Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Dirk Fischer ({0}) feierte am
29. November 2003 seinen 60. Geburtstag. Im Namen
des Hauses gratuliere ich nachträglich sehr herzlich.
({1})
Die Fraktion der SPD möchte bei zweien ihrer Mitglieder in der gemeinsamen Kommission von Bundestag
und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung einen Tausch vornehmen. Der Kollege
Dr. Dieter Wiefelspütz, der stellvertretendes Mitglied ist,
soll ordentliches Mitglied werden und der Kollege
Wilhelm Schmidt ({2}), bisher ordentliches Mitglied, soll nun stellvertretendes Mitglied werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Widerspruch höre ich nicht.
Dann ist der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz als ordentliches Mitglied und der Kollege Wilhelm Schmidt
({3}) als stellvertretendes Mitglied in die Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zu einem geplanten Verkauf der Hanauer Plutoniumanlage an die Volksrepublik China ({4})
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan
- Drucksache 15/2168 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke,
Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China
- Drucksache 15/2169 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Für eine Reform und Stärkung der Menschenrechtskommission
- Drucksache 15/2174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte
und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay
- Drucksache 15/2175 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({8})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({9})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen
Übereinkommen vom 6. November 1997 über die
Staatsangehörigkeit
- Drucksache 15/2145 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und
der FDP:
Die deutsch-koreanischen Beziehungen dynamisch
fortentwickeln
- Drucksache 15/2167 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Redetext
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
ZP 7 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({11})
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 81 zu Petitionen
- Drucksache 15/2177 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 82 zu Petitionen
- Drucksache 15/2178 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 83 zu Petitionen
- Drucksache 15/2179 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 84 zu Petitionen
- Drucksache 15/2180 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 85 zu Petitionen
- Drucksache 15/2181 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen
- Drucksache 15/2182 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP:
Mögliche Interessenüberschneidungen bei der Vergabe
öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit auf
allen Ebenen nachhaltig vermeiden
- Drucksache 15/771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-
punkt 10 - agrarpolitische Herausforderungen - abzuset-
zen und den Tagesordnungspunkt 20 - Arzneimittelän-
derungsgesetz - heute als letzten Tagesordnungspunkt
zu beraten. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen
einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist
es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung zum Europäischen Rat in Brüssel am
12./13. Dezember 2003
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({19})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Errungenschaften des Konvents sichern - das europäische Verfassungsprojekt
erfolgreich vollenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze,
Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für eine zügige Regierungskonferenz über
die EU-Verfassung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter
Gauweiler, Klaus Hofbauer, Dr. Gerd Müller,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner
Hoyer, Rainer Brüderle, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschreiben - Unabhängigkeit der
Europäischen Zentralbank sichern
- Drucksachen 15/1878, 15/1694, 15/1695,
15/1801, 15/2188 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({20})
Anna Lührmann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Daniel Bahr
({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Daseinsvorsorge nicht gegen Wettbewerb ausspielen
- Drucksachen 15/1712, 15/2183 Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
Über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem
Titel „Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag“
werden wir später namentlich abstimmen.
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa
steht vor einer der wichtigsten Weichenstellungen seiner
jüngeren Geschichte. In nur fünf Monaten, am 1. Mai
des kommenden Jahres, wird unser Kontinent mit dem
Beitritt von zehn neuen Mitgliedern zur Europäischen
Union friedlich geeint. Gleichzeitig befinden wir uns
- dies ist eine der Konsequenzen dieses historischen Ereignisses - in einer entscheidenden Phase der Reformdiskussion. Vor diesem Hintergrund gewinnt der morgen
beginnende Europäische Rat eine besondere Bedeutung.
Frau Präsidentin, lassen Sie mich gleich zu Beginn
meiner Rede der italienischen Ratspräsidentschaft, die
den Europäischen Rat vorbereitet hat - dies war weiß
Gott eine schwierige Arbeit und es wird noch schwieriger, den Rat zum Erfolg zu führen -, ausdrücklich danken. Die italienische Präsidentschaft hat eine vorzügliche Arbeit geleistet. Mit großer Umsicht und viel
Geschick hat sie in den letzten sechs Monaten die Diskussion um den Verfassungsentwurf gesteuert. Wie ich
schon sagte: Dies ist wirklich keine leichte Aufgabe.
Ein historischer Rückblick zeigt: Das Ergebnis von
Maastricht 1991 war die historische Antwort Europas
auf die deutsche Einheit. Dieser Vertrag zur Wirtschaftsund Währungsunion hat Europa entscheidend vorangebracht. Die nachfolgenden Regierungskonferenzen in
Amsterdam und Nizza konnten sich daran jedoch leider
nicht messen. Sie haben nicht die notwendigen Antworten gefunden, um die Einheit Europas wirklich herbeizuführen. Aus dieser Erfahrung heraus können wir uns,
kann sich Europa jetzt ein zweites Nizza nicht leisten.
({0})
Die Konsequenz aus Nizza war die Einberufung eines
Konvents; zum ersten Mal wurde ein Konvent einberufen. Der Konvent setzte sich zusammen aus nationalen
und europäischen Parlamentariern, aus Regierungsvertretern und Vertretern der Europäischen Kommission; er
war gewissermaßen das institutionelle Viereck der Staaten und Bürger in der Union.
In einer öffentlichen Debatte wurde ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet, von dem man sagen kann, dass er
in der Tat alles andere als minimalistisch ist. Dieser Verfassungsentwurf des Konvents hat die Voraussetzungen
dafür geschaffen, die Einheit Europas zu vollenden. Als
Mitglied des Konvents gestatten Sie mir eine kurze persönliche Anmerkung: Je länger der Abstand zum Konvent selbst ist, desto mehr begreife ich, was die Mitglieder, vor allem aber was das Präsidium, angeführt von
Präsident Giscard d’Estaing, von Guiliano Amato und
Jean-Luc Dehaene, tatsächlich geleistet haben. Ich
möchte ihnen hier meinen allergrößten Respekt aussprechen.
({1})
Die Bundesregierung hat sich von Anfang an dafür
ausgesprochen, diesen historischen Gesamtkompromiss,
den der Konvent erreicht hat, während der Regierungskonferenz nicht wieder aufzuschnüren. Es geht jetzt darum, zu verhindern, dass die Mitgliedstaaten hinter diesen ehrgeizigen Entwurf des Konvents zurückfallen.
Eine Rückkehr zu den Ergebnissen von Nizza bedeutete
unweigerlich, dass ein gesamteuropäischer Integrationsprozess auf Dauer politischen Schaden nehmen würde.
Fast zwangsläufig würde damit die Entwicklung eines
Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und
Kerne vorgezeichnet.
Ich möchte nochmals unterstreichen: Hierbei handelt
es sich nicht um Taktiken oder Drohungen. Es sind vielmehr die Konsequenzen, die sich aus einer erweiterten
Union ergeben, wenn das institutionelle Gefüge, wenn
die Entscheidungsmechanismen und wenn die demokratische Transparenz nicht in dem Maße gegeben sind, wie
es der Problemdruck, aber auch das Verständnis, das die
Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten, erfordern.
Deswegen soll man den Boten für die Botschaft nicht
verantwortlich machen. Problemlösungen warten nicht
und aus diesem Grunde werden wir alles tun, damit sich
hier nicht andere Wege auftun. Deswegen verteidigen
wir den Entwurf des Konvents.
({2})
Ich will nicht darum herumreden: Vor dem anstehenden europäischen Rat befindet sich die Regierungskonferenz in einer ihrer schwierigsten Phasen. Ob wir in
den kommenden Tagen zu einem positiven Ergebnis
kommen werden, ist - das ist jetzt keine diplomatische
Formulierung, keine Floskel - in der Tat offen. Unsere
Haltung ist daher: Wenn sich beim Rat in Brüssel zeigen
sollte, dass die Bereitschaft zu den erforderlichen Integrationsfortschritten in der Union der 25 noch nicht da
ist, dann sollten wir besser weiter verhandeln. Kein Ergebnis in diesem Jahr ist unseres Erachtens deutlich besser als ein schlechtes Ergebnis, das die Arbeit an der
Vollendung Europas über Jahre verzögern oder gar behindern würde.
({3})
Der strittigste und für die Bundesregierung wichtigste
Punkt bleibt die Einführung der doppelten Mehrheit.
Dabei unterstützen wir nachdrücklich den Vorschlag des
Konvents. Warum? Die doppelte Mehrheit gewährleistet
einen fairen Interessenausgleich zwischen den Großen
und Kleinen innerhalb der Union. Sie ist eine wichtige
Grundlage für einen handlungsfähigen Rat; denn sie verringert ganz erheblich - das ist der entscheidende
Punkt - die Blockademöglichkeiten. Das gilt - auch das
sei hinzugefügt - selbstverständlich auch für die bisher
existierende Blockademinderheit der Nettozahler.
Schließlich spiegelt die doppelte Mehrheit wie kein
anderes Element die zweifache Natur der Europäischen Union wider: die Union der Staaten und die
Union der Bürger. Die Staatenmehrheit unterstreicht
die Gleichberechtigung aller Mitglieder. Jeder Mitgliedstaat hat eine Stimme, und zwar unabhängig davon, ob es der kleinste Mitgliedstaat in der erweiterten
Union, Malta, sein wird oder der bevölkerungsreichste, die Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir
die doppelte Mehrheit beschließen, wird deshalb auch
künftig keine Entscheidung in Europa ohne die Mitgliedstaaten getroffen werden.
Das zusätzliche Erfordernis einer Mehrheit der Unionsbürger verwirklicht ein zentrales Prinzip, das in jeder
Demokratie als selbstverständlich gilt: ein Bürger - eine
Stimme. Die Gleichheit der Staaten und die Gleichheit
der Bürger sind das Grundprinzip dieser doppelten
Mehrheit. Erst die Kombination beider Elemente, der
Mehrheit der Staaten und der Mehrheit der Bürger, verdeutlicht den besonderen Charakter der Union als Staaten- und Bürgerunion.
Zugleich wird der entscheidende Kompromiss, der
diese Union bei jeder einzelnen Entscheidung prägen
wird, nämlich der Kompromiss zwischen den Interessen
der großen und der kleinen Mitgliedstaaten, zum Grundprinzip bei allen Entscheidungen: In der ersten Abstimmung - Gleichheit der Staaten - werden die kleinen und
die großen Staaten gleichberechtigt sein. Bei einem Verhältnis von sechs großen zu 19 kleinen Staaten in der erweiterten Union - das ist völlig klar - wird es bei dieser
Abstimmung ein Schwergewicht der kleinen Mitgliedstaaten und ihrer Interessen geben.
Das wird mit der zweiten Abstimmung ausgeglichen,
bei der die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger zählt.
Dort haben selbstverständlich die sechs großen Mitgliedstaaten das stärkere Gewicht. Da beide Abstimmungen
bei diesem Abstimmungsprinzip der doppelten Mehrheit
gleichberechtigt nebeneinander stehen, ist der Zwang
zum Kompromiss bei maximaler Transparenz und Verständlichkeit dieser Abstimmung für die Bürger gegeben.
Wenn man das gegen das Prinzip von Nizza stellt,
wird man begreifen, warum die doppelte Mehrheit auf
Gestaltungsmehrheiten gründet, das Prinzip von Nizza
aber als intransparentes Prinzip tatsächlich auf Blockademinderheiten gründet. Das würde die erweiterte
Union meines Erachtens auf Dauer nicht aushalten. Eine
Rückkehr zu dem Prinzip von Nizza mit seiner intransparenten und deshalb wenig demokratischen und schwer
vermittelbaren Stimmengewichtung würde nach unserer
Meinung ein Scheitern der Regierungskonferenz bedeuten.
Die erweiterte Union wird ohne Zweifel starken zentrifugalen Kräften ausgesetzt sein. Sie ist daher auf eine
effiziente und durchsetzungsfähige Kommission angewiesen, die die Gemeinschaftsinteressen vertritt und sie
zum Nutzen aller voranbringt. Dies liegt besonders im
Interesse der kleinen Mitgliedstaaten.
Die Bundesregierung befürwortet daher weiterhin
und nachdrücklich eine Verkleinerung der Kollegiums
bei gleichberechtigter Rotation zwischen den Mitgliedstaaten. Einige Mitgliedstaaten, besonders auch die
neuen, messen einem eigenen Kommissar allerdings
eine hohe, um nicht zu sagen: sehr hohe Bedeutung bei.
In ihren Augen würde ein solcher nationaler Kommissar
helfen, die Legitimität der Unionspolitik zu Hause zu
stärken.
In dieser Diskussion dürfen allerdings zwei Dinge
nicht vergessen werden: Zum einen wird die Kommission laut Verfassungsentwurf künftig ihre Legitimität
stärker und direkter von den Bürgerinnen und Bürgern
beziehen; denn sie nehmen - das ist einer der wichtigen
Fortschritte im Verfassungsentwurf - über die Wahlen
zum Europäischen Parlament Einfluss auf die Bestimmung des Kommissionspräsidenten. Zum anderen war
die perspektivische Verkleinerung der Kommission die
Grundlage des Verzichts der großen Länder auf einen
zweiten Kommissar in Nizza.
Größere Kontinuität des Handelns der Europäischen
Union soll auch durch einen hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates garantiert werden. Das ist
eine weitere zentrale Neuerung des Verfassungsentwurfs. Dieser neue Präsident wird nicht mehr Kompetenzen als der bisherige Vorsitzende bekommen. Hier
kommt der Konventsentwurf den Kritikern entgegen.
Seine Aufgaben werden klar von denen des Kommissionspräsidenten und des europäischen Außenministers
abgegrenzt. Es ist eine Position, für die die Bundesregierung entschieden eingetreten ist, und die Diskussion in
der Regierungskonferenz hat gezeigt, dass es hier mittlerweile einen belastbaren Konsens gibt.
Außerdem wurde im Präsidentschaftskompromiss
eine weitere wichtige Forderung der kleineren Mitgliedstaaten berücksichtigt: die Beibehaltung der Rotation
des Vorsitzes im Rahmen von Teampräsidentschaften
bei den Spezialräten. Gerade die turnusmäßige Übernahme der Verantwortung für die Arbeit der Union ist
für viele Mitgliedstaaten, vor allen Dingen für die neuen
Mitgliedstaaten, ein wichtiges Element für die Identifikation mit Europa und für die Integration in die europäischen Strukturen.
Die Bundesregierung begrüßt darüber hinaus die Entschlossenheit des italienischen Vorsitzes, die konkrete
Umsetzung der Rotation des Vorsitzes einem Beschluss
des Europäischen Rates zu überlassen und damit sekundärrechtlich zu regeln. Dieser könnte schnell und ohne
weitere mit Ratifikationsverfahren verbundene Vertragsveränderungen angepasst werden.
Meine Damen und Herren, wir unterstützen nachdrücklich die im Verfassungsentwurf in vielen Bereichen
vorgesehene Stärkung des Europäischen Parlaments.
Auch dies ist im Verfassungsentwurf ein ganz wichtiger
Schritt nach vorne.
({4})
Das gebietet unser großes Interesse an einer wirklich europäischen Demokratie.
All das mag jetzt nüchtern klingen. Aber es wird Auswirkungen haben. Denn wenn dieser Vertragsentwurf
angenommen wird, werden dies die entscheidenden Fragen sein. Gerade für den Bundestag ist der Punkt, den
ich jetzt anspreche - auch wenn er trocken daherkommt - sehr wichtig. So soll das Mitentscheidungsverfahren, in dem das Europäische Parlament mit dem Rat
gleichberechtigt beschließt, zum Regelgesetzgebungsverfahren werden. Die Bundesregierung ist sich darüber
im Klaren, welch sensible Angelegenheit dies auch für
das Verhältnis zwischen Europäischem Parlament und
Bundestag tatsächlich ist.
In Bezug auf das künftige Haushaltsverfahren müssen
wir eine akzeptable Lösung finden. Der Konventsentwurf sieht hier das Letztentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments vor. Dazu gibt es im Europäischen Rat,
in dem die nationalen Regierungen vertreten sind, erheblichen Widerspruch. Aber ich denke, wir sind auf gutem
Wege. Die italienische Präsidentschaft wird hierzu einen
interessanten Vorschlag machen, der sich im Wesentlichen an der Struktur des Mitentscheidungsverfahrens
orientiert und sowohl den Europäischen Rat als auch das
Europäische Parlament berücksichtigt, wenn es um das
Haushaltsverfahren geht, also um die Entscheidung: Wer
bestimmt letztendlich, wie viel Geld in Europa ausgegeben wird? Dies muss, wie es auch beim normalen Gesetzgebungsverfahren der Fall ist, den Zwang zum Kompromiss beinhalten. Wir hielten einen solchen Vorschlag
für eine gute Lösung, ohne dass es hierbei zu einem eingebauten konstitutionellen Konflikt zwischen dem Rat
und dem Parlament kommt.
({5})
Meine Damen und Herren, in der Debatte in Deutschland wurde in diesem Zusammenhang immer wieder die
Kompetenzfrage in den Vordergrund gestellt. Dies taten
vor allen Dingen die Bundesländer - an erster Stelle das
Bundesland Bayern, aber auch andere - sowie die Opposition, insbesondere die Union. Dabei - auch dies kommt
relativ trocken bzw. juristisch daher, ist aber für den Alltag von entscheidender Bedeutung - ist auch die dahinter
stehende Frage zu beantworten: Wer macht was in Europa bzw. in der Europäischen Union?
({6})
So sieht der Entwurf eine klarere Kompetenzabgrenzung - dafür hat sich die Bundesregierung zusammen
mit den Ländern sehr eingesetzt - und die Stärkung von
Kontrollmechanismen vor. Gerade - das ist für mich ein
weiterer zentraler Punkt - in Bezug auf die Stärkung der
Subsidiaritätskontrolle haben wir alle gemeinsam intensiv um einen Konsens gekämpft. Das heißt im Klartext, dass jede europäische Entscheidung daraufhin zu
überprüfen ist, ob sie tatsächlich auf europäischer Ebene
getroffen werden muss oder ob es nicht besser wäre,
wenn sie in nationaler oder regionaler Kompetenz verbleiben würde, also in den einzelnen Mitgliedstaaten getroffen würde. Die Subsidiaritätskontrolle ist im neuen
Verfassungsentwurf enthalten, und zwar nicht nur in
Form eines Obersatzes, sondern in der Tat als eine direkte Regelung. Ich denke, damit gewinnen die nationalen Parlamente in der erweiterten Union und in ihren Institutionen an Bedeutung und spielen eine ganz
besondere Rolle, die sie dann auch wahrnehmen müssen.
({7})
Das heißt, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten
- gestatten Sie mir, dass ich mich besonders an die Abgeordneten wende - schon in der Vorbereitungsphase eines Gesetzgebungsaktes durch die Kommission systematisch und zeitig unterrichtet werden. Anschließend
besteht die Möglichkeit, zu jedem Vorschlag Stellung zu
nehmen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass das Parlament nicht erst, wenn eine Entscheidung bereits auf dem
Weg ist, gefragt wird, ob sie tatsächlich zum Subsidiaritätsansatz passt, dass also nicht nur das, was in Europa
beschlossen werden muss, auch auf europäischer Ebene
und der Rest in den Mitgliedstaaten entschieden wird,
sondern dass hier ein Frühwarnmechanismus besteht,
durch den die nationalen Parlamente rechtzeitig genug,
bereits wenn ein solches Verfahren beginnt, eingeschaltet werden.
Darüber hinaus können die nationalen Parlamente vor
dem EuGH Klage erheben. Ich betone bewusst: Nicht
nur die Vielzahl der nationalen Parlamente der einzelnen
Mitgliedstaaten besitzen ein Klagerecht, sondern zum
Beispiel auch das zweite Parlament der Bundesrepublik
Deutschland, der Bundesrat. Das war für die Ländervertreter von großer Bedeutung. Auch dem Ausschuss der
Regionen soll künftig diese Möglichkeit zustehen.
Diese Fortschritte werden - das ist heute bereits absehbar - auf der Regierungskonferenz nicht infrage gestellt werden. Damit wird dem Interesse des Bundestags
wie auch der deutschen Länder voll entsprochen.
Daneben wird sich die Bundesregierung weiterhin für
die Präzisierung der Daseinsvorsorge und der Koordinierung im Bereich der Sozialpolitik einsetzen. Wir wissen,
dass dies besonders für die Bundesländer von Bedeutung
ist. Auch hier zeichnet sich aufgrund einer verbesserten
Formulierung im Wesentlichen Konsens ab.
Meine Damen und Herren, mit dem Verfassungsentwurf liegt uns ein ausgezeichneter Vorschlag für die innere Reform der Europäischen Union vor. Es liegt im
langfristigen Interesse unseres Landes, dass uns diese
Reform gelingt. Aber sie muss eine wirkliche Reform
sein und darf nicht auf das Niveau des Vertrages von
Nizza zurückfallen. Es darf kein Nizza II geben. Wollten
wir nur die Ziele des Nizza-Vertrages erreichen, dann
brauchten wir keine europäische Verfassung, sondern
könnten uns ausschließlich an das halten, was bereits
entschieden und ratifiziert worden ist. Ich bin aber der
Meinung, dass der Vertrag von Nizza als Minimalkompromiss für die Ausgestaltung der Zukunft der Europäischen Union der 25 und mehr Mitgliedstaaten nicht ausreichen wird.
Uns geht es darum, dass diese Reform durchgeführt
und ein Verfassungsvertrag ausgearbeitet wird. Er ist die
Grundlage für ein starkes und handlungsfähiges Europa
in der Welt. Kein einzelner der europäischen Staaten,
auch nicht der größte, kann in Zukunft alleine seine Interessen nach außen auf Dauer wirksam vertreten. Dafür
sind selbst die größten und mächtigsten europäischen
Nationalstaaten unter den Bedingungen, die sich uns in
Zukunft stellen werden, zu klein. Nur gemeinsam als Europäische Union können wir den Herausforderungen der
Zukunft effektiv begegnen. Nur gemeinsam haben wir
eine Chance, das 21. Jahrhundert auf positive Weise zu
gestalten.
Uns muss klar sein: Die Welt wird auf die Europäer
nicht warten. Entweder lösen wir unsere internen Probleme, entweder stellen wir eine gemeinsame Handlungsfähigkeit her, entweder finden wir nicht nur in einem gemeinsamen Markt zusammen, sondern auch in
einer gemeinsamen Demokratie und einer gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, entweder wird die Europäische Union zum politischen Subjekt auf internationaler Bühne oder die Welt wird sich ohne den wesentlichen
Einfluss der Europäer fortentwickeln. Das würde für uns
alle eine bittere Erfahrung werden.
({8})
Meine Damen und Herren, auch wenn es nicht Aufgabe einer Verfassung sein kann, eine einheitliche europäische Haltung in der Außenpolitik herzustellen, so
schafft der vorliegende Entwurf doch die notwendigen
Institutionen und Verfahren, mit denen Europa künftige
Krisen geschlossen besser bewältigen kann. Zum einen
sieht er eine engere inhaltliche Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vor. Zum anderen bekommt Europa in der
operativen Außenpolitik ein Gesicht, nämlich durch einen europäischen Außenminister. Die Regierungskonferenz stellt diesen wichtigen Schritt im Wesentlichen
nicht mehr infrage. Der europäische Außenminister wird
dem Rat für Auswärtige Angelegenheiten vorsitzen und
zugleich Vizepräsident der Kommission sein. Er hat also
eine echte Doppelfunktion inne. Er soll dabei - auch das
ist eine wesentliche neue Änderung - von einem europäischen Auswärtigen Dienst unterstützt werden, der sich
aus Mitarbeitern des Rates, der Kommission und entsandten nationalen Beamten zusammensetzt. Die Einführung des Amtes eines Außenministers und seines auswärtigen Dienstes auf europäischer Ebene wäre ein ungeheurer Fortschritt für die europäische Außen- und
Sicherheitspolitik.
({9})
Seit dem Europäischen Rat in Köln 1999 wurde gerade im Bereich der gemeinsamen Sicherheitspolitik viel
erreicht: So sind in Brüssel die relevanten Institutionen
und Mechanismen aufgebaut worden. Die Entwicklung
militärischer und ziviler Fähigkeiten wurde vorangetrieben. Die Vereinbarungen zwischen EU und NATO, die
so genannten Berlin-Plus-Vereinbarungen, wurden finalisiert. Die Union hat drei Krisenmanagementoperationen auf dem Balkan sowie eine weitere im Kongo übernommen und die Bereitschaft zur Führung einer
militärischen Operation in Bosnien-Herzegowina erklärt.
Gleichzeitig muss die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik jedoch weiterentwickelt werden.
Hierzu würden die jetzt vorliegenden Verfassungsbestimmungen entscheidend beitragen. Dazu gehört insbesondere die Möglichkeit zur so genannten strukturierten
Zusammenarbeit im militärischen und sicherheitspolitischen Bereich.
Die jetzt gefundene Formulierung, die die italienische
Präsidentschaft nach der französisch-britisch-deutschen
Einigung in die Regierungskonferenz eingeführt hat,
stellt eine echte Verbesserung des vorliegenden Entwurfs, aber keine Kritik am Konvent dar. Er konnte diese
Einigung nicht erreichen. Nachdem sie jetzt erreicht
wurde, kann man von einer echten Verbesserung sprechen. Ich denke, dies ist ein ganz wichtiger Punkt, um
die gemeinsame Handlungsfähigkeit nach außen sicherzustellen. Hinzu kommen eine gemeinsame Agentur
für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten
sowie eine Solidaritätsklausel zur Bekämpfung der Folgen von Terroranschlägen und Katastrophen natürlichen
oder menschlichen Ursprungs.
Meine Damen und Herren, die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird jetzt nicht nur
im Rahmen der Regierungskonferenz auf dem Europäischen Rat behandelt. Sie steht auch in einem anderen
Zusammenhang auf der Tagesordnung des Europäischen
Rates. Wir sind uns einig: Die Union muss gegenüber
den Herausforderungen und Risiken des 21. Jahrhunderts handlungsfähiger werden. Sie muss schneller, aktiver und kohärenter handeln. So werden wir auf dem Rat
die vom Hohen Beauftragten entwickelte europäische
Sicherheitsstrategie verabschieden. Auch das halte ich
für einen ganz wichtigen Schritt nach vorne. Man kann
auch sagen, dies zeigt, dass die Europäische Union begriffen hat, was nach dem 11. September direkt und unmittelbar hätte in Angriff genommen werden sollen.
Wenn man sich diese gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie, die jetzt im Entwurf zur Verabschiedung vorliegt, anschaut - die Bundesregierung hat wesentlich dazu beigetragen, diese Idee auf den Weg zu
bringen -, dann kann man feststellen, dass der Weg entlang dem erweiterten Sicherheitsbegriff führt und dass
wir nicht nur über das Militär, sondern vor allen Dingen
auch über die Konfliktlösung im zivilen Bereich sowie
über diplomatische Prävention reden. Wir analysieren in
diesem Entwurf nicht nur die ganze Bandbreite von Risiken und Gefahren, sondern uns liegt auch ein vollständiger Instrumentenkasten mit Antworten vor. Das heißt,
wir bewegen uns entlang dem erweiterten Sicherheitsbegriff und betreiben Krisenprävention, Krisenbewältigung
und Krisenverhinderung. Ich denke, ich kann hier im Interesse aller sagen: Bei der Umsetzung des erweiterten
Sicherheitsbegriffs sind die Europäer in der Tat weltweit
am weitesten.
({10})
Ich möchte hier nicht auf die weiteren Details eingehen und denke, wir werden an anderer Stelle nochmals
darüber sprechen können.
Für mich ist wichtig - lassen Sie mich das an dieser
Stelle nochmals betonen -: Alle Reformbemühungen im
außen- und sicherheitspolitischen Bereich in der Europäischen Union haben immer auch das Ziel, die transatlantische Partnerschaft und die NATO zu stärken. Die
NATO bleibt das Fundament unserer kollektiven Verteidigung. Sie ist einer der zentralen Eckpfeiler der Stabilität im 21. Jahrhundert. Niemand will und kann ihre
grundlegende Bedeutung als Garant unserer Sicherheit
infrage stellen.
Eine gestaltungs- und handlungsfähige europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann das Konzept
des europäischen Pfeilers in der NATO mit Leben erfüllen. Exakt darum geht es. Die NATO im 21. Jahrhundert
wird nicht gefährdet, wenn die Europäer stärker und in
der politischen Willensbildung geschlossener werden,
wenn die Institutionen der Außen- und Sicherheitspolitik
vorhanden sind, um handlungsfähiger zu werden, und
wenn wir unsere Fähigkeiten erweitern. Mit dem Solana-Papier werden wir eine europäische Strategie haben. Das wird die NATO nicht schwächen, sondern die
transatlantische Brücke über die Stärkung des europäischen Pfeilers festigen. Meines Erachtens wird nur ein
schwaches Europa auf Dauer zur Erosion der NATO beitragen. Deswegen ist es auch im Interesse unserer transatlantischen Partner, dass wir in der europäischen Sicherheitspolitik vorankommen.
Eines möchte ich nochmals sagen: Wir wollen zwischen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der NATO Komplementarität und nicht Konkurrenz. Das ist unsere Grundlage.
({11})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ein erfolgreicher
Abschluss der Regierungskonferenz erfordert von allen
Partnern eine Rückbesinnung auf das, was der Europäische Rat in Laeken beschlossen hat und was dieses Europa seit seiner Gründung ausmacht, nämlich die Erreichung eines europäischen Kompromisses. Es wird
morgen und übermorgen in Brüssel nicht darum gehen,
dass wir Blockademinderheiten verteidigen. Die Erweiterung der Union auf jetzt 25 bedeutet die Vereinigung
Europas, das über fünf Jahrzehnte, wie unser Land,
durch den Eisernen Vorhang, durch Mauer und Stacheldraht getrennt war.
Gewiss wird es viel Verständnis, Sensibilität und Geduld bedürfen, um in der europäischen Familie wirklich
zusammenzuwachsen. Aber jetzt brauchen wir, wenn die
Dinge nicht auseinander laufen sollen, in der Tat bei allen Beteiligten in der Europäischen Union, bei den alten
und bei den neuen Mitgliedern, bei den großen und bei
den kleinen Mitgliedstaaten, bei den - was die Finanzen
betrifft - Nehmern und gleichzeitig bei den Gebern die
Erkenntnis der Notwendigkeit, dass diese europäische
Erweiterung, die zum 1. Mai kommt, gleichzeitig einer
entsprechenden historischen Antwort bedarf. So wie mit
dem Vertrag von Maastricht auf die deutsche Einheit geantwortet wurde, so muss jetzt auf die europäische Einheit mit der Annahme des Konventsentwurfs durch die
Regierungskonferenz geantwortet werden.
Alle Beteiligten müssen sich über die historische Dimension dessen, was jetzt anzupacken ist, im Klaren
sein. Es geht nicht allein um die Verteidigung der nationalen Interessen. Darum ging es im Konvent selbstverständlich immer, aber letztendlich stand im Konvent
nicht das nationale Interesse, sondern der europäische
Kompromiss an erster Stelle. Das unterscheidet den
Konventsentwurf von Nizza. Ganz genau das ist der Unterschied.
({12})
Deswegen möchte ich namens der Bundesregierung
hier nochmals an alle Beteiligten appellieren, im Geiste
des europäischen Kompromisses zu agieren und zu handeln und der historischen Herausforderung gerecht zu
werden. Was wir wollen, ist eine Verfassung für Europa.
Was wir nicht wollen, ist ein Nizza 2. Das wird unsere
Verhandlungsstrategie bestimmen. Ich würde mich
freuen, wenn wir dafür die Unterstützung des Hauses bekämen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang
Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den
meisten Aussagen des Bundesaußenministers in seiner
Regierungserklärung muss auch von der CDU/CSUBundestagsfraktion nicht widersprochen werden. Das
gilt für die historische Bedeutung der Erweiterung der
Europäischen Union und für die Überwindung der europäischen Spaltung. Das gilt für die Aussagen, dass wir
damit zugleich die Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union verbessern müssen, dass wir eine europäische Verfassung brauchen, dass wir über den in Nizza erreichten Stand von Entscheidungsfindung hinaus
kommen müssen. Das gilt auch für das, was Sie zu der
Entwicklung einer europäischen Strategie in dem Solana-Papier gesagt haben. Es gilt nicht zuletzt für den
Dank an die italienische Präsidentschaft; das hat man
von der Regierung früher auch schon anders gehört.
({0})
Es ist gut, dass die Leistung der italienischen Präsidentschaft, die wirklich beachtlich gewesen ist, gewürdigt
wird, genauso wie die Leistung des Konvents und des
Präsidiums des Konvents. Das alles findet unsere Zustimmung.
Die Lage in Europa ist gleichwohl sehr viel schwieriger, als wir uns angesichts dieser europäischen Herausforderungen wünschen würden. Davon hat der Bundesaußenminister nicht gesprochen, aber darüber muss in
dieser Debatte auch gesprochen werden. Die Schwierigkeiten, die sich auch in der krisenhaften Zuspitzung in
der Regierungskonferenz und vor dem europäischen
Gipfel in den kommenden Tagen in Brüssel zeigen, verdeutlichen ja, wie viel Vertrauen in Europa in den letzten Monaten zerstört worden ist. Daran hat leider die
Bundesregierung mitgewirkt.
({1})
Der Punkt ist, dass Worte und Taten nicht übereinstimmen. Wenn wir sehen, wie jetzt um Stimmrechtsanteile in einer Tonart gerungen wird, die wir für falsch
halten, dann zeigt sich darin, dass die Politik der deutschen Regierung zusammen mit ihren Partnern, die von
anderen als der rücksichtslose Versuch der Dominanz
verstanden worden ist und verstanden werden musste,
zur Zerstörung von Vertrauen geführt und die Einigungsmöglichkeiten in Europa dramatisch erschwert hat. Das
ist der Bundesregierung anzulasten. Das darf nicht fortgesetzt werden.
({2})
Es ist übrigens noch viel schlimmer. Das Vertrauen ist
nicht nur zwischen den europäischen Regierungen
zerstört worden. Ich habe dieser Tage in einer Zeitungsmeldung - diese Untersuchung ist noch nicht veröffentlicht - gelesen: Die jüngste Umfrage des Eurobarometers hat ergeben, dass nur noch jeder zweite Deutsche für
die Mitgliedschaft in der Europäischen Union sei. Die
Umfrage der Brüsseler Kommission zeigte, dass im
Herbst 2003 nicht einmal mehr jeder zweite Befragte in
Deutschland die EU-Zugehörigkeit befürwortete. Dies
entspricht gegenüber dem Frühjahr 2003 einem Rückgang um 13 Prozentpunkte. Das macht deutlich, Herr
Bundeskanzler und Herr Außenminister, welch schweren Schaden Sie der europäischen Einigung zugefügt haben.
({3})
Das setzt sich fort und das macht keinen Sinn. Ich lese
Ihnen gleich die nächste Zeitungsmeldung vor. Darüber
muss doch geredet werden. Wir kommen in Europa nicht
voran, wenn zwischen den beteiligten Regierungen kein
grundlegendes Vertrauen besteht. Wir kommen in Europa nicht voran, wenn die Bevölkerung dieses europäische Projekt nicht mehr will und unterstützt, weil sie es
nicht mehr versteht und der Geist der Zusammenarbeit
systematisch zerstört wird. Das ist das Problem.
({4})
Auch ich beschäftige mich gelegentlich mit dem
Kerneuropagedanken. Aber wir haben dieses Kerneuropa immer als ein Element verstanden, um Europa
voranzubringen, nicht um es zu spalten.
({5})
Wir können uns nicht aussuchen, wer dazu gehört und
wer nicht. Das ist der Unterschied. Deutsch-französische Zusammenarbeit ist für Europa wesensnotwendig.
Ohne deutsch-französische Zusammenarbeit kommt Europa nicht voran. Weil diese Zusammenarbeit in Nizza
nicht gut funktioniert hat, wurde in Nizza nicht das erreicht, was hätte erreicht werden sollen. Aber wenn
deutsch-französische Zusammenarbeit so verstanden
wird, dass die anderen sie als einen Akt der Bevormundung empfinden und es zu einem Streit zwischen großen
und kleinen Ländern in Europa kommt, dann wirkt sich
die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht in einer
förderlichen Weise für Europa aus. Das muss korrigiert
werden. Dagegen ist in den letzten Monaten verstoßen
worden.
({6})
Ein anderes Beispiel aus den letzten Tagen: Der Bundeskanzler hat in China einseitig die Aufhebung einer
gemeinsamen EU-Entscheidung hinsichtlich des Rüstungsexports nach China angekündigt. Anschließend
erklärte er - ich zitiere die nächste Zeitungsmeldung -:
Er
- der Bundeskanzler „verstehe das überhaupt nicht“, sagte er … zum
Wirbel um die Aufhebung des Waffenembargos.
Das Ganze sei schließlich eine Entscheidung, welche die EU zu treffen habe, das Vorgehen sei längst
mit Frankreich abgestimmt.
So, Herr Bundeskanzler, geht es nicht. So zerstören
Sie die Grundlagen zur Einigung in der Europäischen
Union.
({7})
Angesichts der Bedeutung des bevorstehenden Gipfels ist es ganz wichtig, dass wir sehen, wo die Ursachen
der Schwierigkeiten liegen, die beseitigt werden müssen.
In der Zukunft darf es nicht mehr so schief laufen, wie
das in den letzten Monaten der Fall gewesen ist.
In der Debatte um die doppelte Mehrheit unterstützen wir die Position, die der Bundesaußenminister dargelegt hat. Dabei muss man allerdings sehen, wie diese
Situation entstanden ist: In Nizza war kein besseres Ergebnis zu erreichen. Daran war übrigens auch die Bundesregierung beteiligt. Das, was in Nizza unterschrieben
wurde, darf man unter Berücksichtigung des Verhältnisses zu anderen nicht allzu leicht zum Teufelswerk erklären, obwohl ich für eine Verbesserung der Stimmverteilung bin.
Das Problem ist übrigens nicht so sehr die Frage des
Gewichts von großen und kleinen Ländern. Das Problem
an den Beschlüssen von Nizza ist, dass sie zu viele
Blockademöglichkeiten enthalten. Wir müssen erreichen, dass Europa entscheidungsfähiger wird.
Ich habe dieser Tage die Ehre gehabt, mit dem finnischen Ministerpräsidenten, der Berlin besucht hat, zu
sprechen. Er hat mir in Bezug auf die Verhandlungen einen Satz gesagt, den man sich für den Gipfel am Wochenende in Brüssel gut merken sollte. Er hat gesagt, die
Finnen würden sich ein wenig wundern. Sie seien der
Europäischen Union beigetreten, um zu gestalten. Jetzt
gingen die Verhandlungen nur um die Frage, wie man
am besten blockieren könne. Das ist die Veränderung.
({8})
Das ist die Folge des Verlusts an Vertrauen. Daran hat
die deutsche Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt.
Das liegt in Ihrer Verantwortung. Hier muss korrigiert
werden.
({9})
Wir werden noch sehr lange Zeit in Europa damit zu
leben haben, dass die einzelnen Mitgliedsländer eine unterschiedliche Erfahrung haben und ein unterschiedliches Verständnis von dem haben, was diese Europäische
Union als eine sich bildende und entwickelnde politische
Einheit werden soll. Das muss man respektieren. Die
Einstellung der sechs Länder, die vor 50 Jahren mit dem
europäischen Einigungsprozess begonnen haben, ist eine
andere als die der Länder, die später hinzugekommen
sind oder erst zum 1. Mai dazustoßen werden. Damit
muss man sensibel umgehen. Wenn man diesen Ländern
das Gefühl vermittelt, man wolle sie bevormunden, oder
wenn man sie arrogant wie Kinder behandelt, die sich
am Tisch ruhig zu verhalten haben, bevor sie mitreden
dürfen, dann wird man das europäische Projekt nicht fördern, sondern man wird Europa spalten. Durch die Art,
wie wir mit unserem wichtigen polnischen Nachbarn in
den letzten Monaten umgegangen sind, ist gegen das Gebot der Sensibilität verstoßen worden. Das wird der Bedeutung des deutsch-polnischen Verhältnisses nicht
gerecht. Das wird auch der Bedeutung Polens für den europäischen Einigungsprozess nicht gerecht. Wir brauchen eine führende Rolle Polens bei der europäischen
Einigung, wenn die europäische Spaltung überwunden
werden soll.
({10})
Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich erregen. Es wäre
viel besser, wir würden gemeinsam darüber nachdenken,
({11})
wie wir das, was schief gelaufen ist, in den kommenden
Monaten verbessern.
({12})
Der Bundesaußenminister hat sich in seiner Regierungserklärung viel mit den institutionellen Fragen beschäftigt. Er hat weniges - nichts Falsches, aber leider
auch nichts Ausreichendes - zur Kompetenzordnung
gesagt. Da ist nicht so viel erreicht worden - nicht im
Konvent und nicht in der Regierungskonferenz -, wie
wir für nötig gehalten hätten. Ich füge hinzu: Das war
nicht möglich. Es ist der Stand in Europa, dass eine klare
Kompetenzordnung - das ist keine Kritik - derzeit wohl
nicht zu erreichen ist. Die jetzige Kompetenzordnung
wird nicht ausreichen, um den Menschen in Europa besser klar zu machen, wer was entscheidet und wer für
welche Entscheidungen demokratisch legitimiert und
verantwortlich ist. Die Effizienz wird auch nicht besser.
Hinzugekommen ist aber, dass sich schrittweise auch
in diesem Verfassungsentwurf in Fragen der Wirtschaftsordnung die Gewichte in die falsche Richtung
verschieben. Ich will das anhand der Währungsstabilität verdeutlichen. Auch darüber muss gesprochen werden. Es sind kleine Schritte. Zum Glück scheint der Angriff auf die institutionelle Unabhängigkeit der
Europäischen Zentralbank, der bis vor einigen Tagen
noch sehr ernsthaft geführt worden ist, abgewehrt worden zu sein. Aber die kleinen Schritte bleiben.
Zunächst einmal war es die dramatische Beschädigung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts
durch die deutsche Bundesregierung,
({13})
die unverantwortlich ist und nachhaltigen Schaden für
das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt
gebracht hat.
({14})
Angesichts dieser Beschädigung, für die die Bundesregierung die Verantwortung trägt, ist es umso notwendiger, dass in den kommenden Tagen noch durchgesetzt
wird, was nicht nur die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
seit Monaten in jeder Debatte fordert, sondern was auch
die Europäische Zentralbank gefordert hat, nämlich dass
die Währungsstabilität als weiteres Ziel der Europäischen Union in die Verfassung aufgenommen wird. Gerade nach der Beschädigung der Stabilität ist es notwendig, die Währungsstabilität wie in den bisherigen
Verträgen als Ziel zu verankern.
({15})
- Sie sollten zur Kenntnis nehmen, wie stark das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt und die
europäische Währung beschädigt worden ist. Es macht
doch keinen Sinn, sich damit zu trösten, dass im Augenblick der Wechselkurs des Euro relativ stabil ist. Lassen
Sie die nächste Krise kommen, lassen Sie Veränderungen im Zinsgefüge kommen, dann werden wir eine dramatische Schwächung der Stabilität des Euro zu befürchten haben. Deswegen ist es notwendig, dass das
Stabilitätsziel in der europäischen Verfassung verankert wird.
({16})
Es ist übrigens auch ein kleiner Schritt, dass die Europäische Zentralbank nach dem Verfassungsentwurf keine
Institution eigenen Rechts und eigener Qualität mehr
sein soll, sondern zu einem normalen Organ der Europäischen Union entwickelt wird. All diese kleinen
Schritte zusammen verschieben die Wirtschaftsordnung
in Euro-pa in die falsche Richtung. Europa muss eine
Stabilitätsgemeinschaft sein; anderenfalls wird sie das
Vertrauen der Menschen nicht finden. Wir bestehen auf
dieser Stabilitätsgemeinschaft.
({17})
Sie haben sich in den Verhandlungen der Regierungskonferenz und in den öffentlichen Debatten nach Auffassung der CDU/CSU zu sehr auf die institutionellen Fragen konzentriert. In ihnen stimmen wir überein; aber die
anderen Fragen, die genauso im deutschen und europäischen Interesse sind, hat die Bundesregierung nicht ausreichend vertreten. Wir appellieren daher an Sie, in den
nächsten Tagen auf der Konferenz in Brüssel alle Kraft
darauf zu verwenden, dass die Wirtschaftsordnung, das
Kompetenzgefüge und die Abgrenzung der Zuständigkeiten noch so weit wie möglich verbessert werden.
Wenn am Ende das Ergebnis der Regierungskonferenz vorliegt, werden wir zu bewerten haben, ob es gegenüber dem heutigen Stand der Verträge in Europa eine
Verbesserung darstellt, sodass wir ihm zustimmen können. Institutionell wird eher eine Verbesserung als eine
Verschlechterung eintreten. In Fragen der Währungsstabilität spricht allerdings im Augenblick leider sehr viel
für die Besorgnis, dass es eher eine Verschlechterung als
eine Verbesserung sein könnte. Wir müssen darauf achten, dass diese Verschlechterung ausgeräumt wird, damit
wir am Ende die notwendigen Mehrheiten im Ratifizierungsverfahren gewährleisten können. Eine Entscheidung darüber ist nicht getroffen. Es ist die Aufgabe der
Bundesregierung, in den Verhandlungen der nächsten
Tage dies durchzusetzen.
({18})
- Sie sollten das nicht so gering schätzen. Es war eine
gemeinsame Position der Regierungen aller 16 deutschen Bundesländer. Die Bundesrepublik Deutschland
ist nach ihrem Grundgesetz ein Bundesstaat. Wenn alle
16 deutschen Bundesländer gemeinsame Positionen vertreten, dann können das deutsche Parlament und die
Bundesregierung nicht nonchalant darüber hinweggehen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass das Grundgefüge unserer verfassungsmäßigen Ordnung auch im europäischen Prozess erhalten und gestärkt wird. Wer
darüber hinweggeht, wird Europa nicht stärken, sondern
eher schwächen.
({19})
- Lassen Sie mich den Zwischenruf aufnehmen, ich
malte den Teufel an die Wand. Erwin Teufel war nach
den Erklärungen auch des Bundesaußenministers ein besonders herausragendes und verdienstvolles Mitglied im
europäischen Verfassungskonvent. Ich nutze die Gelegenheit, ihm für seinen herausragenden Beitrag noch
einmal zu danken.
({20})
- Wir sind in der Debatte vor dem Europäischen Rat, in
dem möglicherweise das Ergebnis abschließend festgelegt werden wird. Ich teile die Meinung, dass ein
schlechter Vertrag - dies hat der Bundesaußenminister
auch gerade gesagt - am Ende schlechter als eine Verlängerung der Bemühungen wäre, in der Regierungskonferenz zu einem guten Ergebnis zu kommen. Deswegen
nenne ich hier die Punkte, in denen nach Auffassung der
CDU/CSU die Bundesregierung in den nächsten Tagen
ihre Kraft darauf verwenden sollte, Verbesserungen zu
erreichen.
