenintegration in Berlin zuständig ist.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate
Gradistanac, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frauenorganisationen begrüßen, dass der
CEDAW-Bericht zum ersten Mal im Deutschen Bundestag diskutiert wird. Immerhin ist es der fünfte Bericht
dieser Art.
Das Übereinkommen der Vereinten Nationen hat das
Ziel, jede Form der Diskriminierung von Frauen zu beseitigen. Mit Interesse habe ich auch den Schattenbericht
der Nichtregierungsorganisationen gelesen. Mein herzlicher Dank gilt den Verfasserinnen, die die Bundesregierung in vielen Bereichen loben, aber auch Handlungsbedarf aufzeigen. Diesen Handlungsbedarf haben wir in
dem SPD-Entschließungsantrag zum Teil berücksichtigt.
({0})
- Das ist natürlich ein gemeinsamer Antrag mit den Grünen.
Bei der Erwerbstätigkeit von Frauen wurden erfreuliche Fortschritte erzielt. Ausschlaggebend war meiner
Meinung nach das ressortübergreifende Programm „Frau
und Beruf“ von 1999. Es hat der Gleichstellung von
Frauen in der Arbeitswelt neue Schubkraft verliehen und
es wurde weitgehend umgesetzt. Beispielhaft ist die flexible Elternzeit und der Rechtsanspruch auf Teilzeit, den
wir positiv bewerten.
({1})
Wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingen soll, muss der Schwerpunkt konsequent und von Herzen gewollt auf der Betreuung von Kindern liegen. Das
heißt mehr Krippenplätze für Kinder bis zu drei Jahren,
({2})
sich am Bedarf orientierende Kindergartenöffnungszeiten und deutlich mehr Ganztagsangebote.
({3})
Dafür hat meine Bundesregierung
({4})
- wenn es um das Loben geht, ist es „meine“ Bundesregierung - 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dies
ist besonders lobenswert, da es sich nicht um eine originäre Zuständigkeit des Bundes handelt.
Es gibt keine geschlechtsneutrale Politik. Gender
Mainstreaming ist die Umschreibung dafür, dass sowohl die Belange von Frauen als auch die von Männern
berücksichtigt werden müssen.
({5})
In Schweden wird diese Strategie schon seit langem angewandt. Will dort eine Kommune einen neuen Sportplatz bauen, wird eine Analyse erstellt, die aufzeigt, welche Sportarten von der männlichen und von der
weiblichen Bevölkerung bevorzugt werden. Je nach Ergebnis wird der Sportplatz dann so gestaltet, dass darauf
nicht nur Fußball gespielt werden kann, sondern auch
andere Sportarten ihren Platz bekommen. Davon profitiert die ganze Bevölkerung.
({6})
Wir erhoffen uns, dass in Deutschland durch die Einrichtung des Gender-Kompetenz-Zentrums langfristige
Veränderungen und ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel erzielt werden. Das Zentrum hat die Aufgabe, zu
beraten sowie Forschung zu initiieren und zu koordinieren. Es soll das Wissen zum Thema Gender Mainstreaming bündeln.
Um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen sowie Kinder
und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch zu schützen,
hat die Bundesregierung zwei vorbildliche Aktionspläne
entwickelt. Mit dem Gewaltschutzgesetz wird der
Schutz von Frauen im sozialen Nahraum deutlich verbessert. Wichtig ist mir an dieser Stelle, dass für die Polizei, die Staatsanwaltschaft und aus meiner Sicht besonders für die Gerichte - da fehlt es an allen Ecken und
Enden - verstärkt Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden. Im Hinblick auf die Problematik „männlicher Täter“ und den Umgang mit Tätern und Gewaltopfern müssen Schulungen durchgeführt werden.
({7})
Ich teile die Einschätzung von Terres des Femmes im
Schattenbericht, dass sexistische Werbung einem Gesellschaftswandel im Wege steht. Ein Beispiel aus dem
Jahrbuch 2003 des Deutschen Werberats: Eine bundesweit erscheinende Tageszeitung warb in einer Plakatserie mit Bildern von jungen Frauen, die nur knapp bekleidet waren. Darunter standen Sprüche wie „Mittags krieg
ich Hunger. Auf Sex.“ Die Kritik der Beschwerdeführer,
dass Frauen auf eine sexuelle Funktion reduziert und somit zum Objekt degradiert werden, wurde vom Werberat
nicht geteilt, auch nicht, dass sie kinder- und jugendgefährdend sei. Der Deutsche Werberat - übrigens ein
männerdominiertes Gremium; da gibt es überhaupt keine
Frau - berief sich auf die grundgesetzlich garantierte
Pressefreiheit und stufte die Werbung nicht als frauendiskriminierend ein.
Hier zeigt sich exemplarisch die mangelnde gesellschaftliche Sensibilität. Eine Chance, dies zu ändern und
eine umfassende Antidiskriminierungskultur in Deutschland durchzusetzen, bietet die Umsetzung der drei EURichtlinien. Gemeint sind die so genannte Antirassismusrichtlinie, die allgemeine Rahmenrichtlinie und die
Genderrichtlinie.
Als ein Ziel für den Sechsten CEDAW-Bericht wünsche ich mir, dass die Diskussion um gleichen Lohn für
gleichwertige Arbeit der Vergangenheit angehört. Dieses
Ziel mag zwar ehrgeizig sein; aber es finden sich immer
mehr Verbündete dafür.
Vielen Dank.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Walter Link, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Unterkapitel „Frauen im Alter“ im vorliegenden Fünften
Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder
Form von Diskriminierung der Frau steht unter der
Überschrift „Frauen in besonderen Lebenslagen“. Als
das Thema in der letzten Woche anstand, sind die Kolleginnen meiner Fraktion zu mir gekommen und haben gesagt: Wenn es hier um die Rechte der Frauen geht, kann
es nicht sein, dass wir die Männer nicht mitnehmen. Sie haben mich aufgefordert, heute aus der Sicht der Demographie etwas zu diesem Thema zu sagen.
({0})
- Wie leicht mir das gefallen ist, weißt du doch.
Schon seit vielen Jahren liegen die demographischen
Fakten klar auf dem Tisch. Die Altersstruktur der Bevölkerung unseres Landes hat sich immer mehr in Richtung der älteren Menschen verschoben. Im Jahr 2030,
also dann, wenn die jüngeren Kolleginnen und Kollegen,
die hier sitzen, im Rentenalter sind, werden die Zustände
nicht anders sein als heute, wenn wir jetzt nicht damit
beginnen, etwas zu verändern.
Verlässliche Prognosen besagen, dass in Deutschland
bis zum Jahr 2050 die Lebenserwartung um vier Jahre
steigen wird. Frauen werden ein statistisches Durchschnittsalter von 86 Jahren und Männer von 81 Jahren
erreichen.
Ich habe im CEDAW-Bericht gelesen, was Rot-Grün
für die soziale Absicherung der Frauen im Alter getan
hat. Ich sage dazu nicht, dass Rot-Grün nichts getan hat,
aber ich stelle fest, dass das, was bisher getan wurde, bei
weitem nicht ausreichen wird.
({1})
Bundeskanzler Schröder - ich spreche jetzt eine ganz
wichtige Sache an - hat 1998 in seiner ersten Regierungserklärung gesagt, dass Frauen nicht dafür bestraft
werden dürfen, dass sich bei ihnen Phasen der Kindererziehung und der Erwerbsarbeit abwechseln. Sehr wahr!
({2})
- Aber was habt ihr bis jetzt getan? Das reicht doch bei
weitem nicht aus.
In der Rentenversicherung werden Frauen, die keine
lückenlose Erwerbsbiografie aufweisen, weiterhin stark
benachteiligt. Kürzere Erwerbszeiten von Frauen, nämlich 26,2 Jahre statt 40,1 Jahre bei Männern, führen zu
geringeren Renten.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Sie haben gerade gesagt, dass Frauen immer noch 30 Prozent weniger verdienen. Ich sage Ihnen: Wenn wir nichts ändern, werden
die Frauen im Jahre 2030 nur die Hälfte der Renten der
Männer haben. Von daher müssen wir in dieser Sache
besonders ran.
Walter Link ({3})
Die größte Diskriminierung für Frauen ist aber die
hohe Arbeitslosigkeit, weil Frauen - junge wie ältere noch viel weniger Chancen haben, eine unbefristete
existenzsichernde Vollzeitstelle zu finden. Auch der
CEDAW-Ausschuss der UN hat den Finger in diese
Wunde gelegt und gerügt, dass die hohe Arbeitslosigkeit
von Frauen in Deutschland, insbesondere in den neuen
Bundesländern, eine Katastrophe ist. Frauen sind deutlich mehr als Männer von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen und somit stärker von Altersarmut bedroht. Warum sagen Sie das nicht?
Wir warten seit fünf Jahren auf eine Rentenreform,
die sich insbesondere der unzureichenden eigenständigen Alterssicherung von Frauen annimmt,
({4})
besonders jener Frauen, die Kinder großgezogen oder
ihre Eltern gepflegt haben oder heute noch pflegen.
({5})
- Frau Kollegin, jetzt keine Belehrungen.
Auch die Riester-Rente hat sich als kraftlose, bürokratische und frauenfeindliche private Zusatzrente erwiesen. Das wissen Sie auch.
({6})
Wenn ein 30-jähriger Mann und eine 30-jährige Frau die
gleiche Summe in die riestersche Rentenvorsorge einzahlen, erhält der Mann bei einem Versicherungsbeispiel
784 Euro und die Frau mit 679 Euro 105 Euro weniger,
und das jetzt, wo wir die Zukunft sichern wollen.
({7})
Das ist eine Ungleichbehandlung sondergleichen.
({8})
Diese muss als Erstes abgeschafft werden. Dazu
wollte ich eigentlich Frau Ministerin Schmidt ansprechen. Sie ist aber nicht hier. Ich weiß, dass sie an einer
anderen Veranstaltung teilnimmt, in der es um die Zivilgesellschaft geht und die von Phoenix übertragen wird.
Vielleicht hätte sie wie Sie, Frau Staatssekretärin, doch
bis zum Ende der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt hier im Plenum sein können. Ihnen, Frau Staatssekretärin Beck, danke ich sehr, dass Sie die Ministerin
hier vertreten.
Die von der Bundesregierung vorgenommene Absenkung des Rentenniveaus trifft Frauen übrigens in doppelter Weise: bei ihrer eigenen und bei der Witwenrente.
Die Absenkung der Witwenrente von 60 Prozent auf
55 Prozent entspricht einer realen Kürzung um
8,3 Prozent. So wird es nach Berechnungen von Experten auch in 30 Jahren so sein, dass Frauen, Frau Kollegin
Schewe-Gerigk, im Durchschnitt nur etwa die Hälfte der
Rente der Männer erhalten werden, wenn wir heute nicht
die entsprechenden Schritte einleiten.
Sie können Frau Ministerin Schmidt sagen, dass wir
als Union bereit sind, mitzuarbeiten, wenn jetzt die Weichen neu gestellt werden. Da es in Zukunft mehr Ältere
und weniger Junge und somit weniger Beitragszahler geben wird, brauchen wir eine Rentenreform, die nicht nur
zwischen Alt und Jung, sondern auch innerhalb einer
Generation eine faire Lastenverteilung zugunsten derer
vornimmt, die Kinder erziehen.
({9})
Deshalb führt für die Union kein Weg daran vorbei,
dass Familien und Frauen, die Kinder erziehen, bei der
Rente gestärkt werden müssen.
({10})
Es sollen nicht die Kinderlosen bestraft werden, sondern
diejenigen, die Kinder erziehen, gestärkt werden.
Eine Rentenreform sollte mutig sein, um Altersarmut
für Frauen zu verhindern, wie es der UN-Bericht fordert.
Bedenken Sie, welche Pflegeleistungen ohne Entgelt
von Rentnerinnen erbracht werden! Von allen pflegenden Angehörigen sind 34 Prozent Frauen über 65 Jahre.
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
- nun zum Positiven - hat es großartige Frauen gegeben,
die sich all dieser Fragen angenommen haben und die
Gleichstellung der Frau durch ganz konkrete Maßnahmen gefordert haben. Ich denke hier an die Frau unseres
ersten Bundespräsidenten, Frau Elly Heuss-Knapp, die
mit der Gründung des Müttergenesungswerkes eine bis
heute segensreiche Arbeit begonnen hat.
({11})
Frau Elly Heuss-Knapp hat gerade nach dem letzten
Krieg gewusst, was Frauen leisten, vor allem solche, die
Kinder erziehen.
Ich denke an die langjährige Präsidentin des Deutschen Bundestages Frau Annemarie Renger, die die
Frauen in Deutschland immer wieder ermutigt hat, sich
bei Ungleichbehandlungen am Arbeitsplatz zu informieren und Musterprozesse zu führen. Das waren konkrete
Angebote.
({12})
Ich denke an die Alternsforscherin und ehemalige
Bundesministerin Frau Professor Ursula Lehr, die schon
vor vielen Jahren Betreuung von zweijährigen Kindern
gefordert hat, um Frauen zu ermutigen, den Gleichklang
von Partnerschaft, Kindererziehung und Beruf zu erzielen.
Ich denke an meine eigene Mutter, die als Trümmerfrau unser Haus nach dem Krieg wieder aufgebaut hat
und die Zeit fand, uns Kinder auch noch zu Sozialkompetenz zu erziehen, so wie es Millionen von Frauen nach
dem Krieg getan haben - eine vorbildliche Leistung.
({13})
Walter Link ({14})
Wenn es um konkrete Maßnahmen der Gleichberechtigung - auch bei der sozialen Absicherung der Frauen
im Alter - geht, dürfen wir diese Leistungen nicht vergessen.
({15})
Wir, die CDU/CSU, fordern Generationengerechtigkeit,
erwarten aber auch Geschlechtergerechtigkeit.
({16})
Sehr verehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
fordere Sie auf, nach dieser Debatte nicht weiter die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, zwischen
Jung und Alt und zwischen den Parteien herauszustellen,
sondern sich gemeinsam an die Arbeit zu machen und
das zu tun, was Sie und wir wollen. Wer denn sonst,
wenn nicht der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend muss sich dieser Themen annehmen?
({17})
- Und diese Bundesregierung natürlich genauso.
Ich erkenne durchaus an, dass die Frau Bundesministerin Schmidt sagt: Ich habe eine Kommission berufen,
wir haben einen Ausschuss gebildet, wir haben alles in
der Pipeline. - Nur muss irgendwann einmal etwas aus
der Pipeline herauskommen. Der Worte sind genug gewechselt. Wir müssen jetzt Taten sehen.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 15/1171. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Fünften Berichts
der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der
Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau - Drucksache 15/105 - den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen - Drucksache 15/599 - anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss, in Kenntnis des genannten Berichts den
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/601 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des genannten Berichts die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 15/740 mit dem Titel „Benachteiligung von Frauen wirksam bekämpfen - Konsequenzen
ziehen aus dem CEDAW-Bericht der Bundesregierung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut
Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verbrechen wirksam bekämpfen - Genetischen Fingerabdruck konsequent nutzen
- Drucksache 15/2159 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sicherheitslage in Deutschland ist ernst und besorgniserregend. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Bedrohungen
durch den internationalen Terrorismus als auch angesichts der steigenden Kriminalitätsrate. Sowohl im Jahre
2001 als auch im vorvergangenen Jahr ist die Zahl der
Straftaten gegenüber den Vorjahren deutlich gestiegen.
Es ist zu befürchten, dass sich dieser Trend im vergangenen Jahr fortgesetzt hat.
Wenn der moderne Rechtsstaat aus guten Gründen
das Gewaltmonopol für sich in Anspruch nimmt, dann
ist es nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht,
zum Schutze der Bevölkerung vor Kriminalität und Terrorismus all diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die
notwendig sind, um Gefahren abzuwehren und Straftaten
aufzuklären. Ich hoffe, dass wir darüber ebenso wenig
streiten müssen wie über die Feststellung, dass die Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung geeignet und verhältnismäßig sein müssen, dass sie aber selbstverständlich auch rechtsstaatlichen Anforderungen genügen
müssen.
({0})
Die DNA-Analyse, also der genetische Fingerabdruck, ist nach Ansicht aller Fachleute ein effektives,
verlässliches und in der Praxis bewährtes Mittel zur Aufklärung von Straftaten, zur Identifizierung und Überführung von Straftätern, aber auch zur Entlastung von Unschuldigen.
({1})
In den USA sind schon Menschen, die mehrere Jahre in
den Todeszellen gesessen haben, entlassen worden, weil
sich ihre Unschuld nur durch eine DNA-Analyse herausstellen konnte. Für die moderne Kriminalistik und für
eine wirksame Strafverfolgung ist die DNA-Analyse daher unverzichtbar.
Trotzdem kann sie nach geltendem Recht nur dann erfolgen, wenn bereits schwere Straftaten begangen wurden und wenn darüber hinaus prognostiziert werden
kann, dass gegen den Betroffenen auch zukünftig wegen
ebenfalls schwerer Straftaten Ermittlungsverfahren anhängig sein werden.
({2})
Gerade angesichts der überaus positiven Erfahrungen,
({3})
die wir - genauer gesagt: die Strafverfolgungsbehörden - in
den letzten Jahren mit dem Instrument der DNA-Analyse gemacht haben, ist es dringend geboten, dieses effektive Mittel der Strafverfolgung verstärkt einzusetzen.
({4})
Wir sollten die DNA-Analyse zu einer Standardmaßnahme der strafprozessualen erkennungsdienstlichen Behandlung machen, wenn sie zur Aufklärung einer Straftat geboten ist und wenn aufgrund der Tatumstände
damit zu rechnen ist, dass der Täter auch zukünftig
Straftaten begehen wird. Der jetzige Rechtsrahmen ist zu
eng. Er schränkt die Ermittlungsmöglichkeiten der Polizei zu stark ein und verursacht bei anonymen Spuren einen bürokratischen Aufwand, der zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze nun wirklich nicht notwendig ist.
({5})
In den letzten Wochen ist im Zusammenhang mit unserem Antrag oft behauptet worden, die Union wolle zukünftig offenbar auch von jedem Ladendieb und
Schwarzfahrer eine Speichelprobe nehmen.
({6})
Diese Falschbehauptung wird auch durch ständige Wiederholung nicht richtig.
({7})
Sie wäre nur dann plausibel, wenn schon heute nach geltender Rechtslage von jedem Ladendieb und Schwarzfahrer ein klassischer Fingerabdruck genommen werden
würde. Dem ist nicht so. Jeder, der von der polizeilichen
Arbeit auch nur ein bisschen Ahnung hat, würde einen
solchen Blödsinn nie behaupten. Aber was soll dagegen
sprechen, dass zukünftig auch von solchen Kriminellen
eine Speichelprobe genommen werden kann, die zwar
keine besonders schweren Verbrechen begehen, aber
banden- bzw. gewerbsmäßig handeln oder immer wieder
rückfällig werden?
Ein Fall aus der Praxis: Ein x-facher Einbrecher wird
zum x-ten Mal auf Bewährung verurteilt. Die Polizisten
kennen ihren Stammkunden genau. Sie sind sich sicher,
dass er erneut rückfällig wird. Dieser Beschuldigte hatte
im Rahmen des Ermittlungsverfahrens freiwillig eine
Speichelprobe abgegeben. Das erkennende Gericht beschließt jedoch in der Hauptverhandlung, dass diese
Speichelprobe zu vernichten ist; denn - ich zitiere -:
„Die bloße Möglichkeit, dass er erneut straffällig werden
könnte, rechtfertigt nicht die Aufnahme der Proben in
die DNA-Kartei.“
Angesichts einer solchen Entscheidung muss nicht
nur jeder Polizist verzweifeln, sie ist auch für jedes Opfer eines solchen Täters bitter. Was spricht denn dagegen, eine Speichelprobe von einem solchen Serientäter
zu nehmen? Das ist doch nur die geltende Rechtslage.
({8})
Aus diesem Grunde wollen wir sie ändern.
({9})
Natürlich gibt es auch Ängste hinsichtlich des Instruments der DNA-Analyse im Allgemeinen und hinsichtlich
einer Ausweitung des Anwendungsbereiches im Besonderen. Solche Besorgnisse muss man sogar dann ernst nehmen, wenn sie sachlich unbegründet sind. Ich bestreite
keineswegs, dass die Entnahme einer Speichelprobe und
deren Analyse ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht
eines Täters oder eines Verdächtigen ist. Aber ist die Anfertigung des berühmten dreigeteilten Lichtbildes und
die Aufnahme dieses Bildes in die so genannte Verbrecherkartei kein Eingriff von ähnlicher Schwere? Das
kann für den Betroffenen sogar viel belastender sein als
eine DNA-Analyse. Meines Wissens hat noch niemand
gefordert, dass die Polizei zukünftig nur noch bei schweren Verbrechen Bilder anfertigen darf und dass der Fotoapparat nur dann in Aktion treten darf, wenn zuvor ein
Richter zugestimmt hat.
Die molekulargenetische Untersuchung einer Körperspur dient ausschließlich der Identitätsfeststellung, also
der eindeutigen Zuordnung der Spur zu einer Person
oder dem eindeutigen Ausschluss einer verdächtigen
Person, da ihr die Spur nicht zugeordnet werden kann.
Die immer wieder gerne vorgetragene Behauptung, man
könne bei dieser Gelegenheit auch Erbanlagen und
Krankheiten feststellen oder ein Persönlichkeitsprofil
des Verdächtigen erstellen, ist schlichtweg falsch und
wird auch durch ständige Wiederholung nicht wahr.
({10})
Wer wie Herr Montag diese falsche Behauptung aufstellt, möge von dieser Stelle aus bitte einen einzigen
Fall nennen - es werden in Deutschland mehrere Hunderttausend DNA-Feststellungen durchgeführt -, bei
dem ein Institut neben der Zuordnung der Spur zu einer
Person auch deren Erbanlagen oder Krankheitsbilder
festgestellt hat.
({11})
Das ist im Übrigen auch ziemlich sinnlos, weil derjenige, der die Spur untersucht, nicht weiß und nicht wissen kann, von wem diese Spur eigentlich stammt. Eine
solche Feststellung ist mit einer DNA-Analyse ebenso
wenig möglich wie mit dem herkömmlichen Fingerabdruck.
Demjenigen, der die Sorge hat, dass Missbräuche bei
der DNA-Analyse vorkommen könnten, möchte ich anbieten: Nichts spricht dagegen, eine rechtsmissbräuchliche Anwendung ausdrücklich unter Strafe zu stellen.
Darüber können wir sofort einig werden.
Übrigens wäre ein Missbrauch auch bei der Untersuchung einer Blutprobe möglich, die ein Autofahrer abgeben muss, der betrunken Auto gefahren ist. Was glauben
Sie, wie viele Informationen man aus einer frischen
Blutprobe gewinnen kann! Es ist aber noch niemand auf
die Idee gekommen, die Untersuchung einer Blutprobe
zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration deswegen
zu verbieten, weil dabei möglicherweise ein Persönlichkeitsprofil des Täters erstellt werden könnte.
({12})
Natürlich kostet eine DNA-Analyse auch Geld. Das
Kostenargument ist aber vor dem Hintergrund nicht
ernst zu nehmen, dass mit der Durchführung einer DNAAnalyse ein großer Ermittlungsaufwand vermieden werden könnte. Man muss nur einmal ausrechnen, was es
kostet, wenn Ermittlungsbehörden und Sonderkommissionen über Monate oder Jahre hinweg arbeiten und der
gesamte Aufwand möglicherweise zu keinem Ergebnis
führt und die Untersuchung im Sande verläuft.
Darüber hinaus ist noch das Argument zu hören, dass
man durch eine DNA-Analyse zu Unrecht verdächtigt
werden könnte. Das stimmt. Wenn jemand am Tatort
zum Beispiel eine Zigarettenkippe mit Speichelresten
deponiert, die von einem anderen stammt, um die Ermittlungsbehörden in die Irre zu führen, dann kann das
tatsächlich passieren. Das spricht aber nicht gegen die
Ausweitung der Anwendung der DNA-Analyse. Denn
auch beim Nehmen des klassischen Fingerabdrucks kann
so etwas geschehen, und zwar dann, wenn jemand die
Zigarettenpackung eines anderen zur Irreführung der
Strafverfolgungsbehörden in der Nähe des Tatortes deponiert. Mit der gleichen Logik müsste man also die Anwendungsbereiche des klassischen Fingerabdrucks eingrenzen.
Auch eine Ausweitung der Anwendung der DNAAnalyse kann nicht die Arbeit von Kriminalisten ersetzen; sie macht die Ermittlungsarbeit nicht überflüssig.
Die DNA-Analyse ist aber ein äußerst wirksames Instrument zur Aufklärung von Straftaten. Deshalb sollten wir
der Polizei erlauben, dieses Instrument intensiver als bisher einzusetzen.
({13})
Wir sollten außerdem den Richtervorbehalt streichen,
wenn es um anonyme Spuren geht. Selbst der ehemalige
Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Dr. Jacob, hatte
hiergegen keine Bedenken.
Bleiben wir einmal bei dem Beispiel Kippe und Zigarettenpackung. Wenn am Tatort beides vorgefunden
wird, dann dürfen die Fingerabdrücke von der Zigarettenpackung sofort genommen und analysiert werden,
während eine DNA-Analyse der Speichelreste an der Zigarettenkippe zunächst von einem Richter genehmigt
werden müsste, obwohl die Person gar nicht bekannt ist.
Welche Persönlichkeitsrechte können dann eigentlich
verletzt werden?
({14})
Es ist zwar richtig, dass wir uns bei den Debatten, die
wir führen, immer auf die Wahrung der Rechte der Beschuldigten, Angeschuldigten bzw. Angeklagten konzentrieren. Wir sollten uns aber mindestens ebenso intensiv einmal damit beschäftigen, wie wir die
Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land besser
vor Verbrechen und Verbrechern schützen können. Diese
Debatte kommt hier regelmäßig zu kurz.
({15})
Da ich sehe, dass sich zumindest Teile der Koalition
wieder in künstliche Erregungszustände versetzen,
({16})
möchte ich Ihnen einmal etwas aus der „Mitteldeutschen
Zeitung“ vorlesen. Der innenpolitische Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, Wiefelspütz,
({17})
wird wörtlich zitiert:
„Bei der DNA-Analyse handelt es sich um eine geniale Methode, bei der es keine Missbrauchsmöglichkeiten gibt.“
({18})
Er plädierte dafür, sie künftig ohne richterliche Genehmigung wie einen normalen Fingerabdruck anzuwenden...
({19})
- Guter Mann. Wiefelspütz zufolge sollte die DNA-Analyse nicht
auf Schwerverbrechen beschränkt bleiben, sondern
auf jede andere Tat - wie etwa Diebstahl - ausgeweitet werden können.
({20})
Die Methode sei in allen Fällen geeignet. „Wir sollten das Instrument viel intensiver nutzen als bisher“, sagte der SPD-Politiker.
({21})
Auf unserer Seite steht auch der schleswig-holsteinische Innenminister Buß, der designierte Vorsitzende der
Innenministerkonferenz, der vor wenigen Tagen genau
das gesagt hat, was ich heute vorgetragen habe und worüber Sie sich, Kollege Montag, erregen. So sehr wir uns
über diese Unterstützung freuen: Sie ist allerdings
zwecklos, solange Sie mit beiden Füßen auf der Bremse
stehen und dadurch verhindern, dass Straftaten aufgeklärt und neue Straftaten verhindert werden können.
Deswegen fordern wir Sie eindringlich auf, unserem Antrag zuzustimmen.
({22})
Das Wort hat die Bundesministerin Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ohne Frage ist die DNA-Analyse inzwischen zu
einer sehr wichtigen und effektiven Ermittlungsmaßnahme bei der Aufklärung von Straftaten geworden.
Deswegen kann man natürlich die Frage stellen, ob wir
sie nicht noch umfassender einsetzen wollen, um eventuell noch bessere Fahndungserfolge zu erzielen.
Die Antwort auf diese Frage ist aber nicht ganz so
einfach, wie man meinen könnte, wenn man Ihren Antrag liest, meine sehr geehrten Damen und Herren von
der CDU/CSU. Zum einen, so glaube ich, sollte man
sich sinnvollerweise einmal klar machen, was nach den
geltenden Gesetzen inzwischen rechtlich möglich, also
erlaubt ist und was der Bundestag bereits beschlossen
hat und in Kürze in Kraft treten wird. Die andere Frage,
die Sie, Herr Bosbach, ebenfalls schon angesprochen haben, lautet, was kriminalpolitisch sinnvoll und verfassungsrechtlich möglich ist. Die Tatsache, dass wir gerade bei diesen Eingriffen sehr enge Vorgaben der
Verhältnismäßigkeit der Verfassung haben, haben Sie in
Ihrer Rede eben auch zugestanden.
Die Antworten auf diese Fragen sind nicht ganz einfach. Das wird auch durch den Antrag deutlich, über den
wir hier heute diskutieren. Sie schreiben dort zum Beispiel - das, was ich nun zitiere, haben Sie im Übrigen
eben wiederholt -:
Der genetische Fingerabdruck kann gegenwärtig
nur genommen werden, wenn bereits schwere Straftaten geschehen sind.
Das ist schlicht falsch;
({0})
denn Sie müssen natürlich zwischen der DNA-Analyse
auf der einen Seite und der Zulässigkeit der Speicherung auf der anderen Seite unterscheiden. Das verfassungsrechtliche Problem, mit dem wir es zu tun haben,
ist die Speicherung.
Bei der Analyse geht es zunächst einmal nur um den
Abgleich einer Spur am Tatort mit der DNA eines Verdächtigten. Im Rahmen dieses konkreten Ermittlungsverfahrens darf die DNA-Analyse natürlich auch schon heute
zur Aufklärung einer Straftat eingesetzt werden, soweit
die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall gewahrt bleibt.
({1})
Das heißt, selbst bei Bagatelldelikten, beispielsweise bei
beleidigenden Briefen, kann angeordnet werden, dass
von einem konkret Verdächtigten eine DNA-Analyse genommen wird. Die Frage ist nur: Dürfen sie die hinterher
auch speichern? Das ist eine andere Frage, aber nicht für
die Ermittlung.
({2})
Wenn es um die Speicherung geht, ist es in der Tat so
- da haben Sie Recht -, dass das geltende Recht diese
nur dann erlaubt, wenn der Täter Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen hat und wenn das eintritt, was
wir mit Prognose umschreiben, wenn also damit zu rechnen ist, dass er sie auch in Zukunft begehen wird.
({3})
Aufgrund dieser Prognoseentscheidung sind heute
rund 300 000 Personen in einer Gendatei erfasst. Das ist
eine nicht ganz kleine Zahl. Der Vergewaltiger, der nach
der Einschätzung auch in Zukunft wieder vergleichbare
Straftaten begehen wird, ist dort also gespeichert. Aber
nicht nur er kann in die Gendatei kommen. Es gibt Straftaten von erheblicher Bedeutung - nicht nur Mord und
Vergewaltigung, sondern wir haben einen Straftatenkatalog mit 41 Straftatbeständen -, bei denen gespeichert
werden kann. Einbruchdiebstahl, Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung, Misshandlung von Schutzbefohlenen oder Vollrausch sind dort beispielsweise
auch genannt. Die Daten können also bei praktisch allen
Straftaten ab dem mittleren Kriminalitätsbereich aufwärts gespeichert werden.
Diesen Katalog haben wir gerade erst erweitert. Am
1. April dieses Jahres wird das novellierte Sexualstrafrecht in Kraft treten. Danach kann jede Straftat gegen die
sexuelle Selbstbestimmung, völlig unabhängig von der
Erheblichkeit der Straftat, zur Speicherung des DNAIdentifizierungsmusters führen. Erfasst sind ab 1. April
also bereits die in Ihrem Antrag aufgeführten Exhibitionisten; das ist völlig unproblematisch. Wenigstens insoweit ist das, was Sie mit Ihrem Antrag fordern, schon
längst erfüllt. Ganz nebenbei bemerkt: Diese Änderungen wären längst in Kraft, hätten Sie nicht den Vermittlungsausschuss angerufen.
({4})
Wenn Sie nun mit dem Antrag eine weitere Ausdehnung fordern, dann geht es ganz konkret um die Frage,
ob die Speicherung eben auch bei jedem noch so geringen Bagatelldelikt ermöglicht werden soll. Übrigens
sind gewerbs- oder bandenmäßig begangene Straftaten
oder Drogendelikte, deren Einbeziehung Sie auch angesprochen haben, vom geltenden Recht umfasst. Gucken
Sie einmal in die Anlage mit den 41 Straftaten.
({5})
Was also bleibt übrig? - Nicht sehr viel. Bei Taten im
unteren Bereich der Kriminalität, wie etwa bei wiederholtem Ladendiebstahl, wäre nach geltendem Recht
nicht zu speichern. Das ist richtig. Aber gerade bei solchen Taten wird natürlich die Voraussetzung der Prüfung
der Verhältnismäßigkeit besonders bedeutsam. Das
Bundesverfassungsgericht hat eine Entscheidung gefällt
- sie stammt aus dem Jahr 2001 -, in der ganz klipp und
klar steht, dass die Feststellung und die Speicherung in
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreift, dass die Verbürgung dieses Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nur im überwiegenden Interesse
der Allgemeinheit und unter Wahrung des Grundsatzes
der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden darf und
dass die Einschränkung nicht weiter gehen darf, als es
zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist.
Das heißt also: Der Gesetzgeber muss eine Abwägung
vornehmen.
Insofern ist es nach meiner Meinung richtig, dass wir
in der Bewertung den genetischen Fingerabdruck nicht
mit dem konventionellen Fingerabdruck gleichsetzen
dürfen. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob wir von
dem Fingerabdruck der Fingerkuppe reden oder ob es
darum geht, dass Körperzellen molekulargenetisch untersucht werden und der daraus gewonnene genetische
Fingerabdruck gespeichert wird.
({6})
Zum einen ist natürlich das Geschlecht zu bestimmen
und zum anderen wird von vielen Wissenschaftlern die
Tatsache bestätigt - die Sie negiert haben -, dass man
auch Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien machen kann. Das gilt für
den Satz, der ermittelt wurde, nicht für den, der nicht ermittelt wurde, aber der natürlich ermittelt werden kann.
Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob wir dies wollen
oder nicht - wir sind uns ja einig, dass wir das alles nicht
wollen -, sondern es geht um die Frage: Welche Entwicklungsmöglichkeiten ergeben sich in der Zukunft bei
bereits festgestellten Identifizierungsmustern,
({7})
die wir noch gar nicht in dem Maße überblicken? Das
muss man einfach im Blick haben, wenn man über die
Frage redet, welche Daten man heute speichert.
({8})
Diese Möglichkeiten, die heute wenigstens teilweise
schon erkannt sind, realisieren Sie nicht in dem erforderlichen Maße. Deswegen meine ich, dass im Grundsatz
die Anordnung einer Entnahme oder auch die Untersuchung von DNA-Spuren dem Richter vorbehalten werden kann. Allerdings - das habe ich schon gesagt - können wir bei den DNA-Spuren, bei denen es sich am
Tatort um so genannte anonyme Spuren handelt, überlegen, ob wir hier von der richterlichen Anordnung Abschied nehmen. Ich weiß, es ist noch nicht allzu lange
her, dass diese Anordnung ins Gesetz aufgenommen
wurde, aber es gibt immer wieder neue Erkenntnisse.
Daher sollten wir hierüber in Zukunft durchaus diskutieren.
Welche anderen Gründe gibt es noch für eine Erweiterung des Katalogs der Anlasstaten? Die reine Sorge um
die Sicherheit der Bevölkerung kann es nicht sein. Wenn
man nämlich so argumentiert, dann müsste man von jedem den genetischen Fingerabdruck nehmen, um so ein
Höchstmaß an Sicherheit zu erreichen. Das tut keiner
und das will auch keiner. Das heißt aber nicht, dass die
Ausweitung der Nutzung der DNA-Analyse für die Zukunft kategorisch ausgeschlossen wird. Das kann niemand machen, wenn er die Voraussetzungen für eine solche Erweiterung ernsthaft an dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit ausrichtet. Eine Gesetzesänderung
kann und wird von der Bundesregierung nur dann auf
den Weg gebracht werden, wenn sie erforderlich ist und
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wirklich eingehalten wird. Die entsprechenden Anforderungen habe
ich genannt.
Ohne den Nachweis der Erforderlichkeit, der für
meine Begriffe außer der pauschalen Behauptung, dass
die Aufklärung dadurch leichter wird, noch nicht erbracht wurde, kann es nicht gehen. Der Hinweis, dass in
der Vergangenheit Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung erzielt wurden, rechtfertigt keine Ausweitung, sondern zeigt nur, dass das geltende Recht funktioniert. Offensichtlich ist es so, dass die Daten, die bisher
gespeichert wurden, ausreichen, um bestimmte Straftaten aufzuklären. Dieser Hinweis reicht also nicht aus. Es
müssen vielmehr neue Argumente genannt werden, die
zumindest ich von den Innenpolitikern bisher noch nicht
gehört habe.
({9})
- Wenn ich das richtig verstanden habe, hat Herr
Wiefelspütz in diesem Interview kein neues Argument
angeführt. Er hat einfach darauf hingewiesen, dass es
besser ist, wenn mehr Daten zur Verfügung stehen. Eine
größere Menge an Daten ist immer besser; das habe ich
gerade gesagt. Das hat aber nichts mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu tun. Als Juristen fühlen
wir uns dem Recht natürlich besonders verbunden.
({10})
Ich meine, dass in diesem sensiblen Bereich der Rechtsstaat eine Bringschuld hat, wenn er eine Erweiterung der
Daten anstrebt. Deshalb müssen wir belegen, was wir
mit dieser Änderung anstreben.
Der Zeitpunkt, zu dem die Union diesen Antrag eingebracht hat, ist nicht ganz glücklich gewählt. Ich habe
schon einmal darauf hingewiesen, dass die Änderungen
im Sexualstrafrecht Änderungen bei der Möglichkeit der
Speicherung des genetischen Fingerabdrucks mit sich
gebracht haben. Sie treten am 1. April dieses Jahres in
Kraft. Dies bedeutet zum einen eine Erweiterung der
Speicherungsmöglichkeiten und zum anderen eine Aufnahme des Geschlechts als zu speicherndes Merkmal.
Diese Forderung von Ihnen ist damit inzwischen überholt.
Der zweite Punkt, warum ich es nicht für glücklich
halte, jetzt schon wieder in Aktionismus zu verfallen, ist
die Tatsache, dass die Justizministerkonferenz, wie Sie
wissen, eine Expertengruppe eingesetzt hat, die die
Möglichkeiten zur Effektivierung der DNA-Analyse unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten prüfen soll.
Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, zu welchem
Ergebnis diese Gruppe kommt und was auch die Länder
für Vorstellungen haben. Ganz nebenbei ist dies auch
eine Frage der Kosten, die die Länder dann tragen müssen; denn die Untersuchung und Speicherung ist nicht
gerade kostengünstig.
Wenn wir uns über dieses wichtige Thema der Erweiterung der Gendatei Gedanken machen, dann müssen
wir das gründlich und ausgewogen tun. Wir müssen die
berechtigten Interessen der Strafverfolgung auf der einen
Seite und die grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Anforderungen auf der anderen Seite berücksichtigen, die
solch sensible Maßnahmen erfordern. Nicht alles, was
technisch machbar ist und vielleicht auf den ersten Blick
gut ankommt, ist tatsächlich und vor allem auch rechtsstaatlich geboten.
Mich stört ein wenig die Neigung zu Allmachtsfantasien bei der Kriminalitätsbekämpfung: Wenn uns nur
alle Daten zur Verfügung stehen, dann können wir alle
Straftaten aufklären.
({11})
Dass das nicht stimmt, wissen ja auch Sie. Deswegen
sollten wir solchen Allmachtsfantasien keinen Vorschub
dadurch leisten, dass wir Forderungen nach einer Ausweitung der Gendateien aufstellen.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Gene eines Menschen identifizieren diesen nicht
nur, sondern bestimmen auch in nicht unerheblicher
Weise sein Aussehen, seine Persönlichkeit und seine
Handlungen. Der genetische Code ist gerade mehr als
ein Fingerabdruck und damit auch mehr als ein Foto.
({0})
Es verbietet sich deshalb, DNA-Analysen mit der Abnahme von Fingerabdrücken gleichzustellen. Das muss
auch einmal an die SPD gerichtet werden. Ihr Innenminister, immerhin jetzt Vorsitzender der Innenministerkonferenz, sieht es so, dass der genetische Fingerabdruck dem Fingerabdruck gleich ist.
({1})
Da macht man sich als FDP-Politikerin schon Sorgen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bosbach?
Nein, ich möchte das eigentlich, weil ich eine dunkle
Ahnung habe, was er fragen möchte, gerne im Zusammenhang vortragen. Vielen Dank.
({0})
Dem Kollegen Bosbach und allen Kolleginnen und
Kollegen, die das alles gleichsetzen, würde ich gerne die
Lektüre des Bundesverfassungsgerichtsentscheides empfehlen. Dort heißt es nämlich, dass in der Analyse des
Genmaterials eines Menschen immer ein ungleich
schwererer Eingriff in dessen Persönlichkeitsrecht
liegt. Daher darf die Genanalyse gerade nicht zu einer
Routinemaßnahme bei der Bagatellkriminalität werden.
({1})
Natürlich ist die DNA-Analyse heute aus den Ermittlungsverfahren nicht mehr wegzudenken. Die Erfolge sprechen für sich. Das ist gar keine Frage. Aber die Vorteile der
Technik dürfen uns nicht für die Gefahren blind machen.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist ein
Grundrecht und ein hohes Verfassungsgut. Jeder Eingriff
muss den strengen Anforderungen genügen. Die pauschale Ausweitung der Gendatei, wie sie von Ihnen gefordert wird, kann der Abwägung der Rechtsgüter nicht
standhalten.
Prognosen abzugeben, wer durch welche Vortat auch
in Zukunft Straftäter sein wird, sind kaum mit hinreichender Sicherheit zu treffen. Daher darf eben nur dort,
wo wirklich mit einer schweren Tat zu rechnen ist, die
Speicherung des DNA-Musters erfolgen.
({2})
Dies ist im Bereich der Sexualdelikte der Fall. Daher hat
die FDP diese Ausweitung, die von der Frau Ministerin
hier vorgetragen worden ist, auch begrüßt.
Was Sie wollen, nämlich die Ausweitung auf Straftaten mit sexuellem Hintergrund, ist zu unbestimmt, aus
unserer Sicht nicht praxistauglich und überhaupt nicht
sauber einzugrenzen.
({3})
Auch in anderen Bereichen stehen Ihre Prognosen auf
dem schwankenden Boden einer vagen Vermutung und
populistischer Effekthascherei. Wo wollen Sie denn die
Grenze ziehen? Bei einem 15-Jährigen, der dreimal Kaugummi geklaut hat und diesen auf dem Schulhof verkauft, während sein 16-jähriger Kollege Schmiere steht?
({4})
- Das ist die logische Konsequenz Ihres Antrags. So
sachlich sind Sie. Das müssen Sie zugeben.
({5})
Im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität verzichten
Sie direkt auf die Prognose weiterer Straftaten. Der
kleine Dealer wird bei Ihnen zur Genmaus,
({6})
deren Spur anhand bestimmter Markergene verfolgt werden kann.
({7})
Das ist mit unserer Verfassung nicht zu vereinbaren. Wenn Sie mich hier als Maus bezeichnen, Herr Kollege,
dann glaube ich nicht, dass das zur sachlichen Auseinandersetzung beiträgt.
({8})
Auch die Erfassung zusätzlicher Merkmale in der
Gendatei muss mit Vorsicht betrachtet werden. So dürfen Merkmale wie beispielsweise Krankheiten, die mit
den Ermittlungen in keinem Zusammenhang stehen, auf
gar keinen Fall gespeichert werden, auch wenn diese bereits im nicht kodierenden Bereich der DNA ausgelesen
werden könnten.
({9})
Sinnvoll wäre nach unserer Ansicht die gesetzliche Konkretisierung für die so genannten Massen-DNA-Tests.
Derzeit wird nur durch den gesellschaftlichen und psychologischen Druck eine Teilnahme erreicht. Das reicht
nach unserer Auffassung nicht für einen erheblichen
Eingriff in diese Grundrechte aus.
Der Effizienzgedanke darf nicht im Vordergrund stehen, wenn es um Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht
geht. Den Richtervorbehalt als unnötigen bürokratischen Aufwand zu bezeichnen, so wie Sie es tun, zeugt
von einer beschämenden Geringschätzung rechtsstaatlicher Institutionen.
({10})
Der Rechtsstaat ist nicht ohne Kontrollinstanzen zu haben. Kontrolle ist immer aufwendig.
Dennoch, in einem Punkt gebe ich Ihnen Recht. Bei
der Bewertung, ob die Untersuchung anonymer Spuren
am Tatort einen schwer wiegenden Eingriff in Persönlichkeitsrechte darstellt, kann man Ihrer Forderung im
Ergebnis folgen.
({11})
Das kann man aber nur dann, wenn auf der anderen Seite
die Hürde hoch bleibt. Dann würden wir Ihnen gerne folgen. Wie immer empfiehlt es sich aus unserer Sicht auch
in diesem Bereich, das bestehende Vollzugsdefizit zu
beseitigen. Die rechtzeitige Übermittlung der Datensätze
von den Ländern würde zu einer effizienteren Anwendung und sicherlich zu schnellerer Aufklärung führen.
Die rote Laterne haben hier NRW und Berlin.
(Zuruf von der CDU/CSU:
Rot-grün und rot-rot!
Beseitigen Sie dieses Defizit. Das ist meine Aufforderung an die rot-rote und die rot-grüne Landesregierung.
Schließlich fordern Sie, die Kollegen von der CDU/CSU,
sozusagen als Feigenblatt für die Verschärfung, den Missbrauch unter Strafe zu stellen. Auch wenn diese Forderung
sinnvoll ist, so ist ihr der Grundsatz des Datenschutzes entgegenzuhalten. Vermeiden und begrenzen Sie die Erhebung und Speicherung von personenbezogenen Daten
dort, wo es möglich ist! Je weniger Daten erhoben werden, desto weniger Daten können missbraucht werden.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile dem Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrter Herr Kollege Bosbach, in der Bundesrepublik
Deutschland dürfen jedem Beschuldigten gegen seinen
Willen Körperzellen entnommen werden. Selbstverständlich können in allen diesen Fällen die entnommenen Körperzellen auch einer DNA-Analyse unterzogen werden.
Das ist in den §§ 81 a und 81 e der Strafprozessordnung
geregelt.
Diese gesetzliche Regelung vergleiche ich mit folgender Formulierung in Ihrem Antrag:
Die DNA-Analyse ist gegenwärtig nur aus Anlass
einer Straftat von erheblicher Bedeutung vorgesehen und nur dann, wenn prognostiziert werden
kann, dass gegen den Betroffenen künftig Strafverfahren wegen Straftaten ebenfalls von erheblicher
Bedeutung geführt werden.
Ich finde es richtiggehend peinlich, dass Ihre Anträge so
handwerklich schlechte Formulierungen enthalten.
({0})
Wenn ich dann noch berücksichtige, dass sich die
meisten Ihrer konkreten Forderungen auf Vorhaben beziehen, die längst im Bundesgesetzblatt verkündet wurden und auch schon in die Praxis umgesetzt worden wären, wenn Sie uns nicht aufhalten würden, dann könnte
ich meine Bewertung Ihres Antrags schon abschließen.
({1})
Ich will aber etwas grundsätzlicher auf das Problem
der DNA-Analyse und der Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters eingehen. Wann ist eine solche Analyse überhaupt möglich? Die DNA-Analyse greift in ein
absolut geschütztes Grundrecht ein, nämlich in den
Kernbereich der Persönlichkeit. Die durch die Analyse
zu gewinnenden Informationen sind durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt.
Dieses Grundrecht gewährt jedem Menschen Schutz vor
einer unbegrenzten Erhebung, Speicherung und Verwendung oder Weitergabe der auf die betreffende Person bezogenen individualisierten Daten.
Das Bundesverfassungsgericht hat in den Jahren 2000
und 2001 in zwei grundlegenden Entscheidungen zu diesem Thema festgehalten, dass nur dann - das Wörtchen
„nur“ bitte ich zu unterstreichen; es enthält nämlich die
Kernaussage -, wenn sich die Untersuchung der DNA
auf den nicht kodierenden Bereich beschränkt, ein staatlicher Eingriff in das Grundrecht verfassungsrechtlich
hinnehmbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in
diesem Zusammenhang festgestellt, dass der nicht kodierende Bereich eben keine Rückschlüsse auf persönlichkeitsrelevante Merkmale und Charaktereigenschaften ermöglicht. Dass solche Informationen nicht aus dem
nicht kodierenden Bereich gewonnen werden können,
war die inhaltliche Begründung für die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts, wonach dieser Bereich in
der DNA-Analyse von staatlicher Seite untersucht und
die gewonnenen Erkenntnisse des Identifizierungsmusters gespeichert werden können.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das bestreite ja
keiner!
Die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts stammen, wie gesagt, aus den Jahren 2000 und
2001. Aber die Erkenntnisse der Wissenschaft schreiten
schnell voran. Auf Antrag der CDU im nordrhein-westfälischen Landtag wurde im vergangenen Jahr eine Anhörung zu diesem Thema durchgeführt. Ich beantworte
Ihnen jetzt die Frage, die Sie mir gestellt haben, Herr
Bosbach. Professor Brinkmann, Rechtsmediziner aus
Münster,
({2})
hat in der Anhörung ausgeführt, er wundere sich über die
verharmlosenden Ausführungen der CDU. Es sei falsch,
zu behaupten, mit den derzeit durchgeführten DNS-Analysen sei ein Rückschluss auf das Erscheinungsbild des
Menschen nicht möglich.
Wenn Sie diesen Professor nicht mögen,
({3})
kann ich auch den Rechtsmediziner Professor Schneider
zitieren, der in der Anhörung ausgeführt hat, es würden
im nicht kodierenden Bereich sehr wohl Hinweise auf
ethnische Zugehörigkeiten gefunden
({4})
und im Einzelfall an die Polizei weitergegeben, was ein
glatter Rechtsbruch ist.
Herr Kollege Montag, darf der Kollege Bosbach eine
Zwischenfrage stellen?
Nein, heute nicht.
({0})
Professor Eisenmenger hat in der Anhörung gesagt,
aus dem nicht kodierenden Bereich könnten schon jetzt
Hinweise auf Krankheiten wie Mongolismus oder auf
Erbanlagen herausgelesen werden. „Numerische Anomalien fallen einfach auf“, so Professor Eisenmenger in
der Anhörung. Deswegen müssen wir uns in der Diskussion über die Frage, was man mit der DNA-Analyse machen kann und darf, auch mit dem Problem beschäftigen,
wie in Zukunft im nicht kodierenden Bereich sichergestellt werden kann, dass nur das, was zur Identitätsfeststellung notwendig ist, staatlicherseits zur Verwendung
kommt.
Auch bei den Straftaten, die einen Anlass für eine
Speicherung geben, gibt es eine Grundrechtsschranke.
Frau Justizministerin Zypries hat bereits in ihrer Rede
deutlich gemacht, dass eine Speicherung nur dann erfolgen dürfe, wenn das Interesse der Allgemeinheit überwiege und wenn es sich um Straftaten von erheblicher
Bedeutung handle. Den Begriff „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ hat das Bundesverfassungsgericht in
seinen Urteilen als verfassungsrechtlich gebotene Untergrenze für einen Eingriff festgelegt.
Da Sie aber mehr wollen, habe ich mir die Unterlagen
der DNA-Analysedatei des Bundeskriminalamtes besorgt, um festzustellen, im Zusammenhang mit welchen
Straftaten keine Speicherungen vorgenommen werden,
die aber Ihrer Meinung nach Anlass für eine Speicherung geben sollen. An erster und zweiter Stelle dieser
Datei stehen Diebstahlsdelikte mit 100 000 Eintragungen und Sexualdelikte. Dann folgen Körperverletzungen
und Betäubungsmitteldelikte, auch in erheblichen Mengen.
Herr Kollege Montag, ich fürchte, dass sich diese
Aufzählung nach Überschreiten der Redezeit nicht mehr
vervollständigen lässt.
Ich komme zum Schluss. - Selbstverständlich wird
die DNA-Analyse ein Mittel der normalen Polizeiarbeit
werden; denn mit dieser Analyse können exzellente Ergebnisse erzielt werden. Aber die Speicherung der mithilfe dieser Analyse gewonnenen Daten - das ist etwas
völlig anderes - werden wir nach strengen rechtsstaatlichen und verfassungsmäßigen Grundsätzen regeln müssen.