Die Verschiebung in der Wirtschaftsordnung zulasten
der Stabilität der europäischen Währung ist ein zentraler
Punkt, bei dem noch Korrekturen erreicht werden müssen, damit eine breite Zustimmung nicht nur im parlamentarischen Verfahren, sondern auch in der Bevölkerung erreicht werden kann, die wir vom europäischen
Werk wieder und wieder überzeugen müssen.
Eine letzte Bemerkung mache ich zu dem anderen
Thema, das ebenfalls auf der Tagesordnung des Europäischen Rates steht - der Bundesaußenminister hat auch
dies kurz erwähnt -: die Frage einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik.
Ich begrüße ausdrücklich, dass der Bundesaußenminister in seiner heutigen Regierungserklärung klargestellt hat, dass die europäische Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik nur ein Beitrag zur Stärkung
der atlantischen Partnerschaft sein kann; sie kann keine
Alternative und kein Gegengewicht dazu darstellen. Das
muss klar sein.
({21})
Jeder Zweifel in dieser Frage wird die atlantische
Partnerschaft beschädigen und Europa spalten. Das liegt
nicht im nationalen Interesse Deutschlands. Unser nationales Interesse ist unverrückbar auf die europäische Integration und die atlantische Partnerschaft gestützt. Das
darf nicht in Zweifel gezogen und gegeneinander ausgespielt werden.
Deswegen ist der Brüsseler Vierergipfel, zu dem andere Staaten, die daran teilnehmen wollten, nicht zugelassen wurden, ein Verstoß gegen das nationale Interesse
der deutschen und europäischen Politik und gegen die atlantische Solidarität.
({22})
Das ist einer der entscheidenden Gründe dafür, dass das
Misstrauen innerhalb Europas verstärkt und geschürt
wurde. Über die daraus entstandenen Schwierigkeiten
bei den Verhandlungen der Regierungskonferenz wird
derzeit täglich in der Presse berichtet.
Insofern reicht es nicht aus, im Nachhinein in wohlklingenden Regierungserklärungen festzustellen, alles
sei gut. Vielmehr ist es notwendig, dass im alltäglichen
Regierungshandeln den bestehenden Prinzipien entsprechend agiert wird, statt dagegen zu verstoßen. Das muss
bei der Bundesregierung angemahnt werden.
Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ermöglichen wollen, dann müssen wir auch in unseren Entscheidungen die entsprechenden Konsequenzen tragen. Die Vernachlässigung der Bundeswehr und
des Verteidigungshaushalts
({23})
ist nicht mit den Prinzipien einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu vereinbaren. Es ist auch nicht miteinander
zu vereinbaren, auf der einen Seite festzustellen, dass
eine in die Europäische Union integrierte Krisenprävention, Reaktionsverbände und eine integrierte NATO-Einsatztruppe - die NATO-Response-Force, die zur KrisenDr. Wolfgang Schäuble
prävention und Krisenverhinderung schnell eingesetzt
werden kann - notwendig sind, während sich Rot-Grün
auf der anderen Seite in der Frage, wie das Parlament an
solchen Entscheidungen zu beteiligen ist, der Suche
nach einem Verfahren verweigert, das die Effizienz solcher integrierter Einsatzverbände ermöglicht und die Voraussetzung für die Aufstellung solcher Verbände bildet.
Der Bundesverteidigungsminister hat aufgrund seiner Erfahrungen bei dem Planspiel der Verteidigungsminister in Colorado darauf hingewiesen, dass diesem
Umstand in der Frage des Beteiligungsrechts unseres
Parlaments Rechnung getragen werden muss. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ist er von Rot-Grün zurückgepfiffen worden. Alle Ihre Entwürfe weisen in dieser Frage sozusagen ein weißes Blatt Papier auf; sie
enthalten keine Lösung.
Wir müssen den europäischen Worten auf internationaler Ebene Taten folgen lassen. Das gilt in den institutionellen Fragen wie auch hinsichtlich der gemeinsamen
außen- und sicherheitspolitischen Strategie und in der
Wirtschafts- und Stabilitätspolitik. Nur wenn Taten und
Worte übereinstimmen, werden wir bei den europäischen
Partnern wie auch in unserer Bevölkerung das zerstörte
Vertrauen für das europäische Projekt zurückgewinnen.
Ich wünsche der Bundesregierung im Namen der
CDU/CSU Erfolg bei den schwierigen Verhandlungen in
den nächsten Tagen. Wenn Sie die von mir beschriebene
Richtung einschlagen, dann haben Sie die Unterstützung
der Opposition. Wir werden aber danach das Ergebnis
anhand der Kriterien, die die CDU/CSU frühzeitig aufgestellt hat, sorgfältig prüfen. Danach werden wir zu entscheiden haben.
Ich wünsche einen engagierten Einsatz für die Ziele
der Deutschen und für ein stärkeres Europa. Ich wünsche
Ihnen dabei viel Erfolg. Nächste Woche werden wir die
Ergebnisse in der Wahrnehmung europäischer wie nationaler Verantwortung unvoreingenommen zu prüfen und
zu bewerten haben.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Angelica
Schwall-Düren.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass dieser
EU-Gipfel in Brüssel eine ganz entscheidende Bedeutung für die Weiterentwicklung der Europäischen Union
hat, hat der Herr Außenminister vorhin sehr überzeugend dargelegt. Es geht um die Grundlagen einer Europäischen Union, die mit 25 Mitgliedstaaten ihre Zukunft
erfolgreich gestalten soll.
Die Vorarbeiten für die europäische Verfassung, über
die nun entschieden werden soll, hat der europäische
Konvent geleistet. Darauf können gerade wir, die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, besonders stolz sein;
denn in der Tat haben es erstmals Mitglieder der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments zusammen mit den Vertretern der Regierungen erreicht, das europäische Vertragswerk zu reformieren. Das, was sie
geleistet haben, ist ein wirklich gelungener Wurf, ein
Meilenstein in der Geschichte der europäischen Integration und zugleich ein großer politischer Erfolg der deutschen Sozialdemokratie; denn Europas Verfassung
trägt eine sozialdemokratische Handschrift.
({0})
Jetzt ist die Regierungskonferenz am Zuge. Sie muss
das Werk vollenden, für das der europäische Konvent
eine sehr gute Basis geschaffen hat. Warum ist der Erfolg des europäischen Verfassungsprojektes so wichtig?
Machen wir uns noch einmal klar, vor welchen entscheidenden Veränderungen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Europa stehen. So viel Erweiterung gab es noch
nie. Zehn Staaten werden im Mai 2004 der Europäischen
Union beitreten. Die meisten von ihnen waren über fünf
Jahrzehnte durch den Eisernen Vorhang an demokratischer Gestaltung gehindert und von ökonomischer Entwicklung abgetrennt. Die europäische Staatengemeinschaft muss jetzt eine doppelte Kraftanstrengung leisten.
Wir müssen mit den neuen Partnern eine funktionstüchtige EU schaffen und das wirtschaftliche und das soziale
Gefälle innerhalb Europas überwinden, damit keine
neuen Trennlinien entstehen. Nur so lässt sich die europäische Einheit in Vielfalt verwirklichen.
Das ist in der Tat eine Aufgabe, der man nicht gewachsen ist, wenn man in der Europäischen Union Misstrauen sät und wenn man die Entwicklung negativ vorzeichnet. Herr Schäuble, Sie haben heute wieder den
Versuch unternommen, die deutsch-französische Zusammenarbeit zu diskreditieren,
({1})
und das, obwohl gerade Sie in der Vergangenheit immer
wieder kritisiert haben, dass die Bundesregierung nichts
Entscheidendes voranbringe. Sie selbst haben vorhin gesagt, dass Nizza gescheitert sei, weil es keine deutschfranzösische Zusammenarbeit gegeben habe. In der
Konventsphase haben Frankreich und Deutschland aber
gemeinsam entscheidende Impulse dafür gegeben, dass
die sehr unterschiedlichen Vorstellungen der einzelnen
Staaten erfolgreich zusammengebracht werden konnten.
Der Begriff „Kerneuropa“ ist nicht von uns, sondern von
Ihnen, Herr Schäuble, in die Debatte eingebracht worden. Das wird allenfalls ein Thema sein, wenn wir es
nicht gemeinsam schaffen, Europa voranzubringen.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle das aufgreifen, was Sie zu
Polen gesagt haben. Ich finde, dass es sehr heuchlerisch
ist, wenn ausgerechnet vonseiten der CDU/CSU Sensibilität im Umgang mit Polen eingefordert wird.
({3})
Es ist legitim gewesen, dass die beteiligten Staaten in der
Irakfrage unterschiedliche Positionen eingenommen haben. Wenn aber Versuche, durch die Wiederbelebung des
Weimarer Dreiecks die Zusammenarbeit zu stärken,
({4})
von der CDU/CSU dadurch unterlaufen werden, dass sie
einhellig das vom BdV initiierte Projekt eines Zentrums
gegen Vertreibungen unterstützt, was in Polen große
Ängste und Alarm auslöst, dann bin ich der Meinung,
dass wir uns von Ihnen nicht sagen lassen müssen, dass
man mit Polen sensibel umgehen müsse. Ich glaube, dass
Sie hier noch jede Menge zu lernen haben.
({5})
Wenn ich mir die Situation in der deutschen Bevölkerung vor Augen führe, dann muss ich sagen, dass Sie
Recht haben, Herr Schäuble. Bisher ist es nicht so, dass
all unsere Bürger und Bürgerinnen mit der größten Begeisterung an diesem europäischen Projekt hängen. Das
hat aber auch etwas damit zu tun, wie wir Europa kommunizieren und inwiefern wir in der Lage sind, die positiven Auswirkungen, die Euro-pa für uns alle hat, unseren Bürgern und Bürgerinnen nahe zu bringen.
({6})
Sie haben eine Zahl unterschlagen: Tatsächlich hat
eine zunehmende Mehrheit - inzwischen über 70 Prozent der Menschen - eine sehr realistische Einschätzung
der Europäischen Union; sie wissen nämlich, dass Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa nicht ohne die
Europäische Union möglich sind. Deswegen befürworten sie die Europäische Union uneingeschränkt.
({7})
Mit der Verfassung müssen wir jetzt die notwendigen
Voraussetzungen dafür schaffen, dass das, was in der Europäischen Union noch nicht gut läuft, verbessert wird:
Demokratiedefizite, undurchschaubare Entscheidungsprozesse und unklare Verantwortlichkeiten waren und
sind offenkundige Mängel europäischer Politik. Hinzu
kommt natürlich, dass die Handlungsfähigkeit der EUInstitutionen durch jede Erweiterungsrunde und die zunehmende Komplexität der zu regelnden Materie beständig abgenommen hat. Deswegen war das Ziel dieser EUReform klar: mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr
Bürgernähe, mehr Effizienz.
Der Konvent hat mit der ihm eigenen Methode für
ein bislang ungekanntes Maß an parlamentarischer Beteiligung und demokratischer Kontrolle, für Transparenz
und Bürgerbeteiligung sowie für den Blick über den nationalen Tellerrand gesorgt. Die Ergebnisse und Methoden des Konvents sind natürlich nicht völlig frei von
Kritik, doch - das hat auch der Herr Außenminister gesagt - den Vergleich mit der Regierungskonferenz entscheidet der Konvent allemal zu seinen Gunsten.
({8})
Das Ergebnis ist ein austarierter Kompromiss, der das
für Europa Wünschenswerte mit dem Möglichen verbindet, selbst wenn nicht alle Blütenträume gereift sind. Der
Konvent hat sich letztlich an die Erkenntnisse von Jean
Monnet gehalten:
Aufschreiben, was sein sollte, ist leicht. Es kommt
aber darauf an, aufzuschreiben, was sein kann!
Wenn man sagen wollte, was die wichtigsten Fortschritte beim Verfassungsentwurf sind, dann könnte man
hier zwei Stunden reden. Das will ich Ihnen ersparen.
Der Herr Außenminister hat schon eine ganze Reihe
wichtiger Punkte aufgezählt, die ich nicht wiederholen
möchte. Lassen Sie mich aber noch darauf eingehen,
dass die Charta der Grundrechte der Europäischen
Union ein fester und rechtsverbindlicher Bestandteil der
künftigen europäischen Verfassung sein wird.
Diese Charta ist der Inbegriff einer gemeinsamen europäischen Werteordnung, in deren Mittelpunkt die Bürgerinnen und Bürger stehen. Europas Sozialdemokratie
hat für dieses Ziel beharrlich gekämpft und wurde am
Ende belohnt. Mit dieser Verfassung wird deutlich: Die
Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Sie definiert sich über Werte und nicht über Handelsströme.
An dieser Stelle muss ich Ihnen, Herr Schäuble, noch
einmal sagen: Ich kann Ihre Sorge um die Preisstabilität
und deren Verankerung in der Verfassung nicht nachvollziehen.
({9})
Es gibt im Entwurf drei Kapitel, in denen die Preisstabilität als Ziel der Europäischen Union angeführt wird:
Teil I Art. 29, Teil III Art. 69 und Teil III Art. 228. Es
steht uns gut an, wenn auch das europäische Sozialmodell einen gebührenden Platz in dieser Verfassung bekommt. Es sollte in dieser Verfassung nicht zu einem
Übergewicht rein wirtschaftspolitisch orientierter Zielsetzungen kommen.
({10})
Kurz vor Abschluss der Regierungskonferenz müssen
wir uns allerdings große Sorgen machen. Seit Wochen
erleben wir, dass bei der italienischen Ratspräsidentschaft fröhlich Veränderungswünsche eingebracht werden. Sie sind nicht nur redaktioneller Natur und es geht
auch nicht nur um Verbesserungen vager Formulierungen, sondern sie betreffen die Balance der europäischen
Institutionen. Wir sind froh, dass die Bundesregierung
der Versuchung widerstanden hat, selbst Änderungswünsche einzubringen, obwohl auch aus ihrer Sicht Verbesserungsvorschläge sicherlich angebracht gewesen wären. Es ist nämlich ganz wichtig, dass wir die
institutionelle Balance in der europäischen Verfassung
beibehalten.
Wir sind überzeugt, dass die Bundesregierung dazu
beitragen wird, dass in der Frage der Kommission zu eiDr. Angelica Schwall-Düren
nem tragfähigen Kompromiss gefunden wird. Wir sehen,
dass die kleinen und vor allen Dingen die neuen Mitgliedstaaten unabhängig davon, dass die Kommission
die Hüterin der Verfassung ist, unbedingt ein Gesicht in
Europa haben möchten, das mit dem Nationalstaat verbunden ist.
In Bezug auf die doppelte Mehrheit glauben wir,
dass es keinen Spielraum geben wird. Wir fordern die
Bundesregierung auf, an dieser Verhandlungsposition
festzuhalten. Es werden harte Verhandlungen sein. Wir
glauben, dass es Konzessionen und tragfähige Kompromisse im Einzelfall geben wird; aber das Gesamtbild
muss stimmen. Ein Ergebnis à la Nizza II, das Problemlösungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt,
das weder die Aktionsfähigkeit einer immer größeren
EU entscheidend verbessert noch Demokratie und
Transparenz europäischer Politik nachhaltig stärkt, ist
nicht akzeptabel. Die europäische Verfassung darf nicht
mit dem Makel eines Verschiebebahnhofs oder eines Etikettenschwindels belastet werden.
({11})
Wir haben volles Vertrauen in das Verhandlungsgeschick der Bundesregierung. Bundeskanzler Schröder
und Außenminister Fischer wünschen wir für die Verhandlungen in Brüssel guten Erfolg.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der FDP-Fraktion,
Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie
Wolfgang Schäuble will auch ich zu der Erklärung des
Bundesaußenministers sagen: 80 bis 85 Prozent dieser
Erklärung muss nicht viel hinzugefügt werden. Aber interessant scheint es mir zu sein, auf einen Gesichtspunkt
zurückzukommen. Als wir hier bei der Beratung des
Vertragswerks von Nizza Bemerkungen zum Ergebnis
gemacht haben, waren die Worte des Außenministers
ganz anders. Herr Außenminister, ich begrüße Ihr Ankommen in der Wirklichkeit.
({0})
Nizza war ein Ergebnis, bei dem auch Sie heute zugestehen müssen: Es war eher wieder der Versuch, ein
Stück Renationalisierung der europäischen Politik zu erreichen. Es war sehr von nationalen Interessen bestimmt.
Die Bundesregierung hat nahezu symbolhaft mit dem
Begriff „deutscher Weg“ agiert. Sie hat keine Glaubensfestigkeit gezeigt und ist dem nicht entschieden entgegengetreten.
({1})
Es war ein Gipfel, der keine europäische Dimension ausgestrahlt hat.
Das Konventsergebnis ist zum ersten Mal die
Chance, zu einem europäischen Denken und zu europäischer Handlungsfähigkeit zu kommen. Die Entscheidenden, die sich in dieser europäischen Dimension
zusammengefunden haben, waren nicht die Regierungsvertretungen, sondern die Parlamentarier. Wir als Freie
Demokraten sind schon früher für den Konvent eingetreten als Sie,
({2})
weil wir in dieser Phase nur in einer solchen Zusammensetzung - und nicht etwa über die Regierungen - die
Chance sahen weiterzukommen. Jetzt geraten wir wieder
durch das Verhalten von Regierungen in die Gefahr, Ergebnisse des Konvents zurückzudrehen und erneut den
Weg in andere Dimensionen zu öffnen.
({3})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie dazwischenrufen. Wir
haben da doch gar keine Kontroverse. Warum soll hier
unnötig Streit geführt werden? Es gibt fast symbolhafte
Handlungen, an denen sich das festmacht. Wie ich höre,
ist das genauso das Interesse der Sozialdemokraten. Was
soll denn dann die Geräuschkulisse?
({4})
Die Frage der doppelten Mehrheit ist geradezu ein
Symbol dafür, ob Europa handlungsfähig bleiben und
Fahrt gewinnen wird oder nicht. Aber dass überhaupt
wieder die Gefahr besteht, dass über die Frage der doppelten Mehrheit verhandelt und gestritten wird, hängt
auch damit zusammen, wie sich die deutsche Bundesregierung und insbesondere die französische Regierung
verhalten haben. Die beiden Nationen werden von anderen Nationen, insbesondere von den kleineren und den
osteuropäischen, nicht mehr als Kristallisationspunkte
angesehen, die die europäischen Dinge vorantreiben,
sondern sie haben ganz klar gesehen, dass die Regierungen dieser beiden Nationen sich daranmachen, ihre nationalen Interessen ganz gewaltig gegen die anderer
durchzusetzen.
({5})
Damit ist natürlich ein Stück Ansehen der deutsch-französischen Zusammenarbeit als Motor der Integration
verloren gegangen.
Nun mag der Bundesfinanzminister zum zehnten Mal
hier begründen, dass er die Frage Einhaltung des Stabilitätspaktes anders sieht. Angekommen ist bei allen,
({6})
dass die nationalen Interessen die Deutschen dazu verleiten, einen Vertrag nicht mehr einzuhalten, sie also nach
ihren nationalen Interessen und nicht nach Vertragslage
entscheiden.
({7})
Dann wundert sich der Außenminister, dass nun andere
aufgrund ihrer nationalen Interessen sagen, dass ihnen
Nizza besser gefällt als das Konventsergebnis.
Selten ist Deutschland so schwach in einen Gipfel hineingegangen, der darüber hinaus auch noch einer der
wichtigsten Gipfel der europäischen Geschichte ist,
({8})
weil es vorher durch eigenes Verhalten allen Grund dafür
gegeben hat, dass es nicht mehr ernsthaft als glaubwürdiger Vermittler wahrgenommen wird.
({9})
Das ist der Ausgangspunkt der Brüsseler Veranstaltung.
Unsere Verhandlungsposition ist zweifellos durch vorhergegangenes Tun geschwächt. Das wird sich bemerkbar machen.
Sie, Herr Bundesaußenminister, haben die Büchse der
Pandora ja durch Ihre Verhaltensweise beim Thema Legislativrat geöffnet. Sie haben mit dazu beigetragen, dass
an einer Stelle das Konventsergebnis wieder aufgeschnürt worden ist.
({10})
Deshalb darf man sich jetzt nicht wundern, wenn auch
andere versuchen, die im Konvent erzielten Ergebnisse
wieder ein wenig zu ändern. All diese handwerklichen
Fehler der deutschen Außenpolitik haben sich unbemerkt, leicht und nicht klar erkennbar eingeschlichen,
sie bringen uns jetzt aber etwas in Bedrängnis.
({11})
Natürlich signalisieren wir als deutsches Parlament,
dass wir ein massives Interesse daran haben, dass das
Konventsergebnis mit aller Macht in Brüssel gehalten
wird. Wir sehen nämlich nicht, dass auf anderem Weg
oder gar bei Regierungskonferenzen Besseres zustande
gebracht werden könnte. Der Bundesaußenminister hat
hier erklärt, dass er die Unterstützung des Parlaments für
eine klare deutsche Haltung hinsichtlich der doppelten
Mehrheit haben möchte. Die haben Sie, Herr Bundesaußenminister. Es hätte bei keiner der hier sitzenden
Fraktionen der Nachfrage bedurft. Ihre Verhandlungskunst muss es jetzt fertig bringen, dass das in Brüssel gehalten wird.
({12})
Da Sie darüber verhandeln, ist es doch völlig legitim,
wenn der Kollege Schäuble - ich sage das auch noch
einmal - vorträgt, was wir im europäischen Interesse
noch gerne hinzugefügt hätten. Es ist nämlich auch angesichts der gesellschaftlichen Situation in Deutschland
zutiefst wichtig, das zu sagen. Es ist nämlich nicht nur
deshalb von der deutschen Bevölkerung Vertrauen in den
Euro gesetzt worden, weil sie glaubte, dass Europa ein
starker ökonomischer Global Player ist, sondern auch
deshalb, weil sie überzeugt werden konnte - im Übrigen
mehr durch Helmut Kohl, Klaus Kinkel und uns als
durch Sie -,
({13})
dass der Euro keine Frühgeburt ist, sondern zu einer stabilen Währung wird, wenn man durch entsprechende
Kriterien für Preisstabilität sorgt und ihn durch eine unabhängige Europäische Zentralbank begleiten lässt.
Deshalb ist es schon sehr entscheidend, dass in einem
Kapitel das Ziel der Preisstabilität und die Rolle der
Europäischen Zentralbank definiert werden. Wenn das
in den richtigen Kapiteln geschieht, ist für jeden klar,
dass es sich bei der EZB um ein unabhängiges Institut
handelt, wie wir es mit der Deutschen Bundesbank hatten. Es ist nicht ein politischer Einfall der Opposition
oder gar nur der Bundestagsfraktion der FDP, Ihnen etwas für Brüssel mit auf den Weg zu geben, was mühsam
umzusetzen sein wird. Vielmehr sagen der Präsident der
Bundesbank, Ernst Welteke, und auch andere in völliger
Klarheit, dass es zuallererst wichtig ist, dass die Glaubwürdigkeit des Euros, das Zeichen weit fortgeschrittener
europäischer Integration, erhalten bleibt. Deshalb fordern wir Sie auf, beim richtigen Kapitel des Verfassungsvertragsentwurfs noch einmal eine Initiative zu den
Themen Preisstabilität und Unabhängigkeit der EZB zu
ergreifen. Es ist mehr als legitim, wenn wir Ihnen das
mitgeben.
({14})
Auch wir wissen, dass solche Verhandlungen Geben
und Nehmen bedeuten. Aber wenn wir wirklich europäische Handlungsfähigkeit erreichen wollen, darf es nicht
nur zu einem Geben, zu einer Renationalisierung dieses
politischen Vertragswerksentwurfs, kommen. Vielmehr
muss das Geben, die europäische Dimension, deutlicher
werden.
Für die Bundestagsfraktion der FDP bedaure ich, dass
der deutsche Bundeskanzler und der Bundesaußenminister zum ersten Mal zu einem europäischen Gipfel reisen,
bei dem sie durch vorangegangenes Tun den Eindruck
erwecken, dass sie die europäische Dimension aus den
Augen verloren haben.
({15})
Es wäre besser gewesen, sie hätten einige Schritte deutscher Politik, die sich in den letzten Jahren eingeschlichen haben, unterlassen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anna Lührmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Regierungskonferenz ist der beste Beweis
dafür, dass wir die neue europäische Verfassung wirklich brauchen. Denn von dem europäischen Geist, der
den Konvent zu seinem guten Ergebnis geführt hat, ist in
den jetzigen Verhandlungen nur noch sehr wenig zu spüren. Die nationalen Begehrlichkeiten und Partikularinteressen führen zu altbekannten Blockadehaltungen, die
das ganze Projekt torpedieren können. Plastischer könnten es uns die Regierungen gar nicht vorführen: Wenn
wir in einem erweiterten Europa handlungsfähig bleiben
wollen, dann brauchen wir dringend die neue europäische Verfassung.
Denn diese bringt - ähnlich wie der Konvent - eine
stärkere Mitbestimmung des Parlamentes und Mehrheitsentscheidungen als Regelverfahren. Wir brauchen
auch die doppelte Mehrheit, um die intransparente Stimmengewichtung von Nizza abzulösen. Ich will es mit
den Worten der französischen Europaministerin Noëlle
Lenoir sagen: Wir können nicht einerseits den neuen osteuropäischen Ländern die Tür öffnen und gleichzeitig
Strukturen schaffen, die nicht richtig funktionieren.
Da hat sie vollkommen Recht. Denn die Osterweiterung kommt bereits im Mai, und die EU hat ihre Hausaufgaben für den Beitritt noch nicht gemacht. Sie steht
gegenüber den neuen Mitgliedstaaten in der Pflicht und
ist es sich auch selbst schuldig, das Projekt Verfassung
erfolgreich abzuschließen. Allerdings brächte ein
Nizza-II-Vertrag, der den Titel Verfassung nicht verdiente, Europa keinen einzigen Schritt weiter.
({0})
Deswegen gilt: Wer den Erfolg der Verfassung nicht
will, der will auch den Erfolg der Erweiterung nicht. Wer
diese Regierungskonferenz und damit die Verfassung
mutwillig zum Scheitern bringen will, der verspielt fahrlässig eine historische Chance und gleichzeitig die Zukunft Europas.
({1})
Das ist in der Tat eine große Verantwortung, derer sich
einige Staaten wohl noch nicht ganz bewusst sind.
Das Hauptthema, an dem die Verfassung scheitern
könnte, ist, wie Sie alle wissen, die Frage der Stimmengewichtung im Rat. Hier finde ich die unerbittliche Haltung Spaniens und Polens absolut unsolidarisch.
({2})
Denn die doppelte Mehrheit ist doch ein elementarer
Vorschlag des Konventes. Nur sie wird dem Doppelcharakter der Europäischen Union als Bund gleichberechtigter Staaten und Bürgerinnen und Bürger gerecht. Sie
führt zu transparenteren und demokratischeren Entscheidungen.
Was haben Polen und Spanien eigentlich an Argumenten vorzubringen?
({3})
Sie haben nichts vorzubringen als ihr nationales Interesse. Sie können die Ablehnung weder durch demokratietheoretische noch durch verfahrenstechnische Argumente begründen. Denn die doppelte Mehrheit ist in
jeder Hinsicht besser als der undemokratische und intransparente Stimmenkuhhandel von Nizza.
({4})
- Sie unter anderem auch. - Ich will auf Folgendes hinweisen: Nur zwei von 25 Ländern sind gegen die doppelte Mehrheit.
({5})
In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,
dass in dem Entwurf des Konventes auch für Deutschland viele Kompromisse in wichtigen Fragen enthalten
sind. Deshalb können wir nicht auch noch beim Prinzip
der doppelten Mehrheit nachgeben. Denn wir haben bereits mit den deutsch-französischen Vorschlägen vom
letzten Frühjahr unsere Kompromissbereitschaft unter
Beweis gestellt. Schon diese Vorschläge spiegeln einen
Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Vorstellungen über die Zukunft Europas wider.
Vom Verfassungsentwurf insgesamt hätten wir uns
mehr gewünscht: zum Beispiel die qualifizierte Mehrheit
in der Außenpolitik, eine noch stärkere Mitbestimmung
des Europäischen Parlamentes und die Fortentwicklung
zu einer Bürgerkammer.
Als Grüne hätten wir uns natürlich besonders die Abschaffung des Euratom-Vertrages gewünscht.
({6})
Das ist nicht gelungen und das ist natürlich schmerzhaft
für uns. Aber es ist zumindest gelungen, die Verschmelzung der Rechtspersönlichkeiten der Europäischen
Atomgemeinschaft und der neuen EU zu verhindern. Es
ist klar: Euratom gehört nicht zu der neuen, erweiterten
EU. Deutschland wird auf der Regierungskonferenz gemeinsam mit anderen Staaten eine einseitige Erklärung
abgeben, in der man sich für eine rasche Einberufung einer Konferenz der Regierungen einsetzt, um sich mit
dem unzeitgemäßen Euratom-Vertrag zu befassen, der
dann hoffentlich so bald wie möglich abgewickelt wird.
Diese Beispiele machen deutlich, dass nach dem Prinzip der Kompromisssuche und der Kompromissbereitschaft als Grundlage der europäischen Zusammenarbeit
gehandelt wird. Deshalb wiederhole ich meinen Appell
an die Konferenzteilnehmerinnen und Konferenzteilnehmer: Zeigen Sie europäischen Geist! Lassen Sie die Zukunft Europas nicht an nationalen Egoismen scheitern!
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen - besonders diejenigen unter Ihnen, die dem Europaausschuss angehören -,
ein besonders sensibler Punkt ist, dass das Europäische
Parlament in Haushaltsfragen gleichberechtigt mitentscheiden kann. Unerträglich sind solche Vorschläge, die
die Kompetenzen des Parlamentes hinter den Status quo
zurückfahren wollen.
({8})
Denn im Konventsentwurf sind entscheidende Verbesserungen der Stellung und der Macht des Europäischen
Parlamentes vorgesehen. Genau diese gilt es zu verteidigen!
({9})
Ich weiß, dass die Bundesregierung an dieser Stelle sehr
deutlich im Sinne der Position unseres Parlamentes verhandelt. Dafür möchte ich mich hier ausdrücklich bedanken.
Ich will ein deutliches Wort an die christdemokratische Opposition richten. Denn Sie sprechen, was die
Verfassung betrifft, mit zwei Zungen.
({10})
- Richtig: mit mehr Zungen. - Sie fordern Respekt vor
der Arbeit des Konventes. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr
Respekt, wenn die CDU und insbesondere ihre bayerische Schwester, Herr Müller, damit drohen, der Verfassung nicht zuzustimmen? Als Hauptgrund dafür führen
Sie an, dass Sie den Gottesbezug vermissen.
Das Anliegen als solches kann ich verstehen. Aber
daran die Zustimmung zur Verfassung festzumachen
kann ich nicht verstehen!
({11})
Denn auch Sie sollten respektieren, dass für laizistische
Mitgliedstaaten wie Frankreich oder Belgien eine direkte
Bezugnahme auf Gott in einem direkten Widerspruch zu
deren Verfassungen steht. Länder hingegen, die einen
Bezug auf Gott, auf die Verantwortung vor Gott, in ihrer
Verfassung verankert haben, können diese Tradition
auch ohne eine Verankerung in der europäischen Verfassung problemlos aufrechterhalten.
Deswegen hat der Konvent in der Präambel mit dem
Bezug auf das religiöse, kulturelle und humanistische
Erbe der Europäischen Union eine sehr gute Kompromissformel erarbeitet, die die Zustimmung aller Konventsteilnehmer - auch die Ihrer Konventsteilnehmer gefunden hat.
({12})
Ein neuer Konsens, der sowohl die Zustimmung des Vatikans als auch die der Franzosen findet, ist wohl leider
nicht in Sicht. An einer solchen Stelle den Verfassungsentwurf aufschnüren zu wollen ist absolut unverantwortlich und widerspricht dem europäischen Modell des fairen Interessenausgleiches.
({13})
Auch Hans-Dietrich Genscher schließt sich in dieser
Frage der Verhandlungslinie der Bundesregierung an,
wie ich dem „Tagesspiegel“ von Dienstag entnehmen
konnte. Darin schreibt er: Wer die Verfassung will, der
soll jetzt nicht auch noch draufsatteln. Recht hat er,
meine Damen und Herren von der Opposition. Vielleicht
hätten Sie Ihre heutigen Anträge mit ihm durchsprechen
sollen.
({14})
Das gilt insbesondere für den Antrag der FDP und für
die Äußerungen von Herrn Schäuble zum Thema Preisstabilität und EZB. Wollen Sie wirklich, dass die Bundesregierung die Verfassung aufschnürt, nur weil Sie
meinen, dass das Ziel der Preisstabilität an der falschen
Stelle in der Verfassung steht? Auch die Unabhängigkeit
der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken ist in Art. I-29 und Art. III-80 ausreichend
rechtlich abgesichert. Das sieht sogar die EZB selber in
ihrer Stellungnahme vom 19. September so.
Herr Schäuble, Herr Gerhardt, wollen Sie der Verfassung wirklich nur wegen eines Präzisierungsvorschlags
nicht zustimmen?
({15})
Etwas weniger Gerhardt und etwas mehr Genscher
würde ich mir an dieser Stelle wünschen.
({16})
Respekt vor der Leistung des Konvents heißt, den
Verfassungsentwurf nicht aufzuschnüren.
({17})
- Das ist er nicht.
({18})
Die Koalition hat diese Linie immer vertreten. Deswegen haben wir keine eigenen Vorschläge eingebracht.
Wenn Sie mir einen zeigen können, bin ich gern bereit,
ihn durchzulesen. Die Bundesregierung hat jedoch keine
eigenen Vorschläge eingebracht. Deswegen haben wir
uns auch vehement gegen jede Änderung am Entwurf
eingesetzt.
({19})
Das Eintreten für die Verfassung sowie das Kämpfen
für den europäischen Kompromiss und die europäische
Lösung machen die deutsche Europapolitik aus. Diesen
europäischen Geist brauchen wir mehr in Deutschland
und im Deutschen Bundestag und wir brauchen ihn mehr
in Europa. Denn nur gemeinsam und nur im europäiAnna Lührmann
schen Geist wird das Zusammenwachsen Europas gelingen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Regierungskonferenz befindet sich in einer
veritablen Krise und es ist wahr, dass die Bundesregierung eine der Quellen für diese Krise ist.
({0})
Auch wenn unser Bundesfinanzminister heute nicht
anwesend sein kann, möchte ich ihn ganz kurz zu Wort
kommen lassen:
Auf jeden Fall werden wir unter der Grenze von
3 Prozent bleiben … Wir werden den Stabilitätspakt auf Punkt und Komma einhalten. Dann müsste
schon der Himmel einstürzen.
Das sagte Hans Eichel am 29. Dezember 2001 im „Spiegel“.
({1})
Wenn Sie einen kurzen Blick aus der Kuppel des
Reichstags werfen, werden Sie feststellen, dass sich der
Himmel weiterhin über der Erde wölbt. Eingestürzt ist
allein Hans Eichel mit seinem Bruch des Stabilitätspakts.
({2})
Nun könnte man sagen: Das war eine schwerwiegende Fehleinschätzung, die jedem einmal passieren
kann. Vielleicht ist sie uns früher auch einmal passiert.
({3})
- Die Frage der Fehleinschätzung wird schon unterstützt. - Die Regierung ist jetzt auf dem Weg der Besserung. Die meisten von Ihnen werden aber leider nicht zugehört haben, als die Rednerin der SPD sagte - das war
inhaltlich ungeheuerlich und hätte größte Aufmerksamkeit verdient -, die SPD warne vor der Aufnahme von
mehr wirtschaftspolitischen Zielsetzungen in die Verfassung der Europäischen Union.
Meine Damen und Herren, ich darf der Fraktion der
SPD und der Bundesregierung dringend die Lektüre der
Stellungnahme der Deutschen Bundesbank vom gestrigen Tage empfehlen.
({4})
Dieses Dokument ist ein Alarmsignal. Die Bundesbank
sagt, dass unsere Regierung im Moment zusammen mit
den anderen Regierungen in den Verfassungsberatungen
dabei sei, ganz wichtige wirtschafts- und währungspolitische Zielsetzungen, die in Europa über Jahrzehnte gegolten hätten, aufzugeben. Das sei ein verhängnisvoller
Fehler.
({5})
Ich nenne drei klare Punkte: Der erste Punkt betrifft
die Aufgabe des EU-Ziels des nicht inflationären Wachstums. Das klingt technisch, ist aber von größter Bedeutung. Seit 1957 ist das nicht inflationäre Wachstum gemäß Art. 2 des EG-Vertrages eines der zentralen Ziele
der Europäischen Gemeinschaft.
({6})
Dieses Ziel ist in den neuen Entwurf nicht mehr aufgenommen worden. Im Gegenteil: Die italienische Präsidentschaft hat vorgestern einen Text vorgelegt, in dem
alle möglichen Ziele im Sinne einer horizontalen Staatszielbestimmung gemäß Kap. 3 des EG-Vertrages beschrieben werden. Das ist von großer Bedeutung, denn
darin geht es um die Einzelkompetenzen. Neben sehr
wünschenswerten Dingen von sozialer Gerechtigkeit bis
hin zu einem hohen Bildungsniveau, die wir unterstützen, wird darin die Voraussetzung für ein hohes Bildungsniveau und für soziale Gerechtigkeit, nämlich ein
inflationsfreies Wachstum, mit keiner Silbe mehr erwähnt und ausdrücklich aus dem bisherigen Vertragswerk herausgenommen. Das halten wir für falsch.
({7})
Zweiter Punkt: Weil die geschätzte Vorrednerin das,
was wir angesprochen haben, offensichtlich nicht verstanden hat, will ich es noch einmal liebevoll erklären.
({8})
Natürlich macht es einen dramatischen Unterschied, ob
die Sicherung der Preisstabilität eine der Aufgaben der
EZB ist oder ob sie dabei die Politiken der Europäischen
Union insgesamt mitbestimmt. Das ist ein großer Unterschied. Wenn Sie das der CDU/CSU nicht glauben, dann
lesen Sie bitte mit Sinn und Verstand die fünfseitige Stellungnahme der Deutschen Bundesbank vom gestrigen
Tage. Darin wird es erläutert. Wir als CDU/CSU halten
es jedenfalls für richtig, dass die Sicherung der Preisstabilität wieder zu einem zentralen Ziel der Europäischen
Union wird.
({9})
Der dritte Punkt betrifft die Stellung der Europäischen Zentralbank. Natürlich macht es einen Unterschied, ob wir diese Institution, in die viele Bürger großes Vertrauen haben, in der Verfassung als große,
gleichwertige und unabhängige Institution so verankern,
wie das die Mütter und Väter des Maastrichter Vertrages
konzipiert haben, oder ob wir sie zu einer sonstigen Institution machen. Auch das hat die Deutsche Bundesbank festgestellt.
Wir freuen uns über die Stärke des Euro. Wir freuen
uns über die Stabilität unseres Geldes. Das ist Ausfluss
unserer eigenen Politik mit Blick auf den Euro. Die Zukunft erfordert aber, dass die Institutionen der Währung
so gestaltet werden, dass dieses Vertrauen auch in Zukunft dauerhaft Bestand hat. Deswegen ist entscheidend,
dass wir diese zentralen wirtschafts- und währungspolitischen Vorgaben in unserer Verfassungsdiskussion berücksichtigen. Ich finde es fahrlässig, Frau Kollegin
Schwall-Düren, wenn Sie hier sagen, es ist gut, dass im
Verfassungstext nicht mehr wirtschaftspolitische Zielsetzungen verankert sind.
({10})
Ein weiterer Punkt liegt uns sehr am Herzen: Es wird
gesagt, es gebe in Europa unterschiedliche Traditionen
hinsichtlich der Verankerung von religiösen Überzeugungen in Verfassungen. Das ist hier zutreffend referiert
worden. Wir möchten aber auf einen wichtigen Unterschied hinweisen: Auf der einen Seite steht die weltanschauliche Neutralität des Staates, wie das auch für den
Staat des Grundgesetzes gilt. Auf der anderen Seite aber
ist eine Gesellschaft nur dann stark - das gilt gerade vor
großen Herausforderungen -, wenn sie sich auch einer
klaren Wertegrundlage bewusst ist und wenn sie diese
klare Wertegrundlage auch in ihren Verfassungsdokumenten benennt. Deswegen sind wir für klare Verweise
auf die Bedeutung des Christentums für unsere Wertüberzeugungen und auf die Verantwortung des Menschen vor Gott in seinem politischen Handeln.
({11})
Im Übrigen habe ich den Eindruck gewonnen, dass es
gelungen ist, auch Frankreich für diesen Gedanken zu
gewinnen. Es wäre sehr schön, wenn diejenigen, die
- auch wenn sie heute nicht mehr anwesend sind - an
der Regierungskonferenz teilnehmen werden, über diesen Gedanken auch in der Schlussphase beraten. Denn
hier geht es um unsere Kultur, die einem europäischen
Menschenbild verpflichtet ist, das dem christlichen Verständnis vom Menschen sowie den Gedanken und Ideen
der Aufklärung folgt und von ihnen geprägt ist. Dieses
Menschenbild hat entscheidend zur Entstehung von freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften, zu unserem Staatsverständnis, unserem Toleranzverständnis und
zur Vorstellung der Gleichberechtigung von Mann und
Frau beigetragen.
Bei der Erweiterung der Europäischen Union werden
wir sehr zu fragen haben: Sind die, die bereit und willens
sind, zu uns zu kommen, auch von ihrer wertemäßigen
Überzeugung her in der Lage, diese Gemeinschaft zu
stärken? Europa ist nämlich mehr als eine reine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa ist eine echte politische
Gemeinschaft. Daher ist die Frage nach den Werten
durchaus angebracht.
({12})
Innenminister Schily hat der türkischen Regierung in
diesen Tagen zu Recht vorgeworfen, dass sie die Rückführung türkischer Staatsangehöriger aus Deutschland
durch Ausbürgerung gezielt verhindert. Das ist eines der
Schlaglichter, die aufzeigen, dass zwischen unserem
NATO-Partner Türkei und der Europäischen Union
doch noch beträchtliche Unterschiede bestehen: im
Rechtsverständnis, im Menschenverständnis und auch in
den wertemäßigen Grundlagen. Ich erinnere nur an die
Folterpraxis, die im Fortschrittsbericht der Kommission
und von Menschenrechtsorganisationen ausdrücklich gerügt wird, und an den unzureichenden Schutz der Minderheiten. Deswegen ist es uns ein wichtiges Anliegen,
die Regierung davon abzuhalten, uns in der Frage, wer in
Zukunft zur Europäischen Union gehört, mit Blick auf
die Türkei in einen Beitrittsautomatismus drängen zu
lassen, aus dem wir später nur schwer wieder herauskommen. Das hielte ich für einen ganz großen Fehler.
({13})
Hier komme ich auf einen Konstruktionsfehler der europäischen Verfassung zu sprechen, den leider sogar der
Konvent übersehen hat. Der Deutsche Bundestag wird,
wie die anderen nationalen Parlamente und das Europäische Parlament auch, in der Schicksalsfrage des Beitrittes
eines Staates - es gibt ja noch andere Staaten, die zur Entscheidung anstehen - erst ganz am Ende des Verfahrens
gefragt. Meiner Vorstellung von parlamentarischer Demokratie würde es entsprechen, wenn in der Verfassung
ein Recht des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente verankert wäre, über die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mitzuentscheiden. Ich glaube,
dann würde ein solches Verfahren mit einem ruhigeren
Blick betrachtet und es würde eine klarere Abwägung
vorgenommen, als wir dies im Moment erleben.
({14})
Die Bürger in Europa wollen eine Verfassung. Davon
bin ich überzeugt.
Herr Kollege Kunze, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?
Der Kollege Hintze gestattet eine Zwischenfrage,
Frau Präsidentin. Der Kollege Kunze nicht; denn er
spricht im Moment nicht. Bitte.
Herr Kollege Hintze, darf ich Ihr Plädoyer für eine
Bürgerbeteiligung an einer Abstimmung über die EUVerfassung bzw. an dem weiteren Gang der Verhandlungen so verstehen, dass Sie Ihren Widerstand gegen eine
Initiative, auf nationaler Ebene Plebiszite zuzulassen,
({0})
künftig aufgeben und entsprechende Bemühungen der
Koalition unterstützen wollen?
({1})
Ich gestehe, dass ich Sie akustisch nur zum Teil verstanden habe. Aber so, wie ich Sie inhaltlich verstanden
habe, sind Sie offensichtlich nicht informiert, dass Rot
und Grün gemeinsam - in diesem Punkt unterstützen wir
das - zum großen Kummer der Kolleginnen und Kollegen von der FDP eine Volksabstimmung abgelehnt haben.
({0})
Vielleicht lassen Sie sich einmal von Ihren eigenen Kollegen unterrichten.
({1})
Mein zweiter Punkt, Frau Kollegin Sonntag-Wolgast:
Ich wäre schon glücklich, wenn in solchen Schicksalsfragen wenigstens der Deutsche Bundestag und das Europäische Parlament zu dem Zeitpunkt beteiligt würden,
an dem es noch etwas zu entscheiden gibt.
({2})
Die Bürger wollen eine Verfassung, die einen echten
demokratischen Mehrwert bedeutet. Es liegt in der Hand
der Bundesregierung, ob es ihr gelingt, die Verfassung so
zu gestalten. Hierzu sprechen wir ihr die besten Wünsche aus. Es ist unser Herzenswunsch, dass es der Bundesregierung gelingt, die Verfassung so auszuarbeiten,
dass der Status quo überwunden wird und sie zu einem
politischen Europa mit mehr Effizienz, Transparenz und
Demokratie führt. Leider können wir Ihnen auf der Regierungskonferenz nicht helfen. Wir können nur hoffen,
dass Ihnen das gelingt. Wenn das der Fall sein sollte, haben Sie unsere Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Schwall-Düren.
Sehr geehrter Herr Kollege Hintze, über meine Ausführungen, dass zwischen wirtschaftspolitischen und sozialen Zielen eine Balance herrschen sollte, haben Sie
sich entsetzt gezeigt. Wir sind uns darüber einig - darauf
möchte ich Sie aufmerksam machen -, dass die europäische Verfassung zu einer Balance der Institutionen führen muss. Wir Sozialdemokraten vertreten darüber hinaus die Meinung, dass auch eine Balance bei den unterschiedlichen Zielsetzungen herrschen muss.
In diesem Verfassungsentwurf ist unserer Auffassung
nach das sehr wichtige Ziel der Preisstabilität ausreichend verankert. In Art. III-69 steht, dass die Wirtschafts- und Währungspolitik auf
der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht und dem
Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem
Wettbewerb verpflichtet ist.
Parallel dazu umfasst diese Tätigkeit ... eine einheitliche Währung ... sowie die Festlegung und
Durchführung einer einheitlichen Geld- sowie
Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel
der Preisstabilität verfolgen.
Zusammen mit den anderen Regelungen zur Preisstabilität ist das Ziel der Sicherung der Preisstabilität also ausreichend verankert.
Sie werden es uns als Sozialdemokraten sicher nicht
übel nehmen, dass für uns auch wesentlich ist, dass
sich Aussagen über das so erfolgreiche europäische
Sozialmodell ebenfalls ausreichend in der Verfassung
wiederfinden. Das Ziel eines noch größeren sozialen Zusammenhalts muss Erwähnung finden. Es geht um Qualifizierung, um ausreichenden Gesundheitsschutz und
darum, dass Menschen nicht sozial ausgeschlossen werden.