Da ich in meiner Rede nicht mehr darauf eingehen
kann, werde ich Ihnen noch einige schriftliche Ausführungen zu den Kosten übermitteln, die entstehen würden,
wenn man Ihrem Antrag folgen würde. Vorab nur so
viel: Mindestens 100 Millionen bis 200 Millionen Euro
pro Jahr kämen an zusätzlichen Belastungen auf die Länderhaushalte zu.
Herr Kollege, legen Sie das bitte, wie angekündigt,
schriftlich dar.
Ich bitte, auch das zu überdenken.
Danke schön.
({0})
Nun hat der Kollege Bosbach um eine Kurzintervention gebeten.
Kollege Montag, Sie waren so „kollegial“, mir das
Recht auf eine Zwischenfrage zu verweigern. Deswegen
muss ich mich jetzt im Rahmen einer Kurzintervention
äußern.
({0})
- Selbstverständlich hat man das Recht, eine Zwischenfrage anzumelden. Der Redner hat natürlich auch das
Recht, die Zwischenfrage abzulehnen. Deswegen habe
ich jetzt das Recht auf eine Kurzintervention wahrgenommen.
Es ist und bleibt falsch - auch wenn es hier mehrfach
wiederholt wird -, dass es bei jeder Straftat, auch bei einer Bagatellstraftat, nur auf die Frage ankommt, ob eine
Entnahme oder auch eine Speicherung vorgenommen
werden soll. In § 81 g der Strafprozessordnung - schlagen Sie bitte nach - geht es um die Untersuchung zur
Identitätsfeststellung. Um eine solche Untersuchung
vornehmen zu können - nur damit beschäftigen wir uns
in unserem Antrag -, muss eine schwere Straftat vorliegen. Lesen Sie diesen Paragraphen genau! Wenn Sie der
Meinung sind, dass das, was ich sage, nicht stimmt, dann
können Sie ja entsprechend erwidern. Wir müssen auf jeden Fall zwischen der Entnahme und der molekulargenetischen Untersuchung von Körperzellen zur Identitätsfeststellung und der Aufnahme der Daten in die DNADatei unterscheiden. Das, was gerade gesagt wurde, ist
schlichtweg falsch. Wenn Sie gute Argumente gegen unseren Antrag hätten, dann brauchten Sie keine schlechten.
Herr Kollege Montag, wir haben Frau Dr. Anslinger - sie
ist Diplom-Biologin am Institut für Rechtsmedizin der
Uni München - mit dem, was Sie vertreten, konfrontiert.
Sie sagt, es gebe keine einzige wissenschaftliche Untersuchung, die das bestätigt, was Professor Brinkmann behauptet. Wir haben sie außerdem gefragt, ob man bei der
Untersuchung des nicht kodierenden Teils der DNA
überhaupt feststellen könne, ob ein Tatverdächtiger Weißer oder Schwarzer ist. Das spielt bei uns nicht so eine
große Rolle wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten
von Amerika. Sie hat geantwortet, dies könne man in der
Tat feststellen, allerdings liege die Fehlerquote mit
30 bis 40 Prozent so hoch, dass es dafür gar keinen Anwendungsbereich gebe.
Ich sage noch einmal: Alle, die sich das Argument des
möglichen Missbrauchs zu Eigen machen, unterstellen
denjenigen, die die DNA-Spuren untersuchen, dass sie
rechtsmissbräuchlich handeln und gegen das Gesetz verstoßen. Wer so argumentiert, darf auch keine einzige
Blutprobe eines Autofahrers untersuchen lassen;
({1})
denn selbstverständlich können die zuständigen Mitarbeiter am Institut für Rechtsmedizin - unterstellt man ihnen rechtsmissbräuchliches Handeln - an der Blutprobe
eines Autofahrers sehr viel mehr als an einer Speichelprobe, einem Haar, an Schweiß und Sperma - also an allen Spuren, die insbesondere nach einer Sexualstraftat
gefunden werden können - erkennen.
Unterstellen Sie denen doch nicht, dass sie rechtsmissbräuchlich ihrer Arbeit nachgehen; es sei denn, Ihnen ist ein einziger Fall bekannt, nur ein einziger, in dem
jemand an einem Institut für Rechtsmedizin jemals etwas anderes als die Identität, die Zuordnung oder den
Ausschluss einer Spur erforscht hat. Wenn das so gewesen ist, dann sollten Sie diesen Fall benennen, damit wir
darüber sprechen können. Aber wenn Sie selbst keinen
entsprechenden Fall kennen, dann sollten Sie eine solche
Behauptung hier, im Deutschen Bundestag, nicht aufstellen.
({2})
Zur Erwiderung erteile ich dem Kollegen Montag das
Wort.
Danke, Herr Präsident.
Erstens. Herr Kollege Bosbach, ich habe gegen Polizeibehörden oder gegen Institute und Labore nicht den
Vorwurf erhoben, dass sie massenhaft oder in welchem
Maße auch immer das DNA-Material rechtsmissbräuchlich zu anderen als den im Gesetz vorgesehenen Zwecken benutzt haben. Das habe ich nicht getan! Es war
auch nicht meine Absicht. Aber ich weise Sie darauf hin,
dass bei der Anhörung, die ich bereits zitiert habe, Herr
Professor Schneider selbst erklärt hat, dass in Einzelfällen Ergebnisse aus der Analyse des nicht kodierenden
DNA-Bereichs, die über den Identifizierungscode hinausgehen, auf Wunsch der Polizei an die Ermittler weitergegeben werden. Das muss nicht massenhaft geschehen. Das kann im Einzelfall passiert sein. Aber solche
Fälle hat es gegeben. Das war jedoch nicht mein Argument.
Herr Kollege, Sie haben dazu aufgerufen, die Strafprozessordnung aufzuschlagen. Dafür brauche ich nicht
den Gesetzestext; denn ich habe mich damit so genau beschäftigt, dass ich es aus dem Gedächtnis sagen kann:
Die DNA-Analyse und -Identifizierung nach § 81 g
StPO dient dem Vergleichsverfahren. Deswegen sind die
Entnahme und die Analyse für sich genommen völlig bedeutungslos. Erst durch den Vergleich mit anderen vorliegenden Daten erschließt sich die Bedeutung des
§ 81 g StPO. Deswegen ist auch eine Speicherung in der
Datei des Bundeskriminalamtes notwendig. Wir sagen
deshalb - nicht ich, sondern Sie haben es nicht verstanden -: § 81 g StPO normiert ausschließlich das Speicherungsproblem. Die in § 81 g StPO geregelte Analyse
dient lediglich der Vorbereitung der Speicherung. Die
Speicherung geschieht zu völlig anderen Zwecken.
Sie hingegen sprechen in Ihrem Antrag - lesen Sie
ihn sich selbst noch einmal durch! - von der DNA-Analyse allgemein. Die ist nach § 81 a und § 81 e StPO nicht
an die Voraussetzungen des § 81 g StPO gebunden. Herr
Kollege Bosbach, Sie kommen also nicht daran vorbei:
Der von Ihnen eingebrachte Antrag wurde schludrig geschrieben. Sie könnten natürlich sagen: Wir haben etwas
anderes gemeint. - Sie haben dann aber das, was Sie
meinten, nicht in den Antrag geschrieben.
Es ist bezeichnend, dass Sie auch in Ihrer Kurzintervention nicht Stellung dazu nehmen, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen Entscheidungen vom Dezember 2000 und März 2001 ein Korsett vorgegeben hat:
Es geht bei diesen Verfahren nicht um Täter, auch wenn
Sie, Herr Kollege Bosbach, es immer wieder sagen, sondern es geht um Beschuldigte. Das Gericht muss erst
feststellen, ob sie Täter sind. Es geht um den Schutz der
Grundrechte aller Betroffenen. Deswegen ist es richtig,
dass wir die Vorgaben der beiden Bundesverfassungsgerichtsurteile auch heute beachten und nicht missachten,
wie Sie es uns empfehlen.
({0})
Nun kehren wir zur gemeldeten Rednerreihenfolge
zurück. Als Nächster hat der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um das Thema „genetischer
Fingerabdruck“ oder „DNA-Analyse“ geht, werden von
interessierter Seite häufig vorschnell Horrorszenarien an
die Wand gemalt. Die Reden meiner beiden Vorredner,
des Kollegen Montag und der Kollegin Piltz, haben dies
wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Da ist die
Rede vom gläsernen Menschen. Da wird uns prophezeit,
dass wir auf dem besten Wege sind, in einer Welt zu leben, wie sie uns George Orwell in dem Bestsellerroman
„1984“ darstellt, in der Big Brother jeden auf Schritt und
Tritt beobachtet und verfolgt.
({0})
Deswegen ist es umso wichtiger, die Debatte zu versachlichen
({1})
und klar zu machen, um was es bei dem Thema „genetischer Fingerabdruck und DNA-Analyse“ tatsächlich
geht und welche Potenziale vor allem darin stecken.
Ich darf Ihnen einmal einen konkreten Fall aus meinem Wahlkreis schildern. In der Nacht vom 10. auf den
11. August 2002 ereignete sich ein brutaler Mord an
Frau Gudrun Wudy in Poing vor den Toren Münchens.
Die Ermittlungsbehörden tappten monatelang im Dunkeln. Im September letzten Jahres konnte der Täter Gott
sei Dank gefasst werden, zur Strecke gebracht werden.
Ausschlaggebend dafür war zunächst einmal, dass er
sich in einem Gespräch mit einem Bekannten selbst verraten hatte. Letztlich entscheidend zur Überführung trug
dann aber der Umstand bei, dass das am Tatort gefundene Spurenmaterial mit seiner DNA übereinstimmte.
Die Bevölkerung in Poing und Umgebung, die über ein
Jahr in Schrecken und in dem Wissen lebte, dass der Täter noch auf freiem Fuß ist und möglicherweise noch
einmal zuschlägt, kann seitdem wieder ruhig schlafen.
({2})
In vielen anderen Fällen hätten Tötungsdelikte oder
Vergewaltigungen verhindert werden können, wenn vom
Täter zu einem früheren Zeitpunkt eine DNA-Analyse
vorgelegen hätte und wenn er bereits früher, als er seine
kriminelle Karriere begann, hätte aus dem Verkehr gezogen werden können.
({3})
Die strafprozessualen Vorschriften, nach denen eine Entnahme und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen zulässig ist, sind bei weitem zu eng.
Es kommt letztlich wirklich auf die Speicherung an.
Herr Kollege Montag, ich darf Ihnen jetzt noch einmal
die entscheidende Passage des § 81 g StPO vorlesen.
({4})
Sie kennen vielleicht das Stilmittel oder auch das pädagogische Mittel der Wiederholung. Vielleicht hilft es bei
Ihnen ja etwas. Ich zitiere:
Zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen
Strafverfahren dürfen dem Beschuldigten, der einer
Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere
eines Verbrechens, eines Vergehens gegen die sexuelle Selbstbestimmung … untersucht werden,
Das heißt, schon für die Untersuchung und nicht erst für
die Speicherung ist Voraussetzung, dass eine Straftat von
erheblicher Bedeutung begangen wurde.
({5})
Auf die Speicherung kommt es aber letztlich an.
Ich kann der Rede der Kollegin Piltz leider Gottes
nicht zustimmen. Aber in einem Punkt kann ich der Kollegin durchaus beipflichten, nämlich in der Forderung,
Stephan Mayer ({6})
dass der Pool, sprich: die DNA-Datei, insgesamt größer
werden muss.
({7})
Wir haben in Deutschland momentan etwas über
300 000 Datensätze. Großbritannien hat über 2 Millionen Datensätze. Je größer der Pool ist, desto größer ist
die Wahrscheinlichkeit, dass ich einen Straftäter dann
auch zur Strecke bringe, wenn ich nämlich das Glück
habe, Spurenmaterial von ihm am Tatort zu finden. Darauf kommt es letztlich an.
Frau Bundesministerin, wir hängen keinen Allmachtsfantasien nach, sondern wir sind für eine effiziente Politik der inneren Sicherheit.
({8})
Sie sind es in diesem Bereich offensichtlich nicht. Für
uns geht tatsächlich Opferschutz vor Täterschutz.
Das Bundeskriminalamt hat einmal, als es noch Zeit
hatte, sich um seine eigentlichen Aufgaben zu kümmern,
und nicht damit beschäftigt war, die Pläne zum Umzug
nach Berlin zu verfolgen, ein Gutachten erstellen lassen,
in dem die Vortaten von 400 Vergewaltigern und Sexualmördern untersucht worden sind. Danach hat jeder der
untersuchten Täter zuvor im Durchschnitt ungefähr
20 Straftaten begangen, meist im kleinkriminellen Bereich. Ferner kam das Bundeskriminalamt zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent aller ermittelten Vergewaltiger
vorher nicht einschlägig, das heißt im gleichen Deliktsbereich aufgefallen sind, sondern sich sozusagen querbeet durch das Strafgesetzbuch schuldig gemacht haben.
Durch eine effiziente und wirkungsvolle Nutzung der
Ermittlungsmethode der DNA-Analyse könnten also im
Vorfeld schwere und schwerste Verbrechen und vor allem größtes Unheil der Opfer vermieden werden.
Deshalb fordere ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren von Rot-Grün und auch von der FDP-Fraktion, auf,
dieses wichtige Thema der Erweiterung der strafprozessualen Anwendungsmöglichkeiten der DNA-Analyse
nicht länger durch die Ideologiebrille zu betrachten,
({9})
sondern wirklich sachgerecht sowie orientiert an modernen und zeitgemäßen Anforderungen an eine effiziente
Strafverfolgung und wirkungsvolle Verbrechensprävention zu diskutieren.
In diesem Zusammenhang muss auch einmal mit der
Mär aufgeräumt werden, dass die Strafverfolgungsbehörden mit allen strafprozessualen Mitteln, die ihnen an
die Hand gegeben werden, unsachgemäß und unverantwortlich umgehen. Dem ist nicht so. Das besagte Bundeskriminalamt hat in einem Gutachten aus dem Jahre
1999 festgestellt, dass nur 14,6 Prozent aller Täter tatsächlich erkennungsdienstlich behandelt wurden. Das
heißt, der überwiegende Teil wird gar nicht erkennungsdienstlich behandelt. Daraus ergibt sich, dass Staatsanwaltschaft und Polizei tatsächlich sehr sorgfältig mit den
strafprozessualen Mitteln umgehen, die ihnen an die
Hand gegeben werden.
Die Strafprozessordnung muss deshalb dringend dahin gehend geändert werden, dass die DNA-Analyse bei
sämtlichen Straftaten, die man im Allgemeinen zur Einstiegskriminalität rechnet, wie auch bei Straftaten im Bereich der Drogenkriminalität, bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, mit sexuellem Hintergrund
und bei Straftaten, die gewerbs- oder bandenmäßig begangen werden, ermöglicht wird.
({10})
Leider Gottes ist es so, dass jeder schwere Junge irgendwann einmal klein angefangen hat.
({11})
Es muss auch damit aufgehört werden, in der Bevölkerung falsche Ängste zu schüren. Der überwiegende
Teil der Bevölkerung ist doch rechtschaffen und gesetzestreu. Ich spreche Gott sei Dank zwar nicht im Sinne
von Vertretern von Rot-Grün oder der FDP-Fraktion,
wenn ich eine Ausweitung und Vereinfachung der DNAAnalyse fordere, bin mir aber sicher, dass ich im Sinne
der gesamten deutschen Bevölkerung spreche, wenn ich
dies fordere.
({12})
Es muss noch eines klargestellt werden: Die molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen, wie sie
derzeit in der StPO vorgesehen ist - nichts anderes fordern ja auch wir -, umfasst lediglich den nicht kodierenden Teil des Genoms; das heißt, die Strafverfolgungsbehörden können keine Rückschlüsse auf Erbanlagen,
Charaktereigenschaften, Krankheiten oder Krankheitsanlagen ziehen.
({13})
Umso wichtiger ist es, dass ihnen durchaus die Möglichkeit gegeben wird, Aussagen über das Geschlecht zu liefern. Wer würde denn ernsthaft auf die Idee kommen, es
einer Strafverfolgungsbehörde zu verwehren, einen Zeugen, der genauso ein Beweismittel wie eine DNA-Analyse ist,
({14})
danach zu fragen, welches Geschlecht der Täter hatte
oder welche Haut-, Augen- bzw. Haarfarbe er hatte. Das
ist in diesem Bereich selbstverständlich. Genauso selbstverständlich sollte das auch bei der DNA-Analyse sein.
Stephan Mayer ({15})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich appelliere deshalb an jeden, dem wirklich an einer effizienten
und wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung gelegen ist und der den Grundsatz, dass Opferschutz vor Täterschutz geht, wirklich ernst nimmt, unseren Antrag anzunehmen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit schöner Regelmäßigkeit und vorzugsweise vor Wahlen - so
auch jetzt kurz vor den Wahlen in Hamburg - beschäftigt
sich die Union mit Schaufensteranträgen zur inneren Sicherheit.
({0})
Dazu gehören Anträge zum Schutz vor Graffiti, worüber
wir ja heute Morgen beraten haben, oder zur Ausweitung
der DNA-Analyse, worüber wir jetzt sprechen. Ich wundere mich, dass nicht noch ein Antrag zur Terrorismusbekämpfung
({1})
oder zum Umgang mit ausländischen Mitbürgerinnen
und Mitbürgern in der Pipeline ist.
Was für ein Ausmaß Ihre Wahlkampfbemühungen
mittlerweile angenommen haben, möchte ich Ihnen einmal anhand der Rede eines Redners von heute Vormittag
({2})
- leider waren Sie, werte Zwischenruferin, nicht dabei hier im Parlament deutlich machen.
({3})
Heute Morgen hat der Justizsenator aus Hamburg zum
Thema Graffitibekämpfung, einem sehr wichtigen
Thema, gesprochen. Er hat es tatsächlich geschafft, völlig losgelöst von dem Verdacht, eine Wahlkampfrede zu
halten, den Bogen von Graffitibekämpfung bis hin zur
DNA-Analyse bei Sexualstraftaten zu spannen.
({4})
Wer dieses Parlament so missbraucht, um Wahlkampf in
eigener Sache zu machen, der entlarvt sich selbst.
({5})
Sie mit Ihrem Antrag haben das unterstützt.
Der Herr Kusch hat aber in seiner Rede auch in peinlichster Weise seine Unkenntnis dokumentiert. Er hat
nämlich gesagt, dass es endlich Zeit werde, dass der Antrag aus dem Land Baden-Württemberg, der eine Ausweitung der Anwendung der DNA-Analyse auch bei
Sexualstraftaten vorsieht, umgesetzt werde. Ich frage
mich, was dieser Justizsenator macht, außer in Wahlkampfsachen zu tingeln.
({6})
Denn er hat offensichtlich nicht mitbekommen, dass genau dieser Punkt bereits im letzten Jahr ins Gesetzblatt
gekommen ist und zum 1. April 2004 - die Frau Ministerin hat schon darauf hingewiesen, aber das wird hier
offenbar nicht zur Kenntnis genommen; auch mein Vorredner hat das noch immer nicht verstanden - in Kraft
treten wird.
({7})
Meine Damen und Herren von der Union, ich rate Ihnen
wirklich, manchmal nicht nur ins Gesetz, sondern auch
ins Gesetzblatt zu schauen; auch dort steht einiges.
({8})
Aber daran zeigt sich, dass es um Wahlkampf geht.
Man ignoriert völlig all das, was längst geregelt ist, und
fordert weiter munter drauflos. Die gesamtdeutsche Bevölkerung wird das schon nicht merken, weil sie wahrscheinlich nicht ins Gesetzblatt schaut.
Ich möchte jetzt ganz konkret einige Punkte aus Ihrem Antrag, der so sinnlos und überflüssig wie ein Kropf
ist, ansprechen. Das, was Sie fordern, wird bereits in
dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung geregelt.
({9})
Der Katalog der Anlassstraftaten in § 81 g StPO ist
schon erheblich erweitert worden. Dieser Punkt kann
also als erledigt erklärt und abgehakt werden.
Nach dem neuen Gesetz - ich kann es nur immer wieder zum Nachlesen empfehlen - können auch DNAAnalysen zum Zweck künftiger Strafverfahren zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zur Hilfe genommen werden, ohne dass die Anlassstraftat von erheblicher Bedeutung sein muss. Endlich werden also
auch die Exhibitionisten, die Ihnen offensichtlich schlaflose Nächte bereitet haben, von dieser Regelung erfasst - erledigt, abgehakt. Doch auch das fordern Sie mit
Ihrem Antrag; Sie ignorieren die bestehende Rechtslage.
Ebenso ist bereits jetzt in § 81 e und g eindeutig geregelt, dass im Rahmen einer zulässigen molekulargenetischen Untersuchung zum Zweck anhängiger Verfahren
oder der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren - Herr Mayer, vielleicht hören Sie jetzt einmal zu auch das Geschlecht der betroffenen Person festgestellt
werden darf. Das steht alles bereits im Gesetz und ist damit erledigt.
Zu welchem anderen Zweck also ist dieser Antrag
eingebracht worden als zu Wahlkampfzwecken? Ich
denke, dieses Thema ist zu wichtig und diese Maßnahme
ist zu bedeutend, als dass man sie so missbrauchen
sollte.
({10})
Sie versuchen hier offensichtlich, sich mit Ihrem Partner
in Hamburg, dem Senatskollegen von der Schill-Partei,
ein Wettrennen um die schärfere Innenpolitik zu liefern.
Ich weiß nicht, ob das wirklich angebracht ist.
Die DNA-Analyse ist in jüngster Zeit zu Recht geradezu als Wundermittel einer effizienten Verbrechensaufklärung gefeiert worden. Der Kollege von der CDU/
CSU hat anschaulich ein ganz bedeutendes Beispiel geliefert. Aber diese Ermittlungsergebnisse konnten aufgrund der bestehenden Rechtslage erreicht werden und
nicht aufgrund irgendwelcher Luftschlösser oder Forderungen, die man hier in den Raum stellt. Das heißt, so
schlecht kann die Rechtslage gar nicht sein, wenn sie zu
solch richtigen und wichtigen Fahndungserfolgen führt.
Das muss man hier einmal deutlich sagen.
Deswegen möchte ich hier feststellen, dass die Forderung einer Ausweitung der gesetzlichen Möglichkeiten
nur aus populistischen Gründen erhoben worden sein
kann. Denn bereits jetzt ist im DNA-Identitätsfeststellungsgesetz - die Frau Ministerin hat schon darauf hingewiesen; auch dieses Gesetz empfehle ich zur Lektüre,
bevor man sich hier hinstellt und Forderungen erhebt ein Katalog mit 41 Straftaten festgeschrieben. Die immer wieder angesprochenen Betäubungsmitteldelikte
sind doch nicht losgelöst von anderen Delikten, sondern
in der Regel in der organisierten Kriminalität zu finden,
und da haben Sie bereits jetzt die entsprechenden Möglichkeiten. Vielleicht aber haben Sie im Sinn, dass jeder,
der einmal mit einem Joint angetroffen wird, in Zukunft
ebenfalls erfasst wird. Da haben wir natürlich eine andere Vorstellung. Wir glauben nicht, dass es geboten ist,
diese „Täter“ sofort zu erfassen. Jemand, der einen Joint
bei sich hat, ist für mich nicht gleich ein Täter;
({11})
das möchte ich Ihnen, Herr Bosbach, gleich sagen.
Wir brauchen keine Ausweitung; denn die Rechtslage
ist so gut, dass mit ihr gute Fahndungserfolge erreicht
werden können.
Ich möchte mich auch sehr deutlich gegen die Aufhebung des Richtervorbehalts aussprechen.
({12})
Die Prüfung durch einen Richter als bürokratisches
Hemmnis darzustellen und es entsprechend in dem Antrag zu formulieren halte ich für eine Unverfrorenheit
und eine Unverschämtheit gegenüber diesem Berufsstand. Ich glaube, es ist nicht angebracht, die Angehörigen dieses Berufsstandes so zu verunglimpfen.
({13})
Darf der Kollege Bosbach eine Zwischenfrage stellen?
Ich möchte nicht aus der Reihe tanzen. Außerdem
habe ich heute seine Ignoranz kennen gelernt. Ich glaube
daher nicht, dass seine Frage zur Aufklärung beitragen
würde.
({0})
Teilweise wurde kritisiert, dass die Richter zu selten
DNA-Analysen anordnen. Dazu muss ich sagen: offensichtlich zu Recht; denn sie werden den Sachverhalt genau geprüft und einen sachlichen Grund für ihre Entscheidung haben. Man kann ihnen dieses Verhalten nicht
vorwerfen. Deswegen sage ich: Finger weg!
Die Debatte über diesen Antrag - in diesem Zusammenhang einen sehr herzlichen Dank für Ihre sehr sachliche und informative Rede, Frau Ministerin - hätte dazu
führen können, dass wenigstens bei einigen Kolleginnen
und Kollegen Informationsdefizite behoben werden.
Aber man muss sagen, Sie sind beratungsresistent. Sie
bringen immer wieder die gleichen Anträge ein und wiederholen Ihre Forderungen gebetsmühlenartig, wenn es
irgendein Wahlkampf erforderlich macht. Sie glauben
doch nicht, dass die Menschen Ihnen abkaufen, dass Ihre
Anträge aus Sorge um die innere Sicherheit und nicht zu
Wahlkampfzwecken gestellt werden.
({1})
Damit werden Sie nicht durchkommen.
Vielen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Göbel
das Wort.
({0})
Frau Kollegin Lambrecht, zunächst einmal bitte ich
Sie, einfach zur Kenntnis zu nehmen, dass wir keinen
Richtervorbehalt bei anonymen Tatspuren wollen.
Sie haben darauf hingewiesen, der Antrag sei sinnlos
und überflüssig wie ein Kropf.
({0})
Eine Delegation des Innenausschusses war bei Interpol
in Lyon. Dort ist das Thema DNA-Analyse ausführlich
erörtert worden. Herr Kollege Hofmann, der neben Ihnen sitzt, hat an dieser Reise teilgenommen.
Es ist von Interpol ausdrücklich darauf hingewiesen
worden, wie wichtig das Instrument der DNA-Analyse
bei der weltweiten Aufklärung von Verbrechen ist.
({1})
Es ist ebenfalls darauf hingewiesen worden, dass von
181 Ländern, die Interpol angehören, 127 Länder dieses
Instrument nutzen und es ständig ausbauen,
({2})
was zu einem sehr großen Erfolg bei der Verbrechensbekämpfung führt.
Die Experten von Interpol haben auch den Antrag der
CDU/CSU zum Gegenstand einer ausführlichen Erörterung gemacht. Es wurde darauf hingewiesen, dass dieser
Antrag sehr sinnvoll ist, dass die in ihm aufgestellten
Forderungen der Aufklärung von Verbrechen weltweit
dienen und dass Interpol diesen Antrag ausdrücklich unterstützt. Das ist nachzulesen im Reisebericht, der im Sekretariat des Innenausschusses ausliegt.
Es ist also sehr verwunderlich, Frau Kollegin, dass
Sie sich dieser Bewertung der internationalen Experten
nicht anschließen können und unseren Antrag ablehnen.
({3})
Zur Erwiderung, Frau Lambrecht.
Mich verwundert Ihre Einschätzung, die Sie gerade
vorgetragen haben, überhaupt nicht. Sie bezieht sich sicherlich auf die Teile des Antrags, die in dem Gesetz,
das am 1. April 2004 in Kraft tritt, schon enthalten sind.
Diese Punkte haben auch wir als richtig erkannt und in
dem Gesetzentwurf berücksichtigt. Deswegen kann ich
nur sagen: Richtige Einschätzung in Bezug auf diese
Punkte.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2159 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit
Wetzel, Klaus Brandner, Gerd Andres, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Werner Schulz ({1}),
Volker Beck ({2}), Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung von Standort und Know-how des
deutschen Seeschiffbaus
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({3}), Karl-Josef Laumann,
Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetterlage in sicheres Fahrwasser leiten
- Drucksachen 15/1575, 15/1101, 15/1930 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Margrit Wetzel das Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Kreuzfahrtmarkt wieder im Aufschwung“, „LNGSchifffahrtsmarkt wird noch bis 2010 boomen“ wird im
„Täglichen Hafenbericht“ getitelt. „Positive Entwicklung des europäischen Schiffbaus“, „verbesserte Ausgangslage für deutsche Werften“, „optimistische Zukunftsperspektiven für den Schiffbau“ heißt es in den
Medien. Die Entwicklung der Auftragslage im letzten
Quartal 2003 zeigt, dass das neue Konzept „Leader Ship
2015“ der europäischen Werften genau richtig ist. Denn
darin wird nicht nur auf den technischen, hochkomplexen und innovativen Spezialschiffbau gesetzt, der die
Entwickler, Techniker und Ingenieure weit mehr fordert
als die Stahlbauer. Darin wurde auch rechtzeitig die aktuelle Lage auf dem Schifffahrtsmarkt vorausgesehen.
Die Kapazitäten der asiatischen Werften sind zurzeit voll ausgelastet. Leider sind auch die Aufträge für
die richtig großen, interessanten Post-Panamax- und Aframax-Schiffe in Asien gelandet. Die Frachtraten haben
sich erholt. Das anhaltende chinesische Wirtschaftswachstum sorgt für ein deutlich erhöhtes Ladungsaufkommen, von dem auch deutsche Reeder und deutsche
Häfen, allen voran Hamburg, profitieren. Die Verschärfung der EU-Sicherheitsbestimmungen sorgt für eine
deutliche Verstärkung der Nachfrage im Tankerneubau.
Die Kehrseite der Auslastung asiatischer Großwerften
ist, dass deutlich mehr Aufträge selbst für einfachere
Containerschiffe nach Deutschland gehen. Korea wird
durchaus zum Wettbewerber im Spezialschiffbau. Aber
wir sind insofern auf der sicheren Seite, als der Containerschiffbau in Deutschland noch immerhin etwa
50 Prozent der gesamten Neubaukapazitäten ausmacht.
Für die nächsten zwei bis drei Jahre scheint die Beschäftigung bei vielen deutschen Werften gesichert.
Kurzarbeit wurde zurückgenommen; stillgelegte Helgen
werden reaktiviert. Unsere Werften können auf vorhandene Baupläne zurückgreifen; reine Beschäftigung ist
angesagt. Das begeistert die Werften und die dort Beschäftigten nicht unbedingt. Aber Beschäftigung ist unverzichtbar und macht zumindest zufrieden. Zur Erhaltung einer angemessenen Zahl von Arbeitsplätzen auf
den deutschen Werften ist das, auch wenn es erhebliche
Zugeständnisse der Werftarbeiter verlangt, unverzichtbar.
Gewerkschaften und Werftarbeiter haben wieder einmal geradezu vorbildlich bewiesen, wie flexibel sie, aber
auch das Tarifrecht sind.
({0})
- An dieser Stelle würde ich nicht unbedingt klatschen,
Herr Börnsen.
({1})
- Ja, ja. - Haustarife und Ergänzungsvereinbarungen
werden schon einmal zu bitteren Pillen. Die richtige Dosierung wirkt heilend, manchmal sogar lebensrettend.
Aber ein Zuviel - das wird der Grund dafür sein, warum
Sie geklatscht haben; ich kann da die IG Metall nur warnend unterstützen - kann auch lebensbedrohend werden.
„Wir können zufrieden sein“, das kann mit Fug und
Recht aber auch die Bundesregierung sagen. Herr
Börnsen hat in seinem Antrag im Juni 2003 noch nahezu
den Weltuntergang beschworen. Im September haben
Sie uns dahin gehend beschimpft, wir hätten die Regierung in unserem Antrag über den grünen Klee gelobt.
Heute können wir feststellen, dass das absolut richtig
und gut war. Denn die Bundesregierung ist ausgesprochen erfolgreich gewesen. Unsere Einschätzung der
Situation war richtig; da beißt nun einmal die Maus keinen Faden ab.
Die Beihilfefrage auf EU-Ebene ist praktisch geklärt. Die Regierung hat rechtzeitig deutlich mehr Mittel
für Nothilfen gegen koreanische Kampfpreise zugesagt,
und zwar so rechtzeitig, dass die Aufträge noch angenommen werden konnten. Wir haben diese erhöhten
Mittel in den Haushalt eingestellt.
({2})
Es ist gut, dass sich die deutschen Werften, wenn sie von
Bundesrat und Opposition verlassen werden, an dieser
Stelle auf die Koalitionsfraktionen verlassen können. Da
wir den Haushalt mit unserer Mehrheit beschließen werden, können diese Mittel dann auch fließen.
Über die Verlängerung der befristeten Schutzmaßnahmen über den 31. März 2004 hinaus, und zwar für
die gesamte Laufzeit der WTO-Klage, die ja bedauerlicherweise noch etwas Zeit in Anspruch nimmt, gibt es
zumindest - wenn auch keine Kollegialentscheidung der
Kommission - eine Verständigung unter den wesentlichen Kommissaren, sodass wir uns darauf verlassen
können, dass diese Frage geklärt ist.
Auch der Streit um die Landesbürgschaften für die
Bauzeit und die Endfinanzierung der Schiffe, der sehr
heftig getobt hat, ist seit Ende Dezember beendet. Sie
wurden von der EU-Kommission - übrigens mit deutlichem und ausdrücklichem Lob der Kommission für die
Zusammenarbeit zwischen den deutschen Behörden und
den Dienststellen der Kommission; das sollte man sich
gut merken - anerkannt. Die Regelungen wurden leicht
modifiziert, und zwar so, dass unterschiedliche Risiken
jetzt auch mit unterschiedlichen Prämien gesichert werden. Das muss kostendeckend sein; das ist völlig klar.
Ich denke, dass ist für uns mit Blick auf Basel II selbstverständlich auch akzeptabel. Die Befristung bis Ende
2006 ist ebenfalls legitim; denn es ist völlig okay, dass
wir nachweisen, dass diese Regelung keinen Beihilfecharakter hat, dass sie wirkt und dass sie unverzichtbar
ist. Diese klaren Rahmenbedingungen für die Schiffsfinanzierung stärken die maritime Wirtschaft.
Ein anderer Punkt ist die anwendungsorientierte Innovationsförderung, die schon seit langem von der Industrie gefordert wurde. Auch sie ist endlich EU-gesichert; das Wirtschaftsministerium legt gerade das
entsprechende Förderprogramm auf. Ich gehe davon aus,
dass damit die ostdeutschen Werften deutlich gestärkt
werden; sie haben ja in Bezug auf den Weltschiffbaumarkt immer noch geradezu abstruse Kapazitätsbeschränkungen, auch wenn wir da schon etliches erreicht
haben. Auch gehe ich davon aus, dass gerade diejenigen
unserer Werften davon profitieren werden, die in den
letzten Jahren - in unglaublich widrigen Zeiten - alles
daran gesetzt haben, wirklich innovativ Fortschritt zu
machen. Wir haben Werften, die Forschung und Entwicklung, Umweltschutz, Effizienz und Sicherheit ganz
groß geschrieben haben, Werften, die im Weltschiffbau
wirklich Vorreiter sind, die aber nicht von den Möglichkeiten, Beihilfen zu bekommen, profitieren, weil es für
diese innovativen Schiffbausegmente eben keine Beihilfen gibt. Für diese Werften muss man meines Erachtens
ganz klar etwas tun. Insofern haben wir mit dem, was
wir erreicht haben, eigentlich rundherum gute Aussichten.
Für die maritime Wirtschaft hat die Bundesregierung
sich ausgesprochen energisch und sehr erfolgreich eingesetzt. Das Maritime Bündnis - die enge Abstimmung
zwischen Wirtschaft und Politik, in einem ständigen Dialog - zeigt, wie wichtig diese enge Abstimmung ist,
wenn man in der Praxis Erfolg haben will.
Eine andere Frage ist, ob man sich auf diesem Ergebnis ausruhen kann. Da sage ich ganz klar: Nein, das können wir auf gar keinen Fall. Die Situation in Korea, die
wir hier im Deutschen Bundestag immer wieder diskutiert haben, ist im Prinzip unverändert dramatisch: Auch
der Siebte Schiffbaubericht der EU-Kommission vom
Sommer des letzten Jahres hält erneut fest, dass Korea
Schiffe inzwischen durchschnittlich um mehr als
20 Prozent unter dem normalen Preis anbietet. Korea
verkauft seine Schiffe immer noch, trotz der ständigen
Interventionen, zu Preisen, die nicht einmal die Produktionskosten decken. Koreanische Werften kalkulieren
immer noch nur mit direkten Betriebskosten und berücksichtigen zum Beispiel keine Inflations- oder Finanzierungskosten. Das ist ein Zustand, der einfach nicht haltbar ist.
Das Streitbeilegungsverfahren vor der WTO muss
deshalb zügig vorangetrieben werden. Wir wissen, dass
Verzögerungen eintreten, weil Korea eine Gegenklage
erhoben hat. Wir gehen aber davon aus, dass mit Nachdruck an diesem Verfahren gearbeitet wird und die Entscheidung hoffentlich bald kommt, insbesondere weil
der Ausgang der WTO-Klage natürlich auch Einfluss auf
das neue OECD- bzw. - besser - das neue Weltschiffbauabkommen haben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass
dieses Weltschiffbauabkommen seit etwa zwei Jahren
ganz intensiv beraten wird. Wir brauchen es dringend für
die europäischen Werften. Wichtig ist aber, dass daran
eben nicht nur die OECD-Länder beteiligt sind, sondern
auch China und Korea - um nur die größten Wettbewerber zu nennen; beide Länder sperren sich noch. In diesem Abkommen sollen ja weltweite Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb ausgehandelt werden;
dazu gehören natürlich eine allgemein verbindliche
Preiskalkulation, dazu gehören auch ganz eindeutig
Antidumpingvorschriften und Sanktionsmechanismen.
Dass die beiden letzten Punkte gerade bei Korea nicht
auf Begeisterung stoßen, ist klar; auch China haben wir
noch nicht komplett im Boot. Ich finde es aber wichtig,
dass sich beide Länder an den Verhandlungen beteiligen,
und wir sind sicher einig darin, dass diese Verhandlungen und Gespräche auch dazu genutzt werden müssen,
auf diese Länder Druck auszuüben und ihnen nicht die
Chance zu eröffnen, den Abschluss dieses Weltschiffbauabkommens zu verzögern.
Ich gehe davon aus, dass bis spätestens Ende 2005 sowohl das Ergebnis der Klage als auch das OECD-Abkommen vorliegen werden. Aber selbst wenn wir dieses
Abkommen haben, können wir uns darauf nicht ausruhen. Es wäre schön, wenn es so wäre. Das Problem ist
die chinesische Konkurrenz, vor der wir seit langem
gewarnt werden. Ich zitiere hier nur Frank Teichmüller
von der IG Metall, der meines Erachtens völlig Recht
hat, wenn er sagt, dass sich der europäische Schiffbau
letztlich in China entscheidet.
In Korea verbessert sich zwar langsam das Lohnniveau. In China sind die Löhne aber immer noch um
30 Prozent niedriger als bei den asiatischen Nachbarn.
China hat seinen Marktanteil im Schiffbau innerhalb
kürzester Zeit verdoppelt und sich für 2005 das Ziel gesetzt, einen Anteil von 20 Prozent am Weltmarkt im
Schiffbau zu erreichen. Für 2030 strebt es 40 Prozent
und damit die Weltmarktführerschaft an.
Wer sich an das japanische Industrial Targeting erinnert, der glaubt nicht nur, dass die Chinesen das erreichen werden, worauf sie abzielen, sondern weiß, dass es
so kommen wird. Chinesische Banken sind schon heute
die Nummer eins in der Schiffsfinanzierung. China gibt
aktuell finanzielle Anreize für den Tankerneubau. Wir
wissen am Beispiel Japan, was das für chinesische Werften bedeutet.
Die Bedingungen für China könnten nicht besser sein.
Es ist ein Riesenland mit einem robusten Wirtschaftswachstum, das ein hohes Ladungsaufkommen garantiert.
China ist im Einfachschiffbau erfahren, auch wenn die
Standards noch relativ gering sind.
Schiffbau ist eine Schlüsselindustrie für diverse andere technische Bereiche. Die Chinesen setzten ganz gezielt auf Modernisierung und Ausbildung. Sie suchen die
Kooperation mit den ausländischen Handelspartnern. Sie
haben zum Beispiel in Shanghai eine riesige, moderne
Werft gebaut. Wer wollte denn ernsthaft die Kooperation
mit China verweigern? Handel, wirtschaftliche Entwicklung und die Angleichung der rechtlichen Rahmenbedingungen führen doch automatisch auch zu Veränderungen
in der Menschenrechtsfrage in China. Wer von uns kann
sich da einer fairen Kooperation verweigern?
Auf der anderen Seite drückt bei uns der Mangel an
Ingenieuren in vielen Betrieben auf die Wettbewerbsfähigkeit. Wir sehen, dass wir hier verstärkt etwas tun
müssen. Deshalb ist eine der wichtigsten Absichten im
Konzept „Leader Ship 2015“, nicht nur auf Forschung
und Entwicklung und den Spezialschiffbau zu setzen,
sondern in jedem Fall auch Beschäftigung zu sichern.
Das heißt: das eine tun und das andere nicht lassen, damit wir China eine europäische Position entgegensetzen
können.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Regierung und
Koalitionsfraktionen tun sehr einvernehmlich alles, was
machbar ist, um unsere Schiffbauindustrie kurz-, mittelund langfristig zu stützen. Das wird auch von den Betroffenen so gesehen und anerkannt. Das Lob der maritimen Industrie, das hier meines Erachtens durchaus aufrichtig und ehrlich ist, tut gut und ist auch wichtig.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer ziehen an einem
Strang. Kooperationen und Verbünde in der Industrie
sorgen für mehr Wirtschaftlichkeit. Auftragspakete werden untereinander verschoben, um die Beschäftigung in
möglichst vielen Betrieben zu sichern. Das ist unheimlich wichtig. Vom ständig expandierenden Welthandel
profitieren die Zulieferindustrie, die gesamte vielfältige
Hafenwirtschaft, die Reeder und nicht zuletzt auch die
Schiffsfinanzierer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 35 Prozent des
Weltschiffbaus werden mit deutschem Geld finanziert.
35 Prozent der Welthandelsflotte werden von deutschen
Reedern beherrscht; das sorgt für Wertschöpfung. Aber
der Anteil des deutschen Schiffbaus am Weltmarkt liegt
gerade einmal bei 5 Prozent. Das, denke ich, ist beschämend.
Ich meine, wir sollten von den Asiaten lernen, all die
positiven Kräfte, die bei uns sind, zusammen wirken zu
lassen, unseren wirtschaftlichen und politischen Einfluss
mit Nachdruck geltend zu machen und Verbündete für
einen fairen Weltschiffbaumarkt zu finden, auf dem jede
Schiffbaunation einen angemessenen Anteil am Kuchen
bekommt.
Das Maritime Bündnis ist keine Spielwiese, auf der
die Bundesregierung stets unter Beweis stellt, dass sie
alles tut, um die maritime Wirtschaft und den Standort
Küste in Deutschland zu sichern. Sie tut das und das ist
gut so. Aber Vernetzung und Kooperation müssen meines Erachtens auch Selbstbindungen bei den Schiffsfinanzierern und den Reedern bewirken. Unsere Schiffbauer brauchen keine Subventionen. Unsere Schiffbauer
brauchen Aufträge auf einem fairen Weltmarkt.
Japanische Reeder bestellen mit japanischem Geld in
Japan gebaute Schiffe. Chinesische Reeder bestellen mit
chinesischem Geld in China gebaute Schiffe. Deshalb
appelliere ich mit Nachdruck an unsere Finanziers und
Bereederer, sich mit den von ihnen gehaltenen 35 Prozent an diesem Gesamtkuchen ein Beispiel daran zu nehmen. Diese 35 Prozent müssen zu einem politischen Einfluss werden. Wir dürfen die Ressourcen nicht
multifokal verteilen, sondern wir müssen sie bündeln
und unsere Kräfte gezielt einsetzen. Eine starke Wirtschaft muss auch dafür sorgen, dass die Politik in ihrer
Unterstützung stark ist.
Von Politikern - lassen Sie mich das zum Abschluss
sagen - wird immer wieder erwartet, Visionen zu haben.
Kann man in diesem Bereich und bei einer so starken
Konkurrenz mit Recht Visionen haben? Ich glaube, ja. In
Wilhelmshaven planen wir im Moment den WeserJade-Port. Das wird ein Hafen, in dem Megaschiffe abgefertigt werden können. Wir setzen darauf, dass das
einen richtigen Aufschwung auslöst. Warum wird eigentlich bei uns nicht wie in China und in Korea von den
entsprechenden Werften geplant, gemeinsam eine Megawerft zu bauen? Ich finde, das wäre eine Vision. Insofern
sage ich: Packen wir es an!
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Börnsen, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Unsere Bundesregierung betreibt, was das Wirtschaftsministerium angeht, zurzeit eine U-Boot-Strategie. Alle
sind abgetaucht, keiner ist mehr da: weder der Wirtschaftsminister selbst noch seine Staatssekretäre. Das ist
bei einer so entscheidenden Rede eigentlich schade.
({0})
Das ist vor allen Dingen für diejenigen, die sich mit der
maritimen Wirtschaft beschäftigen, schade. Warum sind
die zuständigen Regierungsvertreter nicht da? Das ist im
Grunde genommen eine Missachtung der Branche. Sie
gehören hierhin.
({1})
Vor genau neun Monaten, im Mai 2003, begann der
schon zitierte Frank Teichmüller, IG-Metall-Vorsitzender des Bezirkes Küste, eine Bilanzpressekonferenz mit
den Worten: Noch nie ging es den deutschen Werften so
schlecht wie in diesem Jahr. Mit 20 681 Direktmitarbeitern wurde der niedrigste Beschäftigungsstand seit
50 Jahren ermittelt. Allein zwischen 2002 und 2003 kam
es zu einem Arbeitsplatzabbau von über 5 Prozent. 1996,
vor sieben Jahren, waren noch 28 250 Frauen und Männer im Schiffbau tätig.
({2})
Das heißt, in sieben Jahren haben 8 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. In keiner vergleichbaren Branche ging es so dramatisch bergab.
Es geht hier nicht um eine Momentaufnahme. Wir
müssen uns um die Struktur eines ganzen Industriezweiges kümmern.
({3})
Aus Sorge um die Existenz eines ganzen Industriezweiges hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Juni 2003
einen entsprechenden Antrag gestellt. Wir sind der Auffassung, dass der deutsche Schiffbau faire Rahmenbedingungen und eine sichere Perspektive braucht. Er
muss raus aus der Schlechtwetterlage!
Auch wenn sich die Auftragsbestände im zweiten
Halbjahr wieder stabilisiert haben, hängt die Zukunft unserer Werften an einer brüchigen Trosse. Die Bauorder
der 32 Seeschiffswerften reichen nur zwischen zwölf
und 22 Monate, Anschlussaufträge fehlen. „Wat is mit
uns Tokunft?“, frogn de Werftarbeiter von de Küst. Wat
schall werrn in Tokunft?
({4})
Weitgehend zu ihren Lasten geht zurzeit die Atempause
in der Werftenkrise. So verzichten in Kiel HDW-Beschäftigte in einer Betriebsvereinbarung auf Urlaubsund Weihnachtsgeld und verlängern ihre Arbeitszeit weit
über die im Tarifvertrag vorgesehene hinaus. Denn nur
unter diesen Bedingungen konnten sie einen Auftrag einer Hamburger Reederei für Containerschiffe bekommen.
Was für das Kieler Ostufer gilt, hat bereits auch von
Flensburg über Hamburg bis Warnemünde Platz gegriffen. Den Werftarbeitern gebührt Dank für ihr Handeln
und für das, was sie im Augenblick leisten.
({5})
Doch unvertretbar ist es, dass auf ihrem Rücken der
Streit über politische Fehler und Versäumnisse ausgetragen wird. Das halten wir für falsch.
Trotz der Aufgeschlossenheit von Betriebsräten und
der IG Metall mussten im vergangenen Jahr vier traditionsreiche Werften in Bremen, Lübeck und Emden ihre
Tore schließen. Sie scheiterten an dem unfairen Wettbewerb im Schiffsbau. Sie scheiterten vielleicht aber auch
Wolfgang Börnsen ({6})
deshalb, weil unsere Werften noch immer nicht ausreichend kooperieren. Ein nationaler Werftenverbund fehlt.
Es stirbt noch immer jede Werft für sich allein.
Wie stellt sich die Lage in dieser Hightechbranche
zurzeit dar? Der Weltschiffbau boomt, Europa aber
dümpelt hinterher. Der Marktanteil der europäischen
Schiffbauer ist von 7 Prozent auf 5 Prozent zurückgegangen. Hauptgewinner der weltweiten Expansion sind
Südkorea und China - das ist bereits gesagt worden -,
die ihre Kapazitäten in den letzten Jahren dramatisch erhöht haben. Während Südkorea vor fünf Jahren noch einen Marktanteil von 30 Prozent verzeichnete, liegt er
heute nach VSM-Angaben bei fast 40 Prozent. China hat
seinen Marktanteil auf fast 10 Prozent erhöht - auch das
wurde bereits gesagt -, will im nächsten Jahr einen
Marktanteil von 20 Prozent erreichen und will Schiffbauer Nummer eins werden. In China ist Schiffbau eine
nationale Angelegenheit, eine Prestigesache. Bei uns
rangiert der Schiffbau dagegen unter ferner liefen. Wenn
China auch bei der Einhaltung der Menschenrechte so
aktiv wäre, dann könnte man die Fortschritte seiner
Werften anerkennen. Angesichts der momentanen Situation geht das aber in keiner Weise.
Insgesamt dominieren die drei asiatischen Länder Korea, Japan und China den Weltschiffbau zurzeit mit
80 Prozent. Europa folgt erst an vierter Stelle, wobei
Deutschland mit fast 4 Prozent aller Aufträge noch immer die Nummer eins unter den EU-Ländern ist. Der
Abstieg der klassischen Schiffbaunationen in Europa
scheint unaufhaltsam voranzuschreiten, allen voran leider der von Deutschland. Viele Jahrzehnte waren wir die
drittstärkste Schiffbaunation mit einem Anteil von fast
20 Prozent. Seit Jahren verlieren wir aber Marktanteile.
Darüber kann auch der leichte Aufwärtstrend im Jahr
2003 nicht hinwegtäuschen.
Dabei sind die deutschen und die europäischen Werften international wettbewerbsfähig. Hier wird Spitzentechnologie produziert. Die Werften waren jedoch zu
lange Stiefkinder der EU-Politik und wurden in der Vergangenheit zu häufig politischen Eskapaden ausgesetzt.
So hat sich die Landesregierung von Schleswig-Holstein
über Jahre hinweg geweigert, ihren Anteil an der Wettbewerbshilfe voll zu bezahlen. Der Konkurs der Lübecker Flender-Werft war eine Folge dieser sprunghaften
Politik.
Die Ursachen für den dramatischen Rückgang im
deutschen und im europäischen Schiffbau sind nicht bei
den Unternehmen alleine zu suchen. Unsere Werften betreiben hochmodernen Hightech-Schiffbau. Hier arbeiten fleißige, motivierte und qualifizierte Frauen und
Männer. Sie sind durchaus bereit, für die Zukunftsfähigkeit ihrer Arbeitsplätze Opfer zu bringen.
Nach einer Hamburger Studie werden auf deutschen
Werften 35 Wochenstunden, in Korea 42 Wochenstunden und in der Volksrepublik China 44 Wochenstunden
gearbeitet. Doch die eigentliche Ursache für den Einbruch in dieser Branche liegt nicht in den unterschiedlichen Arbeitszeiten, sondern in den unfairen politischen
Rahmenbedingungen. Der Wettbewerb auf dem Weltschiffbaumarkt befindet sich seit Jahren in einer Schieflage. Diese wird immer stärker. Korea verkauft seine
Schiffe nach Angaben der EU bis zu 20 Prozent unter
den Herstellungskosten. Auch die chinesischen Staatswerften rechnen nicht zu Vollkosten ab und führen ihren
Wettbewerb über den Preis. Sie unterbieten teilweise sogar noch Korea. Ein Reeder, der heute einen 3 000-TEUContainerdampfer ordern will, muss dafür in Korea
40 Millionen Dollar, in Deutschland zwischen 46 und 47
Millionen Dollar bezahlen.
Bei diesem schonungslosen Verdrängungswettbewerb
können die marktwirtschaftlich arbeitenden deutschen
Werften nicht mithalten. Die Einleitung einer WTOKlage gegen Korea durch die Europäische Kommission
war lange überfällig. Sie hätte bereits vor fünf Jahren, als
man die ersten Dumpingbeweise fand, eingereicht werden müssen.
({7})
Mit Rücksicht auf andere Exportbranchen streckt sich
der europäische Stier zwar, aber er rührt sich nicht. Man
weicht einem Handelskrieg aus und verhängt keine
Sanktionen. Dem Stier hat man die Hörner gezogen.
Auch der Bundesregierung kann man den Vorwurf
nicht ersparen, nur halbherzig zum Nachteil des Schiffbaulandes Deutschland gehandelt zu haben. Dadurch,
dass jetzt, während der Klagezeit, befristete Beihilfen für
europäische Werften möglich sind, wird zwar die Branche gestützt, doch es fehlen mittel- und langfristige Perspektiven. Im April läuft das Programm aus. Eine Anschlussförderung ist noch nicht gesichert. Sie wird hoffentlich kommen. Nach unserer Auffassung muss diese
Wettbewerbshilfe nicht nur bis zum Ende des Klageverfahrens aufrechterhalten werden, sondern so lange, bis
die Konkurrenz die Dumpingpreise aufgegeben hat.
Zur Planungssicherheit dieser Branche, die inklusive
ihrer Zulieferer über 100 000 Menschen beschäftigt, gehört auch, dass die Küstenländer einschließlich der Wackelkandidaten Schleswig-Holstein und Hamburg ihre
volle Förderung für den gesamten Zeitraum garantieren.
Wenn wir in unserem Land nicht zu einem wirklichen
Pakt der Vernunft für die maritime Wirtschaft kommen,
dann setzen wir die Existenz einer ganzen Branche aufs
Spiel.
Allerdings können die temporären Schutzmaßnahmen
nicht allein Aufgabe der Küstenländer sein. Über 70 Prozent der Wertschöpfung eines Schiffes findet bei der
Zulieferindustrie statt. Diese befindet sich zu einem
überwiegenden Teil in Bayern, Baden-Württemberg und
Nordrhein-Westfalen. Vom Schiffbau profitiert der gesamte Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Finanzierung der Mittel zu einem Drittel durch den Bund und zu
zwei Dritteln durch die Länder ist nicht mehr gerechtfertigt. Wir brauchen einen neuen Beteiligungsschlüssel.
Im Sinne einer gerechten Verteilung muss er 50 zu 50
betragen.
({8})
Eine weitere Wettbewerbseinschränkung konnte
durch den Einsatz des maritimen Koordinators verhindert werden. Die Landesbürgschaften werden durch die
Wolfgang Börnsen ({9})
EU genehmigt. Das ist ein guter Erfolg. Wir erwarten,
dass aufgrund dessen die Kapazitätsbeschränkungen für
die Ostwerften aufgehoben werden. Ich danke meinen
Kollegen Ulrich Adam und Werner Kuhn für ihre engagierten Einlassungen, dass die Aufhebung dieser Kapazitätsbeschränkungen wirklich Ende 2005 erfolgen
muss. Wir sollten diese Bemühungen insgesamt unterstützen.
({10})
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss. - Man darf nicht vergessen,
dass neben dem Handelsschiffbau natürlich auch der
Marineschiffbau eine große Rolle spielt. Bis 2008 gibt
es noch Aufträge im Marineschiffbau. Dann ist das Ende
der Fahnenstange erreicht. Danach gibt es ein großes
schwarzes Loch. Ich erwarte sehr wohl, dass der Bundesverteidigungsminister bereit ist, Anschlussaufträge
an den Marineschiffbau zu erteilen und dem Parlament
einen entsprechenden konkreten Vorschlag vorzulegen.
Wir brauchen Zukunftssicherheit, ein weltweites Antisubventionsabkommen und volle Kraft voraus für den
deutschen Seeschiffbau.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Börnsen, ich erlaube mir den Hinweis,
dass der Gebrauch des Plattdeutschen in den Aussprachen des Deutschen Bundestages selbstverständlich mindestens genauso willkommen ist wie die Anglizismen,
die jeder für selbstverständlich hält.
({0})
Im Interesse der gewohnten perfekten Protokollführung wäre es nur im Falle längerer Passagen wünschenswert, wenn es einen rechtzeitigen Hinweis gäbe, damit
wir aus unserer hoch kompetenten Stenografenschar die
entsprechenden Experten um die Protokollführung bitten
könnten.
({1})
- Das hatte ich erhofft, Herr Kollege Schmidt.
Ich stelle auch in diesem Punkt eine überfraktionelle
Übereinstimmung fest und erteile nun der Kollegin Anja
Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht
wäre es wirklich gut, wenn Sie einen solchen Kollegen
bestellen würden, da ich dem Herrn Börnsen eventuell
auf Plattdeutsch antworten möchte. - Nein, das hätte ich
jetzt spontan gemacht; also, ich will es nicht tun.
Wir alle kennen die schwierige Situation, in der sich
die deutsche Schiffbauindustrie befindet. Das ist seit vielen Jahren ein Thema. Die Auftragslage in Deutschland
ist schwierig, wenngleich wir im Winter während der
Beratungen im Haushaltsausschuss zur Kenntnis genommen haben, dass sie sich im letzten halben Jahr deutlich
aufgehellt und verbessert hat. Deswegen war es eine
richtige und gute Entscheidung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages, sehr schnell und flexibel zu reagieren und die Möglichkeiten, auftragsbezogene Beihilfen zu nutzen, deutlich zu erhöhen.
({0})
Diese Entscheidung war in Zeiten von Haushaltsknappheit sicherlich nicht einfach. Wir haben sehr schnell reagiert und die Entscheidung einvernehmlich getroffen. Es
war sinnvoll, weil der entsprechende Wirtschaftssektor
dadurch in einem ganz anderen Ausmaß Möglichkeiten
hatte, Aufträge wirklich abzuschließen. Das musste vor
dem 31. Dezember passieren. Das ist uns politisch geglückt und es war eine richtige Entscheidung.
Aber grundsätzlich müssen wir eine ganz besondere
Sorgfalt walten lassen, wenn wir über Subventionstatbestände reden. Ich finde es wichtig und gut, in der Argumentation natürlich auch auf die Dumpingbedingungen hinzuweisen, die uns Korea schon seit Jahren
beschert. Trotzdem müssen wir uns überlegen, wie wir
damit auf Dauer umgehen.
Herr Börnsen, ich plädiere für einen sanften, aber
deutlichen Wechsel weg von dem rein auftragsbezogenen Instrument der Beihilfe hin zu einem Hilfenprogramm unter der Überschrift „Innovation“. Letztlich
müssen wir die Schiffbauindustrie in eine Situation bringen, in der die politischen Rahmenbedingungen nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit dieser Branche verbessern.
Deswegen hat die Regierung den richtigen Weg eingeschlagen. Wir haben im letzten Mai angekündigt, im
Herbst des letzten Jahres beraten und auch im Haushalt
beschlossen, ein neues Innovationsbeihilfeprogramm
mit dem großen Volumen von 60 Millionen Euro für die
Jahre 2004 bis 2007 aufzulegen.
Kollege Börnsen, ich möchte Sie darauf hinweisen,
dass wir bei diesem Innovationsbeihilfeprogramm gänzlich ohne Kofinanzierungspflicht der Länder auskommen. Was wir hier verabredet haben, ist ein erheblicher
Beitrag aus dem Bundeshaushalt mit dem richtigen Impuls für Innovation. Es ist, glaube ich, von der betroffenen Industrie auch positiv aufgenommen worden.
({1})
Ich warne davor, dieses neue Beihilfeprogramm zu
sehr mit dem alten Programm in Konkurrenz zu setzen.
Wir haben jetzt eine Deckungsfähigkeit hergestellt. Das
bedeutet, dass es, falls die traditionellen auftragsbezogenen Beihilfen noch erforderlich sind, auch über den März
2004 hinaus die Möglichkeit geben soll, aus diesem
neuen Topf dafür Mittel in Anspruch zu nehmen, weil
wir die Werften unterstützen wollen. Aber wir müssen
zukünftig wirklich darauf setzen, den Innovations- und
Modernisierungsimpuls zu verstärken. Es ist mir wichtig,
darauf hinzuweisen.
Sie haben sich sehr kritisch zur Entscheidung der
schleswig-holsteinischen Landesregierung geäußert.
Nach meiner Kenntnis hat Hamburg - ich bin Hamburgerin und habe während der Regierungszeit von RotGrün in Hamburg von 1997 bis 2001 im Haushaltsausschuss dort mit entschieden - immer den vollen Zweidrittelbetrag gezahlt. Schleswig-Holstein hatte Haushaltsprobleme und konnte das zeitweise nicht.
({2})
Der Hamburger Wirtschaftssenator Uldall, Ihr ehemaliger Kollege aus der Bundestagsfraktion der CDU/CSU,
hat in diesem Winter lange Zeit gezaudert, und zwar
nicht aus haushälterischen Gründen,
({3})
sondern weil er Einfluss nehmen wollte auf die Bezahlung und die Tarife der Werftindustrie. Er hat sich lange
geweigert, diesen Beitrag Hamburgs zu zahlen.
({4})
- Jetzt zahlt Hamburg, weil ordentlich Druck gemacht
wurde. Ich wollte nur einmal die Gemengelage aufzeigen und deutlich machen, wie auf der Länderseite entschieden wird.
Ich glaube, es ist wichtig und richtig, wie ich schon
ausgeführt habe, dass wir ein Innovationsbeihilfeprogramm auflegen. Ich will nicht verhehlen, dass wir Grünen natürlich darauf setzen, dass dabei auch umweltfreundliche Antriebstechnologien wie Biotreibstoffe und
andere Antriebe erforscht und eingesetzt werden.
Man kann durchaus sagen, dass der deutsche Schiffbau unter dem Aspekt der Schiffsicherheit und der Umweltstandards sehr wettbewerbsfähig ist.
Wir wünschen uns, dass dieser Wirtschaftszweig dauerhaft wettbewerbsfähig wird. Wir unterstützen alle Anstrengungen, die Dumpingpraxis Südkoreas auf dem
Verhandlungswege zu bekämpfen. Ich werbe in dieser
Debatte dafür, weiterhin zu berücksichtigen, dass wir
von staatlicher Seite nicht mit Regelungen und Steuergeldern alle Probleme eines weltweiten Wettbewerbs lösen können.
({5})
Ich bitte bei diesem Thema um Ehrlichkeit. Wenn wir
über Subventionsabbau reden, den als abstrakten Begriff
alle unterstützen, dann müssen wir auch traditionelle
Subventionstatbestände kritisch unter die Lupe nehmen.
Diese Debatte war in diesem Sinne bisher sehr sachlich.
Ich hoffe, dass wir bei diesem innovationsorientierten
Beihilfeprogramm, mit dem wir die zukünftig traditionellen Subventionen ablösen wollen, Ihre Unterstützung
finden. Das wäre in der Sache angemessen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann nahtlos an das anknüpfen, was Sie,
Frau Hajduk, gesagt haben. Im Protokoll der Ausschussberatung steht: Einigkeit bestand zwischen den Fraktionen
dahin gehend, dass der deutsche Schiffbau grundsätzlich
bis zur Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen und
Überwindung der Preisdumpingpolitik einiger Staaten
weiterhin Wettbewerbshilfe bekommt. Mit dieser Wettbewerbshilfe wird bei der Forschungs- und Innovationsförderung eine Neuausrichtung angestrebt.
Das ist eine alte, richtige und sehr berechtigte Forderung der FDP. Frau Hajduk, Sie müssen aber genau hinsehen. Eines der innovativsten Unternehmen in diesem
Bereich ist in meiner Heimatstadt Papenburg. Es nutzt
durchaus die Förderprogramme der EU. Trotzdem hat
dieses Unternehmen auf dem Markt enorme Schwierigkeiten. Frau Dr. Wetzel, es tut mir schon ein bisschen
weh, wenn Sie erzählen, wie toll alles in diesem Bereich
ist. Dazu sage ich Ihnen, dass allein bei der Meyer Werft
in Papenburg im letzten Jahr Hunderte von Leuten ihre
Arbeit verloren haben. Ich finde, man sollte sich hier
nicht so unreflektiert äußern und all das, was die Bundesregierung macht, als super und klasse bezeichnen. Es
ist eben nicht so, dass die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen uns wirklich voranbringen.
Das muss man hier einmal kritisch anmerken.
({0})
Frau Dr. Wetzel, ich habe mir hier einiges aufgeschrieben. Ich bin über Ihre Ausführungen ein wenig irritiert. Ich habe mich während Ihrer Rede die ganze Zeit
gefragt: Was hat das mit Ihrem Antrag zu tun? In Ihrem
Antrag steht von den Dingen, die Sie angesprochen haben, im Grunde genommen gar nichts.
({1})
Nicht an einer einzigen Stelle Ihres Antrages werden Sie
konkret. In Ihrem Antrag heißt es immer nur: Der Deutsche Bundestag begrüßt, unterstützt, kennt, weiß und
will helfen. Ich nenne Ihnen einige Bereiche, wo Sie hätten konkret werden können, nämlich die in dem Antrag
der FDP genannten Punkte. Einer ist die Forderung nach
einer veränderten Verteilung der Kosten von einem und
zwei Drittel zwischen Berlin und den Küstenländern, die
ungerecht ist.
({2})
- Wenn Sie etwas fragen wollen, dann seien Sie so
freundlich und melden sich. Unsere Forderung nach einer Neugestaltung der Schiffbauhilfen im Verhältnis von
50 zu 50 zwischen Berlin und den Ländern haben Sie abgelehnt.
Man muss das, was Sie angesprochen haben, vernetzt
betrachten. Es geht hier nicht nur um die Seeschifffahrt,
sondern hier spielen mehrere Faktoren zusammen. Es
geht um die Binnenschifffahrt, die Häfen und die Seeschifffahrt. Auch hierzu haben wir einen sicherlich nicht
uninteressanten Antrag gestellt, der von allen, die in der
Binnenschifffahrt tätig sind, unterstützt wird, nämlich
§ 6 b des Einkommensteuergesetzes so zu gestalten,
dass der Erlös beim Verkauf von Schiffen steuerfrei gestellt wird, wenn er reinvestiert wird. Die technische
Ausstattung und Leistungsfähigkeit gerade der Binnenschiffe sind eben nicht mehr so, wie man sich das
wünscht. Auch diese Forderung haben Sie abgelehnt.
Insofern muss man leider feststellen, dass zwischen
den Worten, die in Ihrem Antrag stehen, und den Taten,
die Sie dann folgen lassen, Lücken klaffen. Deshalb ist
es auch richtig, dass wir Ihren Antrag ablehnen, weil wir
ihn einfach als Worthülse betrachten.
Lassen Sie mich etwas zu dem maritimen Bündnis sagen. Ich finde das maritime Bündnis gut. Das ist überhaupt keine Frage. Nur, die eigentliche Leistung des maritimen Bündnisses und auch des maritimen
Koordinators hält sich doch sehr in Grenzen. Frau
Wetzel, lesen Sie einmal nach, wie Sie über ihn in Ihrem
eigenen Antrag sprechen. Ich meine, das ist nicht der
richtige Weg.
({3})
Herr Kollege Goldmann, Frau Kollegin Hajduk
möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Goldmann, da Sie auf Ihre Initiative
hinweisen, mit der Sie eine Änderung im Einkommensteuerbereich beantragt haben, möchte ich Sie fragen:
Passt dieser weitere Ausnahmetatbestand, den Sie schaffen wollten, zu dem von Ihrer Fraktion sonst vorgetragenen Steuervereinfachungskonzept wirklich? Wieso greifen Sie uns an, die wir doch letztlich ein neues
Programm im Volumen von 60 Millionen Euro für die
Werften aufgelegt haben? Das ist die Initiative der rotgrünen Regierung. Jetzt kommen Sie mit einem Gegenvorschlag, der einen Steuervergünstigungstatbestand
schafft. Ist das nicht vielleicht das falsche Instrument,
ein Instrument, das nicht zu der von Ihnen ansonsten
propagierten Politik passt?
Frau Hajduk, ich bin Ihnen dankbar für die Zwischenfrage. Dieser Tatbestand ist der einzige in unserem
neuen Steuerkonzept 15-25-35. Dabei handelt es sich
nämlich nicht um einen Subventionstatbestand, sondern
um eine Renvestition desjenigen, der ein Schiff veräußert hat. Wir sollten fair sein. Die Anträge haben wir gestellt, als es noch nicht die allgemeine Steuerreformdiskussion gab. Ich sage ganz ehrlich: Selbstverständlich
werden bei einer großen Steuerreform, wie wir sie uns
vorstellen, alle diese Vergünstigungstatbestände, die auf
der Basis der alten steuerlichen Gesetzgebung bestanden, auf den Prüfstand gestellt und sicherlich wegfallen.
Darüber brauchen wir uns überhaupt nicht zu unterhalten.
({0})
Aber in der ganz konkreten Situation war es besonders unverständlich, dass unser Antrag, der in die bessere Richtung ging, keine Mehrheit im Ausschuss, vor
allen Dingen nicht bei den Sozialdemokraten und bei Ihren Fraktionskollegen, gefunden hat. - Sie können sich
jetzt bitte wieder setzen.
({1})
Ich bleibe noch bei § 6 b des Einkommensteuergesetzes. Denn im Planco-Gutachten, das Sie in Auftrag gegeben haben, steht als eine zentrale Forderung eine
entsprechende Änderung des § 6 b des Einkommensteuergesetzes. Wenn wir die Dinge für die Binnenschiffer in
diesem Punkt nicht voranbringen, dann werden wir in
diesem Bereich nicht weiterkommen.
Lassen Sie mich noch etwas sagen, was mich wirklich
mit Sorge erfüllt. Frau Dr. Wetzel, unter uns gesagt: Dat
is doch Tüttel, wenn Sie von japanischem Geld für japanische Werften sprechen.
({2})
Fragen Sie einmal Bernd Meyer, wann er das letzte deutsche Geld für ein Passagierschiff bekommen hat! Das ist
endlos lange her. Wir wollen doch nicht in diesem internationalen Markt kleinkariert agieren.
({3})
Wir müssen die Besten sein und dann werden wir die Erfolgreichsten sein. Innovation ist gut in diesem Bereich.
Aber verabschieden Sie sich bitte von dem Vorwurf,
dass deutsche Bürgerinnen und Bürger sehr viel Schiffbau finanzieren, die Schiffe aber nicht in Deutschland
gebaut werden und das deshalb schlimm ist. Nein, das ist
ein Verbund, eine Kette, und diese Kette muss erhalten
bleiben.
Lassen Sie mich auch noch Folgendes sagen. Denken
Sie noch einmal darüber nach, ob man die Forderung erheben soll, in Verbindung mit dem Jade-Weser-Port eine
Megawerft in Wilhelmshaven aufzubauen!
({4})
Wir haben doch Schwierigkeiten genug, die vorhandenen Werften zu einer Kooperation zu veranlassen oder
sie auszulasten. Die Werften sind im Moment nur ausgelastet, weil die Chinesen, die Japaner und die Südkoreaner überhaupt keine Kapazitäten mehr haben.
({5})
- Nein, Herr Schmidt, das ist keine Vision, das wäre eine
Katastrophe für die Werften in Deutschland.
Herr Kollege Goldmann, Sie dürfen sich jetzt nicht
durch den Kollegen Schmidt in eine Fortsetzung des
Beitrags verwickeln lassen, für die Sie keine Redezeit
mehr haben.
({0})
Ich glaube, in diesem Punkt können wir uns sehr
schnell einigen. Herr Kollege Schmidt, überdenken Sie
bitte die Forderung nach zusätzlicher Werftkapazität vor
dem Hintergrund der Forderung Ihres Verteidigungsministers, die Mittel für den Marineschiffbau in Deutschland erheblich zu reduzieren. Begehen Sie bitte in diesem Bereich keine Todsünde! Laufen Sie nicht der
Illusion hinterher, dass zusätzliche Werftkapazitäten unser Problem lösen werden. Das ist sicherlich nicht der
Fall.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Adam, CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um die derzeitige Situation der Werften insbesondere in den neuen Bundesländern und damit
in Mecklenburg-Vorpommern zu verstehen, müssen
wir zwölf Jahre zurückblicken.
1992 wurde durch den Ministerrat der EU für die
Werften in Mecklenburg-Vorpommern eine Beschränkung auf 327 000 cgt als Kompensation für Modernisierungserwartungen beschlossen. Da es der Bundesregierung Ende der 90er-Jahre nicht gelungen ist, diese
Begrenzung aufzuheben, war die geforderte Flexibilität
in der Reaktion auf den Wettbewerb im Weltschiffbau
für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern nicht gegeben. Dadurch haben die Werften in MecklenburgVorpommern neben der schon bestehenden weltweiten
Wettbewerbssituation den zusätzlichen Nachteil der cgtBegrenzung.
Gerade der Containerschiffbau war und ist das wesentliche Marktsegment des Schiffbaus in MecklenburgVorpommern. Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern sind technologisch führend und gehören in Europa
zu den letzten noch verbliebenen Anbietern.
Solange jedoch die Kapazitätsbeschränkung besteht, können die Werften in Mecklenburg-Vorpommern
nicht fair im Markt agieren. Das hat zur Folge: Jedes
Containerschiff, das nicht in Mecklenburg-Vorpommern
gebaut wird, wird in Korea oder China gebaut.
({0})
Zur Auswirkung der Kapazitätsbeschränkung möchte
ich Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Die PeeneWerft in Wolgast - in meinem Wahlkreis - hat seit September 2003 das Schadstoffunfallbegrenzungsschiff
„Ostsee“ im Bau. Die Auslieferung an das Verkehrsministerium wird im August dieses Jahres erfolgen. Allerdings steht bis heute nicht fest, ob weitere Aufträge, die
von der Werft angenommen wurden, mit der cgt des
Schadstoffunfallbegrenzungsschiffs „Ostsee“ zusammengerechnet werden müssen. Die Beantwortung durch
das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit steht
seit April 2003 aus.
Jeder Tag, den die Werft auf die Antwort wartet, gefährdet die Arbeitsplätze, weil das Damoklesschwert
möglicher Strafzahlungen bei einer cgt-Überschreitung
über der Werft hängt. Es wäre erfreulich, wenn Sie, Herr
Staatssekretär, diese Debatte zum Anlass nehmen würden, um endlich für Klarheit zu sorgen.
({1})
Die cgt-Beschränkung bis 2006 ist eine Produktivbremse für die Werften und zugleich eine Arbeitsplatzbremse für die Werftstandorte in Mecklenburg-Vorpommern. Hier werden sich im Umfeld nur dann Betriebe
der Zulieferindustrie ansiedeln, wenn diese Standorte
Chancen haben, dauerhaft im Markt zu bestehen, und
keinen Beschränkungen unterworfen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das besonders Dramatische an dieser Situation ist die deutlich über
20 Prozent liegende Arbeitslosigkeit in meinem Heimatbundesland. Daher müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, um die Werftindustrie zu fördern. Die Begrenzung
muss aufgehoben werden.
({2})
Auch durch den Marineschiffbau kann die Bundesregierung den Werften helfen, da dieser von der cgt-Beschränkung befreit ist. In Übereinstimmung mit den
Werften und der Zulieferindustrie wird festgestellt, dass
sich der dramatische Rückgang nationaler Aufträge im
Marineschiffbau bis zum Jahr 2008 bereits erheblich früher durch Beschäftigungseinbrüche auf zahlreichen
Kernfeldern der Unternehmen auswirkt. Ein Ausgleich
durch den Export ist derzeit kaum möglich.
Wenn beispielsweise der Bau der Fregatte 125 nicht
alsbald auf den Weg gebracht wird, führt das aufgrund
der bereits bestehenden Kurzarbeit bei Blohm + Voss
demnächst zuerst zu Entlassungen im Konstruktionsbereich und nach dem Bau der letzten Fregatte 124 im
Jahr 2007 auch zu Entlassungen von Werftarbeitern.
Daher ist es unumgänglich, dass die 19 Millionen
Euro für Forschung und Entwicklung im Etat des Verteidigungsministeriums auch tatsächlich bereitgestellt werden. Die Werften in Mecklenburg-Vorpommern können
ihre Auslastung zum Beispiel nur durch die Wartung und
Reparatur von Marineschiffen sichern und damit Durststrecken bei der Abwicklung ziviler Aufträge überbrücken.
Herr Kollege Adam, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. - Deswegen ist es notwendig, dass die Peene auf
7,50 Meter vertieft wird, um auch der Peenewerft die
Chance zu geben, bei der Vergabe von Aufträgen zur
Wartung von Fregatten mitzubieten.
Ich schließe, Herr Präsident: Mecklenburg-Vorpommern bietet mit dem Marineamt, der Marinetechnikschule, seinen Hochschulen und Universitäten sowie seinen hochmodernen Werften ideale Voraussetzungen für
den Schiffbau. Ein deutliches Signal an die Werftindustrie zum Erhalt unserer Fähigkeiten und Kompetenzen
im Schiffbau und insbesondere im Marineschiffbau ist
dringend notwendig. Lassen Sie uns am heutigen Tag ein
solches aussenden.
({0})
Den Kollegen Werner Kuhn, dem ich gleich das Wort
erteilen werde, müsste ich bei strenger Auslegung des
Zeitbudgets eigentlich darauf hinweisen, dass er bereits
auf dem Weg zum Rednerpult seine Redezeit ausgeschöpft hat. Selbstverständlich gehe ich mit ihm genauso
großzügig um wie mit den Vorrednern. Ich bitte aber um
einen disziplinierten Umgang mit der verbleibenden
Zeit.
Bitte, Herr Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin mir natürlich der großen Ehre bewusst, doch noch
meine vier Minuten Redezeit ausschöpfen zu dürfen.
Auch wenn Herr Staatssekretär Schlauch schon etwas
gelangweilt dreinschaut, ist es meiner Meinung nach
wichtig, hier einen entscheidenden Punkt anzusprechen,
der sich aus der Rede von Herrn Goldmann herauskristallisiert hat und den auch Frau Hajduk angesprochen hat.
Meine Kollegen Börnsen und Adam haben ebenfalls darauf hingewiesen, über welch großes Ingenieurtechnikund Forschungspotenzial die deutschen Küstenländer
verfügen. Das müssen wir in Zukunft besser nutzen.
Frau Wetzel, Sie haben eine sehr konkrete und sicherlich
auch korrekte Istzustandsanalyse hinsichtlich des Weltmarktes gegeben. Aber Sie haben den zweiten Schritt
nicht gemacht. Sie haben nicht darauf hingewiesen, dass
für die Innovationsoffensive für Forschung und Entwicklung auch entsprechende Mittel eingestellt werden
müssen. Das fehlt mir in dieser Debatte.
({0})
Eine Offensive ist zwar angekündigt worden. Aber mich
interessiert sehr, in welcher Größenordnung Mittel bereitgestellt werden sollen. Mich interessiert ebenfalls, ob
die hierfür vorgesehenen Forschungs- und Entwicklungsgelder der Koch/Steinbrück-Streichliste zum Opfer fallen werden.
({1})
Wir haben eine ganz wichtige Aufgabe zu erfüllen;
denn die in Deutschland gebauten Schiffe sind 9 bis 16
Prozent teurer als die der ausländischen Wettbewerber.
Trotzdem haben die deutschen Werften und Schiffbaubetriebe noch Aufträge, weil die Kunden, insbesondere die
Reeder, Vertrauen in die deutsche Wertarbeit und den
exzellenten Service haben. Deshalb können die Kunden
noch gehalten werden. Man darf aber die Entwicklung
der Nachfrage nach Transportkapazität auf dem Weltmarkt nicht außer Acht lassen. Tatsache ist, dass die
neue Containergeneration mit 8 000 TEU nicht mehr in
Deutschland, sondern nur noch auf asiatischen Schiffbauplätzen gefertigt und verkauft wird. Die asiatischen
Schiffbauer haben bereits 80 Aufträge für den Bau dieser
Containerschiffe. Auch deutsche Reeder geben ihr Geld
dorthin.
({2})
- Sie sagen „leider“. - Angesichts dessen ist es notwendig, dass wir unseren Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen Forschungsaufträge geben, und
zwar nicht nur, wenn es um die Grundlagenforschung
geht.
Die EU-Kommission hat uns einen hervorragenden
Handlungsspielraum gegeben. Diesen müssen wir nutzen.
({3})
Wir dürfen jetzt nämlich nicht 10 Prozent, sondern bis zu
20 Prozent der Gesamtumsätze für Forschung und Entwicklung einsetzen. Hier ist die Bundesregierung gefragt. Ein entsprechendes Programm muss her!
({4})
Nicht nur in der Grundlagenforschung, sondern auch bei
Pilotprojekten, Produktentwicklungen und Markteinführungen können wir den Schiffbauplatz Deutschland wieder fit machen. Mit der heutigen Debatte muss ein wichtiges Signal an die Schiffbaubetriebe und die Werften in
Norddeutschland gehen.
Es ist wichtig, dass Akzente gesetzt werden. Es gibt
beispielsweise ein sehr interessantes Projekt des Fraunhofer-Instituts in Teltow, bei dem es um die Einhüllentanker geht, die noch bis zum Jahr 2015 zugelassen
sind. Das Fraunhofer-Institut erforscht, ob sich in diesen
Tankern zusätzlich eine Polyethylenhülle einbauen lässt.
Mit dieser Produktentwicklung ließe sich die Sicherheit
dieser Tanker erhöhen. Das ist ein ganz interessantes
Projekt. So etwas muss gefördert werden. Was wir nicht
brauchen, ist eine vom Bund angestoßene Entflechtungsdebatte, in der es darum geht, die außeruniversitäre Forschung erst einmal dahin gehend zu überprüfen, ob der
Bund die entsprechenden Mittel für die Fraunhofer-Institute und für die Leibniz-Institute überhaupt zur Verfügung stellen kann. Der Bund will sämtliche Lasten den
Ländern aufbürden. Gerade wir in den neuen Bundesländern sind finanziell überhaupt nicht in der Lage, das zu
schultern.
Werner Kuhn ({5})
Ich kann nur sagen: Die heute vorliegenden Anträge
von allen Fraktionen sind hochinteressant, sie weisen in
die richtige Richtung; aber sie müssen umgesetzt werden. Es muss einen Finanzrahmen für die nächsten
zehn Jahre geben; sonst werden wir Deutschen unsere
Know-how- und unsere Technologieführerschaft im
Schiffbau an die Asiaten abgeben. Das kann nicht im
Sinne der deutschen Industrie und unseres Heimatlandes
sein.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
auf Drucksache 15/1930.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/1575 mit dem Titel „Sicherung von
Standort und Know-how des deutschen Seeschiffbaus“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Ich stelle fest,
dass die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen ist.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1101 mit
dem Titel „Deutschen Schiffbau aus der Schlechtwetterlage in sicheres Fahrwasser leiten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Gudrun
Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Agrarpolitische Herausforderungen der WTO
und EU-Osterweiterung mit der Kulturlandschaftsprämie meistern
- Drucksachen 15/1232, 15/1841 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann haben wir so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In diesen Tagen, in denen die Grüne Woche in
Berlin stattfindet und in der die Bauern wirklich wissen
wollen, wie es auf den Höfen weitergeht, müssen wir
hier diese Debatte führen, auch wenn der zeitliche Rahmen eng ist.
({0})
Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen - darüber habe ich mich richtig gefreut -, dass der Export von
Agrarprodukten ein Plus von 4 Prozent zu verzeichnen
hat. Das ist endlich einmal eine gute Nachricht für die
Agrarwirtschaft und für die Lebensmittelwirtschaft in
Deutschland. Im Export sind wir bärenstark, weil wir unternehmerische Landwirte haben, die zupacken und die
sich am Markt behaupten. Eine solche Botschaft ist für
uns alle wirklich einmal ein erfreuliches Zeichen; denn
sie zeigt, dass sich die Dinge in bestimmten Bereichen
positiv entwickeln.
({1})
Außerdem zeigt sie, dass die Kritik an den Landwirten
zum Teil überzogen und dass die geäußerte Sorge
manchmal etwas übertrieben ist. Das entspricht nicht immer der Realität.
Wie geht es nun weiter? Die FDP, vor allen Dingen
Ulrich Heinrich, hat schon vor Jahren ein Konzept entwickelt, wie man von der Subvention von Produkten zu
einer flächengebundenen Finanzhilfe übergeht. Die so
genannte Kulturlandschaftsprämie ist, wie der Name
sagt, eine Anerkennung des Landwirtes und eine Anerkennung der Kulturlandschaft insgesamt. Ich denke dabei an eine Situation wie die in Ostfriesland, wo die
Schwarzbunten grasen und wo es Wallhecken gibt. Ich
denke dabei auch an die Situation im Bayerischen Wald,
wo Natur, Landwirtschaft und Umweltschutz miteinander in Einklang stehen.
Es geht um die Frage, wie wir diese Sache WTOkompatibel machen. Es geht darum, wie wir es zustande
bringen, dass den Landwirten Geld dafür gegeben wird,
dass sie Flächen in guter fachlicher Praxis bewirtschaften, und zwar unter Einhaltung hoher Standards. Diese
Standards können bei uns leicht erfüllt werden, weil unsere Cross-Compliance-Kriterien im Grunde genommen
schon von jedem Bauern erfüllt werden. Wir haben ein
Modell der Umschichtung entwickelt.
({2})
- Dass kein zusätzliches Geld fließen soll, habe ich ja
gesagt.
({3})
- Albert Deß, hast du gemeint, es handele sich um zusätzliches Geld? - Nein!
({4})
Das ist das Geld, das die Europäische Union jetzt dafür ausgibt, dass Produkte in den Markt gehen, manchHans-Michael Goldmann
mal auch Produkte, die eigentlich niemand so richtig haben will. Das ist Geld, das dafür sorgt, dass das, was der
Landwirt tut, mit der Natur, mit dem Umweltschutz, mit
dem Tierschutz und mit dem Kulturraum in Einklang ist.
({5})
Das ist der alles entscheidende Punkt, der dazu beitragen
kann, dass dieses Konzept dann auch dauerhaft gesellschaftliche Akzeptanz findet. Deswegen ist es der richtige Weg.
Lieber Kollege Weisheit, ich habe darauf bestanden,
dass ich hier noch reden darf, weil wir unheimlich stolz
sind und weil wir froh darüber sind, dass dieses Modell
die Grundlage für das ist, was jetzt europaweit und besonders in der Bundesrepublik Deutschland auf den Weg
gebracht wird.
({6})
- Herr Kollege Weisheit, ich weiß, dass Sie da mit uns
übereinstimmen.
Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass dieses Modell
umgesetzt wird und dass wir dabei die Brüche, die mit
ihm verbunden sind - die gibt es; das ist überhaupt keine
Frage -, für die abfedern, die im Markt bleiben wollen.
Es gibt einen speziellen Bereich, in dem das ein Riesenproblem ist, nämlich den Bereich der Milchwirtschaft;
zu nennen ist aber auch der Bereich der Bullenhaltung.
Wir müssen am Ende - darauf können wir uns, denke
ich, einigen - zu einer Flächenprämie kommen, und
zwar zu einer einheitlichen Flächenprämie. Das müssen
wir uns als Zielmarke vornehmen. Wir können sicherlich
Übergänge dahin schaffen. Wir können uns sicherlich
darüber unterhalten, ob wir noch eine Zeit lang in bestimmten Bereichen beim Betriebsmodell bleiben, aber
wir müssen ehrlich sein und den Bauern ehrlich sagen:
Am Ende des Prozesses steht eine einheitliche Flächenprämie. - Dieses Modell ist deshalb so besonders attraktiv für den Bauern, weil es nur ganz wenig Bürokratie erfordert
({7})
und weil von dem Geld, das bereitgestellt wird, wirklich
viel bei den Bauern ankommt.
Liebe Freunde, ich freue mich darüber, dass wir in
dieser Frage in vielen Bereichen Gemeinsamkeiten haben.
({8})
Wir sollten uns nicht vom Weg abbringen lassen.
Ich war gestern Abend, lieber Albert Deß, auf einer
Veranstaltung in einem sehr kleinen Ort. 250 bis 300
Bauern haben sich für dieses Thema interessiert. Wir
müssen in dem Sinne Antwort geben, wie wir das eben
getan haben. Wenn wir diese positive Antwort geben,
dann können wir auch eher mit den Dingen umgehen,
die im Moment Schwierigkeiten bereiten, bei denen wir
vor Herausforderungen stehen. Lassen Sie uns gemeinsam marschieren! Lassen Sie uns gemeinsam für eine
einheitliche Flächenprämie streiten und arbeiten! Lassen
Sie uns für Perspektiven streiten! Dazu gehört zum Beispiel der Bereich der grünen Gentechnik.
({9})
Lassen Sie uns besondere Belastungen vermeiden, etwa
die infolge der „idiotischen“ Vorstellungen aus dem
Hause Trittin, dass Ackerflächen 10 Kilometer rechts
und links von Flüssen aus dem Markt genommen werden
müssen. Das ist in meinen Augen Enteignung. Das wollen wir nicht. Wir wollen starke Bauern in einem starken
europäischen Markt. Mit der Prämie haben wir eine gute
Antwort auf die WTO-Herausforderungen. Das Ganze
ist dann auch noch Green-Box-fähig. Damit kommen
wir klar.
Herzlichen Dank.
({10})
Der Parlamentarische Staatssekretär Gerald Thalheim
gibt seine Rede zu Protokoll.1) Dann erteile ich der Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte ist zum jetzigen Zeitpunkt, wie
ich finde, nicht notwendig. Für viel wichtiger halte ich
es, dass wir als Fachausschuss rechtzeitig zur Eröffnung
der Grünen Woche im ICC sind.
({0})
Die FDP läuft mit ihrem Antrag vom 25. Juni letzten
Jahres wieder einmal der Zeit hinterher.
({1})
Es ist absolut schade - das möchte ich ganz deutlich sagen -, dass Sie sich nicht davon haben abbringen lassen,
diesen Antrag zum jetzigen Zeitpunkt noch zu diskutieren. Wir haben in den Diskussionen so viele Gemeinsamkeiten festgestellt - das haben Sie selbst gesagt, Herr
Goldmann -, dass es der FDP absolut gut angestanden
hätte, die Bundesregierung in ihren Bemühungen endlich einmal zu unterstützen.
({2})
Einige Ihrer Forderungen haben sich zum Teil schon
durch den erfolgreichen Abschluss der Halbzeitbewertung der EU-Agrarpolitik erledigt.
({3})
1) Anlage 2
Waltraud Wolff ({4})
Was wurde im Sommer des vergangenen Jahres erreicht?
Wichtigster und entscheidender Punkt ist die Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion.
Sie wird dazu führen, dass sich die Landwirte bei weitem stärker am Markt orientieren können. Das war auch
eine ganz explizite Forderung des Berufsstandes selber.
Nun werden die Bauern nämlich auch sehr viel freier unternehmerisch tätig sein können.
Ein praktisches Beispiel: Gerade im Osten der Republik wird, vor allen Dingen auf den leichten Böden, noch
sehr viel Roggen angebaut. Mit der Menge an Roggen,
die in den zukünftigen EU-Mitgliedstaaten angebaut
wird, würde die Produktionsmenge in der EU weiter in
die Höhe getrieben. Insgesamt wäre dann logischerweise
das Angebot weit höher als die Nachfrage. Durch die
Einführung einer einheitlichen Hektarprämie wird der
Anreiz, eine spezielle Kultur anzubauen, verringert.
Die Landwirte müssen sich also neue Strategien überlegen und müssen sehen, wie sie neben ihrer Grundsicherung eine rentable Einkommensalternative bei einheitlich geltenden Flächenprämien aufbauen können.
Die gibt es auch. Beispielsweise hat Deutschland seine
Quoten bei der Produktion von Faserhanf noch lange
nicht ausgeschöpft. Seit Jahren versuche ich bei meinen
Besuchen vor Ort, Werbung für Hanf zu machen. Doch
vergeblich, solange die Prämien für Roggen weitaus höher sind.
({5})
Wenn man mit den Bauern spricht, sagen die einem das
auch unter vier Augen. Die weiterverarbeitende Industrie braucht aber hierzulande mehr Hanfproduzenten,
nicht in China. Von daher bin ich sicher, dass wir mit der
Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion
den richtigen Weg gehen.
Anders als die FDP sind wir der Auffassung, dass ein
abrupter Systemwechsel eine Überforderung der Landwirtschaft darstellt, gerade im Milch- und im Bullenmastbereich.
({6})
- Ich beziehe mich ausdrücklich, Herr Goldmann, auf
Ihren Antrag vom 25. Juni 2003. Sie hätten ihn vielleicht
noch einmal überarbeiten sollen. In ihm steht dazu nichts
drin.
({7})
Daher ist nach der Auffassung von Rot-Grün der Weg
über das Kombinationsmodell der richtige; das heißt,
die Gesamtprämie besteht zum einen aus einer regionalen Flächenprämie und zum anderen aus einer betriebsindividuellen Prämie.
({8})
Nach einem Übergang, dem so genannten Gleitflug, erhalten dann beispielsweise ab 2012 - ich stelle jetzt einmal eine Zahl in den Raum - alle Betriebe der Region
eine einheitliche Prämie. Somit besteht auch genügend
Zeit für die Umstellung des Betriebskonzeptes.
Durch die Stärkung des ländlichen Raumes und auch
durch die Mittelumschichtungen im Rahmen der Modulation werden auch Agrarumweltmaßnahmen gefördert. Durch die Bindung der Direktzahlungen an die
Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvorschriften helfen wir der Landwirtschaft, noch umweltgerechter zu produzieren, ganz nach dem Motto: nicht
nur sauber, sondern rein. Ich bin der festen Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist, um auch die Akzeptanz der deutschen Landwirtschaft bei der Bevölkerung weiter zu erhöhen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Deutschland
sind gut aufgestellt. Mit dem zentralen Mittel der Entkopplung der Prämienzahlungen von der Produktion minimieren wir auch die Risiken der EU-Osterweiterung.
Für die WTO-Runde, bei der die Agrarpolitik wieder
eine zentrale Rolle spielen wird, bieten wir mit unserer
Vorarbeit eine solide Verhandlungsgrundlage.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Goldmann?
Nein, es tut mir Leid, ich gestatte sie nicht. Wir als
Fachausschuss wollen zur Grünen Woche. Deshalb ist
das jetzt nicht möglich.
({0})
Ich kann die FDP von dieser Stelle aus nur noch einmal auffordern, den Antrag zurückzuziehen und die Politik der Regierung zu unterstützen.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Marlene Mortler, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wenn Frau Wolff nicht soeben gesprochen hätte, hätte ich gar keine Brücke zu den Ausführungen von Herrn Goldmann bauen können. Jetzt
kann ich es. Ich denke, seine Ausführungen waren
schlichtweg ein Märchen.
({0})
Dabei sind die internationalen Herausforderungen für
unsere deutsche Landwirtschaft, für unsere Wirtschaft
und für unsere Gesellschaft insgesamt gewaltig. Die VerMarlene Mortler
handlungen in der Welthandelsrunde, aber auch die endgültigen Beschlüsse, die die bisherigen und die zukünftigen EU-Staaten im Dezember 2002 gefasst haben, haben
die EU-Osterweiterung auf den Weg gebracht.
Dabei wurde auch die Übertragung der EU-Agrarpolitik bis zum Jahr 2013 festgelegt. Ich persönlich bedaure,
dass die laufende Doha-Runde, dass die Ministerkonferenz im September 2003 in Cancun ohne Ergebnis abgebrochen worden ist, und dies, obwohl die EU bereits im
März 1999 erste Reformbeschlüsse zur EU-Agrarpolitik
gefasst hat und obwohl im Juni 2003 weitere schmerzhafte Einschnitte für unsere deutschen Landwirte beschlossen worden sind. Die Verhandlungsposition der
EU war wegen dieser erheblichen Vorleistungen gut; Europa hatte - im Gegensatz zu seinen WTO-Partnern seine Hausaufgaben gemacht.
Auch für eine neue WTO-Runde müssen wir faire Regeln als Ziel haben. Faire Regeln heißt für mich als Europäerin, immer wieder mehr Tierschutz, mehr Umweltschutz und Naturschutz einzufordern. Es ist für mich
selbstverständlich, dass wir neueste wissenschaftliche
Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Praxis auf unseren Bauernhöfen aus Verantwortung für Tier und Natur
umsetzen. Leider lehnen viele WTO-Mitglieder dieses
Thema als Verhandlungspunkt kategorisch ab. Deshalb
habe ich die klare Position nach Cancun, auch vonseiten
der Bundesregierung, begrüßt. Sie lautet: Die Ministerkonferenz ist nicht am Thema Landwirtschaft gescheitert
und sie ist auch nicht an Europa gescheitert.
Ich gebe zur Kenntnis, dass 73 Prozent der landwirtschaftlichen Exporte aus den ärmsten Entwicklungsländern in die EU kommen und nur ein Anteil von 10 Prozent von den USA aufgenommen wird. Ebenfalls gebe
ich zur Kenntnis, dass es uns zum Nachdenken bringen
muss, wenn 70 Prozent der hungernden Menschen auf
der Welt Bauern sind, also Menschen, die Nahrungsmittel produzieren.
Meine Damen und Herren, die Position in den laufenden WTO-Verhandlungen wurde von der EU mit dem
bekannten Systemwechsel in der Politik begründet. Das
Kernelement, nämlich die Entkopplung, ist angesprochen worden. In der reinen Theorie heißt das: Es gibt
weiterhin Direktzahlungen für unsere Bauern; aber die
Bauern müssen Landwirtschaft nicht mehr im klassischen Sinne betreiben. Das ist nicht zu revidieren. Allerdings gibt es noch umfangreiche und wichtige nationale
Gestaltungsspielräume; meine Vorredner haben sie angesprochen.
Eines steht aus meiner Sicht aber fest: Egal welches
Umsetzungsmodell bei der Entkopplung gewählt wird,
der häufig verwendete Begriff einer Flächenprämie ist
nach den vorliegenden EU-Verordnungen nicht korrekt;
er ist irreführend. Dies gilt auch für das FDP-Modell;
denn die Kulturlandschaftsprämie wird so begründet.
Egal welches Modell nach einer totalen Entkopplung
umgesetzt wird, es bleibt festzuhalten: Es gibt immer nur
eine Betriebsprämie und so genannte Zahlungsansprüche auf die Flächeneinheit Hektar. Diese Zahlungsansprüche sind aber nicht mit bestimmten Flächen verbunden, sondern in jedem Fall, in jedem Modell,
handelbar.
Meine Damen und Herren, der FDP-Antrag läuft nach
den EU-Rechtstexten auf ein Regionalmodell als Umsetzungsvariante der Entkopplung hinaus. Das Modell
soll mit einem einheitlichen Zahlungsanspruch für alle
landwirtschaftlichen Flächen verbunden sein, was im
Schnitt 320 Euro pro Hektar Grün- oder Ackerland bedeuten würde. Ich frage mich schon: Wollen Sie von der
FDP so den aktiven Unternehmer stärken, den Sie bisher
immer im Auge hatten? Hat der aktive landwirtschaftliche Unternehmer hier wirklich einen Nutzen? Die Auswirkungen wären aus meiner Sicht fatal.
({1})
Denn einheitliche Zahlungsansprüche je Hektar würden
vor allem leistungsfähige Rinder haltende Betriebe einschließlich der Milchbetriebe zum Verlierer machen, so
Professor Werner Kleinhanß von der FAL.
({2})
Gerade sie haben stark in die Zukunft investiert, gerade
sie brauchen Planungssicherheit. Es träfe aber auch Familienbetriebe mit Mutterkuhhaltung, zum Beispiel im
Bayerischen Wald. Jeder Betrieb würde 10 000 bis
20 000 Euro verlieren.
Deutschland darf bei der nationalen Umsetzung der
Entkopplung nicht die EU-Staaten aus dem Blick verlieren; denn die deutliche Mehrheit will das Individualmodell umsetzen. Unser gemeinsamer EU-Binnenmarkt
schreit geradezu nach einer intelligenten Vorgehensweise im Wettbewerb mit unseren wichtigsten Mitkonkurrenten. Kein anderer Staat erwägt zur Stunde eine
Umsetzung der Entkopplung im Sinne eines einheitlichen Zahlungsanspruches je Hektar, wie Sie das tun. Das
wäre ein nationaler Alleingang.
({3})
Ich sage Ihnen noch eines: Unsere Bäuerinnen und Bauern in Deutschland haben die Nase voll von nationalen
Alleingängen.
({4})
Bundeseinheitliche Zahlungsansprüche würden bedeuten: Der leistungsstarke deutsche Milchviehbetrieb
verliert und der leistungsstarke französische Milchviehbetrieb profitiert. Ich warne davor; denn die Folge würde
sein, dass der Ruf nach EU-einheitlichen Zahlungsansprüchen je Hektar lauter werden wird
Frau Kollegin, auch Sie denken bitte an die Redezeit.
- ja -, dass Länder wie Polen, die neu in die EU kommen, natürlich Vergleiche anstellen und befürchten,
schlechter abzuschneiden, und dass es eine gewaltige
Umverteilung zwischen den EU-Staaten geben würde,
die einen enormen Schaden für unsere deutsche Landwirtschaft bedeuten würde. Eine weitere Folge würde
sein, dass die Nettozahlerposition Deutschlands verschlechtert werden würde.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss
und zu dem Ergebnis: Sie von der FDP wären gut beraten, Ihren Antrag einzustampfen.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({0})
Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
sind unter uns und brauchen uns also nichts vorzumachen: Wir diskutieren heute hier nur, weil die FDP wieder einmal ein Forum für ihre Selbstdarstellung sucht.
({0})
Wir wissen alle: Klappern gehört zum Handwerk. Das ist
in Ordnung. Aber in dieser Woche haben wir Ihnen, Herr
Goldmann, echt übel genommen, dass Sie uns eine BSEDiskussion aufgedrückt haben.
({1})
Sie haben der grünen Ministerin Schlamperei vorgeworfen, obwohl nachweislich feststeht, dass diese Vorwürfe
überhaupt nicht zutreffen. Dazu sage ich ganz klar: Auch
in der Politik gibt es eine gute fachliche Praxis. Dazu gehört Ihr Vorgehen bei weitem nicht.
({2})
Man hat sich zu erkundigen und die Sachverhalte zu klären. Herr Goldmann, es gibt leider die Tendenz in Ihrer
Partei, das nicht zu tun.
({3})
Wir konnten das beim Thema Geflügelpest oder bei den
Haushaltsberatungen beobachten. Ich fand es affenscharf: Die FDP und einige CDU-Kollegen haben die
Bauern sozusagen gerettet, aber gleichzeitig haben sie
ein Steuerkonzept vorgelegt, das den Bundeshaushalt
mit Mindereinnahmen in Höhe von etwa 30 Milliarden
Euro so unter Druck setzt, dass für keinen Einzelplan ein
Cent übrig geblieben wäre. Das wissen wir alle.
({4})
Ich komme nun zum Inhalt unserer heutigen Diskussion. Frau Mortler, ich fand Ihren Beitrag teilweise widersprüchlich. Zunächst einmal ist es nicht richtig, zu sagen, dass Deutschland einen Alleingang in Richtung
einer so genannten flächenbezogenen Regionalprämie
- der Name ist, das stimmt, irreführend - unternimmt.
Es gibt letztendlich einen parteiübergreifenden Konsens - auch wenn es sich um ein Konzept handelt, das
von der grünen Ministerin mit Nachdruck vorgebracht
wurde -, dass das Betriebsmodell nicht das Modell der
Zukunft sein kann. Die Landtagsabgeordneten der CDU
aus Rheinland-Pfalz sind ebenfalls der Meinung, dass
ein zukunftsorientierter Landwirt nicht für die Betriebsprämie sein kann. Das ist auch die Haltung der CDU/
CSU und ihres Vorsitzenden im Agrarausschuss. Wir haben also viele Gemeinsamkeiten.
Eine ähnliche Position nehmen viele Nordländer und
auch die Beitrittsländer ein. Es besteht also die Hoffnung
- das werden wir wohl oder übel tun müssen, um im
Sinne der Landwirtschaft voranzukommen -, dass wir
gemeinsam mit allen Akteuren und über alle Parteigrenzen hinweg ein vernünftiges Modell erarbeiten.
Zum Auftakt der Grünen Woche habe ich den
Wunsch, dass wir zu einer guten Lösung kommen. Das
heißt, dass wir die Unterstützung für die gesellschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft von der Kulturlandschaftspflege über die Herstellung von Produkten mit
guter Qualität bis hin zur Schaffung von Lebensmittelsicherheit verbessern.
Auch die Förderung der Grünlandstandorte gehört
dazu. Die Ungleichgewichte, die bisher in der Förderung
bestanden, sind ebenso zu verringern.
Wir müssen sehen: Wir können doch, was die einheitliche Flächenprämie angeht, von der ja auch im FDPAntrag die Rede ist, folgende Situation nicht ernsthaft
akzeptieren:
({5})
Es wäre doch verrückt, im Allgäu an der Grenze zwischen Bayern und Baden-Württemberg unterschiedliche
Modelle aufzulegen. Das kann es wirklich nicht sein. Insofern ist es, wie es von den Ländern geplant ist, richtig,
ein Stufen- bzw. Übergangsmodell zu entwickeln, mit
dem wir zu einer einheitlichen Lösung kommen.