Nicht mehr und nicht weniger habe ich in meiner
Rede gesagt. Da wir alle Anhänger einer sozialen Marktwirtschaft sind, sollte uns das mehr verbinden als spalten.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Abgeordneter Hintze, Sie haben das Wort. Ich
bitte Sie um Entschuldigung für den Versprecher. Ich
hoffe, es wird kein Dauerversprecher.
({0})
Frau Kollegin Schwall-Düren, ich unternehme den
letzten Versuch, Ihnen noch einmal den Unterschied zu
erläutern. Allerdings habe ich nicht allzu viel Hoffnung.
Die Vorschrift, die Sie vorgelesen haben, gilt ausdrücklich für einen einzigen Politikbereich. Unser Anliegen ist
es aber, das inflationsfreie Wachstum und die Preisstabilität als Ziele der Union für alle Politikbereiche in der
Verfassung zu verankern.
Ich hätte gerne eine Auskunft von der Bundesregierung. Leider ist niemand von der Bundesregierung mehr
anwesend, der politisch dazu in der Lage wäre, mir diese
Auskunft zu geben. Es müsste nämlich schon der Bundeskanzler oder der Außenminister sein, die sich im Augenblick in einer Konferenz befinden. Ich würde gerne
wissen, ob die Bundesregierung der Streichung des inflationsfreien Wachstums, wie es in den europäischen
Verträgen seit 1957 steht, tatsächlich zustimmt.
Ich bin ja nicht befugt, hier aus der Sitzung des Europaausschusses vorzutragen, weil sie nicht öffentlich war.
Ich kann nur meinen Eindruck schildern. Bezüglich dieser Frage hatte ich dort einen positiveren Eindruck, als
Sie ihn hier mit Ihren Ausführungen vermittelt haben.
Deswegen hätte ich von der Bundesregierung gerne gewusst, ob sie die Streichung des Ziels des inflationsfreien Wachstums aus den Zielen der Union tatsächlich
für richtig hält.
({0})
Jetzt hat der Abgeordnete Michael Roth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Verlauf dieser Debatte beruhigt mich aus zweierlei
Gründen ungemein. Zum einen hat die Opposition außer
dem hinlänglich bekannten Zeter und Mordio, das sie,
wenn es um Europa geht, regelmäßig schreit, nichts zu
bieten. Es sind nur olle Kamellen. Sie veranstalten hier
einen Budenzauber, der zwar möglicherweise zur Jahreszeit passt, mit dem Sie sich aber überhaupt nicht an der
Faktenlage orientieren.
({0})
Herr Hintze, es ist schon sehr bedauerlich, dass Sie
bei einer für dieses Haus so wichtigen Debatte, in der es
um die Zukunft Europas und um die Verfassung geht,
abermals Ihr Angstgebäude von der Türkei errichten.
({1})
Das ist verantwortungslos.
({2})
Damit tragen Sie zum Populismus in Europa bei, den Sie
auf der anderen Seite scheinheilig bekämpfen wollen.
Das passt nicht zusammen. Auf die Argumente der Opposition will ich zu einem späteren Zeitpunkt noch eingehen.
Ich will aber noch einen anderen Grund dafür nennen,
warum mich diese Debatte sehr beruhigt. Auch wenn der
eine oder andere das manchmal so nicht sehen möchte,
zeigt es sich doch, dass es zwischen den politischen Parteien in diesem Hause wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Vorstellung von Europa gibt. Die Seite der
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - den Koalitionspartner schließe ich ausdrücklich ein - kämpft
eben stärker als Sie für ein soziales Europa. Wir streiten
für ein europäisches Sozialmodell,
({3})
für Chancengleichheit und für soziale Mindeststandards.
Das findet sich auf Initiative der italienischen Präsidentschaft auch in dem jetzt vorliegenden Kompromisspapier in engagierter Form wieder.
Herr Gerhardt, Sie müssen einmal klären, was Sie eigentlich wollen. Sie fordern eine politische Union. Hier
stimme ich mit Ihnen überein.
({4})
Wenn Sie über die EU reden, dann schwadronieren Sie
aber nur über Markt, Wirtschaft, Kapital und Währung.
Das ist doch nicht alles in Europa.
({5})
Es gibt doch auch noch andere Vorstellungen darüber.
Das muss miteinander in Einklang gebracht werden,
sonst laufen die Bürgerinnen und Bürger diesem Europa
weg,
({6})
weil sie Angst haben und befürchten, dass es die zentralen Fragen der Zukunft nicht zu lösen vermag. Deswegen müssen wir sozial flankieren und Solidarität ganz
obenan stellen. Dies versucht der Konvent mit dem von
ihm vorgelegten europäischen Verfassungsentwurf. Deshalb kämpfen wir so engagiert für diesen Vorschlag.
({7})
Vorhin ist die Kollegin Sonntag-Wolgast offensichtlich aus akustischen Gründen missverstanden worden.
({8})
Sie hat doch schlicht und ergreifend nur gefragt, ob Sie
bereit sind, Ihren Kampf gegen eine stärkere direkte demokratische Verankerung und mehr plebiszitäre Elemente im Grundgesetz, den Sie seit mehr als fünf Jahren führen, aufzugeben und mit uns in ein Boot zu
steigen, um die direkte Demokratie zu stärken. Dies
muss erst einmal auf der nationalen und dann auf der europäischen Ebene geschehen. Sie müssen den Konflikt
in Ihren eigenen Reihen klären. Kürzlich haben die
CSU-Abgeordneten Hans-Peter Friedrich und Herbert
Frankenhauser geäußert, man müsse über die europäische Verfassung unbedingt in einer Volksbefragung abstimmen lassen. Klären Sie das doch bitte erst einmal in
Ihren eigenen Reihen. Dann können Sie uns kritisieren.
Wir haben hier eine relativ klare Position.
({9})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Westerwelle?
Selbstverständlich.
({0})
Herr Kollege, Sie sagten, die Opposition müsse bezüglich der Volksabstimmung Klarheit in ihre eigenen
Reihen bringen. Deshalb möchte ich Sie fragen, wie Sie
sich zu dem Bundesparteitagsbeschluss Ihres Koalitionspartners stellen, gemäß dem eine Volksabstimmung über
die europäische Verfassung vorgesehen ist, was wir, die
FDP, hier ebenfalls beantragt und gefordert haben.
({0})
Herr Westerwelle, zunächst einmal freue ich mich,
dass Sie als Führer einer in sich nicht besonders ruhenden Partei immer noch Zeit und Muße finden, sich die
Parteitagsbeschlüsse der Grünen anzuschauen.
({0})
Das spricht für Sie und für Ihre Prioritätensetzung. Sie
scheinen den Koalitionspartner ja ausgesprochen ernst
zu nehmen. Aber Sie dürfen doch nicht Äpfel mit Birnen
vergleichen. Das eine war der Hinweis auf nationale Regelungen für mehr direkte Demokratie und das andere
war die europäische Frage.
({1})
Sie werden bei den Grünen und bei den Sozialdemokraten viele Kolleginnen und Kollegen finden, die auf
der europäischen Ebene für ein Referendum eintreten,
aber aus Verantwortung gegenüber dem gesamten Projekt sagen: Erst eine Entscheidung auf nationaler Ebene
und im zweiten Schritt kann dann auch die direkte Demokratie in Europa folgen.
({2})
- Ich finde es überraschend, dass Sie lachen. Sie haben
in Ihren eigenen Reihen ja offensichtlich überhaupt
keine klare Meinung zu dieser wichtigen Frage.
Ich möchte noch zu einem anderen Punkt kommen,
den der Kollege Schäuble angesprochen hat und den ich
für ausgesprochen verantwortungslos und gefährlich
halte. Auch in unseren Reihen gibt es Unbehagen über
den einen oder anderen Partner in der Europäischen
Union oder auch gegenüber Partnern, die ab dem nächsten Jahr der Europäischen Union zugehören werden.
Aber der Bundesrepublik Deutschland und dieser Bundesregierung vorzuwerfen, sie habe sich in den vergangenen Jahren nicht als starker und solidarischer Partner
Polens gezeigt, das ist schon, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit.
({3})
Wir haben maßgeblich mit dafür gesorgt, dass Polen in
der ersten Runde aufgenommen wird und der Europäischen Union im nächsten Jahr zugehören kann. Dafür
haben wir uns maßgeblich engagiert. Andere Partner innerhalb der Europäischen Union haben ganz andere
Positionen vertreten. Deshalb können wir mit vollem
Selbstbewusstsein sagen: Wir sind und bleiben an der
Seite Polens.
Wir müssen aber auch, so wie das der Bundeskanzler
und der Außenminister in diesen Minuten tun, den
Freunden deutlich sagen, wo wir mit ihnen nicht übereinstimmen. Wir sind nicht dafür, dass die Verfassung an
der Frage der doppelten Mehrheit scheitert. Das ist eben
nicht unsere Vorstellung und dafür kämpfen wir.
({4})
Ich will aber auch deutlich sagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen - ich schließe mich damit der Kritik, die
viele hier geäußert haben, an -: Der bisherige Verlauf
der Regierungskonferenz ist ausgesprochen kläglich.
({5})
Ich vermisse bei einigen Regierungen sowohl die
Reformfähigkeit als auch die Reformbereitschaft. Beides ist schlicht und ergreifend nicht vorhanden. So bringen wir Europa nicht voran. Ich muss das auch namens
meiner Fraktion noch einmal deutlich sagen, weil wir
zum Teil zu Recht sehr hart mit der italienischen Regierung ins Gericht gegangen sind. Aber was sie hier im
Dienste der Bevölkerung Europas und im Dienste der
europäischen Verfassung tut, das muss auch von uns mit
Dankbarkeit und Respekt angesprochen werden. Das ist
ein Gebot der Fairness. Ich finde, dass sich die Italiener
ausgesprochen hilfreich verhalten.
({6})
Die EU ist kein Markt der nationalen Egoismen. Wir
brauchen in Europa einen Markt der Ideen, einen Markt
der Visionen, wie wir Europa positionieren können als
Antwort auf die Gefahren und auch auf die Chancen der
Globalisierung. Es geht bei den Verhandlungen in der
Regierungskonferenz zwar um Macht und um Geld.
Wenn diese Fragen aber ausschließlich nur noch über die
nationalen Interessen definiert werden, dann sehe ich das
gesamte Projekt in Gefahr.
Bisweilen wird die EU mit einer Kuh verglichen.
Zweifellos mag das Bild gelegentlich stimmen. Aber die
EU ist nicht nur eine Kuh, von der man wissen muss, wo
die Zitzen liegen, damit man Milch bekommt. Man
muss, um in diesem Bild zu bleiben, auch wissen, wie
man die Kuh füttert, damit sie auch in zehn oder 15 Jahren noch Milch geben kann.
({7})
Diese beiden Punkte gehören zusammen und diese Erkenntnis vermisse ich eben bei einigen Partnern in der
Europäischen Union.
({8})
Viel wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
die Frage: Wie können wir mehr Demokratie und mehr
Handlungsfähigkeit in die EU bringen? Natürlich stehen
die institutionellen Reformen ganz obenan. Ich freue
Michael Roth ({9})
mich, dass Sie dazu offensichtlich keine Alternativvorschläge haben und dass Sie in dieser Frage sehr dicht an
der Position der Koalition und der Regierung liegen. Das
ist sicherlich hilfreich. Ich meine auch bei aller Kritik:
Wir haben schon eine ganze Menge erreicht. Fortschritte
sind unverkennbar, wenn ich zum Beispiel an die Wahl
des Kommissionspräsidenten durch das Europäische
Parlament, an die Stärkung des Europäischen Parlaments, an die Einführung von Mehrheitsentscheidungen
und an die Bestellung des europäischen Außenministers
denke. Aber die Kritik der Opposition bleibt kleinkariert
und ist ziemlich kläglich.
({10})
Ich will nur noch einmal auf die Never-ending-Story
der deutsch-französischen Kooperation hinweisen.
({11})
Sie müssen in Ihrer Kritik konsequent bleiben. Auf der
einen Seite werfen Sie Deutschland und Frankreich vor,
wir hätten beim Vertrag von Nizza nicht gut genug zusammengearbeitet und deshalb das weitgehende Scheitern von Nizza zu verantworten. Auf der anderen Seite
werfen Sie Deutschland und Frankreich jetzt vor, wir
würden zu eng zusammenarbeiten und damit den Integrationsprozess belasten. Beides passt nicht zusammen
und ist heuchlerisch. Deswegen bitte ich Sie um eine
konsequentere und klarere Position.
({12})
Einen weiteren Fehler dürfen wir nicht machen: Es
geht meines Erachtens in Europa nicht um einen Kampf
der Großen gegen die Kleinen, des Nordens gegen den
Süden, des Westens gegen den Osten, der Reichen gegen
die Armen. Nein, es geht um viel Schlimmeres. Es geht
in der Europäischen Union um einen Kampf der Gestalter auf der einen Seite und der Verhinderer auf der anderen Seite. Das ist gefährlich, weil wir in dieser Frage
nicht weiterkommen. Alle Partner müssen mitmachen.
Alle müssen zum Konsens bereit sein. Alle müssen bereit sein, sich um die wesentlichen Fragen zu kümmern:
Demokratie und Handlungsfähigkeit. Dabei muss man
nationale Egoismen überwinden, sonst kommt man nicht
voran. Das muss wenige Stunden vor dem Abschluss der
Regierungskonferenz unser gemeinsamer Appell sein.
({13})
Der Gottesbezug ist mehrfach angesprochen worden.
Ich warne ausdrücklich davor, diese Diskussion entlang
von Fraktionslinien zu führen. Unterstellen Sie bitte
nicht, dass es nicht auch in anderen Fraktionen Kolleginnen und Kollegen gibt, die für einen Gottesbezug eintreten und sich engagiert dafür einsetzen.
({14})
Wir müssen eine Position formulieren, bei der wir das
Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Deswegen werden Kolleginnen und Kollegen in einer Erklärung nach
§ 31 der Geschäftsordnung deutlich machen, warum wir
den Antrag der CDU/CSU ablehnen, aber gleichzeitig
für den Gottesbezug eintreten. Es wäre aus meiner Sicht
verfehlt, mit einer solchen Formulierung, wie Sie sie gewählt haben, andere Glaubensgemeinschaften und Religionen auszugrenzen.
({15})
Der Gottesbezug geht alle an. Man darf sich nicht nur
auf das vermeintlich christliche Abendland konzentrieren.
Hier brauchen wir eine gewisse Sensibilität. Die Regierung geht ausgesprochen verantwortungsbewusst damit um, weil sie sehr sensibel und zurückhaltend auf andere Partner zugeht, die, wie das auch Kollegin
Lührmann schon erwähnt hat, eine ganz strenge laizistische Tradition haben. Wenn wir einen Kompromiss zwischen diesen unterschiedlichen Positionen wollen, brauchen wir einen sehr sorgfältigen Umgang mit diesem für
viele von uns wichtigen Thema. Um diese Sensibilität
bitte ich auch die Kolleginnen und Kollegen von der
Union. Lassen Sie den Schaum vor dem Mund! Er hilft
der Sache nicht und bringt uns nicht voran.
({16})
Es gibt zwei Ziele, für die wir kämpfen müssen. Das
eine Ziel ist: Es muss auf der Regierungskonferenz gelingen, die Bremsklötze des nationalen Vetos weitgehend zu beseitigen. Mit einer Union von 30 und mehr
Mitgliedstaaten - demnächst werden es erst einmal
25 sein - wäre die Handlungsfähigkeit elementar bedroht, wenn eine Kleinstgruppe oder sogar nur ein Partner mit einem Nein blockieren kann. So bringen wir Europa nicht voran.
Das zweite Ziel - dies ist mir sehr wichtig, weil auch
einige von uns der Ansicht sind, die EU liege einseitig in
den Händen von Bürokraten -: Wir müssen Europa
stärker in die Hände der Bürgerinnen und Bürger legen.
Das geht nur dann, wenn wir klarer zuordnen: Wer ist in
Europa für was verantwortlich? Wir müssen deutlich
machen: Wer muss für welche Entscheidung in Europa
belohnt oder auch abgestraft werden? Das muss den
Menschen klar werden. Das muss auch bei den Wahlen
zum Europäischen Parlament deutlicher werden.
Dazu gibt der Verfassungsentwurf des Konvents einige zukunftsweisende Antworten. Wenn wir das umsetzen, dann bringen wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses auch für unsere nationale Handlungsfähigkeit
zentrale Projekt näher. Deswegen sollten wir bei aller
Skepsis mit Optimismus an die noch verbleibenden Verhandlungen in der Regierungskonferenz herangehen.
Spielräume ja, aber keine Leftovers.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme zum Schluss.
Die Vertagung der Regierungskonferenz löst kein
Problem. Brauchen wir wirklich den Aufstand der ParlaMichael Roth ({0})
mente, den die „Financial Times Deutschland“ fordert?
Ich glaube, nicht. Aber wir brauchen Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die nicht nur bei der Frage des
Gottesbezuges die europäische Verfassung mit Leidenschaft begleiten, sondern sie auch in anderen wesentlichen Politikfeldern aktiv unterstützen. Das ist unsere
Aufgabe hier im Deutschen Bundestag. Lassen Sie sie
uns gemeinsam mit der Regierung engagiert wahrnehmen!
({1})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte ist sehr erhellend. Vor allen Dingen
in einem Punkt zeigt sie ein vollkommenes Durcheinander der Meinungsbildung bei SPD und Grünen, nämlich
im Hinblick auf die Frage der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger und einer Volksabstimmung über
die Einführung der europäischen Verfassung.
({0})
Die Beschlusslage der Grünen auf Parteitagen ist klar.
Das Reden hier ist vollkommen gegensätzlich.
({1})
Das Abstimmungsverhalten hier im Bundestag war
vollkommen anders.
({2})
Die SPD-Fraktion hat sich zu unserem Antrag auch ganz
anders geäußert. Keinerlei Offenheit, gar nichts, sie hat
ihn abgelehnt. Die Chance war da, die Bürgerinnen und
Bürger zu beteiligen.
({3})
Sie wollten sie nicht nutzen. Das ist die Realität.
({4})
Deshalb müssen diese Widersprüche auch in dieser
Debatte deutlich gemacht werden; denn es geht nicht darum, dass wir uns immer wieder der Allgemeinheiten
vergewissern. Da gibt es keinen Dissens.
({5})
- Herr Roth, wir sagen in unserem Antrag, dass der
Konventsentwurf ein Kompromiss ist, den wir im Kern
erhalten wissen wollen. Wir sagen in unserem Antrag
- Sie haben ihn ja Gott sei Dank zum Schluss zum Teil
fast vorgelesen - ganz klar, an die Bundesregierung gerichtet: Kämpft dafür, vermeidet die Verschlechterungen
in einigen Punkten, die die italienische Präsidentschaft
in ihre Vorschläge aufgenommen hat! Deshalb hat diese
Debatte auch den Sinn, der Bundesregierung für die
schwierigen Verhandlungen in Brüssel mitzugeben, dass
wir, der Deutsche Bundestag, eine europäische Verfassung, basierend auf den Grundlinien des Konventes,
wollen,
({6})
dass wir auf keinen Fall eine Verschlechterung des Konventsentwurfs wollen und dass wir auf keinen Fall wollen, dass die Bundesregierung, insbesondere Finanzminister Eichel, die Hand dafür reicht, dass die Rechte des
Parlaments geschwächt werden.
({7})
Denn das ist doch der Punkt, den wir zu Recht gemeinsam, Herr Roth, in den Sitzungen des Europaausschusses
zu Beginn angemahnt haben.
({8})
Ich habe es betont, Sie auch. Ich fand, dass es ein Schritt
zum Aufschnüren des Konventsentwurfes war, dass die
Bundesregierung mit ihrem Finanzminister Herrn Eichel
im Ecofin-Rat gesagt hat: Wir wollen diesen Legislativrat nicht.
({9})
Es ist weitergegangen und das Entscheidungsrecht des
Parlaments über den Haushalt ist angeknabbert worden.
({10})
Jetzt müssen wir aus dem Deutschen Bundestag heraus der Bundesregierung mitgeben, dass sich das nicht
fortsetzen darf.
({11})
Denn wir wollen nicht eine Verfassung, die den Namen
nicht verdient. Wir wollen nicht eine Verfassung, die den
kleinsten gemeinsamen Nenner bildet und deutlich hinter dem Konventsentwurf zurückbleibt.
({12})
Dafür kämpfen wir. Diese Ziele haben wir.
Herr Roth, die Liberalen wissen, wie schwierig Situationen vor Regierungskonferenzen sind. Ich bedanke
mich bei Frau Lührmann, dass sie hier die Verdienste
von Herrn Genscher erwähnt hat. Er war nämlich der
Motor der deutsch-französischen Integration, ein ehrlicher Makler und Vermittler der Interessen derjenigen,
({13})
die entweder in die Europäische Union wollten oder dort
in der Minderheit sind. Er hat nämlich nicht Interessen
gegeneinander ausgespielt. Wenn er die Verhandlungsführung hätte, dann hätten wir heute nicht diese miese
Stimmung vor der Regierungskonferenz,
({14})
die uns die große Sorge macht, dass der große Wurf
nicht gelingt. Das müssen wir hier ehrlich sagen, wenn
wir schon über die Geschichte der Europapolitik dieses
Hauses sprechen. Wir waren es doch, die die Osterweiterung wollten. Wir wollten, dass die zehn Staaten zusammenbleiben. Wir mussten Sie doch überzeugen, weil
Sie sie auseinander haben wollten.
({15})
Das ist doch die ehrliche geschichtliche Darstellung der
europäischen Erweiterung.
Nun komme ich auf den Bereich Innen- und Justizpolitik zu sprechen, den hier noch niemand angesprochen hat. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich dabei
nicht den Vorschlägen der italienischen Ratspräsidentschaft anzuschließen, die im Übrigen gute Arbeit geleistet hat. Ich behaupte, dieses Thema stünde auf der
Tagesordnung ganz oben, wenn es bei dieser Regierungskonferenz um einen europäischen Justizminister
gegangen wäre. Jetzt aber wird es unter „ferner liefen“
abgehandelt. Zwar ist es wichtig, dass wir einen europäischen Außenminister bekommen; aber wir dürfen in der
strafrechtlichen Zusammenarbeit nicht zu Verschlechterungen kommen und hinter den Stand von Nizza zurückfallen. Diese Gefahr droht: Würde der Vorschlag der italienischen Präsidentschaft, der auf einem Anliegen
Großbritanniens beruht, beschlossen - dieser Vorschlag
steht in der aktuellen Textvorlage -, bedeutete dies, dass
in der strafrechtlichen Zusammenarbeit eine stärkere Integration, die die Möglichkeit einschließt, Rahmenbeschlüsse zu fassen, aufgegeben würde. Dann könnte
nämlich jeder Mitgliedstaat, der sein Rechtssystem für
berührt hält - dies kann jeder Mitgliedstaat immer
sagen -, das Verfahren nicht nur verzögern, sondern
vollkommen blockieren und sogar fordern, dass ein
neues Verfahren beginnt. Dies bedeutete, dass es keine
verbesserte Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik gäbe. Die Überwindung der Säulenstruktur war aber
unser aller Anliegen. Jetzt ist es in Gefahr. Ich erwarte,
dass die Bundesregierung auch für solche Punkte
kämpft, die heute in der Öffentlichkeit keine Beachtung
finden; denn morgen hätten sich die Mitglieder des Rates
dafür zu rechtfertigen, wenn so etwas tatsächlich im Verfassungstext stünde.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Diese Debatte hat gezeigt, vor welcher Herausforderung
die Regierungschefs der europäischen Nationen stehen.
Sie hat die Schwierigkeiten deutlich gemacht; bei der
Analyse dieser Schwierigkeiten hat es in diesem Hause
relativ viel Einigkeit gegeben.
Lieber Kollege Schäuble, lieber Kollege Hintze, eines
lassen wir Ihnen aber nicht durchgehen: dass hier der
Eindruck erweckt wird, die Bundesregierung sei Teil des
Problems, das wir mit dem Verfassungsvertrag haben.
({0})
Die Bundesregierung hat in diesem Prozess stets betont
- darin verdient sie die Unterstützung des ganzen Hauses -, Teil der Lösung der Probleme sein zu wollen. Die
Bundesregierung ist mit dem ganz klaren Arbeitsauftrag
in die Verhandlungen gegangen, das Konventsergebnis
zu verteidigen. Demgegenüber hat die Opposition von
Anfang an dieses Paket aufzuschnüren versucht.
({1})
Sie ist mit einem Paket von Sonderforderungen in den
Deutschen Bundestag gegangen und hat das Ziel, das
Konventsergebnis zusammenzuhalten, nicht mit verfolgt. Jetzt, am Ende dieses schwierigen Prozesses, mahnen Sie die Ergebnisse an, für die wir die ganze Zeit über
in mühevoller Kleinarbeit gekämpft haben. Eigentlich
sind wir in dieser Frage völlig einig. Deshalb lassen wir
es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie die Bundesregierung
in dieser Art und Weise kritisieren. Sie hat beim Zusammenhalten des Konventsergebnisses eine verantwortungsvolle und weitgehend erfolgreiche Arbeit geleistet.
Diese historische Wahrheit sollte von Ihnen hier einmal
gewürdigt werden.
({2})
Zum Verfassungsprozess spreche ich zwei Probleme
an, die aus meiner Sicht in der Perspektive von großer
Bedeutung sind. Herr Kollege Schäuble hat schon auf
das bei uns zu wenig diskutierte Problem der Kompetenzzuordnung hingewiesen. Es ist für die Zukunft der
EU entscheidend, dass es uns gelingt, dass die Menschen
in unserem Lande wissen, wer wofür verantwortlich ist.
Das gilt für die europäische Ebene, aber natürlich auch
für das Verhältnis von Bundestag, Bundesrat und kommunaler Ebene. Wir müssen zu einer klareren Zuordnung von Kompetenzen kommen. Dafür haben wir als
unser Instrument die Föderalismuskommission eingesetzt. Aber um zu Ergebnissen zu kommen, müssen wir
dieses Instrument auch auf nationaler Ebene ernst nehmen. Wir dürfen nicht nur auf die europäische Ebene
verweisen, wenn es um die Regelung der Zuständigkeiten geht. Vielmehr müssen wir unsere eigenen Hausaufgaben machen, die darin bestehen, klare Verantwortlichkeiten für die einzelnen Politikbereiche zuzuweisen.
Dafür brauchen wir sicherlich auch die Unterstützung
des ganzen Hauses.
In diesem Zusammenhang halte ich auch die Subsidiaritätskontrolle für wichtig,
({3})
die ein zentrales demokratisches Instrument hinsichtlich
der Verlagerung der Verantwortung auf die nationale
parlamentarische Ebene darstellt. Angesichts der uns
zurzeit zur Verfügung stehenden Instrumentarien kann
ich mir nicht vorstellen, wie ein Recht auf Subsidiarität in der Praxis umgesetzt werden kann. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, ein Instrumentarium zu schaffen, mit dem die Subsidiarität, die wir schließlich alle
wollen, auf parlamentarischer Ebene umgesetzt werden
kann.
({4})
Andernfalls enthielte die Verfassung eine weitere Floskel, die nicht mit Leben erfüllt wird. Das würde den Unmut nicht nur der Parlamentarier, sondern auch der anderen Menschen in unserem Lande hervorrufen. Deshalb
sollten wir möglichst rasch gemeinsam handeln, um dieses Recht in die Praxis umzusetzen.
({5})
Ich habe mich etwas darüber geärgert, Kollege
Hintze, dass Sie auch in diese Debatte das Thema Türkei eingebracht haben. Auch der Kollege Schäuble hat
sich dazu geäußert und gemeint, dass der Rahmen der
Europäischen Union durch den Beitritt der Türkei gesprengt werden würde. Ich halte es für verantwortungslos, in dieser Zeit so zu argumentieren.
Wir alle wissen doch, dass die Aussicht auf den Beitritt zur Europäischen Union in der Türkei entscheidende
Reformen angestoßen hat, für die wir uns alle im Deutschen Bundestag lange eingesetzt haben. Dazu gehören
die Abschaffung der Todesstrafe, die Reduzierung des
Einflusses des Militärs auf die Politik und mehr Rechte
für die kurdische Bevölkerung. Alle diese Vorhaben befinden sich auf der Verfassungsebene in der Realisierung. Alle diese Reformen wären ohne eine klare Beitrittsperspektive der Türkei nicht möglich gewesen.
Wir stehen - auch gegenüber den Menschen in der
Türkei, für die wir an anderer Stelle die Einhaltung der
Menschenrechte eingefordert haben - in der Verantwortung, unseren Beitrag zum EU-Beitritt zu leisten, statt
der Türkei in der schwierigen Lage nach den Anschlägen
in Istanbul die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Die Solidarität mit den Türkinnen und Türken nach diesen Anschlägen verlangt von uns, dass wir den Weg der Türkei
in einen modernen und demokratischen Rechtsstaat unterstützen.
({6})
Das heißt nicht, dass wir irgendeinen Teil der Kopenhagener Kriterien zurücknehmen. Darum geht es nicht.
Aber unsere Solidarität gilt den Türkinnen und Türken,
insbesondere denjenigen, die sich in der Türkei um demokratische Reformen bemühen. Dazu muss die Türkei
eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Zypern ist nur
ein Stichwort; darüber werden wir heute noch diskutieren. Wir werden darauf pochen, dass die Türkei ihre
Aufgaben ernst nimmt.
({7})
Ich möchte gerne noch einen weiteren Punkt ansprechen. Zentrales Thema des Europäischen Rates wird die
europäische Sicherheitspolitik sein. Lange Zeit - von
der EPZ in den 70er-Jahren bis zur Verankerung der
GASP durch den Vertrag von Maastricht - hat sich dieser Politikbereich im EU-Rahmen nur sehr langsam entwickelt. Erst die ernüchternden Erfahrungen des Kosovokonflikts haben dazu beigetragen, die Entwicklung
der europäischen Sicherheitspolitik tatsächlich zu beschleunigen.
Aber seien wir ehrlich: Wer von uns hätte Anfang dieses Jahres angesichts der seinerzeit schon erkennbaren
Konflikte die Prognose gewagt, dass wir am Ende dieses
Jahres eine europäische Sicherheitsstrategie verabschieden werden? Mein ausdrücklicher Dank - ganz persönlich, aber auch namens unserer Fraktion - gilt Javier
Solana, der eine hervorragende Grundlage für die künftige Ausgestaltung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa geschaffen hat.
({8})
Vielleicht war der innereuropäische Streit um den Irakkrieg ja doch noch für etwas gut, nämlich als Katalysator
für die GASP und die ESVP.
Der weitere Ausbau der europäischen und der auswärtigen Politik in Europa ist notwendig, damit die Europäische Union endlich - das sage ich nicht aus Großmannssucht, sondern angesichts der Verantwortung, die
wir aufgrund unserer historischen Erfahrung haben - die
Rolle eines verantwortungsvollen Partners in der Welt
spielen kann, der nicht immer nur mit sich selbst beschäftigt ist, sondern seinen Teil zu einer gerechten Gestaltung der Globalisierung beiträgt. Die Aufgabe, die
Europa weltweit zu erfüllen hat, ist, sich für Demokratie
und Menschenrechte einzusetzen. Dazu bedarf es natürlich nicht nur einer Sicherheitsstrategie, sondern selbstverständlich auch effizienter Strukturen und angemessener Fähigkeiten, und zwar sowohl im militärischen als
auch im zivilen Bereich.
Mit dem In-Kraft-Treten der Verfassung bekommt die
EU einen Außenminister und einen europäischen diplomatischen Dienst. Das ist für die Stärkung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Europäischen Union
unerlässlich. Wir, die Grünen, hätten uns gewünscht,
dass künftig im Rat auch außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können. Dafür scheint die Zeit noch nicht reif zu sein. Wir
werden dieses Thema aber weiter auf der Tagesordnung
halten. Wenn wir ein außenpolitisch handlungsfähiges
Europa wollen, dann müssen auch in diesem Bereich
Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen
werden.
({9})
Der Anspruch der europäischen Sicherheitsstrategie
muss umgesetzt werden. Sowohl im zivilen als auch im
militärischen Bereich gibt es hier noch einiges zu tun.
Oftmals wird in der öffentlichen Debatte - leider - nur
über den Ausbau der militärischen Fähigkeiten geredet.
Dieser ist wichtig, keine Frage. Gerade wenn wir mit den
anderen europäischen Ländern zusammenarbeiten, geht
es um den finanziellen Mitteleinsatz und auch darum,
auf militärischer Ebene Synergieeffekte zu erzielen, damit nicht mehr alle Kapazitäten und Fähigkeiten in jedem Land aufrechterhalten werden müssen. Trotz dieser
großen Aufgabe dürfen wir aber den Aufbau der zivilen
Fähigkeiten nicht aus den Augen verlieren; denn gerade
die zivile Komponente ist das, was Europa zum eigentlichen Kompetenzzentrum für Konfliktlösungen macht.
Darauf dürfen und können wir stolz sein. Europa, das
über viele Jahrhunderte der gewalttätigste Teil der Welt
war und das es geschafft hat, zivile Konfliktprävention
zu einem Prinzip des Miteinanders in Europa zu machen
- das zeigen gerade die Erfahrungen nach dem letzten
großen Krieg -, muss aufgrund seiner Kompetenz in der
zivilen Konfliktlösung Verantwortung in der Welt übernehmen; denn angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind umfassende
zivile Fähigkeiten das A und O, der Schlüssel für eine sichere und gerechte Welt.
({10})
Das wird im militärischen Bereich sicherlich auch
strukturelle Veränderungen erfordern. Ich glaube, dass
wir Grünen auf einem richtigen Weg sind, wenn wir als
eine der Herausforderungen für eine engere militärische
Zusammenarbeit die Professionalisierung der Bundeswehr sowie die Wehrpflicht zur Diskussion stellen. Eine
Wehrpflichtarmee ist nach unserer Auffassung den historischen Aufgaben und Herausforderungen, vor denen die
europäische Sicherheitspolitik nun steht, nicht mehr gewachsen. Je früher wir die Wehrpflicht abschaffen und
die Ressourcen für eine Umstrukturierung der Bundeswehr freimachen, um sie auf die neuen Aufgaben vorzubereiten, desto mehr leisten wir auch für die Entwicklung der europäischen Sicherheitspolitik.
({11})
Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir
jetzt stehen, muss ich sagen, dass die Bundesregierung
unsere zentralen Forderungen bisher sehr gut vertreten
hat. Ich glaube, dass wir, der Deutsche Bundestag, gut
beraten sind, wenn wir in der Öffentlichkeit so auftreten,
dass deutlich wird - dieses Hohe Haus muss auch immer
das nationale Interesse repräsentieren; ich habe die Erklärungen der FDP so verstanden, dass sie eindeutig das
unterstützt, was die Bundesregierung bisher gemacht
hat -, dass wir die Bundesregierung bei ihrem Versuch
unterstützen, Europa transparenter zu machen und ihm
eine demokratische Verfassung zu geben sowie die Menschenrechte, insbesondere den Minderheitenschutz, und
alles andere, was in der Grundrechte-Charta aufgeführt
ist, zu realisieren.
Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit!
Ich komme zum Schluss. - Dabei verdient die Bundesregierung unsere volle Unterstützung. Ich wünsche
ihr auf diesem Weg, was gute Argumente angeht, viel
Kraft und hoffe, dass man in der nächsten Woche über
die Ergebnisse des Europäischen Rates erfolgreich berichten kann.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
muss um Deutschland in Sorge sein. Es geht heute nicht
um das Geschmacksmusterreformgesetz; das steht morgen auf der Tagesordnung. Wir befinden uns am Vorabend der Verabschiedung der europäischen Verfassung,
eines Jahrhundertprojekts - es wurde immer wieder propagiert -, das tief greifende Strukturveränderungen, ja in
gewisser Weise eine Ablösung wesentlicher Teile des
Grundgesetzes zum Ziel hat und zur Folge haben wird.
Ein Blick nach rechts: Wir haben natürlich Verständnis dafür, dass der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister den polnischen Staatspräsidenten empfangen.
Zumindest ist ein anderer Bundesminister anwesend:
Herr Minister Struck, Sie bezeugen damit Interesse an
diesem zentralen Thema. Ein Blick nach links: Es ist beschämend, dass die Bundesratsbank leer ist, obwohl elementare Interessen der Bundesländer betroffen sind.
({0})
Wann, wenn nicht heute, sollten wir im Deutschen Bundestag unsere zentralen Anliegen für die Verhandlungen
morgen und übermorgen zur Sprache bringen? Ich wiederhole: Die Leere der Bundesratsbank ist beschämend.
({1})
Wir alle wollen den Erfolg der Regierungskonferenz.
Ich sage noch einmal: Wir müssen uns dabei ein Stück
weit gegenseitig ernst nehmen. Dieser Erfolg ist gewiss
schwierig genug. Wolfgang Schäuble hat darauf aufmerksam gemacht: Noch nie herrschte vor einem Gipfel
so viel Chaos.
({2})
Die Kleinen haben wir verängstigt, die Neuen brüskiert
und innerhalb des Parlaments herrscht kaum Konsens
über zentrale Punkte. Es gibt keine deutsche Verhandlungsposition. Das ist die Ausgangslage.
({3})
Der Gipfel in Brüssel sollte für eine klare Kompetenzaufteilung in der Verfassungsdebatte sorgen, zu mehr
Demokratie führen und die nationalen Parlamente stärken. Auf dieser Basis werden wir den Verfassungsentwurf bewerten. Wir geben heute keine abschließende
Bewertung ab. Wir von der Opposition werden dem
Bundeskanzler vier Zielvorgaben für die Verhandlungen
mitgeben, von deren Erreichung wir unsere Zustimmung
abhängig machen werden:
Erstens: eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen
Brüssel, Berlin und den Bundesländern.
({4})
Wir wollen mehr Föderalismus und weniger Zentralismus.
({5})
Diese Vorgabe erfüllt der jetzige Verfassungsentwurf
noch nicht.
Brüssel bekommt auf 30 Politikfeldern mehr Kompetenzen. Ich nenne als Beispiel die Koordinierung der
Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Es gibt eine
neue Generalklausel - jetzt „Flexiblitätsklausel“ genannt -, die wir nicht wollten. Hinzu kommen neue
Kompetenzen für Brüssel in der Gesundheits-, Energie-,
Tourismus-, Kultur- und Sportpolitik.
({6})
Ich könnte dies fortsetzen.
Im Hinblick auf all diese Politikbereiche herrschte in
diesem Hohen Hause bis vor wenigen Monaten Konsens
darüber, dass Brüssel in genau diesen Bereichen keinen
Kompetenzzuwachs erhalten sollte. Man war sich vielmehr einig, dass man im Sinne des Föderalismus Kompetenzen auf die Bundesländer und auf den Bundestag
zurückverlagern sollte. Eine gegenteilige Entwicklung
ist eingetreten.
({7})
Vor einem Jahr haben wir hier über das Thema Embryonenschutz eine hochinteressante Diskussion geführt.
Was aus Brüssel kommt, verstößt gegen nationale Regelungen.
Zuwanderung ist seit fünf Jahren hier in Deutschland
ein heißes Thema. Die entsprechenden Kompetenzen
werden in Zukunft nach Brüssel verlagert.
Die kommunale Wasserversorgung - die Ministerpräsidenten kämpfen gegen das, was auf sie zukommt; keiner von ihnen ist heute hier - soll zukünftig nicht mehr
in den Kommunen geregelt werden, sondern über Brüssel.
({8})
Darüber müssen wir reden. Das ist nicht der Ansatz,
den wir ursprünglich wollten.
Zweitens. Die europäische Verfassung - falls es überhaupt eine Verfassung ist - kann nicht ein wertfreies Europa begründen. Der jetzige Entwurf der Präambel des
Verfassungsvertrages ist beliebig und unzureichend. Wir
fordern den Gottesbezug in der Präambel. Aus unserer
Sicht ist eine europäische Verfassung, die nicht deutlich
auf die christlich-abendländische Wertetradition und die
daraus resultierende Verantwortung vor Gott Bezug
nimmt, unvollständig.
({9})
Der Gottesbezug spaltet nicht; er führt zusammen. Der
Gottesbezug verbindet Islam, Juden- und Christentum.
({10})
Eine Europäische Union ohne Identität verliert den Zusammenhalt für kommende Aufgaben.
Drittens. Die Mitgliedstaaten müssen Herren der
Verträge bleiben. Herr Müntefering, die Ratifizierung
dieses Vertragswerks muss durch dieses Hohe Haus erfolgen.
({11})
Jetzt befindet sich in der so genannten Passarelle durch
die italienische Ratspräsidentschaft ein Dokument auf
dem Tisch,
({12})
das etwas enthält, was von Fachleuten mit dem Begriff
des gemeinschaftsautonomen Vertragsänderungsverfahrens umschrieben wird. Das heißt, dass sich in Zukunft
die Staats- und Regierungschefs eigenständig neue
Rechte und Zuständigkeiten - durch eigenen Beschluss,
ohne Ratifizierung durch die nationalen Parlamente geben können.
({13})
Damit verlieren wir die Kompetenz. Wir sind nicht mehr
Herren der Verträge.
({14})
Damit wird Europa zum Staat und begründet eine neue
Staatlichkeit.
Das ist der italienische Vorschlag.
({15})
Dieser Vorschlag ist auf dem Tisch. Es liegt an uns, klar
zu machen, dass eine solche Regelung grundgesetzwidrig wäre und dazu führen müsste - das wollte ich sehr
deutlich machen -, dass der Deutsche Bundestag die Ratifizierung des Vertrags ablehnt.
Viertens. Die Aushebelung des Maastricht-Vertrags
ist - Peter Hintze und Wolfgang Schäuble haben das
deutlich gemacht - ein Angriff auf die Währungsordnung. Das ist für uns ein ganz zentraler Punkt. Die von
der italienischen Ratspräsidentschaft vorgelegten Vorschläge zur Änderung der Währungsverfassung sind ein
Anschlag auf den Euro und auf die Preisstabilität in Europa. Dazu möchte ich die jüngste Stellungnahme der
Bundesbank zitieren, die dem Bundeskanzler für den
Fall, dass es bei dieser Vorlage bleibt, empfiehlt, den
Verfassungsentwurf abzulehnen. Die Bundesbank
schreibt - ich zitiere aus dem Dokument vom 10. Dezember -:
Im Konvent bestand zunächst politischer Konsens,
die Substanz der Währungsverfassung des Vertrags
von Maastricht nicht zu ändern. Dennoch weicht
der nun vorliegende Verfassungsentwurf in entscheidenden Punkten vom Vertrag von Maastricht
ab: im Ziel der Preisstabilität für die gesamte
Union, in der Unabhängigkeit der teilnehmenden
nationalen Notenbanken, in der Stellung der Europäischen Zentralbank ({16}) in der Union und in
der Ermächtigungsklausel für erleichterte Änderungen des EZB-Statuts ...
Dies war nicht die Ausgangslage für den Beitritt
Deutschlands zur Währungsunion. Blieben die
oben genannten Punkte im Verfassungsentwurf unverändert, würde dies die Durchführung einer stabilitätsorientierten Geldpolitik erschweren.
So die Bundesbank.
({17})
Die Bundesbank kommt auch zu einem Fazit. Sollte
es bei dieser Vorlage bleiben, empfiehlt die Bundesbank
Ablehnung. - Wir schließen uns diesem Votum an.
({18})
Im Nizza-Vertrag ist - der Kollege Hintze hat es deutlich gemacht - das Verfassungsziel „nichtinflationäres
Wachstum“ enthalten. Warum streichen Sie dieses Verfassungsziel an prominenter Stelle in Art. 3? - Weil Sie
sich die Illusion machen, durch mehr Schulden Wachstum anzustoßen. Dafür brauchen Sie Spielraum in der
europäischen Währungsordnung.
({19})
Sie werden mit mehr Schulden aber mehr Inflation und
damit höhere Zinsen bekommen. Ich sage Ihnen: Genau
das ist Ihr Ziel. Aber Inflation ist der organisierte Diebstahl von Vermögen des kleinen Mannes. Diesen Weg
werden wir nicht mitgehen.
({20})
Herr Kollege Müller, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich fasse zum Schluss zusammen: Herr Müntefering,
Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, diese vier
Punkte sind für uns elementar.
({0})
Der Verfassungsentwurf liegt jetzt auf dem Tisch. Es
gibt leider keine Positionierung der Bundesregierung.
Dass es vor einem Gipfel keine Positionierung der Bundesregierung in den Kernpunkten gibt, haben wir noch
niemals erlebt.
({1})
Wir werden das Ergebnis vom Sonntag an diesen vier
Punkten messen und dann entscheiden, ob wir ratifizieren können. Wir wollen den Erfolg, wir haben präzise
Vorstellungen und wir wünschen den Verhandlungsführern viel Erfolg.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Staatsminister Hans Martin Bury.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch diese Debatte spiegelt es wider: Es ist noch keineswegs ausgemacht, ob der bevorstehende europäische
Gipfel tatsächlich ein Höhepunkt europäischer Politik
sein wird. Noch zaudern manche Mitgliedstaaten, den
zukunftsweisenden Vorschlägen des Konvents die notwendige Unterstützung zu geben. Zugleich gibt es aber
im Herzen Europas Länder, die gewillt sind, den Weg
der Integration auf jeden Fall weiter zu gehen. Wir wollen diesen Weg nach Möglichkeit im Rahmen der neuen
Verfassung beschreiten. Das bedeutet aber auch, dass die
Verfassung den geeigneten Rahmen dafür bieten muss.
Es muss uns gelingen, nationale Egoismen zu überwinden und Mut zu machen. Die europäische Integration
war immer auch ein Wagnis: der Gemeinsame Markt,
der Wegfall der Binnengrenzen und die gemeinsame
Währung. Wer wagt, gewinnt! Alle Mitgliedstaaten profitieren von einem starken Europa.
Europa kann nur gewinnen, wenn sich die Staats- und
Regierungschefs von gemeinsamen Visionen leiten lassen und das Interesse an der Fortentwicklung Europas
ihr Denken und Handeln bestimmt. Dabei steht viel auf
dem Spiel; denn die Einigung Europas kann nur gelingen, wenn die EU der 25 handlungsfähiger und transparenter wird, wenn die demokratische Legitimation der
europäischen Institutionen gestärkt wird und sie näher an
die Bürgerinnen und Bürger rücken, wenn die EU begreift, dass die Stärke Europas in seiner Vielfalt liegt.
({0})
In Vielfalt geeint - dieses Motto hat der Konvent für die
Europäische Union vorgeschlagen. Zum ersten Mal in
der Geschichte, so die britische Abgeordnete Gisela
Stuart in der Abschlusssitzung des Konvents, wird Europa nicht mit Kreuz und Schwert geeint, sondern friedlich in freier Entscheidung und - das füge ich hinzu mit der Vision eines starken Europas in einer besseren
Welt.