Aber es ist natürlich unser - hoffentlich gemeinsames - Ansinnen, Bürokratie abzubauen. Denn das ist
die Last, die die Bauern am stärksten drückt, wie sie in
den entsprechenden Versammlungen immer wieder zum
Ausdruck bringen.
Wir wollen gleichzeitig eine Stärkung der ländlichen
Räume erreichen. Das ist, wenn man die Ziele der Arbeitsmarkt- und der Wirtschaftspolitik vor Augen hat,
ein äußerst wichtiges Anliegen in Deutschland, aber
selbstverständlich auch im Hinblick auf die BeitrittslänUlrike Höfken
der. Auch da bietet die Agrarreform über die Modulation
die Möglichkeit, Maßnahmen für die ländlichen Räume
und deren Entwicklungsfähigkeit zu stärken und Maßnahmen in den Bereichen Lebensmittelqualität, Standards der Lebensmittelsicherheit, Tier- und Umweltschutz sowie lokale Partnerschaften zur Förderung
integrierter Entwicklungsstrategien als Fördergrundsätze
neu aufzunehmen. Im Übrigen zeigt sich gerade in Krisensituationen, wie wichtig die Aktivität in diesen Bereichen ist; ich brauche BSE nicht noch einmal zu erwähnen.
({6})
Zu dem Modell gehört auch die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutzund Qualitätsstandards. Auch hier diskutieren wir noch
über die Ausgestaltung. Letztendlich verbinden wir mit
dem neuen System die Erwartung, dass die Unterstützung der Landwirtschaft gesellschaftlich abgesichert ist,
dass die Verbraucher für die Leistungen, die sie erwarten
dürfen, eine solche Unterstützung gewähren wollen und
dass wir hiermit einen für die Landwirtschaft guten,
aber, wie wir wissen, auch schweren Weg in die Zukunft
gehen. Dafür brauchen wir die Verbraucher. Wir müssen
zur Grünen Woche auch deshalb gehen, um die Verbindung zwischen Landwirtschaft und Verbrauchern herzustellen und die Wertigkeit der Produktion in diesem Bereich wieder in das Bewusstsein zu rücken.
Danke.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete SchulteDrüggelte.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Viele Schlagworte sind gefallen. Ich will ein paar
nennen: Betriebsmodell, Regionalmodell, Kombimodell,
Flächenprämie. Im Antrag der FDP heißt es nun Kulturlandschaftsprämie. Dies sind die aktuellen Schlagworte
der agrarpolitischen Diskussion.
Ich möchte kurz auf die Vorgeschichte eingehen. Die
Luxemburger Beschlüsse vom Juni 2003 haben die Rahmenbedingungen der Landwirtschaft verändert. Die
Grundsatzentscheidung zur Entkoppelung der Direktzahlungen ist gefallen. Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen: 1992 wurden die Direktzahlungen eingeführt, um die Preise in der Landwirtschaft auf
Weltmarktniveau zu senken. Im November haben die
Agrarminister von Bund und Ländern mehrheitlich entschieden, das bisherige System zu einer einheitlichen
Flächenprämie vornehmlich zur - das will ich deutlich
sagen - Entlohnung für die Gemeinwohlleistungen der
Landwirtschaft weiterzuentwickeln. Ab 2005 soll die
Entkoppelung angewandt werden. - Das ist die Situation.
In der aktuellen Diskussion geht es jetzt darum, wie
die praktische nationale Umsetzung erfolgt. Ich möchte
hinzufügen, dass es um etwas mehr geht: Bei dieser nationalen Diskussion dürfen der europäische und der globale Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden.
Auch die Orientierung am Verhalten unserer europäischen Nachbarn - das klang gerade bei Frau Mortler an ist bei der nationalen Ausgestaltung notwendig. Denn
die Zielsetzung - das möchte ich aus meiner Sicht
sagen - ist klar: Das ist eine Flächenprämie, eine einheitliche Flächenprämie. Aber der Umsetzungsweg ist
von großer Bedeutung; denn die Wahl des Weges entscheidet darüber, wer den Weg mitgehen kann und wie
viele auf der Strecke bleiben. Die Wahl des Weges, der
jetzt gefunden wird, bestimmt die Agrarstruktur von
morgen. Dabei möchte ich darauf hinweisen, dass ein
wirklich abgestimmtes und einheitliches Vorgehen - sofern das möglich ist - auch der Bundesländer wünschenswert ist.
({0})
Denn die Umsetzung bestimmt die Leistungsfähigkeit
und Konkurrenzfähigkeit der Landwirtschaft. Sie bestimmt das Aussehen und die Gestalt der Kulturlandschaften, die ja bei der FDP im Vordergrund stehen.
Ich möchte auch zur WTO etwas sagen. Die WTOVerhandlungen in Cancun sind zwar gescheitert, aber
trotz der Verzögerungen, die eingetreten sind, hat niemand das Interesse an der Doha-Runde verloren. Es soll
weitergehen. Es geht auch darum, dass künftig das europäische Landwirtschaftsmodell mit seinen hohen Standards im Tierschutz, im Natur- und Umweltschutz in den
weiteren WTO-Verhandlungen verteidigt wird.
({1})
Gerade die Staaten der Dritten Welt haben erkannt, dass
der Fehlschlag für sie kein Sieg war, sondern dass alle
verlieren, wenn das multilaterale Handelssystem beschädigt wird. Die Europäische Union hat im Vorfeld von
Cancun viele Vorleistungen erbracht. Auch die anderen
WTO-Mitglieder müssen Farbe bekennen, auch sie müssen zu Zugeständnissen bereit sein, wenn die Entwicklungsrunde zu einem Erfolg werden soll.
In der „FAZ“ konnte man vor einigen Wochen lesen,
dass der Schweizer WTO-Botschafter die Handelsverhandlungen mit der Fruchtsaftgewinnung verglichen hat:
Auch in Handelsrunden dürfe man den Druck erst erhöhen und die Früchte erst pressen, wenn sie wirklich reif
sind.
({2})
Deshalb ist es umso wichtiger, für das europäische Landwirtschaftsmodell zu werben, bis die Zeit reif ist, um es
in den Verhandlungen abzusichern.
({3})
Im letzten Frühjahr wurde diesem europäischen
Landwirtschaftsmodell in dem Harbinson-Papier zu
wenig Beachtung geschenkt. Ich möchte noch einmal erwähnen, dass Deutschland ein zusätzliches Problem hat:
die unzureichende Vertretung der deutschen Interessen
durch die Ministerin.
({4})
Das war in den Verhandlungen vor der Konferenz in
Cancun auch erkennbar, als die Landwirtschaft als eine
Art Wechselgeld für andere Ressorts genutzt werden
sollte.
({5})
- Ich schaue auch einmal zu Ihnen!
In der jetzigen Situation der Landwirtschaft - global
wie europäisch - wird durch Rot-Grün - fast hätte ich
gesagt: Grün - in keiner Weise Rücksicht auf die
schwierige Lage der Landwirtschaft genommen. Denken
Sie doch an das merkwürdige Schlagwort vom „Steuervergünstigungsabbaugesetz“, das Sie eingebracht haben:
Modulation im nationalen Alleingang. Auch im Haushaltsbegleitgesetz wurde keine Rücksicht auf die
schwierige Lage der Landwirtschaft in Deutschland genommen.
({6})
Die wichtige, künftig zu lösende Frage ist doch: Wie
sollen die Leistungen der Landwirtschaft für die Allgemeinheit in einem internationalen Handelsvertrag Berücksichtigung finden? Es geht in der derzeitigen Diskussion nicht einfach nur darum, wie die FDP schreibt,
die Herausforderungen der WTO und der EU-Osterweiterung mit der Kulturlandschaftsprämie zu meistern.
Ich meine, das ist zu wenig: Wir wollen die künftigen
Herausforderungen mit dem europäischen Agrarmodell
meistern; Freihandel allein ist keine Lösung. Deshalb
werden wir den FDP-Antrag nicht unterstützen.
Es geht darum, sich zur Fortsetzung der Verhandlungen zu bekennen und die Absicherung des europäischen
Agrarmodells zu fordern und auch durchzusetzen. Wir
wollen dieses europäische Modell einer umweltfreundlichen, nachhaltigen und multifunktionalen Landwirtschaft. Wir wollen eine leistungsfähige, wettbewerbsfähige Landwirtschaft in Deutschland, eine
flächendeckende Landwirtschaft, die neben der Nahrungsmittel- und Rohstoffproduktion auch die Gestaltung und Pflege der Kulturlandschaft übernimmt und
auch in Zukunft übernehmen kann.
Danke schön.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1841 zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Agrarpolitische Herausforderungen der WTO und EU-Osterweiterung mit
der Kulturlandschaftsprämie meistern“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen
worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des MAD-Gesetzes
({0})
- Drucksache 15/1959 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({2})
- Drucksache 15/2274 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Kossendey
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unsere langjährigen Erfahrungen aus den Auslandseinsätzen der Bundeswehr haben für den Bereich des Militärischen Abschirmdienstes gesetzgeberischen Handlungsbedarf aufgezeigt. Das MAD-Gesetz vom
20. Dezember 1990 bedurfte wegen des im vergangenen
Jahrzehnt grundlegend gewandelten Aufgabenspektrums
unserer Bundeswehr dringend einer Anpassung.
Bislang war eine Verwendung des Militärischen Abschirmdienstes zum Schutz eines deutschen Bundeswehrkontingents im Auslandseinsatz nicht zweifelsfrei
möglich. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine
Lücke geschlossen und die Rechtslage klargestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Risiken für die
militärische Sicherheit und für die Sicherheit des einzelnen Soldaten im Rahmen eines Auslandseinsatzes der
Bundeswehr erfordern spezifische Regelungen. Das
Spektrum der Risiken im Auslandseinsatz reicht von den
allgemeinen Gefahren, die von Kampfhandlungen regulärer oder irregulärer Kräfte der Konfliktparteien ausgehen, über die klassischen Szenarien nachrichtendienstlicher Tätigkeiten, der Spionage und der Sabotage durch
sicherheitsgefährdende Kräfte bis hin zur Bedrohung
durch terroristische und sonstige kriminelle Kräfte.
Zusätzliche Gefahren können sich aus einem weitgehend unbekannten kulturellen und sozialen Umfeld, instabilen politischen Verhältnissen und Netzwerken von
Kriminalität und im Untergrund tätigen, an Instabilität
interessierten Kräften ergeben. Gerade auch die Gefahr
von Gewaltaktionen terroristischer bzw. ideologisch motivierter Täter erfordert gezielte Maßnahmen des SchutParl. Staatssekretär Walter Kolbow
zes und der Absicherung, um die Einsatzbereitschaft der
Truppe im Rahmen des Möglichen zu gewährleisten.
Somit wäre es weder akzeptabel noch vermittelbar,
dass Soldatinnen und Soldaten während der generell wesentlich bedrohlicheren Lage in einem Auslandseinsatz
ein geringerer Schutz durch den MAD zukommen würde
als während des alltäglichen Dienstes im Inland.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert die
Bundesregierung auf diese Bedrohungen. Der Gesetzentwurf weist dem MAD ausdrücklich die Aufgabe zu,
im Rahmen besonderer Auslandsverwendungen der
Bundeswehr auch im Ausland tätig zu werden. Dazu
wird dem MAD die Aufgabe übertragen, bei Einsätzen
der Bundeswehr Informationen, sach- und personenbezogene Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen zu sammeln und auszuwerten und so zur Einsatzbereitschaft
und zum Schutz des jeweiligen Bundeswehrkontingents
im Ausland wesentlich beizutragen.
Diese Aufgabe wird räumlich auf die Liegenschaften
begrenzt, in denen sich die Dienststellen und Einrichtungen der Truppe befinden. Damit ist zum einen eine klare
Abgrenzung der Kompetenzen zwischen MAD und Bundesnachrichtendienst garantiert, zum anderen wird so die
selbstverständlich erforderliche Zusammenarbeit mit
dem BND im Gesetzentwurf auch für besondere Auslandsverwendungen ausdrücklich festgeschrieben.
Künftig dürfen in den Einsatzgebieten Informationen
über Personen und Personengruppen, die nicht zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung
gehören, ausgewertet werden. Dies gilt aber nur dann,
wenn sich deren Bestrebungen oder Tätigkeiten gegen
die eingesetzten Personen, Dienststellen oder Einrichtungen der Bundeswehr richten. Die Aufgaben und Befugnisse werden in zeitlicher und räumlicher Hinsicht
ausdrücklich auf die konkrete Auslandsverwendung der
Bundeswehr begrenzt. Zugleich verpflichtet sich die
Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf,
das Parlamentarische Kontrollgremium vor Beginn über
Art und Umfang des geplanten Einsatzes des Militärischen Abschirmdienstes zu unterrichten. Damit ist auch
die parlamentarische Kontrolle eines Auslandseinsatzes des MAD umfassend gewährleistet.
Darüber hinaus wird mit dem Gesetzentwurf einer
Forderung des Bundesbeauftragten für Datenschutz entsprochen, da die automatisierte Übermittlung personenbezogener Daten aus dem Personalführungs- und Informationssystem der Bundeswehr an den MAD auf eine
gesicherte Rechtsgrundlage gestellt wird. Da der MAD
in erster Linie verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Bundeswehrangehörigen
abzuwehren hat, muss er die Bundeswehrzugehörigkeit
von Betroffenen durch den Zugriff auf diese Daten überprüfen können, um seine Zuständigkeit und damit die
rechtliche Zulässigkeit seines Tätigwerdens festzustellen.
Mit diesem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des MAD-Gesetzes wird also den wesentlich gewandelten Aufgaben der Bundeswehr auch auf dem sensiblen Gebiet des Einsatzes des MAD bei besonderer
Auslandsverwendung zum Schutze deutscher Bundeswehrangehöriger im Einsatzgebiet Rechnung getragen.
So stellen wir sicher, dass für die Truppe und die Bundeswehrkontingente auch bei Auslandseinsätzen ein dem
Inland vergleichbares Schutzniveau erreicht und auf eine
gesicherte rechtliche Grundlage gestellt wird.
Deshalb bitte ich Sie ausdrücklich um Ihre Zustimmung zu dem für die Angehörigen der Bundeswehr, die
sich im Auslandseinsatz befinden, wichtigen Gesetzentwurf. Ich nutze auch die Gelegenheit, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Militärischen Abschirmdienstes für ihre gute Arbeit zu danken.
Auch Ihnen danke ich für das Zuhören.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Raidel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf die Terroranschläge vom 11. September
2001 hat die Bundesregierung mit so genannten Sicherheitspaketen reagiert. Darin wurde auch die Ausweitung
der Kompetenzen des MAD bei Auslandseinsätzen angeregt. Bisher waren Angehörige des MAD mangels gesetzlicher Regelungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr offiziell nicht präsent. Dennoch wurden sie
unter der Legende „Sicherheitspersonal“ eingesetzt, was
bei den betroffenen Soldaten die Forderung nach
Rechtssicherheit laut werden ließ - ein berechtigtes Anliegen.
Wichtig ist, dass der MAD die Bundeswehr unter anderem vor dem Eindringen von Terroristen schützt, da
die Bundeswehr durch den Umgang mit Waffen und
Sprengstoffen ein verlockendes Ziel für Terrorangriffe
sein kann. Es gab ja schon einmal einen Gesetzentwurf,
nämlich den vom 11. Februar 2002. In ihm stand geschrieben: Das Aufgabenspektrum soll ausgeweitet werden. Der MAD wird ermächtigt.
Für diesen tauglichen Entwurf hatten wir von der
CDU/CSU durchaus Sympathien, da er unserem Antrag
„Sicherheit 21“ entsprach, in dem wir gefordert hatten,
den MAD zu stärken. Dieser Entwurf wurde nie im Parlament beraten, weil die Grünen dagegen waren. Die Befugnisse des MAD gingen ihnen damals unbegreiflicherweise zu weit.
({0})
Im neuen Entwurf vom 10. November 2003 heißt es
jetzt: „ … soll ergänzt werden, um bei Auslandsverwendungen … ein vergleichbares Schutzniveau … wie im
Inland zu erreichen.“ Um diese Einschränkung zu kaschieren, heißt es jetzt weiter: „Der MAD wird ausdrücklich beauftragt“. Auf Drängen der Grünen soll der
Einsatz im Ausland auf Liegenschaften der Truppe beschränkt sein. Das heißt unter anderem, dass der MAD
Arbeitskräfte, die für die Bundeswehr im Ausland arbeiten, überprüfen darf. Allerdings ist ihm die Möglichkeit
verwehrt, Aufklärungsnetze im Einsatzland aufzubauen.
Diese Lücke soll durch Kooperation mit dem BND geschlossen werden. Es ist aber sehr fraglich, ob der BND
diese Lücke schließen kann.
({1})
- Ich habe ja gefragt!
Nach unserer Auffassung sind die Vorbehalte der
Grünen praxisfremd und stellen möglicherweise ein Sicherheitsrisiko für die gesamte Bundeswehr im Einsatz
dar.
({2})
Sie sind in der Sache ungerechtfertigt, da Aufklärung
auch außerhalb von militärischen Liegenschaften erforderlich ist. Die Grünen gehen offensichtlich von deutschen Inlandsverhältnissen aus, die im Ausland so aber
nie anzutreffen sind.
Zwar ist es zu begrüßen, dass endlich ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, doch wird die bisherige Gesetzeslücke nur teilweise geschlossen. Da die Bundesregierung
hinter ihrem ersten Entwurf zurückbleibt - Feigheit vor
dem Freund, könnte man hier sagen - und damit die Arbeit des MAD nicht wirklich praxisgerecht fördert, lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Ein praxisfernes und
damit schlechtes Gesetz hilft niemandem.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Christian
Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Raidel, ich kann überhaupt nicht verstehen,
wie Sie dieses Gesetz und vor allen Dingen den Bundesnachrichtendienst so schlecht machen können. Ich
komme ja in eine ganz verzwickte Rolle, wenn ich hier
nun den Bundesnachrichtendienst in seiner Arbeit verteidigen soll.
({0})
Sie sollten sich etwas mehr informieren, bevor Sie so
eine Rede halten.
({1})
Dann wüssten Sie nämlich, dass es sehr wohl auch Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes ist, sich im Ausland
mit militärischen Verhältnissen, mit militärischen Gefahren - auch für die Bundeswehr - und mit militärischen
Aktivitäten zu befassen.
({2})
Der Bundesnachrichtendienst hat extra dafür ausgebildete Leute. Das wollen wir hier aber nicht im Einzelnen
ausführen.
({3})
Das heißt, Ihre Kritik liegt völlig neben der Sache.
Auch wir haben zur Kenntnis genommen - ich sehr
leidvoll -, dass die Bundeswehr im Ausland in vielen
Bereichen tätig ist. Wir haben auch zur Kenntnis genommen, dass der Militärische Abschirmdienst, der Sicherheit für die Soldaten und den Schutz der Soldaten vor Infiltration, vor Spionage, vor möglichen terroristischen
Angriffen und Ähnlichem gewährleisten soll, dies in der
Vergangenheit auf halb legaler Basis gemacht hat. Wir
sind uns ja einig, dass das nicht ganz in Ordnung gewesen ist.
Deshalb hat das Bundesverteidigungsministerium nun
diesen Vorschlag vorgelegt. Sie haben Recht, es gab vorher einen anderen Vorschlag. Wir haben gesagt: Aus gutem Grund ist in der Bundesrepublik Deutschland, ganz
anders als in vielen anderen Ländern, die Tätigkeit der
Nachrichtendienste, der Geheimdienste, ganz besonders
geregelt. Eine der ganz wichtigen Regelungen, die wir
auch nicht ändern wollen und nicht ändern dürfen, ist,
dass die auslandsgeheimdienstliche Tätigkeit und die inlandsgeheimdienstliche Tätigkeit streng getrennt sind.
Das sind ganz unterschiedliche Organisationen mit ganz
unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen.
({4})
Wir haben gesagt: Wir wollen diesen Grundsatz nicht
deshalb, weil nun die Bundeswehr im Ausland tätig ist,
durchbrechen. Vielmehr wollen wir diesen Grundsatz
möglichst aufrechterhalten. Deshalb haben wir - Vertreter unserer Fraktion, Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums und andere - uns zusammengesetzt, nachdem der neue Vorschlag vorlag, und haben diesen
Gesetzentwurf geboren. Ich finde, das ist genau der richtige Weg, wie man die Arbeit dieser Dienste nach wie
vor ganz sauber trennen kann.
({5})
Soweit die Bundeswehr im Ausland tätig ist und sich
dort in Unterkünften und in anderen Einrichtungen tummelt, wird auch der MAD tätig.
({6})
Es gab ja in der Zeitung den Vorwurf bzw. das Gerücht
- oder wie auch immer ich das bezeichnen soll -, dass
ein Koch, der aus dem einheimischen Bereich gekommen ist, die Bundeswehr irgendwie unterwandern
wollte. Um dem vorzubeugen, haben wir gesagt: Der
Sachverstand des MAD muss in die dortige Kaserne
bzw. Einrichtung hinein, um das zu verhindern, um zu
kontrollieren, Gespräche zu führen und die Leute zu
überprüfen. So weit sind wir mitgegangen.
Wir haben aber nicht eingesehen, warum der MAD in
Afghanistan oder anderen Ländern, im Kosovo oder wo
auch immer, ein eigenes Informationsnetz aufbauen
soll. Das ist Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes. Der
Bundesnachrichtendienst hat immer wieder betont - Herr
Hanning hat das auch in der Öffentlichkeit getan -, dass
er sich durchaus in der Lage sieht, diese Aufgabe wahrzunehmen. Wenn gefährdende Erkenntnisse vorliegen,
dann kann der Bundesnachrichtendienst sie an den MAD
oder die dortigen Mitarbeiter weitergeben.
Für uns war es ganz entscheidend, dass die Regelungen bezüglich der Liegenschaften keinesfalls zur Folge
haben dürfen, dass der MAD dort im Land ein Zelt oder
eine konspirative Wohnung einrichtet, von der aus er mit
nachrichtendienstlichen Mitteln selbst Informationen aus
dem Land einholt. Seine Tätigkeit - soweit sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln betrieben wird - muss sich
auf die Einrichtungen oder Liegenschaften - diesen Begriff haben wir gewählt - reduzieren. Der MAD kann
darüber hinaus natürlich Informationen von anderen öffentlichen Stellen - aus dem Land, von Partnerdiensten
oder wem auch immer - einholen, um seine Aufgaben
wahrzunehmen. Hierbei handelt es sich um eine saubere
Trennung, die sich, so hoffe ich, bewähren wird. Wenn
daran festgehalten wird, dann wird auch weiterhin
auseinander gehalten werden können, dass wir Inlandsgeheimdienste, den MAD, das Bundesamt für Verfassungsschutz, und einen Auslandsgeheimdienst, den Bundesnachrichtendienst, haben.
Neben der Tatsache, dass wir grundsätzliche politische Bedenken hätten, das zusammenzuführen, gibt es ja
auch ganz pragmatische Überlegungen. Wenn es mehrere Auslandsgeheimdienste gibt, die nebeneinander
Netze und Konkurrenzen entwickeln, führt das zu
Schwierigkeiten. Ein schlechtes Vorbild sind beispielsweise die USA. Ich glaube, sie haben 17 solcher Geheimdienste. Sie benötigen inzwischen eine eigene Behörde, um die Tätigkeiten der Geheimdienste
untereinander zu koordinieren, da es ansonsten unüberschaubar wäre. Davor wollen wir bewahrt sein.
Wir wollen auch nicht, dass die Geheimdienste sich
gegenseitig Konkurrenz machen. Deshalb sind die Aufgabenbereiche sehr sauber getrennt. Ich hoffe, das reicht.
In Liegenschaften wird der MAD tätig. Darüber hinaus
kann er bei öffentlichen Stellen nachfragen. Ein ganz
wichtiger Punkt ist, dass das von uns zur Kontrolle auch
des MAD geschaffene Parlamentarische Kontrollgremium vor dem Einsatz des MAD unterrichtet werden
muss.
Ich hoffe, dass sich alle Betroffenen an diese Regelung halten. Ich bin mir sicher, dass dann all die Gefahren, die sonst mit einer Vermengung der Aufgaben der
verschiedenen Geheimdienste verbunden wären, nicht
entstehen.
Herr Kollege!
({0})
Ich denke, wir haben hier ein Gesetz geschaffen,
durch das sowohl den bürgerrechtlichen Vorstellungen
und Kriterien der Grünen als auch den Notwendigkeiten
der Praxis Rechnung getragen wird.
Danke.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um das
Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die FDP wird dem
MAD-Änderungsgesetz zustimmen.
({0})
Seit der Verabschiedung des MAD-Gesetzes im
Jahre 1990 hat sich die weltpolitische Situation grundlegend geändert. Niemand hat sich im Jahre 1990 vorstellen können, dass die Bundeswehr immer häufiger zu
Auslandseinsätzen entsandt werden muss. Deswegen
war das MAD-Gesetz in der alten Fassung nicht auf
Auslandseinsätze zugeschnitten. Gerade wegen der besonderen Bedrohung der militärischen Sicherheit und
der Sicherheit der Bundeswehrangehörigen im Ausland
muss eine Anpassung an diese spezielle Gefährdungssituation vorgenommen werden.
({1})
Die Streitkräfte werden durch das MAD-Gesetz im
Inland besonders geschützt. Dies muss umso mehr bei
den gefährlichen Auslandseinsätzen gelten. Deswegen
begrüßen wir es, dass die deutschen Bundeswehrkontingente bei besonderer Verwendung der Bundeswehr im
Ausland durch den MAD abgeschirmt werden.
({2})
Dabei legen wir besonderen Wert auf eine enge Kooperation mit dem Bundesnachrichtendienst. Ich bin auch
sicher, dass die Zusammenarbeit gut klappen wird.
Die Novellierung des MAD-Gesetzes ist auch notwendig, um die automatisierte Übermittlung personenbezogener Daten aus PERFIS auf eine gesicherte
Rechtsgrundlage zu stellen. Das sind im Übrigen alte
Forderungen des Bundesdatenschutzbeauftragten, denen wir durch diese Novellierung gerecht werden.
Ich bin froh, dass wir dieses Gesetz heute verabschieden können, da bereits in der letzten Legislaturperiode
ein entsprechender Anlauf genommen wurde, der dann
aber an einem Koalitionspartner gescheitert ist. Herr
Ströbele hat dazu Ausführungen gemacht. Die Streitkräfte haben nämlich Anspruch darauf, dass ihre Sicherheit von innen heraus durch den Militärischen Abschirmdienst gewährleistet wird und damit Hilfskonstruktionen,
die gelegentlich gewählt worden sind, obsolet werden.
Dieses Gesetz kommt im Hinblick auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr spät, aber, wie ich hoffe, nicht zu
spät.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Militärische Abschirmdienst soll künftig problemlos
im Ausland agieren können. Das ist der Sinn des vorliegenden Gesetzentwurfes. Damit wird legalisiert, was
auch bisher schon Usus war; denn der MAD war auch
vordem schon im Ausland tätig - illegal und damit gesetzlos.
({0})
Insofern ist die Formulierung, das Gesetz habe in erster
Linie eine klarstellende Funktion, eine sehr nette Umschreibung des Zustandes.
({1})
Sie ist schlicht irreführend.
({2})
Bisher hat der MAD kein Recht, im Ausland tätig zu
werden. Er tat es dennoch. Die PDS im Bundestag hat
das mehrfach scharf kritisiert.
({3})
Allerdings unterscheiden wir uns auch bezüglich des
vorliegenden Gesetzentwurfes von den einreichenden
Fraktionen, denn wir wollen keine Militarisierung der
Außenpolitik und somit auch keine Bundeswehr im
Ausland, die weltweit agiert.
({4})
Die PDS will eine verkleinerte Bundeswehr, die sich auf
die Landesverteidigung beschränkt und daher abgerüstet werden kann. Eine Landesverteidigung, die bei ihren
Leisten bleibt, braucht natürlich auch keinen militärischen Geheimdienst, der durch die Welt schwadroniert.
Insofern ist unser Nein zu diesem Gesetzentwurf nur logisch. Unlogisch ist hingegen, wenn Sie behaupten, zu
Ihrem Gesetzentwurf gäbe es überhaupt keine Alternativen. Es gibt selbstverständlich Alternativen. Sie müssten
dazu nur Ihr außenpolitisches Konzept auf strikt friedliche und zivile Optionen umstellen.
Ich erinnere daran, dass die Befugnisse aller deutschen Geheimdienste bereits im Rahmen der Terrorbekämpfung erheblich erweitert wurden. Die PDS hat davor gewarnt, zumal Geheimdienste von ihrem Wesen her
unkontrollierbar sind. Auch aus diesem Grunde lehnen
wir es ab, dem MAD weitere Vollmachten einzuräumen.
({5})
- Ganz recht, wir wissen das und sind aus Erfahrung klüger geworden. Das scheint bei anderen nicht so zu sein,
Herr Kollege.
({6})
Schließlich will ich nicht spekulieren, man braucht es
aber auch nicht. Wer glaubt, der MAD beschränke sich
am Hindukusch oder wo auch immer auf das Innere von
Kasernenmauern oder Zeltplanen, der muss schon obernaiv sein, Kollege Ströbele.
({7})
Unter dem Strich etablieren Sie einen weiteren Auslandsgeheimdienst mit unbeschränkten Befugnissen und
Vernetzungen. Dazu sagt die PDS im Bundestag Nein.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaas Hübner.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der von Bundesminister Struck und General
Schneiderhan initiierte Transformationsprozess der Bundeswehr gibt der Bundeswehr die endgültige Struktur
zur Bewältigung ihrer zunehmend neuen Aufgaben,
nämlich der Durchführung friedensschaffender und friedenssichernder Maßnahmen. Die Aufteilung der Bundeswehr in Eingreifkräfte mit speziellen Fähigkeiten für
friedensschaffende Operationen, Stabilisierungskräfte
für friedensbewahrende Operationen und Unterstützungskräfte zur logistischen Begleitung der beiden erstgenannten Kräfte und zur klassischen Landesverteidigung wird die Bundeswehr in die Lage versetzen, ihren
internationalen Verpflichtungen noch besser nachzukommen. Wir unterstützen den Bundesminister bei diesen Bemühungen ausdrücklich.
({0})
Schon heute sind unsere im Ausland eingesetzten
Soldatinnen und Soldaten vor Ort hoch angesehen, respektiert und zum Teil - man kann es fast so sagen - beliebt. Sie gehören damit zu den herausragenden Botschaftern unseres Landes und tragen deutlich zu dem
guten Ansehen Deutschlands im internationalen Raum
bei. Dabei setzt sich die Truppe allerdings erheblichen
Risiken aus, wie wir in der Vergangenheit immer wieder
schmerzhaft haben erfahren müssen. Diese Rolle werden
sie in der Zukunft wahrscheinlich noch verstärkt wahrnehmen. Gerade deswegen ist es unsere zwingende Verpflichtung, unseren Soldatinnen und Soldaten auch außerhalb der deutschen Grenzen den bestmöglichen
Schutz zu gewähren. Das heute zur Beratung vorliegende MAD-Gesetz ist hierfür ein wichtiger Bestandteil.
Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf am
17. September 2003 eingebracht. Die vorgesehene Änderung ist notwendig, weil nach der jetzt gültigen Fassung des MAD-Gesetzes eine Verwendung des MAD
zum Schutz eines deutschen Bundeswehrkontingentes
im Ausland nicht eindeutig geregelt ist. Durch den Gesetzentwurf wird nun ausdrücklich klargestellt, dass der
MAD für die Zukunft beauftragt ist, bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr vor Ort tätig zu werden, um die
Einsatzbereitschaft und insbesondere die Sicherheit der
Angehörigen des deutschen Kontingents zu gewährleisten. Dabei - Herr Raidel hat es angesprochen - darf der
MAD im Ausland räumlich nur innerhalb der Liegenschaften der Bundeswehr tätig werden - ich komme
darauf gleich noch zurück -, in denen sich Einrichtungen
der Truppe befinden. Außerhalb der Liegenschaften ist
er auf die Hilfe des BND angewiesen.
Dafür gibt es gute Gründe; Kollege Ströbele hat eben
darauf hingewiesen. Die Aufgabenteilung ergibt sich
vordergründig daraus, dass der MAD ein Inlandsnachrichtendienst, der BND aber ein Auslandsnachrichtendienst ist. Die Aufgabe des BND ist die Beschaffung und
Auswertung von Informationen über das Ausland, sofern
diese von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung
für die Bundesrepublik Deutschland sind. Die Hauptaufgabe des MAD besteht dagegen in der Sammlung von
Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Bestrebungen
innerhalb der Bundeswehr und Bestrebungen gegen die
Bundeswehr von außen sowie der Gewährleistung der
Sicherheit der Bundeswehrliegenschaften.
Herr Kollege Raidel, dies ist in meinen Augen ein akzeptabler und guter Ansatz.
({1})
- Ich komme gleich noch darauf zurück. Man kann sagen: Der BND hat sich eine herausragende Kompetenz
erworben. Er ist aufgrund seiner Professionalität im
Ausland sehr geschätzt. Daran, dass die Amerikaner zur
Vorbereitung ihrer Intervention im Irak zum Großteil auf
ursprünglich durch den BND erhobene Informationen
zurückgegriffen haben, erkennt man, wie stark der BND
mittlerweile verankert ist und welche herausragende Bedeutung er hat. Warum soll man also auf diese Kompetenz nicht zurückgreifen? Warum soll man zwingend
eine Parallelkompetenz aufbauen, zumal Parallelkompetenzen häufig zu Kompetenzüberschneidungen führen?
({2})
- Ich komme gleich zu Ihnen, Herr Raidel. - Insofern ist
es sinnvoll, die bestehenden Strukturen zu überprüfen
und sie so zu nutzen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten optimal geschützt sind.
Nun sind wir, Herr Kollege Ströbele, auf der einen
Seite von solchen Kompetenzüberschneidungen bei Geheimdiensten, wie wir dies aus den Vereinigten Staaten
kennen, zum Glück weit entfernt.
({3})
Auf der anderen Seite kann man eine kritische Prüfung
unter dem Motto „Wehret den Anfängen“ durchaus
rechtfertigen.
Ich will aber deutlich sagen: Damit dieser Weg gangbar ist, ist es zwingend notwendig, dass die beiden
Dienste BND und MAD vor Ort reibungslos zusammenarbeiten. Wenn dies nicht klappt, dann wäre unser Ansatz nicht zufriedenstellend. Ich gehe fest davon aus,
dass die Bundesregierung diese Zusammenarbeit begleiten und uns rechtzeitig unterrichten wird. Dieser Prozess
kann nach einem Jahr bewertet werden. Dann wird man
sehen, ob sich diese Idee in der Praxis bewährt hat.
Wenn dies der Fall ist, ist dies wunderbar. Wenn nicht,
werden wir mit Sicherheit neu zusammenkommen. Ich
habe den Kollegen Nachtwei im Ausschuss so verstanden, dass wir einer Bewertung mit Interesse entgegensehen.
({4})
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt daher im Vergleich zu der jetzt gültigen Regelung eine deutliche Verbesserung dar. Er schafft die längst fällige Rechtssicherheit für die Tätigkeit des MAD im Ausland und trägt
dem zwingenden Erfordernis einer spürbaren Anhebung
des Schutzniveaus unserer Soldatinnen und Soldaten
Rechnung. Man sollte sich daher diesem Gesetz nicht
verweigern. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
erwarten mit Recht von uns, dass wir alles tun, was zum
Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten insbesondere
im Ausland beiträgt. Daher bitte ich alle Fraktionen dieses Hauses um Zustimmung.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Herrmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Vielleicht ist der große Unbekannte schon
dabei, ein Lager im fernen Afghanistan auszuspionieren,
in dem Soldaten aus Deutschland ihren Dienst verrichten. Vielleicht ist auch schon ein Netz von undurchsichtigen Helfershelfern an der Arbeit, um mit terroristischen Mitteln großen Schaden anzurichten und die
Friedensmission zu gefährden. Das ist kein Horrorszenario aus dem letzten „Matrix“-Streifen, sondern das
könnte heute schon Realität sein und ist bei der jetzigen
Sicherheitslage sicherlich nicht auszuschließen.
Deshalb - Hans Raidel hat das eben auch schon erwähnt - hatte die CDU/CSU-Fraktion schon kurz nach
dem Terrorangriff auf das World Trade Center am
11. September 2001 in ihrem Antrag „Sicherheit 21“ gefordert, den Militärischen Abschirmdienst zu stärken.
Das ist auch geschehen, zumindest für die Tätigkeit des
MAD im Inland, aber leider nicht in dem Umfang, wie
wir es gewünscht und wie wir es für sinnvoll gehalten
haben.
Heute gilt daher mehr denn je: Verantwortlich ist man
nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was
man nicht tut. Wir sind dafür verantwortlich - unsere
Fraktion stellt sich dieser Aufgabe mit großer Überzeugung -, die Soldatinnen und Soldaten, die im Auftrag
unseres Landes vor Ort sind, zu schützen. Es ist aber
nicht einfach so hinzunehmen, dass die Soldaten im Inland besser geschützt werden sollen als ihre Kameraden
im Ausland.
({0})
Deshalb ist es dringend notwendig, die Arbeit des MAD
zum Schutz der Bundeswehr im Ausland auf eine solide rechtliche Grundlage zu stellen, die es ermöglicht,
einen umfassenden Schutz zu gewährleisten und die
gleichen Arbeitsbedingungen wie im Inland zu schaffen.
Dies gilt unter anderem aus zwei Gründen. Erstens.
Zunächst haben die Männer und Frauen, die für
Deutschland im Ernstfall ihr Leben aufs Spiel setzen,
den größtmöglichen Schutz verdient. Zweitens. Wir garantieren mit diesem Schutz auch ihre Einsatzfähigkeit
und Einsatzbereitschaft. Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf bleibt meines Erachtens
auf halbem Wege stecken. Es grenzt an unterlassene Hilfeleistung, die Arbeit des MAD lediglich auf die Liegenschaften der Bundeswehr zu beschränken.
({1})
Erst die Möglichkeit, außerhalb zu recherchieren und
einheimische Quellen zu nutzen, erlaubt es, das Sicherheitspuzzle zu vervollständigen und gezielte operative
Maßnahmen bereits im Vorfeld eines Anschlags zu gewährleisten.
Ich möchte meine Bedenken in einen Sachverhalt des
täglichen Lebens kleiden. Würden Sie sich eine Alarmanlage einbauen, die erst dann zum Einsatz kommt,
wenn die Einbrecher bereits in Ihr Haus eingestiegen
sind? Ich glaube, nicht. Genau deshalb hält es unsere
Fraktion auch für zu kurz gesprungen, wenn der MAD in
seiner Arbeit im Ausland so beschränkt wird. Mir geht
es nicht darum, dem BND irgendwelche Fähigkeiten
oder Kompetenzen abzusprechen, Herr Ströbele.
({2})
Im Gegenteil: Ein umfassendes Sicherheitssystem
kann erst dann optimal funktionieren, wenn alle Stellen
gut miteinander vernetzt sind und über kurze Kommunikationswege verfügen. Aber ein umfassender Schutz unserer Soldaten im Auslandseinsatz ist nur dann erreicht,
wenn der MAD die Befugnis hat, Aufklärungsnetze im
Einsatzland aufzubauen. Hier klafft eine Sicherheitslücke, die Sie hätten einfach schließen können.
Aber selbst Sie, verehrter Herr Minister Struck, haben
kein Hehl daraus gemacht, dass diese Beschränkung, die
wir übrigens den Kolleginnen und Kollegen der grünen
Fraktion zu verdanken haben, „nicht vernünftig“ sei. So
Ihre Ausführung in der „Frankfurter Rundschau“ vom
18. September 2003. Schon Ihr Vorgänger Minister
Scharping hatte sich an dieser Frage die Zähne bei den
Grünen ausgebissen.
Dass der BND diese Lücke schließen soll, reicht weder Ihnen, sehr geehrter Herr Minister, noch Ihrem Vorgänger. Ich teile daher die Auffassung, dass der Bundesnachrichtendienst für die strategische Erkundung
zuständig sein muss, der MAD seine Informationssammlung abwehrorientiert auszurichten hat.
({3})
Es stellt sich daher die Frage: Finden Sie es nicht
auch unverantwortlich, wenn den Männern und Frauen,
die sich ihrerseits für den bestmöglichen Schutz der zivilen Bevölkerung einsetzen, selbst der Schutz und die
größte Sicherheit für ihre Arbeit vorenthalten wird?
({4})
Dies gilt umso mehr, als Ihre neue und verstärkt auf Auslandseinsätze abgestimmte Einsatzkonzeption der Bundeswehr gerade hier ein hohes Gefährdungspotenzial für
unsere Soldatinnen und Soldaten mit sich bringt.
Wie leichtfertig teilweise aufgrund von Koalitionsstreitigkeiten mit dem Schutz unserer Soldaten umgegangen wird, ist offensichtlich.
({5})
Ich erinnere insbesondere an die Aussage Ihres verteidigungspolitischen Sprechers, Kollege Arnold, der auch
gerade anwesend ist und der in der Sitzung des Verteidigungsausschusses, in der wir über den Gesetzentwurf
diskutiert haben,
({6})
auch mehr Flexibilität beim Einsatz des MAD im Ausland für gut befunden hat. Diese sehr lobenswerte Äußerung relativierte er aber gleich. Er opferte seine Auffassung auf Kosten der Sicherheit der Soldatinnen und
Soldaten mit der Aussage: Das Leben in einer Koalition
ist immer ein Kompromiss!
({7})
Wir haben die politische Verantwortung dafür, den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MAD, dessen ureigenste Aufgabe es ist, Bundeswehrangehörige vor Gefahren und terroristischen Angriffen zu schützen, den
besten Handlungsspielraum zu bieten. Sie müssen in die
Lage versetzt werden, ihre Aufgaben zum Schutz der
Soldaten umfassend wahrnehmen zu können, ohne in einer rechtlichen Grauzone arbeiten zu müssen.
Dabei - das dürfte jedem klar sein - spielt das Zeitfenster eine nicht unwesentliche Rolle. Das haben die
Terrorangriffe der vergangenen Monate gezeigt. Machen
wir uns nichts vor: Reibungsverluste und Verzögerungen
zwischen MAD und BND können nicht ausgeschlossen
werden. Je schneller die Informationen an der richtigen
Stelle eingehen, desto eher können präventive bzw. restriktive Maßnahmen veranlasst werden.
Meine Fraktion wird dem Gesetzentwurf in dieser
Form nicht zustimmen, da hier fahrlässig darauf verzichtet wird, dem MAD alle erforderlichen rechtlichen
Grundlagen zu geben, die dringend erforderlich wären,
um den optimalen Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten im Ausland zu gewährleisten.
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des MAD-Gesetzes. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2274, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU und zwei weiterer fraktionsloser Abgeordneter angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Dr. Peter Paziorek, Dr. Friedbert
Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Russland für eine Ratifizierung des KiotoProtokolls gewinnen - Im Interesse des internationalen Klimaschutzes und eines Erfolges
des Emissionshandels
- Drucksache 15/2163 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Rio-Prozess und damit auch der Kioto-Prozess sind das Ergebnis einer Phase der Weltpolitik, in der
Umwelt- und Entwicklungspolitik im Mittelpunkt der
Agenda der G-7-Treffen bis hin zu vielen anderen Treffen der Staats- und Regierungschefs, aber auch der Parlamentarier gestanden haben. Das Kioto-Protokoll steht
sozusagen am Ende dieses Prozesses und stellt den Versuch dar, die Vereinbarungen von Rio in ein auf einzelne
Ziele gerichtetes Handeln umzusetzen.
Mir ist bei der Vorbereitung dieser Debatte durch den
Kopf gegangen, dass es eigentlich symptomatisch ist,
dass - wie wir gerade in dieser Woche erleben - die militärische Komponente der Außenpolitik stark an Bedeutung gewonnen hat. Klaus Töpfer hat vor wenigen
Tagen festgestellt, dass heute eher von militärischer
Intervention die Rede ist als von der Intervention bzw.
der Konfliktvermeidung oder Konfliktdämpfung durch
Grünhelme.
Das ist nicht als Vorwurf gemeint; es kennzeichnet
vielmehr einen Wandel bezüglich der Bedeutung der
Themen. Deswegen ist es wichtig, dass hinsichtlich der
internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik, die
zugleich in erheblichen Maße auch Wirtschaftspolitik
ist, eine nüchterne Bilanz der Fakten zur Emissionsminderung sowohl in Europa als auch bei uns in Deutschland gezogen wird.
Wenn man die Statistiken und Untersuchungen zugrunde legt, in denen es um den europäischen und den
globalen Maßstab geht, dann stellt man fest, dass wir uns
von den Zielen des Kioto-Protokolls eher entfernen, als
dass wir sie erreichen. Dies muss uns große Sorgen machen.
({0})
Für eine positive Entwicklung der Klimapolitik, so wie
sie vereinbart ist, ist die Ratifizierung des Kioto-Protokolls durch Russland, über die wir heute reden, von Bedeutung; denn die völkerrechtliche Verbindlichkeit des
Kioto-Protokolls steht sozusagen vor dem Scheitern.
Deswegen haben wir uns in den letzten Wochen nach der
Debatte über unseren Antrag zum nationalen Allokationsplan entschlossen, einen entsprechenden Antrag
vorzulegen. Ich sage ganz deutlich: Wir würden uns
freuen, wenn wir diesen gemeinsam verabschieden
könnten.
({1})
Ich habe in diesem Hause schon darauf hingewiesen,
dass es einen politischen Aufschrei gegeben hat, als klar
war, dass die USA das Kioto-Protokoll nicht ratifizieren
werden. Deshalb macht mich die jetzt herrschende Stille
stutzig, wenn es darum geht, dass Russland auf dem gleichen Wege ist. Ich glaube, jetzt lässt sich erkennen, dass
sich der eine oder andere Staat in der Weltgemeinschaft
hinter der Weigerung der USA, das Kioto-Protokoll zu
ratifizieren, versteckt hat, um nicht selber schwören zu
müssen; das war bequem. Aber nun treten die offensichtlichen Defizite zutage.
Die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Probst hat
am 29. Oktober letzten Jahres auf einer Tagung in Moskau aus Anlass der deutsch-russischen Umweltgespräche
gesagt: Der Unterschrift Russlands kommt entscheidende Bedeutung zu; denn sie ist ausschlaggebend für
das In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls. Recht hat sie!
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass es in diesem
Hause eine gute Basis für Gemeinsamkeiten in dieser
Sache gibt, auch wenn ich aus Sicht der Union sicherlich
beklagen muss, dass etwa auf dem deutsch-russischen
Gipfel in Jekaterinburg das Thema Kioto-Protokoll gar
nicht angesprochen worden ist, und wenn ich deutlich
machen muss, dass wir es für ein schweres Versäumnis
halten, dass Herr Berlusconi das Wort „Kioto“ nicht in
das Protokoll über den letzten deutsch-russischen Gipfel,
an dem auch Herr Putin teilnahm, hat aufnehmen lassen.
({2})
Das, was jetzt geschieht, wird der strategischen Bedeutung Russlands für das Gesamtkonzept überhaupt
nicht gerecht. Nun mag man darüber streiten, ob man in
einer öffentlichen Debatte auch sensible außenpolitische
Dinge ansprechen sollte. Aber wir können nicht über
westlich-demokratische Partner offen diskutieren und in
Richtung Osten - möglicherweise - schweigen. Das
finde ich nicht akzeptabel,
({3})
auch wenn ich deutlich unterstreichen möchte, dass die
Bedeutung Russlands weit über die Frage der Ratifizierung des Kioto-Protokolls hinausgeht.
Die strategische Partnerschaft Russlands bei den
Energiereserven ist für Europa und insbesondere für
Deutschland ganz unbestritten wichtig. Deutschland
sollte diese strategische Partnerschaft nicht gefährden.
Dabei darf aber auch nicht vergessen werden, dass Russland für den Umbau seiner Kraftwerkskapazitäten auf
das Effizienzniveau, das wir im Auge haben - das bedeutet eine Verdoppelung der Effizienz des russischen
Kraftwerksparks -, 400 Milliarden Dollar braucht, ohne
bislang zu wissen, woher es dieses Kapital bekommen
soll.
Bei der Betrachtung der strategischen Partnerschaft
mit Russland muss noch ein weiterer Punkt berücksichtigt werden. Warum unterzeichnet Russland nicht die
Europäische Energiecharta? Ich möchte mich hierbei
auf den simplen, aber bedeutenden Punkt der Rechtssicherheit ausländischer Investionen in Russland konzentrieren. Dass das nach den Vorgängen der letzten Monate
ein Thema für ausländische Investoren ist, kann nicht
ernsthaft bestritten werden. Darüber hinaus ist Russland
sicherlich auch ein Partner in der globalen und insbesondere in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Wenn man aber einmal betrachtet, was Vertreter der Regierung in den Ausschüssen und Gespräche mit Kollegen aus der Duma, mit russischen Politikern, zutage fördern, dann erkenne ich, dass es nicht um die Frage geht,
ob wir möglicherweise die Fakten gleich beurteilen.
Vielmehr berührt es mich zutiefst, dass wir aufgrund
mentaler Unterschiede anders an die Frage herangehen,
ob das, worüber wir diskutieren, eigentlich ein Problem
darstellt und was uns hinsichtlich der Zukunftsgestaltung
bewegen muss.
Ich erlaube mir deswegen trotz aller gebotenen Vorsicht, zu sagen: Russische Politiker ordnen die Charta
und das Kioto-Protokoll eher in die Kategorie alter kolonialistischer Strukturen ein und empfinden sie weniger
als eine zukunftsgerichtete Politik der gemeinsamen Verantwortung für Europa und die Welt. Der Schlüssel zur
Lösung der Probleme liegt in der Beantwortung der
Frage, ob wir in der Lage sind, unsere russischen Parlamentskollegen und die russische Regierung davon zu
überzeugen, dass es dem Westen bei der Ratifizierung
des Kioto-Protokolls nicht darum geht, kolonialistische
Strukturen aufzubauen, sondern darum, dass wir gemeinsam um eine Zukunft für unsere Kinder ringen, was
dringend notwendig ist.
({4})
Das Thema ist auch für uns von erheblicher Bedeutung: Was passiert, wenn die Ratifizierung des KiotoProtokolls scheitert, das Protokoll somit nicht völkerrechtlich verbindlich wird und die gesamten Mechanismen nicht zur Geltung kommen? Frau Probst hat dazu in
Moskau einen richtigen Satz geäußert.
({5})
- Der Satz stammt aus der Presseerklärung. Ob sie sonst
noch Kluges gesagt hat, Frau Homburger, kann ich nicht
nachprüfen. Ich formuliere es einmal so: Ich habe keinen
MAD.
({6})
- Auch das gebe ich zu, Herr Kubatschka.
Erst wenn das Protokoll in Kraft ist, können seine
ökonomischen Vorteile genutzt werden. Das heißt umgekehrt: Klimapolitik wird teuer, möglicherweise zu teuer,
und wir verlieren strategische Vorteile, wenn Russland
das Kioto-Protokoll nicht unterzeichnet. Deswegen stellt
sich nicht nur für Russland, sondern auch uns die Frage:
Welche Konsequenzen ziehen Europa und Deutschland
im Falle des Scheiterns?
Wir diskutieren an dieser Stelle - ich sage es noch
einmal - nicht nur über Umweltpolitik, sondern auch
über Fragen von Wirtschaft und globalem Wettbewerb. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, im Dialog mit allen Fraktionen der
Duma und mit der Regierung Russlands wie auch mit
Amerika Überzeugungsarbeit für die Ratifizierung des
Kioto-Protokolls zu leisten.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Ulrich von
Weizsäcker.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Grill, ich bedanke mich sehr herzlich
für das Angebot zur Zusammenarbeit. Das ist in diesem
Zusammenhang in der Tat sehr angebracht. Wir sind uns
in der Zielsetzung weitestgehend einig. Es wäre für uns
alle gut, wenn Russland das Kioto-Protokoll ratifizierte.
Sie haben in Ihrem Antrag vollkommen richtig beschrieben: Nach der amerikanischen Weigerung, das Protokoll
zu ratifizieren, liegt der Schlüssel ganz eindeutig bei
Russland.
Das war übrigens seitens der Amerikaner von vornherein so geplant. Ich war selbst in Kioto und habe mit
Vertretern der amerikanischen Delegation gesprochen,
die noch schwer unter dem Eindruck eines nahezu einstimmigen Votums des amerikanischen Senats standen,
keinerlei Klimaschutzabkommen zu unterschreiben,
wenn die Entwicklungsländer an diesem Klimaschutz
nicht in einem nennenswerten Umfang beteiligt würden.
Die ganze Konferenz in Kioto ist nur knapp einem Desaster entgangen.
Wir Europäer und die Japaner haben die Amerikaner
gewissermaßen auf Knien gebeten, mitzumachen, und
sind dabei auf Granit gestoßen.
Schließlich ist der damalige Vizepräsident der USA,
Al Gore, eingeflogen und hat seine Delegation gewissermaßen zur Räson gebracht. Aber sie hat ihm dann die
Formel von 55 Prozent abgetrotzt, die genau zu dem Ziel
führen sollte, dass die USA, die nach Meinung des Senats oder des Kongresses insgesamt überhaupt nicht dabei sein wollten, plus Russland das Zustandekommen eines rechtsgültigen Protokolls verhindern können. Das ist
insofern überhaupt keine Überraschung gewesen.
Herr Bundeskanzler Schröder und Herr Umweltminister Trittin wissen selbstverständlich, dass genau das
die Sachlage ist, und setzen sich, wo sie nur können, dafür ein, dass Russland ratifiziert. Die Frage ist natürlich
nur: Mit welchen Mitteln? Wie sinnvoll ist es, auf Russland zum Beispiel wirtschaftlichen Druck auszuüben?
Wir wissen, dass es nicht furchtbar viel Sinn machen
würde, auf Amerika wirtschaftlichen Druck auszuüben.
Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Amerikaner großen Druck auf Russland ausüben, das Protokoll nicht zu ratifizieren. Wenn es nicht den Gegendruck
aus Europa gäbe - er existiert ja bereits -, dann wäre das
Kioto-Protokoll vielleicht schon längst wirklich tot. Gegenwärtig haben wir immer noch eine gewisse Hoffnung, dass es irgendwann doch in Kraft tritt.
Ich habe in Washington vor etwas über einem Jahr an
einer deutsch-amerikanischen Klimatagung mit Parlamentariern teilgenommen. Da hat ein Vertreter des
Außenministeriums, des State Departments, behauptet,
es werde keinerlei Druck auf Russland ausgeübt. Am
nächsten Morgen wurde über dieses Gespräch berichtet.
Dabei hat der Berichterstatter gesagt: Der Vertreter des
State Departments hat gesagt, es werde keinerlei Druck
auf Russland ausgeübt. Dann habe ich ein bisschen frech
dazwischengerufen: Und wir alle haben es geglaubt!
- Da gab es ein tosendes Gelächter auf allen Seiten, insbesondere bei den Amerikanern, weil sie wussten, dass
der Mann aus dem State Department frech gelogen hatte.
Natürlich ist da ein gewaltiger Druck ausgeübt worden! Nur: Was machen wir in dieser Lage?
Wir haben die klimapolitisch interessierten Vertreter
der Duma vor einem Jahr nach Deutschland eingeladen.
Protokollarisch korrekt habe ich sie eingeladen. Die Idee
kam aber zweifellos von Herrn Minister Trittin und ich
bin ihm sehr dankbar dafür. Damals war die psychologische Lage noch gar nicht so schlecht. Die hierher Gereisten waren im Großen und Ganzen der Meinung: Ja, wir
sollten das Kioto-Protokoll ratifizieren. - Aber schon
damals hat man uns gesagt: Solange Putin das nicht an
die Duma weiterleitet, können wir natürlich überhaupt
nichts machen. - Schon damals war also klar, dass es an
Putin hängt.
In der Zwischenzeit hat Ende September die wissenschaftlich orientierte Klimakonferenz in Moskau stattgefunden, auf der auch Putin das Wort ergriffen hat. Er hat
ganz ausdrücklich gesagt, gegenwärtig könne man das
Protokoll noch nicht ratifizieren. Diese Konferenz war
insbesondere von Jurij Israel inspiriert worden, der in
der ganzen Welt als einer von denen bekannt ist, die seit
Jahrzehnten behaupten, es gebe überhaupt keinen Treibhauseffekt; wenn es ihn gäbe, wäre es gut für Russland.
Das heißt, die ganze Konferenz ist als eine Anti-KiotoKonferenz aufgebaut worden. Ausgerechnet auf dieser
Konferenz hat der russische Präsident Putin das Wort ergriffen und gesagt: Wir werden im Moment gar nicht ratifizieren können.
Die Kreml-Astrologen haben Putins Rede im Vorfeld
der russischen Parlamentswahl natürlich als böses Omen
gedeutet - und das war sie ja auch. Die Duma-Wahl im
Dezember hat dann Mehrheitsverhältnisse geschaffen,
durch die noch viel mehr am Präsidenten hängt.
Was wir seitens der SPD nicht akzeptieren können, ist
die Behauptung, dass sich die Bundesregierung in dieser
Sache passiv verhält. Es kommt einer Beleidigung bedenklich nahe, wenn die Antragsteller von CDU und
CSU den Satz schreiben:
Die Bundesregierung muss endlich damit beginnen,
aktiv bei der russischen Regierung für eine Ratifizierung des Kioto-Protokolls zu werben.
({0})
Es gab zweifellos Events, bei denen dieses Engagement
nicht im Zentrum stand, aber wir sind für das Handeln
von Herrn Berlusconi auch nicht so ganz unmittelbar
verantwortlich.
Wir verstehen das Problem jedenfalls einigermaßen
gleichsinnig. Das kommt ja auch in den vernünftigen
Passagen Ihres Antrages zum Ausdruck. Es geht jetzt darum, dass wir an die konstruktiven Passagen Ihres Antrages anknüpfen und wieder vernünftige Klimapolitik machen. Die Frage ist: Wie?
Erstens muss man zur völkerrechtlichen Lage festhalten: Die Klimarahmenkonvention ist in Kraft. Sie gebietet in Art. 2, dass eine gefährliche Interaktion des Menschen mit dem Klima verhindert werden muss. Das ist
natürlich noch keine rechtsverbindliche Aussage darüber, wie dieses im Einzelnen erreicht werden kann, aber
immerhin ein starker Baustein internationaler Klimapolitik.
Zweitens, rechtlich sehr viel deutlicher, hat die EU
mit ihrer Emissionshandelsrichtlinie EU-Recht geschaffen, an welches wir Deutsche uns selbstverständlich halten. Das heißt, unsere Klimapolitik schwebt nicht
im rechtsfreien Raum.
({1})
- Selbstverständlich, Frau Flachsbarth, müssen wir über
Europa hinaus internationale Klimapolitik machen. Dafür wäre das Kioto-Protokoll außerordentlich hilfreich.
Aber wir müssen schon heute handeln und können nicht
einen möglicherweise erst in ferner Zukunft liegenden
Tag abwarten.
Wir sind in Bezug auf das Handeln der deutschen
Bundesregierung vielleicht unterschiedlicher Meinung,
aber auf der Basis einiger Ihrer Aussagen können wir
zweifellos zusammenkommen, insbesondere bezüglich
Ihrer Forderung, dass die Bundesregierung umfassend
und detailliert aufzeigt, welche konkreten Vorteile Russland von einer Ratifizierung des Kioto-Protokolls hätte.
Diese Forderung ist absolut richtig. Dieser vernünftige
Ansatz ist aber wiederum nicht ganz neu. Genau genommen haben die Verhandlungsführer in Kioto - Frau
Dr. Merkel war ja damals Leiterin der deutschen Delegation - allein schon durch die Wahl des Basisjahres für
die Reduktionsverpflichtungen Rücksicht auf Russland
genommen.
Frau Dr. Merkel hatte einige in ihrer Umgebung, darunter auch mich, gefragt, ob sie denn das Protokoll in
der Form, wie es damals formuliert war, akzeptieren
könne. Ich habe ausdrücklich Ja gesagt; denn die Alternative wäre gewesen, dass wir auf Jahre hinaus überhaupt kein Protokoll gehabt hätten. Dieses Protokoll hat
aber nun einmal die bereits genannte Schwäche, die aus
russischer Sicht ein Pluspunkt für dieses Protokoll ist.
Denn durch die Wahl des Basisjahrs 1990 erhält Russland einen ungeheuren geldwerten ökonomischen Vorteil. Für das Gastgeberland Japan war dagegen die Festlegung auf das Basisjahr 1990 eine Art Ohrfeige; denn
Japan hatte einen Großteil seiner klimapolitischen Hausaufgaben schon vor 1990 gemacht, sodass die neuen
Aufgaben Japan ganz besonders teuer zu stehen kommen. Bei In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls hätten
aber die Japaner Veranlassung gehabt, mit begierigen
Blicken auf die so genannte heiße Luft aus Russland zu
schauen; denn auf diese Weise wären sie verhältnismäßig kostengünstig an CO2-Emissionslizenzen gekommen. In der Bewertung dieses Umstandes gibt es sicherlich zwischen Opposition und Regierung gar keinen
Unterschied.
Weiterhin fordern Sie die Regierung auf, dem Bundestag denkbare Alternativen aufzuzeigen, wenn es vorläufig nicht zu einer Ratifizierung kommt. Dazu kann
ich nur sagen: Richtig, genau das ist jetzt unsere akuteste
Hausaufgabe. Wir müssen analysieren: Welche Spielräume haben wir in einer Phase, in der - zu unser aller
Bedauern - das Kioto-Protokoll völkerrechtlich noch
nicht in Kraft ist? Das ist übrigens nicht nur eine Aufgabe für die Regierung, sondern auch für den Bundestag.
Lassen Sie mich dazu ein paar Gedanken ausbreiten,
die von dem breiten Einverständnis ausgehen, dass das
Kioto-Protokoll ratifiziert werden sollte.
Der Erfolg versprechende Ansatz, den ich einmal als
Plan B bezeichnen möchte - das ist eine heute ganz übliche Vokabel -, geht davon aus, dass die CO2-Emissionsminderungen bei uns in Deutschland, aber auch in anderen Ländern mit einer Modernisierung der
Technologie und der Wirtschaft einhergehen. Man
kann seit Mitte der 1970er-Jahre beobachten, dass die
Energieintensität der Wirtschaft der technisch fortschrittlichsten Länder fortlaufend abgenommen hat. Umgekehrt ist natürlich die Energieproduktivität entsprechend
gewachsen. Dieser Trend hat sich weltweit durchgesetzt,
auch wenn er in Ländern mit extrem niedrigen Energiekosten spürbar langsamer abläuft. Russland hat noch immer sehr niedrige Energiekosten. Das hat eine Tradition,
die auf Lenin zurückgeht - seinerzeit eine politische Entscheidung, die zu Beginn der Industrialisierung dem damals sehr armen russischen Volk einen Zugang zu Elektrizität verschaffen sollte. Aber es war auch eine
Einladung zu einer Energieverschwendung, letzten Endes zu einer sagenhaften Energieverschwendung, die der
russischen Volkswirtschaft sehr geschadet hat. Nach der
Wende sind die Energiekosten auch in Russland den
Weltmarktkosten etwas angeglichen worden; aber sie
sind noch immer sehr niedrig. Diese niedrigen Energiekosten halten noch heute manche technisch völlig veralteten Grundstoffindustrien am Leben. Das ist nicht gut
für die Entwicklung neuer Technologien, auf die Russland aber um seiner weltweiten Konkurrenzfähigkeit
willen dringend angewiesen wäre.
Das wäre also der Grundtenor von Plan B: zu betonen, dass die eigentliche Fortschrittsrichtung VermindeDr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
rung der Energieintensität heißt. Technisch ist es sogar
möglich, die Energieproduktivität noch wesentlich weiter zu steigern, als in den letzten 30 Jahren geschehen.
Ein Faktor vier bei ihrer Erhöhung gilt als nachgewiesen. Wenn nun aber Länder wie Japan und Deutschland
einigermaßen entschlossen in die Ausschöpfung dieses
Potenzials eintreten, kann sehr bald der Moment kommen, in dem die Länder, die den neuen Trend verpassen,
hoffnungslos abgehängt werden. Wo stünde etwa Detroit, wenn Deutschland oder Japan mit Massenfertigungen von Autos begännen, die nur noch 2 bis 3 Liter pro
100 Kilometer brauchen? Oder wo bleiben die Entwicklungsländer, die einen wachsenden Teil ihrer teuren
Stromversorgung damit verschwenden, dass sie völlig
ineffiziente Klimaanlagen in ihren Hochhäusern installieren, während bei uns inzwischen Geräte hergestellt
werden, die nur noch ein Drittel des Stroms brauchen?
Ein weiteres Element der Plan-B-Strategie kann der
Ausbau von klimapolitisch motivierten Geschäften zwischen Nord und Süd sein. Das bezeichnen Sie auch in Ihrem Antrag als attraktiv.
Das stärkste Argument für Russland wie für Amerika
wäre es, wenn es an der Wall Street hieße, die Firmen
und Länder, die mit Verschwendungstechnologien operieren, würden abgehängt. Das wäre auch ein Motiv für
Russland, sich sehr rasch zu besinnen.
Man braucht bei der Analyse der ökologischen Folgen nicht so weit zu gehen wie der führende britische
Wissenschaftsberater David King, der angesichts neuer
Studien zu der Aussage kommt, dass das Klimaproblem
noch ernster als die Terrorgefahr sei, womit er schwere
Vorwürfe gegen die Regierung Bush verbindet.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit?
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir sind
es der Modernität unserer Wirtschaft und unseren Kindern und Enkeln schuldig, den Klimaschutz unter jedweder diplomatischen Bedingung ernsthaft voranzutreiben.
Lassen Sie uns das, soweit es irgend geht, gemeinsam
tun!
Vielen Dank.
({0})
Danke schön. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete
Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute nicht zum ersten Mal über die Ratifizierung des Kioto-Protokolls und die Frage, welche
Konsequenzen sich ergeben, wenn es nicht in Kraft tritt.
Man muss feststellen, dass die Situation immer prekärer
und die Sache immer wichtiger und dringlicher wird. In
Europa, auch in der Bundesrepublik Deutschland, stehen
wir kurz vor der Einführung eines Emissionshandelssystems. Dieses Emissionshandelssystem ist mit dem KiotoProtokoll eng verknüpft.
Die Tatsache, dass das Kioto-Protokoll von mindestens 55 Staaten ratifiziert werden muss, die zusammen
für mindestens 55 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich sind, führt zu erheblichen Problemen.
Inzwischen haben zwar 120 Staaten - das entspricht dem
Stand vom Ende des letzten Jahres - das Protokoll ratifiziert; gemeinsam sind diese Staaten allerdings nur für
44,3 Prozent der Emissionen verantwortlich. Das heißt,
trotz aller Anstrengungen ist das Kioto-Protokoll nicht in
Kraft.
Wenn man sich die Annex-I-Staaten - sie sind in diesem Zusammenhang maßgeblich - anschaut, stellt man
fest, dass drei dieser Staaten das Protokoll noch nicht ratifiziert haben: Der Anteil Australiens an den Emissionen beträgt 2,1 Prozent, der Anteil Russlands
17,4 Prozent und der Anteil der USA 36,1 Prozent. Eine
vorbehaltlose Betrachtung zeigt definitiv, dass es eigentlich nur zwei Möglichkeiten gibt, um das Kioto-Protokoll in Kraft zu setzen: Entweder wir bringen Russland
oder die USA zu einer Ratifizierung.
({0})
- Dazu werde ich gleich noch etwas sagen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darum kümmern und in unseren Anstrengungen nicht nachlassen,
und zwar speziell mit Blick auf Russland. Ich finde
aber, man darf nicht nur über dieses eine Land reden. Ich
bin kein Fantast. Trotzdem: Unter internationalen Gesichtspunkten müssen wir ein großes Interesse daran haben, dass sich irgendwann auch in den USA etwas bewegt. In einer solchen Debatte sollten wir gemeinsam
ins Auge fassen, die Anstrengungen mit Blick auf die
USA als einem befreundeten Land fortzuführen.
({1})
Man muss für das Kioto-Protokoll werben. Die Beziehungen zwischen Russland und der Bundesrepublik
Deutschland - um nicht zu sagen: zwischen Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin - sind doch angeblich so gut.
({2})
- Eine Männerfreundschaft, wie es Herr Niebel ausdrückt. Jetzt hat er sein Ziel, im Protokoll zu stehen, erreicht.
({3})
Es gibt also eine enge Verbindung. Trotzdem muss
ich sagen - hier unterstütze ich die Aussagen des Kollegen Grill -: Ich bin enttäuscht darüber, wie wenig ernst
der Bundeskanzler die Sache bisher nimmt.
({4})
Lieber Herr von Weizsäcker, ich glaube zwar, dass der
Umweltminister weiß, es ihm aber egal ist, welche Konsequenzen sich für den Emissionshandel in Deutschland
und für die deutsche Wirtschaft ergeben, wenn das
Kioto-Protokoll nicht in Kraft tritt. Ich habe aber langsam große Zweifel daran, dass der Bundeskanzler das
weiß.
({5})
Ohne ein In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls und
ohne flexible Instrumente wird der Emissionshandel
kaum funktionieren. Das wissen auch Sie. Zumindest
wird er viel teurer werden. Dadurch werden große Chancen für den Klimaschutz und für die Exportchancen
deutscher regenerativer Energietechnik vergeben. Das
sind die Konsequenzen.
Deswegen erlaube ich mir an dieser Stelle einen kleinen Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU-Fraktion: Wir teilen Ihren Antrag zwar in der
Grundrichtung; wir brauchen aber keinen neuen Bericht
der Bundesregierung. Mir wäre es viel lieber, die Bundesregierung würde uns einmal darüber berichten, welche Anstrengungen sie international unternommen hat,
um Russland dazu zu bringen, das Kioto-Protokoll zu ratifizieren.
({6})
Es wäre mir viel lieber, die Bundesregierung würde uns
einmal berichten, welche Strategie sie verfolgt. Dann
könnte man gemeinsam darüber nachdenken, wie man
das Protokoll zu einem Erfolg führen kann.
Wenn wir nicht zu einer Ratifizierung kommen, haben wir ein Problem. Ich will dies an einem Beispiel
deutlich machen und damit nichts gegeneinander ausspielen, sondern nur einmal die Chancen, die im Emissionshandel liegen, deutlich machen: Die Kosten für jede vermiedene Tonne CO2 liegen bei Nutzung der Photovoltaik
in den Entwicklungsländern bei 5 Euro und in Deutschland bei 500 Euro. Wenn man das weiß, dann weiß man
auch, welche wirtschaftlichen Potenziale vergeben werden, wenn es nicht zu einer Ratifizierung kommt.
Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz nüchtern
sagen: Wir sollten nicht gemeinsam im Plenum des
Deutschen Bundestages Krokodilstränen darüber vergießen, dass dieses Protokoll nicht in Kraft tritt, dass es von
Russland nicht ratifiziert worden ist. Ich erwarte vielmehr von der Bundesregierung, vom Bundesumweltminister und vom Bundeskanzler, dass sie uns im Plenum
des Deutschen Bundestages eine Strategie vortragen, wie
sie in Verhandlungen mit anderen Ländern bzw. Partnern
darauf hinwirken wollen, wie sie Russland, aber vielleicht auch die USA auf Dauer dazu bringen wollen, dieses Protokoll zu ratifizieren. Das ist jetzt nötig und dies
fordert die FDP.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Homburger, in der Logik dessen, was Sie gesagt haben, wäre Bundeskanzler Kohl dafür verantwortlich gewesen, dass der US-Senat 1997 mit 98 : 2 Stimmen beschlossen hat, nicht mehr in Sachen Klimaschutz zu
kooperieren. Das kann irgendwie nicht stimmen; das
werden Sie selber gemerkt haben.
({0})
Zum Thema. Das Kioto-Protokoll ist, anders als Präsident Bush behauptet hat, keineswegs tot. Es lebt. Aber
das Protokoll befindet sich - das muss man ohne weiteres sagen - in einem kritischen Zustand.
Wenn man sich einfach einmal die formalen Ergebnisse ansieht, kann man sagen: Die Klimadiplomatie hat
in den letzten zehn Jahren eine ganze Menge erreicht.
Die Situation ist gar nicht so schlecht. Die Klimarahmenkonvention ist seit 1994 in Kraft. Sie wurde mittlerweile von 187 Staaten, das heißt von fast allen, unterzeichnet. Sie ist damit universelles Recht geworden. Das
ist ein großer Schritt nach vorn. Der Tochtervertrag, das
Kioto-Protokoll, wurde mittlerweile von 120 Staaten unterzeichnet. Auch damit gehört er schon fast - aber eben
nur fast - zum universellen Recht.
Damit das Kioto-Protokoll in Kraft treten kann, muss
es - das wurde bereits gesagt - von mindestens
55 Staaten ratifiziert werden, die gleichzeitig für mindestens 55 Prozent der Emissionen der Industrieländer
verantwortlich sind. Das erste Ziel ist erreicht: Es haben
mehr als 55 Staaten ratifiziert. Das zweite Ziel ist noch
nicht erreicht: Es fehlen zwei Schwergewichte. Die Vereinigten Staaten bringen 36 Prozent der Emissionen der
Industrieländer auf die Waage, Russland 17 Prozent.
Während die US-Regierung dem Kioto-Protokoll feindlich gesonnen ist und das auch deutlich zum Ausdruck
gebracht hat, befindet es sich in Russland im Grunde genommen in einem Schwebezustand. Man muss sagen:
Wenn sich mit den USA und Russland eine Koalition der
Unwilligen bilden würde, wäre das Kioto-Protokoll tot.
Die Frage, vor der wir als Parlament, aber auch die
Regierung steht, ist: Wie sollen wir mit dieser Hängepartie umgehen? Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Ich will im Wesentlichen drei Schlüsse benennen und
kurz ausführen, was gemeint ist.
Erstens. Wir müssen Russlands Eigeninteresse an der
Ratifizierung des Kioto-Protokolls noch stärker wecken.
Zweitens. Die Freunde des Kioto-Protokolls - immerhin 120 Staaten - sollten sich keineswegs durch die VerDr. Reinhard Loske
zögerungstaktik aus dem Konzept bringen und ihren klimapolitischen Handlungswillen dadurch beeinträchtigen
lassen.
Drittens. Außerhalb des Kioto-Protokolls sind alle internationalen Kooperationsmöglichkeiten im Sinne des
Klimaschutzes zu nutzen. Ich nenne hier als Paradebeispiel die Weltkonferenz für erneuerbare Energien im
Juni nächsten Jahres in Bonn. Es geht - das ist mir sehr
wichtig; dies sage ich etwas in Abgrenzung zu dem, was
Ernst von Weizsäcker gesagt hat - nicht um einen Plan B
zum Kioto-Protokoll, sondern um Kioto plus; so verstehe jedenfalls ich das. Beides gehört zusammen.
Jetzt zu den Punkten im Einzelnen. Die russische Regierung hat - das wurde schon angesprochen - im Rahmen des Kioto-Protokolls enorm viele Zugeständnisse
bekommen. Das für Russland geltende Basisjahr 1990
bedeutet faktisch, dass man heute etwa ein Drittel unter
dem Niveau von 1990 liegt und bis 2012 nichts tun
muss. Das heißt, die Russen können auf dem Emissionsmarkt als Verkäufer auftreten - wenn sie denn auftreten.
Das Argument der Russen, die Nachfrageseite sei dadurch geschwächt worden, dass die Vereinigten Staaten
ausgestiegen sind, trägt - leider, möchte ich fast sagen nicht wirklich: Natürlich gibt es auch in Europa und in
Japan eine enorme Nachfrage, das heißt, es gibt viele
Mitgliedstaaten, die Emissionsrechte zukaufen müssen.
Die Nachfrageseite ist also keineswegs verschwunden,
sie ist noch da. Außerdem haben die Russen im Rahmen
der Senken-Thematik sehr viele großzügige Zuschreibungen bekommen. Es geht hier nichts mehr: Wenn man
den Russen im Rahmen des Kioto-Protokolls noch weitere Zugeständnisse machen würde, führte das faktisch
dazu, dass die ökologische Integrität des Protokolls ausgehöhlt würde; das ist nicht wünschenswert.
Geradezu abenteuerlich sind die Aussagen des so genannten Wirtschaftsberaters von Präsident Putin, Andrej
Illarionow heißt er. Seine These war vor wenigen Wochen nachzulesen: Russland kann das Protokoll deshalb
nicht ratifizieren, weil jedes Prozent Wirtschaftswachstum im Ergebnis einen Anstieg der CO2-Emissionen um
2 Prozent mit sich bringen würde. Man darf sagen - ich
glaube, das ist auch diplomatisch gesehen nicht unfreundlich -: Einen größeren Unfug hat man selten gehört!
({1})
Fakt ist, dass die Einspar- und Effizienzpotenziale in
Russland wirklich sehr groß sind; Herr Kollege
Paziorek, Sie wissen das. Am 9. Januar erschien als Antwort auf diese Position von Illarionow ein Artikel in der
„Moscow Times“, in dem es hieß: Wenn Russland die
Effizienzstandards der USA hätte, könnte es sein Bruttoinlandsprodukt verdoppeln, ohne dass die Emissionen
- gegenüber heute - ansteigen würden. Wenn es das Effizienzniveau von Westeuropa oder gar Japan hätte,
könnte es sein Bruttoinlandsprodukt verdoppeln und
gleichzeitig noch die Emissionen senken. - Das heißt,
das Argument ist überhaupt nicht tragfähig.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Wer diese alten, zentralistischen und ineffizienten Strukturen aus der
Sowjetzeit modernisieren will, der braucht Technologie
und der braucht Kapital; das kam schon zur Sprache.
Das zentrale Instrument dafür ist Joint Implementation;
das muss man der russischen Regierung klarmachen. Erfreulich ist, finde ich, dass die Feinde des Kioto-Protokolls in Russland - die Kommunisten und die Nationalisten - bei der Duma-Wahl keinen Stich bekommen
haben: Im Parlament gibt es eine Mehrheit für das KiotoProtokoll; auch die Industrie ist dafür. Man muss hoffen,
dass Präsident Putin im April, nachdem die Wahlen stattgefunden haben, zu einem positiven Ergebnis kommt.
Wenn das nicht der Fall wäre - auch das darf man vielleicht einmal sagen -, würde das wirklich ernsthafte Fragen hinsichtlich der internationalen Zuverlässigkeit
Russlands und der Handlungsfähigkeit seiner parlamentarischen und staatlichen Institutionen aufwerfen und
auch die Attraktivität Russlands als Investitionsstandort
erheblich beeinflussen. Es geht hier also um ein Eigeninteresse.
({2})
Wir bitten die Bundesregierung, diesen Druck auch
weiterhin aufrechtzuerhalten, der - davon kann ich Ihnen ein Lied singen; ich bin selbst daran beteiligt gewesen - natürlich schon existiert.
Jetzt komme ich zu meinem zweiten Punkt. Unabhängig davon, ob Russland ratifiziert, sollten die Kioto-Mitgliedstaaten ihre Klimaschutzpolitik fortsetzen - aus
Gründen ihrer Vorbildfunktion, aber auch aus Gründen
des wirtschaftlichen Eigeninteresses, wie Ernst von
Weizsäcker schon beschrieben hat. Das ist auch der
Grund, warum wir gegen den CDU-Antrag stimmen; das
muss ich ganz klar sagen. Er hat nämlich einen Unterton,
der ungefähr so lautet: Wenn Russland ratifiziert, dann
bricht der ganze Klimaschutzprozess zusammen.
({3})
Das ist aber keineswegs der Fall, das ist unzutreffend. Es
ist eben eine Grundsatzfrage: Sieht man Klimaschutz vor
allen Dingen als Chance oder sieht man ihn vor allem als
Bürde? Da unterscheiden wir uns in der Tat erheblich:
Wir sehen ihn auch als Chance zum Strukturwandel. Bei
Frau Homburger war gerade ganz deutlich zu hören, wie
eine Argumentation vorbereitet werden soll - ich interpretiere das einmal so -, die da lautet: Weil Russland
nicht ratifiziert, sollten wir auch den innereuropäischen
Emissionshandel aussetzen. Da müssen Sie ganz sicher
mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen. Der
Emissionshandel, die Umsetzung in nationales Recht,
ist ein Ergebnis des EU-Burden-Sharing-Agreements,
aber nicht des Kioto-Protokolls; das sollten Sie wissen.
Für uns ist der Emissionshandel ein ganz wichtiger Innovationsmotor. Wenn Sie den zum Stottern bringen wollen, dann geht das nicht mit uns - ganz klar.
({4})
Wenn Russland das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert,
dann schadet das am ehesten Russland, aber nicht der
Europäischen Union.
Zu meinem letzten Punkt. Unabhängig von Russlands
Ratifizierung müssen wir über das Kioto-Protokoll hinausgehen und auch andere Kooperationsformen für
den Klimaschutz nutzen; von der Weltkonferenz für erneuerbare Energien habe ich bereits gesprochen. Andere
Kooperationsprojekte in Sachen Technologieentwicklung sind möglich, übrigens auch mit den Vereinigten
Staaten. Sie sind auch notwendig; da stimme ich mit Ihnen hundertprozentig überein. Es wäre irrsinnig, zu sagen: Wir brechen den Dialog mit einem Staat, der für
mehr als ein Drittel der Industrieländeremissionen verantwortlich ist, ab.
Diesen Dialog sollten wir im Bereich Wasserstofftechnologie und vielleicht auch - das wird die SPD
freuen - im Bereich CO2-Rückhaltung in Kohlekraftwerken fortsetzen. Da gibt es viele technologische Kooperationsmöglichkeiten.
({5})
Wichtig ist - das möchte ich abschließend sagen, Frau
Präsidentin -, dass solche dringend erforderlichen Aktivitäten nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zum
Kioto-Protokoll gedacht werden. Es geht eben nicht um
einen Plan B - jedenfalls aus meiner Sicht nicht -, sondern um Kioto plus.
Ich fasse zusammen: Das Kioto-Protokoll ist wirklich
kein schönes Baby. Jeder, der sich damit befasst hat,
weiß das. Aber wir haben kein anderes. Deswegen sollten wir es füttern und pflegen, zum Wachsen bringen
und weiter entwickeln. Das ist der entscheidende Gedanke.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cajus Julius
Caesar.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kioto ist richtig und wichtig. Deshalb setzt sich
auch die Union weiterhin für die Ratifizierung des KiotoProtokolls ein, egal um welches Land es geht.
({0})
Wir werben bei allen. Wir wollen Amerika und Russland
zur Ratifizierung bewegen. Wir wollen keine einseitige
Politik betreiben, sondern im Sinne des Klimaschutzes
vorankommen.
Die EU hat sich verpflichtet, von 1990 bis 2012 die
Treibhausemissionen in wesentlichen Bereichen um
8 Prozent zu reduzieren, Deutschland um 21 Prozent.
Angela Merkel war an diesen grundlegenden Vereinbarungen wesentlich beteiligt. Das sollten wir an dieser
Stelle noch einmal mit Stolz herausstellen.
({1})
Die Union will CO2-Reduzierung. Sie dient der Luftreinhaltung, der Gesundheit des Menschen und dem Klimaschutz, aber auch unserer Wirtschaft, unseren Interessen. Auch das muss man an dieser Stelle im Sinne des
Immissionsschutzes deutlich zum Ausdruck bringen,
über den wir in den letzten Tagen intensiv diskutiert
haben. Kein Wohlstand auf Kosten künftiger Generationen - das ist unsere Devise, an der wir festhalten. Wir
wollen verantwortliche Politik. Dazu sollte auch diese
Bundesregierung beitragen.
Herr Loske hat in seinen Ausführungen leider zum
Ausdruck gebracht, dass Sie gegen unseren Antrag stimmen werden. Das bedrückt uns schon ein bisschen.
({2})
Denn wir hatten gehofft, dass diese Regierung zu besseren Einsichten kommt - im Sinne von Umweltschutz
und Wirtschaftspolitik.
({3})
Diese von der SPD und den Grünen geführte Bundesregierung ist gefordert. Es genügen nicht allein medienwirksame Auftritte
({4})
des Umweltministers oder des Bundeskanzlers. Der
Bundeskanzler ist von Klimaschutzpolitik ohnehin weit
entfernt. Er spricht ab und zu einmal von Wirtschaftspolitik, hat aber auch dabei seine Hausaufgaben kaum gemacht. In der Umweltpolitik habe ich konkrete, zukunftsweisende Äußerungen von ihm an kaum einer
Stelle hören können.
({5})
Viel versprochen, wenig gehalten hat diese Bundesregierung im Bereich der Forschungspolitik und der Umweltpolitik insgesamt. Das gilt auch für die Innovation
beispielsweise im Zusammenhang mit Wasserstoff und
Biomasse. Gerade bei der Biomasse machen Sie jetzt einen Schritt zurück. Ein Blick ins EEG lässt erkennen,
dass Sie die Biomasse ganz offensichtlich weniger fördern wollen. Sie verschlechtern die Bedingungen für
eine Zukunftsenergie.
({6})
Diese Bundesregierung muss erst die Hausaufgaben
machen und damit im Sinne einer Vorbildfunktion die
Grundlagen für Umwelt- und Klimaschutzpolitik legen.
Dann kann sie diese Dinge auch international voranbringen und sich für sie einsetzen. Dazu gehören nicht nur
Presseerklärungen und Presseauftritte, sondern auch
ganz konkrete Verhandlungsergebnisse. Diese brauchen
wir und fordern wir als Opposition ganz klar von Ihnen
ein.
({7})
In unserem heutigen Antrag geht es uns darum, gemeinsam dafür zu kämpfen, dass es zu einer Ratifizierung des Kioto-Protokolls kommt. Das ist uns ganz
wichtig. Wir sehen da dringenden Handlungsbedarf.
Der Bundesumweltminister hat am 10. Dezember erklärt, die Bundesregierung gehe davon aus, dass Russland Kioto ratifizieren werde. Ich sehe, wir sind davon
noch weit entfernt. Ich weiß nicht, auf welcher Grundlage er diese Äußerung getan hat. Vielleicht kann er
selbst oder die Staatssekretärin das zum Ausdruck bringen.
Nach der Wahl der Duma sind mit den Mehrheitsverhältnissen gute Voraussetzungen dafür entstanden, dass
man mit Russland noch einmal ins Gespräch kommt und
die Verhandlungen voranbringt. Russland hat die Tür
keineswegs zugeschlagen. Ich sehe eine Chance. Wenn
wir gemeinsam erfolgreich sein wollen, müssen wir die
russischen Anliegen sehr ernst nehmen.
Wir alle wissen, dass Russland sein Inlandsprodukt in
den nächsten zehn Jahren verdoppeln will. Gerade hier
werden in Russland Probleme gesehen. Denn beim CO2Ausstoß ist die Energieeffektivität und -effizienz, wie
hier im Haus schon gesagt worden ist, nicht auf dem Niveau, das wir in den westlichen Ländern, in Deutschland
und anderswo, kennen. In diesem Bereich müssen wir
auch durch Technologietransfer hilfreich zur Seite stehen. Ich glaube, das ist wichtig, wenn wir gemeinsam erfolgreich sein wollen. Auch Russland will ein Mehr an
Anerkennung von Senken. Auf diesen Punkt komme ich
gleich noch im Detail zu sprechen. Wir müssen daran
denken, dass hier im Sinne von Energiepartnerschaft einiges weiterentwickelt werden muss.
Dringender Handlungsbedarf beim Klimaschutz bedeutet für uns, auch im Emissionshandel erfolgreich zu
sein. Denn ohne die Ratifizierung des Kioto-Protokolls
wird es, wenn wir die gesamte Verflechtung betrachten,
für unsere Unternehmen und Betriebe sehr schwer. Dafür müssen wir und dafür muss insbesondere die Regierung etwas tun. Hier erwarten wir in der Tat etwas mehr
von Ihnen, um auch erfolgreich zu sein.
Ich glaube, dass die Senkenproblematik ein ganz
wichtiger Bereich ist, den wir heute noch nicht im Detail
besprochen haben; das heißt CO2-Reduzierung durch
Aufwuchs, also durch Biomasse. Hier bestehen große
Chancen für Russland. Diese Chancen werden in Russland auch gesehen. 1 200 Millionen, also 1,2 Milliarden
Hektar Russlands sind waldfähige Ressource. Nur
760 Millionen Hektar sind tatsächlich bestockt. Im europäischen Teil Russlands beträgt der Anteil nur rund
21 Prozent. Hier werden in Russland Kapazitäten erkannt, die frei liegen. Im Hinblick auf die Senkenproblematik sollten wir dort CO2-Reduzierungen vornehmen,
wo sie effektiv und kostengünstig sind. Deshalb sollten
wir die Senkenproblematik in der Tat auch mit Russland
angehen und nicht so zurückhaltend sein, wie sich gerade erst wieder der Minister aus der Bundesrepublik
Deutschland im Ministerrat zu dieser Thematik geäußert
hat.
Wir wollen etwas anderes: Aufforstung und Wiederaufforstung von entwaldeten Partien in Russland. Zudem
ist ja gestern in der Diskussion über den Tropenwald
deutlich geworden, Herr von Weizsäcker, dass auch in
Russland bestimmte Maßnahmen erforderlich sind.
Diese Maßnahmen könnte man sehr gut miteinander verbinden. Deshalb sollten wir uns gemeinsam mit dieser
Thematik beschäftigen und für eine Lösung eintreten.
Das würde uns neben dem Klimaschutz auch bei der
Walderhaltung und mit Blick auf wirtschaftliche Gemeinsamkeiten nutzen.
({8})
Dazu sind Investitionen erforderlich. Das ist sicher
richtig. In Russland werden in diesem Punkt bei den Investitionen und insbesondere in der Pflege und Verwaltung solcher Gebiete Probleme gesehen. In Russland
wird damit gerechnet, dass hierdurch Kosten in Höhe
von 2 bis 2,5 Milliarden Dollar verursacht würden. Ich
denke, auch über solche Themen muss man reden. Wenn
man das Gesamtgeflecht der wirtschaftlichen Interessen
betrachtet, dann kann man nicht nur Eigeninteressen verfolgen. Dann ist es sicherlich wichtig, auch über die globalen Zusammenhänge im Hinblick auf die Klima-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik nachzudenken.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wichtig ist
auch, dass wir bei den Emissionsgutschriften an projektbasierten Maßnahmen Interesse zeigen und sie positiv
bewerten. Denn CO2-Reduzierung muss dort vorgenommen werden, wo sie effektiv und kostengünstig ist. Deshalb, glaube ich, müssen wir auch hier mehr tun, als das
bisher der Fall war.
UN-Generalsekretär Kofi Annan verweist auf die drohenden Schäden, falls die Ratifizierung des Kioto-Protokolls an Russland scheitert und das Kioto-Protokoll insgesamt nicht ratifiziert werden kann. Zudem sagt er:
„Unsere Kinder und Enkel würden nicht verstehen, dass
wir so etwas zugelassen haben.“ Er meint damit die
Nichtratifizierung.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den Emissionshandel ansprechen. Hier ist es ganz wichtig, dass
wir vorankommen. Wir können den von der EU beschlossenen Emissionshandel mit Sicherheit nur dann - auch
im Sinne unseres Landes - voranbringen, wenn damit tatsächlich die Ratifizierung verbunden ist. Ansonsten wären die Klimaschutzverpflichtungen der EU für unsere
und für alle europäischen Betriebe mit höheren Kosten
und wesentlich höheren Risiken verbunden. Denken Sie
deshalb auch an die Wettbewerbsnachteile, die uns dann
- auch in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik - relativ schnell einholen würden.
Die Bundesregierung muss ihrer Verantwortung
durch ernsthafte Gespräche und durch Verhandlungen
gerecht werden. Wir alle wollen die Ratifizierung des
Kioto-Protokolls. In diesem Sinne wollen wir uns gemeinsam für eine erfolgreiche Wirtschafts- und Umweltpolitik einsetzen.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/2163 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({0})
- Drucksache 15/1854 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({2})
- Drucksache 15/2230 Berichterstattung:
Abgeordnete Marga Elser
Erwin Marschewski ({3})
Dr. Max Stadler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem
Vierunddreißigsten Gesetz zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes soll der Ausgleichsfonds aufgelöst und
sollen die Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds
abgeschafft werden. Damit setzen wir einen Auftrag des
Rechnungsprüfungsausschusses des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages vom 25. Januar 2002
um, dem eine entsprechende Empfehlung des Bundesrechnungshofes zugrunde liegt.
Der Bundesrechnungshof hatte in seinen Bemerkungen 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsprüfung festgestellt, dass die Leistungsseite des Lastenausgleichs weitgehend abgeschlossen sei. Er hat daher gefordert, bis
Ende 2004 den Ausgleichsfonds aufzulösen und die Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds aus Gründen
der Haushaltsklarheit und Verwaltungsvereinfachung abzuschaffen.
Das Vorhaben trägt zur Rechtsvereinfachung und zum
Bürokratieabbau bei und führt zu Kosteneinsparungen
im sächlichen, aber auch im personellen Bereich. Durch
die folgenden Veränderungen werden etwa zehn Stellen
wegfallen, teils im gehobenen, teils im höheren Dienst.
Die fachliche Berechtigung des Vorhabens steht unserer Meinung nach außer Frage. Auch die Länder befürworten es der Sache nach. Die Ministerpräsidenten der
Länder haben schon vor einiger Zeit die Abschaffung
der Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds gefordert. Umso weniger nachvollziehbar ist es, dass der Bundesrat den Gesetzentwurf auf bayerisches Betreiben hin
im ersten Durchgang abgelehnt hat. Die von Ihnen aufgebrachte Argumentation beruhte auf, so meine ich,
sachfremden Gründen. Die geplanten lastenausgleichsrechtlichen Änderungen stehen in keinem inhaltlichen
Zusammenhang mit politisch umstrittenen Entschädigungsregelungen für weitere Kriegsopfergruppen wie
denen der DDR-Kriegsheimkehrer und der deutschen
Zwangsarbeiter. Nach Ansicht der Bundesregierung sind
neue Entschädigungsleistungen für Sachverhalte, die der
Gesetzgeber jahrzehntelang als allgemeines Kriegsfolgenschicksal bewertet hat, weder sachlich gerechtfertigt,
noch können sie fiskalisch bewältigt werden.
Wie Sie wissen, hat der Rechnungsprüfungsausschuss
die Bundesregierung unabhängig von seinem Auftrag
zur Auflösung des Ausgleichsfonds aufgefordert, eine
kritische Bestandsaufnahme des Kriegsfolgenrechts in
die Wege zu leiten und auf deren Grundlage in absehbarer Zukunft eine umfassende Schlussgesetzgebung zur
Kriegsfolgenbeseitigung vorzubereiten. Das Bundesministerium der Finanzen hat diesen Bericht kurz vor
Weihnachten vorgelegt. Erst wenn wir diesen Bericht
ausgewertet haben, kann die Schlussgesetzgebung auf
seriöser Grundlage diskutiert werden.
Wie verabredet hat das Bundesministerium des Innern
den Teilnehmern eines interfraktionellen Gesprächs, das
Anfang November 2003 stattgefunden hat, speziell zum
Komplex Vertreibungs- und SED-Unrecht soeben einen
umfassenden Bericht zur gegenwärtigen und zukünftigen Situation der Häftlingshilfestiftung und der Heimkehrerstiftung zugeleitet.
Ebenfalls zur SED-Unrechtsbereinigung hat der Bundestag mit den Stimmen aller Fraktionen am 27. November 2003 ein weiteres Gesetz zur Änderung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften beschlossen, mit dem die
Antragsfristen nach dem Strafrechtlichen, dem Verwaltungsrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz zugunsten der Betroffenen verlängert und die
Ausgleichsleistungen nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz angehoben werden.
Hinsichtlich weiterer Änderungen im Lastenausgleichsrecht hat die Bundesregierung ihre Gesprächsbereitschaft gegenüber den Ländern bereits ausdrücklich
erklärt. Demgegenüber beschränken wir uns bei dem
heute vorliegenden Gesetzentwurf bewusst auf die Erfüllung des Auftrages des Rechnungsprüfungsausschusses.
Angesichts des fortgeschrittenen Verfahrensstandes darf
dieses Vorhaben nicht mit weiteren Inhalten überfrachtet
werden. Ich denke, dies gilt insbesondere für solche, die
hier nicht ganz unumstritten sind. Dies verbieten auch
die klare Terminvorgabe für die Auflösung des Ausgleichsfonds und die Abschaffung der Vertreter der Interessen des Ausgleichsfonds bis Ende dieses Jahres.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Zustimmung.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erwin
Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu ist der Vorhang nicht - deswegen nur Bereinigung. Ich glaube, ich habe dies 1992 bei der Verabschiedung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes zu
Recht gesagt; denn es war allen klar: Der Versuch, unsägliches Leid von Kriegsgefangenen, Heimkehrern, aus
der Heimat Vertriebenen und Aussiedlern zu mildern,
bedeutete keineswegs einen gesetzgeberischen Abschluss.
Es war nur ein wichtiges Glied in der Kette, die beim
SED-Unrechtsbereinigungsgesetz anfing und über das
Entschädigungsgesetz sowie die Leistungen an die
Claimsconference bis hin zur deutsch-polnischen und
deutsch-tschechischen Aussöhnung verlief. Soweit dies
überhaupt möglich erschien, waren bei dem damals bekannten Unrecht Heilung und Versöhnung die Ziele.
Dass darüber hinaus offene Fragen des Vertreibungsunrechts und des SED-Unrechts neue Lösungen von uns
verlangten, zeigten die nachfolgenden 15 Jahre. Herr
Staatssekretär, ich nenne die Zwangsarbeiter, die DDRHeimkehrer, die Opfer der SED-Diktatur und den Bereich von Vertriebenenzuwendungs- und Lastenausgleichsgesetzen.
({0})
Auch die hier betroffenen Menschen wurden entrechtet,
misshandelt und ausgebeutet. Deswegen haben auch sie
das Recht, zumindest mit einer humanitären Geste zur
Würdigung ihres Schicksals bedacht zu werden.
({1})
Herr Staatssekretär Körper, es ist überhaupt nicht zu
akzeptieren, dass die Bundesregierung und die sie tragende Koalition sagen, es gebe im Bereich des Kriegsfolgenbereinigungsrechtes keinen Regelungsbedarf
mehr. Sie haben vorhin gesagt, es sei sachlich nicht gerechtfertigt. Nein, Herr Staatssekretär, das ist schlimm!
Noch schlimmer ist es, dass Sie sagen, die noch offenen
Fragen gehörten der Vergangenheit an. Nein, so nicht!
Erinnerungen politisch still stellen zu wollen ist nicht
nur sinnlos, es ist sogar kontraproduktiv.
Frau Kollegin Elser, wir kennen uns und ich weiß,
auch Sie wollen dies nicht. Deswegen sollten Sie unserem Vorschlag zustimmen. Wir meinen, dass die noch
offenen Fragen des Vertreibungs- und SED-Unrechts
durch eine einheitliche Schlussgesetzgebung unter Berücksichtigung der Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und natürlich auch der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten abschließend geregelt werden, so wie es der
Bundesrat - auch mit Stimmen von SPD-regierten Ländern - beschlossen hat.
({2})
Meine Damen und Herren, weil Ihr Gesetzentwurf
kein Gesamtkonzept vorsieht, greift er zu kurz. Er ist,
Herr Staatssekretär, auch nicht praxisdienlich, weil er
nur die Auflösung des Ausgleichsfonds, nicht aber die
dringend notwendigen weiteren Verwaltungsvereinfachungen zum Abschluss des Lastenausgleichs vorsieht.
Herr Staatssekretär, ich habe in Ihren Ausführungen
keinerlei Begründung dafür gehört, warum Sie nicht unserem Vorschlag folgen,
({3})
nach einer kritischen Bestandsaufnahme nun wirklich zu
einer Schlussgesetzgebung zu kommen. Ihr jetzt einfach
so gesagtes Wort, Sie seien bereit, darüber zu reden,
reicht doch nicht aus. Es reicht deswegen nicht aus, weil
hier Notwendiges und Gerechtes geregelt werden muss,
zum Beispiel das Schicksal deutscher Zwangsarbeiter.
Es geht um Menschen, die bisher keine Leistungen im
Rahmen der Kriegsfolgengesetzgebung erhalten haben
und die, als der Krieg zu Ende ging, in Ost- oder in Südosteuropa oder in der Sowjetischen Besatzungszone für
die Verwüstungen und Gräuel büßen mussten, die die
Nazis angerichtet hatten.
({4})
Ich kenne solche Fälle aus meiner Heimatstadt Recklinghausen. Die Menschen mussten 16 Stunden und
mehr Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen leisten,
zum Beispiel in unter Wasser gesetzten Zechen irgendwo im Ural. Besonders betroffen waren Frauen. Sie
wurden nach Massenvergewaltigungen in Viehwaggons
gesperrt, mussten vom zwölften bis zum 22. Lebensjahr
arbeiten. Viele kehrten nicht zurück und wer die Lager
überlebte, war für immer gezeichnet oder wurde oft auch
ausgestoßen. Diese Fragen bedürfen nun wirklich einer
Antwort dieses Parlaments, einer humanitären Geste.
Wir meinen, dass dies im Rahmen einer Schlussgesetzgebung erfolgen sollte.
({5})
Gleiches gilt für einen zweiten Bereich, für die DDRHeimkehrer und für die Opfer der SED-Diktatur. 1992
haben wir die Ausdehnung der bestehenden Stiftungen
Erwin Marschewski ({6})
auf die neuen Bundesländer beschlossen. Wir haben denen, die in Kriegsgefangenschaft waren, die verschleppt
wurden oder die in Gefängnissen der ehemaligen DDR
leiden mussten, entsprechend ihrer Bedürftigkeit helfen
können. Wie meine Freunde Hartmut Büttner und Christa
Reichard fordere ich, die finanzielle Ausstattung der Stiftung für politische Häftlinge und die der Heimkehrerstiftung sicherzustellen. Denn nur dies ist gerecht, so meine
ich.
({7})
Gerecht wäre es auch, Lücken im Vertriebenenzuwendungsgesetz in einer Schlussgesetzgebung zu schließen.
Ich nenne die Fristen für die Antragstellung oder den
Ausschluss von Leistungen für diejenigen, die nach dem
3. Oktober 1990 die DDR in Richtung Bundesrepublik
verlassen mussten. Alle diese Fälle müssen wir anpacken. Wir schlagen vor, zur Finanzierung auch die Rückflüsse in den Lastenausgleichsfonds zu verwenden, die
bei Vermögensrückgaben in den Vertreibungsgebieten
anfallen.
Meine Damen und Herren, es drängt sich auf - wir sagen: es ist zwingend -, sich der Lösung dieser Probleme
zu stellen, weil die Menschen darauf warten, weil sie zu
lange gewartet haben und weil sie gerecht behandelt
werden wollen. Deswegen ist es eben falsch, Herr
Staatssekretär, in der Öffentlichkeit gewissermaßen eine
Schlussakte anzubieten, die diese Probleme nicht regelt.
Für uns ist ein weiteres Problem, dass wir diese Fragen nicht im Konsens behandeln. Es gibt ein schönes
Beispiel in der neueren Geschichte: Beim Lastenausgleichsrecht haben wir damals gemeinsam einen Konsens gefunden. Die Lastenausgleichsregelungen haben
die verheerenden materiellen Folgen von Flucht und
Vertreibung gemildert. Durch die Leistungen wurde der
Neuanfang von Millionen unterstützt, die kaum mehr als
ihr nacktes Leben hatten retten können.
Was besonders wichtig ist: Der Lastenausgleich hat
die Integration von 10 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen gefördert. Heute würde man diese Integration
der Flüchtlinge in die westdeutschen Länder auf Neudeutsch eine Erfolgsstory für unser Land, aber, wie ich
meine, auch für Gesamteuropa nennen. Dies haben Regierung und Opposition gemeinsam gemacht und gemeinsam getragen.
Deswegen halte ich es nicht für richtig, Herr Staatssekretär, dass Sie sich im Namen der Bundesregierung von
dieser Gemeinsamkeit lösen. Sie wissen doch selbst: Ihr
Gesetzentwurf regelt einen ganz begrenzten Teil. Wenn
Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, dass dieser
Gesetzentwurf alles andere als vernünftig ist. Das müssten Sie auch angesichts Ihrer Kenntnisse von der Verwaltung wissen. Er enthält bis hin zu dem Streit über die
Frage, ob der Bundesrat zustimmen muss, eine ganze
Reihe von Widersprüchen. Auch eine solche Frage sollte
man im Konsens lösen.
Da dies nicht so ist, bleibt es der Union vorbehalten,
Richtiges und Gerechtes zu verlangen. Dabei will dies
niemand und ich schon gar nicht wegen des möglichen
politischen Vorteils tun. Genauso wenig wollen wir Ursachen vergessen, Leid mit Leid oder Schuld mit Schuld
verrechnen. Auch wollen wir nicht vergleichen oder analogisieren, weil dies Irrtümer, unrühmliche, verworfene
Traditionen waren und sind.