Auf dem Europäischen Rat wird die EU erstmals ein
eigenes Sicherheitskonzept verabschieden, das die spezifischen europäischen Erfahrungen widerspiegelt und
deshalb die ganze Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten nutzt, über die Europa inzwischen verfügt. Dazu gehört politische Überzeugungsarbeit, wie sie Deutschland, Frankreich und Großbritannien geleistet haben, als
sie den Iran von der Notwendigkeit eines nachprüfbaren
Verzichts auf die Entwicklung von Kernwaffen überzeugt haben. Dazu gehören wirtschaftliche Sanktionen,
Boykott- oder Embargomaßnahmen. Dazu gehört humanitäre Hilfe, weil sie Entwicklungsperspektiven eröffnet
und damit fundamentalistischen Tendenzen entgegenwirkt. Klar ist aber auch, meine Damen und Herren, dass
da, wo Prävention versagt, der Einsatz militärischer Mittel nicht ausgeschlossen werden kann. Deshalb behält
sich die EU in ihrer Sicherheitsstrategie den Einsatz militärischer Mittel vor; er muss aber im Einklang mit dem
Völkerrecht stehen, das wir stärken wollen. Die Europäische Union muss, auch durch die neue Verfassung, besser in die Lage versetzt werden, ihren Werten und Zielen
Geltung zu verschaffen.
Meine Damen und Herren, auch wenn manche das
noch nicht begriffen haben, ist klar: Die EU ist kein
Geldautomat. Sie ist auch weit mehr als ein gemeinsamer Markt. Sie ist vielmehr eine Union gemeinsamer
Werte und Ziele, eine Union der Staaten und eine Union
der Bürger. Auch die institutionellen Regelungen der
Verfassung müssen diesen Charakter der Europäischen
Union aufnehmen. So ist die vom Konvent vorgeschlagene doppelte Mehrheit nicht deshalb für uns von so
großem Interesse, weil sie das Gewicht bevölkerungsreicher Staaten im Rat erhöht, sondern deshalb, weil sie
eine Balance zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten schafft, weil sie demokratische Prinzipien achtet,
weil sie logische Konsequenz der Staaten- und Bürgerunion ist und weil sie Gestaltungsmehrheiten erleichtert,
Blockaden schwieriger macht und damit zur Handlungsfähigkeit der Europäischen Union beiträgt.
Ich würde mit Blick auf die Bürgerinnen und Bürger
nicht unterschätzen, dass es zum Wesen der Demokratie
gehört, dass nachvollzogen werden kann, wie Entscheidungen zustande kommen. Das wäre nach dem NizzaSchlüssel kaum der Fall, die doppelte Mehrheit dagegen
ist einfach und transparent und stärkt damit auch die Akzeptanz europäischer Entscheidungen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unseren
neuen Partnern klar machen, dass das Bündeln nationaler Souveränität in der Europäischen Union nicht weniger, sondern mehr politische Gestaltungsmöglichkeiten
bringt. Die Kommission hat uns die Argumentation in
den letzten Wochen nicht gerade leichter gemacht. Es
darf nicht der Eindruck entstehen, als entschieden da
bürgerferne Technokraten. Es stimmt bedenklich, wenn
die Kommission binnen weniger Tage gleich mehrfach
Konflikte verschärft, statt sie lösen zu helfen. Das gilt
für die Forschung an embryonalen Stammzellen, für deren Förderung ein Kompromiss zum Greifen nahe war.
Das gilt für die Übernahmerichtlinie, deren ursprünglicher Entwurf die deutschen Unternehmen bei europaweiten oder globalen Übernahmen benachteiligt hätte.
Das gilt für das LKW-Fahrverbot, bei dem eine seit Jahrzehnten bewährte Regelung gekippt werden sollte. Das
gilt auch für den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Was für eine realitätsferne Debatte! Zum Abschluss
der Haushaltsberatungen beklagte Herr Merz hier eine
angebliche Schwächung des Euro. Am selben Tag erklärte der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen
Groß- und Außenhandels, Herr Börner, er befürchte,
dass der starke Euro die konjunkturelle Erholung gefährden könne.
({2})
Herr Hintze ist in seiner heutigen Rede - noch vehementer, als er für die Aufnahme des Gottesbezuges in der
Verfassung gekämpft hat - um das Goldene Kalb der
Preisstabilität getanzt.
Meine Damen und Herren, die Unabhängigkeit der
Europäischen Zentralbank und das vorrangige Ziel der
Preisstabilität sind in Teil I der Verfassung - in
Art. 29 - festgeschrieben. Die Preisstabilität ist darüber
hinaus in Teil III in den Art. 69 und 77 genannt. Damit
ist es auch gut. Auch im deutschen Grundgesetz steht in
Art. 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - und
nicht: Die Preisstabilität ist unantastbar.
({3})
Fakt ist: Erstens hat der Kurs des Euro nicht gelitten,
sondern in Relation zum Dollar sogar weiter zugelegt.
Der Außenwert ist stabil. Zweitens haben wir eine Inflationsrate von gerade 1,2 Prozent, faktisch Preisstabilität.
Drittens ist das Zinsniveau noch immer niedrig. Die Stabilität ist nicht gefährdet.
Aber wir haben im dritten Jahr hintereinander kein
Wachstum in Europa. Daher gilt es, die sich abzeichende
Konjunkturbelebung zu unterstützen und nicht abzuwürgen.
({4})
Der Kollege Gloser hat gerade das Stichwort genannt:
Mit den Niederlanden gibt es leider ein aktuelles Beispiel dafür, dass gerade eine prozyklische Politik die
Gefahr birgt, nicht nur Wachstums-, sondern auch Stabilitätsziele zu verfehlen. Deshalb gilt es, die Wachstumsimpulse zu verstärken und die Konsolidierung mit dem
einsetzenden Wachstum weiterzuführen. Wer nur eines
der beiden Ziele im Blick hat, wird beide verfehlen.
({5})
Es geht uns aber um mehr als konjunkturelle Impulse,
nicht darum, Strohfeuer zu entzünden, sondern darum,
die strukturellen Voraussetzungen für mehr Wachstum
und Beschäftigung zu verbessern - in Deutschland mit
der Umsetzung der Agenda 2010. Meine Damen und
Herren von CDU/CSU und FDP, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Lissabon-Prozess mit dem Ziel, Europa zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum zu machen.
Überall in der Welt wird dieser Zusammenhang positiv
gesehen. Lösen Sie deshalb die Bremse im Bundesrat,
damit die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt - in
Deutschland und in Europa!
({6})
Der Europäische Rat wird morgen die Wachstumsinitiative beraten. Die Bundesregierung legt großen Wert
darauf, im Rahmen dieser Initiative weniger in Beton,
mehr in Köpfe und Können zu investieren: in Bildung,
Forschung und Entwicklung, in die Zukunft unseres
Kontinents - für ein Europa, das demokratisch handlungsfähig, politisch und wirtschaftlich stark ist, ein Europa, das seine Werte und Traditionen achtet, sie aber
nicht zur Abgrenzung oder gar als Waffe in der politischen Auseinandersetzung nutzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt gute Gründe
für die Aufnahme eines Gottesbezuges in die europäische Verfassung, und zwar unabhängig von den individuellen Glaubensüberzeugungen. Denn alle, zumeist totalitären Staaten, die sich der menschlichen Grenzen
nicht bewusst waren, haben allzu oft die Menschen ins
Unglück gestürzt. Doch wir wissen auch, dass gerade in
Frankreich die konsequente Trennung von Religion und
Staat zu den grundlegenden Prinzipien der Republik
zählt. Ich halte daher die Überlegung der Präsidentschaft
für interessant, nicht nur das christliche Erbe Europas,
sondern auch den säkularen Charakter der Institutionen
der Mitgliedstaaten in der Präambel zu betonen. Die
Bundesregierung unterstützt auch hier die Präsidentschaft in ihrem Bemühen, in den abschließenden Beratungen zu einem konsensfähigen Vorschlag zu kommen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Erweiterung
rückt Deutschland geographisch in die Mitte der Europäischen Union. Mit der Erweiterung und Vertiefung
wird Europa im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger von einem Randthema mehr und mehr in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken. Umso mehr gilt es,
auf dem Gipfel in Brüssel die Weichen für ein Europa
der Bürgerinnen und Bürger zu stellen, für ein Europa,
das mit den Veränderungen in unserer Gesellschaft
Schritt hält und auf globale Herausforderungen überzeugende Antworten gibt.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Heute Morgen haben Bürgerinnen und Bürger vor
dem Reichstag für einen Volksentscheid über die europäische Verfassung demonstriert. Der Verein Mehr Demokratie e. V. hatte, wie sich einige Kolleginnen und
Kollegen erinnern werden, bereits am 13. März dieses
Jahres 100 000 Unterschriften für eine Volksabstimmung über die europäische Verfassung an die Mitglieder des Deutschen Bundestages übergeben.
Die Grünen haben auf ihrem letzten Parteitag beschlossen, eine Volksabstimmung über die europäische
Verfassung durchzuführen. Merkwürdig ist daran allerdings - das spielte heute bereits eine Rolle -, dass in diesem Haus vor dem Parteitag der Grünen auf Antrag der
FDP eine namentliche Abstimmung über einen Volksentscheid über die europäische Verfassung durchgeführt
wurde, den sowohl die CDU/CSU als auch die SPD und
die Grünen abgelehnt haben. Wie ist denn das zu erklären, meine Damen und Herren? Fürchten Sie etwa eine
Ablehnung dieser Verfassung?
Aus der Sicht der PDS gibt es drei schwer wiegende
Gründe, die europäische Verfassung in ihrer jetzigen
Form abzulehnen: Erstens. Die Verfassung wird mit jeder neuen Verhandlungsrunde undemokratischer. Zweitens. Die Verfassung wird mit jeder neuen Verhandlungsrunde militärischer. Drittens. Die Verfassung wird
mit jeder neuen Verhandlungsrunde unsozialer.
Zum Demokratieabbau. Besonders gravierend ist,
dass die Staats- und Regierungschefs im Konventsentwurf einen Demokratieabbau vornehmen wollen. So
wird es wahrscheinlich keinen öffentlich tagenden Legislativrat geben. Die Europäische Union wird somit
weiterhin ihre Gesetzgebung hinter verschlossenen Türen betreiben. Völlig unakzeptabel ist auch das Vorhaben, wesentliche Haushaltsrechte des Europäischen Parlaments zu beschneiden.
({1})
Zur Militarisierung. Abgesehen davon, dass schon
der Konventsentwurf darauf gerichtet war, die EU zu einer Militärmacht zu entwickeln, haben die Außenminister auf ihrem jüngsten Treffen in Neapel im Hinblick auf
die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
entschieden, die EU künftig stärker der NATO zuzuordnen. Tatsache ist doch: Die EU-Sicherheitspolitik soll in
Zukunft vor allem eine militärische Interventionspolitik
sein, ob direkt unter dem Dach der NATO oder im Rahmen einer strukturierten Zusammenarbeit einiger Mitgliedstaaten der EU. Das Protokoll zur strukturierten Zusammenarbeit der Außenminister hält genau an diesem
zusätzlichen Militarisierungsschritt fest. Das halten wir
für nicht hinnehmbar.
({2})
Herr Schäuble hat in dieser Debatte beklagt, dass die
Bundeswehr vernachlässigt wird. Ich darf Sie an die
Haushaltsdebatte erinnern: Wir haben festgestellt, dass
in etlichen Teilen des Verteidigungshaushaltes ein nicht
unbeträchtlicher Aufwuchs zu verzeichnen ist. Wir als
PDS im Bundestag - Petra Pau und ich - haben einen
Antrag gestellt, in dem wir ausschließlich an Positionen,
die sich von 2003 zu 2004 erhöht haben, dargestellt haben, dass man allein durch das Einfrieren dieser Positionen auf dem Niveau von 2003 612 Millionen Euro hätte
einsparen können. Das halten wir für den richtigen Weg,
nicht aber einen weiteren finanziellen Ausbau der Bundeswehr.
({3})
Zum Sozialabbau. Die europäische Verfassung wird,
sollte sie in ihrer jetzigen Form angenommen werden,
zwei völlig unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien
enthalten: Soziale Marktwirtschaft und Vollbeschäftigung werden, wie vom Konvent formuliert, in Teil I stehen, eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
sowie lediglich ein hohes Beschäftigungsniveau in
Teil III. Das ist ein Widerspruch, der aufgelöst werden
muss. Ansonsten kann man einer solchen Verfassung
nicht zustimmen.
Für uns steht fest: Zum derzeitigen Entwurf der EUVerfassung kann man nur Nein sagen. Für uns als PDS,
die sich für den europäischen Verfassungsprozess - gerade durch unser Mitglied Sylvia-Yvonne Kaufmann im
europäischen Konvent - besonders engagiert hat, war
das keine einfache Entscheidung. Aber eine Verfassung,
die in entscheidenden Punkten hinter den berechtigten
Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zurückbleibt,
kann nicht die Grundlage eines zukünftigen Europas
sein.
Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zum
Antrag der CDU über die Aufnahme des Gottesbezugs,
über den wir namentlich abstimmen werden, machen.
({4})
Wir lehnen den Antrag über die Aufnahme des Gottesbezuges in die Verfassung ab. Das ist sicher nicht überraschend, ich kann unser Verhalten aber auch begründen.
Wir treten nämlich für die Trennung von Kirche und
Staat, wie es sie auch in vielen anderen europäischen
Ländern gibt, ein. Darüber hinaus stört uns an dem Antrag, dass er so funktional daherkommt. Man spürt die
Absicht und ist verstimmt. Dieser Antrag soll ein weiterer Punkt in der Propaganda gegen die Verhandlungen
mit der Türkei sein. Auch aus diesem Grunde lehnen wir
ihn ab.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn der Europäische Rat in Brüssel auf Vorschlag von
Javier Solana eine europäische Sicherheitsstrategie verabschiedet, darf diese nicht als Gegengewicht zur NATO
verstanden werden. Sie muss die transatlantische Sicherheitspartnerschaft stärken.
({0})
Für die CDU/CSU bleibt die NATO das vordringliche
Instrument, um deutsche Sicherheitsinteressen zu verfolgen. Dazu hat der Außenminister in seiner Regierungserklärung ein verbales Bekenntnis abgelegt. Leider hat die
Bundesregierung diesen Grundkonsens deutscher und
europäischer Außen- und Sicherheitspolitik wiederholt
durch taktische Spiele infrage gestellt.
Im Februar dieses Jahres hat eine Gruppe europäischer NATO-Mitglieder unter deutsch-französischer
Führung die Vorbereitung auf eine eventuell erforderliche Verteidigung der Türkei blockiert, damit die NATO
handlungsunfähig gemacht und unseren Sicherheitsinteressen geschadet.
({1})
Im April dieses Jahres haben Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg auf dem „Pralinen-Gipfel“ den Aufbau einer europäischen militärischen Führungsstruktur mit einer von der NATO unabhängigen
Planungszentrale vorgeschlagen. Auch das hat die gemeinsamen europäischen Sicherheitsinteressen nicht befördert, sondern ihnen geschadet.
Viele EU-Partner und mittelosteuropäische Beitrittsländer sind nicht bereit, sich in Fragen der europäischen
Integration von Deutschland und Frankreich bevormunden zu lassen. Der Kollege Schäuble hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass Deutschland und Frankreich Europa
nicht spalten dürfen, sie müssen vielmehr die europäische Integration befördern. Besonders Menschen aus
Grenzräumen wie unsere frühere Kollegin Ortrun
Schätzle haben darauf immer besonderen Wert gelegt.
({2})
Das gilt insbesondere für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So wie wir jahrzehntelang darauf bedacht waren, die USA und Frankreich nicht als strategische Alternativen zu sehen, so dürfen wir Polen und die
anderen neuen Mitglieder nicht in die Situation bringen,
sich zwischen transatlantischer und europäischer Sicherheit entscheiden zu müssen. Das schließt verteidigungspolitische Initiativen im EU-Rahmen keinesfalls aus, im
Gegenteil: Sie sind sogar angesichts der Schwäche der
Europäer, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten, zwingend erforderlich.
Es kann allerdings nicht unser oberstes Ziel sein, ohne
Konsultationen in der NATO, das heißt vor allem ohne
die Vereinigten Staaten über den Einsatz militärischer
Mittel entscheiden zu können. Vielmehr müssen
Deutschland, Frankreich und Großbritannien gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um die Bündnisfähigkeit mit den Vereinigten Staaten wiederherzustellen
und die volle Leistungsfähigkeit der EU-Eingreiftruppe
und der eigenen Streitkräfte zu erreichen. Nur so kann
der europäische Pfeiler der NATO einen eigenständigen
Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leisten.
({3})
Dazu brauchen wir kein europäisches Hauptquartier.
Dazu brauchen wir ein gemeinsames strategisches Konzept, einen strukturierten politischen Abstimmungsprozess in der NATO und für EU-Operationen den vollen
Zugriff auf die Führungsinstrumente des nordatlantischen Bündnisses. Wenn wir im Interesse der gemeinsamen Sicherheit eine militärische Operation beschließen,
ist die erste Option die NATO als Ganze, die zweite Option die EU unter Nutzung von NATO-Fähigkeiten, also
„Berlin plus“, und die dritte Option die EU unter Nutzung nationaler Führungsstrukturen nach Konsultationen
in der NATO.
({4})
Die Bundesregierung hat sich mit dem „Pralinen-Gipfel“ auf einen Irrweg begeben, der Europa spaltet. Wenn
sie bei der Formulierung der europäischen Sicherheitsstrategie zu einem deutlichen Bekenntnis zur strategischen Zusammenarbeit zwischen EU und NATO zurückfindet, hat sie unsere volle Unterstützung.
({5})
Wir verstehen die Nordatlantische Allianz nicht als
Instrument amerikanischer Führung. Sie ist das effektivste Instrument zur Durchsetzung gemeinsamer Sicherheitsinteressen. Auch die Vereinigten Staaten von Amerika bleiben zum Schutz vor globalen Bedrohungen trotz
ihrer militärischen Dominanz auf ihre europäischen Verbündeten angewiesen. Deshalb müssen auch sie sich im
Interesse der eigenen Sicherheit systematisch mit den
europäischen Partnern abstimmen und sich voll und ganz
in den NATO-Konsultationsprozess einbringen. Die
Nordatlantische Allianz ist eine einzigartige Sicherheitspartnerschaft. Sie ist für Deutschland, für Europa und für
Amerika unverzichtbar. Die EU muss das europäische
Instrumentarium zur Bekämpfung der neuen Bedrohungen stärken, um das Bündnis insgesamt zu stärken.
({6})
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür nicht
nur in Brüssel einzusetzen, sondern auch hier, wenn es
um den Verteidigungshaushalt und die Ausstattung der
Bundeswehr geht.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Ich bin mir sicher, dass mir
das ganze Haus wenigstens bei dem Ersten, was ich
sage, zustimmen wird: Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich
zu Ihrem heutigen Geburtstag.
({0})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben vorhin
gesagt, dass am Anfang nur die FDP für die Erweiterung
der Europäischen Union gewesen sei. Ich muss Ihnen da
wirklich widersprechen. Ich weiß, dass Sie genauso wie
ich und viele andere in diesem Hause von Anfang an dafür waren und dass wir gemeinsam die Schwierigkeit
hatten, manch andere in Westeuropa davon zu überzeugen, dass ohne die bald neuen Mitgliedstaaten Europa
unvollständig wäre. Es geht hier in Wahrheit gar nicht
um eine Erweiterung, sondern um die Vervollständigung Europas.
({1})
Das will ich noch einmal klar sagen. Hier sind wir inhaltlich auf der gleichen Linie, aber man sollte das nicht
nur für sich selbst in Anspruch nehmen.
Ein weiterer Punkt, auf den ich zu sprechen kommen
möchte, betrifft den Antrag der CDU/CSU bezüglich der
Verankerung des Gottesbezuges im europäischen Verfassungsvertrag. Der eine oder andere wird mir abnehmen, dass auch ich sehr dafür wäre, den Gottesbezug in
noch stärkerer Weise in der europäischen Verfassung zu
verankern und nicht nur, wie es jetzt vorgesehen ist, die
Rolle der Kirche nach der jeweils verschiedenen
Rechtstradition in Europa anzuerkennen. Das spielt gerade bei uns in Deutschland eine wichtige Rolle. Ich
wäre sehr für eine Anerkennung und einen Bezug auf
Gott, weil damit deutlich würde, dass wir als Menschen
und damit auch als Politiker nicht allmächtig sind, nicht
über alles verfügen und alles machen können. Ich denke,
das ist ganz wichtig. Deshalb würde ich das sehr begrüßen.
({2})
Ich muss aber gleichzeitig sagen, dass ich es für ein
Problem halte, wenn man glaubt, die Verfassungsgebung
an dieser Frage scheitern lassen zu können. Das halte ich
für hochproblematisch. Ich sehe auch nicht den Zusammenhang, der hier hergestellt worden ist, nämlich einen
möglichen Ausschluss islamischer Traditionen. Als
Theologe muss ich sagen: Ohne die arabischen Theoretiker, ohne die arabischen Wissenschaftler hätten wir viele
Texte über die alte griechische und römische Tradition
sowie die theologische Entwicklung des christlichen Europas und auch des Mittelalters nicht gehabt. Auch die
islamische Welt gehört in die Tradition, insbesondere in
die geistesgeschichtliche Tradition Europas hinein.
({3})
Das gilt unabhängig davon, dass schon heute viele Millionen Menschen, die sich zum Islam bekennen, zu Europa gehören und integraler Bestandteil Europas sind.
Der Gottesbezug muss also so formuliert werden, dass
auch sie sich darin wiederfinden können. Leider muss
ich gestehen, dass die Formulierung in Ihrem Antrag
dem nicht ganz angemessen ist, weshalb ich sehr bedauere, ihn heute ablehnen zu müssen.
Von polnischer Seite wurden übrigens gute Vorschläge eingebracht, die diese verschiedenen Punkte
sehr gut berücksichtigt haben. Ich wünsche mir sehr,
dass es gelingt, hier gemeinsam mit den Bemühungen
der Bundesregierung doch noch zu einem Ergebnis zu
kommen.
({4})
Wenn sich Frankreich in diesem Punkt bewegen würde,
wäre das durchaus ein, wie ich denke, guter Schritt nach
vorn.
({5})
Nun möchte ich auf den Aspekt der Sicherheit zu
sprechen kommen. Am Anfang möchte ich Javier
Solana meinen Dank aussprechen, der während der
deutschen Präsidentschaft als damaliger Generalsekretär
der NATO für das Amt des Hohen Vertreters der Europäischen Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorgeschlagen worden ist und für die Entwicklung der Sicherheitspolitik der EU eine ganz
wichtige Rolle gespielt hat. Er hat das Konzept, das von
uns allen in großer Breite getragen wird, vorgelegt und
der europäischen Außenpolitik ein Gesicht gegeben.
Herzlichen Dank an Javier Solana!
({6})
Wenn man von der europäischen Sicherheit spricht,
muss man auch von der NATO sprechen. Ich halte es für
wichtig, das gerade an dieser Stelle deutlich zu machen;
denn bisher ist die NATO die einzige multilaterale Institution, die weltweit militärisch handlungsfähig ist. Wir
wissen, dass die Gefahren global sind. Deshalb müssen
gerade wir als Europäer ein großes Interesse an einer
starken und handlungsfähigen NATO haben. Deshalb
wiederum ist es, wie ich glaube, nicht eine Gefahr, wenn
sich Europa stärker sicherheitspolitisch definiert. Vielmehr besteht die Gefahr für die NATO darin, dass man
sie nicht angemessen nutzt. Darin sehe ich für die Zukunft wirklich ein Problem.
Wenn wir uns ansehen, dass wir im Kampf gegen den
Terrorismus zwar Art. 5 beschlossen, ihn danach aber
nicht in Anspruch genommen haben - in den USA war
man offensichtlich der Meinung, dass die NATO dazu
nicht genug beitragen könne -, dann ist festzustellen,
dass das Problem für die Zukunft in der Frage besteht,
ob die USA wirklich Sicherheitspolitik im Rahmen der
NATO betreiben wollen. Das wollen wir hoffen, sollten
wir einklagen und mit ihnen besprechen. Dies wird die
NATO stark machen. Wir als Europäer werden ein Interesse daran haben.
Gerade in diesen Tagen und Wochen hört man aus den
USA bezüglich der europäischen Pläne bzw. des Projekts der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer wieder starke, kritische Stimmen.
Ich muss gestehen, dass ich dies für falsch halte. Ich
denke, dass es völlig selbstverständlich ist, dass ein Europa, das sich zu einer politischen Union entwickelt,
auch eine sicherheitspolitische Identität aufbaut. Alles
andere wäre absurd. Dabei geht es zum Beispiel um die
Solidaritätsklausel bei terroristischen Angriffen oder
ähnlichen Katastrophen, die jetzt glücklicherweise im
Verfassungsentwurf enthalten ist. Wir hoffen, dass wir
auch hinsichtlich der Beistandsformel zu einem Ergebnis
kommen werden. Denn da hier eindeutig Bezug auf die
NATO genommen wird, wären wir als Europäer - ich
möchte es nicht drastisch ausdrücken - geradezu „verrückt“, wenn wir dieses Instrument nicht für uns nutzen
würden.
({7})
Andererseits muss klar sein: Wenn die USA bzw. die
NATO entscheidet, - ohne die USA wird die NATO
nichts tun -, dass sie in bestimmten Bereichen nicht engagiert sein möchte, dass darüber in Europa entschieden
werden soll, weil es europäische Angelegenheiten betrifft, dann müssen wir gemeinsam handlungsfähig sein.
Wir alle wissen, dass wir in dieser Hinsicht noch viel zu
tun haben.
Was die Beistandsklausel angeht, muss ich feststellen: Ich hielte es wirklich für absurd, zu sagen, dass man
einem Staat, der sich so stark integriert, wie es die Mitgliedstaaten der Europäischen Union tun, die sich jetzt
sogar eine gemeinsame Verfassung geben, nicht beistehen würde, wenn er angegriffen würde oder in Gefahr
geriete. Deshalb gehört die Beistandspflicht für mich
notwendigerweise in eine europäische Verfassung. Sie
ist keine Konkurrenz zu einer entsprechenden Beistandsverpflichtung der NATO und widerspricht ihr nicht.
({8})
Es wird in Zukunft das Amt eines europäischen Außenministers und einen europäischen Auswärtigen
Dienst geben; und das ist gut so. Ich kann nur hoffen,
dass unser Finanzminister für unseren diplomatischen
Dienst so viel Geld zur Verfügung stellen wird, dass er
ausreichende Ressourcen an Europa abgeben kann.
Denn ich denke, der europäische Auswärtige Dienst
wird einen großen Bedarf haben.
In den Bereichen, in denen die europäische Außenpolitik selbstständig handeln muss, bedarf es eigener Planungskapazitäten. Zusammen mit Frankreich und Großbritannien haben wir in dieser Frage eine Lösung
gefunden. Dies wird, wie ich glaube, aber nur der Anfang sein. Wir müssen selbstständig handeln und denken. Denn was wäre, wenn in Zukunft die beiden Organisationen, NATO und EU, parallel und selbstständig
handeln müssten? Wenn die EU völlig abhängig von den
Planungskapazitäten der NATO wäre, aber diese in einer
eigenen Operation gebunden wären? Dann wäre die EU
zur Untätigkeit verurteilt.
({9})
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich es unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten für wichtig ansehe,
dass bereits im kommenden Jahr eine Agentur für Rüstung, Forschung und Beschaffung errichtet wird. Diesen
Vorschlag haben wir gemeinsam mit Frankreich vorgelegt. Gerade die Rüstungspolitik und die Beschaffungspolitik, die wesentlich mit unserer Wirtschafts- und
Forschungspolitik zusammenhängen, müssen eine europäische Dimension bekommen. Wir in Europa können
uns nicht dauerhaft damit abfinden, nur amerikanische
Waffen zu kaufen.
Herr Kollege Meckel, Sie müssen zum Schluss kommen. Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich komme zum Schluss. - Ich halte es für richtig,
dass wir Europäer mit dem Konzept Solanas eine eigene
europäische Sicherheitsstrategie entwickelt haben. Ich
hoffe sehr, dass wir sie verabschieden und gleichzeitig
mit den Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO in einen intensiven Dialog über die Strategie für unsere gemeinsame Sicherheit eintreten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht können
Sie den Geräuschpegel so weit senken, dass wir den letzten Redner noch verstehen können. - Als letztem Redner
in dieser Debatte gebe ich das Wort dem Kollegen
Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, alles Gute zum Geburtstag. - Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Als Grundlage Europas zählt der jetzt vorliegende Verfassungsentwurf Werte auf, die von der griechischen und
der römischen Zivilisation bis zur Philosophie der Aufklärung reichen. Wir halten es für absurd, dass in dieser
Aufzählung das Christentum als Kernelement der europäischen Geistesgeschichte nicht genannt wird.
({0})
Egal ob man katholisch oder evangelisch ist: Papst
Johannes Paul II. hat Recht, wenn er sagt, man müsse
auf jeden Versuch reagieren, der den Beitrag des Christentums aus dem Aufbau des neuen Europas streichen
wolle. Dieser Hinweis auf die christliche Tradition ist
kein Hinweis auf fremde Vergangenheiten, sondern ist
zeitgeschichtlich hochaktuell; man muss nur an die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas denken. Der
Gottesbezug war wesentlich für die Menschen, die an
den Informationsandachten in der Gethsemane-Kirche
im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg teilgenommen haben. Er war wesentlich für die katholischen Arbeiter, die neun Jahre zuvor ein riesengroßes Holzkreuz
vor der staatlichen Werft in Danzig aufrichteten, was in
die Geschichte als „Wunder von Danzig“ eingegangen
ist.
({1})
Grundlage für diese Taten ist das Bekenntnis, dass wir
uns des Evangeliums von Jesus Christus nicht schämen.
Das wollen wir über alle Parteigrenzen hinweg zum
Ausdruck bringen.
({2})
Der Gottesbezug ist eine verbindende Klammer und
ein Ausdruck versöhnter Verschiedenheit. Der Direktor
der europäischen Rabbinerkonferenz, Rabbiner Moshe
Rose, hat erklärt, dass der Gottesbezug in der europäischen Verfassung vonseiten der jüdischen Bevölkerung
als erstrebenswert angesehen werde und ausdrücklich
gewünscht sei. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Dr. Nadem Elyas, hat Ähnliches an
Valéry Giscard d’Estaing geschrieben, nämlich dass es
sich von selbst verstehe, dass es die europäischen Muslime begrüßen würden, wenn im künftigen europäischen
Verfassungsdokument auf Gott und das religiöse Erbe
Bezug genommen würde.
({3})
Vorhin wurde von einigen Rednern gesagt, es gebe
hier eine Äquidistanz zwischen dem Vatikan auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite. Das ist nur die
halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, dass sich die
überwiegende Zahl der europäischen Länder für die Aufnahme dieses Gottesbezugs - ähnlich wie bei uns im
Grundgesetz von Theodor Heuss formuliert - ausgesprochen hat. Irland, Litauen, Malta, Portugal, Polen, Spanien, die Slowakei, Italien, Ungarn, die Niederlande, Österreich, Luxemburg und Lettland haben sich
ausdrücklich für einen Gottesbezug ausgesprochen bzw.
erheben keine Einwände. Ich glaube nicht, dass der
Deutsche Bundestag hier neutral sein kann. Wir müssen
Farbe bekennen. Dem dient dieser Antrag.
({4})
- Weil ich Zwischenrufe der geschätzten Kollegen der
SPD gehört habe, erinnere ich daran: Auch das Godesberger Programm stützt sich für Ihre eigenen Grundwerte nicht nur auf den Humanismus, sondern ausdrücklich auch auf das christliche Erbe. Wir sagen: Die
europäische Verfassung sollte nicht hinter das Programm
der SPD zurückfallen.
({5})
Ein berühmter Journalist sagte dieser Tage im Zusammenhang mit Weihnachten - ich zitiere -: Gott fand daDr. Peter Gauweiler
mals keinen Raum in der Herberge und bekommt heute
keinen Platz in der EU-Verfassung.
({6})
- Verehrter Kollege, was heißt hier „Pharisäer“? Wir legen Ihnen hier einen Antrag vor, zu dem Sie Ja oder
Nein sagen können. Das ist immer noch viel besser, als
den Papst zu besuchen, in einer Rede 15-mal „Heiliger
Vater“ zu sagen und dann diesem Antrag nicht zuzustimmen.
({7})
Außerdem hat sich Ihr eigener Bundeskanzler in der
Haushaltsdebatte ausdrücklich dafür ausgesprochen. Er
sagte: Diejenigen in Europa, die dafür eintreten, den
Gottesbezug in die europäische Verfassung aufzunehmen, haben ein größeres Recht als diejenigen, die ihn
streichen wollen. Wir wollen nichts anderes, als dass Sie
Gerhard Schröder hier ausnahmsweise einmal geschlossen Recht geben. Ich weiß nicht, warum man so lange
darüber reden muss.
({8})
Ein Europa, dem der Geist seiner Kirchen und Kathedralen keine Erwähnung mehr wert ist, hätte seine Seele
verloren. Kein Euro und keine Denkmalspflege auf der
Welt könnten darüber hinwegtäuschen.
Vielen Dank.
({9})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Joschka Fischer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte dem verehrten Kollegen Gauweiler vorab kurz
auf seine Bemerkung bezüglich der Häufigkeit, wie oft
man den Heiligen Vater „Heiliger Vater“ nennt, antworten. Als Ministrant kann ich Ihnen nur sagen: Das hat
man früh eingeübt und das bleibt, auch nachdem man
dieses hohe Amt aufgegeben hat, bestehen.
Nun zur Sache. Ich glaube, es ist nicht angebracht, in
einer Sache, in der wir uns eigentlich einig sind, so zu
streiten.
({0})
- Ich kann Ihnen seitens der Bundesregierung nur noch
einmal unsere Position versichern. Da es ein solch ernstes Thema ist, frage ich mich allerdings, warum es in
dieser Form, mit dieser Konfrontation und in dieser
Sprache, vorgetragen wird.
({1})
Ich kann Ihnen an diesem Punkt sagen: Ich persönlich
werde dem Antrag der Union nicht zustimmen.
({2})
Ich kann Ihnen aber ebenfalls versichern, dass die Bundesregierung bei dem anstehenden Konvent - das haben
der Bundeskanzler und ich immer wieder gesagt - mit
der Position, die zum Beispiel in unserem Grundgesetz
verankert ist, oder mit ähnlichen Formulierungen sehr
gut leben kann und dass wir uns dafür verwandt haben,
ähnliche Formulierungen in den Konvent einzubringen.
({3})
Kollege Gauweiler, die Ehrlichkeit gebietet es aber,
zu erwähnen: Wir hatten den Besuch von Ministerpräsident Berlusconi, der sich auch sehr bemüht und eine
noch weiter gehende Kompromissformel vorgeschlagen
hat, die dann allerdings abgelehnt wurde. Man muss ehrlicherweise sagen, dass es angesichts dessen, worum es
heute geht, nicht möglich ist, mit bestimmten Mitgliedstaaten, nicht mit uns, einen weiter gehenden Konsens zu
erreichen. Wir werden uns auf der vor uns liegenden
Konferenz dennoch darum bemühen.
Aber ich muss Ihnen auch ehrlich sagen: Die Art und
Weise, wie Sie hier gerade polemisiert haben, zeigt, dass
bei Ihnen offensichtlich das Parteipolitische im Vordergrund steht.
({4})
Deswegen werde ich Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({5})
Das Wort zur Erwiderung gebe ich dem Kollegen
Gauweiler.
Herr Bundesminister Fischer, Ihre Ermahnung in Sachen Polemik trifft mich tief.
({0})
Ich möchte Ihre diesbezügliche Erfahrung gar nicht infrage stellen.
({1})
Wären Sie vielleicht bereit, nur die Aussage, die Sie
während Ihrer Privataudienz bei Papst Johannes Paul II.
gemacht haben und die zu unser aller Freude über Radio
Vatikan weltweit verbreitet worden ist, hier zur Abstimmung zu stellen, sodass Ihre Parteifreunde von den
Grünen und Ihre Koalitionsfreunde aus der SPD zustimmen könnten? Ich kann in einer Art Geschäftsführung
ohne Auftrag sagen, dass die überwältigende Mehrheit
des Hauses einem solchen Antrag von Ihnen beipflichten
würde.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass nach der namentlichen Abstimmung weitere Abstimmungen folgen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 a auf. Wir kommen
zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2173.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen auf Ihren
Plätzen bleiben, damit ich die Mehrheiten genau erken-
nen kann. Vor der namentlichen Abstimmung führen wir
zunächst andere Abstimmungen durch.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 15/2173? - Gegenpro-
be! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der CDU/
CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 15/2188. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die An-
nahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/1878 mit dem
Titel „Die Errungenschaften des Konvents sichern - das
europäische Verfassungsprojekt erfolgreich vollenden“.
Es ist vereinbart, dass über den Antrag der Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgestimmt
werden soll. Wer stimmt für den Antrag auf Druck-
sache 15/1878? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegen-
stimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP sowie
der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/1694 mit dem Titel
„Für eine zügige Regierungskonferenz über die EU-Ver-
fassung“. Auch hier ist vereinbart, dass über den Antrag
abgestimmt wird. Wer stimmt für den Antrag der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/1694? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stim-
men der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen der
CDU/CSU abgelehnt.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 15/1695 mit dem Titel
„Gottesbezug im europäischen Verfassungsvertrag“. Es
ist wiederum vereinbart, dass über den Antrag der Frak-
tion der CDU/CSU abgestimmt wird.
Zu diesem Antrag liegen mir Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung vor, und zwar von Katrin Göring-
Eckardt plus weiterer sieben Abgeordneter der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen1), von der Kollegin Antje
Vollmer plus vier weiterer Abgeordneter der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen2), von Michael Roth plus weite-
rer 54 Abgeordneter der SPD-Fraktion3), von Kurt
Bodewig plus weiterer drei Abgeordneter der SPD-Frak-
tion4) und von Rolf Stöckel5) sowie von Vera Lengsfeld
plus weiterer Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion
vor.6)
Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Ab-
stimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die
Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich er-
öffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit dem Auszählen zu be-
ginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.7)
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
bei den Fraktionen wieder einzunehmen, weil wir nun zu
weiteren Abstimmungen kommen.
Noch Tagesordnungspunkt 3 b: Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt un-
ter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 15/2188 die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/1801 mit dem Titel „Preis-
stabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschrei-
ben - Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank si-
chern“. Auch hier soll über den Antrag abgestimmt
werden. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/1801? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abge-
lehnt.
Tagesordnungspunkt 3 c. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit
auf Drucksache 15/2183 zum Antrag der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Daseinsvorsorge nicht gegen Wett-
bewerb ausspielen“. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 15/1712 abzulehnen. Hier stimmen
wir wie üblich über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses ab. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung
des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung der CDU/
CSU angenommen.
1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4
4) Anlage 5
5) Anlage 6
6) Anlage 7
7) siehe Seite 7168 D
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Vereinbarte Debatte
„Antisemitismus bekämpfen“
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Antisemitismus bekämpfen
- Drucksache 15/2164 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert
Weisskirchen ({1}), Wolfgang Thierse,
Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD, der Abgeordneten Claudia
Nolte, Hans Raidel, Helmut Rauber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der
Abgeordneten Claudia Roth ({2}),
Dr. Ludger Volmer, Volker Beck ({3}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten
Markus Löning, Helga Daub, Dr. Wolfgang
Gerhardt und der Fraktion der FDP
Für eine OSZE-Antisemitismuskonferenz in
Berlin 2004
- Drucksache 15/2166 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des
Plenarsaals fortzusetzen. Die Bedeutung dieser Debatte
gebietet es, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die teilnehmen wollen, zuhören können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für diese Debatte
haben wir schlechten Anlass. Auch nach fünf Jahrzehnten des demokratischen Konsenses und der historischen
Aufklärung ist der Antisemitismus in Deutschland
nicht überwunden; schlimmer noch: Antisemitische Ressentiments sind keine Randerscheinung, sondern entfalten ihre fatale Wirkung auch in der Mitte unserer Gesellschaft bis hinein in dieses Hohe Haus. Lassen Sie mich
gerade wegen dieses Anlasses sagen: Es ist gut, dass wir
diese Debatte führen. Noch besser ist es, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages ohne Ausnahme für
diese Debatte eingetreten sind und sie gemeinsam eine
Entschließung gegen den Antisemitismus erarbeitet und
zur Abstimmung eingebracht haben.
({0})
Ich will an dieser Stelle zugleich auch ausdrücklich Verteidigungsminister Struck für seine unmissverständliche
Personalentscheidung danken.
({1})
Es geht aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute
um weit mehr als die bestürzenden Abstrusitäten eines
einzelnen Abgeordneten. Es geht auch darum, dass es offenbar einen Bodensatz an latentem Antisemitismus
gibt, der sich seit Jahren nicht verändert hat und der nach
wie vor erschreckend hoch ist. Gerade erst hat das Magazin „Stern“ via Umfrage ausgemacht, dass jeder fünfte
Deutsche für judenfeindliche Vorurteile empfänglich sei.
Da erscheint es geradezu symptomatisch, dass die Äußerungen des Herrn Hohmann erst so spät aufgefallen sind.
Von seinen Zuhörern erfuhr er jedenfalls keinen Widerspruch. Viele meinen offenbar immer noch, für solche
Äußerungen sei Platz in einer demokratischen Volkspartei.
Es geht heute auch darum, dass nicht nur Ressentiments, sondern sogar gewalttätige Angriffe gegen Juden
in Deutschland traurige Tagesordnung sind. Ich denke an
die Brandanschläge auf deutsche Synagogen, die wir
auch unter dem Eindruck der brutalen Anschläge in
Istanbul nicht vergessen sollten. Ich denke an die Schändungen jüdischer Friedhöfe und an die vielen vermeintlich kleinen Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens, über die wir in den Zeitungen oft nur versteckte
Kurzmeldungen lesen können, letzte Woche zum Beispiel unter der lakonischen Überschrift „Wieder antisemitischer Vorfall in Kreuzberg“. In Berlin zum Beispiel
hat der Verfassungsschutz in diesem Jahr eine erschreckende Zunahme rechtsextremer Gewalttaten registriert.
Schließlich geht es heute auch um den europäischen,
ja, den internationalen Kontext dieser Befunde. Nach einer vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung
erstellten Studie, die in der letzten Woche richtigerweise
auch gegen die Bedenken des Auftraggebers veröffentlicht wurde, nimmt die Zahl antisemitischer Attacken in
vielen europäischen Ländern zu. Die Befunde dieser
Studie müssen gewiss noch sorgfältig analysiert und diskutiert werden. Aber so viel scheint gesichert zu sein:
Antisemitische Übergriffe gehen von radikalen Moslems
ebenso wie von rechten Extremisten aus. Auch in
Deutschland ist zu beobachten, dass islamistische Kräfte
immer stärker den rechtsradikalen Gewalttätern in die
Hände spielen - eine unheilvolle Allianz.
({2})
Dass dies kein deutsches Problem allein ist, entlastet
uns nicht; es beschreibt aber die Dimension des Problems. Es bleibt ein Unterschied, ob heute 15 Prozent
anderer Europäer oder 15 Prozent der Deutschen antisemitisch sind. Die Daten im „Stern“ zeigen darüber hinaus, wie unzureichend sich die Bemühungen der letzten
50 Jahre offensichtlich ausgewirkt haben, antisemitisches Denken durch Aufklärung einzudämmen. Die Vermutung liegt nahe, dass viele, die die im „Stern“ auf ihre
Verbreitung untersuchten Vorurteile hegen, gar nicht auf
die Idee kommen, antisemitisch zu sein. Das ist keine
Entschuldigung, sondern es ist das Problem, mit dem wir
uns auseinander setzen müssen.
Manifester wie latenter Antisemitismus sind eben
keine gesellschaftlichen Randerscheinungen, sie sind
diffus in unserer Mitte. Wilhelm Heitmeyer, dessen
zweite Studie „Deutsche Zustände“ ich vor einer Stunde
vorgestellt habe, kommt zu dem bestürzenden Befund,
dass „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ - so
sein zentraler Begriff - in Deutschland zunimmt. Darin
wiederum nimmt der Antisemitismus eine zentrale Stelle
ein. 69 Prozent der Befragten stimmen zum Beispiel der
Aussage zu: Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden. - Das sind nicht alles Antisemiten,
wahrlich nicht. Aber der Befund verrät die prekäre Situation, die tiefe Unsicherheit, die uns im Umgang mit
diesem Erbe irritieren und beschäftigen soll. Uns muss
vor allem das Ineinander von Antisemitismus, Rechtsextremismus, Fremden- und Minderheitenfeindlichkeit
sowie autoritären Einstellungen bei einem Teil der Bevölkerung beunruhigen.
Selbstverständlich können Rechtsextremismus und
Antisemitismus nicht absolut gleichgesetzt werden.
Nicht jede rechtsextremistische Straftat richtet sich gegen Juden; solche Straftaten richten sich genauso gegen
Ausländer, gegen Menschen, die als ausländisch erscheinen, und gegen Menschen, die sich durch Kleidung, Habitus oder politische Ansichten von Rechtsextremisten
unterscheiden. Rechtsextremismus ist antidemokratisch
und verweigert insbesondere Minderheiten aller Art den
ihnen zustehenden Schutz und Respekt.
Umgekehrt ist nicht jeder, der antisemitische Ressentiments hegt, rechtsextremistisch. Wir wissen auch, dass
nicht jeder Anschlag auf jüdische Einrichtungen und
Symbole von Rechtsextremisten verübt wird. Bei dem
geplanten Anschlag auf die neue Synagoge in München
waren die Täter Rechtsextremisten, bei dem ausgeführten Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf im Sommer 2000 waren es fundamentalistische Islamisten. Dies
gilt übrigens auch für die furchtbaren Anschläge vor wenigen Wochen in Istanbul.
Der Düsseldorfer Brandanschlag vor fast drei Jahren
macht übrigens deutlich, dass eine Mitgliedschaft der
Türkei in der EU, die bekanntermaßen noch für einige
Jahre nicht auf der Tagesordnung stehen wird, keineswegs islamistisch motivierten antijüdischen Terror nach
Europa brächte; er ist schon da. Wer Düsseldorf nicht
schon wieder verdrängt hatte, benötigte die Studie des
Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung nicht,
um dies zu erkennen. Ich bin froh, dass auch in der
CDU/CSU die unsinnige Verbindung zwischen solchen
Anschlägen und der diskutierten EU-Mitgliedschaft der
Türkei sehr bald zurückgewiesen worden ist.
Diese Tatsachen und Beobachtungen erlauben zusammengenommen folgende Schlussfolgerung: Gerade wir
Deutschen dürfen niemals darin nachlassen, antisemitische Vorurteile zurückzuweisen.
({3})
Das hat sehr viel mit dem Holocaust zu tun. Aber es ist
keineswegs die Last der Vergangenheit allein, die uns
dazu verpflichtet. Denn die Ausgrenzung von Minderheiten - ganz gleich, ob sie sich ethnisch, religiös oder
auf andere Weise definieren - ist entschieden undemokratisch und verletzt die Menschenwürde. Das ist inhuman und verfassungswidrig. Deswegen, um unseretwillen müssen wir uns dagegen wehren.