Eines werden wir tun müssen, wie es Ute Frevert in
der Beilage zum „Parlament“ ausdrückt:
An das Leid zu erinnern, das der Krieg im eigenen
Land und seine Folgen über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben, ist legitim und wichtig.
Ich denke, dies ist insbesondere eine Aufgabe von Politik und Politikern.
Herzlichen Dank.
({8})
Dies ist eine schöne Debatte, in der einige Redner sogar ihre Redezeit nicht voll ausnutzen. Dies gilt auch für
das Innenministerium.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
weiß, ehrlich gesagt, nicht so genau, zu welchem Thema
der Kollege Marschewski eben gesprochen hat. Ich habe
vor, zur 34. Änderung des Lastenausgleichsgesetzes zu
reden, weil dies das Thema der Tagesordnung ist.
Herr Staatssekretär Körper hat dargestellt, worum es
in diesem Gesetzentwurf geht. Da seine Darstellung
richtig war, habe ich nicht vor, das Ganze zu wiederholen.
Eigentlich hätten wir diese Vorlagen ohne Aussprache
im Plenum verabschieden können. Ich möchte aber nach
der Rede von Herrn Marschewski zu einigen Punkten,
die vom Bundesrat gefordert worden sind, weniger moralisch und dafür mehr inhaltlich Stellung nehmen, weil
das meiner Meinung nach die Kernstreitpunkte sind. Der
Bundesrat fordert die Zusammenlegung der Stiftung für
ehemalige politische Häftlinge mit der Heimkehrerstiftung. Die Fraktion der Grünen lehnt diese Forderung
entschieden ab. Wir sind uns darin mit den Stiftungen einig.
Genau in dieser Frage kann es eben nicht um Verwaltungsvereinfachung und Effizienz gehen; denn die Stiftungen haben nicht nur den Auftrag, Anträge zu bearbeiten. Für die sehr unterschiedlichen Opfergruppen sind
diese Stiftungen nicht nur ein Ort der Beratung über Anträge, sondern diese Stiftungen sind für die Opfer auch
ein sozialer und kultureller Halt. Sie sind Stätten der Begegnung. Die Stiftungen haben auch die Aufgabe, das
Erlebte, die Erinnerung an Opferschicksale an andere
Generationen weiterzugeben.
({0})
Ich habe überhaupt nicht nachvollziehen können, wie
die CDU/CSU auf die Idee kam, jetzt sei der richtige
Zeitpunkt, hier eine Verwaltungsvereinfachung vorzunehmen und diese Stiftungen mit völlig unterschiedlichen Menschen und Lebensschicksalen zusammenzulegen.
Das ist mit meiner Fraktion nicht zu machen. Wir haben in dem Antrag, den wir im nächsten Plenum behandeln werden, deutlich gemacht, dass wir den Zeitpunkt
für eine Schlussstrichdebatte jetzt in keiner Weise gegeben sehen. Denn wir haben gerade beantragt, die Antragsfristen für die Stiftung zu verlängern. Dieses ist eine
ganz konkrete Politik im Sinne der Opfer.
Ich möchte nun zu dem zweiten Punkt, die Vorschläge
aus Bayern betreffend, kommen. Die grüne Fraktion gab
es damals noch gar nicht - sogar mich gab es damals
noch nicht -,
({1})
als Konrad Adenauer 1952 - ich bin 1953 geboren - die
Entscheidung getroffen hat, die von Deutschen geleistete
Zwangsarbeit als nicht entschädigungsfähiges Kriegsfolgenschicksal zu bewerten. Ich kann nicht nachvollziehen - ich halte das auch für eine innen- und außenpolitisch schädliche Debatte -, dass die Bewertung von
Konrad Adenauer aus dem Jahre 1952 von Ihnen überhaupt nicht aufgenommen wird. Die Gründe, warum Sie
60 Jahre nach Kriegsende eine Debatte über die Aufnahme neuer Opfergruppen in die Kriegsentschädigungsleistung eröffnen, sind für mich unverständlich.
({2})
Ich halte für richtig, was in dem Lastenausgleichsgesetz geregelt wird. Das ist eine vernünftige Entscheidung. Ihr Gang durch die Geschichte ist an dieser Stelle
völlig verfehlt. Wir sollten zu jedem einzelnen Punkt erst
dann reden, wenn er aufgerufen wird. Es ist zugesagt,
dass das Bundesfinanzministerium eine Bilanz über die
bisher geleisteten Entschädigungen im Rahmen des
Kriegsfolgenrechts vorlegt. Warten wir doch die Berichte ab. Der Bericht des Innenministeriums liegt erst
seit heute auf dem Tisch. Meine Damen und Herren von
der CDU/CSU, ich verstehe daher die Rede Ihres Kollegen nicht. Das war eine Rede zum falschen Antrag.
({3})
Bestimmte Ansätze aus Bayern sind mit meiner Fraktion in dieser Form nicht zu verwirklichen. Ihre Umsetzung ist schon gar nicht im Interesse der SED-Opfer, die
zu vertreten Sie vorgeben.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die FDP stimmt dem Gesetzentwurf zu. Der
Bundesrechnungshof und der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages haben die Empfehlung gegeben,
den Sondervermögenausgleichsfonds aufzulösen.
Diese Anregung beruht darauf, dass der Lastenausgleich
mehr als 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
weitestgehend abgeschlossen ist, sodass es ausreicht, die
verbliebenen Einnahmen und Ausgaben unmittelbar
über den Bund abzuwickeln. So die Empfehlung der beiden Gremien Bundesrechnungshof und Rechnungsprüfungsausschuss.
Diese Argumentation überzeugt. Folglich ist auch die
Vertretung der Interessen des Ausgleichsfonds abzuschaffen. Nur darum geht es bei dem Beschluss, der
heute zu fassen ist.
({0})
Daher ist die Argumentation der CDU/CSU-Fraktion an
anderer Stelle wieder aufzugreifen. Der Kollege
Marschewski hat gerade ausgeführt, dieser Gesetzentwurf greife zu kurz, denn es sei ein Gesamtkonzept für
eine umfassende Schlussgesetzgebung zur Kriegsfolgenbeseitigung notwendig.
Als ich diese Argumentation in den Ausschüssen das
erste Mal gehört habe, war ich zunächst ein wenig überrascht. Denn bei der Debatte über die Zwangsarbeiterentschädigung vor gut drei Jahren war es doch immer
wieder die Union, die gesagt hat, das sei ein Ausnahmefall mit ganz speziellen Implikationen, aber es dürfe auf
keinen Fall dazu kommen, dass jetzt noch neue und weitere Forderungen im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Nazidiktatur und den Folgen des Zweiten Weltkrieges erhoben würden.
Diese Position hat seinerzeit auch die CDU/CSUFDP-Bundesregierung vertreten. Insofern war zwar die
Argumentation der Union überraschend, aber ich begrüße es, dass die CDU/CSU ihre damals vertretene Position inzwischen nicht mehr aufrechterhält. Denn auch
wir von der FDP sind der Auffassung, dass es noch ungelöste Fragen gibt. Kollege Marschewski hat das Beispiel einer symbolischen Entschädigung als Anerkennung für erlittenes Unrecht von Kriegsheimkehrern
erwähnt, die ihren Wohnsitz in der damaligen DDR genommen haben und daher an den Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik Deutschland keinen Anteil hatten. Die FDP hat in diesem Hohen Hause erklärt, dass
wir diese Forderung für berechtigt halten.
Ich darf die Kollegin Stokar von den Grünen darauf
hinweisen, dass die Grünen wohl kaum die Position vertreten können, dass alles aufgearbeitet und erledigt ist.
Das war hoffentlich nicht der Tenor Ihrer Aussagen.
({1})
Denn gerade die Grünen haben doch immer wieder an
die so genannten vergessenen Opfer erinnert. Ich
glaube, Sie haben sogar im Koalitionsvertrag die Vereinbarung getroffen, diesen Aspekt zu prüfen.
Für meine Fraktion stelle ich fest: Es gibt verschiedene Schicksale, über die noch zu reden ist. Sofern der
Begriff noch nicht abgenutzt ist, Herr Staatssekretär,
sage ich für die FDP eine ergebnisoffene Prüfung zu.
({2})
Diese soll aber an anderer Stelle erfolgen. Was heute zu
beschließen ist, ist eher rechtstechnischer Natur. Über
die Probleme, die der Kollege Marschewski angesprochen hat, werden wir hier zu einem späteren Zeitpunkt
noch einmal beraten.
({3})
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Marga Elser, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich noch sehr gut daran
erinnern, wie sich meine Mutter früher immer über die
Lastenausgleichszahlungen mokiert hat. Wir waren
selbst nicht reich, aber wir hatten ein Haus und waren
nicht ausgebombt. Ich denke, heute können wir alle sehr
stolz darauf sein, dass es uns gelungen ist, nach dem
Krieg vielen Menschen - vor allem den Heimatvertriebenen - zu helfen. Wir haben unter recht schwierigen
Bedingungen vielen geholfen, wieder Fuß zu fassen und
eine neue Existenz aufzubauen. Darauf können wir alle
sehr stolz sein.
({0})
Deshalb - damit komme ich zum eigentlichen
Thema - können wir auch mit gutem Gewissen an die
Auflösung des Ausgleichfonds des Lastenausgleichsgesetzes herangehen. Die Leistungsseite des Lastenausgleichsgesetzes hat ihre Schlussphase erreicht. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung ist
demnach das einzige Ziel verbunden - ich betone das
ausdrücklich, auch wenn meine Vorredner das schon
festgestellt haben -, den Ausgleichsfonds aufzulösen.
Dann kann auch die Vertretung der Interessen des Ausgleichsfonds abgeschafft werden.
Mehr als 55 Jahre nach Kriegsende können wir heute
das Sondervermögen im „Ausgleichsfonds für zweckgebundene Ausgleichsabgaben“ auflösen, weil es seine
originären Aufgaben erfüllt hat. Das wollen auch der
Bundesrechnungshof und der Haushaltsausschuss des
Deutschen Bundestages.
Zu den Aufgaben des Ausgleichsfonds zählen vor allem die Zahlung von Kriegsschadenrenten und Unterhaltshilfen. Finanziert wurde der Fonds durch Einnahmen aus der Tilgung von Darlehen, Einnahmen aus
Wertpapierbereinigungen und Zahlungen der Länder und
der Defizithaftung des Bundes.
Es ist also eine Verwaltungsvereinfachung, wie sie
- das sage ich an die Adresse der Opposition gewandt im Bundesrat immer wieder gefordert worden ist. Aus
Gründen der Kostenersparnis und wegen der Haushaltsklarheit beschließen wir heute den Gesetzentwurf der
Bundesregierung und können damit den Ausgleichsfonds auflösen.
Die verbliebenen Einnahmen und Ausgaben des
Fonds werden unmittelbar über den Bund abgewickelt.
Damit halten wir uns strikt an die Empfehlung nicht nur
des Bundesrechnungshofes, sondern auch an die der Ministerpräsidenten der Länder. Schon der Zeitrahmen
2004 verbietet die geforderte Verknüpfung mit einem
Gesamtkonzept für die Schlussgesetzgebung zur Kriegsfolgenbereinigung.
Nun streiten wir heute vor allem über den Vorschlag
der CDU/CSU, mit der Verabschiedung des Vierunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes noch weitere Dinge zu beschließen, die schon rein
formal nichts mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zu
tun haben. Sie fordern nicht nur eine Schlussgesetzgebung, sondern auch neue Leistungsgesetze sowie eine
Entschädigungsregelung für Heimkehrer im Gebiet der
ehemaligen DDR. Ich erinnere daran, dass wir den entsprechenden Gesetzentwurf der CDU/CSU am 16. Oktober letzten Jahres nach sorgfältiger Beratung im Bundestag abgelehnt haben.
({1})
Diese Forderung ist zu Zeiten der Kohl-Regierung nicht
erhoben worden, sondern erst jetzt.
({2})
Außerdem fordern Sie eine Entschädigungsregelung
in Form einer so genannten Opferpension für die Opfer
der SED-Diktatur. Es gibt noch weitere Forderungen
- ich möchte jetzt nicht alle aufzählen -, die ebenfalls
keinen sachlichen Zusammenhang mit dem jetzt zu beratenden Entwurf eines Vierunddreißigsten Gesetzes zur
Änderung des Lastenausgleichsgesetzes aufweisen.
Das Lastenausgleichsgesetz muss und wird bis auf
weiteres fortbestehen; denn es sind noch nicht sämtliche
Ansprüche abgewickelt. Deshalb brauchen wir auch
keine Verfahrensvereinfachungen zum Abschluss des
gesamten Lastenausgleichs, wie dies der Bundesrat
gefordert hat. Ich sage es noch einmal: Die geplanten
Änderungen stehen in keinem Zusammenhang mit
Entschädigungsregelungen für weitere Kriegsopfergruppen.
Ich habe außerdem den Eindruck - diesen haben Sie
heute wieder bestätigt -, dass Sie das gleiche Geld für
ganz verschiedene Bereiche ausgeben wollen. Aber das
ist haushaltstechnisch nicht möglich. Wir werden - Herr
Marschewski, bitte hören Sie mir zu; das ist ganz wichtig - auf der Grundlage des zugeleiteten Berichts zusamMarga Elser
men mit dem Bundesinnenministerium zügig feststellen,
wie es um eine Heimkehrerstiftung und um eine Stiftung
für politische Häftlinge bestellt ist. Auf dieser Basis können wir im Deutschen Bundestag ganz seriös über eine
Schlussgesetzgebung zur Kriegsfolgenbereinigung reden.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Vierunddrei-
ßigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsge-
setzes, Drucksache 15/1854. Der Innenausschuss
empfiehlt auf Drucksache 15/2230, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koa-
lition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP ge-
gen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b so-
wie Zusatzpunkt 6 auf:
13 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({0}), Dr. Christian Ruck,
Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Stabilisierung der Lage in Bolivien
- Drucksache 15/1980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ralf
Brauksiepe, Dr. Christian Ruck, Peter Hintze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Mehr Mut zur Reform der EU-Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 15/1215 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Detlef Dzembritzki, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Volker Beck ({3}), Antje Hermenau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Entwicklungszusammenarbeit der EU
konstruktiv weiterentwickeln - Effizienz und
Nachhaltigkeit verbessern
- Drucksache 15/2338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Ralf
Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Brüssel lässt hungern“, so lautete vor Monaten die
Überschrift eines Wochenzeitungsartikels über die europäische Entwicklungszusammenarbeit. Hinter diesem
- fraglos provokanten und überspitzten - Titel stand eine
sorgfältige Recherche zu den Problemen der europäischen EZ. Der Geschäftsführer der Deutschen Welthungerhilfe sprach in diesem Zusammenhang von einer
„kafkaesken Veranstaltung“. Die britische Entwicklungsministerin Claire Short, eigentlich nicht als konservative Parteigängerin bekannt, erklärte, die europäische
Entwicklungspolitik sei eine Schande.
Sicherlich muss man sich nicht jede dieser Formulierungen zu Eigen machen. Aber sie beschreiben gleichwohl die unbestreitbaren Missstände europäischer Entwicklungszusammenarbeit, die sich unter anderem in
Ineffizienz und Überbürokratisierung ausdrücken. Eines
der hervorstechendsten Merkmale dieser Missstände ist
der völlig unzureichende Mittelabfluss.
Diese Probleme - auch das wird schon bei einer oberflächlichen Beschäftigung mit der europäischen EZ
schnell deutlich - durchziehen alle und nicht nur einzelne Bereiche dieses Politikfeldes. Das heißt, sie betreffen selbstverständlich das Kernstück der europäischen
EZ, sprich: die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten.
Die nicht abgerufenen Mittel haben sich dort inzwischen
auf 29 Milliarden Euro summiert.
Sie betreffen aber auch andere Ländergruppen und
Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit. So ist etwa
der Mittelabfluss beim MEDA-Programm für die Mittelmeeranrainerstaaten noch schlechter. Auch bei der
Zusammenarbeit mit den Staaten Asiens und Lateinamerikas tun sich geradezu Abgründe auf. So war fünf
Jahre nach dem verheerenden Wirbelsturm „Mitch“ in
Mittelamerika im Jahr 1998 noch kein einziger der zugesagten mehreren 100 Millionen Euro abgeflossen und
die EU- Kommission hat sich inzwischen entschlossen,
rückwirkend mehrere Milliarden Euro zu streichen, die
bereits vor 1995, also vor fast zehn Jahren, für Lateinamerika zugesagt waren und noch immer nicht abgeflossen sind.
Vor dem Hintergrund solcher erschreckenden Fakten
ist immerhin anzuerkennen, dass das Problembewusstsein in Brüssel in diesen Fragen zumindest in Ansätzen
vorhanden zu sein scheint. Der gemeinsame Standpunkt
von Rat und Kommission zur Entwicklungszusammenarbeit vom November 2000, in dem unter anderem die
Armutsbekämpfung als Hauptziel der europäischen
Entwicklungszusammenarbeit festgeschrieben wurde,
war zweifellos ein Meilenstein auf dem Weg zum Besseren. Wir halten die damit verbundenen Fortschritte nicht
für ausreichend; wir wollen sie aber sehr wohl ausdrücklich anerkennen.
Neben den vielen kritischen Stimmen zur europäischen Entwicklungszusammenarbeit gibt es vereinzelt
auch sehr unkritische Stimmen. Eine davon ist die von
Rot-Grün in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben sieben Monate gebraucht, um in diesen
Tagen, kurz vor Toresschluss, einen Gegenantrag zu unserem Antrag zur Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit vorzulegen.
({0})
Herausgekommen ist ein erschreckend konzeptionsloses
„Weiter so“. So heißt es beispielsweise in dem rot-grünen Antrag zum EU-AKP-Abkommen, auf dessen Rekordstau beim Mittelabfluss ich bereits hingewiesen
habe, es sei - ich zitiere wörtlich - „sinnbildlich für eine
moderne Entwicklungspolitik“. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Regierungsfraktionen, das glaubt doch
nicht einmal die Europäische Kommission selbst. Einen
Antrag, in dem Sie so etwas formulieren, hätten Sie sich
und uns besser erspart.
({1})
Die Mitglieder unserer Fraktion im AwZ haben sich
vor Monaten in Brüssel mit der Situation der europäischen Entwicklungszusammenarbeit ausführlich auseinander gesetzt. Ich will Ihnen dafür nur zwei wichtige Indizien nennen: Unsere eigene Ständige Vertretung in
Brüssel kritisiert die Strukturen der europäischen EZ als
schwer durchschaubar. Die Generaldirektion Entwicklung selbst hält die regionale Aufteilung der EZ in AKPLänder, ALA-Länder, Mittelmeeranrainer und die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas inzwischen für überholt. Beispiele für eine völlig unsachgerechte Ländereinteilung nach regionaler Zuordnung wie im Falle von
Mauretanien und Jemen würde die Generaldirektion sicherlich auch den rot-grünen Kolleginnen und Kollegen
gern nennen und erläutern, wenn da Erläuterungsbedarf
besteht.
Diese regionale Aufteilung ist im Übrigen auch im
Hinblick auf ihre WTO-Konformität zunehmend problematisch. Deshalb ist die Aufhebung dieser künstlichen, auf überholten kolonialen Traditionen beruhenden
Trennung das Hauptanliegen unseres Antrages. Wir fordern die Bundesregierung auf, in enger Abstimmung mit
den anderen EU-Staaten darauf hinzuwirken, dass die
Europäische Union ein einheitliches und WTO-konformes handels- und entwicklungspolitisches System für
sämtliche Entwicklungspartnerstaaten der EU schafft.
Das wäre eine angemessene Antwort auf Probleme von
Ineffizienz und Überbürokratisierung, die allseits beklagt
werden. Das schließt natürlich auch ein, dass die entwicklungspolitischen Kompetenzen bei einem EU-Kommissar - nicht unbedingt beim jetzigen Kommissar bzw. einer entwicklungspolitischen Generaldirektion zusammengeführt werden.
({2})
Weil ich finde, dass da manchmal ein falscher Zungenschlag hineinkommt, will ich in diesem Zusammenhang betonen, dass der Abfluss von Geldern als solcher
natürlich kein Selbstzweck sein kann. Deswegen sind
wir auch dagegen, jetzt verstärkt auf die Förderung von
Großprojekten zu setzen oder gleich direkte Budgethilfe
zu geben, wie es sich die Europäische Kommission leider auf die Fahnen geschrieben hat. Das ist der falsche
Weg. Wenn sich Ineffizienzen nicht nachhaltig bekämpfen lassen, dann sind wir genauso wie die britische Entwicklungsministerin dafür, ernsthaft eine Rückführung
dieser Gelder in die nationalen Haushalte zu prüfen.
({3})
Rot-Grün setzt sich im vorliegenden Antrag leider
nicht im Geringsten mit dieser Problematik auseinander,
die in Brüssel genauso diskutiert wird wie hier. Ihr Antrag steckt stattdessen voller Allgemeinplätze. Insoweit
wäre es noch zu ertragen, aber es wird natürlich besonders peinlich, wenn ausgerechnet Sie von der EU einfordern, dass Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus oder dass bewaffnete Friedenseinsätze nicht
zulasten der für die nachhaltige Bekämpfung von Hunger und Armut bereitgestellten Ressourcen verwendet
werden sollten, und wenn Sie fordern, dass Entwicklungsgelder der EU nicht für sicherheitspolitische und
militärische Einsätze zweckentfremdet werden dürfen.
Das ist wirklich peinlich; denn genau das tun Sie doch
im nationalen Rahmen und im Hinblick auf den Bundeshaushalt. Der jüngst beschlossene Kunduz-Einsatz ist
ein beredtes Beispiel dafür. Die Mittel für die begleitenden entwicklungspolitischen Maßnahmen dieses militärischen Einsatzes müssen doch aus dem ohnehin knappen BMZ-Etat erwirtschaftet werden, das heißt, sie
müssen an anderer Stelle eingespart werden. Entwicklungspolitische Leistungen müssen gekürzt werden, damit diese militärischen Notwendigkeiten erfüllt werden
können. Sie verlangen von der EU, etwas nicht zu tun,
was Sie im nationalen Kontext selbst tun. Das ist nun
wirklich heuchlerisch.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, machen Sie national Ihre Hausaufgaben und
unterstützen Sie uns bei der dringend notwendigen Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit!
Ich sage ganz deutlich: Natürlich sind die Missstände in
der europäischen EZ und die Kritik daran nicht völlig
neu. Das erste EU-AKP-Abkommen stammt noch aus
der Zeit der sozialliberalen Koalition. Missstände gab es
in der europäischen EZ natürlich auch zu unserer Regierungszeit. Sie werden allerdings leider immer schlimmer, was zum Beispiel den Mittelabfluss angeht. Aber
weil das so ist, müsste es Ihnen doch eigentlich relativ
leicht fallen, hier einmal über Ihren eigenen parteipolitischen Schatten zu springen und in einem parteiübergreifenden Ruck an der Verbesserung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit mitzuwirken. Dazu fordern
wir Sie auf.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie man hier schon mit einem kleinen Ruck Freude bereiten kann, ist bezeichnend, Herr Brauksiepe; aber ich
gönne Ihnen diese Freude.
Ich will darauf hinweisen, dass Ihre Argumentation
zu der Antragseinbringung ein bisschen merkwürdig ist,
lieber Herr Kollege. Sie wissen genau, dass sich die entsprechende Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion in Brüssel
sachkundig gemacht hat und sich sehr intensiv mit diesem Thema auseinander gesetzt hat. Wir haben das
Thema dann in unserem Fachausschuss behandelt. Wir
haben Experten in den Ausschuss gebeten, um uns nicht
nur ein Bild von der Situation des europäischen Entwicklungsfonds, sondern ein generelles Bild zu machen.
Ich verstehe deswegen auch nicht so recht - jedenfalls
was die grundsätzliche Auseinandersetzung angeht - die
merkwürdige Schaufensterrede, die Sie hier gehalten haben.
Wir alle wissen, dass die EU in wenigen Monaten um
zehn Länder erweitert wird, die - ich sage das sehr vorsichtig - über wenig Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit verfügen. Sie sind in den vergangenen
Jahren im Wesentlichen Empfängerländer gewesen
und verfügen mit Sicherheit nicht über die Instrumente
und Strukturen, die uns und der EU zur Verfügung stehen. Es wird also gerade in den nächsten Monaten entscheidend darauf ankommen, wie wir den Prozess der
Integration dieser Länder gestalten. Wir müssen alles
tun, um sie in die europäische Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen. Dabei können diese Länder ihre
eigenen Erfahrungen als Transformationsländer einbringen. Ich denke, dass die europäische Entwicklungspolitik hier über eine starke institutionelle Basis verfügt.
Meine Damen und Herren, eine Tatsache kommt viel
zu kurz: Es ist offensichtlich viel zu wenig bekannt, dass
die EU und ihre Mitgliedstaaten über 50 Prozent aller
ODA-Mittel aufbringen. Die EU ist damit weltweit einer der größten Geldgeber für Entwicklungshilfeleistungen. Zugleich ist überhaupt nicht wegzudiskutieren
- deshalb verstehe ich nicht, warum der Kollege
Brauksiepe hier eine Zuspitzung vorgenommen hat -,
dass eine Reform dieses Politikbereichs, also unseres ureigenen Bereichs, auf EU-Ebene notwendig ist. Es ist
bekannt, dass dieser Reformprozess im Jahr 2000 durch
Kommission, den Rat und das Europaparlament in Gang
gesetzt wurde. Ebenfalls bekannt ist, dass dieser Reformprozess noch nicht abgeschlossen ist. Trotzdem dürfen wir aber nicht übersehen, dass in manchen Bereichen
ermutigende und bemerkenswerte Fortschritte zu erkennen sind.
({0})
Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, Herr Löning,
dass Verwaltungsabläufe und Umsetzungsprozesse vereinfacht wurden. Ich will gar nicht bestreiten, dass dieser
Weg weiter gegangen werden muss; aber es wäre unfair,
wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen würden, dass auf
europäischer Ebene schon erste Schritte gemacht worden
sind. Ich weiß, dass die Schaffung von Europe Aid von
vielen kritisch gesehen wird. Hiermit wird aber durch
Steigerung der Effizienz eine Antwort auf die administrative Situation der Europäischen Union gegeben.
Seit Beginn dieser Reformbemühungen sind von der
Europäischen Union gemeinsam mit den Partnern des
Südens 60 Länderstrategiepapiere erarbeitet worden,
über 40 davon wurden bereits verhandelt. Sie bieten gerade für ein arbeitsteiliges Agieren der Europäischen
Union und ihrer Mitgliedstaaten eine wichtige Grundlage.
Ich selbst habe mich in den zurückliegenden Jahren
sehr stark und intensiv immer wieder mit ECHO beschäftigt, einer Institution, die dazu geschaffen wurde, um bei
Katastrophen zu helfen. Wenn man sich die letzten Berichte anschaut, wird man feststellen, dass hier erhebliche
Veränderungen stattgefunden haben. Die Forderung - ich
will das hier bewusst noch einmal einbringen -, die zum
Beispiel unser Kollege Werner Schuster immer wieder
formuliert hat, nämlich dass Katastrophenhilfe in nachhaltige Konzepte münden muss, wird zum Beispiel von
ECHO berücksichtigt.
Sie, Herr Kollege Brauksiepe, haben ganz locker das
Zitat gebracht, die EU ließe die Welt verhungern. Hinter
solch gewaltigen Behauptungen kann man sich sehr
schön verstecken. Aber wenn Sie sich mit ECHO auseinander gesetzt hätten, wüssten Sie, dass sich diese europäi-sche Institution gerade um die vergessenen Krisen
kümmert, die nicht mehr weltweite Aufmerksamkeit in
den Medien erfahren. Es ist meiner Meinung nach ein
Zeichen von Anstand, dass man all diese Anstrengungen,
die es gegeben hat, auch erwähnt und berücksichtigt.
Von deutscher Seite wird dieser Reformprozess unterstützt. Wir haben das hier auch mehrfach festgestellt:
Bundesregierung und BMZ begleiten diesen Prozess und
setzen sich intensiv mit den entsprechenden Fragen auseinander. In Ihrem Antrag wird völlig versäumt, auf die
Chancen und Potenziale hinzuweisen, die die europäische Ebene bietet. Die EU ist doch der geborene Ansprechpartner für Institutionen wie die UN oder die
Weltbank. Gestern im Ausschuss haben wir mit Monsieur Rischard darüber gesprochen, welche Chancen er
für die Zusammenarbeit sieht. All das lassen Sie unberücksichtigt.
Die Entwicklungspolitik der EU - ich will das hier
ebenfalls mit einbringen - braucht eine Standortbestimmung.
Diese sollte analog zu dem von Solana vorgelegten
Strategiepapier zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Ziele, Kernkompetenzen und Fragen der Arbeitsteilung thematisieren. Wenn wir in diesem Zusammenhang den Zeigefinger ein wenig kritisch gehoben
haben, weil die bis zu 250 Millionen Euro für Friedensfazilitäten nicht unbedingt aus diesem Entwicklungsfonds hätten genommen werden müssen, sondern man
sich hätte umschauen können, wo an anderer Stelle im
europäischen Haushalt, zum Beispiel bei der Landwirtschaft, Mittel zur Verfügung stehen, halte ich das für berechtigt; dieses Anliegen wird von uns auch weiterhin
verfolgt werden.
({1})
Die Stärke des Solana-Papieres ist gerade, dass damit
das Ressortdenken zu überwinden versucht wird, dass
damit eine Kohärenz zu den benachbarten Politikfeldern hergestellt werden soll. Ich denke, dass hier gerade
die entwicklungspolitischen Vorstellungen einfließen
müssen und dass Kohärenz - ich wiederhole das - zwischen Agrar- und Handelspolitik von uns und von der
EU immer wieder eingefordert werden muss. Es sind
doch nicht die europäischen Bürokraten, die zum Beispiel die Agrarsubvention fordern, es sind doch unsere
eigenen Landwirte, es sind die europäischen Landwirte,
die Subventionen für Tabak, Oliven, Milch usw. haben
wollen. Es sind nicht die Bürokraten, die eine andere
Struktur verhindern. Wir müssen hier politische Entscheidungen treffen.
Ich denke, dass das Scheitern der WTO-Konferenz,
die vollmundig als Entwicklungsrunde angekündigt
wurde, die Spaltung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern aufgezeigt hat. Auch am Beispiel des
Weltgipfels zur Informationsgesellschaft wird deutlich,
dass die Kluft zwischen den Ländern des Nordens und
des Südens nicht nur aufgrund von Handelsschranken
und Subventionen besteht, sondern auch, weil zum Beispiel die Wirtschaft die Chance verschläft, ihre Interessen wahrzunehmen. Es ist doch makaber, dass in
Deutschland einerseits Milliarden für UMTS-Lizenzen
ausgegeben werden - jeder muss den Sinn darin selber
suchen -, dass es aber andererseits zwischen Europa und
Afrika nach wie vor keine Breitbandinternetzugänge
gibt. Das sind Dinge, die aufgearbeitet werden müssen.
Dabei muss sich auch die Wirtschaft angesprochen fühlen und zu Verbesserungen beitragen.
Ich will noch ein Wort zum Cotonou-Abkommen
und der Zusammenarbeit der EU mit den AKP-Staaten
sagen. Ich finde es ein wenig makaber, wenn hier von
der CDU/CSU-Fraktion zum Ausdruck gebracht wird,
wir würden Länder privilegieren. Meine Damen und
Herren, von den AKP-Staaten, die mit der EU einen Vertrag haben, gehören 40 zu den weltärmsten. Wir werden
sie weiterhin bewusst privilegieren müssen, um sie aus
diesem Status herauszuholen.
Schauen Sie sich einmal den „AKP-EG-Kurier“ an.
Wenn man sieht, wie die Dialoge, gesicherte Dialoge,
auch auf Parlamentarierebene, zwischen den AKP-Staaten und der EU funktionieren, stellt man fest, dass gerade diese Zusammenarbeit eher beispielhaft ist, als dass
sie in der Weise kritisiert werden dürfte, wie Sie es gemacht haben, lieber Herr Kollege Brauksiepe.
({2})
Ich denke, dass das Reformpapier mit dem Titel „Globale Armut - Europas Verantwortung“, das von der
Kommission als Reaktion vorgelegt worden ist, deutliche Wege für eine Reform aufzeigt. Wir haben diesen
konstruktiven Weg mit unserem Antrag unterstützt. Ich
denke, dass Effektivität und Nachhaltigkeit damit ihren
Weg finden werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich zunächst einmal kurz auf den Bolivien-Antrag
der Union eingehen. Die FDP wird diesem Antrag zustimmen, und zwar vor allem weil er sehr dezidiert und
sehr klar die Frage der Entschuldung anspricht, eine
Frage, der sich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang nicht stellt, der sie sich aber seit langem hätte
stellen müssen.
({0})
Im Wesentlichen möchte ich auf die Anträge zur Reform der EU-Entwicklungspolitik eingehen. Wir sind
uns alle einig, dass da viel am Hängen ist und dass eine
bittere Reform nötig ist. Ich will zunächst ein paar Einzelpunkte herausgreifen und am Ende zwei grundsätzliche Bemerkungen machen.
Wir werden dem Unionsantrag zur Reform der EUEntwicklungspolitik in der jetzigen Form wohl nicht zustimmen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Er enthält einige Aspekte, die sehr gut sind und die wir auch
unterstützen. Zum Beispiel das, was Sie über die AKPStaaten sagen, finden wir sehr richtig und unterstützen
das auch. Wir hätten uns allerdings gewünscht, dass der
Antrag ein paar Kriterien enthält, nach denen die ZusamMarkus Löning
menarbeit strukturiert werden soll. Soll die Strukturierung nach bestimmten Interessenlagen erfolgen? Soll
sich die Zusammenarbeit, wie Herr Dzembritzki es vorschlägt, an der Armutsbekämpfung orientieren?
({1})
Soll die Zusammenarbeit migrationspolitische Aspekte
- zum Beispiel Hinweise darauf, wie wir mit den Ländern des südlichen Mittelmeerraumes umgehen - enthalten? Solche Hinweise, die ich mir gewünscht hätte, fehlen in Ihrem Antrag.
Zum EEF muss man, glaube ich, nicht viel sagen. Die
Union hat sich erlaubt, einen netten Scherz in ihren Antrag einzubauen. Im Antrag steht unter anderem - ich zitiere -: „ohne dabei eine Abnahme von Qualität und Effizienz … zu riskieren.“ Ich glaube, an dieser Stelle gibt
es nicht viel zu riskieren. Noch ineffizienter kann die
EU-Entwicklungszusammenarbeit kaum werden.
({2})
Wir sind uns darüber einig, dass die Mittel schneller
abfließen müssen. Was den Rückfluss angeht, sind wir
allerdings anderer Meinung. Wir sind nicht der Meinung
- das haben wir hier schon öfter gesagt -, dass die Mittel
in die nationalen Haushalte zurückfließen sollten. Wir
sind auch nicht der Meinung, dass sie in Militärprojekte
fließen sollten. Wir sind der Meinung, dass die Mittel in
die Aidsbekämpfung fließen sollten. Sie sollten beispielsweise einem globalen Fonds zur Verfügung gestellt
werden. In dieser Richtung ist ein bisschen passiert; aus
unserer Sicht könnte allerdings mehr passieren.
Herr Dzembritzki, Sie haben den Sachverhalt sehr
nett umschrieben. Als Regierungspolitiker müssen Sie
das vielleicht. Schönreden hilft aber leider nichts. Man
muss den Finger schon in die Wunde legen und sagen:
Das funktioniert nicht. Es ist gut, dass Sie reformieren;
aber es reicht noch nicht.
({3})
- Kleine Verbesserungen reichen aber noch nicht.
({4})
Man muss gerade beim EEF mehr Druck ausüben. Das
werden wir weiterhin tun.
({5})
Ich weiß, dass der Union eine Aussage zur Landwirtschaft sehr schwer fällt. In Ihrem Antrag fehlt aber eine
klare Aussage zur Landwirtschaft, obwohl die EU gerade auf diesem Gebiet tätig werden kann und muss.
Eine Sache können wir absolut nicht mittragen: das
Lobbying für EUNIDA. Es tut mir wirklich Leid, aber
Deutschland, das staatliche Organisationen hat, kann
nicht staatliche Organisationen durchsetzen, wo wir
doch sonst immer der Zivilgesellschaft das Wort reden.
Wir wünschen uns bürgerschaftliches Engagement in der
Entwicklungspolitik, finden NGOs prima; aber auf EUEbene wollen wir nun unbedingt staatliche Organisationen durchsetzen, obwohl es solche Organisationen in
vielleicht gerade einmal sechs Ländern gibt. Es gibt
viele Länder, die solche Organisationen überhaupt nicht
haben. Diese Länder fühlen sich zu Recht benachteiligt.
Zum Antrag der SPD mache ich auch noch ein paar
kurze Bemerkungen. Ihre Bemerkung zum Entwicklungskommissar ist ähnlich scherzhaft wie die der
Union. Sie meinen, dass sich mit der Neuwahl der Kommissare neue Perspektiven auftun würden. Speziell beim
für die Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Kommissar müssen sich neue Perspektiven auftun: Dieser
Kommissar muss weg.
Nach unserer Meinung ist die EU gut beraten - darauf
scheint es auch hinauszulaufen -, die EU-Entwicklungszusammenarbeit der Zuständigkeit des Außenkommissars zuzuordnen. Um eine integrierte Politik zu gewährleisten - das wird auch hier, auf nationaler Ebene,
gefordert -, muss dieses Thema der Außenpolitik zugeordnet werden. Ihre Forderung nach einer Abgrenzung
zur Sicherheitspolitik und Ihre anderen Forderungen in
diesem Zusammenhang verstehe ich nicht. Sonst sagen
wir doch immer: Entwicklungspolitik ist auch Sicherheitspolitik. Ich finde, man muss das nicht so scharf voneinander abgrenzen.
Sie werden mir nachsehen, dass ich nicht darauf verzichten kann, auf China zu sprechen zu kommen. Alle
schönen Texte zur Entwicklungspolitik nutzen nichts,
wenn der Bundeskanzler in China sagt: Die Menschenrechte spielen für uns keine Rolle; wir verkaufen euch
aber gerne eine Plutoniumfabrik - oder sollen es lieber
ein paar Waffen sein; die könnt ihr auch gerne von uns
haben. Wenn so etwas geschieht, brauchen wir auch
keine Texte zur Sicherheitspolitik mehr. Die können wir
uns dann sparen.
Abschließend möchte ich zwei grundsätzliche Punkte
ansprechen, die aus meiner Sicht beiden Anträgen fehlen. Sie sind hauptsächlich der Grund, warum wir beiden
Anträgen nicht zustimmen werden. Zum einen fehlt eine
Antwort auf die Frage, wie wir die Entwicklungspolitik
in die Außenpolitik einsortieren. Welche Kriterien sind
dabei wichtig? Wo verzahnen wir die außenpolitischen
Interessen mit sicherheitspolitischen Interessen und unter Umständen auch mit wirtschaftlichen Interessen?
Herr Richard hat gestern sehr eindrucksvoll dargestellt,
dass die EU in der Entwicklungspolitik vor allem eines
tun kann - das ist das Allerwichtigste; das fehlt in Ihren
Anträgen -, nämlich endlich die Märkte zu öffnen.
({6})
Wir können so viel Geld für Entwicklungszusammenarbeit bezahlen, wie wir wollen; wir können damit aber
niemals das erreichen, was wir mit einem freien Handel
erreichen können. Diese Forderung fehlt in beiden Anträgen.
({7})
- Herr Brauksiepe, leider fehlt die richtige Prioritätensetzung.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Löning, Hinweise auf die WTO, auf eine Marktöffnung und auf den Abbau von Agrarsubventionen können
Sie im Antrag der Koalition finden. Diesen Schuh ziehen
wir uns nicht an.
Herr Dr. Brauksiepe, Sie haben den Unionsantrag eingebracht. Er ist inzwischen in vielen Bereichen nicht
mehr aktuell. Es ist schade, dass Sie die Anhörung im
AwZ nicht abgewartet haben. Da gab es durchaus neue
Erkenntnisse.
Im Koalitionsantrag wird die Situation präziser beschrieben. Auch in ihm werden Veränderungen und Reformen in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit angemahnt. In ihm wird aber auch gewürdigt, dass
es in letzter Zeit bereits erste Reformansätze gegeben
hat, die man zumindest als Schritte in die richtige Richtung bezeichnen kann. Die Dezentralisierung zeigt erste
Früchte. Auch der Mittelabfluss aus dem EEF hat sich
verbessert. Die Zahlen in Ihrem Antrag stimmen nicht
mehr.
Erinnern wir uns: Die Bundesregierung hatte sich
während der EU-Ratspräsidentschaft 1999 erfolgreich
dafür stark gemacht, dass dieser Reformprozess auf die
Schiene kam. Die EU-Entwicklungspolitik wurde auf
das Oberziel Armutsbekämpfung ausgerichtet.
Wir dürfen uns nun allerdings nicht mit den ersten
kleinen Reformschritten zufrieden geben; das ist völlig
klar.
({0})
Im Hinblick auf die Armutsbekämpfung reicht es nicht
aus, sich dieses Ziel auf die Fahnen zu schreiben. Es
muss vielmehr ganz konkret umgesetzt werden. Das
heißt: verstärkter und vor allen Dingen effizienterer Einsatz der Mittel für die Grundversorgung, die Hungerbekämpfung, die Stärkung des ländlichen Raumes, die
Grundbildung, die Gesundheitsversorgung und natürlich
auch für die Aidsbekämpfung.
({1})
Im Hinblick auf die politischen Strukturen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit setzen wir
uns für die Erhaltung der Generaldirektion Entwicklung
und für den Posten eines Kommissars ein.
Die Kollegen im EU-Parlament haben meine ausdrückliche Unterstützung in ihrer Forderung, einen gewichtigen entwicklungspolitischen Ausschuss zu erhalten, und zwar einen, der nicht nur für das ContonouAbkommen zuständig ist. Überhaupt sollten die Kompetenzen des EU-Parlaments - auch im Hinblick auf die
Entwicklungspolitik - gestärkt werden.
Ich habe bereits erwähnt, dass sich der Mittelabfluss
aus dem EEF verbessert hat. Allerdings ist der Weg von
der Projektplanung bis zur Durchführung noch immer
viel zu langwierig und zu bürokratisch. Da gilt es,
Hemmnisse zu überwinden. Dies ist auch möglich, ohne
dass die Qualität darunter leiden muss.
Bezüglich des EEF hat schon Kollege Dzembritzki
auf ein ganz zentrales Problem hingewiesen: Durch parlamentarische Kontrolle ist zu gewährleisten, dass die
Mittel wirklich zur Erreichung entwicklungspolitischer
Ziele eingesetzt und nicht für sicherheitspolitische und
militärische Einsätze zweckentfremdet werden.
Ich möchte diesen Teil meiner Rede mit der Anmerkung beenden, dass nicht jede entwicklungspolitische
Anstrengung zusätzliches Geld kosten muss. Ganz im
Gegenteil: Im EU-Haushalt können durch den Abbau
handelsverzerrender Agrarsubventionen Milliarden eingespart werden. Das hätte obendrein kräftige positive
entwicklungspolitische Effekte. Mehr Kohärenz ist nötig. Die EU-Agrar- und -Handelspolitik sollte nicht den
Zielen der Entwicklungspolitik widersprechen. Auch im
vorliegenden Antrag mahnen die Koalitionsfraktionen
wie schon in vielen anderen Anträgen zuvor ganz ausdrücklich eine Veränderung bzw. Kurskorrektur der Europäischen Union innerhalb der WTO-Verhandlungen
an.
Jetzt komme ich zu Bolivien; denn ich muss ja in einer Rede die beiden unterschiedlichen Themen der vorliegenden Anträge abdecken. Um es vorweg zu sagen:
Deutschland sollte weiterhin mit Bolivien in vollem Umfang zusammenarbeiten. Trotz aller Reformen, die nur
aus dem Land selbst kommen können, hat Bolivien ohne
internationale Unterstützung kaum eine Chance, die
wirtschaftliche und politische Krise zu überwinden.
Wer die Situation verstehen will, sollte in die Geschichte blicken. Die politischen Proteste in Bolivien
entzündeten sich an dem Plan der Regierung, die Gasvorkommen des Landes zu nutzen, um sie über einen
chilenischen Hafen nach Mexiko und dann in die USA
zu exportieren. Dieses Gasgeschäft, welches vordergründig sinnvoll erscheint, wirft aber die alte Frage auf: Wer
profitiert eigentlich von der Nutzung der Bodenschätze?
Für den angesehenen Historiker Eduardo Galeano ist
die Antwort klar: Seit Jahrhunderten, so Galeano, erweist sich der Reichtum an Bodenschätzen als Fluch für
das Land, allen voran für die indianische Bevölkerungsmehrheit. Die weltbekannten Silberminen von Potosi,
die Ausbeutung der Kupfervorkommen, all das hat eine
kleine Gruppe von Bolivianern reich werden lassen und ihre Handelspartner in Europa und in den USA. Wer
nicht davon profitiert hat, war die bolivianische Bevölkerung. Wer diese harte Erfahrung ignoriert, der wird
auch nicht verstehen, warum ein Referendum über den
geplanten Gasexport eine überaus wichtige demokratische Frage ist.
Präsident Mesa hat sich für den Gasexport ausgesprochen, aber er hat auch klargemacht, dass er das Ergebnis
des Referendums in jedem Fall respektieren wird. Der
Aufstand gegen den Gasexport war Auslöser, nicht jedoch Ursache für den massiven politischen Protest. Es
geht auch um eine verstärkte Förderung von Kleinbauern
und um die Umkehrung eines Teiles der Privatisierungen, kurz gesagt: Die materielle Verbesserung für die
große Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung ist das,
was auf der Straße gefordert wird.
Das Hauptproblem der Entschuldung wurde bereits
ganz kurz von Herrn Löning angesprochen; es ist in beiden Anträgen mit aufgearbeitet. Aber eines der Hauptprobleme fehlt in dem CDU/CSU-Antrag, und zwar dass
die Weltbank bei ihren Berechnungen viel zu optimistische Wachstumsprognosen zugrunde gelegt hat. Diese
haben sich in den letzten Jahren nicht erfüllt. Sie hat zudem zukünftige Einnahmen schon vorweg mit eingerechnet, Einnahmen aus dem noch keineswegs gesicherten Gasgeschäft. Um es mit knappen Worten zu sagen:
Die Entschuldung war schlicht nicht hoch genug. Natürlich gab es auch Fehlverhalten der Regierung - Stichwort Korruption -, aber es gab auch Konstruktionsfehler, die der IWF und die Weltbank zu verantworten
haben. Diese Bereiche fehlen in dem Unionsantrag, aber
wir müssen ja heute nicht abstimmen, sodass wir ihn
noch intensiv im Ausschuss diskutieren können.
Ich danke Ihnen.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Hoppe hat ja schon zu Bolivien übergeleitet: Bolivien ist so etwas wie ein Musterland für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, Liebling der
internationalen Geber, Pilotland der UN, auch für die
deutsche EZ eines von vier Musterländern, in denen man
sich besonders bei der Bekämpfung der Armut engagieren will. Bolivien sollte also die „Probe aufs Exempel“
für den Erfolg deutscher und internationaler Entwicklungszusammenarbeit sein.
Aber leider droht angesichts der politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise das Gegenteil, nämlich dass die
hohen internationalen und bilateralen - deutschen - Investitionen in den Sand gesetzt werden. Der Fall Bolivien stellt daher sehr grundsätzliche Fragen an die Entwicklungszusammenarbeit und ebenso grundsätzliche
Fragen an die Umsetzung der Entschuldungsinitiative,
deren Zielsetzung - zumindest in Bolivien - mittlerweile
Makulatur ist. Bolivien ist nämlich nicht nur nicht hoch
genug entschuldet worden - es ist in dem Maße entschuldet worden, wie es die HIPC-Initiative vorgesehen
hat -; anschließend sind in kürzester Zeit neue Schulden
angehäuft worden, sodass heute die Überschuldungsgrenze bereits wieder überschritten ist.
Auch nach dem Wechsel im Präsidentenamt und der
Regierungsumbildung gibt es lokale Straßenblockaden,
Massenaufmärsche, Landbesetzungen. Die radikalen
Protestgruppen fordern die Auflösung des Kongresses,
den Sturz der Regierung und drohen zum Teil ganz offen
mit Bürgerkrieg. Ganz offenbar haben einige Akteure in
Bolivien eine Lehre aus dem so genannten Gaskrieg gezogen, eine Lehre, die uns aufs Äußerste beunruhigen
muss: Protestgruppen und radikale Gewerkschaften
scheinen zu glauben, die Politik könne auch in Zukunft
auf der Straße gemacht werden.
Genau dieser Auffassung müssen wir zusammen mit
der neuen Regierung in aller Entschiedenheit entgegentreten.
({0})
Wenn wir wollen, dass sich das Land wieder fängt, dass
der reform- und konsolidierungsorientierte Kurs der Regierung Mesa - bei allen Schwierigkeiten - Erfolg hat,
müssen wir ihn von Deutschland und von Europa aus
klar unterstützen. Diese Unterstützung kann es allerdings nicht ohne Bedingungen geben; diese haben wir
zu Recht in unserem Antrag genannt: die Umsetzung der
Ziele der Armutsbekämpfungsstrategie, die Fortsetzung
des nationalen Dialogs, die Stärkung der Zivilgesellschaft und eine Mäßigung des politischen Konflikts.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, der bolivianischen Regierung auf der Bolivien-Konferenz, die
morgen in Washington beginnt, die Unterstützung
Deutschlands zu versichern, zugleich aber auch klar die
Bedingungen zu benennen, unter denen deutsche und internationale Hilfe auch in Zukunft gewährt werden kann.
Herr Hoppe, Sie haben zu Recht auf den historischen
Hintergrund der Auseinandersetzungen um den Gasexport hingewiesen. Trotzdem sollten wir mit Klarheit
feststellen: Angesichts der hohen Überschuldung Boliviens, angesichts der grassierenden Armut ist der Gasexport ein Ansatzpunkt für dieses Land, sich eine neue,
verlässliche Einkommensquelle zu erschließen. Es ist
gut, dass Präsident Mesa dazu ein Referendum angesetzt
hat und dass er die Bevölkerung in seinem Land davon
überzeugen will, dass der Gasexport eine richtige Maßnahme ist. Die moderate und vernünftige Politik von
Mesa auch hinsichtlich des Gasexports sollten wir mit
Klarheit und Deutlichkeit unterstützen.
Unabhängig davon, ob es zum Gasexport kommt oder
nicht, bleibt Bolivien auf Hilfe, Unterstützung und Kooperation angewiesen. Wir Deutschen können durch eine
engagierte Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag
zur Stabilisierung leisten. Dazu muss die Bundesregierung natürlich handlungsfähig bleiben. Zumindest mit
dem BMZ-Haushalt für 2004 und der Entwicklung, die
wir erlebt haben, ist diese Handlungsfähigkeit nur noch
eingeschränkt gegeben.
Peter Weiß ({1})
Frau Ministerin, wenn ich eine Zwischenbemerkung
machen darf: Ich war etwas verwundert über die Homepage Ihres Hauses. Mittlerweile ist Ihnen der Haushalt
anscheinend so peinlich, dass Sie die globale Minderausgabe im BMZ-Haushalt 2004 schlichtweg verschweigen. Ich finde es interessant, dass Sie nicht einmal
mehr die Wahrheit der Haushaltsbeschlüsse in den offiziellen Dokumenten Ihres Hauses mitteilen, weil Sie sie
peinlich finden.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil Bolivien so
etwas wie ein Musterland für das ganze Spektrum der internationalen wie auch der bilateralen Entwicklungspolitik ist, wäre ein Scheitern der Entwicklungspolitik gerade in diesem Land nicht nur eine Katastrophe für
Bolivien, sondern auch eine schwere Krise für das Instrumentarium der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt. Deswegen sollten wir alles unternehmen, um diese
„Probe aufs Exempel“ für die Wirksamkeit einer durch
klare Bedingungen, aber auch durch offene Unterstützung ausgezeichneten Entwicklungszusammenarbeit zu
bestehen. Dazu fordern wir Sie auf.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Karin Kortmann, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Kaum ein anderes Land genießt so große internationale Zuwendung, Loyalität und Sympathie wie Bolivien.
Dass ich mich heute entwicklungspolitisch engagiere,
hängt auch damit zusammen, dass ich mit zwölf Jahren
als Pfadfinderin Altpapier gesammelt habe, das wir zugunsten Boliviens verkauft haben. Damals gingen wir
noch von der irrigen Hoffnung aus, dass sich die Entwicklung dieses Landes relativ schnell vollziehen
würde. Keiner hat damit gerechnet, dass es dort nach
30 Jahren immer noch große Probleme geben würde, die
nicht, Herr Weiß, mit Haushaltsmitteln im BMZ, sondern nur durch wirtschaftliche und soziale Perspektiven
zu lösen sind. Ich gebe Ihnen Recht: Die internationale
Hilfe muss so konditioniert werden, dass die Entscheidungen entsprechend getroffen werden.