({4})
Diese grundrechtliche, zutiefst demokratische Überzeugung und der Wille, auch für die Zukunft eine offene,
liberale Gesellschaft zu gestalten, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können, einen uns in
Europa. Wenn europäische Völker des Holocaust gedenken, dann tun sie das wohl vor allem deshalb, um diesen
demokratischen Gestaltungswillen zu fördern.
Für uns in Deutschland kommt die besondere geschichtliche Verantwortung für den Holocaust hinzu.
Dieser Bruch in unserer Zivilisationsgeschichte ist zweifellos eine Last. Denn dadurch haben wir eine Vergangenheit, die nicht vergehen will; sie begleitet uns vielmehr und bricht immer wieder auf. Wir müssen mit
dieser Vergangenheit leben, auch wenn niemand - weder
bei uns noch im Ausland - die heutige Generation mit
Schuld für diese Vergangenheit belastet.
Nichts wäre fataler, als die deutsche Geschichte - gewissermaßen aus einem unentrinnbaren Schuldzusammenhang heraus - misszuverstehen - im Sinne von
Schuldweitergabe von Generation zu Generation. Die
Kollektivschuldunterstellung namens „Tätervolk“ ist
irrational und falsch, ja das Wort gehört recht eigentlich
in das Wörterbuch des Unmenschen.
({5})
Was wir von Generation zu Generation weitergeben,
sind - unvermeidlich - Erinnerungen und - vernünftigerweise - Verantwortung.
({6})
Die Behauptung, dass uns Deutschen eine Kollektivschuld nachgetragen werde, dass wir von anderen an patriotischem Selbstbewusstsein gewissermaßen gehindert
würden, ist nicht nur unwahr; sie ist durchaus rechtsextremistisch und nationalistischer Natur.
Schlimmer noch erscheint mir die Behauptung,
Deutschland werde wegen des Holocaust genötigt und
ausgenutzt. Auch wenn die Hinzufügung „durch die Juden“ gelegentlich nicht ausdrücklich genannt wird, handelt es sich hierbei um eines der übelsten antisemitischen
Klischees.
Richtig ist, dass wir uns zur Wiedergutmachung von
nationalsozialistischen Verbrechen verpflichtet haben.
Soweit dies kollektiv an Israel und andere Staaten zu
leisten war, haben wir diese Leistungen erbracht. Soweit
sie moralisch bestimmten Opfergruppen zukommt, haWolfgang Thierse
ben wir mit der Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiter einen noch bestehenden Mangel spät beseitigt.
Soweit individuelle Ansprüche betroffen sind, haben
wir gerade als Deutscher Bundestag erfahren, dass es
noch immer unerledigte Fälle gibt und Streit darüber,
wie und an wen solche Entschädigungen zu erfolgen haben. Von dieser Stelle aus kann ich nur mein Bedauern
darüber zum Ausdruck bringen, dass das Grundstück,
auf dem das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus steht - entgegen aller Kenntnis des Bundestages, der die Bebauung
beschlossen hat -, Gegenstand eines solchen Streites ist.
Ich vertraue darauf, dass er sorgfältig und fair entsprechend den gesetzlichen Regeln beigelegt wird.
Eine andere Schlussfolgerung aus den eingangs dargelegten Beobachtungen ist, dass wir trotz allem und
Gott sei Dank keinen Anlass haben, den Rechtsextremismus in Deutschland überzudramatisieren und dadurch
aufzuwerten. Allerdings habe ich - gerade nach München - überhaupt kein Verständnis zum Beispiel für Professor Arnulf Baring,
({7})
der erst kürzlich mit der Verniedlichung hervorgetreten
ist, die rechte Szene in Deutschland sei bis auf wenige,
wie er sagte, „Minderbemittelte“ ausgebrannt. Leider ist
das nicht so. Noch weniger kann ich begreifen, dass derselbe Professor in seinem Furor, einen Ruck in unserem
Land auslösen zu wollen, ausgerechnet Hitler als Beispiel dafür anführt, wie Politik gesellschaftliche Energien auslösen kann.
({8})
In einem ähnlichen Sinn äußerte sich übrigens HansOlaf Henkel. Er sagte wörtlich:
Unsere Erbsünde lähmt das Land.
Das ist eine zumindest missverständliche Äußerung.
Beides zeigt, dass wir in Deutschland immer noch
oder auch immer wieder einen erheblichen zeitgeschichtlichen, moralischen und politischen Aufklärungsbedarf haben.
Eine weitere Beobachtung: Der Wandel der rechtsextremistischen Szene in Deutschland, die sich nicht
mehr von minderbemittelten glatzköpfigen Schlägern
symbolisieren und vertreten lassen will, sondern mehr
und mehr - wie soll ich das nennen? - in seriöse Gewänder schlüpft und die „Junge Freiheit“ liest, muss Gegenstand der Aufklärung sein, ebenso wie die geschichtliche
Lehre darüber, welche Gefahr gerade in Zeiten krisenhaft erfahrener wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche
und Unsicherheiten darin besteht, an demokratische Politik uneinlösbare Heils- und Erlösungserwartungen zu
knüpfen. Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass solche
Erwartungen mit absoluter Sicherheit enttäuscht werden
müssen. Sie besteht vor allem darin, dass pseudoreligiös
aufgeladene Politikerwartung und -enttäuschung geradezu zwangsläufig Sündenböcke suchen muss, um alles,
was Politik nicht so schnell lösen kann, diesen in die
Schuhe zu schieben.
Solche Sündenböcke werden immer Minderheiten
sein - wir kennen das aus unserer Geschichte -, insbesondere solche, im Hinblick auf die Ressentiments allzu
leicht gepflegt werden können, deren Anderssein unverstanden bleibt, deren fremd gebliebene Religion und
Kultur zur Legendenbildung missbraucht werden können. Der Sündenbock des deutschen Nationalsozialismus waren die Juden. Ein obskures Weltjudentum
musste für alle Beschwernisse des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens herhalten. Die Absurdität wie auch die Primitivität der nationalsozialistischen
Verschwörungstheorien sind niederschmetternd und aufgeklärter Menschen unwürdig. Aber sie tauchen - als
Stückwerk oft - immer wieder auf. Auch diese Vergangenheit vergeht leider nicht, jedenfalls nicht von selbst.
Im Kern versuchen antisemitische Argumentationen immer, es als plausibel erscheinen zu lassen, gegen Juden
kollektiv vorzugehen. Eine bestimmte Art der Kritik an
Israel zählt dazu wie auch die schlicht falsche Behauptung, man dürfe in Deutschland keine Kritik an der Politik des Staates Israel üben.
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die
sich besonders intensiv mit den Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses befasst hat, schreibt aus Anlass des
Falls Hohmann:
Der Antisemitismus ist ein heimtückisches Problem, von dem man nicht hoffen darf, dass es sich
mit dem Aussterben bestimmter Generationen von
selber auflöst. Hier werden Erbschaften weitergereicht, die man immer wieder in den gesellschaftlichen Diskurs einzuschleusen versucht.
Die Perfidie des Antisemitismus besteht also auch darin,
dass er sich immer wieder selbst tradiert, erzeugt. Juden
werden diskriminiert, weil sie schon immer diskriminiert
wurden. Ihre Ausgrenzungs- und Opfererfahrung wird
ihnen zum eigentlichen Vorwurf gemacht. Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen - so
lautet einer der bittersten Sätze zu diesem Thema. Wer
den Kreislauf des Antisemitismus durchschaut, kann eigentlich nur empört darüber sein; wer ihn nicht durchschaut, den müssen wir darüber aufklären - immer wieder -; und wer ihn nicht durchschauen will, über den
dürfen wir getrost empört sein.
({9})
Die Erinnerung an den Holocaust brauchen wir gerade um der Aufklärung willen. Für die heute jungen
Menschen sind der Nationalsozialismus und die Verbrechen an den Juden Ereignisse aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Sie hatten kaum noch die
Chance, Vertreter der Erlebnisgeneration kennen zu lernen. Sie müssen sich also ihren eigenen Zugang dazu
verschaffen, eigene Formen der Erinnerung entwickeln.
Sie können das wohl nur, wenn ihnen die Gelegenheit
dazu geboten wird - möglichst ohne autoritären Zwang!
Inwieweit die Informationen, die ihnen dafür geboten
werden, ausreichend sind, darüber mag man streiten und
darüber muss man streiten können. Nicht streiten kann
man, wie ich finde, darüber, dass kognitive Bearbeitung
allein wohl nicht angemessen und ausreichend ist. Die
Grausamkeit des Verbrechens, die Leiden der Opfer,
aber auch die Unbedingtheit des Vorsatzes und der Anstrengung, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe,
müssen auch mit dem Herzen erfahrbar gemacht werden.
Die demokratische Verfassung, die unveräußerlichen
Menschenrechte, sie sind die besten Voraussetzungen,
um Antisemitismus, um jede Form von Diskriminierung
und Ausgrenzung zu verhindern.
Menschlichkeit, Nächstenliebe, Solidarität, Humanismus, sie sind - wir wissen es doch - niemals allein eine
Sache des Verstandes, sondern immer auch eine Sache
des Gefühls. So verstandene Herzensbildung - ich verwende dieses gelegentlich konservativ erscheinende
Wort ausdrücklich - ist das Ziel einer weit in spätere Generationen reichenden Kultur der Erinnerung. Sie ist notwendiger Teil der immer nötigen Aufklärung.
({10})
Die Erinnerung hat für uns Deutsche einen doppelten
Sinn, welcher auch unserer Entscheidung, ein Denkmal
für die ermordeten Juden Europas zu bauen, zugrunde liegt.
Es geht darum, den Opfern dieses singulären Verbrechens ein Andenken zu bewahren und ihnen wenigstens
so posthum etwas von ihrer Würde zurückzugeben, die
die deutschen Nationalsozialisten und ihre Helfer ihnen
so vollständig genommen hatten. Das ist der eine Sinn.
Der andere ist es, auch künftigen Generationen, die
elementaren Lehren nicht nur von der Würde des Menschen, sondern auch von ihrer Verletzlichkeit zu vermitteln. Die Erkenntnis, dass der Holocaust ohne Antisemitismus nicht möglich, nicht denkbar gewesen wäre,
gehört dazu. Der sich immer wieder selbst erzeugende
Antisemitismus, seine mit deutscher Gründlichkeit zur
Konsequenz des Holocaust getriebene Unmenschlichkeit
unterscheiden nach meinem Empfinden die jüdischen
Opfer des Nationalsozialismus von anderen Naziopfern,
obwohl sie mit ähnlicher Brutalität verfolgt wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss noch einen Gedanken formulieren. So wie
der einzelne Mensch, nicht nur der junge, ein legitimes
Bedürfnis nach guten Eltern hat, nach Zugehörigkeit,
nach einer positiven Identität, so gilt das wohl ähnlich
auch für ein Volk. Nur fällt uns Deutschen ein selbstverständliches, ungebrochen positives Verhältnis zu unserer Geschichte schwer angesichts der Naziverbrechen.
Trotzdem ist das wohl notwendig.
Erinnern wir uns also auch, ohne den Zivilisationsbruch des Holocaust zu verdrängen, an die deutsche Befreiungs-, Demokratie- und Aufklärungsgeschichte. Wir
haben eine. Auch wir Deutschen haben gelernt. Michael
Wolffsohn, der Jude und deutsche Patriot, hat vor ein
paar Tagen eine Veränderung gewürdigt: Am Ende des
Zweiten Weltkriegs, so meint er, seien sicherlich die
Hälfte der Deutschen antisemitisch gewesen; heute seien
aber 85 Prozent nicht antisemitisch. Ich füge hinzu: Das
ist viel, aber nicht genug.
({11})
Die Ablehnung und Überwindung von Antisemitismus und Rassismus, von Nationalismus und Intoleranz,
das war die Raison d’Être der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung nach Naziverbrechen, Krieg
und deutscher Katastrophe. Sie muss es auch bleiben
60 Jahre später, nach dem historischen Glück der Wiedervereinigung inmitten eines sich vereinigenden Europas - um unserer Zukunft willen.
({12})
Bevor ich dem Kollegen Dr. Norbert Lammert das
Wort erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Abgegebene Stimmen 584.
Mit Ja haben gestimmt 265, mit Nein haben gestimmt 315, Enthaltungen 4. Der Antrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 583;
davon
ja: 265
nein: 314
enthalten: 4
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({2})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({3})
Peter H. Carstensen
({4})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({5})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({6})
Dirk Fischer ({7})
Axel E. Fischer ({8})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({9})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heinemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({10})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({11})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Werner Kuhn ({12})
Dr. Karl A. Lamers
({13})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({14})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({15})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({16})
Stephan Mayer ({17})
Conny Mayer ({18})
Dr. Martin Mayer
({19})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({20})
Doris Meyer ({21})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({22})
Bernward Müller ({23})
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({24})
Michaela Noll
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({25})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({26})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({27})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({28})
Andreas Schmidt ({29})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({30})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({31})
Gerald Weiß ({32})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({33})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Thilo Hoppe
Werner Schulz ({34})
Josef Philip Winkler
FDP
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Horst Friedrich ({35})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({36})
({37})
Dr. Heinrich L. Kolb
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Dr. Andreas Pinkwart
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Fraktionslose Abgeordnete
Martin Hohmann
Nein
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({38})
Klaus Barthel ({39})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Klaus Uwe Benneter
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({40})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({41})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({42})
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({43})
Iris Gleicke
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({44})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({45})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({46})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({47})
Walter Hoffmann
({48})
Iris Hoffmann
Frank Hofmann ({49})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({50})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({51})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Michael Müller ({52})
Christian Müller ({53})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({54})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({55})
Michael Roth ({56})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({57})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({58})
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({59})
Ulla Schmidt ({60})
Silvia Schmidt ({61})
Dagmar Schmidt ({62})
Wilhelm Schmidt ({63})
Heinz Schmitt ({64})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Brigitte Schulte ({65})
Reinhard Schultz
({66})
Swen Schulz ({67})
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({68})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({69})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Matthias Weisheit
({70})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({71})
Brigitte Wimmer ({72})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({73})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({74})
Volker Beck ({75})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({76})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Antje Hermenau
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({77})
Dr. Reinhard Loske
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({78})
Winfried Nachtwei
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({79})
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({80})
Petra Selg
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Margareta Wolf ({81})
FDP
Daniel Bahr ({82})
Angelika Brunkhorst
Helga Daub
Ulrike Flach
Dr. Christel Happach-Kasan
Klaus Haupt
Michael Kauch
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
({83})
Eberhard Otto ({84})
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Enthalten
FDP
Otto Fricke
Dr. Karl-Heinz Guttmacher
Ulrich Heinrich
Gisela Piltz
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Norbert Lammert, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem heutigen Geburtstag und wünsche Ihnen alles Gute für das
kommende Lebensjahr.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige vereinbarte Debatte hat einen konkreten Anlass und einen allgemeinen Grund. Der mit Abstand wichtigste Grund für
diese Debatte ist, dass es in Deutschland nach wie vor
Antisemitismus gibt - wie anderswo auch. Das ist bitter,
aber es ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist allerdings
auch, dass Antisemitismus in Deutschland weniger stark
zum Ausdruck kommt als in den meisten anderen europäischen und außereuropäischen Ländern.
Erst vor wenigen Tagen hat der amerikanische Journalist Robert Goldmann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zum Thema Antisemitismus Bezug
genommen auf die erschreckenden Angriffe auf Synagogen, Schulen und Friedhöfe, die wir in der näheren und
ferneren Umgebung immer wieder registrieren. Er hat
geschrieben - ich zitiere -:
Dazu muss festgestellt werden, daß Deutschland in
dieser Hinsicht eine Ausnahme ist … im Gegensatz
zu anderen europäischen Ländern sind die deutschen Behörden tatkräftig, und die öffentliche Debatte gibt dem Thema hohe Priorität.
Diese Priorität macht die heutige vereinbarte Aussprache
im Deutschen Bundestag einmal mehr deutlich.
Wir beruhigen uns eben nicht mit dem Hinweis darauf, dass Antisemitismus kein exklusives deutsches
Problem ist. Wir wissen: Nirgendwo in der Welt hat er so
verheerende Folgen gehabt wie in Deutschland. Deshalb
gibt es zu Recht eine besondere Sensibilität nicht nur der
jüdischen Öffentlichkeit für Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland. Deshalb gibt es in der Tat eine besondere Verantwortung unseres Landes, die sich im
Zeitablauf nicht erledigt hat.
({1})
Unser damaliger Bundespräsident Richard von
Weizsäcker hat in seiner berühmten Rede zum 8. Mai
1985 gesagt:
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was
damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für
das, was in der Geschichte daraus wird.
Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass gerade
die junge Generation in Deutschland diese Verantwortung sehr ernst nimmt.
In der Bundestagsdebatte vom Juni 1999 zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas
habe ich gesagt, dass für mich ganz persönlich die Erfahrung des Holocaust zu den Gründungsdokumenten dieser Republik gehört.
Die Erinnerung an das Geschehene
- so heißt es in dem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen ist Teil unserer nationalen Identität.
Nationale Identitäten sind wichtige, aber nicht immer
stabile Verbindungen zwischen der Vergangenheit und
der Zukunft eines Landes. Sie transportieren Erinnerungen und Erfahrungen, Glückserfahrungen und Leiderfahrungen.
Die klügsten, jedenfalls eindruckvollsten Bemerkungen, die ich zum Umgang mit Geschichte und Erinnerung, mit Gedächtnis und Erfahrungen je gelesen habe,
habe ich bei Andrzej Szczypiorski gefunden, dem großen polnischen Autor, nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus für die Solidarnosc in den polnischen Senat gewählt, Mitglied des deutschen Ordens „Pour le
mérite“. In seiner viel zu wenig bekannten, großen Rede
50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges vor dem
niederländischen Parlament in Den Haag hat er Bezug
genommen auf seine Teilnahme am Warschauer Aufstand und seine Verschleppung in das KZ Sachsenhausen.
Als man mich im Viehwaggon abtransportierte,
- sagte Szczypiorski in dieser Rede war ich voller Hass, Angst und Rachegefühle. Am
2. September 1944 bekam ich auf der Lagerrampe
zum ersten Mal eines mit dem Ochsenziemer über
den Rücken, weil ich zu langsam aus dem Waggon
sprang. Ich bekam diesen Schlag von einem LagerKapo, der kein Deutscher war, sondern Franzose.
Wenige Tage später gab mir ein deutscher Häftling,
der seit 1934 in Sachsenhausen saß, ein Stück Brotrinde, damit ich meinen Hunger stillen konnte.
Damals brach in mir eine historische, philosophische und politische Konstruktion zusammen, die
mich in allen vorhergehenden Kriegsjahren begleitet hatte; denn ich sah Deutsche, die meine Kameraden im Unheil waren, und sah Polen, die mich im
KZ verfolgten. Ich wurde geschlagen von einem
Holländer, zusammen mit einem anderen Häftling,
ebenfalls einem Holländer. Ich aß aus einer Schüssel mit einem Deutschen, diese Schüssel aber nahm
uns ein Ukrainer weg und vertrieb uns mit Fußtritten. Ich sah, wie ein Deutscher einen Deutschen
quälte, ein Pole einen Polen, ein Holländer einen
Holländer, ein Franzose einen Franzosen; so, wie
ich zwei Jahre zuvor auf einer Warschauer Straße
gesehen hatte, wie ein Jude einen anderen Juden
den deutschen Gendarmen auslieferte.
Seit jenen Tagen unterscheide ich deshalb die Nationalitäten nicht mehr. Die Nationalität eines Menschen kümmert mich nicht. Ich interessiere mich
nicht für die Vergangenheit der Deutschen, der Holländer, der Polen. Ich weiß nur, was ich nicht vergessen habe: die Menschen und die Unmenschen.
Ich will bei den Menschen bleiben.
Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es im
Kern: um die Menschen,
({2})
nicht um Deutsche oder Polen, um Juden oder Christen.
Juden und Christen teilen im Übrigen elementare Überzeugungen, die den geistigen Boden für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bereitet haben: die Gottesebenbildlichkeit, die Einzigartigkeit, die
unveräußerliche Würde des Menschen. Auch wegen dieser gemeinsamen Überzeugungen darf es im Reden,
Denken und Handeln für Antisemitismus „keinen Platz
in Deutschland“ geben, wie es in unserem Antrag heißt.
({3})
Antisemitismus, wo immer er auftritt, ist nicht akzeptabel; in Deutschland ist er unerträglich. Hier ist wirklich
die Solidarität der Demokraten gefordert, von der vielleicht in manchen anderen Zusammenhängen etwas vorschnell geredet wird, immer dann, wenn es um Grundlagen, um Strukturprinzipien unserer Verfassung, um die
institutionelle wie die geistige Verfassung unseres Landes geht. Parteipolitischer Wettbewerb ist unverzichtbar.
Aber in solchen Grundsatzfragen darf es keine vordergründige Rivalität geben und auch keine taktischen
Zweifel am Konsens der Demokraten.
In der Regel ist dies nach meinem Eindruck hier zu
Lande gewährleistet. Wann immer es Anschläge oder
Übergriffe gegen jüdische Bürger oder Einrichtungen
gibt, ist die einmütige, demonstrative Haltung der ganzen politischen Klasse in Deutschland, dies nicht zu dulden, nicht wegzuschauen, sondern einzugreifen und solche Attacken als Anschläge auf unsere Gesellschaft und
ihre demokratische Verfassung zurückzuweisen. Auch
das unterscheidet das heutige Deutschland von seiner
Vergangenheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Land ist
nicht nur Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches wie
der Deutschen Demokratischen Republik. Es trägt auch
das Erbe zweier Diktaturen in Deutschland, die aber
eben nicht die ganze deutsche Geschichte sind. Deswegen ist es intellektuell nicht redlich und politisch unverantwortlich, die tausendjährige Geschichte auf wenige
Jahre reduzieren zu wollen. Ja, Deutschland ist ein Land
mit einer schwierigen Geschichte. Aber es gibt nur wenige Länder in der Welt, die sich den düsteren Kapiteln
ihrer Geschichte ähnlich wie wir gestellt haben und dafür bis heute Verantwortung übernehmen. Darauf wollen
wir nicht stolz sein. Aber bestreiten lassen dürfen wir
das auch nicht.
Der Schweizer Präsident der Berliner Akademie der
Künste, Adolf Muschg, hat vor wenigen Tagen in der öffentlichen Debatte über jetzt bekannt gewordene
NSDAP-Mitgliedschaften prominenter deutscher Literaturwissenschaftler die „Exzesse der Korrektheit“ kritisiert, welche „die Gesellschaft unfrei machen, unfähig
sogar zum Respekt vor ihrer eigenen Leistung“.
Diese Mahnung ist sicher berechtigt.
({4})
Aber sie ist sicher nicht nur für Walter Jens zutreffend.
({5})
Auch wenn uns in Staat und Gesellschaft weiß Gott nicht
alles gelingt: Deutschland ist ein großartiges Land, auf
das viele Menschen überall in der Welt mit Respekt und
gelegentlich mit Bewunderung blicken. Dass es nach
den traumatischen Erfahrungen der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts noch jüdisches Leben in Deutschland
gibt, dass inzwischen wieder viele Tausend jüdische
Bürger hierher gekommen sind, hier leben und arbeiten,
hier Kinder großziehen und hier bleiben wollen, das ist
die schönste, überwältigende Vertrauenserklärung, die es
für die zweite deutsche Demokratie je gegeben hat.
({6})
Dafür sind wir dankbar. Wir werden mit ganzer Kraft dafür arbeiten, dass es so bleibt.
({7})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast
60 Jahre nach Ende des Holocausts sprechen wir heute
im Deutschen Bundestag über die Bekämpfung von Antisemitismus. Das ist gut und bedrückend zugleich; gut,
weil alle Fraktionen in diesem Hause dem Antisemitismus mit der gebotenen Deutlichkeit den Kampf ansagen.
Der in diesem Zusammenhang vorliegende gemeinsame
Antrag ist ein sehr wichtiges Signal. Beim Thema Antisemitismus darf es kein Lavieren geben. Die offene und
öffentliche Auseinandersetzung mit antisemitischem
Denken, Reden und Handeln ist Aufgabe aller Parteien.
Das bringen wir heute gemeinsam zum Ausdruck.
({0})
58 Jahre nach Ende des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte diese Debatte führen zu müssen hat
aber auch einen bedrückenden Aspekt. Antisemitismus
ist eben kein von selbst verschwindendes Relikt aus bösen vergangenen Zeiten. Er spukt auch im
21. Jahrhundert in den Köpfen, auch in Deutschland und
Europa.
({1})
Auch darüber muss man heute sprechen: Es sind sogar neue, subtilere Formen des Antisemitismus zu beobachten. Deren Bekämpfung ist oft viel schwieriger, als
dem brachialen, dem offensichtlichen, oft auch gewalttätigen Antisemitismus zu begegnen. Antisemitismus
grassiert eben nicht nur unter gewaltbereiten Neonazis.
Mit großer Sorge müssen wir sich häufende Versuche
beobachten, den demokratischen Konsens aus der Mitte
der Gesellschaft heraus infrage zu stellen.
Auschwitz hat den Antisemitismus, der zu Auschwitz
geführt hat, in gewisser Weise unmöglich gemacht. Aber
Volker Beck ({2})
die Motive des historischen Antisemitismus bestehen
weiter. Heute muss man nicht zum Typen des eingefleischten Antisemiten gehören, um die neu codierte antisemitische Semantik zu nutzen. Man muss keine antisemitischen Pamphlete schreiben; man muss keine
ausgefeilte Rassetheorie im Kopf haben, man kann auch
auf die Embleme des Nationalsozialismus verzichten,
will man auf der Klaviatur des modernen Antisemitismus spielen. Dies zeigen die jüngsten Fälle: Möllemann,
Haider oder Karsli.
Antisemitismus erscheint dabei oft als Kritik an der
Regierungspolitik Israels verpackt. Es wird ein angebliches Tabu beschworen, dessen Opfer man geworden sei,
wonach man in Deutschland die israelische Politik nicht
kritisieren dürfe. Schon der Blick in die Tageszeitung
widerlegt diese Fama. Dennoch halten sich solche Verschwörungstheorien hartnäckig.
Die Gleichsetzung von Juden mit dem Staat Israel,
dem israelischen Volk und seiner jeweiligen Regierung
ist dabei ein rhetorischer Kniff, um als legitime Kritik
verkleidete Ressentiments als Waffen gegen die Juden
einzusetzen. Schon beim flinken Wort „Israelkritik“ verschwimmt zuweilen - darauf weist Ulrich Beck zu Recht
hin -, was gemeint ist: Kritik an der Existenz Israels
oder nur an seiner aktuellen Regierung unter Scharon?
Man darf - ich glaube sogar, man muss - die staatliche Gewaltpolitik Israels in den palästinensischen
Gebieten kritisieren. Aber wer Israels Überreaktion kritisiert, der darf zu den menschenverachtenden Selbstmordattentaten der Palästinenser, denen Tausende unschuldige Zivilisten in Israel zum Opfer gefallen sind,
nicht schweigen.
({3})
Studien belegen: Noch immer findet das Vorurteil, Juden hätten zu viel Einfluss, bei großen Minderheiten in
unserem Land Zustimmung. Es sind 29 Prozent. Ebenso
findet Zustimmung, Juden seien selbst schuld am Antisemitismus, an dem Hass, der sich gegen sie richtet, an
der Gewalt, der sie zum Opfer fallen. Leugnen Neonazis
Ausmaß oder Tatsache des Holocausts, macht sich in der
Mitte der Gesellschaft das Ressentiment in anderer Form
breit: Die Juden würden die Vergangenheit für ihre Interessen nutzen. Es müsse jetzt endlich einmal genug sein.
Es sei genug gezahlt, gedacht und erinnert.
Bestes Beispiel dafür ist die Diskussion über die
Zwangsarbeiterentschädigung, die vor noch nicht gar
so langer Zeit geführt wurde. Es hält sich hartnäckig das
Gerücht, es gehe dabei hauptsächlich um jüdische Opfer.
Die jüdischen Organisationen haben aber zur Entschädigung der jüdischen Zwangsarbeiter nicht einmal
20 Prozent der bereitgestellten 10 Milliarden DM erhalten. Trotzdem wird in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, dass 80 Prozent der Mittel an nicht jüdische
osteuropäische Zwangsarbeiter geflossen sind, und zwar
zu Recht. Die Verschiebung der Bilder aber zeigt, auf
welche Wahrnehmungsmuster in der Gesellschaft unsere
Nachrichten immer noch treffen.
Es ist gerade dieser subtile Antisemitismus in
Deutschland, den jetzt auch die EU-Antisemitismusstudie anführt und als das Hauptproblem bezeichnet. Es ist
gut, dass diese Studie nun öffentlich zugänglich ist. Ich
kann die in der öffentlichen Debatte über die Untersuchung unterstellte Einseitigkeit nicht erkennen.
({4})
Es wird auf jüdische und muslimische Opfer von minderheitenfeindlicher Gewalt gleichermaßen aufmerksam
gemacht.
Unser eigentliches Problem ist Xenophobie, Antisemitismus und Rassismus gleichermaßen. Da, wo ein
Mensch nicht mehr als Individuum zählt, da, wo einer
für alle genommen wird, da, wo homogenisiert wird und
sich Vorurteile aufbürden, liegt immer die Gefahr, dass
sich dies von der Diskriminierung zur Gewalt steigert.
Hier sind alle Demokraten aufgerufen, dem in aller Form
entgegenzutreten.
({5})
Wir müssen jeder Form des Antisemitismus entschieden entgegentreten. Vom Vorwurf des Gottesmordes in
den Heilandsanklagen des Melito von Sardes im zweiten
Jahrhundert, über die Synagoga mit verbundenen Augen,
zerbrochener Lanze und entgleitenden Gesetzestafeln,
die am mittelalterlichen Gewändeportal der Ecclesia triumphans gegenüber stand, vom Kirchenlehrer Augustinus über den Reformator Luther bis zum wilhelminischen Hofprediger Stoecker erweist sich der
Antisemitismus als der schlechteste Teil des christlichabendländischen Erbes. Das ist ein Erbe, das auszuschlagen uns immer noch nicht gelungen ist.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Antisemitismus aber auch die islamische Welt infiziert. Die Anschläge in Istanbul und die Ausschreitungen islamischer
Jugendlicher gegen jüdische Bürger und Einrichtungen
in Frankreich sind dafür traurige Zeugnisse. Allen Formen des religiösen und politischen Antisemitismus müssen wir gemeinsam entgegentreten. Wir müssen die Probleme beim Namen nennen, weil Schweigen, ein Tabu
oder ein Mäntelchen-über-die-Probleme-Breiten nicht
weiter bringt. Wir müssen Aufklärung betreiben, die
Auseinandersetzung suchen und dem antisemitischen
Vorurteil widersprechen und ihm entgegentreten. Nur
dann können wir die Köpfe gewinnen und einer Ausbreitung der Pest in den Köpfen widerstehen.
Die jüngst versuchten Anschläge in München haben
gezeigt: Auch in Deutschland hat der terroristische Antisemitismus seinen Ort und wir müssen ihn mit allen polizeilichen Möglichkeiten bekämpfen.
Aber auch unterhalb der terroristisch organisierten
Dimension gibt es ein Problem; rechte Gewalt ist in
Deutschland immer noch alltäglich. 100 Menschen sind
seit der deutschen Einheit rechtsextremistischer Gewalt
zum Opfer gefallen und haben ihr Leben verloren. Das
zeigt, wie groß das Problem ist und dass wir entschieden
handeln müssen.
Wir können dabei als Gesetzgeber tätig werden, indem wir mit einem Antidiskriminierungsgesetz, das
Volker Beck ({6})
auch die Diskriminierung aufgrund der Religion verbietet, ein Zeichen setzen.
({7})
Wir müssen alle Initiativen in der Gesellschaft unterstützen, die das Erinnern fördern und das Aufdecken und
Entkleiden des antisemitischen Vorurteils auf den Weg
bringen.
Kurt Tucholsky sagte:
Die meisten Antisemiten sagen viel mehr über sich
selbst aus als über ihren Gegner, den sie nicht kennen.
Lassen Sie uns diesen Menschen entgegentreten und
lassen Sie uns ihnen auch sagen, was wir von ihnen halten. Hier darf es keine falsche Zurückhaltung geben,
sondern hier ist die Klarheit aller gefragt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Löning von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Kampf gegen den Antisemitismus ist ein Kampf für die
Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaft. Es geht
in diesem Kampf um die Frage, ob wir eine menschliche
oder eine unmenschliche Gesellschaft haben wollen. Der
Schutz von Minderheiten, die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Religion sind tragende Säulen unseres liberalen, demokratischen Rechtsstaates.
Es ist ein gutes Signal an die deutsche Öffentlichkeit,
dass heute alle Parteien des Deutschen Bundestages gemeinsam zum Kampf gegen den Antisemitismus aufrufen. Es ist das Signal an die Bürger, dass wir uns als
demokratische Parteien gemeinsam gegen die Diskriminierung einzelner Gruppen wenden, dass wir Ausgrenzung nicht zulassen und dass wir Antisemitismus in keiner Form tolerieren werden.
({0})
Wir werden nicht zulassen, dass Antisemiten durch Intoleranz, durch dumpfe Vorurteile die Grundlagen unserer
demokratischen, freiheitlichen und menschlichen Gesellschaft zerstören.
({1})
Im Namen der FDP möchte ich daher ausdrücklich
begrüßen, dass die OSZE im nächsten Jahr hier in Berlin
eine internationale Konferenz durchführen will, um
ein Aktionsprogramm gegen Antisemitismus im OSZERaum zu entwickeln; denn die Vorurteile sitzen tief. In
einer ganzen Reihe von OSZE-Ländern - ich will uns da
ausdrücklich nicht ausnehmen - werden immer wieder
Vorurteile gegen Juden angeheizt und Klischeebilder in
unverantwortlicher Weise instrumentalisiert: von Einzelnen, von Gruppen, von religiösen Führern - leider -, von
Medien, aber auch von Politikern und Parteien. Die Zahl
der antisemitischen Vorfälle hat in den letzten Jahren
dramatisch zugenommen. Menschen werden bedroht
und attackiert, Grabstätten werden geschändet und Gebetshäuser werden angegriffen.
Wir werden den Antisemitismus nur zurückdrängen
können, wenn wir ihn in ganz Europa bekämpfen, denn
Vorurteile und Hass machen nicht an nationalen Grenzen
Halt.
Es ist gut, dass wir diese Debatte vor den Augen der
deutschen Öffentlichkeit führen. Es ist gut, dass wir hier
ein klares Zeichen im Kampf gegen den Antisemitismus
setzen. Aber auf Dauer werden wir nur Erfolg haben,
wenn wir diesen Kampf in ganz Europa führen.
({2})
Die meisten Länder Europas sind jetzt seit über zehn
Jahren frei. Die Menschenrechte gelten endlich für die
meisten der in Europa lebenden Bürger. Sie bilden die
Grundlagen der meisten Staaten, auch der meisten Mitgliedstaaten der OSZE. Wir werden nicht zulassen, dass
Antisemiten und andere Feinde der Freiheit diese Grundlagen unserer freien europäischen Gesellschaft zerstören. Daher ist es so wichtig, dass die OSZE-Konferenz
ein Aktionsprogramm entwickelt, dass sie eben mehr tut,
als nur Bekenntnis abzulegen. Es ist wichtig, Bekenntnis
abzulegen, und wir dürfen nie darauf verzichten, Bekenntnis abzulegen. Es ist aber genauso wichtig, ein Programm mit konkreten Schritten zu entwickeln; denn
sonst werden wir diesen Kampf nie gewinnen.
Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass wir als
Politiker den Kampf nicht allein gewinnen werden. Die
Zivilgesellschaften sind gefordert. Im Verein, bei der Arbeit, im täglichen Leben müssen Diskriminierungen und
Vorurteile zurückgewiesen werden. Jeder einzelne Bürger ist hier gefordert. Wenn die Gesellschaft als Ganzes
klar macht, dass Antisemiten und Antisemitismus in ihr
keinen Platz haben, dann hat der Antisemitismus auch
keine Chance.
Aber auch die Medien sind gefordert. Sie sind gefordert, Klischees und Vorurteile nicht fortzuschreiben. Sie
sind gefordert, nicht an Ressentiments zu appellieren.
Schon in der Ausbildung müssen Journalisten für das
Thema Antisemitismus sensibilisiert werden. Es ist
wichtig, Wordings zu verstehen: einzelne Worte, ihre
Konnotation. Es ist wichtig, dass den Journalisten bewusst ist, was mit einzelnen Worten transportiert werden
kann.
({3})
Aber auch - das ist, wie ich finde, ein besonders
schmerzliches Kapitel - religiöse Führer und Gemeinschaften im OSZE-Raum sind gefordert, sich gegen den
Antisemitismus zu wenden. Leider gibt es in dem einen
oder anderen Land noch immer Gemeinschaften oder
- auch und gerade in religiösen Gemeinschaften - Einzelne, die alte Klischees und Vorurteile wiederholen und
sich eben nicht, wie es eigentlich ihre Aufgabe wäre, für
religiöse Toleranz und dafür, Andersgläubige zu respektieren, einsetzen. Ich glaube, wir sollten von hier aus
ausdrücklich die Botschaft aussenden, dass dies sehr
wichtig ist. Wer selbst von religiöser Toleranz profitiert,
sollte bzw. muss die Größe haben, dies auch für andere
einzufordern.
({4})
Meine Damen und Herren, auch uns Politikern
kommt in diesem Kampf eine entscheidende Rolle zu.
Wir müssen das Thema immer wieder öffentlich ansprechen: im Ortsverband, bei öffentlichen Versammlungen
oder über die Medien. Wir sind öffentlich sichtbare Personen und es liegt in unserer Verantwortung, deutlich zu
machen, dass wir uns eindeutig gegen antisemitische
Tendenzen positionieren.
Genauso liegt es aber in unserer Verantwortung, dass
niemand, der - sei es aus Dummheit oder sei es mit Vorsatz - an antisemitische Ressentiments appelliert, in den
Reihen dieses Hauses, weder in den hier vertretenen
Fraktionen noch in den entsprechenden Parteien, einen
Platz findet.
({5})
Selbstverständlich liegt es in unserer Verantwortung,
auch die nötigen Gesetze zu erlassen und bei der Bekämpfung des Antisemitismus für die nötigen Ressourcen zu sorgen.
Ich wünsche mir, dass die OSZE-Konferenz, die im
nächsten Jahr hier stattfinden wird, in die Länder der
OSZE ein deutliches, starkes Signal im Kampf gegen
den Antisemitismus sowie für Menschlichkeit und Menschenrechte als Grundlage eines freien Europas hinausschickt.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dem Antrag, den wir heute verabschieden, heißt es wörtlich: „Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland
lehnt Antisemitismus entschieden ab.“ Das ist so, bedeutet aber auch, dass es in unserem Land eine nennenswerte Minderheit gibt, die für Stereotype und Vorurteile
gegenüber Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens
empfänglich ist. Ich denke, dass wir gerade in Deutschland eine ganz besondere Verantwortung haben, dem immer wieder entgegenzutreten.
Herr Kollege Lammert, Sie wissen, dass Sie fraktionsübergreifend sehr geschätzt werden. Weil ich über
Ihre Rede nicht hinweggehen möchte, werde ich zwei
Punkte ansprechen, die ich daran nicht gut fand. Der
erste Punkt. Sie haben Recht: Es geht darum, für
Menschlichkeit einzustehen und der Unmenschlichkeit
zu begegnen. Aber zur Wahrhaftigkeit gehört auch, zu
sagen, dass in Deutschland Unmenschlichkeit einmal
zum Regierungsprogramm erhoben worden ist und dass
wir eine ganz besondere Verantwortung haben,
({0})
bereits den ersten Ansätzen, die darauf zielen, das wieder salonfähig zu machen, was mit der Ausgrenzung
von Minderheiten verbunden ist, ganz entschieden entgegenzutreten.
({1})
Das können Sie gerne nachlesen. Hätten Sie das ein wenig dezidierter gesagt, hätte ich es besser gefunden.
Ich möchte einen zweiten Punkt nennen. Wir führen
hier zwar keine Walter-Jens-Debatte.
({2})
Aber ich glaube, wenn man, was historische Fakten betrifft, im Einzelfall doch nicht so genau hinhören
möchte, ist das ein Fehler, der zu vermeiden ist.
({3})
Wir sind nicht nur, aber auch das Volk der Dichter und
Denker. Wir sind nicht nur, aber auch das Volk der Mörder und Henker. Beides gehört zur historischen Realität.
Das haben wir in unserem Antrag auch benannt, indem
wir ausgeführt haben, dass gerade aus dem, was sich im
Holocaust ereignet hat, die historische Verantwortung
der nachwachsenden Generation erwächst, dafür Sorge
zu tragen, dass sich das nie wiederholen kann.
({4})
Antisemitismus in Deutschland hat viele Gesichter.
Zum einen schlägt uns aus den Statistiken entgegen, dass
es im Jahr 2002 rund 1 600 antisemitisch begründete
Straftaten gegeben hat, darunter fast drei Dutzend Angriffe auf Personen. Die entsprechenden Zahlen aus diesem Jahr sehen nicht besser aus.
Antisemitismus ist aber nicht nur offen erkennbar und
trägt diese hässliche Fratze. Die jüngste Untersuchung
des Forsa-Instituts belegt, dass sich Antisemitismus
nicht nur in den Randbereichen der Gesellschaft findet,
sondern auch im Zentrum: 40 Prozent der Befragten sagten, sie hätten den Eindruck, Bürger jüdischen Glaubens
würden die deutsche Geschichte zu ihrem eigenen
Vorteil instrumentalisieren. 20 Prozent der Befragten
waren der Meinung, Jüdinnen und Juden hätten zu viel
Einfluss in Deutschland. 20 Prozent der Befragten waren
der Auffassung, für den Antisemitismus seien die Jüdinnen und Juden verantwortlich. - Dieses Ergebnis zeigt,
dass sich Antisemitismus nicht auf den offen zutage tretenden Rechtsextremismus beschränkt. Daraus ergibt
sich für uns alle, vor allem für das Parlament, die dauerhafte Aufgabe, deutlich zu machen: Ja, es gibt Antisemitismus, er ist Realität; aber wir akzeptieren ihn nicht als
Normalität und treten ihm fortwährend entgegen.
({5})
Ich hatte vor wenigen Wochen die Gelegenheit, mit
der Programmdirektorin des Jüdischen Museums ein Gespräch zu führen. Zwei Punkte aus diesem Gespräch, die
mich sehr nachdenklich gemacht haben, möchte ich hier
aufgreifen. Der erste Punkt: Frau Kugelmann hat mir berichtet, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jüdischen Museums die Erfahrung gemacht haben, dass in
den Schülergruppen, die das Museum besuchen, immer
wieder einzelne Jugendliche seien, die antisemitische
Äußerungen von sich geben würden. Man muss sich fragen, woher das kommt. Schließlich ist es nicht genetisch
bedingt, dass ein Teil der Bevölkerung antisemitische
Ansichten hat. Offenkundig werden diese Ansichten vielen Menschen in einem sehr jungen Alter eingeimpft.
In einem Teil unserer Gesellschaft gibt es die unselige
Tradition, dass solche Vorurteile weitergegeben werden.
Deswegen haben wir in unserem Antrag festgehalten - das
ist ein ganz wichtiger Punkt -, dass dem Bildungsauftrag
eine ganz bedeutende Aufgabe zukommen muss. Untersuchungen belegen: Je höher der Bildungsgrad ist, desto
geringer ist die Anfälligkeit für antisemitische Stereotype. Daraus muss man Schlussfolgerungen ziehen. Man
muss sich immer wieder klar machen, dass man Demokratie nicht vererben kann, sondern dass Demokratie von
jeder Generation aufs Neue erlernt werden muss. Deswegen kommt gerade den Schulen und den Hochschulen
eine besondere Verantwortung zu.
({6})
Zum zweiten Aspekt aus dem Gespräch mit der Programmdirektorin des Jüdischen Museums. Sie hat zu
Recht darauf hingewiesen, dass es angesichts der uns allen bekannten Tatsache, dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, der antisemitischen Vorurteilen gegenüber anfällig ist - manche Wissenschaftler gehen von 15 Prozent
aus, manche von 20 Prozent -, eine Kernaufgabe der Institutionen und Einrichtungen unseres Landes sein muss,
deutlich zu machen, dass es dafür nicht im Ansatz Toleranz und Verständnis geben kann.
Herr Lammert, in diesem Zusammenhang hätte ich es
gut gefunden - Herr Pflüger wird mich schelten -, wenn
Sie ein Wort zu Herrn Hohmann gesagt hätten. Das wäre
nicht zu viel verlangt gewesen.
({7})
Ich habe vermisst, dass Sie schnell reagiert und schnell
Konsequenzen gezogen haben. Norbert Elias, ein großer
deutscher Soziologe jüdischen Glaubens, hat einmal gesagt, ein echtes Kennzeichen für Zivilisierung sei, wenn
man etwas aus eigener Überzeugung heraus tue und nicht,
weil es einen Fremdzwang gebe. Man halte Normen deshalb ein, weil sie Teil der eigenen Identität seien. - Ich
kann Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass mir der
Eindruck nicht unberechtigt erscheint, dass sich eine
große demokratische Fraktion im Deutschen Bundestag
von einem Abgeordneten, der sich antisemitisch geäußert hat, weniger aus eigener Überzeugung getrennt hat
als auf äußeren Druck hin.
({8})
Das ist bedauerlich.
({9})
In diesem Zusammenhang will ich für die SPD-Fraktion sehr deutlich sagen: Wir sind stolz, dass wir in
Deutschland einen Verteidigungsminister haben, der Ihnen vorgemacht hat, wie man sofort, also kurzfristig, reagiert, wenn Grenzüberschreitungen von Vertretern gesellschaftlicher Institutionen begangen werden. Vielen
Dank, Peter Struck - er ist gerade nicht da -, für dieses
schnelle Handeln.
({10})
In unserem Antrag heißt es: „Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland“. Das muss mehr als eine Beschwörung sein. Das
muss mit Leben erfüllt werden. Ich will an dieser Stelle
meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Vertreter des Präsidiums des Zentralrates der Juden heute
auf der Besuchertribüne Platz genommen haben. Herzlich willkommen!
({11})
Paul Spiegel hat gesagt: Antisemitismus ist etwas,
was eigentlich nicht die Juden angeht; denn sie sind Opfer von Antisemitismus. Antisemitismus geht im Wesentlichen das nicht jüdische demokratische Gemeinwesen an. Damit hat er vollkommen Recht. Ich glaube, von
der heutigen Debatte muss das Signal ausgehen, dass wir
diese Einschätzung teilen und dass wir denen, die versuchen, Minderheiten in Deutschland auszugrenzen, deutlich machen, dass sie sich selber ausgrenzen und dass
derjenige, der Minderheiten in Deutschland angreift, das
Fundament dieser Gesellschaft angreift.