Ich möchte noch ein paar Punkte zum Hintergrund
nennen. Bolivien ist ein südamerikanisches Binnenland,
flächenmäßig äußerst groß, mit circa 8 Millionen Einwohnern. Es ist reich an Bodenschätzen und kann Nahrungsmittel aus allen Klimazonen bereitstellen. Auf der
anderen Seite ist es das ärmste Land Südamerikas.
63 Prozent der Bevölkerung gelten als arm, 37 Prozent
werden sogar als extrem arm eingestuft. Wir wissen,
dass die Armut eng mit Kinderreichtum und der ethnischen Zugehörigkeit verknüpft ist. Zwei Drittel der Bevölkerung bezeichnen sich selbst als Indigene. Armut ist
verknüpft mit Frauen als Haushaltsvorständen und vor
allem mit einem geringen Bildungsniveau.
Boliviens Wirtschaft befindet sich seit einigen Jahren in einer Krise. Bolivien ist wirtschaftlich einseitig
von Rohstoffexporten und stark schwankenden Weltmarktpreisen zum Beispiel für Energie, Soja, Zink oder
Gold abhängig. Die schlechte Infrastruktur und Verkehrsanbindung, die schwach ausgeprägte Unternehmenskultur, aber auch ungünstige klimatische und geographische Bedingungen behindern eine produktive
Entwicklung.
Als ich vor einigen Jahren gemeinsam mit Peter Weiß
an einem Dialog- und Exposure-Programm in Bolivien
teilgenommen habe, waren wir auf der Hochebene des
Altiplano. Dort wurden wir von einer Bäuerinnenkolchose aufgefordert: Sorgen Sie doch dafür, dass die Kinder in Deutschland Joghurt zu essen bekommen! Das
hilft unserer Wirtschaft. - Das zeigt, wie prekär die Situation in Bolivien ist und dass die Menschen selbst
keine Ideen haben, mit welchen Mitteln sie zur Erwerbswirtschaft beitragen können.
Ein großer Teil der Bevölkerung versteht nicht, was
ihnen die Entschuldung eigentlich gebracht hat. Sie alle
sind davon ausgegangen, dass frisches Geld die Wirtschaft beflügeln wird. Keiner wusste, dass es sich nur
um eine Entschuldung handelte, die kein frisches Geld in
das Land brachte, sondern nur den Schuldendienst reduzierte.
Politisch wurde in den vergangenen Monaten angesichts der Unruhen und Proteste und des Rücktritts des
Präsidenten die Frage gestellt, ob Bolivien, das Beispielland internationaler Hilfe und zivilgesellschaftlicher Partizipation, das Ende eines Modells eingeleitet hat. Der
Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada war es nicht
gelungen, der Bevölkerung zur notwendigen, kurzfristigen Verbesserung ihrer materiellen Lebensverhältnisse
zu verhelfen und vor allem eine Entwicklung neuer Bewältigungsstrategien für die grundlegenden und langfristig wirksamen Probleme einzuleiten.
Der Streit über die Gasexporte über Chile und Mexiko nach Nordamerika hat dann zu extremen Auseinandersetzungen und zu einem außerparlamentarischen Regierungssturz geführt. Die Probleme des Landes, die
weit verbreitete Armut, die soziale Exklusion, die fehlende Wirtschaftskraft und das hohe Haushaltsdefizit,
müssen nun dringend von dem neu gewählten Präsidenten gelöst werden. Ihm stehen nicht nur diese großen
Probleme gegenüber, sondern auch das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung, den Kongress,
und damit auch in die staatlichen Institutionen.
Im Juni des vergangenen Jahres wurde in Bolivien
eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnisse schon fast
erschreckend sind: 49 Prozent der Bevölkerung sagen,
dass es Demokratie auch ohne politische Parteien geben
kann. 43 Prozent meinen, man könnte auch ohne Parlamente zurechtkommen. 60 Prozent dagegen wollen eine
starke regionale Autonomie. 67 Prozent sagen, dass sie
keinen nationalen Haushalt mehr wollen, sondern einen
regionalen.
Carlos Mesa gilt als integerer Mann, der mehr als ein
Übergangskandidat ist. Aber auch er ist bei der Umsetzung seines Aufgabenkataloges in hohem Maße von der
Bereitschaft der großen internationalen Geber abhängig.
Bolivien ist, war und bleibt Schwerpunktland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und, wie Peter
Weiß zu Recht sagt, auch Pilotland für das Aktionsprogramm 2015 der deutschen Bundesregierung, in dem es
um die Halbierung der Armut geht, wobei auf unterschiedlichen Politikfeldern dafür Sorge getragen wird,
dass dieses Ziel erreicht wird.
Nach Vorlage einer partizipativ erarbeiteten Armutsbekämpfungsstrategie im Jahr 2001 erreichte Bolivien
als eines der ersten Länder weltweit den so genannten
Completion Point. Durch die erweiterte internationale
Entschuldungsinitiative HIPC II wurde es dann um bilaterale und multilaterale Schulden in Höhe von insgesamt rund 2 Milliarden US-Dollar entlastet. Zeitgleich
erließ Deutschland in diesem Zusammenhang sämtliche
bilateralen Schulden in Höhe von 379 Millionen Euro.
Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Boliviens und zu diesem Zweck die Unterstützung von Präsident Mesa sind gegenwärtig die wichtigsten Herausforderungen unserer Politik gegenüber Bolivien, sowohl
allgemein als auch im Rahmen der deutsch-bolivianischen Entwicklungszusammenarbeit.
Ich möchte gerne noch auf die Probleme des Haushaltsdefizits in Bolivien eingehen, da dies das herausragende Merkmal ist, an dem sich zeigt, ob sich dieses
Land stabilisieren kann. Für das Jahr 2003 ist mit einem
Defizit von rund 8 Prozent des Bruttoinlandproduktes zu
rechnen. Die Zahlungsfähigkeit der bolivianischen Regierung konnte auch zum Jahresende 2003 nur mit kurzfristigen Sonderzusagen der multilateralen Geber wie
der Weltbank, der Regionalen Entwicklungsbank, der
Andenländer, aber auch der Interamerikanischen Entwicklungsbank sichergestellt werden.
Für dieses Jahr rechnet der IWF schon jetzt mit einem
von außen zu finanzierenden Defizit in Höhe von
105 Millionen US-Dollar, wobei er als Ziel die Reduzierung des Defizits auf 6,8 Prozent des Bruttoinlandprodukts zugrunde gelegt und bestimmte Eigenanstrengungen der bolivianischen Regierung zur Erhöhung ihrer
Eigeneinnahmen bereits in Rechnung gestellt hat.
Besonders dramatisch wird sich die Situation im ersten Quartal darstellen. Um die Regierung unter Präsident
Mesa zu stützen und mit dazu beizutragen, das Land demokratisch, aber auch wirtschaftlich und finanziell zu
stabilisieren, werden jetzt und in Zukunft zwischen der
bolivianischen Regierung und den Gebern abzustimmende Maßnahmen erforderlich sein. Der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit stehen weder
Mittel noch Instrumente zur Verfügung, die hierzu erforderliche kurzfristige Budgethilfe zu leisten. Als stimmberechtigtes Mitglied in den Direktorien der internationalen Finanz- und Entwicklungsorganisationen hat die
Bundesregierung jedoch ganz schnell mit dazu beigetragen, verschiedene Notprogramme zu verabschieden, mit
denen die internationale Gemeinschaft kurzfristig die
Zahlungsfähigkeit Boliviens sicherstellen will und mittel- bis langfristig das Ziel verfolgt, unter Beachtung der
Schuldentragfähigkeitsgrenzen eine nachhaltige Entwicklung des Landes mitzugestalten.
Aber auch im Rahmen der deutsch-bolivianischen
Entwicklungszusammenarbeit wurden Anstrengungen unternommen, unmittelbar auf die Krisensituation
des Landes zu reagieren und die verfassungsgemäß an
die Macht gekommene Regierung durch sichtbare Maßnahmen zur schnellen Umsetzung der EZ zu unterstützen. Im Dezember vergangenen Jahres wurden in La Paz
von der KfW und dem bolivianischen Partner unter Anwesenheit von Staatspräsident Mesa drei Verträge der FZ
im Wert von insgesamt 25 Millionen Euro unterzeichnet.
Die Abkommen betreffen vor allem die Vorhaben bezüglich mittlerer Bewässerungsanlagen und erneuerbarer
Energien sowie die Unterstützung der nationalen Kompensationspolitik. Besonders letzteres Vorhaben ist hervorzuheben, da es hier kurzfristig gelungen ist, durch
eine Flexibilisierung der Auszahlungsvoraussetzungen
und durch eine Ausdehnung des Projektgebietes einen
schnelleren Abfluss der Mittel zu ermöglichen. Hiermit
geht von der deutschen EZ ein nachdrückliches Signal
zur Stärkung der Regierung Mesa und zur demokratischen Stabilisierung des Landes aus. Mit gleicher Zielsetzung wurde für das Jahr 2003 ausnahmsweise auf die
Rückerstattung der Mehrwertsteuer, die grundsätzlich
von den bolivianischen Projektpartnern an die GTZ zu
leisten wäre, verzichtet. Es handelt sich hierbei um Mittel in Höhe von rund 120 000 US-Dollar. Auch das
wurde am 19. Dezember beschlossen.
Wir werden zusätzlich zu dem, was die CDU/CSU
vorgelegt hat, noch einen eigenen Antrag in die parlamentarische Beratung einbringen, weil es nicht sein
kann, Herr Weiß, dass wir an den alten Forderungen festhalten und sagen: Das Wundermittel der Zivilgesellschaft reicht aus, um zu einer wirtschaftlich tragfähigen
Struktur zu kommen. - Sie vergessen immer wieder die
Rolle von demokratisch gewählten Parlamenten und deren Aufgabenkatalog. Ich glaube, auch der Bedingung,
die Sie nennen, nämlich dass eine Fortführung der deutschen, europäischen und internationalen Hilfe für Bolivien eine verstärkte und striktere Bekämpfung des Drogenanbaus und Drogenhandels erfordert, können wir so
einfach nicht zustimmen.
({0})
Das würde auch nicht den Notwendigkeiten Rechnung
tragen, die Sie in Ihrem Antrag benannt haben.
({1})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, dass ich auch in Ihrem Namen
herzlich den Botschafter von Bolivien in dieser Debatte
begrüßen kann. Es freut uns, dass Sie Ihr Interesse an unserer Diskussion deutlich machen.
({0})
Es ist, glaube ich, ausreichend beschrieben worden,
wie stark wir in der Entwicklungshilfe für Bolivien
engagiert sind. Ich glaube, das ist ein Grund mehr, in
dieser Situation die Augen nicht zu verschließen, zumal
solche Konfliktherde immer die Gefahr mit sich bringen,
sich zu radikalisieren und auch auf die Region auszustrahlen.
Seitdem der neue Präsident Mesa an der Regierung
ist, hat sich die Lage in Bolivien - zumindest rein äußerlich - einigermaßen stabilisiert. Er und sein Kabinett genießen einen guten Ruf im Land, auch weil sie sich um
einen neuen, um einen guten Politikstil bemühen. Präsident Mesa wie auch seine Kabinettsmitglieder, die alle
mehr oder weniger Experten und nicht parteigebunden
sind, gelten als nicht korrupt. Es ist in der jetzigen Situation Boliviens sehr wertvoll, die Unterstützung der Bevölkerung zu genießen.
Damit sind die Ursachen für die Probleme und die
Krise aber natürlich noch nicht beseitigt. Vor allen Dingen die schwierige wirtschaftliche Situation, die hohe
Armut und die ethnischen Konfliktlinien in der Bevölkerung bedrohen die friedliche Entwicklung und die Stabilisierung des demokratischen Systems. Letztendlich
können wir auch nicht mit Sicherheit sagen, wie sich die
Opposition in den nächsten Monaten verhalten wird.
Morales’ Partei hat zugesichert, bis Ende Februar stillzuhalten. Die anderen Oppositionsgruppen und -parteien
sowohl innerhalb als auch außerhalb des Parlaments sind
von uns aber nicht berechenbar. Ich denke, Peter Weiß
hat das ausdrücklich und ausführlich genug beschrieben.
Leider hat diese kritische Situation auch Auswirkungen auf die Region insgesamt. In Lateinamerika haben
wir es mit vielen Ländern zu tun, die mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und mit einer hohen Armut
zu kämpfen haben, sodass gegenseitige Hilfe und Unterstützung innerhalb dieser Region nur schwer möglich
sind. Wir müssen uns fragen, wie die Entwicklung in Lateinamerika weitergehen wird und ob die Gefahr besteht,
dass dieser Kontinent kippt, da sich Bevölkerungsteile
zunehmend nicht mehr integrieren lassen und untereinander so verfeindet sind, dass eine Befriedung kaum
möglich ist. Hinzu kommt, dass dieser Prozess mit einer
wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung einhergeht.
Man kann die Tendenz wahrnehmen, dass sich Oppositionsgruppen radikalisieren und internationalisieren,
also über die Grenzen in dieser Region hinweg zusammenarbeiten. Das gilt vor allen Dingen für die Gruppen,
die im Drogengeschäft sind. Ich denke, spätestens bei
diesem Aspekt wird uns allen klar, dass es sich nicht einfach nur um Probleme auf einem fernen Kontinent handelt, sondern dass es durchaus auch in unserem Interesse
liegt, hier Befriedung und Stabilisierung möglich zu machen, da wir von eventuellen Folgen ebenfalls betroffen
sein würden.
({1})
Eine solche Situation in einem Land gibt der organisierten Kriminalität, die international agiert und um Europa natürlich keinen Bogen machen wird, immer einen
freien Raum. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir
uns mit all unseren Kräften einbringen und uns engagieren.
Wir müssen gegenwärtig erleben, dass der alte Konflikt mit Chile wieder aufbricht. Ich muss sagen: Ich
finde es wenig hilfreich, wenn Präsidenten wie Hugo
Chavez aus Venezuela Öl ins Feuer gießen und zur Polarisierung beitragen. Ich denke, insbesondere ein solcher
Konflikt kann nur in Freundschaft und durch die Verständigung miteinander gelöst werden. Alles, was polarisierend wirkt, schadet hier.
({2})
Was kann denn eigentlich getan werden? Sicherlich
muss der Hauptteil der Arbeit im Land selbst geleistet
werden. Ich denke, das machen wir mit unserem Antrag
deutlich. Wir verweisen nämlich darauf, welche Erwartungen wir im Zusammenhang mit der Entschuldungsinitiative an die Regierung stellen. Ich denke, der
enorme Rückhalt, den Präsident Mesa hat, gibt ihm die
Chance, mehr als nur eine Symbolpolitik durchzusetzen.
Es muss ihm zum Beispiel gelingen, seiner Bevölkerung
zu vermitteln, dass es wichtig ist, die eigenen Potenziale
für die Entwicklung zu nutzen und dies nicht einfach einer ideologischen Debatte anheim zu stellen.
Meines Erachtens geht es nämlich eben nicht um die
Frage, ob man Gas exportieren darf oder nicht und ob
das richtig oder falsch ist. Es geht stattdessen darum, zu
überlegen, wie wir erreichen, dass die Einkommen, die
durch einen solchen Export erzielt werden können, für
die Armutsbekämpfung verwendet werden und somit
den Menschen im Land helfen.
({3})
Herr Kollege Hoppe, ich denke, Sie haben das genau
richtig beschrieben.
Eine Hilfestellung ist ebenfalls in der anstehenden
Verfassungsrevision denkbar. Auch diese Verhandlung
wird nicht einfach werden, weil bis heute nicht einmal
klar ist, wer in der verfassunggebenden Versammlung
sitzen soll. Wir haben Erfahrungen mit solchen Prozessen. Diese sollten wir zur Verfügung stellen, zumal die
Gefahr besteht, dass sehr hohe Erwartungen an eine neue
Verfassung gestellt werden. Durch eine solche, den hohen Erwartungen gerecht werdende Verfassung würden
die Probleme am Ende vielleicht nicht gelöst werden.
Diese müssen anders angegangen werden.
Schließlich bleibt zu hoffen, dass die Regierung Mesa
eine ausreichende Unterstützung vom Parlament bekommt. Gerade weil diese Regierung parteiunabhängig
ist, hat sie keine eigene Hausmacht im Parlament und ist
immer darauf angewiesen, sich bei den Parlamentariern,
wenn es um die Entscheidung über Sachfragen geht,
Mehrheiten zu beschaffen. Vielleicht können wir hier einen kleinen Beitrag leisten.
Ich habe gehört, dass der eine oder andere Kollege
vielleicht nach Bolivien reisen wird. Ich denke, dabei
wird es genügend Spielräume, Möglichkeiten und Gelegenheiten geben, um mit den Parlamentariern dort ins
Gespräch zu kommen. Ich wünsche mir für unsere Debatte im Ausschuss, dass wir nicht sehr weit auseinander
liegen und gemeinsam einen kleinen Beitrag beisteuern.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1980,
15/1215 und 15/2338 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 7
auf:
14. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien ({0})
- Drucksache 15/2250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Günther ({2}), Eberhard Otto ({3}), Horst
Friedrich ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Weitgehende Planungserleichterungen bei Anpassung des Baugesetzbuchs an EU-Richtlinien
- Drucksache 15/2346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Regierungsentwurf, die Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung liegen Ihnen vor. Wir treten ein in die Beratungen des EAG
Bau.
Das Recht der räumlichen Planung bildet seit jeher
eine der wichtigen Grundlagen für eine funktionsfähige
und nachhaltige Stadtentwicklung und Stadtentwicklungspolitik. Es schafft die Basis für Investitionssicherheit und für solide Wirtschaftsbedingungen ebenso wie
für Wohnen und eine sozial gerechte Infrastruktur, aber
auch für eine lebenswerte Umwelt. Es ist also für Private
wie für die Wirtschaft gleichermaßen von großer Bedeutung, dass ein zeitgemäßes Planungssystem transparente
und anwendungsfreundliche Regelungen zur Verfügung
stellt. Auf kommunaler Ebene soll zügig und sicher den
komplexen Anforderungen an die räumliche und gesellschaftliche Entwicklung Rechnung getragen werden.
Unmittelbarer Anlass für dieses Gesetzgebungsverfahren ist die Umsetzung der EU-Richtlinie über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und
Programme, der so genannten Plan-UP-Richtlinie. Wir
wollen diese Richtlinie bis zum 20. Juli 2004 in deutsches Recht umsetzen. Wir wollen das tun, indem wir
aufzeigen, wie Europarecht in die bestehenden Verfahrensanforderungen integriert werden kann, und wir wollen gleichzeitig versuchen, strukturelle Vereinfachungen
und Investitionssicherheit miteinander zu verbinden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Prinzip
Nachhaltigkeit in der Verantwortung für zukünftige Generationen weiter betont werden. Wir zeigen auch, dass
sonstige städtebauliche Belange so miteinander verbunden werden können, dass strukturelle Vereinfachungen,
eine höhere Planungsqualität und damit eine erhöhte Investitionssicherheit erzielt werden. Es geht also um Vereinfachungen auf der einen Seite und mehr Sicherheit
auf der anderen Seite. Das hört sich an wie die Quadratur
des Kreises. Wir werden sicherlich miteinander darüber
diskutieren, wie weit uns das gelungen ist.
Wir reagieren zu Beginn des neuen Jahrhunderts aber
auch auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation. Es ändert sich einiges in unserem Lande; ich nenne
die Bevölkerungsentwicklung. Wir haben es mit Stadtumbau und mit der Schrumpfung von Städten zu tun.
Deshalb geht es im Gesetzentwurf auch um die Verankerung von Stadtumbau und dem Programm „Soziale
Stadt“. Auch dafür wollen wir Rahmenbedingungen
schaffen.
({0})
Wie sehen nun die Eckwerte aus? Erstens wollen wir
natürlich die Umsetzung der EU-Richtlinie leisten. Dabei haben wir uns vorgenommen, die europarechtlich
vorgegebenen Umweltprüfungen im Städtebaurecht für
grundsätzlich alle Bauleitpläne nutzbar zu machen. Wir
wollen den Verwaltungsvollzug erleichtern, indem sämtliche gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorgaben
vollständig in bestehende Regelungen über die Aufstellung von Bauleitplänen integriert werden.
Die Umweltprüfung ermöglicht es in Zukunft, ein
übergeordnetes Trägerverfahren zu schaffen. Damit können wir die verschiedenen, bisher teilweise nebeneinander existierenden umweltbezogenen Einzelverfahren im
Baugesetzbuch zusammenführen, etwa die Prüfung nach
der Projekt-UVP-Richtlinie, nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie sowie nach der naturschutzrechtlichen
Eingriffsregelung. Doppelprüfungen werden in der vorgeschlagenen Regelung vermieden, die Öffentlichkeitsbeteiligung wird gestärkt, die Transparenz und damit
auch die Akzeptanz bei den Bürgern werden erhöht. Insgesamt bedeutet dies mehr Investitionssicherheit.
Wir haben dazu auch ein Planspiel in den Städten und
Gemeinden durchführen lassen, wie es schon fast Tradition ist, und wir haben uns gefreut, dass seitens der kommunalen Spitzenverbände und auch im Rahmen des
Planspiels keine grundsätzliche Kritik an dem vorgelegten Konzept geäußert wurde.
Zweiter Eckpunkt der Novelle sind Regelungen des
besonderen Städtebaurechts. Ich habe schon darauf
hingewiesen, dass wir die Regelungen zum Stadtumbau
und zur „Sozialen Stadt“ verankern wollen, um die gesetzlichen Grundlagen für den Auftrag des Gesetzgebers
zu schaffen, hier steuernd einzugreifen. Wir alle wissen,
um die Verwerfungen in unserem Land. Wir legen großen Wert darauf, die neuen Regelungen so zu gestalten,
dass ein konzeptionelles und konsensuales Vorgehen der
Kommunen mit den Investoren möglich ist. Wir haben
dabei bewusst auf bürokratisches Handeln und Überregulierungen mit hoheitlichen Instrumenten verzichtet
und wollen den Kommunen möglichst viel Flexibilität
geben.
({1})
Wir wollen schließlich als dritten Eckpunkt die Schaffung eines modernen Planungsrechts durch eine weitere
Fortentwicklung des geltenden Rechts vervollständigen.
Dazu kann ich angesichts der fortgeschrittenen Zeit nur
Stichworte nennen: Abschaffung der Teilungsgenehmigung, Erleichterung des Bodenordnungsverfahrens
durch Einführung eines vereinfachten Umlegungsverfahrens. Wir wollen den Schutz des Außenbereichs mit
einer modernen Fortentwicklung der Landwirtschaft verbinden. Auf der einen Seite geht es also um den Schutz
des Außenbereiches und auf der anderen Seite um die
Möglichkeit der Landwirtschaft, sich neu aufzustellen.
Ich nenne hier die erneuerbaren Energien, insbesondere
die Biogasanlagen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss.
({2})
Ich kann Ihnen zusichern, dass wir dem Ausschuss in
den Beratungen die notwendigen Informationen gerne
zukommen lassen, so wie Sie das von uns gewöhnt sind.
Ich hoffe, dass wir in der Zeit bis zum 20. Juli gemeinsam ein mustergültiges Gesetz auf die Beine stellen können. Bis dahin haben wir genug Zeit, dies ausgiebig zu
beraten.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das vorliegende Europarechtsanpassungsgesetz Bau,
also die Reform des Baugesetzbuches, geht tendenziell
nicht in die ganz falsche Richtung. Anders ausgedrückt:
Es hätte auch schlimmer kommen können, also mit noch
mehr Verwaltungsaufwand.
Es bleibt aber festzustellen, dass insbesondere durch
die Einführung der neuen Verfahrensregelungen vor allem von den Städten und Gemeinden ein höherer Aufwand bei der Bauleitplanung zu bewältigen sein wird.
Das bedeutet mehr Verwaltungsaufwand. Darüber hinaus fehlt teilweise Fachpersonal, das neu eingestellt
werden muss. Auch wird die Bauleitplanung länger dauern. Dies läuft den Bemühungen und Bestrebungen zur
Verwaltungsvereinfachung entgegen. Viele Kommunen
müssen Personal reduzieren, die Verwaltung verschlanken und vereinfachen sowie Bürokratie abbauen. Dies
wird leider auch aufgrund der Vorgaben der EU nicht
möglich sein.
Der Gesetzentwurf enthält aber auch positive Elemente. Dazu zähle ich unter anderem das Baurecht auf
Zeit. Es gibt Gebiete, in denen eine zeitliche Beschränkung von Baurechten sinnvoll und notwendig ist. Bei
manchen Nutzungen werden die Nutzungszeiten für die
Investoren immer kürzer. Es entstehen Spezialbauten,
die nicht für andere Nutzungen infrage kommen. Zu
nennen sind zum Beispiel großflächiger Einzelhandel,
Musicalhallen, Diskos, Multiplexkinos und ähnliche
Dinge. Hierbei handelt es sich oft um Einfachbauten mit
kurzer Abschreibungszeit. Es ist nun möglich, die Erstnutzung auflösend bedingt festzusetzen. Die Frage einer
Entschädigung nach Aufgabe der Nutzung stellt sich
dann nicht mehr. Die Kommunen können dann die Fläche entschädigungslos überplanen.
Die Aufnahme von gesetzlichen Regelungen zum
Stadtumbau erscheint ebenfalls sinnvoll; der Staatssekretär hat es schon angesprochen. Angesichts der aktuellen und zukünftigen Entwicklung der Leerstandsproblematik im Osten und Norden sowie eines
Wohnungsmangels im Süden und Westen sind die Aufgabenstellungen in Deutschland in Zukunft unterschiedlich wie nie zuvor. Dazu kommt die demographische
Entwicklung in Deutschland. Die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten für einen effektiven Stadtumbau
sind daher ergänzungsbedürftig. Die Praxis wird zeigen,
ob die Regelungen zum Stadtumbau dauerhaft Bestand
haben können und für die Kommunen eine echte Erleichterung bei der Bewältigung der Probleme sind.
Natürlich sind auch die Aufnahme der Baukultur und
deren Belange in das Gesetz zu begrüßen. Aber auch negative Punkte sind zu nennen, zum Beispiel die Fortschreibung des Flächennutzungsplans alle 15 Jahre.
Diese neue Pflicht zur Überprüfung des Flächennutzungsplans spätestens 15 Jahre nach seiner Aufstellung
oder Änderung ist nicht akzeptabel. Kommunale Bauleitpläne sollten dann überarbeitet bzw. überprüft werden, wenn die städtebauliche Entwicklung dies erfordert,
und zwar unabhängig vom Zeitraum.
Geprüft werden sollte auch die Anregung des Städteund Gemeindebundes, durch eine Länderöffnungsklausel die Möglichkeit zu schaffen, die Genehmigungspflicht für Flächennutzungspläne abzuschaffen. Dies
stärkt die kommunale Selbstverwaltung und die Planungshoheit. Zudem würde dem Leitgedanken der Verwaltungsvereinfachung sowie des Bürokratieabbaus entsprochen.
Es fehlen im Gesetzentwurf auch weitere Vereinfachungsmöglichkeiten. Nach dem Grundsatz der Genehmigung aus einer Hand könnten zum Beispiel die
Baugenehmigung und die Sanierungsgenehmigung zusammengefasst werden. Erklären Sie einmal einem Antragsteller, dass er die Baugenehmigung erhält, die Sanierungsgenehmigung aber versagt wird! - Hier muss
ein Bürger am Staat verzweifeln. Die Genehmigung aus
einer Hand könnte das Verfahren vereinfachen.
Weiter müsste darüber nachgedacht werden, ob im
Sanierungsgebiet wirklich alle im Gesetz genannten
Maßnahmen genehmigungspflichtig sind.
({0})
Der Katalog in § 144 sollte etwas abgespeckt werden.
Diskussionswürdig erscheint mir ganz besonders die
geplante halbherzige Abschaffung der Teilungsgenehmigung nach § 19 Baugesetzbuch.
({1})
Die Teilungsgenehmigung hat seit der letzten großen
Änderung der Vorschrift nur noch eine geringe Bedeutung. Nur eine kleine Zahl der Gemeinden hat von der
Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Teilungsgenehmigung als örtliches Recht wieder einzuführen. Der Referentenentwurf sah - das war völlig richtig - noch die
vollständige Abschaffung der Teilungsgenehmigung vor.
Dies war eine der wenigen Verwaltungserleichterungen
im Gesetzentwurf.
({2})
Der Regierungsentwurf bleibt nun auf halbem Weg stehen. Es wird eine Regelung eingeführt, die zur Falle für
Grundstückskäufer werden kann. Die Zulässigkeit eines
Bauvorhabens soll sich künftig nach den Grundstücksverhältnissen vor der Teilung bemessen. Da eine frühere
Teilung aber weder aus dem aktuellen Grundbuch noch
aus der aktuellen Flurkarte ersichtlich ist, kann dies dazu
führen, dass an sich bauberechtigte Grundstücke nicht
bebaut werden können.
Kurze Zeit nach der Teilung mag dies akzeptabel sein,
aber nach zehn, 20 oder 30 Jahren, nach mehreren Bebauungsplänen, nach mehreren Eigentumswechseln und
nach weiterer Unterteilung des Grundstücks, führt dies
zu einer großen Rechtsunsicherheit, zu sehr viel Verwaltung, zu Streitfällen und zu Haftungsfällen, auch für die
Baubehörden.
({3})
Die Regierung ist hier also zwei Schritte vor- und anderthalb Schritte zurückgegangen. Vornehm ausgedrückt: Es handelt sich um eine Verschlimmbesserung.
Bösartig ausgedrückt: Es ist kompletter Blödsinn, was
jetzt im Gesetz steht.
({4})
Gleichzeitig wird im Sanierungsgebiet die Teilungsgenehmigung nach § 144 beibehalten. Hier besteht also
noch weiterer Diskussionsbedarf.
Anzumerken ist, dass wir uns künftig an einen europatauglichen Sprachgebrauch gewöhnen müssen. Der
gute alte deutsche Bürger hat ausgedient. Aus der Bürgerbeteiligung wird die Beteiligung der Öffentlichkeit,
aus der Anregung wird die Stellungnahme und das Planungsrecht kennt künftig keine Träger öffentlicher Belange mehr, sondern nur noch Behörden.
Wir stehen etwas unter Zugzwang. Die EU-Richtlinie
muss bis zum Sommer umgesetzt werden, ob wir wollen
oder nicht. Darum sollten wir das Gesetz zeitnah beraten. Wir sind dazu bereit, damit die Kommunen, Baubehörden und die fachkundige Bürgerschaft genügend Zeit
haben, sich auf die neuen Regelungen und Aufgaben
vorzubereiten.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Franziska EichstädtBohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Beitrag des Kollegen Grübel hat deutlich gemacht,
wie viel Beratungsbedarf wir im Ausschuss haben.
({0})
- Das war völlig okay, das will ich gar nicht kritisieren,
weil die Abwägung des Pro und Kontra der einzelnen
Punkte sehr wichtig ist. Ich glaube allerdings, Sie strapazieren das Plenum etwas.
Ich kann aus Zeitgründen nur ein paar Punkte anreißen.
Ich will deutlich sagen, dass aus unserer Sicht die Integration der UP-Richtlinie sehr gelungen ist. Ich
möchte deutlich die Kritik der FDP zurückweisen, die
deswegen den Gesetzentwurf im Wesentlichen ablehnt.
Ich halte es ferner für sehr gelungen, dass das bisherige
Verfahren der Umweltprüfung in der Bauleitplanung
jetzt mit der UP-Richtlinie der EU, dem Umweltbericht
und dem neuen Instrument des Monitoring zusammengeführt wird. Das bringt vielleicht vorübergehend in den
Kommunen einige Anpassungsprobleme mit sich, aber
es bewirkt aus unserer Sicht à la longue sogar mehr Klarheit, denn letztlich werden dann Projekt-UP und
Plan-UP im Prinzip nach ähnlichen Verfahren erfolgen.
Sie werden sicherlich nach einer bestimmten Lernphase
zu einem Instrument, das allen Beteiligten zugute kommen wird und vor dem man keine Angst haben muss,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen will, betrifft
die Änderungen im Außenbereich. Das Instrument der
Außenbereichssatzung wird abgeschafft. Aber auch das
ist kein Grund zur Sorge. Wir sollten darüber noch einmal im Ausschuss diskutieren. Auch an dieser Stelle ist
es hilfreich, eine gewisse Vereinheitlichung zu erreichen.
Vorhaben wie die Nutzung der Energie aus von Biomasse erzeugtem Gas werden im Außenbereich dann
eine besondere Stellung einnehmen, wenn sie im Zusammenhang mit einer Hofstelle bzw. einem landwirtschaftlichen Betrieb stehen. Auch das ist, glaube ich, sehr hilfreich, um neue Wirtschaftsinstrumente nach dem Motto
„Aus dem Landwirt auch den Energiewirt machen“ einzuführen. Dies muss aber in einer Form erfolgen, die
nicht zu einer Überlastung des Außenbereichs führt. Der
Außenbereich sollte nicht zum Gewerbebereich werden.
Ich glaube, dass wir auch in solchen kleinen Punkten
die richtige Gewichtung vorgesehen haben. Das gilt
auch für die Ausweisung von so genannten Vorrang-,
Eignungs- und Belastungsflächen im Außenbereich.
Auch hierbei gilt, dass land- und forstwirtschaftliche Betriebe nicht betroffen sind. Ansonsten - beispielsweise
bei der gewerblichen Tierhaltung - ist es dann möglich,
die Belastung des Außenbereichs eindeutig zu begrenzen.
Ich komme jetzt zu einem Punkt, den ich für interessant und innovativ halte. Wir haben zum einen generell
das Baurecht auf Zeit vorgesehen, auf das der Kollege
Grübel hingewiesen hat. Wir haben aber zum anderen als
weitere Innovation für Vorhaben im Außenbereich vorgesehen, dass die Nutzung zurückgebaut werden kann,
wenn sie nicht mehr gebraucht werden sollte. Ich glaube,
auch das ist ein innovatives Instrument, das angesichts
der derzeitigen Investitionslage zukunftsfähig ist. Ich
nenne an dieser Stelle das Stichwort Windenergie. Ich
glaube, das ist sehr hilfreich.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen im Hinblick auf den
großflächigen Einzelhandel haben uns bisher sehr
große Sorgen bereitet, weil der Einzelhandel bekanntlich
sowohl im Außenbereich als auch auf aufgelassenen sowie auf noch ausgewiesenen Gewerbeflächen zunehmend eine massive Konkurrenz für den sonstigen Einzelhandel darstellt, der im innerstädtischen Bereich bzw.
in den Stadtteilen gebraucht wird. Es bedeutet eine große
Hilfe, wenn klar geregelt wird, dass die Kommunen das
Recht haben, den Einzelhandel nach der planrechtlich
vorgesehenen Einstufung zu behandeln. Nachbargemeinden dürfen nicht miteinander konkurrieren, um den
Einzelhandel entsprechend auszuweiten. Zumindest haben die anderen Gemeinden das Recht, gerichtlich dagegen vorzugehen.
Darauf, dass die neuen innovativen Instrumente - der
Stadtumbau und das Programm „Soziale Stadt“ - eine
gesetzliche Grundlage erhalten, gleichzeitig aber flexibel und unbürokratisch bleiben, hat Staatssekretär
Großmann schon hingewiesen. Ich halte das für eine
sehr wichtige Errungenschaft der Gesetzesnovelle.
Wir sind im Großen und Ganzen mit dem Gesetzentwurf sehr zufrieden. Trotzdem will ich einige Stellen
nennen, an denen wir uns gewünscht hätten, dass mehr
erreicht würde, und zwar bei dem Problem, dass die
Siedlungsflächenzunahme nach wie vor nicht in dem
Maße eingedämmt wird, wie es aus ökologischen, aber
zunehmend auch aus volkswirtschaftlichen Gründen notwendig ist. Insofern wünschen wir uns, dass an dieser
Stelle noch weiter diskutiert wird, beispielsweise über
eine Bindung der Ausweisung von Bauland an die
ÖPNV-Erschließung.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, der
mir sehr wichtig ist und für den ich um mehr Unterstützung werbe. Ich möchte, dass das Planungsrecht der Gemeinden zum Beispiel im Hinblick auf aufgelassene
Bahn- und Postflächen gestärkt wird. Dem Powerplay
der Bahn, die der Meinung ist, sie könne inzwischen anstelle der Kommunen Stadtentwicklung betreiben, muss
ein Riegel vorgeschoben werden. Ich hoffe, dass wir
auch in diesem Zusammenhang noch das erforderliche
und richtige Rechtsinstrument finden.
Ich hoffe in diesem Sinne auf gute Zusammenarbeit
und darauf, dass wir es gemeinsam schaffen.
({1})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Grundsätzlich freue ich mich, dass wir nach langer Zeit
über die Novellierung des Baugesetzbuches reden; denn
jeder weiß, dass Bauen in Deutschland eigentlich zu bürokratisch, zu umständlich und letztendlich zu teuer ist.
Aus dieser Sicht ist es gut, dass wir mit der entsprechenden Diskussion beginnen.
Die europäischen Richtlinien, die die Prüfung von
Umweltauswirkungen zum Gegenstand haben, bieten
uns Gelegenheit, dies aufzunehmen und eine umfassende Novellierung der Vorschriften der Raumordnung
und der Bauleitplanung vorzunehmen. Leider - hier
gebe ich Ihnen Recht, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig erfüllt die vorliegende Novelle das noch nicht. Mir
scheint, dass nicht der für das Baugesetzbuch zuständige
Minister oder Herr Großmann, sondern dass ein gewisser Herr Trittin der Hauptpate des Gesetzentwurfs war.
Letzterer ist ja bekannt dafür, durch die Hintertür ständig
Joachim Günther ({0})
neue Speerspitzen gegen die Entbürokratisierung in Stellung zu bringen.
({1})
Auch wenn es unter anderem Aufgabe war, Regelungen in den Gesetzentwurf aufzunehmen, wonach Bauleitverfahren einer Umweltprüfung zu unterziehen
sind, muss die Nachfrage gestattet sein, ob das in dieser
rigiden Art erforderlich war.
({2})
Meine Antwort ist eindeutig: Nein, so musste es nicht
sein. Denn die EU hat im Prinzip nur vorgegeben, dass
erhebliche Umweltauswirkungen einzubeziehen sind.
Auch auf europäischer Ebene ist es erklärtes Ziel - das
kann man in der Richtlinie nachlesen -, den Kommunen
nicht mehr Belastungen und mehr Prüfverfahren aufzuerlegen, sondern nur dort zu handeln, wo absehbare Umweltschäden auftreten. Das wird in der EU-Richtlinie
eindeutig ausgedrückt. Die Mitgliedstaaten der EU wollen flexible Regelungen, wenn - so heißt es wörtlich keine erheblichen Umweltauswirkungen zu erwarten
sind. Diesen gesetzgeberischen Rahmen hat die Bundesregierung nicht ausgeschöpft. Umweltprüfungen werden nämlich ausnahmslos in jedes Bauverfahren eingeführt, und zwar ohne Rücksicht auf die kleinen
Gemeinden. Die Ausnahmeregelung im geplanten § 13
des Baugesetzbuches greift eindeutig zu kurz.
Ich möchte noch zwei weitere Themen kurz ansprechen. Mit den im jetzigen Gesetzentwurf vorgesehenen
Regelungen betreffend den Flächennutzungsplan - Frau
Eichstädt-Bohlig hat den großflächigen Einzelhandel angesprochen - wird in der Praxis jedes Bauen ausgehebelt.
Des Weiteren gibt es ein „Investitionsverhinderungsrecht“. Ich finde es unglaublich, dass die Kommunen pauschal ermächtigt werden sollen, Baugesuche ein Jahr lang
zurückstellen zu können, bevor die Bearbeitungszeit beginnt. Wer soll angesichts einer solchen Regelung denn
vor Ort noch planen können? Welchen Handlungsspielraum haben die Unternehmen dann noch? Hier besteht
Diskussions- und Handlungsbedarf. Aufgrund der Kürze
meiner Redezeit möchte ich es bei diesen Anmerkungen
belassen.
Wir haben einen Antrag eingebracht, über den wir im
Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ausführlich diskutieren werden. Ich bin sicher, dass es noch eine Vielzahl
von Punkten gibt, über die wir uns sachlich austauschen
müssen, und dass wir einiges auf den Weg bringen werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Spanier, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die erste Lesung eines Gesetzentwurfs ist eine gute
Gelegenheit, eine erste Gesamtbeurteilung vorzunehmen. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der vorliegende Gesetzentwurf insgesamt gelungen ist. Mit dieser Einschätzung stehen wir nicht allein. Sowohl die
Länder als auch die wichtigen Verbände stimmen mit
uns überein. Die kommunalen Spitzenverbände - diese
sind bei dieser Thematik besonders wichtig - begrüßen
und unterstützen die Gesamtkonzeption des Gesetzentwurfs ausdrücklich.
Es ist im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinie
gelungen, das Baugesetzbuch stärker am Leitbild der
Nachhaltigkeit zu orientieren. Es ist außerdem gelungen - hier unterscheiden wir uns in der Einschätzung,
Herr Grübel -, an vielen Stellen Vereinfachungen
durchzusetzen. Vor allen Dingen die Art und Weise, wie
die EU-Richtlinie implementiert wird, sorgt für ein sehr
einfaches Verfahren. Es ist des Weiteren gelungen, planerische Instrumente für den Stadtumbau und insbesondere für das Programm „Soziale Stadt“ einzubinden, was
von vielen Kommunen gefordert worden ist. Lob verdient auch, dass die Beteiligungsmöglichkeiten - Begrifflichkeit hin, Begrifflichkeit her - verbessert worden
sind.
Wie gesagt, auch der Bundesrat schätzt dies so ein.
Die 52 Vorschläge, die er gemacht hat, sind durchaus
hilfreich. Viele davon sind Vorschläge für redaktionelle
Änderungen; es sind Klarstellungen, zum Beispiel bei
der Thematik des befristeten Baurechts, und auch Anregungen, die in der Gegenäußerung aufgenommen worden sind, zum Beispiel die Erleichterung von Genehmigungen im nicht beplanten Innenbereich im neuen
§ 34 Abs. 3 a des Baugesetzbuches. Das ist schon eine
wichtige Sache, weil so das Genehmigungsverfahren
zum Beispiel für Erweiterungsgebäude von Handwerksund kleinen Gewerbebetrieben im nicht beplanten Innenbereich deutlich beschleunigt wird. Ich glaube, das ist im
Hinblick auf Arbeitsplätze und Investitionstätigkeit in
den Kommunen durchaus eine wichtige Neuerung. Man
kann nur begrüßen, dass dieser Vorschlag des Bundesrats in der Gegenäußerung aufgegriffen worden ist.
Es passiert vielleicht selten im Parlament; aber ich
sage das einfach einmal: In vielen Gesprächen in den
letzten Wochen und Tagen ist mir immer wieder bestätigt worden, mit welcher Sorgfalt die Regierung und hier
das federführende Ministerium und seine Mitarbeiter
vorgegangen sind. Das habe ich von Ländervertretern
und von Verbandsvertretern erfahren. Von Anfang an ist
für die Betroffenen das Bemühen erkennbar gewesen,
die Zusammenarbeit zu suchen. Deswegen ist erkennbar,
dass von den ersten Überlegungen bis zum jetzt vorliegenden Gesetzentwurf durchaus ein Entwicklungs- und
Lernprozess vollzogen worden ist. Ich glaube, dass wir
das natürlich in der parlamentarischen Beratung so fortsetzen können. Das ist richtig und wichtig.
({0})
Ein wichtiger Aspekt ist für mich, dass man sich von
Anfang an um die Anwendungsfreundlichkeit des Baugesetzbuches bemüht hat. Wir reden hier immerhin über
die planerischen Instrumente von 14 000 Gemeinden in
unserem Land. Das ist, selbst wenn wir heute Abend nur
30 Minuten lang
({1})
und zu fortgeschrittener Zeit darüber reden, ein wirklich
relevantes Thema.
({2})
In diesem Fall hat es sich nachweislich wirklich bewährt, dass die Arbeit einer Expertenkommission vorangeschaltet wurde. Ich weiß, dass manche Kommission vielleicht nicht zu Unrecht kritisiert wird und dass
in der Öffentlichkeit mittlerweile geradezu ein Horror
vor der Vielzahl von Kommissionen besteht. Hier hat es
sich aber durchaus bewährt. Ganz wichtig war die Zusammensetzung: Natürlich waren dort Wissenschaftler
sowie Vertreter der Anwaltschaft und der Richterschaft,
aber vor allen Dingen von vornherein Praktiker präsent.
Ich glaube, das hat schon im Kommissionsbericht deutliche Spuren hinterlassen.
({3})
Ich glaube, es ist auch eine gute Sache, dass wir hier
die bewährte Praxis des Planspiels wieder aufgegriffen
haben. Wir alle miteinander sind gespannt, was die Auswertung des Planspiels am 1. März bringen wird. Ich
vermute, dass von den sechs Kommunen, die daran beteiligt waren, ebenfalls eine Reihe von Vorschlägen und
Anregungen - aus der Praxis für die Praxis - gemacht
wird. Darüber werden wir sicherlich intensiv sprechen.
Ich möchte heute angesichts der Kürze der Zeit nicht
auf Einzelheiten eingehen. Dazu haben wir anderswo
Gelegenheit. Jedoch kann ich mir zwei Anmerkungen
zum FDP-Antrag nicht verkneifen: Diese pauschale Ablehnung, die von vornherein mit einer - mit Verlaub diffusen Begründung einherging, ist ein bisschen zu wenig. Es gibt viele Missverständnisse. Wenn Sie einmal
wirklich überprüfen, ob beispielsweise durch die Vorschrift zum Umweltprüfungsverfahren bei den Bauleitverfahren mehr Bürokratie stattfindet, dann stellen Sie
fest: Wenn keine erheblichen Umweltrisiken vorliegen,
ist eine Genehmigung im vereinfachten Verfahren ohne
Umweltprüfung selbstverständlich auch weiterhin möglich.
({4})
Wir vermeiden mit dem vorgeschlagenen Verfahrensweg
die sehr komplizierte und umfangreiche Vorprüfung. Ich
erkenne hier nicht mehr, sondern weniger Bürokratie.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss ganz offen sagen: Wir
haben zwei ehrgeizige Ziele.
Erstens. Wir würden uns freuen, wenn wir dieses Gesetz hier beschließen. Die anschließende Zustimmung
des Bundesrates müsste gewährleistet sein, sodass wir
mit diesem Gesetz nicht ins Vermittlungsverfahren gehen müssen. Das wäre ein vernünftiges Ziel. Das zweite
Ziel ist, den Termin 20. Juli zu erreichen.
Es gibt eine Reihe von Diskussionspunkten - das ist
heute deutlich geworden - und von allen Seiten ist die
Bereitschaft bekundet worden, diese in Ruhe und sachlich zu behandeln. Die Freude darauf hat schon mancher
heute Abend bekundet; ich schließe mich dieser Freudensbekundung an. Es wird eine spannende und interessante Diskussion werden. Noch einmal: Es geht um die
Interessen von 14 000 Gemeinden in unserem Land.
Schönen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger,
CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen.
Erstens. Als wir miteinander über den Entwurf einer
europäischen Verfassung diskutiert haben, hat insbesondere die CDU/CSU-Bundestagsfraktion viel Wert darauf
gelegt, dass wir darin klar definieren, wer in Europa was
macht. Die Umsetzung der hier zur Diskussion stehenden Richtlinie in das nationale Baugesetzbuch ist nach
meiner festen Überzeugung ein Beweis dafür, dass wir
diese Debatte zum richtigen Zeitpunkt geführt haben.
Die Grenzen der einzelnen Politikbereiche sind fließend
und eigentlich niemand in diesem Hohen Hause kann ein
Interesse daran haben, dass vieles von dem, was wir miteinander zu besprechen haben, eigentlich federführend
in Brüssel entschieden wird.
Zweitens. Sie werden mir als einem derjenigen, die
sich in der vergangenen Legislaturperiode in einem anderen politischen Fachbereich mit europäischen Angelegenheiten befasst haben, nachsehen, dass bei mir bei einem Gesetzesvorhaben, das aus Brüssel zu uns in den
Deutschen Bundestag gekommen ist und den Anspruch
der Verwaltungsvereinfachung erhebt, leichte Zweifel
geblieben sind.
Ich will durchaus anerkennen, Herr Staatssekretär,
dass Sie bei der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht nicht so sehr dem Wahn verfallen sind, den andere Häuser der Bundesregierung bei der Umsetzung
von EU-Richtlinien in den vergangenen Monaten und
Jahren an den Tag gelegt haben. Gestatten Sie mir
nichtsdestotrotz, auf einige Dinge im Detail hinzuweisen, über die ich mich bei der Lektüre des Gesetzentwurfs - sagen wir es einmal so - ein kleines bisschen gewundert habe.
Richtig ist wohl, dass es von der Arbeitssystematik
her, beispielsweise für diejenigen, die sich damit in kommunalen Behörden beruflich befassen, vermutlich ein
Fortschritt ist, wenn wir Umweltaspekte in die Bauleitplanung integrieren. Wir müssen allerdings ehrlicherThomas Dörflinger
weise dazusagen, dass es für die Betreffenden sowohl
qualitativ als auch quantitativ ein Mehraufwand ist, auch
wenn es arbeitssystematisch ein Fortschritt sein mag.
Ich greife ein paar dieser Regelungen heraus und beschäftige mich zunächst mit der Anlage zum neu gefassten § 2 a des Baugesetzbuches:
Erstens. Wenn beispielsweise eine Gemeinde ein
Baugebiet ausweisen möchte und ein Verfahren einleitet,
dann muss sie in der Umweltprüfung, die Gegenstand
dieses Verfahrens ist, auch untersuchen, was mit der
Wiese, auf der das Baugebiet entstehen soll, passiert,
wenn das Baugebiet nicht ausgewiesen wird. Das ist mir
nicht ganz einsichtig.
({0})
Der Sinn und Zweck dieser Übung für die Bürgerinnen
und Bürger, für die zukünftigen Nutzer dieses Baugebietes oder für die kommunalen Behörden erschließt sich
für mich nicht. Das ist schlicht unsinnig. Das könnten
wir uns eigentlich sparen, weil es wirklich praxisfern ist.
Zweitens - wir sind immer noch bei der Anlage zum
neugefassten § 2 a des Baugesetzbuches -: Vorgeschrieben ist bei der Umweltprüfung „eine Kurzdarstellung
des Inhalts und der wichtigsten Ziele des Bauleitplans“.
Gleichzeitig sind nach Nr. 1 des neu gefassten § 2 a
„Ziele und Zwecke … des Bauleitplans“ in der Begründung des Bauleitplans darzulegen. Da steht es also
schon. Wir brauchen es an anderer Stelle nicht noch einmal aufzuführen; sonst machen wir die gleiche Arbeit
doppelt. Wir könnten uns allerdings darauf einigen, die
beiden Stellen sozusagen zu verlinken, an der einen
Stelle also auf die andere zu verweisen; das wiederum
machte Sinn. Aber wenn wir die gleiche Arbeit im gleichen Verfahren zweimal machen müssen, macht es keinen Sinn.
Drittens - wieder die Anlage zu § 2 a -: Vorgeschrieben ist „eine Beschreibung, wie die Umweltprüfung vorgenommen wurde. Es geht sozusagen - ich sage es mit
meinen Worten - um eine Dokumentation der Methodik.
Die Methodik ergibt sich aber zwingend aus der Art und
Weise, in der die Umweltprüfung vorgenommen wurde.
Also muss man die Methodik nicht noch einmal extra
beschreiben. Das macht quasi das Inhaltsverzeichnis.
Auch das ist ein unnötiger Aufwand, den wir uns eigentlich sparen könnten.
({1})
Ein Wort zum geplanten § 214 des Baugesetzbuches:
Es erschließt sich mir nicht ganz, warum er nicht in seiner ursprünglichen Form belassen wurde. Bislang war es
so, dass es in einem Bebauungsplanverfahren für die
Wirksamkeit des Bebauungsplans unerheblich war,
wenn in der Begründung etwas falsch oder fehlerhaft
war. Das halte ich auch für sinnvoll. Jetzt steht im Regierungsentwurf Folgendes drin: Die Unbeachtlichkeit eines Begründungsfehlers ist nur noch dann anzunehmen,
wenn die Begründung „in unwesentlichen Punkten unvollständig ist“. Wenn man sich solch eine Formulierung
überlegt, dann müsste man wenigstens auch die Mühe
auf sich nehmen zu definieren, was das Wörtchen „unwesentlich“ in diesem Punkt bedeutet. Ansonsten folgt
bei jedem dieser Verfahren, wenn irgendetwas unklar ist,
ein Rechtsstreit. Die beste Lösung wäre, man lässt diese
Bestimmung einfach weg und belässt § 214 so, wie er
bisher war.