Wenn wir die Debatte in diesem Sinne führen, dann,
so denke ich, wird es eine gute Debatte sein.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Leo Baeck, einer der großen Vertreter
des Judentums in Deutschland, machte 1945 eine ebenso
pessimistische wie scheinbar folgerichtige Aussage. Er
sagte: Die Epoche der Juden in Deutschland ist vorbei.
Nach der schlimmsten Konsequenz, die Antisemitismus haben kann, stellte sich zu Recht die Frage, wie jemals wieder ein Leben von Juden in Deutschland - ich
betone: in Deutschland - möglich sein könne. Herr Kollege Edathy, wenn Sie Ihre Rede im Protokoll noch einmal nachlesen, dann werden Sie vielleicht selbst zu der
Erkenntnis kommen, dass Ihre Anmerkungen gegenüber
dem Kollegen Lammert und auch Ihre Äußerungen, die
Sie in parteipolitischer Einseitigkeit meinten tätigen zu
müssen, in der heutigen Debatte möglicherweise nicht
ganz angebracht gewesen sind.
({0})
Mehr als 50 Jahre nach den Äußerungen von Leo
Baeck gab der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in
Deutschland, Paul Spiegel, in gewisser Weise die Antwort, als er von einer Renaissance des Judentums in
Deutschland sprach. Ein Widerspruch? - Nein. Ein
Wunder, das sich größtenteils im Stillen vollzog.
Noch in den 50er-Jahren saßen die Reste jüdischer
Bevölkerung in Deutschland auf gepackten Koffern.
Heute wachsen die jüdischen Gemeinden in Deutschland
zusehends. Um dieses Wunder geschehen zu lassen, war
vor allem eines notwendig: Mut. Bei der jüdischen Bevölkerung war es der Mut, im Land des Holocaust den
Neuanfang zu wagen und nicht mit vielen anderen - wofür man Verständnis haben kann und muss - nach Israel
oder in die USA auszuwandern, obwohl antisemitische
Ressentiments mit dem Ende des Krieges nicht automatisch aus den Köpfen verschwunden waren, sondern zu
allen Zeiten in mehr oder weniger deutlicher Form immer wieder zutage traten.
Ich meine aber, auch andere, die in Deutschland politisch
und wirtschaftlich Verantwortung trugen, zeigten - manchmal, Herr Präsident Thierse hat es angedeutet, zu spät - Mut,
indem sie sich der eigenen Vergangenheit stellten und bereit waren, tatkräftig Wiedergutmachung zu leisten. Nicht
zuletzt dank der Unterstützung des Staates fasste die jüdische Kultur wieder Wurzeln in Deutschland und konnten
unsere jüdischen Mitbürger Vertrauen in die Demokratie
und die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sowie in die Menschen in unserem Land fassen.
Ich erwähne hier nur den zu Beginn dieses Jahres am
27. Januar geschlossenen Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden, der gewissermaßen Abschluss und Beginn
einer Entwicklung zugleich ist.
Als Zeuge neu aufblühenden jüdischen Lebens in
Deutschland kann ich selbst sagen, was etwa in meinem
Wahlkreis Würzburg tagtäglich passiert. Jahrzehntelang
stagnierte die dortige jüdische Gemeinde, vor dem Krieg
ein Zentrum des Judentums in Deutschland, bei knapp
200 Personen. Durch den Zuzug von Juden aus Osteuropa stieg die Zahl seit 1991 rapide an, sodass diese Gemeinde in Würzburg und ganz Unterfranken heute über
1 100 Mitglieder zählt. Gibt es einen klareren Beweis als
dieses Beispiel dafür, dass Deutschland für viele Menschen jüdischen Glaubens, vor allem aus den Ländern
der ehemaligen Sowjetunion, heute zum Teil sogar ein
Hort der Hoffnung geworden ist?
Gemeinsam mit der Bayerischen Staatsregierung steht
die jüdische Gemeinde von Würzburg nun vor der gewaltigen Aufgabe, diese neu zugezogenen, zu einem
großen Teil kulturell entwurzelten Menschen nicht nur
zu integrieren, sondern ihnen auch mit den Grundlagen
ihres Glaubens neues Selbstbewusstsein zurückzugeben. Das bedeutet eine Integrationsleistung, die jüdische
und nicht jüdische Mitbürger gemeinsam vollbringen.
Besonders möchte ich in diesem Zusammenhang das
kürzlich eröffnete jüdische Kulturzentrum „Shalom Europa“ in Würzburg erwähnen, dessen zweiter Bauabschnitt vermutlich 2005 fertig gestellt sein wird, und das
damit an eine jahrhundertelange wissenschaftliche Tradition des Judentums in dieser Stadt anknüpft. Es hat
sich, wie auch das künftige jüdische Gemeindezentrum
in München, das Gemeindezentrum in Frankfurt oder
das Jüdische Museum in Berlin, zur Aufgabe gemacht,
an die große Tradition jüdischen Lebens in Deutschland
zu erinnern und auch Begegnungsort jüdischer und
christlicher Kultur zu sein. Damit stehen die jüdischen
Gemeinden unseres Landes nicht nur voll im Leben der
Bundesrepublik, sie entwickeln darüber hinaus eine eigene Integrationskraft. Das ist eine Entwicklung, die
Hoffnung macht. Sie wird öffentlich noch viel zu wenig
wahrgenommen, ist aber inzwischen eine Realität.
Real ist aber auch etwas anderes, das offenbart, wie
fragil die Grundlage des Zusammenlebens von Juden
und Nichtjuden in Deutschland noch immer ist: der latente Antisemitismus. Es ist zumindest ein Beginn und
ein Anzeichen von Antisemitismus, wenn entweder offen geäußert oder einmal im Nebensatz Ressentiments
anklingen, wenn er sich in anonymen und leider immer
häufiger auch namentlich gekennzeichneten Schmähbriefen oder an Stammtischen äußert. Von solchen Anfängen führt ein direkter Weg zu Steinwürfen gegen Synagogen, zu geschändeten jüdischen Friedhöfen oder
wie zuletzt zu geplanten und Gott sei Dank vereitelten
Anschlägen wie dem gegen die Grundsteinlegungsfeier
des jüdischen Gemeindezentrums in München.
Angriffe auf Würde und Leben jüdischer Mitbürger,
auf jüdische Einrichtungen sowie spektakuläre antisemitische Vorfälle verunsichern und schockieren uns immer
wieder. Sie sind lauter als die Erfolge unseres Zusammenlebens. Sie haben das Ziel, dessen Grundlagen zu erschüttern, und sind deshalb ein Angriff gegen uns alle.
({1})
Ich bin aber der Überzeugung, dass die große Mehrheit unserer Bürger alle Formen von Antisemitismus ablehnt, über Anschläge auf jüdische Friedhöfe empört ist
und tiefe Trauer über den dabei zum Ausdruck kommenden Verfall von Sitte und Moral empfindet. Dies zu wissen sollte unsere jüdischen Mitbürger ermutigen, nicht
aufzugeben und ihre Entscheidung aufrechtzuerhalten,
in unserem gemeinsamen Land zu bleiben. Wir wollen
an ihrem Leben, ihrer Kultur und ihrer Religion teilhaben. Wir werden von staatlicher Seite alles tun, um Antisemitismus in jeder Form und wenn nötig mit der ganzen
Schärfe des Gesetzes zu bekämpfen. Das Vertrauen von
Juden in dieses Land darf nicht enttäuscht werden.
({2})
Deshalb ist es wichtig, Zeichen zu setzen. Hier ist die
Politik in der Pflicht. Hier sind wir in diesem Bundestag
in der Pflicht. Ich denke, wir sind dieser Pflicht auch mit
dem vorliegenden Antrag „Antisemitismus bekämpfen“
nachgekommen. Ganz besonders erfreulich und ermutigend ist dabei - das wurde schon erwähnt -, dass dieser
Antrag so schnell und einmütig von allen Fraktionen beschlossen worden ist.
Zentral wird weiterhin auch die Auseinandersetzung
mit Judenverfolgung und Holocaust sein. Hand in
Hand damit muss aber etwas anderes, nicht weniger Entscheidendes gehen: Wissensvermittlung. Ihre Erfahrung
mit der Präsidentin des Jüdischen Museums greife ich
gern auf und kann sie nur bestätigen. Bund, Länder und
Gemeinden müssen es sich zur Pflicht machen, Projekte
des Zusammenlebens, die ich erwähnt habe, zu unterstützen, um jüdisches Leben in Deutschland bekannt und
verständlich zu machen. Noch wird in deutschen Schulbüchern kaum vermittelt, welch außerordentlichen Beitrag jüdische Mitbürger in vielen Jahren vor allem in
wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht für unser Land geleistet haben.
({3})
Weit mehr als bisher muss deshalb der Schulunterricht Wissen über jüdische Kultur und Geschichte in
Deutschland vermitteln. Es ist dringend erforderlich, das
Wiederaufblühen jüdischen Lebens in der Bildungs- und
Kulturarbeit mehr als bisher zu begleiten, damit es ein
neues Kapitel der Beziehungen mit unseren Mitbürgern
jüdischen Glaubens einleiten kann.
Lassen Sie uns die damit verbundene Hoffnung nicht
enttäuschen, damit eine Zukunft hat, was die Präsidentin
der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte
Knobloch, bei der Grundsteinlegung für das neue Jüdische Zentrum in München gesagt hat:
Seit jenem November 1938 ist ein Teil von mir, ein
Teil meiner Koffer immer noch auf der Flucht. Am
Abend des heutigen Tages jedoch, des
9. November 2003, werde ich diese Koffer öffnen
und damit beginnen, … jedes einzelne Teil an den
Platz zu räumen, den ich dafür die letzten 65 Jahre
freigehalten habe. Denn heute, nach genau
65 Jahren, bin auch ich wieder ganz in meiner Heimat angekommen.
Unsere jüdischen Mitbürger sollen wissen: Sie sind mit
uns in unserer gemeinsamen Heimat angekommen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Antisemitismus ist keine Meinungsfreiheit. Das Verwenden
antisemitischer Stereotypen ist kein heldenmütiger Tabubruch. Antisemitismus - diese besondere Form von
Rassismus - darf nicht als Problem der Juden betrachtet
und behandelt werden. Wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, wenn Juden auf dem Weg in die Synagoge unflätig beschimpft werden, wenn der Holocaust
geleugnet wird, dann ist das vor allem ein Problem auch
der Nichtjuden. Ich muss mich fragen: In welchem Land
will ich leben? In welchem Land wollen wir leben?
Am 6. Juni dieses Jahres haben wir hier den Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland ratifiziert. Diesem positiven Ereignis steht aber
eine bedrückende Realität jüdischen Lebens entgegen.
Ich zucke immer zusammen, wenn ich in Berlin in der
Oranienburger Straße Panzerwagen vor der Synagoge
als immer währende und immer warnende Mahnung stehen sehe. Mich schaudert es, wenn ich in Frankfurt sehe,
wie sich der jüdische Kindergarten hinter hohen Zäunen,
dickem Beton und entschlossenen Sicherheitskräften
verstecken muss. Jüdisches Leben in der Öffentlichkeit
findet im Sicherheitskokon statt.
Das mahnt, wie viel sich in unserem Land ändern
muss, damit alle ohne Furcht leben können.
({0})
Die Bekämpfung des Antisemitismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wenn versucht wird, mit antisemitischen Ressentiments Stimmen zu fangen und Stimmungen zu entfachen, müssen wir gemeinsam dagegen
antreten. Wir dürfen Augen, Ohren und Münder davor
nicht verschließen. Der Einsatz gegen jede Form von
Antisemitismus ist der Einsatz für eine stabile, für eine
feste Demokratie, die auf gleichen Rechten basiert, eine
Demokratie, die nicht ausgrenzt, sondern integriert, eine
Demokratie, die nicht diskriminiert, sondern präventiv
den Anfängen wehrt. Prävention - das ist die Vergegenwärtigung der deutschen Geschichte und nicht ihre Entsorgung.
Wir erleben von Teilen der politischen Klasse, von Intellektuellen und in den Feuilletons eine Neuauflage des
Meinungskampfes um die Deutung der deutschen Geschichte. Das geschieht nach dem Motto: „Die Deutschen haben zwar …, aber die anderen, die Russen, die
Briten, die Polen, haben auch …“ Ein solches Aufrechnen darf es nicht geben. Bombenkrieg, Vertreibung und
Claudia Roth ({1})
Kriegsverbrechen können die deutsche Schuld nicht relativieren.
Laut einer Forsa-Studie vom November ist jeder
fünfte Deutsche latent antisemitisch eingestellt. Im Vergleich zu 1998 ist der Anteil weiter gestiegen. Das Schüren von und das Spielen mit antisemitischen Ressentiments von Jürgen Möllemann und Martin Hohmann
zeigen, dass es die Gefahr gibt, dass der Antisemitismus
in die politischen Salons einzieht - eine sehr gefährliche
Entwicklung.
Wer hofft, durch Wegschauen das Problem zu lösen,
wer hofft, solche Schandtaten nur als vermeintliche Tabubrüche oder als leider leicht verunglückt zu stilisieren,
der macht sich mitschuldig. In beiden Fällen, im Fall
Möllemann und im Fall Hohmann, wurde reagiert, spät
reagiert. Lieber Dr. Lammert, bitte treten Sie all denen,
die jetzt in großen Zeitungsanzeigen behaupten, dass die
Rede zwar falsch, aber nicht antisemitisch sei, offensiv
entgegen. Denn Hohmanns Rede beinhaltet eine in sich
völlig geschlossene judenfeindliche Argumentation.
Man sollte sie an Schulen, Volkshochschulen und Universitäten intensiv diskutieren, um deutlich zu machen,
dass es um Antisemitismus geht und dass die populistische Behauptung, man dürfe in Deutschland nicht mehr
die Wahrheit sagen, ein Teil des Problems ist.
({2})
Frau Kollegin Roth, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Lammert?
Ja.
Frau Kollegin Roth, ich sage Ihnen fest zu, dass ich
bereit bin, der Aufforderung zu folgen, all denen offensiv entgegenzutreten, die mit diesen Anzeigenkampagnen die Geisteshaltung weiter transportieren, die meine
Fraktion zu dieser schwierigen Entscheidung genötigt
hat. Aber ich bitte Sie, mir die Frage zu beantworten, ob
Sie bereit sind, all denjenigen entgegenzutreten, die damit eine Generalverdächtigung für die deutschen Christdemokraten verbinden
({0})
und in der deutschen Öffentlichkeit den Eindruck transportieren, nun sei eine Generalüberprüfung angezeigt,
um festzustellen, wer eigentlich auf dem Boden unserer
gemeinsamen Überzeugungen stehe. Die Solidarität der
Demokraten muss sich in beide Richtungen bewegen.
({1})
Herr Dr. Lammert, ich danke Ihnen, dass Sie zugesagt
haben - das ist nicht nur Ihre Aufgabe, sondern die Aufgabe von vielen -, die offensive Auseinandersetzung mit
diesem geschlossenen antijüdischen Weltbild, das sich in
der Rede von Hohmann darstellt, zu führen. Ich sehe
nicht, dass es einen Generalverdacht gegen irgendeine
Fraktion oder irgendeine Partei gibt. Sie haben reagiert,
für mein Gefühl allerdings sehr spät.
Hohmanns „Man wird doch noch sagen dürfen,
dass …“-Muster ist altvertraut. Zunächst werden Tabubrüche inszeniert, indem man antisemitische Botschaften aussendet, um dann so zu tun, als ob es eigentlich um
etwas ganz anderes gegangen sei, zum Beispiel um die
Politik der israelischen Regierung. Darf man als Deutscher oder Deutsche die israelische Regierung nicht kritisieren? - Doch. Die israelische Politik kann und muss
man sogar kritisieren. Das gilt für die Absicht, ein System von Zäunen und Mauern auf palästinensischem Gebiet zu errichten, das gilt für Siedlungspolitik, wenn sie
Menschenrechte verletzt. Aber ebenso müssen palästinensische Selbstmordattentate moralisch und politisch
eindeutig verurteilt werden, die gezielt Zivilisten treffen
und nicht minder eine Menschenrechtsverletzung darstellen. Wir müssen parteiisch sein für die Menschenrechte, aber nicht für eine Seite.
({0})
Vor allem muss man sich davor hüten, die historische
Schuld der Deutschen gegenüber den Juden dadurch zu
relativieren, dass man heute Analogien zur NS-Zeit
wählt. Der Anschlag auf die jüdischen Synagogen in
Istanbul, die antisemitischen Äußerungen des ehemaligen malaysischen Regierungschefs und die EU-Studie
über den Antisemitismus in Europa zeigen, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem in Deutschland ist. Antisemitismus stellt kein Phänomen dar, das kleiner wird,
wenn man es ignoriert. Ganz im Gegenteil, Ignoranz gegenüber Antisemitismus ist der Dünger, mit dem dieser
wächst.
Ich begrüße daher, dass die Studie, die das Zentrum
für Antisemitismusforschung erstellt hat, in der letzten
Woche doch veröffentlicht wurde, weil die Studie uns
warnt: zum Beispiel vor dem Anstieg von antisemitischen Ressentiments in der muslimischen Minderheit.
Ich verstehe dies als Aufforderung, sehr viel mehr Anstrengungen für eine Integration zu unternehmen. Zu den
unangenehmen Wahrheiten der Studie gehört auch der
weitere Anstieg antisemitischer Verschwörungstheorien. Dazu gehört, dass die Kritik an Israel und den USA
immer mehr in Judenhass umschlägt, ebenso, dass es in
der globalisierungskritischen Bewegung antisemitische
Töne gibt. Wichtig und gut ist allerdings, dass darüber
eine Auseinandersetzung stattfindet.
Wir müssen international und gemeinsam handeln
und neue Formen im Kampf gegen Antisemitismus entwickeln. Deswegen begrüße ich es sehr, dass die OSZE
die Entscheidung gefällt hat, eine Konferenz zum Thema
Antisemitismus durchzuführen. Ganz besonders freut es
mich, dass es uns gelungen ist, diese Konferenz nach
Berlin zu holen. Wir werden uns unter anderem dafür
einsetzen, dass wir ein eigenständiges Instrument zum
Claudia Roth ({1})
Monitoring antisemitischer Vorfälle im OSZE-Raum
schaffen. Die Konferenz soll die einzelnen nationalen
Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus beleuchten und die Ergebnisse in einem gemeinsamen Aktionsplan bündeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand aus meiner
Generation hat Schuld am Holocaust und niemand hat
eine solche geerbt. Aber wir haben eine Verantwortung
aus unserer Geschichte für die Zukunft geerbt: die Verpflichtung und Verantwortung dafür, dass diese Untaten
in ihrer Singularität nie vergessen werden, dass sie als
Mahnung für kommende Generationen dienen und dass
sie sich nie wiederholen. Wir haben die Verantwortung,
der Opfer zu gedenken und alles zu tun, den noch lebenden Überlebenden ihr Leben erträglicher zu machen.
({2})
Diese Verantwortung für die Zukunft besteht dauerhaft
und kann nicht durch einen Schlussstrich beendet werden. Wir alle - wir alle hier - müssen uns dem stellen,
damit wir die Zukunft gemeinsam gewinnen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Christoph Hartmann von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was hat ein junger Mensch in meinem Alter mit Antisemitismus zu tun? Das fragt sich der eine und andere in
unserer Republik. Dieselbe Frage könnte sich aber auch
jeder 50- oder 60-Jährige stellen, der den Holocaust nicht
erlebt hat. Diejenigen aber, die diese Frage stellen, machen es sich zu einfach; denn es geht um die persönliche
Verantwortung jedes Einzelnen, um die Frage, wie wir
heute in diesem Land mit dem Erbe, das wir unstreitig haben, und mit den Dingen, die in diesem Land unstreitig
passiert sind, umgehen, sowie darum, wie wir die Gegenwart und die Zukunft gestalten wollen. Das können wir
nur, wenn wir die Vergangenheit kennen.
({0})
Der einzige Weg, den unser Land und unsere Gesellschaft, aber auch wir alle persönlich gehen müssen, ist
der Weg der Toleranz gegenüber jedem einzelnen anderen. Was heißt dies konkret? Ich habe gestern mit einem
Freund jüdischen Glaubens telefoniert und ihn gefragt,
was er über das Thema Antisemitismus in Deutschland
denkt.
Er gab mir die bemerkenswerte Antwort: Wer einmal
eine Lungenentzündung gehabt hat, der sollte bei jedem
Husten vorsichtig sein. - Ich glaube, in diesem Sinn ist
der Auftrag zu verstehen, den wir als Politiker zu erfüllen haben, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Wir müssen unser Erbe ernst nehmen, eine wirklich
liberale Gesellschaft zu schaffen, in der sich all die Menschen wohl fühlen, für die bei uns die Heimat ist, und
zwar unabhängig davon, ob sie schwarz oder weiß,
Christen oder Juden, hetero- oder homosexuell sind.
Diese Haltung hat nichts mit dem Alter zu tun; sie hat
vielmehr etwas mit der inneren Einstellung zu tun.
Meine Generation hat den Holocaust nicht erlebt. Sie
hatte und hat allerdings die Gelegenheit, mit Zeitzeugen
zu leben, nachzufragen, zu verstehen, zu lernen. Nachfolgende Generationen werden diese Möglichkeit nicht
mehr haben. Deswegen ist es so wichtig, dass diesen
nachfolgenden Generationen der Holocaust als
schlimmste Folge von Antisemitismus als warnendes
Mahnmal verankert bleibt. Gerade die junge Generation
- insbesondere in einem erweiterten Europa der verschiedenen historischen, religiösen und sozialen Wurzeln muss lernen, dass Unterschiedlichkeit Reichtum und eine
unermessliche Chance für dieses Land bedeutet.
({2})
Es ist sehr wichtig, dass sich der Bundestag für die
Antisemitismuskonferenz der OSZE einsetzt. Es ist
sehr wichtig, dass wir in unseren Anträgen die Bildung
als Schwerpunkt betonen. Aber - auch das soll hier gesagt sein - dann müssen wir uns über alle Partei- und
Fraktionsgrenzen hinweg in den Landtagen und im Bundestag Gedanken machen, ob es richtig ist, in dieser Zeit
die Mittel für Bildung zu kürzen. Bildung fördert Toleranz. Das Wissen um andere baut Vorurteile ab und erstickt die Angst vor Neuem im Keim.
An unseren Schulen und Universitäten treffen Jugendliche auf andere Kulturen und Religionen. Es ist
deshalb entscheidend, dass junge Menschen lernen, andere zu respektieren und zu verstehen, und erkennen,
dass gerade in der Unterschiedlichkeit die Chance liegt,
über den eigenen Horizont hinaus Erfahrungen zu machen. Die Bildung hat dabei eine Schlüsselrolle, auch
und gerade die Bildung und Ausbildung der Werte.
Geht das Thema Antisemitismus junge Menschen etwas an? - Ja, und zwar sehr viel. Gerade wir junge Menschen müssen sensibel sein und früh reagieren, wenn es um
die Bekämpfung von Antisemitismus und die Bekämpfung
von Diskriminierung von anderen Menschen geht.
Jeder Mensch, unabhängig vom Alter, trägt Verantwortung für seine Einstellung. Jeder Mensch ist Teil dieser Gesellschaft und beeinflusst sie. Jeder Mensch trägt
Verantwortung dafür, ob sich dieses Land durch mehr
Toleranz und Menschlichkeit auszeichnet.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Gert
Weisskirchen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hatten wir nicht alle darauf gehofft, dass wir in diesem
Land nie wieder über Antisemitismus reden müssten,
dass wir ihn sozusagen versiegelt und abgeschlossen hätten und dass er unschädlich gemacht worden wäre? Nun
aber zeigt der Wiedergänger seine böse Fratze.
Nach all dem Furchtbaren, das der Hass auf die Juden
und der Massenmord an den europäischen Juden ausgelöst und die Zivilität ausgelöscht hat, stellt sich die
Frage, wie der Hass wieder eindringen kann, und zwar
nicht in die Lungen, Herr Hartmann, sondern in die
Köpfe von Menschen, um ihre Fähigkeit des Denkens zu
zerstören.
Warum gibt es Menschen, die vergessen, wie er
kommt? - Er kommt wie der Mörder in der Nacht. Er
fällt die Gefühle an. Er vergiftet sie. Das Gewissen
siecht dahin. Am Ende ist es zerfallen. Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer haben 1946 das Buch
„Antisemitismus - eine soziale Krankheit“ veröffentlicht. Darin heißt es:
Der Antisemit hasst den Juden, weil er glaubt, dass
der Jude an seinem Unglück schuld ist. Er verfolgt
den Juden, weil er sich von ihm verfolgt fühlt.
Weiter heißt es:
Die gewaltigste Energie, die die Zivilisation mit
Zerstörung bedroht, liegt im Innern des Menschen.
Im Innern des Menschen!
Wird diese gewaltige Energie nicht eingedämmt,
dann höhlt sie die Regeln des menschlichen Zusammenlebens aus von innen. So zerstört sie die Demokratie. Die Diktatur der Gewalt triumphiert.
Das können wir gerade hier in Berlin nachvollziehen.
Hitler ist dafür verantwortlich, dass bis an das Ende aller
Tage mit dem Namen Deutschlands ein Begriff verbunden wird: die Schoa.
Und heute? Heute richtet sich der Antisemitismus
nicht mehr allein gegen Juden als Individuen. Mortimer
Zuckerman, Sonderbotschafter Clintons für den Nahen
Osten, hat gerade einen Artikel im „US News World Report“ veröffentlicht, in dem es heißt:
Israel taucht heute als der kollektive Jude unter den
Nationen auf.
Ob im „Guardian“, im „Observer“, im „New Statesman“, in „Le Nouvel Observateur“, in „La Stampa“ oder
im „L’Osservatore Romano“, überall in Europa findet
Zuckerman Belege für Antisemitismus im Journalismus.
Mikis Theodorakis hat jüngst erklärt: „Die Juden sind an
allem schuld.“ Rolf Hochhuth hat einmal gesagt:
Ich kann nichts Historisches denken, ohne Auschwitz mitzudenken.
Diese Erkenntnis darf nie verloren gehen; denn wenn sie
verloren geht, dann sind wir verloren.
({0})
Der englische Historiker Mark Mazower fragt uns
Europäer in seinem Buch „Der dunkle Kontinent - Europa im 20. Jahrhundert“ - das ist die gleiche Frage, die
Raymond Aron schon vor 50 Jahren gestellt hat -: Haben sie ihr Wertesystem bewahrt? Ich glaube zwar
nicht, dass man die Gegenwart vollständig aus der Vergangenheit verstehen kann. Aber eines ist klar: Im europäischen Gedächtnis sind Erinnerungen aufbewahrt, die
uns trennten, bevor sie uns jetzt verbinden. Sie sind bis
zum Rand gefüllt mit schrecklichen Erfahrungen: die
Hölle zweier Weltkriege und der Absturz in das Ungeheuerliche, in den Völkermord. Deutschland braucht das
immer währende Erinnern daran, dass es Deutsche waren, die in die Barbarei abgestürzt sind. Das darf nicht
ausgelöscht werden. Europa muss das Wissen um die
Gefahren hochhalten; denn der Absturz in die Barbarei
- das haben wir im früheren Jugoslawien gesehen - ist
immer möglich.
Für die Gegenwart und für die Zukunft - Herr
Hartmann, ich bin froh darüber, dass gerade Sie als jüngerer Politiker das deutlich gemacht haben - muss gelten: Unser Gedächtnis muss heiß bleiben. Folgende Fragen müssen immer wieder neu gestellt werden: Wie
entstehen Diktaturen? Wie können wir alle gemeinsam
Kräfte sammeln, um den europäischen Kern unserer
Werte zu schützen? Es heißt: Die Würde des Menschen
ist unantastbar. Aber wir wissen auch, dass sie verletzlich ist. Das ist der Kern dessen, was uns die Vergangenheit an Verantwortung übertragen hat. Ich bin dankbar
dafür, dass Sie als junger Politiker darauf aufmerksam
machen und sagen: Diesen Teil der Verantwortung übernehmen wir, die jüngere Generation.
({1})
Das Innerste, das wir bewahren müssen, ist der Kern
der Freiheit. So wird das historische Gedächtnis zu einem Band, das uns Europäer für immer zusammenhalten
wird.
Hass und Gewalt haben die Diktaturen geboren. Wer
diesen Teil des Gedächtnisses verliert, der gibt neuem
Hass und neuer Gewalt eine nächste Chance. Außerdem
wirft er - Wolfgang Thierse hat eben daran erinnert einen Schatten auf den guten Teil des europäischen, ja
auch des deutschen Gedächtnisses: die ein Licht verbreitende Aufklärung, die in unserer Gegenwart strahlt. Das
macht Mut auf das Versprechen der Freiheit.
David Harris hat dem Auswärtigen Ausschuss des
Senats in Washington vor kurzem eine nüchterne Bilanz
vorgelegt. In einer Anhörung über den Antisemitismus
in Europa sagte er dort:
Leider sind unsere Anstrengungen, auf die lauernde
Gefahr aufmerksam zu machen, außer in Deutschland praktisch überall auf taube Ohren gestoßen.
Gert Weisskirchen ({2})
Die Bundesrepublik Deutschland war darauf gegründet - das ist unsere gemeinsame Überzeugung -, um
Versöhnung zu bitten, darauf, dass jüdisches Leben in
Deutschland möglich ist und bleibt, und darauf, dass Juden und Nichtjuden zusammenleben wollen. Dieses
Selbstverständnis wird durch die globale Fernwirkung
des tragischen Konflikts zwischen Israel und Palästina
allerdings unterspült. Weltweit von den Medien ausgeleuchtet, werden Gefühle angefacht und häufig auch
journalistisch zugespitzt.
Das Recht auf Kritik an jeder Regierung gilt;
Salomon Korn hat das in einem Interview sehr deutlich
gemacht. Es gibt wenige demokratische Öffentlichkeiten, die ihre frei gewählte Regierung härter als die israelische kritisieren. Die Grenze, die zwischen Kritik am israelischen Regierungshandeln - diese Kritik ist legitim und dem Missbrauch dieser Kritik trennt, muss unverrückbar bleiben. Wenn, wie geschehen, das Vorgehen der
israelischen Armee im Westjordanland beispielsweise
mit dem der Nazis verglichen wird, dann schlägt Kritik
in Judenfeindlichkeit um. An dieser Stelle muss das
Stoppsignal aufgestellt werden.
({3})
Anderenfalls werden die Motive des Staates Israel verfälscht und in antisemitisches Verhalten umgebogen.
Eine nicht gerechtfertigte Kritik am israelischen Regierungshandeln zwingt Juden außerhalb Israels zu kollektiver Israelisierung; so soll Israel zum kollektiven Juden
stilisiert werden.
Eine große Gefahr, mit der wir jetzt konfrontiert sind
- vielleicht wird das jetzt deutlich -, ist, dass der alte
Antisemitismus in einen neuen übergleitet, wenn die Intifada entgrenzt wird und wenn extremistische Muslime
ihren Kampf in Einwanderungsgesellschaften übertragen. Schauen wir uns doch einmal an, was in den Banlieues vor sich geht! Es gibt Hinweise darauf, dass der
alte Antisemitismus in einen neuen übergleitet. Diese
Warnzeichen müssen wir jetzt erkennen.
Es gilt deswegen, nicht nur gegen den alten Antisemitismus, sondern auch gegen diese neue Form des Antisemitismus in aller Klarheit und mit aller Härte zu
kämpfen. Man biegt die - zulässige - Kritik am Handeln
der israelischen Regierung in Richtung Existenzgefährdung Israels - man will Israel das Existenzrecht sogar
nehmen - um. Das ist die große Gefahr in der gegenwärtigen Situation. Diese Gefahr müssen wir gemeinsam radikal bekämpfen.
({4})
Herr Kollege Weisskirchen, kommen Sie bitte zum
Schluss.
Lassen Sie mich diesen Schlusssatz noch sagen.
Bitte.
Heute bin ich mir sicherer denn je - auch in dieser
Debatte -: Wir werden den Kampf gegen den alten wie
den neuen Antisemitismus gemeinsam gewinnen, weil
die deutsche Demokratie in der Familie der europäischen
Demokratien fest verankert ist und weil wir Demokraten
stärker sind.
({0})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
vergangenen Wochenende sind auf einem jüdischen
Friedhof in meinem Wahlkreis Gräber geschändet und
beschmiert worden. Die Reaktionen darauf waren Abscheu und Empörung. Aber dann ging man doch irgendwie wieder zur Tagesordnung über.
Es gibt Anzeigenkampagnen und Spots im Fernsehen
gegen Antisemitismus und es gibt Programme in der Jugendsozialarbeit. Das alles ist richtig und notwendig.
Doch seien wir ehrlich: Diese Maßnahmen allein reichen nicht aus. Diese Maßnahmen dürfen noch nicht einmal ausreichen, das Gewissen von uns Politikern damit
zu beruhigen, immerhin etwas unternommen zu haben.
Es wird in Deutschland viel zum Antisemitismus gesagt,
aber es muss auch ganz praktisch im Alltag gehandelt
werden, gerade dann, wenn es nötig ist.
({0})
Antisemitismus bekämpfen, das ist nicht allein eine
Aufgabe der Politik; dabei kommt es auf jeden Einzelnen an. Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens ausbauen. Das muss auch
bedeuten, dass wir füreinander einstehen.
Ich kann gut verstehen, dass viele Bürger jüdischen
Glaubens besonders das Nicht-Hinsehen, das Nicht-dazwischen-Gehen nach dem Motto „Was geht mich das
an?“ erschüttert. Es müssen immer wieder überzeugende
Signale gesetzt werden, dass wir in unserer Gesellschaft
mit den Bürgern jüdischen Glaubens und ihren Gemeinden im Kampf gegen Antisemitismus Schulter an Schulter stehen.
Vergangenheitsbewältigung allein reicht nicht aus.
Wir brauchen mehr praktische Taten in der Gegenwart.
Hier kann und hier muss sich die Bürgergesellschaft jeden Tag aufs Neue beweisen.
({1})
Neue Wege im Kampf gegen Antisemitismus gehen,
das heißt auch, neue Erkenntnisse aufzugreifen, selbst
wenn sie nicht ins vorgeprägte Weltbild passen. Dazu
gehört, zur Kenntnis zu nehmen: Antisemitismus gibt es
nicht nur bei Neonazis und Ewiggestrigen; es gibt ihn in
subtiler Weise auch im äußeren linken Spektrum, es gibt
ihn bei Dummen und Ignoranten. - Deshalb ist es wichtig, deutlich zu machen, dass etwa jüdische Kultur ein
bedeutender Teil unseres Landes war und ist.
Mit großer Sorge beobachten wir aber auch die sich
häufenden Vorfälle - ich bin dankbar dafür, dass das von
allen Seiten des Hauses bereits angesprochen worden
ist -, bei denen Bürger jüdischen Glaubens von muslimischen Zuwanderern, von radikalen Arabern und
Türken, beschimpft und geschlagen wurden, gerade auch
hier in Berlin. Der Berliner Verfassungsschutz registriert
eine dramatische Zunahme der Delikte mit judenfeindlichem Hintergrund und betont, der Anstieg betreffe vor
allem islamistische Straftäter. Die Experten berichten,
die Anzahl gewaltbereiter Antisemiten mit ausländischem Pass hier in Berlin übertreffe inzwischen bei weitem die der radikalen Anhänger der NPD, der DVU oder
der Republikaner.
Deniz Yücel von der „Migranten-Initiative gegen Antisemitismus“ sagt dazu:
Wir stellen seit längerem fest, dass … antisemitisches Gedankengut auch unter Einwanderern verbreitet ist.
Auch wenn dies ein skandalöser Zustand sei, so Yücel,
würde er davon abraten, sich in muslimisch geprägten
Stadtteilen als Jude zu erkennen zu geben. Er kritisiert
- ich zitiere das alles aus der „Tageszeitung“ vom 2. Dezember 2003 -, dass linke und andere Gruppen das Problem bei Muslimen gern verdrängen. Er sagt wörtlich:
Man toleriert Islamismus und Antisemitismus als
Teil der kulturellen Identität.
Wir sagen in dem gemeinsamen Antrag klar und deutlich, dass Antisemitismus mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaats auch von Polizei und Justiz bekämpft werden muss. Jeden Neonazi muss die volle
Härte des Gesetzes treffen; aber auch islamistische Extremisten
({2})
müssen erfahren, dass wir Antisemitismus von keiner
Seite dulden.
({3})
Zu Recht sagen wir: Im Kampf gegen den Antisemitismus darf es keine Zweideutigkeiten geben. Auch demjenigen, der als Ausländer in Deutschland Bürger jüdischen Glaubens schlägt und Synagogen anzündet, wie
beim Anschlag von Düsseldorf geschehen, darf eben
nicht mit Toleranz begegnet werden,
({4})
sondern dem muss mit der konsequenten Entschlossenheit unseres demokratischen Rechtsstaats begegnet werden.
({5})
Das zeigt - es ist wichtig, dass darauf hingewiesen
worden ist; ich unterstreiche das -, welch schweren Herausforderungen wir gegenüberstehen, wenn es um die
Integration gerade junger Ausländer in Deutschland
geht. Ich betone das vor allem deshalb, weil es für mich
keinen Zweifel daran gibt, dass die ganz große Mehrheit
der muslimischen Zuwanderer genau wie die ganz große
Mehrheit der deutschen Bevölkerung gerade nicht antisemitisch ist. Deshalb will ich auch einen Gedanken unseres Kollegen Friedbert Pflüger aufgreifen: Angesichts
der wachsenden Zahl von Übergriffen von Moslems auf
Bürger jüdischen Glaubens wäre es Zeit für klare Signale, für einen Aufstand der Anständigen unter den
Türken, Arabern und anderen Bürgern muslimischen
Glaubens, die bei uns leben. - Für so einen Aufstand der
Anständigen wäre es, finde ich, hohe Zeit.
({6})
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, neue
Wege gehen heißt auch, dass wir uns mit allen Wurzeln
von latentem Antisemitismus und Relativierungen unserer Geschichte auseinander setzen müssen. Ignatz Bubis
hat 1996 in einem bemerkenswerten Gespräch mit der
„FAZ“ gesagt:
Es ist richtig, dass nach 1945 in Deutschland aus
guten Gründen die Begriffe Nation, national, Volk
verpönt waren. Aber mit der Indizierung von Begriffen können Sie nicht zugleich den Bedarf, der
sich mit ihnen inhaltlich verbindet, ebenfalls unterdrücken, schon gar nicht 50 Jahre lang.
So weit Ignatz Bubis.
Es ist richtig: Die Erinnerung an das Geschehene ist
Teil unserer nationalen Identität. Das spüren wir auch
nach bald 60 Jahren nur allzu deutlich. Unter Auschwitz
kann man keinen Schlussstrich ziehen. Es gibt keine
Kollektivschuld, aber eine gemeinsame Verantwortung,
der man nicht entrinnen und die man nicht abschütteln
kann; wir sollten dies auch nicht wollen.
Wahr ist aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Die deutsche Geschichte umfasst nicht nur zwölf Jahre.
Viele Menschen in den neuen Ländern können doch
stolz sein auf eine friedliche Revolution, die uns Freiheit
gebracht hat, ohne dass ein Tropfen Blut geflossen ist.
Viele ältere Mitbürger können doch stolz sein auf den
Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Wolfgang
Böhmer, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat
auf seine menschliche Art gesagt:
Wenn Schiller-Verse, von Beethoven intoniert, zur
internationalen Hymne werden, dann ist das ein
Beitrag zur Menschheitsgeschichte. Dafür müssen
wir uns nicht schämen, darauf können wir stolz
sein.
Erinnern und wachsam sein, sich unserer gemeinsamen Verantwortung stellen - das können wir schon mit
aufrechtem Gang und mit Selbstachtung. Patriotismus
kann aber niemals durch die Herabsetzung anderer und
die Ausgrenzung von Minderheiten gestärkt werden.
({7})
Gerade der, der als Patriot etwas für sein Land tun will,
darf nicht den Weg des Erinnerns und den Blick auf die
gemeinsame Verantwortung verstellen. Er muss ihn freimachen. Nur auf diese Weise können wir Deutsche Achtung und Anerkennung von anderen erlangen und Achtung vor uns selbst wiedergewinnen.
Avi Primor, ein Freund unseres Landes, hat sich vor
einiger Zeit mit der Frage beschäftigt, ob es eine neue
Welle des Antisemitismus in Deutschland gibt. Er sagt
dazu:
Ich glaube nicht, dass die Situation der Juden in
Deutschland sich verschlechtert. Ich glaube aber
doch, dass es noch viel Arbeit zu leisten gibt, bis
die Versöhnung und die Verständigung vollendet
ist, und dass beide Seiten noch viel Geduld füreinander aufbringen müssen.
An diesem Versöhnungs- und Verständigungswerk wollen wir arbeiten. Aber das ist nicht nur die Aufgabe von
uns Politikern. Daran müssen alle Menschen in Deutschland mitwirken, im Alltag und nicht nur an Gedenktagen.
Vielen Dank.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Kollege Grindel, ich teile uneingeschränkt Ihre Auffassung, dass angesichts der Tatsache,
dass sich Konflikte aus Herkunftsländern in unseren
Städten in Deutschland wiederfinden und wir neben einem alten, wie es schon gesagt wurde, auch einen neuen
Antisemitismus haben, erneut eine Auseinandersetzung
damit in diesem Land notwendig ist. Wir haben darüber
vor kurzem gesprochen. Bei diesen Auseinandersetzungen betreten wir oft unsicheres Terrain, weil uns zum
Teil die Kenntnisse fehlen. Ich wäre sehr froh, wenn wir
eine gemeinsame Basis finden würden, auf der wir in
diese Auseinandersetzung eintreten könnten.
Weiterhin möchte ich Ihnen sagen, dass es zumindest
einen kleinen bescheidenen Beginn dieses Aufstandes
der Anständigen nach den Anschlägen in Istanbul gegeben hat. Es gab nämlich vor ungefähr zehn Tagen auf
Initiative des American Jewish Committee und türkischstämmiger deutscher Abgeordneter in der Synagoge in
der Oranienburger Straße eine gemeinsame Gedenkstunde, in der das stattgefunden hat, was Sie anmahnen.
Wenn wir darin einen ersten Schritt für das erkennen,
was vor uns liegt, dann wäre das ein gutes Zeichen. Das
wollte ich Ihnen mitteilen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hin
und wieder debattierte der Bundestag schon zum Thema
Antisemitismus. Zumeist gab oder gibt es dafür Anlässe,
die aus dem Alltäglichen ausbrechen, so scheint es. Sie
sind aber nicht die schlimme Ausnahme einer ansonsten
guten Regel. Wenn ein Drittel aller Deutschen der Aussage „Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu
groß“ zustimmt, dann müssen wir uns mit diesem Befund
auseinander setzen. Der Politologe Oskar Niedermayer
kam vor Jahresfrist zu dieser Erkenntnis. Er beschreibt
unser eigentliches Problem.
Unser Kollege Edathy rief uns schon die Statistik antisemitischer Straftaten für das Jahr 2002 ins Gedächtnis.
Ich möchte hier Auszüge aus einer Chronologie antisemitischer Vorfälle 2002 zitieren.
So berichten die „Nürnberger Nachrichten“ von einer
Prunksitzung der heimischen Faschingsgesellschaft. Ein
Büttenredner verlangte für den Nürnberger Fußballklub
„jüdische Stürmer“: „Die dürfen nicht verfolgt werden.“
Im „Spiegel“ war zu lesen, dass in New York ein
deutscher Mitarbeiter der UNO die Wohnungstür seines
Nachbarn mit antisemitischen Sprüchen beschmiert und
angezündet hat.
Allein an einem Wochenende im Jahre 2002 wurden
in Mecklenburg-Vorpommern drei jüdische Gedenkstätten geschändet. Die Täter hinterließen obendrein abgetrennte Schweineköpfe, schrieb das „Neue Deutschland“.
Zu Ostern wurden auf dem Berliner Ku’damm zwei
orthodoxe Juden angegriffen, berichtete der „Tagesspiegel“.
Ein Münchner Gastwirt brachte es in die „Süddeutsche Zeitung“. Er wurde verurteilt, weil er der Enkelin
des ehemaligen Ministerpräsidenten Rabin den Zutritt zu
seinem Lokal mit den Worten verwehrte: „Euch Juden
mache ich die Tür nicht auf.“
Freigesprochen wurde in Verden ein ehemaliger
Wehrmachtsoffizier. Er hatte geschrieben, Paul Spiegel
sei Vorsitzender einer „fremdvölkischen Minderheit“, so
das „Neue Deutschland“.
Am 1. November schilderten mehrere Zeitungen einen Vorfall in Berlin-Spandau. Dort wurde bei einer
Straßenumbenennung der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde lauthals antisemitisch beschimpft.
Im ostfriesischen Leer weigerte sich ein Bürgermeister, an der Eröffnung einer Gedenkstätte teilzunehmen.
Sie soll an ermordete Jüdinnen und Juden erinnern.
Seine Begründung für diese Verweigerung: Er wolle an
einer „Industrialisierung des Holocaust“ nicht mitarbeiten. Der Mann war obendrein Lehrer.
Ich habe aus dieser Chronik zitiert, um zu zeigen: Es
geht hier nicht nur um durchgeknallte Rechtsextremisten. Antisemitische Denk- und Verhaltensweisen sind
tief verwurzelt. Sie sind eine Erblast, die weit verbreitet
ist, auch im 21. Jahrhundert. Sie wird inmitten der Gesellschaft genährt, immer wieder auch durch ihre vermeintlichen Eliten.
Deshalb ist es wichtig, dass wir hier heute erneut debattieren und zu einer gemeinsamen Erklärung, zu einem
gemeinsamen Beschluss finden. Ich bedauere, dass es
uns nicht schon durch eine Nennung als Antragsteller im
Kopf des Antrages möglich war, dies deutlich zu machen. Zu diesem gemeinsamen Antrag aller im Parlament vertretenen Gruppierungen sind wir in zwei sehr
ergiebigen und gar nicht so langen Sitzungen gekommen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir wollen in
Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens ausbauen“, sodass „Bürger jüdischen Glaubens
ohne Angst in Deutschland ihre Heimat haben“. So steht
es in dem vorliegenden Antrag. Die PDS im Bundestag
unterstützt das ausdrücklich - als Auftrag, nicht als Befund.
Denn die Realität ist anders. Die Berliner Synagoge
in der Oranienburger Straße ist hoch bewehrt. In diesem
Jahr wurde in dieser Stadt darüber gestritten, ob die Betonpoller davor angemessen seien. Nun gibt es elegantere. Am Problem aber ändert das Ganze wenig: Jüdinnen und Juden können nicht selbstverständlich und ohne
Angst in ihrer deutschen Heimat leben. Sie erfahren das
im Alltag und sie erleben das von Kindesbeinen an - leider.
Internationale Untersuchungen belegen: Antisemitismus nimmt in vielen Ländern zu. Das entlastet niemanden, das macht es eher schlimmer. Umso weniger
verstehe ich, dass immer wieder einmal eine „deutsche
Leitkultur“ gefordert wird oder die „Werte des christlichen Abendlandes“ als einzig verbindendes Element beschworen werden. Das „friedliche Zusammenleben von
Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit“,
wie es in unserem Antrag heißt, verträgt eben keine Teilung in Angehörige guter und weniger guter Religionen
und in Religionslose. Eine solche Teilung führt allzu
schnell dazu, zwischen guten und schlechten, zwischen
nützlichen und unnützen Menschen zu unterscheiden.
Das lehrt uns die Geschichte.
({1})
Das wusste übrigens schon vor Jahrhunderten
Gotthold Ephraim Lessing, nachlesbar in seinem „Nathan der Weise“, in der Ringparabel. Wir könnten sie der
Erklärung, die heute beschlossen werden soll, problemlos anfügen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Cornelie SonntagWolgast von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es
ist jetzt gut drei Jahre her, dass eine Kundgebung gegen
Antisemitismus und Rechtsextremismus mit über
300 000 Teilnehmern hier in Berlin mit einer eindrucksvollen Schlusskundgebung und der Aufführung von
Beethovens Fünfter unter der Leitung von Daniel
Barenboim direkt vor dem Brandenburger Tor endete.
Das stimmte damals sehr hoffnungsvoll. Manche, die
hier jetzt versammelt sind, waren dabei. Mir ist klar:
Großkundgebungen und Lichterketten lassen sich nicht
zu Dauereinrichtungen machen; sie würden vielleicht
ihre aufrüttelnde Wirkung verlieren.
Aber wir, liebe Kollegen und Kolleginnen, haben die
Aufgabe, gerade hier im Parlament politischen Elan zu
zeigen und den Schutz derer, die besonderen Schutz nötig haben, weil ihnen Diskriminierung droht, auch dann
zum Thema zu machen, wenn das Thema nicht schlagzeilenträchtig ist und aus dem Dunstkreis breiter öffentlicher Empörung verschwunden ist.
({0})
Mehrmals haben wir hier im Deutschen Bundestag
über das Verhältnis von Juden und Nichtjuden diskutiert.
Zuletzt war das im Frühsommer, als es um den Staatsvertrag mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland
ging. Ein Jahr zuvor lieferte den Anlass die Unfähigkeit
oder auch der geplante Unwillen mancher Politiker
zwecks Stimmenfangs, die notwendige Trennschärfe
zwischen legitimer Kritik an der israelischen Nahostpolitik und einem dumpfen Gebräu von Vorurteilen und
Ressentiments gegen „die Juden“ zu zeigen.
Diesmal haben wir auch wieder einen Anlass: eine
rassistisch anmutende Geschichtsverfälschung. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, jede dieser so genannten
Spielarten verlangt die klare Verurteilung durch den
Deutschen Bundestag, und zwar über Fraktionsgrenzen
hinweg.
({1})
Deswegen begrüße ich es, dass wir uns in zwei sehr konstruktiven Gesprächsrunden und dann gestern im Innenausschuss auf die Resolution haben verständigen können, die heute zur Abstimmung steht. Sie bekräftigt zwar
Selbstverständliches, aber hin und wieder muss der Bundestag auch Selbstverständliches klar und deutlich sagen.
So positiv, wie der Kollege Lammert und auch der
Kollege Bötsch die Entwicklung über weite Teile geschildert haben, kann ich sie leider nicht empfinden. Ich
muss auch sagen: Ich hätte mir schon gewünscht, dass
nicht erst auf Anforderung klar und deutlich von Ihrer
Seite zum Thema Hohmann Stellung bezogen wurde.
Nicht die Rede eines Mandatsträgers allein ist nämlich
das Problem. Ebenso erschreckend sind die Reaktionen
darauf. „Endlich wagt mal einer, so was auszusprechen“,
steht es in Briefen, hört man es in Anrufen und liest man
es in E-Mails. „Er hat Hunderttausenden aus dem Herzen gesprochen“. Ich frage mich: Woher rührt eigentlich
dieser offene oder klammheimliche Applaus? Angeblich
gibt es einen Überdruss an der intensiven Art, mit der
wir - gottlob, muss ich sagen - die Verbrechen der NSZeit behandeln und analysieren. Ich lese und höre
Schlagworte wie „übertriebener Schuldkomplex“ und
„übermäßiges Moralisieren“ und von der „Sehnsucht
nach Normalität“.
({2})
Welche Normalität eigentlich? Die Statistik des vergangenen Jahres verzeichnet leider einen ungebrochenen
Trend zu antisemitischen Straftaten. Sind die notwendigen Polizeiwachen vor Einrichtungen, die Planungen
für einen Anschlag bei der Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München zum 9. November
oder rechtsradikale Volksverhetzungen via Internet etwa
Normalität?
Ich glaube schon, dass unsere Demokratie gefestigt
ist. Aber unsere Geschichte legt uns die fortdauernde
Verantwortung auf, uns mit allen Kräften denjenigen
entgegenzustemmen, die auf der Tastatur antisemitischer
Gefühle spielen wollen und jetzt leider darauf verweisen, dass es ein bisschen Antisemitismus auch in anderen Ländern gebe.
Nein, liebe Kollegen und Kolleginnen, der Abgrund,
den der Wahn der Hitlerdiktatur aufgetan hat, war zu
tief, als dass man heute zu dieser so erwünschten Normalität übergehen könnte.
({3})
Ich frage mich auch, warum es angeblich so viele
Menschen als Last empfinden, dass wir uns so offensiv
mit dem Holocaust auseinander setzen und die Alarmsignale bei uns deutlicher vernommen werden und das
Ausland jedes Aufflackern rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Regungen mit verschärfter Aufmerksamkeit beobachtet. Das alles gehört
zu unserer Geschichte, zu unserer Gegenwart und zu unserer nationalen Identität. Wir sollten es daher nicht als
Bürde, sondern als Chance begreifen, dass es so ist.
({4})
Die Reaktionen auf die Hohmanns, die Günzels und
ihre Beifallspender sind kein schmähliches Eingeständnis, sondern ein Bekenntnis zu unserer Verfassung. Unser Grundgesetz wurde von denjenigen geschrieben, die
die Wiederholung der Verbrechen der NS-Zeit für alle
Zukunft unmöglich machen wollten. Daran zu denken
und sich daran zu klammern ist keine Nestbeschmutzung, sondern Patriotismus.
({5})
Als Martin Hohmann noch meinte, mit einer Entschuldigung für seine Rede zum 3. Oktober sei es getan,
sagte er, er bedauere es, wenn er die Gefühle anderer
verletzt hätte. Er meinte damit die Bürger jüdischen
Glaubens und er offenbarte damit, dass er nichts verstanden hat. Denn nicht nur die Juden, wir alle sind verletzt,
wenn Reden wie diese gehalten werden und auch noch
Zuspruch ernten. Wir alle schaden uns und dem Anspruch auf kulturelle Vielfalt, wenn Menschen wegen ihrer Religion und Ethnie ausgegrenzt werden.
Der innere Frieden der Bundesrepublik ist nicht erst
dann gefährdet, wenn Synagogen beschmutzt oder jüdische Grabstätten geschändet werden; er ist auch gefährdet, wenn jüdische Bürger verunglimpft, beleidigt oder
in ihrem Recht auf ein angstfreies Leben bei uns beeinträchtigt werden.
Es ist zwar wichtig und richtig, dass wir auch auf islamistische Formen des Antisemitismus verweisen, aber
das enthebt uns nicht der Verpflichtung, besonders genau
auf die Wurzeln im christlichen Abendland zu verweisen. Deswegen muss ich noch einmal an das erinnern,
was der Bundestagspräsident ausführte.
Arnulf Baring, ein häufig geladener Talkgast, sagte
kürzlich:
Wenn ein Bruchteil des Enthusiasmus, den der
Hitler für sein Regime leider Gottes mobilisieren
konnte, für die Republik mobilisiert würde, wären
wir aus allen Schwierigkeiten raus.
Ich meine, die Medien sollten vorerst Abstand davon
nehmen, Talkgäste, die sich in dieser Weise äußern, einzuladen.
({6})
Jeder kann in einem demokratischen Rechtsstaat
Menschen und Regierungen wegen ihres Tuns und Redens kritisieren, aber die Kritik und den Angriff daran zu
entzünden, dass jemand einer bestimmen Religion,
Gruppe oder Ethnie angehört, hat mit Toleranz und Meinungsfreiheit nichts mehr zu tun. Da hört es auf!
Der Antisemitismus, so hat Henryk M. Broder in einem Essay gesagt, beginnt dort, wo jemand bei dem Namen Einstein nicht an die Relativitätstheorie oder das
Café in Berlin denkt, sondern zunächst einmal „Jude“
assoziiert. Solche Beispiele sind wichtig, um Uneinsichtigen klar zu machen, worum es geht, nämlich um Stigmatisierung und Ausgrenzung allein wegen der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.
Dass diese Neigung nicht nur in den Randgruppen der
Gesellschaft nistet, sondern weit in ihre Mitte hineinreicht, bedroht unser Gemeinwesen und erfordert nicht
nur das Engagement der Politiker, sondern der gesamten
Gesellschaft. Es gibt allerdings - das muss ich ebenfalls
sagen - auch positive Zeichen: Initiativen, die allein das
Prinzip des Hinschauens, Handelns und Helfens praktizieren. Demnächst wird das „Bündnis für Demokratie
und Toleranz“, in dem sich 900 Vereine, Verbände und
Gruppierungen zusammengeschlossen haben, Projekte
gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und
Rechtsradikalismus als „Botschafter der Toleranz“ quer
durch die Republik auszeichnen. Darunter sind viele Jugendliche. Ich finde, das verdient Ermutigung und auch
unser aller Beifall.
({7})
Lassen Sie mich mit einem anderen Begriff von Normalität, den ich mir wünsche, schließen. Über das Ziel
sagt Salomon Korn in einem Buch über die Suche nach
der deutsch-jüdischen Normalität:
Wäre das Verhältnis von Juden und Nichtjuden in
Deutschland normal, würden Juden und Nichtjuden
weder als Individuen noch als Kollektiv für die Politik Israels, des World Jewish Congress oder anderer Organisationen haftbar gemacht. Es wäre dann
allgemein bekannt, dass Juden urkundlich belegt
seit über 1700 Jahren in Deutschland leben und somit länger ansässig sind als viele der deutschen
Stämme, die erst im Zuge der Ende des dritten Jahrhunderts einsetzenden Völkerwanderung hierher
kamen. Es bedürfte dann keiner institutionalisierten
christlich-jüdischen Dialoge mehr; Juden wie
Nichtjuden würden die „Würde des Unterschieds“
gleichermaßen achten.
Dann wären solche Debatten wie diese heute überflüssig. Aber leider sind wir so weit noch nicht.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
Für mich als betroffenen Beobachter ist der Antisemitismus nicht nur eine innenpolitische Sache, sondern, glaube ich, eine Sache, die uns alle interessiert. Dies soll man nicht parteipolitisch sehen,
sondern dies soll man gesellschaftlich sehen, denn
es geht über die Parteien hinaus.
Dies sind nicht meine Worte, sondern die des israelischen Botschafters in Deutschland, Shimon Stein. Dies
sind Worte, die den Kern der heutigen Debatte sehr gut
treffen; denn bei dieser Debatte über die Bekämpfung
von Antisemitismus geht es nicht um Partei- und Fraktionsgrenzen.
Antisemitisches Denken, Reden und Handeln haben keinen Platz in Deutschland.
So haben es alle Fraktionen in ihrem gemeinsamen Antrag formuliert und die Debatte hat das eindrucksvoll
deutlich gemacht.
Unser Land hat aufgrund seiner Geschichte eine besondere Aufgabe. Schon Konrad Adenauer hat es einst
als sein „vornehmstes Anliegen“ betrachtet, „die Versöhnung mit dem gesamten Judentum der Welt herbeizuführen“. Dies war und ist ein hoher Anspruch, den der erste
Kanzler der Bundesrepublik formuliert hat. Dieses Ziel
hat an Bedeutung und Mahnung bis heute keinen Zentimeter eingebüßt.
In der heutigen Debatte jedoch den Blick allein auf
unser Land zu richten wäre falsch und verkürzt. Ich bin
froh, dass dies auch nicht so gewesen ist. Wir Deutschen
verstehen uns zu Recht als Europäer, die die Integration
unseres Kontinents vorantreiben. Wir richten unseren
Blick auf die gesamte Europäische Union. Hier ist in der
Tat eine Entwicklung zu beobachten, die Sorge bereitet:
eine zunehmende Distanz gegenüber den in Europa lebenden Juden. Diese Distanz geht mit einer wachsenden
Entfremdung vom Staat Israel sowie von den in den EULändern lebenden Juden als angeblichen Repräsentanten
Israels einher.
Ich möchte hier beispielhaft zwei Dinge erwähnen.
Das Erste ist die Eurobarometer-Umfrage, die das
Gallup-Institut im Auftrag der EU-Kommission im Oktober dieses Jahres veröffentlicht hat. Bei dieser Erhebung sahen 59 Prozent der befragten Europäer in Israel
eine Bedrohung für den internationalen Frieden. Diese
Umfrage wurde sofort und undifferenziert veröffentlicht.
Das Zweite ist die von der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bislang unter Verschluss gehaltene Studie zum Antisemitismus in Europa, in der eine deutliche Zunahme
antisemitischer Vorfälle in praktisch allen EU-Staaten
festgestellt wird. Warum diese Studie nicht veröffentlicht wurde, ist mir unverständlich.
({0})
- Nach massiven Interventionen, Frau Roth, wurde sie
veröffentlicht.
Beiden Umfragen bzw. Studien mag man aus wissenschaftlicher Sicht methodische Ungenauigkeit vorwerfen
können, jedoch machen beide das Folgende deutlich: Es
gibt einen wachsenden Antisemitismus in Europa. Die
Welle des Antisemitismus hat mit der Intifada im Nahen
Osten im Herbst 2000 begonnen und ist durch die Entwicklung des Konflikts und die Terroranschläge vom
11. September 2001 noch aufgeheizt worden. Dies belegen die Autoren vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
Seit diesen Anschlägen ist Antisemitismus genauso
stark spürbar wie eine in bestimmten Kreisen vorherrschende Wut auf die Vereinigten Staaten von Amerika.
Diese Entwicklung kommt, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven, genauso von rechts wie von links.
Dabei handelt es sich nicht um eine Frage der Bildung.
Denn viel zu viele Intellektuelle bedienen sich der gleichen
Vokabeln, um gegen Juden zu sprechen und zu hetzen.
({1})
Besonders ist diese Entwicklung bei Extremisten ausländischer Herkunft zu verzeichnen.
Dieser in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen
verbreitete Antisemitismus kommt aber nicht nur in seiner
alten Form als rassistisch motivierter Judenhass daher,
sondern zunehmend auch als eine pauschale Ablehnung
alles Israelischen. Juden und Israelis werden genauso
gleichgesetzt wie die israelische Bevölkerung mit ihrer
Regierung. Es ist geradezu bemerkenswert - das müssen
wir uns bewusst machen; dort haben wir ein zentrales
Handlungsfeld -, dass sich der klassische Antisemitismus mit einer neuen Form von Antisemitismus vermischt, wobei der heutige Staat Israel den kollektiven
Juden verkörpert. Das haben Sie, Herr Weisskirchen, erwähnt. Das ist eine bedrohliche Entwicklung. Jahrhundertelanges Zusammenleben in Europa und die Erinnerung an die Vernichtung der Juden im Dritten Reich
reichen offenbar nicht aus, Juden als Staatsbürger ihres
jeweiligen Landes anzuerkennen.
Hinzu kommt die Kritik an der israelischen Politik.
Sie mag in Teilen berechtigt sein. Allerdings verrät die
Wucht, mit der sie häufig geäußert wird, in vielen Fällen,
wie wenig wir in der Lage sind, uns in ein Volk hineinzuversetzen, das beständig unter Terror leidet.
({2})
Zugleich wird sie immer noch oft von denjenigen vorgebracht, die darin die Chance eines Aufrechnens, zur Relativierung der eigenen Verantwortung zu sehen glauben.
Ich möchte zur Vermittlung eines korrekten Israelbildes
mahnen. Gerade als Europäer darf uns die nötige Sensibilität für die Lage im Nahen Osten nicht fehlen. Hier hoffe
ich auch auf eine besondere Unterstützung durch die Medien. Denn es macht Sinn, sich mit der Untersuchung der
Berliner Wissenschaftler zum Antisemitismus etwas
eingehender zu befassen.
Die Wissenschaftler attestieren in ihrer Untersuchung
zwar kein einheitliches Muster für Europa, stellen jedoch Ähnlichkeiten fest. So werden Schändungen von
Synagogen und jüdischen Friedhöfen vor allem von der
rechtsextremen Szene verübt. Physische Angriffe auf Juden sind oft die Tat von jungen Moslems und finden zum
Teil im Umfeld propalästinensischer Demonstrationen
statt. Antisemitische Äußerungen aus linksextremen
Quellen finden überwiegend im Kontext propalästinensischer und so genannter Antiglobalisierungstreffen statt.
In Zeitungsartikeln werden für die Kritik an Israel undifferenzierte, antisemitische Stereotype benutzt. Meine
Damen und Herren, man relativiert keinen Punkt, indem
man einen anderen nennt. Ich glaube, auch das ist deutlich zu machen.
({3})
Daraus folgern die Wissenschaftler, dass all dies zusammengenommen eine Kombination aus antizionistischen und antiamerikanischen Ansichten schafft, die
beim Aufkommen einer antisemitischen Stimmung in
Europa ein wichtiges Element bilden. Hier muss verantwortliche Außenpolitik gerade den Dialog bei strittigen
Themen mit unseren Partnern suchen, damit wir mit unseren Freunden nicht so pauschal umgehen. Auch dürfen
wir uns nicht aus falsch verstandenem Minderheitenengagement vor antisemitische Moslems stellen. Denn wer
dies tut, vergeht sich an den in Deutschland lebenden Juden.
({4})
Ein besonders verwerfliches Beispiel ist die vor kurzem in Berlin abgehaltene Demonstration, bei der offen
zur Vernichtung des Staates Israel und zur Tötung von
Juden aufgerufen wurde.
({5})
Unter dem Deckmantel unserer Freiheitsrechte wird hier
Hass gesät.
({6})
Dies hat in unserem Land keinen Platz.
({7})
Toleranz gegenüber Intoleranz ist immer falsch.
Richten wir den Blick abschließend auf Israel und
vergegenwärtigen wir uns, wie deutsche Politik aussehen
würde, wenn unser Land von Feinden umgeben wäre
und darüber hinaus jede Lebenssituation vom Terror
heimgesucht würde: der Kindergeburtstag, die Schulfahrt, abends die fröhliche Runde mit Freunden und der
Weg zur Arbeit. Durch meine Besuche in Israel habe ich
gemerkt, wie präsent die Shoa dort noch immer ist. Es
handelt sich um traumatische Erinnerungen, die deutlich
machen, warum die Israelis nie mehr zu wehrlosen Opfern werden wollen und ein Bedürfnis nach Schutz auch
militärischer Art haben.
Meine Damen und Herren, an den Anfang darf nicht
die kritische Betrachtung der israelischen Regierungspolitik, sondern dorthin muss die Unterstützung des Staates
Israel als demokratischer und jüdischer Staat gestellt
werden.
({8})
Eine Ahnung davon, wie wir empfinden würden, haben
wir nach den fürchterlichen Anschlägen in Istanbul bekommen.
Es ist festzuhalten: Gerade vor dem Hintergrund der
Bedrohung durch radikalen islamistischen Terrorismus,
der als integrale Bestandteile seiner Ideologie einen radikalen Antisemitismus und die Vernichtung des Staates
Israel zum Inhalt hat, ist es wichtig, ein aufgeklärtes und
informiertes Verhältnis nicht nur zwischen Nichtjuden
und Juden in Deutschland, sondern auch zwischen Israel
und Deutschland sowie Israel und Europa zu haben. Es
bedarf deshalb entschiedenen Engagements gegen Extremismus, egal aus welchem politischen oder religiösen
Lager er kommen mag, sowie der besseren Vermittlung
von Informationen über die deutsch-israelischen Beziehungen und das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden. Wir dürfen nie wieder vor Antisemitismus, Ignoranz, Gleichgültigkeit und Terror kapitulieren.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktio-
nellen Antrag auf Drucksache 15/2164 mit dem Titel
„Antisemitismus bekämpfen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf
Drucksache 15/2166 mit dem Titel „Für eine OSZE-An-
tisemitismuskonferenz in Berlin 2004“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Auch dieser Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie
die Zusatztagesordnungspunkte 2 bis 5 - es handelt sich
um Beratungen mehrerer Vorlagen zu dem Thema Men-
schenrechte - auf:
5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Schutz von bedrohten Menschenrechtsvertei-
digern
- Drucksache 15/2078 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat und
das Europäische Parlament
Intensivierung der EU-Maßnahmen für die
Mittelmeer-Partnerländer in den Bereichen
Menschenrechte und Demokratisierung
Strategische Leitlinien
KOM ({1}) 294 endg.; Ratsdok. 9696/03 -
- Drucksachen 15/1280 Nr. 240, 15/1633 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Nickels
Holger Haibach
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Dr. Egon Jüttner, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Rainer Funke, Sabine LeutheusserSchnarrenberger und der Fraktion der FDP
Den Friedensprozess im Sudan unterstützen
- Drucksache 15/2152 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung der Menschenrechte in Afghanistan
- Drucksache 15/2168 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Werner Hoyer, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China
- Drucksache 15/2169 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für eine Reform und Stärkung der Menschenrechtskommission
- Drucksache 15/2174 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Für die Einhaltung der grundlegenden Menschenrechte und Grundfreiheiten in Guantanamo Bay
- Drucksache 15/2175 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rudolf Bindig von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen diese Menschenrechtsdebatte aus Anlass des
gestrigen Internationalen Tages der Menschenrechte.
„Menschenrechtsverteidiger - die vergessenen Helden von heute“ - so lautete am letzten Wochenende die
Überschrift einer Anzeige, mit der die Menschenrechtsorganisation Amnesty International auf den diesjährigen
Internationalen Tag der Menschenrechte einstimmen
wollte. Menschenrechtsverteidiger sind zum Beispiel
Juristen, die in ihren Ländern gegen die Straflosigkeit
von Menschenrechtsverletzungen kämpfen und sich um
Opfer von staatlicher Willkür kümmern, Journalisten,
die Verbrechen anprangern, an denen Regierung oder
Militär beteiligt sind, Ärzte, die Folteropfer betreuen und
die Täter zur Verantwortung ziehen wollen, aber auch
Gewerkschafter, Frauenrechtlerinnen und Vertreter von
Kirchen, Religionsgemeinschaften, indigenen Gruppen,
politischen Parteien sowie von Nichtregierungsorganisationen. Wir, die wir unter den guten Bedingungen eines
demokratischen Rechtsstaates für Menschenrechte eintreten, können nur mit tiefstem Respekt anerkennen,
welch hohes Risiko diese engagierten Menschenrechtsverteidiger eingehen.
({0})
Damit diese Heldinnen und Helden nicht allein dastehen bzw. allein gelassen werden, ist ein weltweites Netzwerk von staatlichen und nicht staatlichen Unterstützern
notwendig, die sich jeweils mit ihren Mitteln für Menschenrechtsverteidiger einsetzen. Mit der gestrigen Verleihung des Friedensnobelpreises an die iranische
Rechtsanwältin und Menschenrechtsverteidigerin Schirin
Ebadi hat das Nobelpreiskomitee ein wichtiges Zeichen
gesetzt.
({1})
Ich bezeuge meinen tiefen Respekt vor Schirin Ebadi,
die stellvertretend für Tausende von Menschenrechtsverteidigern im Iran und in anderen menschenrechtlich problematischen Ländern geehrt wird. Ohne ihren Mut und
ohne ihre Ausdauer wäre es schlecht um die Menschenrechte in der Welt bestellt.
({2})
Vorgestern wurde die Erklärung der Vereinten Nationen zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern fünf
Jahre alt. Mit dem interfraktionellen Antrag „Schutz von
bedrohten Menschenrechtsverteidigern“ greift der Deutsche Bundestag die Verpflichtung der Staatengemeinschaft auf. Wie dringend nötig unsere Unterstützung ist,
wurde erst gestern deutlich, als im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Menschenrechtsverteidiger aus Syrien, Brasilien, dem Tschad und der Russischen Föderation über ihren alltäglichen Kampf um
Rechte berichteten. Sie kämpfen um Rechte, die für uns
selbstverständlich geworden sind, wie zum Beispiel das
Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit,
Pressefreiheit und Religionsfreiheit.
Nicht alle Menschenrechtsverteidiger, die wir zu der
Sitzung des Ausschusses eingeladen hatten, konnten
nach Deutschland reisen. Die Behörden dieser Staaten
haben ihnen die Ausreise verwehrt. An diese Personen
möchte ich an dieser Stelle ganz besonders erinnern:
Oswaldo Paya Sardinas aus Kuba, Irene Fernandez aus
Malaysia und Nikolai Markewitsch aus Weißrussland.
Ihnen gehört unsere besondere Solidarität.
({3})
Ich möchte den Regierungen dieser Länder und ihren
Botschaftern in Deutschland deutlich sagen: Nicht diese
Menschenrechtsverteidiger hätten dem Ansehen ihrer
Länder geschadet, sondern die Tatsache, dass sie nicht
ausreisen durften, zeigt, welche Angst sie vor den Aussagen der Menschenrechtsverteidiger haben. Es belegt
geradezu, dass in diesen Ländern schlimme Zustände
herrschen, welche die Regierungen vor der internationalen Öffentlichkeit gerne verbergen wollen.
({4})
Wie viel mutiger sind dagegen die Menschenrechtsverteidiger, die trotz Drohungen und Einschüchterungsversuchen frei und offen berichten. So hat Frau Sihem
Bensedrine aus Tunesien gestern im Ausschuss auf die
Frage, ob sie weitere Repressionen wegen ihrer Aktivitäten befürchtet, gesagt: Ich habe für mich entschieden,
bereit zu sein, den Preis für meine Meinungsfreiheit zu
zahlen. Das ist wahrlich der Satz einer Heldin.
({5})
Eine andere Menschenrechtsverteidigerin aus Tunesien, Frau Radhia Nasraoui, konnte nicht kommen, weil
sie durch einen mehrwöchigen Hungerstreik zu geschwächt ist. Die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin ist mit ihrem juristischen Beistand für viele politische Gefangene in Tunesien die letzte Hoffnung. Mit
ihrem Hungerstreik protestiert sie nicht nur gegen die
Menschenrechtsverletzungen im Land, sondern auch gegen die ständige Verfolgung und Bedrohung durch die
tunesische Polizei.
Das Schicksal von Radhia Nasraoui bringt mich zu einem anderen Dokument, das wir heute verabschieden,
nämlich der Beschlussempfehlung und dem Bericht zu
einem Ratsdokument, in dem es um die „Intensivierung
der EU-Maßnahmen für die Mittelmeer-Partnerländer in
den Bereichen Menschenrechte und Demokratisierung“
geht. Diese strategischen Leitlinien enthalten ein wichtiges handlungsorientiertes Konzept zur Verbesserung
der Menschenrechtslage in den Mittelmeerländern.
Dieses begrüßenswerte multilaterale Konzept findet sein
Gegenstück in den bilateralen Assoziationsabkommen,
die seit 1992 eine Klausel enthalten, nach der die AchRudolf Bindig
tung der Menschenrechte und der Demokratie als wesentliche Elemente der Beziehungen festgeschrieben
werden.
Dass im Partnerland Tunesien Menschenrechtsverteidigerinnen wie Radhia Nasraoui und Sihem Bensedrine
von staatlichen Akteuren bedroht werden, verstößt eindeutig gegen die Menschenrechtsklausel.
({6})
Menschenrechtsklauseln dürfen weder in multilateralen
noch in bilateralen Abkommen inhaltsleere Formeln
werden. Ich plädiere daher dringend für ein regelmäßiges Monitoring aller menschenrechtsbezogenen Vereinbarungen.
Nun erneut zu den Menschenrechtsverteidigern. Auch
Politikerinnen und Politiker können in manchen Ländern
verfolgt werden. Sie gehören zu den gefährdeten Personen. Ihr Vergehen besteht meist einzig darin, dass sie ihr
Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen. Mit ihrer Kritik sind sie autoritären Regimen, staatlichen Organen sowie paramilitärischen Gruppen ein Dorn im Auge.
Häufig werden sie verleumdet, bedroht, ihres Amtes enthoben, willkürlich verhaftet, wegen „subversiver“ Aktivitäten verurteilt, gefoltert oder sogar ermordet. Manche
missliebigen Personen verschwinden für immer. Nur selten werden die Täter verurteilt.
Deshalb haben die Mitglieder des Ausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe die Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ ins Leben gerufen. Grundidee ist, dass wir als Parlamentarier, die wir
unser Mandat in Sicherheit ausüben können, gefährdeten
ausländischen Kolleginnen und Kollegen helfen. Ich
weiß, dass sich einige von Ihnen schon jetzt systematisch für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einsetzen. Den interfraktionellen Initiatoren der Aktion
„Parlamentarier schützen Parlamentarier“ ist daran gelegen, dass sich möglichst alle Abgeordneten ungeachtet
ihrer fachlichen Schwerpunkte angesprochen fühlen.
Auf diese Weise würden sich eben nicht nur Menschenrechts-, Außen- und Entwicklungspolitiker, sondern
auch Wirtschafts-, Bildungs- und Umweltpolitiker sowie
die länderbezogenen Parlamentariergruppen für die Parlamentarierkollegen engagieren.
Zum Auftakt der Aktion haben viele Kolleginnen und
Kollegen des Bundestages eine interfraktionelle Petition
für die in der Türkei inhaftierte kurdische Exparlamentarierin Leyla Zana unterschrieben. Am 21. Dezember
wird sie erneut vor Gericht stehen. Wollen wir hoffen,
dass sie und ihre ebenfalls inhaftierten Mitstreiter den
Jahreswechsel in Freiheit erleben können.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solche gemeinsamen Sonderaktionen vieler Abgeordneter werden sicher
auf wenige Fälle beschränkt bleiben und damit die Ausnahme sein. Was aber jeder Einzelne in seinem politischen Umfeld konkret tun kann, klingt im Antrag bereits
an. Wir haben die wichtigsten Punkte in einem handlichen Flyer zusammengefasst, der Ihnen in deutscher und
englischer Version zur Verfügung steht und im Sekretariat des Menschenrechtsausschusses erhältlich ist. Ein
Exemplar des Flyers werden Sie in jedem Fall morgen in
Ihrer Post finden.
In der Menschenrechtspolitik setzen Regierungskoalition und Oppositionsfraktionen durchaus manchmal den
einen oder anderen unterschiedlichen Akzent. Selten
aber waren wir uns so einig wie beim gemeinsamen
Schutz von bedrohten Menschenrechtsverteidigern.
Große Unterstützung haben wir für diese Aktion auch
von Regierungsseite erfahren, insbesondere von den
deutschen Auslandsvertretungen, der deutschen IPU-Delegation und von mehreren Nichtregierungsorganisationen.
Mit seiner Initiative zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern folgt der Bundestag ähnlichen Aktionen in Frankreich, Spanien und Belgien. Ich wünsche
mir, dass das Beispiel auch in anderen Ländern Schule
macht. Ich wünsche mir aber noch mehr, dass sich der
Schutz von Menschenrechtsverteidigern in der Praxis
bewährt, sowohl was unser Engagement für Menschenrechtsverteidiger, die im Ausland leben, als auch was unsere Bereitschaft anbelangt, sie in einer Notsituation vorübergehend auch in Deutschland aufzunehmen. Es lohnt
sich, dafür gemeinsam einzutreten.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hermann Gröhe von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
eindrucksvoller, ja in bewegender Weise haben uns in
der gestrigen Anhörung im Rahmen der öffentlichen Sitzung unseres Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Menschenrechtsverteidiger aus Syrien,
Brasilien, Tunesien, dem Tschad und der Russischen Föderation über ihre Arbeit berichtet. Sie schilderten uns
die Menschenrechtssituation in ihren Ländern, die besonderen Schwerpunkte ihrer Arbeit, aber auch, in welcher Weise sie selbst bedroht, sexistisch gedemütigt, angegriffen, schikaniert und behindert werden.
Vor allem aber machten diese Frauen und Männer,
Anwälte und Verantwortliche in Menschenrechtsorganisationen, deutlich, dass all diese persönlichen Risiken sie
nicht davon abhalten werden, sich auch weiterhin für die
Menschenrechte in ihren Ländern einzusetzen. Der Mut
dieser Menschen sollte für uns alle Verpflichtung sein,
({0})
alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um den Menschen
solidarisch zur Seite zu stehen, die sich als Menschenrechtsverteidiger für die Achtung der Menschenrechte einsetzen. Die Erklärung zu den Menschenrechtsverteidigern,
verabschiedet von der UN-Generalversammlung im
Jahre 1998, und die engagierte Arbeit der Sonderberichterstatterin Hina Jilani aus Pakistan sind dabei wichtige
Grundlagen für alle politischen Anstrengungen.
Auch der heute von allen Fraktionen gemeinsam erarbeitete und eingebrachte Antrag „Schutz von bedrohten
Menschenrechtsverteidigern“ ist ein bewusster Akt der
Solidarität. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, der iranischen Menschenrechtsaktivistin Schirin Ebadi herzlich
zu ihrem gestern erhaltenen Friedensnobelpreis zu gratulieren. Wir gratulieren zu dieser Auszeichnung einer
muslimischen Menschenrechtlerin, die für eine Interpretation des islamischen Rechts eintritt, die mit den grundlegenden Menschenrechten, der Gleichheit vor dem Gesetz,
der Glaubens- und Meinungsfreiheit und demokratischen
Grundsätzen in Einklang steht.
({1})
Auch diese Verleihung ist ein deutliches Signal der Völkergemeinschaft an jene, die unter schwierigsten Bedingungen für die Rechte unterdrückter Menschen eintreten.
Häufig sind es dabei auch unsere Kolleginnen und
Kollegen, Parlamentarier, Bürgermeister, Kandidaten
und Parteiführer, die bedroht sind, wenn sie gegen Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land klar Stellung beziehen. Ihnen wollen wir mit der vom Kollegen Bindig
schon vorgestellten Aktion „Parlamentarier schützen
Parlamentarier“ den Rücken stärken. Ich bitte Sie alle:
Setzen Sie sich in Gesprächen mit Botschaftern, Parlamentskollegen aus dem Ausland und Regierungsvertretern, die Deutschland besuchen, aber auch bei Ihren
Delegationsreisen ins Ausland für Kolleginnen und Kollegen ein, die sich mutig und unter Inkaufnahme persönlicher Risiken für die Menschenrechte einsetzen.
Gerne möchte ich in der heutigen Debatte auf den Antrag der CDU/CSU- und der FDP-Bundestagsfraktion
„Den Friedensprozess im Sudan unterstützen“ hinweisen. Er ist das Ergebnis intensiver Gespräche mit Nichtregierungsorganisationen, die sich im Sudan engagieren,
den Kirchen und dem ehemaligen Sonderberichterstatter
der Vereinten Nationen, Gerhart Baum. Es geht darum,
die Chancen, die mit dem Sicherheitsabkommen vom
25. September 2003 verbunden sind, zu nutzen. Über
2 Millionen Menschen hat der schreckliche Bürgerkrieg
im Sudan in den letzten Jahrzehnten das Leben gekostet.
Eine halbe Million Menschen flohen in Nachbarländer.
4 Millionen Menschen sind so genannte Binnenflüchtlinge. Sie verloren ihre Heimat im eigenen Land. Wenn
es nun zu einem Friedensabkommen kommen sollte, ist
schnelle Hilfe gefragt. Deshalb hoffe ich, dass es schon
bald zu einer entsprechenden Beschlussfassung im Deutschen Bundestag kommt.
Wenn Sie die Verlautbarungen der Menschenrechtsorganisationen in Deutschland zum diesjährigen Internationalen Tag der Menschenrechte lesen, werden Sie feststellen, welch große Enttäuschung die rot-grüne
Außenpolitik gerade bei Menschenrechtsorganisationen
ausgelöst hat. Amnesty International kritisierte, dass Ankündigungen und Taten der rot-grünen Bundesregierung
weit auseinander klaffen. Die Gesellschaft für bedrohte
Völker sprach gar von einem traurigen Rekordtief der
Menschenrechtspolitik dieser Bundesregierung. Vor
allem die Leisetreterei gegenüber Russland angesichts
ganz erheblicher Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien wie auch einer immer bedenklicheren innenpolitischen Entwicklung in Russland ist ein Grund für
diese berechtigte Enttäuschung.
({2})
Menschenrechtspolitisch verantwortungslos und europapolitisch rücksichtslos ist die Ankündigung des
Kanzlers während seiner Chinareise, sich für eine Aufhebung des Waffenembargos einsetzen zu wollen. Angesichts noch immer bestehender gravierender Menschenrechtsverletzungen in China und der anhaltenden
Spannung mit Taiwan ist eine solche Ankündigung ein
völlig falsches Signal.
({3})
Dass diese Ankündigung ohne Beratung in den zuständigen EU-Gremien erfolgte, schwächt das Bemühen
um eine gemeinsame westliche Position gegenüber der
Volksrepublik China, beispielsweise in der UN-Menschenrechtskommission. Deshalb teilen wir das Anliegen des FDP-Antrages gegen eine Aufhebung des Waffenembargos gegenüber der Volksrepublik China. Besser
wäre es gewesen, bereits heute über diesen Antrag abzustimmen. Nun beraten wir über ihn erst in den Ausschüssen. Doch die Stunde der Wahrheit mit einem weiteren
Lackmustest für die Glaubwürdigkeit rot-grüner Beteuerung in der Menschenrechtspolitik wird schon bald kommen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christa Nickels,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kofi Annan hat zum 55. Jahrestag der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte die Verteidigung von
Menschenrechten in aller Welt in besonderer Weise gewürdigt. Nur wenige Menschen seien bereit und stark
genug, persönliche Attacken und Verfolgungen zur Verteidigung der Menschenrechte auf sich zu nehmen, betonte der VN-Generalsekretär.
Um von den Erfahrungen solcher Kämpfer für die
Menschenrechte zu lernen und auch ihre Arbeit zu unterstützen, haben wir gestern fünf Menschenrechtsverteidiger aus aller Welt zu einer öffentlichen Anhörung eingeladen. Herr Dr. Bicudo aus Brasilien, Frau Moudeina aus
dem Tschad, Herr Al Maleh aus Syrien, Frau Bensedrine
aus Tunesien und Herr Chamsajew, ein tschetschenischer Rechtsanwalt aus der Russischen Föderation, haben uns ein beeindruckendes Zeugnis davon abgelegt,
wie schwer und bedroht solche Arbeit ist. Allesamt waren sehr beeindruckende und starke Persönlichkeiten.
Keiner und keine von ihnen hat sich als Teil seiner
oder ihrer Lebensplanung vorgenommen, zum Helden
oder Märtyrer der Menschenrechte zu werden.
({0})
Nein, es waren und sind menschenunwürdige und unerträgliche Umstände, die sie in eine Situation gezwungen
haben und immer noch zwingen, in der sie vor der Wahl
stehen, zu widerstehen oder sich selbst untreu zu werden. Wie wir alle träumen auch sie von einem friedlichen
und harmonischen Leben im Kreis ihrer Familie und ihrer Freunde. Deshalb hat Kofi Annans Würdigung der
Menschenrechtsverteidiger auch einen bitteren Beigeschmack. Wir bürden diesen Menschen eine Verantwortung auf, die wir eigentlich alle tragen. Es gibt sehr viele
Menschen, die sich für Menschenrechtsschutz interessieren und sich gerne engagieren würden. Allerdings sind
sie nur allzu oft gefangen in einem Gefühl zorniger Ohnmacht und der Unkenntnis über konkrete Möglichkeiten,
etwas zu verändern.
Die VN-Dekade der Menschenrechtserziehung geht
im nächsten Jahr zu Ende, ohne dass sich an diesem Zustand etwas Grundlegendes verändert hätte. Menschenrechtsengagement braucht aber Voraussetzungen. Es ist
allerhöchste Zeit, diese Voraussetzungen endlich zu
schaffen. Auch das ist ein wichtiger Bestandteil der
PISA-Debatte, der allzu oft untergeht und überhaupt
keine Rolle spielt.
Deshalb bin ich sehr froh, dass wir heute im Deutschen Bundestag nicht einfach nur Sonntagsreden über
die Menschenrechte halten, sondern uns selbst als Mitglieder des Deutschen Bundestages darauf verpflichten,
unsere Möglichkeiten künftig systematisch zum Schutz
bedrohter Kolleginnen und Kollegen in aller Welt einzusetzen. Mit der Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ wollen wir als Abgeordnete, die frei und
unbedroht ihr Mandat ausüben können, denjenigen beistehen, die Schikanen und Drohungen bis hin zu Folter
und Tod ausgesetzt sind, nur weil sie ihr Mandat als
Volksvertreter redlich ausüben wollen.
Ich setze darauf, dass möglichst viele Kolleginnen
und Kollegen sich dieses Anliegen zu Eigen machen und
die konkreten Instrumente nutzen, die wir dafür bereitstellen. Ich bin sehr froh, dass die Petition, die wir für
Leyla Zana ausgelegt haben, mittlerweile schon von
über der Hälfte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages unterschrieben worden ist und wir sie nächste
Woche der türkischen Botschaft überreichen können.
({1})
Ich bin sehr zuversichtlich, dass die türkische Regierung,
die auf dem Weg zur EU-Beitrittspartnerschaft die Menschenrechte gewährleisten will, diesem Appell folgen
wird, und ich bin sehr zuversichtlich, dass Leyla Zana
und ihre mitgefangenen Abgeordnetenkollegen den Jahreswechsel in Freiheit verbringen können.
Bei uns, in den wohlhabenden demokratischen Zivilgesellschaften des Nordens, werden keine Menschenrechtsverteidiger gefoltert. Aber auch wir haben eine
Bringschuld in Sachen Menschenrechte einzulösen,
nämlich in der politischen Praxis den Nachweis dafür zu
erbringen, dass die Universalität und die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte gerade in schwierigen Situationen Leitlinie unseres Handelns sind und bleiben.
Wie sollen wir von Schwellenländern mit riesengroßen sozialen und politischen Problemen verlangen, Menschenrechte einzuhalten, wenn wir selbst in einer vergleichsweise komfortablen Situation uns allzu oft flugs
Dispens von den selbstgesetzten Prinzipien erteilen? Es
ist unerträglich, dass zwei Jahre nach dem 11. September
2001 immer noch völker- und menschenrechtswidrig
Hunderte von Gefangenen in Guantanamo interniert
sind.
({2})
Man mag kaum glauben, dass allein der Aufenthalt der
US-Soldaten im Irak - Frau Ministerin Wieczorek-Zeul
hat das in der Haushaltsdebatte erwähnt - nach wie vor
jeden Monat 4 Milliarden Dollar verschlingt. Das ist
exakt dieselbe Summe, die von der internationalen Staatengemeinschaft auf der Geberkonferenz zu Tokio für
den gesamten Wiederaufbau Afghanistans für ein Vierjahresprogramm bereitgestellt worden ist. Wir erleben,
dass viele der Staaten, die Zusagen gemacht haben - ich
nehme ausdrücklich die Bundesregierung aus -, selbst
diese Zusagen nicht einhalten.
Der Wiederaufbauprozess in Afghanistan ist am
Scheideweg angekommen. Trotz der nach wie vor instabilen Gesamtsituation sind zwar im ganzen Land Projekte entstanden, die als Katalysatoren für eine gute Entwicklung wirken können, aber dafür müssen sämtliche
Kräfte und Ressourcen der internationalen Gemeinschaft
gebündelt und gestärkt werden. Ansonsten droht dem
bisherigen Aufbauprozess ein empfindlicher Rückschlag, der nicht nur die leidgeprüfte Bevölkerung
schwer treffen, sondern zugleich die Voraussetzungen
dafür schaffen würde, dass Afghanistan erneut zur
Schaltzentrale des internationalen Terrorismus wird.
Das Leiden der Menschen in Tschetschenien schreit
nach wie vor zum Himmel. Angesichts dieser Situation
ist es völlig unverständlich - da stimme ich mit Kollegen
Gröhe absolut überein -, dass sich die europäischen Regierungschefs nicht schon längst zu einer konzertierten
Aktion zusammengefunden haben, um Präsident Putin
nachdrücklich auf einen politischen Lösungsprozess der
Misere zu verpflichten.
({3})
- Ich sagte, alle europäischen Regierungschefs, Herr
Kollege.
({4})
Als Mitglied der Koalitionsfraktionen bin ich stolz
darauf, dass sich diese Regierung 1998 dazu verpflichtet
hat, Menschenrechtspolitik zur Querschnittsaufgabe zu
machen. Aber gerade in den letzten Tagen und Wochen
droht hier ein fataler Glaubwürdigkeitsverlust. Wie soll
man einem normalen Bürger erklären, dass die von unserem Bundeskanzler in Aussicht gestellte Aufhebung des
EU-Waffenembargos gegen China, verbunden mit
einer möglichen Lieferung der Hanauer MOX-Anlage,
eines klassischen Dual-use-Gutes, mit diesem hohen
Anspruch in Menschenrechtsangelegenheiten vereinbar
ist?
Noch weniger verständlich wird dies, wenn ich an das
Gespräch denke, das wir eben mit afghanischen Polizistinnen geführt haben. Die afghanische Polizei ist komplett entwaffnet, die Warlords und Hunderttausende anderer nicht. Die afghanische Polizei kann aus den
europäischen Staaten keine Dienstwaffen erhalten, weil
dem angeblich das Kriegswaffenkontrollgesetz entgegensteht. Da verstehe noch einer die Welt!
({5})
Gerade in politisch sehr bewegten Zeiten, in denen
Streiten notwendig ist, bin ich froh und dankbar, dass in
unserem Ausschuss die parteipolitische Auseinandersetzung immer gegenüber dem eigentlichen Anliegen zurücktritt: den Stummen eine Stimme zu geben und beharrlich daran mitzuarbeiten, die Menschenrechte als
Fundament der deutschen Politik weiter zu festigen.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen in unserem
Ausschuss sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Abgeordnetenbüros und Fraktionen für die
gute Zusammenarbeit. Natürlich bedanke ich mich bei
unserem Ausschusssekretariat im Namen aller, die dessen gute Arbeit kennen. Es hat in diesem Jahr angesichts
von vier Anhörungen unglaublich viel geleistet. Auch
bedanke ich mich beim Auswärtigen Amt, das unsere
Aktion „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ mit einer intensiven Recherche unterstützt hat, bei der Bundestagsverwaltung, die dieses Programm ebenfalls fördert, sowie bei Ihnen, Frau Ministerin Zypries, die Sie in
dem einen Jahr der neuen Legislaturperiode schon zweimal bei uns im Ausschuss waren. Im Rechtsstaatsdialog
arbeiten wir mit Ihrem Haus und dem Auswärtigen Amt
eng zusammen.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst schließe ich mich dem Dank von Frau Nickels an.