({2})
Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen:
Erstens eine Bemerkung zum Außenbereich. Auch
vor dem Hintergrund, dass es Diskussionen in den kommunalen Spitzenverbänden darüber gibt, die Unterscheidung von Innen- und Außenbereich ganz zu canceln,
sage ich einmal ganz vorsichtig: Der Gesetzgeber muss
seinen Willen klar und deutlich zum Ausdruck bringen.
Was möchte also der Gesetzgeber? Möchte er eine klare
Regelung, um Bauen im Außenbereich unter bestimmten
Konditionen - Stichwort Privilegierung - zu ermöglichen oder möchte er das nicht und dieses eher verhindern? Jetzt steht von jedem ein bisschen im Gesetzentwurf. Sie belassen § 235 des Baugesetzbuches zwar in
wesentlichen Teilen so, wie er ist, sehen aber gleichzeitig einen Planvorbehalt vor, indem Sie in § 15 Abs. 3 des
Baugesetzbuches der Gemeinde die Möglichkeit einräumen, einen Bauantrag für diesen Bereich zurückzustellen. Eine klare Regelung würde verlangen, dass nur das
eine oder das andere geht. Wenn Sie sich klar darüber
sind, was Sie wollen, können wir uns darüber unterhalten, ob wir dem zustimmen können oder nicht.
Zweite Bemerkung. Lassen Sie - das sage ich im Interesse vieler ländlicher Ortsteile, nicht Gemeinden, in
meinem Wahlkreis - die Finger von der Außenbereichssatzung. In vielen ländlichen Ortsteilen, insbesondere in
meinem Wahlkreis, ist eine vernünftige Eigenentwicklung dieser Ortsteile, die zum Beispiel darin besteht,
dass jungen Leuten, die gerne in dem Ort wohnen bleiben möchten, das Bauen dort erlaubt wird, nur mithilfe
dieser Außenbereichssatzung möglich. Sie schneiden die
Eigenentwicklung ländlicher Ortsteile weitgehend ab,
wenn Sie die Außenbereichssatzung aus dem Baugesetzbuch streichen.
Lassen Sie uns vernünftig und sine ira et studio in den
Ausschussberatungen auch anhand der Ergebnisse des
Planspiels darüber beraten, wie das Baugesetzbuch zukünftig aussehen soll.
({3})
Ich habe einige Beispiele angeführt, bei denen ich den
Eindruck hatte -
Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.
Gerne, Frau Präsidentin: Es ist fast zehn vor neun.
({0})
Und Sie haben anderthalb Minuten überzogen.
Das ist richtig. Deshalb mein letzter Satz, Frau Präsidentin: Lassen Sie uns die Dinge in Ruhe durchdeklinieren und uns schauen, wo wir einen Beitrag zur tatsächlichen Vereinfachung des Verfahrens leisten können.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/2250 und 15/2246 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Dr.
Jürgen Gehb, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen
Gesetzbuches ({1})
- Drucksachen 15/1096, 15/2326 ({2})
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({3})
Die Kollegen Christine Lambrecht, Dr. Norbert
Röttgen, Jerzy Montag und Rainer Funke haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.1) Deshalb kommt es zu keiner
Aussprache und auch zu keiner Abstimmung, da es sich
um einen Bericht gemäß § 62 GO-BT handelt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Erwin
Marschewski ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Keine Kürzungen von Integrationsmaßnahmen
- Drucksache 15/1691 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
1) Anlage 3
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Willi Zylajew.
({6})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf der Internetseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finden sich einige interessante Beiträge. In einem Artikel zur Integration junger Migranten heißt es unter anderem:
Seit etwa Mitte der 90er-Jahre ist die Integration
von Spätaussiedlern und ihren Familienangehörigen schwieriger geworden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
das ist richtig. Weiterhin heißt es in diesem Beitrag:
Die Integration wird durch zurückgehende
Deutschkenntnisse sowie durch Wohngebiete mit
hoher Aussiedlerkonzentration erschwert.
Das ist die zweite richtige Feststellung auf dieser Internetseite.
Trotz dieser zwei richtigen Feststellungen sind Sie allerdings auf die falsche Idee gekommen, in erheblichem
Umfang Sprachfördermittel zu kürzen. Bei Ihrem Engagement in der Aussiedlerpolitik habe ich den Eindruck,
dass die ablehnende Position des Herrn Lafontaine in
den 90er-Jahren Ihr Handeln begründet.
({0})
Vielleicht haben Sie aber auch die Notwendigkeit einer
guten Integrationsarbeit noch nicht wirklich verstanden.
Der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Integration in
eine Gesellschaft - das werden Sie sicherlich akzeptieren, Frau Kollegin - ist das Erlernen einer Sprache.
({1})
Sie von Rot-Grün aber reduzieren die Dauer von Intensivsprachkursen von bisher zehn Monaten auf sechs Monate. Ohne ausreichende Deutschkenntnisse werden insbesondere junge Spätaussiedler kaum noch Kontakte zu
einheimischen Jugendlichen entwickeln, werden weniger am örtlichen Leben teilnehmen; man bleibt untereinander. Es bilden sich weitere Parallelgesellschaften mit
allen Problemen, die wir eben nicht wollen.
Hier fangen die Probleme an und sie gehen endlos
weiter. Aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse
können viele junge Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler dem Schulunterricht nicht folgen. Die Zahl junger Aussiedler ohne Schul- und Berufsausbildung steigt
kontinuierlich. Dies sagt im Übrigen auch das zuständige Ministerium. Was tut die Bundesregierung da, Frau
Staatssekretärin, um Abhilfe zu schaffen? - Nichts, zumindest nichts Gutes.
({2})
Zwölfmonatige Integrationskurse mit dem Ziel eines
qualifizierten Schulabschlusses werden weitgehend gestrichen. Internatsgestützte besondere Einrichtungen, die
auf Schulabschlüsse vorbereiten, werden nur noch bis
zum Schuljahresende 2004 gefördert. Um es in der
Schulsprache zu sagen, verehrte Damen und Herren von
der Koalition: Diese Leistungen verdienen ein Ungenügend, eine glatte Sechs!
({3})
Dadurch werden die Probleme junger Aussiedlerinnen und Aussiedler noch größer. Sie können fragen, wen
Sie wollen - Arbeitgeber, Gewerkschaftler, Schwarze,
Rote, Grüne, Gelbe -, jeder wird Ihnen sagen: Ohne ausreichende Deutschkenntnisse und ohne Schulabschluss
ist kein Ausbildungsplatz zu erhalten. Was tut die Bundesregierung in dieser Situation? Da werden zwölfmonatige Integrationskurse mit zusätzlichen berufsorientierenden Bestandteilen schlichtweg gestrichen.
({4})
- Sie werden gestrichen, Kollegin; Sie haben gleich die
Chance zu erwidern. Vielleicht müssen Sie einmal in die
richtigen Internetseiten schauen; dann werden Sie das
feststellen.
Stattdessen gibt es nur noch gekürzte Sprachkurse mit
viermonatigen berufsorientierten Aufbaukursen. Sie kürzen also Maßnahmen, die junge Menschen näher an
Ausbildung und an einen Arbeitsplatz heranbringen.
Ich frage mich, was diese Kürzungen sollen. Sie sagen ja selbst: Ohne besondere Hilfen können junge Aussiedlerinnen und Aussiedler in der Schule und in der Berufsausbildung immer seltener in der Konkurrenz mit
einheimischen Jugendlichen bestehen.
Diese Widersprüchlichkeit Ihrer Aussagen mag verstehen, wer will - ich verstehe sie nicht. Sie drücken
letztlich Zuwanderer in eine Randlage. Randgruppen,
das wissen wir, werden gerne zu Sündenböcken gemacht. So entsteht Fremdenfeindlichkeit. Teile von
Rot-Grün suchen gerne nach den Ursachen von Fremdenfeindlichkeit. Angesichts dieser Politik sage ich Ihnen: Schauen Sie in den Spiegel, dann sehen Sie, wer
Fremdenfeindlichkeit in diesem Land verursacht.
({5})
Wir wollen eine Integrations- und Sprachförderung,
die allen Zuwanderern, Ausländern wie Aussiedlern, gerecht wird. Dazu stehen wir. Dazu haben Sie in den vergangenen fünf Jahren noch kein Konzept auf den Tisch
gelegt.
Für meine Fraktion fordere ich: Bleiben Sie bei den
Richtlinien aus dem Jahre 1998. Gewähren Sie weiterhin
die notwendigen Zuwendungen zur sprachlichen, schulischen und beruflichen Eingliederung junger Menschen!
Sichern Sie das erprobte Konzept für 2004! Nehmen Sie
Ihre einschränkenden Erlasse zurück! Dies wird den jungen Aussiedlern, einer Menschengruppe, die durch die
Geschichte schon sehr gebeutelt wurde, helfen, ebenso
wie unserer ganzen Gesellschaft.
Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Marieluise Beck.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Zylajew, nur zu sagen: „Zurück
zu den alten Zeiten“, ist, wenn sich die Realitäten verändern, keine besonders kluge Lösung, um mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Das sage ich vorweg.
({0})
Sie stellen nur den Antrag, den alten Zustand bitte schön
wiederherzustellen.
({1})
- Dazu werde ich jetzt kurz etwas sagen.
Sie greifen eine Förderpolitik auf, die im Rahmen des
Garantiefonds über viele Jahre hinweg für Spätaussiedler gemacht worden ist. Das war ein guter Ansatz, weil
man festgestellt hat, dass Sprache in der Tat die zentrale
Voraussetzung ist, um einen Weg in die Gesellschaft hinein zu finden.
Herr Zylajew, Sie haben in Ihrer Rede den Sachverhalt ausgespart, dass wir während der ganzen Jahre leider vergessen haben, unseren Blick auf eine zweite
Gruppe von Zuwanderern zu werfen, nämlich auf diejenigen, die nicht Spätaussiedler, sondern Migranten aus
anderen Herkunftsländern sind.
({2})
Wir kamen nach den vielen Debatten der letzten Jahre
und auch dem Streit, den wir miteinander hatten, zu der
Erkenntnis, dass es im Interesse unserer Gesellschaft
- wir alle nennen das Integrationspolitik - liegt, die
Gruppe derjenigen, die als Spätaussiedler zu uns kommen, und die Gruppe derjenigen, die als Migranten aus
anderen Ländern kommen, zusammenzuführen. Man
könnte die beiden Gruppen auch folgendermaßen aufteilen: zum einen das Milieu, das Jochen Welt vertritt,
({3})
zum anderen die Gruppe, die ich als Ausländerbeauftragte vertreten habe. Wir sind klug beraten, diese beiden
Gruppen zusammenzuführen und für sie gemeinsam
Kurse anzubieten, damit wir möglichst viele dieser Zugewanderten integrieren können.
({4})
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis ist zunächst - in
der Zeit vor dem Zuwanderungsgesetz - ein Gesamtsprachkonzept entstanden. Wir haben die von verschiedenen Ministerien angebotenen Sprachförderprogramme
- auch das damalige Bundesarbeitsministerium hat für
Sprachkurse, die nach dem SGB III gefördert wurden,
erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt - zusammengeführt. Man könnte sagen, wir haben damit aufgehört, die
alten Häuser auszubessern und stattdessen systematisch
ein Haus aufgebaut, in das möglichst viele hineinpassen,
also die deutsche Sprache lernen können.
({5})
Die Gelder für den Garantiefonds - das muss man
hier klarstellen - sind im Haushalt nicht gekürzt worden.
Ich möchte, dass Sie das ehrlicherweise zur Kenntnis
nehmen. In der Tat sind Veränderungen vorgenommen
worden. Zum einen wurden bei der Gruppe der Spätaussiedler Kürzungen vorgenommen, damit auch andere
Migranten, für die wir Verantwortung haben, Kursteilnehmer werden können. Das war nötig, da weder Sie
noch wir den Goldesel besitzen, der uns das Geld ausspucken kann. Die zweite Änderung war erforderlich, da
der Bundesrechnungshof - er hat sehr deutlich die unterschiedlichen Kompetenzen im Föderalismus betont darauf hingewiesen hat, dass das Bundesjugendministerium nicht mit Förderangeboten für schulpflichtige junge
Menschen in die Kulturhoheit der Länder eingreifen
kann.
Wir als Ministerium sind vom Bundesrechnungshof
dazu aufgefordert worden, diese Garantiefondsmodelle
so umzustricken, dass die Regelaufgabe „Schule und
Sprachförderung“ in die Kulturhoheit der Länder fällt
und wir uns auf Aufgaben konzentrieren, die darüber hinaus erfüllt werden müssen. Das sind die Rahmenbedingungen, die ich Sie bitte, zur Kenntnis zu nehmen.
Es gibt in dieser Diskussion ein weiteres Problem, das
zu sehr viel Aufregung geführt hat: die Frage der Internate. Es hat Internate gegeben, in denen Kurse und
Schulabschlüsse nachgeholt werden konnten. Ich weiß,
dass es für diese Internate unendlich schwierig ist, ihre
Existenz zu sichern. Denn wir haben in der Tat beschlossen - dies mussten wir -, die Internatsaufenthalte auslaufen zu lassen.
Ich sage Ihnen auch, warum, Herr Zylajew. Wenn
man nicht anders kann, als sich innerhalb bestimmter finanzieller Rahmenbedingungen zu bewegen, dann hat
man die Verpflichtung, sehr genau hinzuschauen, an
welcher Stelle man wie viel Geld am effektivsten ausgeben kann. Eine Internatsausbildung kann für bestimmte
Betroffene gut und wunderbar sein; aber sie ist extrem
teuer. Wenn ich viele andere deswegen, weil ich einigen
das Modell de luxe anbiete, nicht so bedienen und bedenken kann, wie es eigentlich nötig wäre, dann muss
man, so schwierig und dornig dieser Weg ist, an diese
schwierige Strukturentscheidung herangehen. Wir haben
das getan. Wir haben Übergangsfristen eingerichtet, um
den Internaten die Möglichkeit zu geben, umzusteuern
und sich in Zusammenarbeit mit den Ländern auf die
neue Situation einzustellen.
Es gibt außerdem nach wie vor im Rahmen des Sozialgesetzbuches III die Möglichkeit - darauf sollten wir
achten -, Schulabschlüsse nachzuholen. Das kann über
die Bundesagentur für Arbeit im Rahmen des Ermessens
gefördert werden.
Wir sollten ehrlich bleiben, lieber Herr Kollege
Zylajew.
({6})
Ich weiß, dass Sie sich in dieser Frage sehr engagieren.
Als jemand, der aus Nordrhein-Westfalen kommt, ist
dies sehr einsichtig. Wenn wir gemeinsam vorgehen,
werden Sie sehen, dass der Weg, der jetzt vom Ministerium eingeschlagen worden ist, unter den finanziellen
Rahmenbedingungen, unter denen wir arbeiten müssen,
und mit der Idee, möglichst viele zu bedenken, ein vernünftiger ist.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Anliegen, möglichst viel an Sprachförderungsmaßnahmen für jugendliche Ausländer und Spätaussiedler vorzusehen, ist nicht allein ein berechtigter
Wunsch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, sondern
wird selbstverständlich auch von der FDP-Fraktion - ich
nehme an, vom gesamten Haus - geteilt.
({0})
Es besteht allgemeine Einigkeit, dass die Kenntnis der
deutschen Sprache sowie das Erreichen qualifizierter
Schulabschlüsse eine wesentliche Voraussetzung für
eine erfolgreiche Integration sind.
Ich stimme dem zu, was gesagt worden ist: Die heutige Generation der Spätaussiedlerfamilien bereitet mehr
Probleme bei der Integration, als dies Anfang der 90erJahre der Fall war.
({1})
Im Gegensatz zu damals verfügt heute bekanntlich die
überwiegende Zahl der mitreisenden Familienangehörigen nicht mehr über die erforderlichen Deutschkenntnisse. Das führt natürlich zu Problemen. Denn Ausgrenzung aufgrund fehlender Kommunikation als Folge
mangelnder Sprachkenntnisse bringt beinahe zwangsläufig soziale Probleme mit sich. Infolgedessen stimmen
wir den Antragstellern zu; wir sind es den jungen Ausländern und den Spätaussiedlern schuldig und haben als
deutsche Gesellschaft ein vitales eigenes Interesse daran,
dass umfängliche Integrationsmaßnahmen fortgeführt
werden.
({2})
Wir können diese Diskussion nicht losgelöst führen,
ohne einen Blick auf das gerade laufende Vermittlungsverfahren zum Zuwanderungsgesetz zu werfen.
({3})
Morgen um 11 Uhr wird ja die Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses, der ich anzugehören die Ehre
habe, über den Fortgang dieses Vermittlungsverfahrens
sprechen. Dort geht es selbstverständlich ganz entscheidend auch um die künftige Integrationspolitik, damit
auch um die Sprachkurse und um die Kostenverteilung
zwischen Bund und Ländern. Ich verrate kein Geheimnis
aus den bisherigen Sitzungen, wenn ich sage: Es geht
grundsätzlich um die Ausgestaltung der Spätaussiedlerpolitik, und zwar ausdrücklich und vor allem auf
Wunsch der unionsregierten Bundesländer; das muss
man bei der Gelegenheit auch erwähnen.
Über all diese Fragen wird also morgen zu sprechen
sein. Ich glaube, es ist richtig, diesen Antrag der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion als Petitum des Parlaments in
diese Beratungen mit einzubringen und als Material für
die morgigen und weiteren Gespräche anzusehen. Ich
möchte aber an die Unionsfraktion appellieren, ihre Blockade eines vernünftigen Zuwanderungsgesetzes aufzugeben.
({4})
- Nein, es ist so.
Mit einem Gesamtkonzept für Migration und Zuwanderung lassen sich auch diese Integrationsprobleme
besser lösen.
({5})
Dies muss nicht zwingend im Rahmen eines Zuwanderungsgesetzes geschehen, aber es ist zweckmäßig, ein
solches Gesamtkonzept zu verabschieden; darum wird es
morgen gehen.
Wie gesagt: Die FDP stimmt Ihrem Anliegen zu und
wird es in diesen Beratungen vertreten.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Rita Streb-Hesse, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Wir
alle sind uns - das haben heute die Beiträge gezeigt - der
Bedeutung von Sprache und Sprachkompetenz bewusst.
Sie sind der Schlüssel zur Welt: Sprache ist der Schlüssel
für eine erfolgreiche individuelle und gesellschaftliche
Sozialisation und Integration der Zuwanderinnen und
Zuwanderer. Für Migrantinnen und Migranten ist sie
darüber hinaus der Schlüssel, der ihnen die Türen in unsere Gesellschaft öffnet. Die an diese Feststellung gebundene öffentliche Verpflichtung einer bedarfsgerechten Sprachförderung ist mittlerweile breit akzeptiert.
So überrascht es nicht - da habe ich eine etwas andere
Interpretation als der Kollege Stadler -, dass der Integrationsteil des Zuwanderungsgesetzes mit seinem gemeinsamen Sprachfördergesetz für die unterschiedlichen Migrationsgruppen im Grundsatz nicht streitig ist; streitig
sind allenfalls der Kursumfang und die Bund/Länder-Finanzierungsanteile.
({0})
Intention und Kriterien - das ist, denke ich, in den
bisherigen Beiträgen zu kurz gekommen - der vorgesehenen Neustrukturierung waren sehr frühzeitig bekannt:
Sie zielen auf eine aktivierende, nicht nur betreuende
Sprachförderung, sie fördern ein bedarfsgerechtes und
gemeinsames Lernen, sie schaffen Klarheit und Überschaubarkeit bei Zuordnung, Leistung und Finanzierung,
achten auf Effizienz und den Abbau von Verwaltungshierarchie und - das müsste in Ihrem Interesse sein - ermöglichen die Sicherung eines regionalen Angebots.
Die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts durch die
Bundesregierung zur Verbesserung der sprachlichen Integration erfolgte keinesfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Die von Ihnen kritisierte neue Form der
Sprachförderung über das Ministerium war schon im Januar 2001 mit allen Kriterien auf der Homepage des
Bundsministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend.
Wie wir hinreichend wissen, konnte die für den 1. Januar 2003 vorgesehene Umsetzung des Gesamtkonzepts
aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
zum Zuwanderungsgesetz im Dezember 2002 so noch
nicht erfolgen. Im Wissen um ein erneutes Gesetzgebungsverfahren - der Kollege Stadler hat darauf hingewiesen; Sie haben zum Teil zustimmend genickt - und
die eingeleiteten Vorbereitungs- und Begleitmaßnahmen
entschied sich das Ministerium für eine Übergangsregelung, auf die sich Ihr vorliegender Antrag bezieht.
({1})
Jetzt kommen wir wirklich zu dem Punkt. Der Kollege Zylajew hat von jungen Spätaussiedlerinnen und
Spätaussiedlern gesprochen. Schauen Sie sich Ihren Antrag an! Im Antragstext stehen beide Migrantengruppen,
wie sie heute definiert werden. In Ihrer Begründung geht
es dann allerdings nur noch um junge Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler. Sprachlich wohlfeil verpackt
in ein Ja zu einem umfassenden Integrationskonzept und
ein Ja zu den sich daraus ergebenden finanziellen Verpflichtungen - ich denke, für alle Migrationsgruppen sowie einen wenn auch versteckten Hinweis auf ein
kommendes Zuwanderungsgesetz, haben Sie die Rückkehr zum alten System gefordert. Der Kollege Zylajew
hat das deutlich definiert. Das bedeutet, wie die Staatssekretärin richtig dargestellt hat, die Beibehaltung aller
Maßnahmen, wohl wissend - das möchte ich noch
einmal betonen -, dass diese mehrheitlich für junge
Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und noch lange
nicht für alle jungen Zuwanderer offen sind.
Die veränderte Praxis ist schon dargestellt worden:
Die Dauer der neuen Sprachkurse, wie im Zuwanderungsgesetz vorgesehen, ist auf sechs Monate begrenzt.
Aber - das wissen Sie sehr gut - der bisherige wöchentliche Unterrichtsumfang von bis zu 40 Stunden wurde
beibehalten. Mit den weiterhin möglichen viermonatigen
Aufbaukursen mit Berufsorientierung umfasst die erste
Sprachförderung immerhin zehn Monate.
Die bislang geförderten besonderen Hilfen zur Vorbereitung bzw. zum Nachholen von Schulabschlüssen
sind nicht nur mit Blick auf die Kosten bei Öffnung für
alle jungen Zuwanderer, sondern auch angesichts vorhandener anderer Möglichkeiten nicht haltbar. Schulabschlüsse sind in vielen Programmen der Arbeitsverwaltung integriert, ebenso in zahlreichen Angeboten unseres
öffentlichen Schulsystems. Bei uns in Frankfurt zum
Beispiel gibt es eine Abendhauptschule, eine Abendrealschule, zwei Abendgymnasien und das Hessenkolleg.
Ich denke, in den anderen Bundesländern wird es ähnliche Programme im öffentlichen Schulsystem geben.
Das gilt dann folgerichtig ebenso für das im Begründungstext monierte Auslaufen der unterstützenden Leistungen für schulpflichtige junge Spätaussiedlerinnen und
Spätaussiedler. Die Frau Staatssekretärin hat zu Recht
dargestellt: Das ist Folge eines diesbezüglichen Petitums
des Bundesrechnungshofs, das auf die Zuständigkeit der
Bundesländer verweist und auch schon seit Juni 2002
bekannt ist. Nicht wenige Bundesländer haben deshalb
und nicht zuletzt als Antwort auf die Ergebnisse der
PISA-Studie bereits mit Maßnahmen zur sprachlichen
Förderung im Vorschul- und Schulbereich reagiert. In allen Berliner Zeitungen können Sie heute die Antwort des
Senats in Bezug auf Reformen zur sprachlichen Förderung im Schulsystem nachlesen.
Der finanzielle Teil Ihres Antrags ist ein Schuss ins
Leere. Die Finanzierung der laufenden Maßnahmen und
von Kursen ist bis zum Schuljahresende 2004 gesichert.
Entsprechend ihren Bedarfsmeldungen von 2003 sind ihnen Mittel zugewiesen worden. Für das Jahr 2004 sind
die notwendigen Verpflichtungsermächtigungen erfolgt.
Ich denke, die Damen und Herren der CDU/CSU wissen, dass der Antrag sachlich weder nachvollziehbar
noch angemessen ist. Er stellt sich auch nicht den objektiv feststellbaren Änderungen der Migration und der
Notwendigkeit neuer Antworten. Er ist letztendlich nicht
glaubwürdig.
Er unterstützt die Erwartungen einer Zielgruppe im
Rahmen der Migrationsgruppen,
({2})
- Herr Fromme, es sei, wie es ist -,
({3})
obwohl auch in den Reihen der CDU/CSU die Einsicht
reift, dass die alte Förderungspraxis so nicht länger haltbar ist. Dies zeigt auch der Zeitpunkt Ihrer Antragstellung. Sie erfolgte erst im Oktober 2003, obwohl Sie schon
seit Beginn des Jahres 2003 - nicht zuletzt aufgrund diesbezüglicher Fragen Ihrer CDU-Kollegen Marschewski
und Koschyk im Januar und Februar 2003 - sehr detailliert über die Übergangsregelungen informiert wurden.
Sie als Antragsteller mussten ebenfalls wissen, dass
die damit verbundene Umstellung bei den Trägern und
durch die Träger bereits erfolgt war und seit Monaten
praktiziert wurde. Im Oktober letzten Jahres wussten Sie
auch, dass die Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses Ihre Bemühungen um ein Zuwanderungsgesetz ab
November letzten Jahres intensivieren würde. In diesem
Sinne verstehe ich auch den sprachlichen Schmackes des
Kollegen Stadler, dies als Petitum umzuformulieren.
Meine Damen und Herren, Sprache ist und bleibt der
Schlüssel zur Integration. Doch eine erfolgreiche Integration braucht mehr. Diesem Anspruch stellt sich die
Regierungskoalition. Sie ermöglicht und unterstützt ein
vielfältiges Spektrum zusätzlicher Integrationswege, das
schon jetzt auf breite Resonanz und Akzeptanz stößt. Als
Beispiele seien hier nur die Programme „Soziale Stadt“,
„Entwicklung und Chancen für benachteiligte Jugendliche“ sowie die Modellprojekte in den Bereichen des
Sports und der Kriminalprävention genannt.
Wir alle sind gefordert, diesen wichtigen Prozess einer guten und erfolgreichen Integrationsarbeit konstruktiv zu begleiten und mitzugestalten. Dies, meine Damen
und Herren von der Opposition, wäre dann Ihr Schlüssel
für eine gute Zukunft in unserem Land.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin ein wenig verwundert, dass Sie diesen Tagesordnungspunkt zu so später Stunde und bei so schlechter
Präsenz behandeln, war Ihnen diese Frage doch früher so
wichtig, dass Ihnen das Bundesverfassungsgericht erst
wieder auf den Weg der Tugend helfen musste. Jetzt
merkt man bei diesem Thema kaum noch ein Echo. Die
Integration ist eine der wichtigsten Fragen. Die Nichtintegration wird unsere Gesellschaft möglicherweise mehr
verändern als alles andere, was wir in diesen Tagen beraten. Deswegen finde ich es schon schade, dass dieser
Punkt so wenig Aufmerksamkeit genießt.
({0})
Meine Damen und Herren, natürlich haben wir Integrationsprobleme. Wer wollte das leugnen? Aber wir
haben bei dieser Frage einen unterschiedlichen Blickwinkel. Wir wollen uns in erster Linie um diejenigen
kümmern, die Deutsche sind und wieder nach DeutschJochen-Konrad Fromme
land zurückkommen wollen, während Sie die Scheunentore für alle aufmachen wollen und gleichzeitig die Mittel kürzen. Dann wundern Sie sich, dass keine
Integration stattfindet. Das ist doch der Zirkulus, den Sie
herbeigeführt haben.
({1})
Wenn man Menschen in unser Land holt, dann aus der
Volksgruppe, die sich am schnellsten und dauerhaftesten
integriert. Dies sind nun einmal unsere Spätaussiedler
und nicht etwa Menschen aus anderen Kulturen.
({2})
Der Aussiedlerbeauftragte - ich finde es schon bemerkenswert, dass er heute nicht hier ist - hat Folgendes
ausgeführt:
Integration ist eine der wichtigsten ... Aufgaben und
Herausforderungen der kommenden Jahre ... Die
Bundesregierung hat großes Interesse an einer erfolgreich verlaufenden Integration.
Meine Damen und Herren, er hat Recht. Wenn ich
aber einmal Anspruch und Wirklichkeit vergleiche, dann
stelle ich fest, dass - wie es bei ihnen immer der Fall ist diese sehr weit auseinander klaffen. Anstatt die zurückgehenden Zahlen dafür zu nutzen, die Kurse zu intensivieren und den Integrationsprozess zu verbessern, haben
Sie die Bewilligungen erheblich gekürzt. 1998 standen
für Spätaussiedler, deutsche Minderheiten und Vertriebene noch 382 Millionen Euro im Haushalt zur Verfügung, jetzt sind es noch 118 Millionen Euro. Diese drastischen Kürzungen haben Folgen. Die Folgen sind die
Probleme, die wir jetzt haben. Ich glaube, wenn wir uns
mehr um dieses Thema gekümmert hätten und wenn Sie
mehr Mittel dafür zur Verfügung stellen würden, dann
wären auch die Früchte besser.
({3})
Wenn Sie alle, die zu uns kommen - hier möchte ich
deutlich zwischen den Spätaussiedlern und den übrigen
Migranten differenzieren -, in einen Topf werfen, dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn sich die Leistungen verschlechtern. Gerade bei Sprachkursen
kommt es doch auf eine möglichst homogene Unterrichtsgruppe an. Wenn dies gewährleistet ist, wird das
Geld erfolgreich eingesetzt. Wenn aber alle Gruppen
vermischt werden, dann können Sie damit zum einen
eher vertuschen, dass Sie die Leistungen für Spätaussiedler überproportional kürzen, und zum anderen machen Sie deutlich, dass Sie sie gar nicht mehr hier haben
wollen.
Bis weit in die 90er-Jahre bestand in der Aussiedlerpolitik großes Einvernehmen. Diesen Weg haben Sie bei
der Beratung des Spätaussiedlerstatusgesetzes im Jahre
2000 verlassen. Sie wollen offensichtlich überhaupt
keine Spätaussiedler mehr, weil Ihnen diese Gruppe
nicht willkommen ist und weil sie Ihnen möglicherweise
politisch nicht genehm ist. Das ist schade. Sie wollen andere Gruppen hereinlassen, die Ihnen politisch genehmer
sind.
Meine Damen und Herren, wir sollten das lieber einmal unter dem Gesichtspunkt betrachten, wen man besser integrieren kann und wo eigentlich die Probleme liegen. Es ist doch eine Gnade der Geburt, dass der eine
Eltern hatte, die in Westdeutschland gewohnt haben,
während der andere Eltern hatte, deren Großeltern damals nach Russland ausgewandert sind. Deshalb müssen
wir doch denen, die jetzt in Not geraten sind, helfen und
müssen sie aufnehmen und integrieren. Darauf müssen
wir unsere Kräfte konzentrieren.
Wir dürfen aber nicht Menschen in unser Land holen, die in die sozialen Sicherungssysteme zuwandern. Schauen wir uns einmal die Bilanz an: Wie viele
von denen, die in unser Land gekommen sind, befinden sich in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, und wie hat sich diese Bilanz verschlechtert? Die Antwort auf diese Frage zeigt uns, dass
wir mit Zuwanderung überhaupt kein Problem lösen
können; denn die Zuwanderung hat in die sozialen Sicherungssysteme stattgefunden, nicht etwa in den Arbeitsmarkt.
Deswegen sollten wir uns auf die Gruppe konzentrieren, der wir wirklich innerlich und moralisch verpflichtet
sind. Dann ist das auch keine Frage der Finanzierung;
dann ist es vollkommen eindeutig: Nach dem Grundgesetz ist der Bund verpflichtet, die Kriegsfolgelasten zu
tragen. Es geht hierbei ganz eindeutig um Kriegsfolgelasten, da waren wir uns bisher einig. Deswegen kann es
für den Rechnungshof auch keine Probleme in dieser
Frage geben.
Wenn wir diese Töpfe jetzt aber für Migranten öffnen,
wird das natürlich ein Rechtsproblem, weil wir dann tatsächlich in die Kompetenz der Länder eingreifen. Deswegen treten wir dafür ein, dass die Fördersysteme sauber getrennt bleiben. Dann können wir nachvollziehen,
wer was für wen macht. Meine Damen und Herren, wir
werden damit wesentlich mehr Integration leisten und
werden das, was Sie sich auf Ihre Fahnen geschrieben
haben, aber in der Wirklichkeit leider nicht erfüllen,
auch erreichen.
Deshalb darf ich Sie herzlich bitten: Stimmen Sie
dem Antrag zu! Tun Sie etwas Vernünftiges!
Dass der Garantiefonds noch besteht, ist im Übrigen
nur auf den Druck des Kollegen Marschewski zurückzuführen; denn Sie wollten den Fonds doch damals schon
abschaffen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1691 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Götz, Dirk Fischer ({0}), Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Vorlage eines städtebaulichen Berichts
- Drucksache 15/2158 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Kollegen Petra Weis, Renate Blank, Werner
Kuhn, Franziska Eichstädt-Bohlig und Joachim Günther
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deshalb entfällt die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/2158 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau
Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS
im 15. Bundestag
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
- Drucksachen 15/873, 15/874, 15/2114 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Volker Beck ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Uwe Küster, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der heute zur Debatte stehende Antrag der frak-
tionslosen Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch, als Gruppe
im Sinne des § 10 Abs. 4 der Geschäftsordnung des
Bundestages anerkannt zu werden, wurde vom Aus-
1) Anlage 4
schuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung einstimmig abgelehnt.
Auch der hilfsweise gestellte Antrag auf
Drucksache 15/884, nach dem Frau Pau und Frau
Dr. Lötzsch eine Vielzahl von nur Fraktionen und anerkannten Gruppen zustehenden Rechten verlangen,
wurde einstimmig abgelehnt.
Lassen Sie mich hier kurz die Gründe für diese Entscheidungen darlegen. Sehr geehrte Frau Kollegin Pau,
sehr geehrte Frau Kollegin Dr. Lötzsch, im Kern sind
Ihre Anträge abgelehnt worden, weil Sie etwas verlangen, was Ihnen der Deutsche Bundestag im Interesse der
Erhaltung seiner Arbeitsabläufe und seiner Funktionsfähigkeit nicht geben kann und nicht geben darf. Eine Annahme Ihrer Anträge würde die Funktionsfähigkeit des
Deutschen Bundestages beeinträchtigen.
Lassen Sie mich die drei entscheidenden Punkte, die
zu dieser Bewertung geführt haben, kurz ausführen.
Ich gehe dazu zuerst von einer scheinbaren Selbstverständlichkeit aus. Wir alle wissen, dass die Arbeitslast
eines modernen Parlaments ohne Fraktionen nicht zu bewältigen wäre. Dies ist im Übrigen auch die unbestrittene Auffassung der Wissenschaft und der Parlamentspraxis. Ein modernes Parlament, das nach dem Prinzip
voneinander unabhängiger Mitglieder arbeiten wollte,
wäre arbeitsunfähig. Es ist daher kein Zufall, dass sich
gleich gesinnte Abgeordnete in allen freien Parlamenten
zu Fraktionen zusammenschließen.
Die Fraktionen dienen der Funktionsfähigkeit des
Parlaments und steigern gleichzeitig die politische Wirksamkeit des einzelnen Mandatsträgers. Diese immanent
wichtigen Funktionen würden die Fraktionen unwiderruflich einbüßen, wenn Zufalls- oder Zweckbündnisse
einzelner Abgeordneter gleiche oder ähnliche Rechte
hätten. Ein solches Parlament mit vielleicht Dutzenden
von Fraktionen wäre nicht arbeitsfähig. Es wäre eine
Aushöhlung der parlamentarischen Funktion der Fraktionsbildung gegeben.
Zudem würde die Grundentscheidung des Wahlgesetzgebers, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments durch
eine Fünfprozentklausel zu sichern, in ihr Gegenteil verkehrt. Auch bei großzügigster Handhabung des Fraktions- bzw. Gruppenstatus ist es zwingend, dass ein Zusammenschluss von Abgeordneten zumindest so
mitgliederstark ist, dass er nach dem Verteilschlüssel der
betreffenden Wahlperiode mindestens einen Ausschusssitz erlangen könnte. Erst dann könnte man eine Gruppe
annehmen, die zumindest einen fraktionsähnlichen Status hätte. Die theoretische Untergrenze läge in dieser
Wahlperiode bei einem Zusammenschluss von acht Abgeordneten. Zwei Abgeordnete, wie es die Kolleginnen
Frau Pau und Frau Dr. Lötzsch fordern, sind allemal zu
wenig, um eine funktionsfähige Gruppe oder Fraktion
bilden zu können.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang in einem
zweiten Schritt einen kurzen Rückblick. Die Kolleginnen Pau und Dr. Lötzsch sind am 22. September 2002
als Kandidatinnen der PDS in den Deutschen Bundestag
gewählt worden. Die PDS verfehlte damals die FünfproDr. Uwe Küster
zenthürde und konnte auch keine drei Direktmandate in
den Wahlkreisen gewinnen. Somit konnten die auf die
PDS entfallenden Zweitstimmen bei der Vergabe der
Mandate des 15. Deutschen Bundestages nicht berücksichtigt werden. Die beiden Antrag stellenden Kolleginnen sind daher ausschließlich aufgrund ihres persönlichen Wahlergebnisses Mitglieder des Deutschen
Bundestages geworden. Sie haben ihren Sitz gerade
nicht aufgrund des Wahlerfolges ihrer Partei erworben.
Diese Entscheidung des Wählers muss ihren Ausdruck selbstverständlich nicht nur in der Zusammensetzung des Parlaments selbst, sondern auch in seiner Organisation finden. Überdies würde eine Annahme der von
ihnen gestellten Anträge zu einer Verfälschung des
Wählerwillens führen.
Herr Kollege Küster, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pau?
Gerne, Frau Pau.
Herr Kollege Küster, wenn ich die Argumentation in
der Beschlussempfehlung und das, was Sie jetzt eben
ausgeführt haben, richtig verstehe, bezieht sich Ihre Ablehnung auf unseren Antrag, als Gruppe anerkannt zu
werden und zusätzliche Rechte zu den Rechten des oder
der einzelnen frei gewählten Abgeordneten zu erhalten,
die diese genauso wie Sie, wie der Herr Präsident oder
wie ich wahrnehmen können.
In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage. Wie
bewerten Sie folgenden Vorgang? Der Präsident des
Deutschen Bundestages hat sich am 4. November 2003
an uns alle - die Anschrift lautete „An die Mitglieder des
Deutschen Bundestages“ - mit dem Wunsch gewandt,
dass wir für das Internationale Praktikums- und Austauschprogramm in den Abgeordnetenbüros - ausdrücklich nicht in den Fraktionen, den Parlamentarischen Geschäftsführungen oder in der Bundestagsverwaltung Praktikantenplätze zur Verfügung stellen. Als angeschriebenes Mitglied des Hauses habe ich meine Bereitschaft bekundet, ein solches Praktikum während dieses
Austauschprogramms zu ermöglichen. Ich habe einige
technische Nachfragen gestellt, weil eine fraktionslose
Abgeordnete natürlich keine Möglichkeit der Kooperation mit Pressestellen und anderem hat. Hier ließe sich
aber ein Erfahrungsaustausch organisieren.
Nun liegt mir wiederum ein Schreiben des Präsidenten des Deutschen Bundestages vor, das am
8. Januar 2004 eingegangen ist. Dieses enthält die Mitteilung, dass man sich in der Berichterstattergruppe für
das Internationale Austauschprogramm fraktionsübergreifend einig geworden ist, dass dieses Anschreiben
und diese Bitte ausdrücklich nicht für fraktionslose Abgeordnete gelten.
Muss ich ab jetzt also damit rechnen, dass wir Anschreiben mit der Adressierung „An alle Mitglieder des
Hauses mit Ausnahme der fraktionslosen Abgeordneten“
bekommen? Oder wie kehren wir zu dem Zustand zurück, dass wir zumindest die Rechte, die wir außerhalb
unserer Mitgliedschaft in Gremien und Fraktionen haben, auch bitte gleichberechtigt wahrnehmen können?
Vielen Dank für diese Frage, Frau Pau. Selbstverständlich haben Sie nach der Geschäftsordnung des Bundestages, die Sie kennen, alle anderen Mitwirkungsrechte im Parlament und in den Ausschüssen. Sie haben
ja auch ausdrücklich darauf Bezug genommen. Sicherlich ist bei manch anderen Austauschprogrammen oder
Praktikantenprogrammen Ihre Mitwirkung gesichert.
Mir sind die Gründe, warum Sie ausgerechnet bei diesem Praktikantenaustauschprogramm nicht berücksichtigt werden konnten, nicht bekannt. Es kann durchaus sein, dass entsprechend dem Verteilschlüssel der
Praktikanten Ihr Anteil, der etwa ein Dreihunderteinstel
oder ein Dreihundertzweitel ausmacht, nicht gereicht
hat, um entsprechende Berücksichtigung zu finden. Lassen Sie es uns also bitte nicht an diesem kleinen Vorgang
festmachen.
Es gibt viele andere Aufgaben, die Sie hervorragend
wahrnehmen können, bei denen Sie die deutliche Unterstützung der Verwaltung des Bundestages haben - ich
komme gern noch darauf zurück - und bei denen Sie
auch alle Rechte wahrnehmen können, die einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages zustehen.
Lassen Sie mich fortfahren, meine Damen und Herren. Ich gehe noch einmal auf die Tatsache ein, dass
diese beiden Kolleginnen ja nicht aufgrund des Wahlerfolges ihrer Partei in den Bundestag gewählt worden
sind - das war der Gedanke, aus dem Sie mich herausgeholt haben -, sondern dass sie aufgrund ihres persönlichen Wahlergebnisses Mitglied des Bundestages geworden sind.
Nun zu der Frage: Welche Folgen hat das? Nach dem
herkömmlichen Verständnis der Wählerinnen und Wähler sind Fraktionen und Gruppen der parlamentarische
Arm einer Partei. Die PDS ist als Partei aber gerade
nicht in den Bundestag gewählt worden. Diese wichtige
Tatsache muss man berücksichtigen. Diese demokratische Entscheidung der Wahlbevölkerung muss respektiert werden.
Zudem tragen Ihre Anträge in der Konsequenz natürlich auch eine erhebliche Missbrauchsgefahr in sich.
Meine sehr verehrten Kolleginnen Frau Pau und Frau
Dr. Lötzsch, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Würden wir Ihren Wünschen entsprechen, könnten im Deutschen Bundestag Zweckbündnisse entstehen, deren einziger Sinn und Zweck es ist, einzelnen Abgeordneten
mit politisch völlig unterschiedlicher Grundausrichtung
ein Forum zu bieten, ohne dass die für eine Fraktion
kennzeichnende einheitliche politische Meinungsbildung erzielt werden könnte. Ein solcher Zusammenschluss wäre eine Karikatur des Fraktions- und Gruppenstatus. Ich bin überzeugt, dass es unsere Pflicht ist, so
etwas zu verhindern.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas Grundsätzliches zu den Ihnen zur Verfügung stehenden Arbeitsmöglichkeiten sagen, um einen falschen Eindruck in der
Öffentlichkeit zu vermeiden und entstandenen Eindrücken entgegenzuwirken.
Sehr geehrte Frau Pau, sehr geehrte Frau Dr. Lötzsch,
als fraktionslosen Abgeordneten steht Ihnen nach der
Geschäftsordnung des Bundestages selbstverständlich
die Teilnahme an jeder Sitzung des Bundestages zu. Sie
haben, wie alle anderen Abgeordneten auch, ein Zutrittsund Informationsrecht in allen Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Sie haben im Vergleich zu fraktionsangehörigen Abgeordneten deutlich bessere Möglichkeiten, im Plenum das Wort zu ergreifen. Davon machen
Sie ja auch regelmäßig großzügig Gebrauch. Schließlich
steht Ihnen die Nutzung der Dienste der Verwaltung des
Deutschen Bundestages voll und ganz zur Verfügung.
Sie haben da nicht den geringsten Nachteil.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, die beiden
Antragstellerinnen können an der politischen Willensbildung im Parlament und an der Entscheidungsfindung des
Deutschen Bundestages insgesamt völlig frei teilnehmen. Ihre parlamentarischen Mitwirkungsrechte als
Abgeordnete sind voll und ganz gewährleistet. Für weiterreichende Forderungen ist kein Raum. Wie dargelegt,
sind Ihre Anträge aber auch rechtlich höchst bedenklich.
Die Fraktionen des Deutschen Bundestages werden daher Ihre Anträge ablehnen.
Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, ich
danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach dieser Rede, Herr Kollege Küster, kann
man wirklich nur fragen: Warum haben Sie solche Angst
vor zwei fraktionslosen PDS-Abgeordneten? Warum
malen Sie das Schreckensbild an die Wand, wir könnten
das Parlament an seiner Arbeit hindern? Der Deutsche
Bundestag besteht aus 603 Abgeordneten. Davon haben
zwei eine andere Meinung als der Rest. Warum können
Sie damit nicht leben?
Worum geht es heute? Es geht um eine lächerliche
Abstrafung zweier PDS-Abgeordneter. Dieses Parlament
will deutlich machen, dass es mit einer linken Opposition nicht leben will und kann. In Ihren Sonntagsreden
sprechen Sie von Toleranz und gegen Ausgrenzung,
aber hier verhalten Sie sich völlig anders.
({0})
Auch viele Ihrer Wählerinnen und Wähler sehen - danach wird in vielen Gesprächen mit Besuchergruppen
gefragt -, wie intolerant und ausgrenzend Sie im Bundestag mit Ihren Kolleginnen umgehen und schämen
sich häufig dafür. Viele Briefe und E-Mails, die wir erhalten, zeugen davon.
({1})
Sie strafen uns ab, um den Wählern zu zeigen, wie
man mit Andersdenkenden zu verfahren gedenkt. Bedauerlich ist - jetzt kommen schon die Zwischenrufe
von den Grünen -, dass gerade Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, die früher selber im Deutschen Bundestag von der Mehrheit ausgegrenzt wurden, bei der
Ausgrenzung ebenfalls mitwirken.
Ich darf Ihnen zwei konkrete Beispiele nennen, damit
Sie sich das etwas bildlicher vorstellen können. Erstes
Beispiel: Die Oppositionsfraktionen bekommen zusätzlich zum Sockelbetrag der Fraktionen jeweils einen Oppositionszuschlag von rund 43 000 Euro im Monat. Pro
Abgeordneten gibt es noch einmal einen Oppositionszuschlag von 600 Euro im Monat. Ich denke, jeder hier in
diesem Hause ist davon überzeugt, dass Frau Pau und
ich zur Opposition gehören. Auch wir wären auf dieses
Geld angewiesen, um unseren Wählerauftrag zu erfüllen.
Wenn es darum geht, Ihre Fraktionsspitzen mit üppigen
Fraktionszulagen zu versorgen, um deren Diäten aufzubessern, sind Sie nicht so zurückhaltend. Uns aber gewähren Sie nicht einmal einen einfachen Oppositionszuschlag.
Zweites Beispiel: Wir bekommen von diesem Parlament keinen müden Cent für Öffentlichkeitsarbeit.
Gleichzeitig verschwendet der Präsident Unsummen, um
einen selbstverliebten Prestigeband über den Bundestag
drucken zu lassen. Hätten Sie uns nur einen Bruchteil
dieses Geldes gegeben, hätten wir die Bürger in einer
Broschüre über Ihre unsoziale fast Allparteien-Gesundheitsreform informieren können. Doch genau das wollen
Sie nicht.
({2})
Sie wollen nicht, dass Kritik an Ihrer Politik nach außen
dringt. Sie wollen, dass Ihre Politik in der Bevölkerung
als alternativlos angesehen wird. Genau das ist sie aber
nicht.
Ich sehe, dass Frau Pau eine Zwischenfrage stellen
will.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer
Kollegin Petra Pau?
Ja, ich gestatte diese Zwischenfrage, Frau Präsidentin.
Frau Kollegin, wir haben sehr viel über das Funktionieren der Gremien des Bundestages gehört. Sie haben
jetzt über die materielle Seite, die für die politische ArPetra Pau
beit nicht unerheblich ist, gesprochen. Seitdem ich heute
früh um 8.30 Uhr dieses Haus betreten habe, werde ich
abwechselnd von Abgeordnetenkollegen - übrigens quer
durch die konservative Opposition und die Regierungsfraktionen - und von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Hauses nach zwei anderen Dingen gefragt. Ich
wüsste gerne, wie Sie dazu stehen.
Die erste Frage - fast vorwurfsvoll - war heute Morgen: In der Zeitung stand doch, ihr hättet jetzt einen
Tisch. Habt ihr den etwa herausgetragen? Was ist da
passiert? Die zweite Frage ist: Wie ist das denn nun mit
den Telefonen?
Das könnte ich Ihnen genau erklären. Aber ich habe
keine Lust mehr, mich an dieser Posse mit Tisch und Telefon zu beteiligen. Ich könnte hier natürlich eine lange
Rede darüber halten, dass es hinten auf den uns zugewiesenen Plätzen sehr dunkel ist, dass es zieht, dass alle
möglichen Kolleginnen und Kollegen vorbeikommen
und uns fragen, welcher Tagesordnungspunkt gerade behandelt wird. Natürlich kann man sich auch fragen, in
welchem Gesetz steht, dass zwei einzeln gewählte Abgeordnete in der letzten Reihe sitzen müssen.
Es gab übrigens in der Parlamentarischen Gesellschaft eine Veranstaltung, in der genau das Thema der
fraktionslosen Abgeordneten besprochen wurde. Da vertraten wichtige Wissenschaftler - die Wissenschaft
wurde hier oft zitiert - die Auffassung, dass ein fraktionsloser Abgeordneter nicht durch eine entsprechende
Platzierung im Saal bestraft werden darf. Einen Strafcharakter soll diese Platzierung jedoch offensichtlich haben.
Zu Ihrer konkreten Frage nach dem Tisch hat der
Kollege Dr. Küster gestern einen besonderen Vogel abgeschossen, zumindest wenn man ddp glauben darf. Ich
habe hier eine Meldung von „ddp-Extra“:
Der SPD-Berichterstatter im Geschäftsordnungsausschuss, Uwe Küster, fügte auf ddp-Anfrage
hinzu, ein Tisch wie in den ersten sechs Reihen
würde zwischen 15 000 und 100 000 Euro kosten.
Daher werde nach einer preisgünstigeren Variante
gesucht. Außerdem müsse der Architekt des umgebauten Reichstags, Sir Norman Foster, noch informiert werden.
Zu dieser Posse möchte ich nichts sagen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wir haben vor der konstituierenden Sitzung - Sie werden sich daran erinnern - dem
Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Thierse,
einen ganz einfachen Vorschlag unterbreitet. Der heißt - ({0})
- Der heißt nicht Klapptisch. Wenn Sie zugehört hätten,
Herr Dr. Küster, dann wüssten Sie es, denn es ergibt sich
aus der Logik meiner Rede: Wir haben Tische im Deutschen Bundestag. Wir haben keinen Platz in der ersten
Reihe verlangt. Aber was hätten sich denn die Fraktionen vergeben, wenn sie uns einen oder vielleicht sogar
zwei Plätze nebeneinander in der letzten Tischreihe gegeben hätten? Was hat dagegen gesprochen? Wir haben
das mit dem Präsidenten ausführlich diskutiert und hatten auch den Eindruck, dass er das ganz einsichtig fand.
Es muss aber doch Leute gegeben haben, die das völlig
unvorstellbar fanden.
Ich kann noch einmal zusammenfassen, dass die Ausgrenzungsversuche allen anderen Abgeordneten abschreckend deutlich machen sollen, mit welchen Folgen
derjenige oder diejenige zu rechnen hat, der bzw. die
sich nicht der Fraktionsdisziplin unterwirft und eine eigene Meinung und ein eigenes Gewissen hat. Das ist der
eigentliche Sinn der Übung mit uns.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 15/2114. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau auf Drucksache 15/873 mit dem
Titel „Rechtsstellung der Abgeordneten der PDS im
15. Bundestag“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der FDP gegen
die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordneten
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau auf Drucksache 15/874 mit dem
Titel „Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit demselben Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Januar 2004,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.