In diesen Dank beziehe ich nicht nur alle ein, die sie genannt hat, sondern auch sie selbst, denn ihre engagierte
Leitung dieses Ausschusses hat dazu beigetragen, dass
wir alle gemeinsam am gleichen Strang ziehen, zumeist
sogar in dieselbe Richtung. Vielen Dank!
({0})
Meine Damen und Herren, die Menschenrechtspolitiker des Deutschen Bundestages haben am gestrigen Tag
der Menschenrechte eine öffentliche Anhörung zum
Thema „Schutz von Menschenrechtsverteidigern“
durchgeführt. Wir haben erschütternde Zeugnisse von
Menschen vernommen, die sich mutig und selbstlos für
den Schutz der Menschenrechte stark machen. Wir haben einen interfraktionellen Antrag erarbeitet, in dem
wir uns für ein stärkeres deutsches Engagement beim
weltweiten Schutz von solchen Menschenrechtsverteidigern aussprechen. Des Weiteren haben wir uns entschlossen, als Parlamentarier auch selbst etwas zu tun:
mit der Petition für unsere türkische Kollegin Leyla
Zana und mit der Aktion „Parlamentarier schützen
Parlamentarier“.
Der Einsatz für Menschenrechtsverteidiger in der
ganzen Welt geht nicht nur die Menschenrechtspolitiker
des Deutschen Bundestages an, sondern alle Mitglieder
unseres Hauses. Wir können und sollten alle etwas tun.
Dazu fordere ich Sie gern auf.
({1})
Meine Damen und Herren, bei aller Freude über die
ausgezeichnete Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechtspolitik gilt es, in der traditionellen Menschenrechtsdebatte des Deutschen Bundestages doch immer auch Bilanz über die Lage der Menschenrechte in
der Welt und über die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung zu ziehen. Hier liegt aus Sicht der FDPBundestagsfraktion - dies ersehen Sie auch aus unseren
Anträgen - leider einiges im Argen.
Die Situation in Russland ist - auch dies ist zumindest von Teilen der Regierungskoalition eingeräumt
worden - besorgniserregend. Die Affäre um den JukosKonzern, die Verhaftung von Chodorkowski, die fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien,
die massiven Beschränkungen der Pressefreiheit im Bereich der elektronischen Medien - all das lässt uns daran
zweifeln, ob Russland auf dem Weg zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit wirklich festen Schrittes vorangeht.
Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom vergangenen Sonntag hat diese Zweifel leider noch verstärkt.
({2})
Von einer demokratischen Opposition kann in Russland
kaum noch die Rede sein. Die Kräfte der Macht können
künftig fast uneingeschränkt schalten und walten.
In dieser Situation ist es besonders bedenklich, dass
zunehmend der Eindruck entsteht, die Bundesregierung
habe ihre Russlandpolitik entscheidend verändert. Wo
früher galt, dass wir Russland auf seinem Transformationsprozess zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft als kritischer Partner zur Seite
stehen, scheint der Bundeskanzler inzwischen ausschließlich an der Stabilität des Putin-Regimes interessiert zu sein. Ich glaube, dass das ein gefährlicher Irrweg
ist, und zwar nicht nur aus menschenrechtspolitischer
Sicht.
({3})
Sorgen macht uns auch die Chinapolitik des Bundeskanzlers. Herr Schröder hat bei seiner Chinareise in der
vergangenen Woche angekündigt, sich in Brüssel für
eine Aufhebung des EU-Waffenembargos einsetzen zu
wollen. In den „Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern“ der Bundesregierung vom Januar 2000
ist die Beachtung der Menschenrechte eindeutig als
Voraussetzung für die Genehmigung von Waffenexporten festgelegt. Wenn der Bundeskanzler jetzt das EUWaffenembargo aufheben will, dann kann das in Peking
nur als menschenrechtspolitische Unbedenklichkeitsbescheinigung verstanden werden.
Wir alle sind von den Wirtschaftsreformen und den
ersten vorsichtigen Anzeichen einer politischen Öffnung
in China durchaus beeindruckt. Aber die massiven Einschränkungen der Religionsfreiheit, die Verfolgung und
Verhaftung von Dissidenten, die Unterdrückung der
kulturellen Autonomiebestrebungen in Tibet und in
Xinjiang und die häufige Verhängung der Todesstrafe
zeigen, dass sich gerade im Bereich der Menschenrechte
in China noch sehr viel tun muss.
({4})
Es wäre deshalb ein verfrühtes, ja ein verheerendes
Signal, durch eine Aufhebung des EU-Waffenembargos
den Druck von der Führung in Peking zu nehmen, auch
im Bereich der Menschenrechte endlich zu mutigen
Fortschritten zu gelangen.
({5})
Deswegen haben wir unseren Antrag gegen eine Aufhebung des EU-Waffenembargos gegenüber China vorgelegt. Ich glaube, wir werden über den Antrag noch intensiv diskutieren.
Die Menschenrechte werden sich weltweit nur dann
durchsetzen lassen, wenn alle Staaten gleichermaßen in
die Pflicht genommen werden. Menschenrechtspolitik
erfordert Mut zum offenen Wort. Die FDP-Bundestagsfraktion legt Ihnen deshalb heute einen Antrag vor, der
sich mit den skandalösen Zuständen in Guantanamo
Bay befasst. Die Rechtlosigkeit der mehr als 600 USGefangenen in Guantanamo kann auch von Freunden
Amerikas nicht einfach schweigend hingenommen werden.
({6})
Wir verurteilen insbesondere die Tatsache, dass die
USA die Gefangenen in Guantanamo unter Ausnutzung
vermeintlicher völkerrechtlicher Grauzonen ohne rechtliches Verfahren und ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand festhalten. Wir fordern die Bundesregierung und
die Europäische Union auf, gegen diesen nicht hinnehmbaren Zustand in Washington zu protestieren.
Wir wollen mit unserem Antrag ein Zeichen dafür setzen, dass auch und gerade wir Parlamentarier nicht gewillt sind, gegenüber den USA einen anderen Maßstab
anzulegen, wenn es um die Erhaltung und Einhaltung
von rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Mindeststandards geht. Die Situation in Guantanamo sollte auch
auf der 60. Sitzung der Menschenrechtskommission in
Genf angesprochen werden.
({7})
Die MRK ist das wichtigste Instrument des weltweiten
Menschenrechtsschutzes. Ihre letzten Sitzungen waren
aber leider alles andere als erfreulich.
({8})
Das internationale Medienecho war teilweise vernichtend. Die MRK verkommt immer mehr zu einem internationalen Basar der Resolutionsverhinderer. Manche
sehen die MRK schon am Ende. Es ist deshalb wirklich
allerhöchste Zeit, die MRK grundlegend zu reformieren
und ihre Arbeit zu stärken. Der Anstoß dazu wird kaum
von den weisungsgebundenen Diplomaten kommen, die
alljährlich die Sitzungen der MRK bevölkern. Auch die
sehr engagierten NGOs, die ständig vor einer Schwächung und Lähmung der MRK warnen, sind leider weitgehend machtlos. Gefragt ist hier die Politik, insbesondere wir, die Parlamentarier.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb einen Antrag erarbeitet, mit dem wir im Bundestag vor der nächsten Sitzung der MRK eine Reformdiskussion anstoßen
wollen. Der weltweite Einsatz für den Schutz der Menschenrechte sollte für uns Parlamentarier eine unserer
Kernaufgaben sein. Wir sind kritisch, wenn es um die
Kontrolle der Bundesregierung geht. Wir arbeiten aber
fraktionsübergreifend zusammen, wann immer das
Schicksal von Menschenrechtsverteidigern auf der ganzen Welt und die Stärkung der weltweiten Instrumentarien des Menschenrechtsschutzes auf dem Spiel stehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Graf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegen Funke und Gröhe, ich gehe angesichts
der bisherigen guten Zusammenarbeit davon aus, dass
wir uns über die Anträge und die Vorbereitung der MRK
im Ausschuss auf die Art und Weise, wie wir dort normalerweise miteinander umgehen, werden verständigen
können.
Eigentlich sollte am gestrigen Tag der Menschenrechte in Kabul eine Loya Jirga, eine Stammesversammlung, zusammentreten, um über den Verfassungsentwurf
zu beraten und um Afghanistan eine neue Verfassung
zu geben. Das wäre ein gutes Omen gewesen. Der Termin für das Zusammentreten der Loya Jirga ist aber nun
anscheinend wegen organisatorischer Schwierigkeiten
auf die kommende Woche, wie ich heute erfahren habe,
verschoben worden. Ich hoffe, dass die Loya Jirga den
Angelika Graf ({0})
mühsamen Prozess der Demokratisierung in Afghanistan einen deutlichen Schritt voranbringen wird.
Die Vorarbeiten für die neue Verfassung hat der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages aktiv
begleitet. Im Januar und Oktober dieses Jahres haben wir
in Kabul ausführliche und durchaus kontroverse Gespräche mit Mitgliedern der Verfassungskommission geführt. Es ging damals unter anderem um die Rolle der
Scharia und um die Notwendigkeit, dass die Rechte der
Frauen in der Verfassung ausdrücklich erwähnt werden.
Die Rolle der afghanischen Menschenrechtskommission
ist zwar im Verfassungsentwurf festgeschrieben worden.
Leider taucht aber der wichtige Satz „Männer und
Frauen sind gleichberechigt“ als expliziter Gleichheitsgrundsatz nicht auf. Wie in der Verfassung von 1964
lässt sich in dem jetzigen Verfassungsentwurf nur der
Satz finden: Alle Bürger Afghanistans sind vor dem Gesetz gleich. Dieser Satz bedeutet meines Erachtens bezüglich der Frauenrechte eher eine Gefahr als eine
Chance. Ferner lässt sich auch die Todesstrafe im Verfassungsentwurf finden.
Zum Prozedere: Ich bin enttäuscht, dass die breite afghanische Öffentlichkeit viel zu wenig und zu kurz in
den Diskussionsprozess eingebunden wurde. Der schriftliche Entwurf liegt erst seit dem 3. November 2003 vor,
da sich die Regierung trotz der Vorbereitung der Verfassungskommission lange nicht auf einen gemeinsamen
Text verständigen konnte. Zu denken geben sollte uns
ebenfalls, dass die Wahlen zur Loya Jirga erst vor wenigen Tagen stattgefunden haben, wohl um zu verhindern,
dass auf die Delegierten der gleiche Druck ausgeübt
wird wie bei der ersten Loya Jirga im Juli 2002, als
Mord und Drohungen durchaus vorgekommen sind. Wir
können also nur hoffen, dass in der jetzigen Loya Jirga
die fundamentalistischen Kräfte und die Warlords - sie
haben ein Interesse an der Schwächung der Zentralregierung - in der Minderheit sind und dass fortschrittliche
Positionen gestärkt werden. Ich hoffe, dass die Versammlung den Entwurf trotz aller Kritik nun annimmt.
Dies wäre ein Zeichen für die Stabilisierung des Landes.
Es ist ein Präsidialsystem nach US-Vorbild vorgesehen, bei dem der Präsident ebenso wie die Mitglieder des
Ober- und des Unterhauses vom Volk direkt gewählt
werden. Die Scharia soll nur greifen, wenn keine kodifizierten Gesetze vorliegen. Umso wichtiger ist es, dass
die Verfassung durch eine entsprechende Gesetzgebung
mit Leben gefüllt wird.
({1})
Es wird sich zeigen, ob Gesetze gemacht werden, die garantieren, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind,
wie es etwa das auch von Afghanistan unterzeichnete
CEDAW-Abkommen vorsieht. Es wäre schlimm, wenn
die große Chance vertan würde und die Scharia nicht nur
im zivilen, sondern auch im strafrechtlichen Bereich Anwendung fände.
Wir müssen weiterhin die afghanische Seite - in Gesprächen und mit konkreten Projekten - in vielen Einzelpunkten unterstützen. Heute Vormittag trafen wir im
Reichstag - Frau Nickels hat das schon angesprochen mit afghanischen Polizistinnen zusammen. Sie kommen
aus der vom THW erbauten und von der deutschen Polizei geleiteten Polizeischule in Kabul. Ich finde, diese
Schule ist ein gutes Beispiel für die wichtige Projektarbeit, die Deutschland im Bereich der Frauenförderung
leistet.
Ich möchte mich in diesem Zusammenhang bei all
den Hilfsorganisationen, bei den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, bei den Polizeibeamten und vor allen Dingen bei den Helfern vor Ort bedanken. Sie leisten
ihre Arbeit in einem wirklich schwierigen Umfeld und
unter sehr schwierigen Bedingungen.
({2})
Sie beweisen, dass die Menschenrechtsarbeit der Bundesrepublik Deutschland in dieser Region einen hohen
Wert hat.
Ich möchte ein Projekt von medica mondiale herausheben, welches mit der Arbeit des Menschenrechtsausschusses direkt zusammenhängt. Beim vorletzten Besuch von Mitgliedern dieses Ausschusses - Frau Nickels
und ich waren dort - haben wir ein Frauengefängnis in
Kabul besucht. Wir trafen dort auf viele Frauen, die mit
ihren kleinen Kindern wegen so genannter Sexualdelikte
eingesperrt waren. Sie sitzen im Gefängnis, weil ein
fremder Mann sie vergewaltigt hat, weil sie vor einem
prügelnden Ehemann davongelaufen sind, weil sie mit
14 Jahren nicht mit einem alten Mann verheiratet werden wollten oder weil ihr eigener Mann sie an einen anderen verkauft hat und sie deshalb wegen Bigamie angeklagt wurden.
Aus Opfern werden Täterinnen gemacht. Sie können
sich gegen die Vorwürfe nicht wehren. Medica mondiale
kümmert sich darum, dass diese Frauen eine entsprechende Rechtsberatung und Rechtsvertretung bekommen. Ich denke, auch das ist ein gutes Projekt, an dem
man festmachen kann, woran es in diesem Land fehlt.
({3})
Deswegen hebe ich das so hervor. Dieses Beispiel macht
klar, wie weit die Wegstrecke hin zu einem Rechtsstaat
ist, in dem Männer und Frauen gleichberechtigt sind.
In diesem Zusammenhang ist aber auch die Registrierung für die anstehenden Wahlen - sie sind für den
kommenden Sommer geplant - wichtig. Dieser Zensus
- er hat auch etwas mit den Mitsprachemöglichkeiten
von Frauen zu tun - geht offensichtlich nur sehr schleppend voran. Es wird schon darüber gesprochen, zwar die
Wahl des Staatspräsidenten zum vereinbarten Wahltermin im Sommer stattfinden zu lassen, aber die Wahl des
Parlaments zu verschieben. Ich warne davor. Ein Präsident ohne Parlament wäre ein schwacher Präsident; Afghanistan braucht einen starken Präsidenten. Wir müssen
international mehr Druck ausüben, um die Wählerregistrierung voranzubringen. Das hängt eng mit der SicherAngelika Graf ({4})
heitslage zusammen. Die Bundeswehr in Kunduz leistet
auch hierzu einen guten Beitrag.
Jedes Dorf und jedes Tal muss über den Wahlvorgang
und die damit verbundenen Rechte aufgeklärt werden.
Auch deswegen ist der Aufbau des Bildungssystems so
wichtig. Angesichts der Meldungen über brennende
Mädchenschulen im Südosten und in den Gebieten an
der Grenze zum Iran gilt dies besonders für Schulprojekte für Frauen und Mädchen. Zudem muss der Aufbau
von Rundfunk und Fernsehen im Land unterstützt werden, sodass auch Analphabeten mit Informationen versorgt werden können und den Fundamentalisten der
Nährboden entzogen wird.
({5})
Der afghanische Finanzminister Ashraf Ghani - ein
Mann, wohlgemerkt! - hat für die Verankerung des Genderaspekts in den Einzeletats der afghanischen Ministerien gekämpft. Wir haben das selbst erlebt, als wir im
Januar 2003 dort waren. Er hat bei mir deshalb einen
großen Eindruck hinterlassen.
In einer bemerkenswerten Studie der Friedrich-EbertStiftung, der GTZ und der Gruppe Friedensentwicklung
wird er mit drei Zukunftsszenarien für sein Land
zitiert, die ich hier verkürzt wiedergeben möchte:
Erstes Szenario. Afghanistan stabilisiert sich, entwickelt relativen Wohlstand und wird weltoffen. Die Herrschaft des Rechts verfestigt sich. Die Regierung arbeitet
aktiv an der Beseitigung der Armut. Ein wachsender Privatsektor bietet Beschäftigung und damit die Voraussetzung für ein Ende des Opiumanbaus.
Zweites Szenario. Afghanistan wird zu einem gescheiterten Entwicklungsprojekt. Es schleppt sich von
Krise zu Krise. Es gibt keine Reformen. Die Menschen
verharren in Armut. Das Land nimmt Kredite auf, die es
nie zurückzahlen kann.
Drittes Szenario. Afghanistan wird zu einem Narkomafiastaat. Kriminelle Syndikate übernehmen Bergbau,
Öl- und Gasindustrie, während sich der Drogenhandel
auf die gesamte Region ausweitet. 300 Menschen werden extrem reich sein. Der Rest der Bevölkerung versinkt in Armut. Menschenrechte gibt es nicht.
Die Verfasser der Studie fügen ein viertes, schreckliches Szenario hinzu: die Neuauflage einer talibanähnlichen Herrschaft. In Ost- und Südostafghanistan sind die
Vorzeichen dafür mit bloßem Auge zu erkennen.
({6})
Uns muss klar sein: Wir sind zum Erfolg in Afghanistan verurteilt. Deshalb begrüße ich das Vorhaben einer
erneuten Petersberg-Konferenz, bei der wir das weitere
Vorgehen mit den Akteuren vor Ort besprechen können.
({7})
Der Antrag, den wir zur heutigen Sitzung vorgelegt haben, macht deutlich, dass für uns im Deutschen Bundestag nur Szenario eins, nämlich Afghanistan als ein demokratisches, aufblühendes Land, in Frage kommt.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Melanie Oßwald.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weltweit kämpfen Menschenrechtsverteidiger auf den verschiedensten Ebenen für die Einhaltung der Menschenrechte und werden dafür oft willkürlich verhaftet, ins
Exil gezwungen, gefoltert oder gar ermordet. Gerade die
Aktuelle Stunde zu Russland in der vorletzten Sitzungswoche hat uns gezeigt, dass wir äußerst wachsam auch
nach Russland schauen müssen. Wir wollen weiterhin
Putins Reformen unterstützen und unsere Hilfe anbieten;
denn einfach ist es ja nicht. Uns muss es bei der Unterstützung der russischen Reformpolitik darauf ankommen, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Beachtung der
Menschenrechte in Russland zum vollständigen Durchbruch zu verhelfen. Wir müssen Russland dabei deutlich
sagen: Es ist kein Zeichen von Schwäche, wenn die Gewaltenteilung funktioniert, sondern es ist Stärke.
({0})
Menschenrechtsverteidiger übernehmen teilweise
Aufgaben einer politisch nur marginal wirksamen Opposition und entwickeln eigene Konzepte für die staatliche
Politik und Gesetzgebung in Russland. Dies ist angesichts der Ergebnisse der Duma-Wahl vom letzten
Sonntag umso wichtiger. Menschenrechtsverteidiger setzen sich für rechtsstaatliche Entscheidungsstrukturen
ein. Sie setzen sich für betroffene Menschen ein, erheben
Klagen, führen Prozesse, weil ein noch zu schwach ausgeprägtes Justizsystem immer wieder Willkürurteile fällt
und ein verbreitetes Misstrauen gegenüber der Rechtsprechung bestätigt. Sie zeigen, dass die Verfassung von
1993 und die entsprechenden Gesetze mehr als nur Papier sein können.
Leider stößt ihre Arbeit bei den Behörden weiterhin
auf Unverständnis, wird behindert und oft auch teilweise
verhindert. Sie werden zu Extremisten und Spionen erklärt und damit kriminalisiert. Es muss aber doch möglich sein, dass auf allen Ebenen der Russischen Föderation, in Justiz und Miliz, in der Verwaltung und in den
Medien, die Menschen an einem Strang ziehen, weil sie
Russland zu einem Rechtsstaat nach westlichem Verständnis machen wollen, in dem die Stärke des Rechts
das Recht des Stärkeren ersetzt.
Gerade der Tschetschenienkonflikt droht in der Russischen Föderation den Reformprozess hin zu mehr Demokratie und zur Achtung der Menschenrechte zu
gefährden. Gewalt und Willkür auf beiden Seiten in
Tschetschenien fördern negative Tendenzen, wie der
neuerliche Anschlag in Moskau am Dienstag gezeigt hat.
Leider ist die Stimme der ausländischen Kritik - besonders die der deutschen Bundesregierung - leise, nahezu
stumm geworden.
({1})
Den Menschenrechtsverteidigern fehlt internationale Resonanz und Unterstützung, obwohl doch beides auch in
unserem Sinne wäre.
Russland darf nicht länger ein autokratisches Land
sein, das mit Mühen versucht, eine moderne Wirtschaft
aufzubauen. Deshalb sind Menschenrechtsverteidiger
wie Abdullah Chamsajew so wichtig. Der Tschetschene arbeitet in Moskau als Anwalt. Mit übergroßem
Mut und Engagement, wovon wir uns gestern bei der
Anhörung zu den Menschenrechtsverteidigern wahrhaft
überzeugen konnten, vertritt Chamsajew seine tschetschenischen Landsleute, wenn sie von russischer Seite
bedrängt werden. So trat er im Fall Oberst Jurij
Budanow vor Gericht. Dieser Mann hatte eine 18-jährige
Tschetschenin vergewaltigt und ermordet. Er wurde zuerst wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen und
in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chamsajew
legte zusammen mit der Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil ein und Budanow wurde überraschend im
Juli dieses Jahres zu zehn Jahren Haft verurteilt. Damit
ist zum ersten Mal ein hochrangiges Mitglied der russischen Armee wegen Kriegsverbrechen in Tschetschenien verurteilt worden.
({2})
Chamsajew kämpft für eine gerechte und starke Justiz
in Russland, die unschuldigen tschetschenischen Opfern
zu ihrem Recht verhelfen soll. Er schafft mit seinem bewundernswerten Charisma immer wieder die schwierige
Gratwanderung, für Vernunft im Umgang mit dem
Tschetschenienkonflikt einzutreten und Fälle öffentlich
zu machen, ohne sich zum Feind der Russischen Föderation zu erklären, sondern zu deren Aufbauhelfer. Ich
hoffe, dies wird auch so bleiben.
Internationale Organisationen wie die OSZE sind
längst nicht mehr in Tschetschenien vertreten, aber das
heißt natürlich nicht, dass wir uns um dieses Problem
nicht mehr kümmern müssten. Dass überhaupt Fälle von
Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und veröffentlicht werden, verdankt die Öffentlichkeit mutigen
tschetschenischen Menschenrechtsverteidigern und vor
allen Dingen -verteidigerinnen.
({3})
Die ehemalige Dozentin der Universität Grosny, Frau
Lipkan Basajewa, die ich persönlich kenne, setzt sich
seit 1994 für Menschenrechte und Frieden in Tschetschenien ein. Ihre Arbeit und ihr Mut verdienen meine
größte Bewunderung und Unterstützung.
({4})
Frau Basajewa gründete eine Einrichtung für vergewaltigte Frauen in Inguschetien. Das ist eine kaum beachtete Nebenwirkung des Tschetschenienkrieges. Sie
sagt: „Die Angst ist meine ständige Begleiterin. Schikanen wie Kontrollen, Besuche in meiner Wohnung, Befragungen meiner Verwandten und Freunde sind an der Tagesordnung.“ Und das nur, weil sie diesen Frauen helfen
will. Gerade vorgestern haben wir wieder ein Lebenszeichen von Frau Basajewa erhalten. Schon wieder suchten
in Tschetschenien Todesschwadronen auf brutale Weise
nach ihr und ihrer Familie. Lipkan hat jetzt natürlich
noch mehr Angst um sich und ihre Kinder.
Meine Damen und Herren, Menschenrechtsverteidiger wie Frau Lipkan Basajewa und all die anderen brauchen unsere Unterstützung. Mit unserem gemeinsamen
Antrag zum Schutz von bedrohten Menschenrechtsverteidigern wäre ein Anfang gemacht. Menschenrechtsverteidiger, Kritiker des Tschetschenienkrieges und
Beschwerdeführer beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg sind in Russland von Verfolgung sowie extralegalen Hinrichtungen oder vom Verschwindenlassen bedroht. Die russische Regierung muss
den Schutz dieser Menschen sicherstellen. Die deutsche
Bundesregierung, aber auch die internationale Gemeinschaft, vor allem die Mitgliedstaaten des Europarates,
müssen Präsident Putin deutlich an diese Verpflichtung
erinnern. Diese Menschen brauchen unsere Unterstützung.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Tag der Menschenrechte und unsere Debatte veranlassen uns zum Nachdenken über die Rolle der Menschenrechte in einer sich verändernden Welt und die
Herausforderungen, die sich daraus ergeben. Menschenrechte sind das Fundament unserer Demokratie. Sie machen unsere Demokratie stark. Sie sind Ausdruck eines
starken Staates.
Aber auch in Deutschland ist das Fundament nicht so
stabil, wie ich selber noch vor einigen Monaten dachte.
Dass bei uns offen und ernsthaft über die Legitimität von
Folter nachgedacht wird, hatte ich für nicht möglich gehalten. Das macht aber deutlich, wie wichtig auch bei
uns eine Debatte über den Wert der Menschenrechte,
ihre Universalität und ihre Unteilbarkeit ist.
Wir begreifen eine nachhaltige Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe in allen nationalen und internationalen Politikbereichen. Weil eine glaubwürdige
Menschenrechtspolitik zu Hause anfängt, muss Deutschland endlich das Zusatzprotokoll der Anti-Folter-Konvention ratifizieren. Das ist ein wichtiges internationales
Claudia Roth ({0})
Signal. Ich denke, es ist auch allerhöchste Zeit, dass die
Vorbehalte zur UNO-Kinderrechtskonvention zurückgenommen werden.
({1})
Eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik muss
heute mit drei aktuellen Herausforderungen fertig werden.
Die erste große Herausforderung sind regionale Krisen, Kriege und die ständig zunehmenden internen bewaffneten Konflikte. Der friedliche Wandel der 90erJahre hat keineswegs überall zu einem Mehr an Frieden
geführt. Im Gegenteil: In das Machtvakuum, das zerbrechende Staaten wie die Sowjetunion oder Jugoslawien
hinterlassen haben, sind neue Regionalkonflikte getreten. Hier bleiben in der Regel das Recht allgemein und
insbesondere die Menschenrechte auf der Strecke. Deswegen müssen wir politisch reagieren. Wir verstehen die
Menschenrechte als Schlüsselelement von Krisen- und
Konfliktprävention. Denn mit staatlichen Machtmitteln
- so unverzichtbar deren Einsatz in bestimmten Situationen auch sein mag - lassen sich zwar die Symptome von
Krisen bekämpfen, nicht aber deren Ursachen.
Die zweite große Herausforderung für die Menschenrechte ist die Globalisierung. Globalisierung ist kein
Dämon und kein Glücksfall. Wir müssen sie politisch
gestalten. Globalisierung kann der Menschheit helfen.
Sie kann aber auch schaden und so zu einer Wurzel für
neue Krisen und Konflikte werden. Deswegen brauchen
wir die Globalisierung der Menschenrechte, zum Beispiel der sozialen Rechte, die menschenwürdige Arbeitsbedingungen überall in der globalen Welt garantieren.
({2})
Deutschland ist Exportweltmeister. Wir sollten diese
Rolle auch beim Export von Menschenrechten nutzen.
Wir sollten Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit exportieren. Das ist durchaus auch im eigenen ökonomischen Interesse, denn Menschenrechte sind der Garant
für Stabilität, für Frieden, für Sicherheit, also ein echter
Standortvorteil.
Menschenrechte sind - lassen Sie mich das anfügen sicher zukunftsfähiger als eine zu Recht stillgelegte Plutoniumfabrik.
({3})
Die Rüstungsexportrichtlinien beinhalten Menschenrechtskriterien; Herr Funke, da stimme ich mit Ihnen
ausdrücklich überein. Sie schließen auch aus, dass Waffen in eine Krisenregion gesandt werden.
({4})
Diese Rüstungsexportrichtlinien gelten selbstverständlich auch für China.
Die dritte und aktuell wohl größte Herausforderung
für die Menschenrechte ist der Kampf gegen den Terrorismus. Ich sage ganz deutlich: Auch und gerade im
Kampf gegen den Terrorismus muss der Rechtsstaat dem
humanitären Völkerrecht und allen internationalen Menschenrechtsstandards verpflichtet bleiben. Diese Rechte
stehen auch Verdächtigen und Kriegsgefangenen zu.
Was in Guantanamo passiert, ist eine Entrechtung - gegen das Recht und internationale Verpflichtungen. Es ist
deswegen auch nicht nur vom Internationalen Komitee
des Roten Kreuzes zu kritisieren.
({5})
Diese Kritik unterstützen viele Demokratinnen und Demokraten in den USA, die sich um ihre eigene Demokratie sorgen.
Ich stimme meiner bayerischen Vorrednerin zu: Es ist
richtig und wichtig, zum einen den entsetzlichen Terroranschlag in Moskau, der durch nichts zu rechtfertigen
ist, zu kritisieren und zum anderen zu den massiven
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht zu
schweigen.
({6})
Gestern wurde der Menschenrechtspreis der Stadt
Weimar an Riad Seif, einen syrischen Parlamentarier
und Menschenrechtsverteidiger, verliehen. Der Preisträger konnte persönlich nicht teilnehmen, weil er in Haft
ist. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Warum? Er
ist aufgrund seiner Ideen, seiner Meinung und seiner Reformvorschläge in Bezug auf eine wirtschaftliche Erneuerung, die der erfolgreiche Textilunternehmer gemacht
hat, verurteilt worden. Er gehört für mich zu den Helden
dieser Zeit. Das sind Menschen, die für Menschenrechte
und den Rechtsstaat eintreten, die dabei oft die Gefährdung ihrer Person in Kauf nehmen. Sie sind damit diejenigen, die in die Zukunft wirken und eine zukunftsfähige
Politik beschreiben. Sie müssen wir weltweit unterstützen und schützen.
Deswegen ist der vorliegende Antrag, wie Frau
Nickels gesagt hat, nicht nur ein Symbol. Er hat auch
eine ganz große Bedeutung; denn wir als Parlamentarier
und Parlamentarierinnen verpflichten uns mit diesem
Antrag, dieses Anliegen ernst zu nehmen und nach außen in die Welt zu tragen.
Ich unterstütze aus ganzem Herzen die Petition für
Leyla Zana, für Hatip Dicle, Orhan Dogan und Selim
Sadak, die seit Frühjahr 1994 wegen ihrer Meinung in
Haft sind. Ihre Freilassung wäre übrigens ein wichtiges
Signal für die Demokratisierung und die Reformbereitschaft des türkischen Staates.
({7})
Ich freue mich abschließend sehr auf eine intensive
Vorbereitung der Genfer Menschenrechtskommission.
Es ist sehr wichtig, dass sie ein deutliches und kraftvolles Zeichen gibt, damit die Menschenrechte nicht in eine
Krise geraten.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Holger Haibach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn wir am heutigen Tag die Öffentlichkeit
auf die Menschenrechte und im Besonderen auf Menschenrechtsverteidiger aufmerksam machen, so tun wir
das in dem Bewusstsein, als Parlamentarier in Deutschland privilegiert zu sein, privilegiert deswegen, weil wir
ohne Angst vor Repressalien und Verfolgung unsere
Meinung äußern dürfen, privilegiert deswegen, weil wir
ohne Behinderungen unserer Arbeit nachgehen können,
privilegiert deswegen, weil keiner von uns wegen seiner
Tätigkeit von staatlichen Institutionen mit Folter oder
Haft bedroht wird.
Dabei muss uns allen immer klar sein - ich denke, das
ist uns allen klar -, dass wir dieses verfassungsrechtlich
garantierte Privileg dazu nutzen müssen, durch unser
Handeln und Reden diejenigen zu unterstützen, die sich
nicht in einer solchen Lage befinden. Das gilt für verfolgte Menschenrechtsverteidiger im Allgemeinen und
für verfolgte Parlamentarier im Besonderen.
Aus diesem Grund haben in dieser Woche mehr als
die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses
- ich bin darüber sehr froh - im Rahmen der Aktion
„Parlamentarier schützen Parlamentarier“ die Petition zur Unterstützung der in der Türkei inhaftierten Parlamentarierin Leyla Zana unterzeichnet.
Die Geschichte von Leyla Zana ist beispielhaft für die
vieler Parlamentarier, die sich unter zum Teil schwierigen und oft auch lebensbedrohlichen Umständen um die
Verteidigung der Menschenrechte bemühen. Leyla Zana
wurde 1991 als erste Kurdin in das türkische Parlament
gewählt, 1994 aus dem Parlament heraus verhaftet und
nach einem rechtsstaatswidrigen Prozess zu 15, später zu
17 Jahren Haft verurteilt. Seitdem kämpft sie bis hin
zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof um die
Wiederaufnahme des Verfahrens, was ihr im vergangenen Jahr schließlich gelungen ist. Allerdings scheint
auch das erneute Verfahren nicht rechtsstaatlichen Maßstäben zu genügen. So bezeichnete der SPD-Europaabgeordnete Ozan Ceyhun, der für die EU dem Prozess
als Beobachter beiwohnt, das Verfahren als „eine
Schande für die Türkei“.
Unabhängig davon, wie man nun zu den politischen
Überzeugungen von Leyla Zana und der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung steht: Es kann und darf nicht
angehen, dass ein Land wie die Türkei, das Anspruch
auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union erhebt, zulässt, dass in seinen Grenzen politisch anders
denkende, frei gewählte Parlamentarier mit juristischen
Mitteln an der Ausübung ihres Mandats und an der
freien Meinungsäußerung gehindert werden.
({0})
Auch wenn wir heute einen von allen Fraktionen dieses Hauses vorgelegten Antrag zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern beraten, will ich für meine Fraktion deutlich machen, dass wir bei weitem nicht in allen
Teilen mit dem Handeln der Bundesregierung im Bereich der Menschenrechte zufrieden sind, gerade auch
was die Türkei betrifft. Damit stehen wir - das ist schon
angeklungen - wahrlich nicht allein.
So erklärte die Gesellschaft für bedrohte Völker zum
gestrigen Tag der Menschenrechte - Kollege Gröhe hat
schon darauf hingewiesen -, die Menschenrechtspolitik
befinde sich unter der gegenwärtigen Bundesregierung
in einem - so wörtlich - Rekordtief, und benennt als eines der herausragenden Beispiele die lautstarke Forderung der Bundesregierung nach einer EU-Mitgliedschaft
der Türkei trotz der erwiesenermaßen immer noch vorhandenen Defizite im Menschenrechtsbereich.
Da muss sich die deutsche Politik als Ganzes, da muss
sich gerade die deutsche Bundesregierung deutlich artikulieren und glaubwürdig bleiben. Konsequentes Handeln
zum Schutz von Menschenrechten und Menschenrechtsverteidigern wird jedoch nicht nur von Deutschland, sondern auch von der Europäischen Union insgesamt verlangt. Dass hierbei in der Europäischen Union
Fortschritte gemacht worden sind - ich will das nicht
verhehlen -, kann man am Fall Leyla Zana erkennen.
Denn ohne die Institution des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs wäre es wahrscheinlich nie zu einer
Wiederaufnahme des Verfahrens gekommen.
Europa hat auch darüber hinaus Verantwortung. Wir alle
haben im September einen Bericht der EU-Kommission
- Kollege Bindig hat schon darauf hingewiesen - über die
„Intensivierung der EU-Maßnahmen für die MittelmeerPartnerländer in den Bereichen Menschenrechte und Demokratisierung“ zur Kenntnis genommen. Die in diesem
Bereich aufgezeigten zehn strategischen Leitlinien erscheinen uns gemeinsam als entscheidende Grundlage
zum weiteren Ausbau von menschenrechtlichen Strukturen im Bereich der Staaten des Barcelona-Prozesses.
Wichtig ist hierbei - auch das ist schon festgestellt worden - ein regelmäßiges Monitoring der menschenrechtsbezogenen Vereinbarungen dieses Abkommens.
Wie bedeutend dies ist, hat die gestrige Anhörung von
Menschenrechtsverteidigern in unserem Ausschuss gezeigt, bei der Frau Sihem Bensedrine, Journalistin und
Verlegerin aus Tunesien, ein sehr bedrückendes Bild der
Situation in ihrem Heimatland gezeichnet hat. Das
Beste, was wir für eine solch mutige und engagierte Frau
wie Frau Bensedrine tun können, ist, im Rahmen unserer
Unterstützung der Menschenrechtsverteidiger immer
wieder auf die Durchsetzung und Implementierung von
Menschenrechtsstandards anhand der strategischen Leitlinien der Mittelmeerpartnerschaft zu drängen.
({1})
Für Frau Bensedrine, für die Menschenrechtsverteidiger, die gestern an der Anhörung teilgenommen haben,
und auch die, die nicht teilnehmen konnten, sowie für
die Menschenrechtsverteidiger auf der gesamten Welt
gilt eines: Sie haben den Mut, das Schicksal anderer über
das eigene zu stellen. Leyla Zana hat es einmal so ausgedrückt: „Ich liebe das Leben. Doch stärker ist der
Wunsch nach Gerechtigkeit für mein Volk!“ Sehim
Bensedrine hat gestern gesagt - Kollege Bindig hat
schon darauf hingewiesen -:
Ich werde den Preis für meine Meinungsfreiheit
zahlen.
Was Sie nicht zitiert haben, Herr Kollege Bindig, fand
ich fast noch bemerkenswerter Denn nichts ist schlimmer als die Verzweiflung des
Schweigens.
Lassen Sie uns gemeinsam - und das nicht nur heute helfen, dass ein solcher Mut und ein solches Engagement
belohnt werden, und den jetzt eingeschlagenen Weg fortsetzen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmgard
Karwatzki.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der Tag, an dem wir insbesondere die
Aufgabe haben, für Menschen zu sprechen, die in ihren
Ländern unter Todesbedrohung nicht sprechen können.
Ich will das für Lateinamerika tun. Wie leicht vergessen
wir über den aktuellen Brennpunkten die Situation der
Länder, in denen sich die Demokratien zu „Papiertigern“
entwickeln. Demokratie wird dort oft nur noch an freien
Wahlen festgemacht. Wir schauen erst wieder hin, wenn
es bedrohlich wird.
Der ehemalige Vorsitzende der lateinamerikanischen
Bischofskonferenz, Bischof Carvajal, betonte, dass sich die
Lateinamerikaner von Europa vergessen fühlen. Lateinamerika rückt erst wieder in den öffentlichen Blick, wenn
Krisen auftreten, wie jüngst in Bolivien, Peru und Venezuela, oder - um auch etwas Positives zu äußern - zum
Beispiel bei der alljährlichen Adveniat-Aktion. Ich
hoffe, dass viele dafür spenden werden.
({0})
Selbst wenn die Ausnahmesituation Kolumbiens aufmerksam und zunehmend kritisch von deutschen und europäischen Parlamentariern begleitet wird, wird leicht
verdrängt, wie instabil die Demokratien in Zentral- und
Lateinamerika - von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen - noch sind.
Die Staaten der Andenregion sowie Zentralamerikas
verdienen dabei besonderes Augenmerk. Lateinamerikaexperten sprechen von „defekten Demokratien“, die sich
durch Folgendes auszeichnen: schwer wiegende rechtsstaatliche Mängel, verbliebene Machtfülle des Militärs
und eine Tendenz zurück zur diktatorischen Alleinherrschaft. Anders ausgedrückt: Wir sprechen von der Unfähigkeit des Staates, die wirtschaftliche Stabilität, die
Rechtsstaatlichkeit sowie die öffentliche Sicherheit zu
garantieren.
Was heißt es, in diesem Umfeld Menschenrechtsverteidiger zu sein? Juristen, Journalisten, Kirchenvertreter
und Parlamentarier oder auch Vertreter der indigenen
Bevölkerung sterben im weltweiten Vergleich in dieser Region am häufigsten aufgrund ihres Einsatzes für Menschenrechte. Mangelnde Effizienz und Nachdrücklichkeit der
Strafverfolgung sowie des Strafvollzugs können als
wesentliche Grundübel fast überall ausgemacht werden.
Die Rechte der Opfer von Menschenrechtsverletzungen
wie das Recht auf Wahrheit, Aufklärung und Entschädigung werden angesichts der üblichen Amnestiegesetzgebung in der Regel mit Füßen getreten.
Das Klima der Angst, Gewalt und Straflosigkeit erfasst nicht nur in Kolumbien weite Teile der Bevölkerung. Nein, ein Menschenleben zählt auch im rechtsfreien Raum einer brasilianischen Obdachlosensiedlung
nicht viel. Wie muss es sein, wenn man die Polizei ruft
und nicht weiß, ob ein Killerkommando oder doch staatliche Ordnungskräfte in ihrer eigentlichen Funktion
kommen? Wie ist das, wenn sich im Briefkasten regelmäßig Nachrichten mit Drohungen gegen die eigene Person oder die Familie finden? Welches Grundvertrauen
kann ich in einem Staat entwickeln, wenn es keine
Rechtsmittel unabhängig von meiner Volkszugehörigkeit
oder meinem Geldbeutel gibt und wenn ich jederzeit
willkürlich festgenommen und gefoltert werden kann?
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Lebensrealität von vielen Menschenrechtsaktivisten weltweit.
Seien wir dankbar, in einem freien Land zu leben, in
dem jeder sagen kann, was er will, und lassen wir uns
von den Worten der tunesischen Menschenrechtsverteidigerin, die heute schon so oft zitiert worden ist und die
gestern von der „Verzweiflung des Schweigens“ in ihrem Land sprach, berühren! Versuchen wir alle alles, um
den Menschenrechten in aller Welt zum Erfolg zu verhelfen!
({1})
Ich habe die mir zustehende Redezeit nicht ganz ausgenutzt, was bei diesem Thema selten ist. Ich hoffe sehr,
dass die nachfolgende Rednerin meiner Fraktion, die
Kollegin Nolte, diese 1:14 Minuten für sich nutzen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
So etwas machen wir immer ohne Mahnung. Überhaupt sind wir in Menschenrechtsdebatten etwas großzügiger.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brigitte Wimmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen! Wir haben es unabgesprochen geschafft,
in all unseren Reden darauf hinzuweisen, dass die Situation der Menschenrechte weltweit im Argen liegt. Ich
werde mich in meinem Beitrag auf den sehr wichtigen
Kontinent Afrika konzentrieren.
Brigitte Wimmer ({0})
In der Außen- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung nimmt die Förderung der Menschenrechte eine zentrale Rolle ein. Die Verwirklichung
der Menschenrechte wird neben der guten Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratisierung, Stärkung der Zivilgesellschaft, Pressefreiheit
sowie der Entwicklung von tragfähigen Systemen
zur Sicherung der Existenzgrundlagen und der sozialen Grundrechte als Globalziel verstanden, das
weltweit Gültigkeit hat und damit auch im Mittelpunkt unserer afrikapolitischen Zielsetzungen und
Interessen steht.
So heißt es im 6. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung vom letzten Jahr.
Weiter steht dort:
Die afrikanischen Staaten ihrerseits bekennen sich
nachdrücklich zum Schutz der Menschenrechte.
Dies kam erneut in der konstitutiven Akte ({1}) der Afrikanischen Union ..., in der
zudem auf die afrikanische Menschenrechtscharta
Bezug genommen wird, ebenso deutlich zum Ausdruck wie in der Neuen Afrikanischen Initiative ...,
- NEPAD in der die Beachtung der Menschenrechte als eine
der Grundvoraussetzungen für Entwicklung genannt ist.
Dennoch: „Jeden Tag werden in Afrika die Menschenrechte verletzt.“ So äußerte sich die Ministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul vor vier Wochen vor dem
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.
Die Menschenrechte werden auch in Afrika durch staatliches Handeln, auf Anweisung der jeweiligen Regierung, verletzt. Als Beispiele nenne ich Staaten wie den
Tschad, Togo oder, als dramatisches Beispiel, Simbabwe. In Simbabwe erleben wir die schwersten Menschenrechtsverletzungen zum Zwecke des Machterhalts.
Wir erleben, wie eines der einstmals reichsten Länder
des südlichen Afrika, das eigentlich gemeinsam mit Südafrika eine wichtige Rolle spielen könnte, im Chaos versinkt.
Ich freue mich sehr, dass die Organisation Reporter
ohne Grenzen ihren diesjährigen Menschenrechtspreis
in der Kategorie Medien an die simbabwische Tageszeitung „Daily News“ verliehen hat.
({2})
Die „Daily News“ war seit ihrer Gründung 1999 ständigen Attacken und Repressionen des Mugabe-Regimes
ausgesetzt. Sie war eine der letzten Stimmen, die es wagten, unabhängig über die Menschenrechtsverletzungen
und das korrupte System zu berichten. Seit Oktober dieses Jahres ist die „Daily News“ geschlossen. Nun geben
einige Mitarbeiter die Zeitung als Internetausgabe Südafrikas heraus. Deswegen ist es so ungeheuer wichtig,
dass wir immer wieder auf die Bedeutung von Presseund Meinungsfreiheit hinweisen.
({3})
In Afrika aber erleben wir vor allem schreckliche humanitäre Katastrophen und die Missachtung der Menschenrechte auf allen Seiten, weil Staaten zerfallen und
Bürgerkriege stattfinden oder stattgefunden haben. In
diesem Zusammenhang möchte ich Kongo und Ruanda
nennen und darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass
wir bei solchen Ereignissen und Vorkommnissen auch an
unsere eigene Verantwortung denken.
Kongo ist eines der rohstoffreichsten Länder Afrikas.
Das Land besitzt 70 Prozent des weltweiten Vorkommens an Coltanreserven und 50 Prozent des afrikanischen Tropenwaldes. Dennoch leiden die Kongolesen an
Unter- und Mangelernährung. 70 Prozent der dortigen
Bevölkerung haben keinen Zugang zu qualifizierter Gesundheitsversorgung. Nach Schätzungen haben infolge
des Bürgerkriegs mehr als 3,5 Millionen Menschen ihr
Leben verloren. Rund 3,4 Millionen Kongolesen sind
Vertriebene. Derzeit gibt es dort 350 000 Flüchtlinge.
Im April 2001 wurde ein UN-Report über die illegale
Ausbeutung von Ressourcen im Kongo veröffentlicht,
der die Verstrickung internationaler, auch europäischer
Unternehmen in die Plünderung des Landes deutlich
machte. Der Abschlussbericht vom Oktober 2003 wurde
nur dem Sicherheitsrat vollständig vorgelegt. Wesentliche Teile enthielt man der Öffentlichkeit vor. Nach Meinung von Human Rights Watch tat man dies, um die entsprechenden Firmen zu schützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann und darf
uns nicht egal sein, wo und unter welchen Bedingungen
Unternehmen die Bodenschätze dieser Länder ausbeuten.
({4})
Es kann und darf uns nicht egal sein, wo und wie Unternehmen ihren Giftmüll entsorgen. Es kann und darf uns
nicht egal sein, wo Schiffe ausgeflaggt werden. Auch
Europa exportiert Waffen, damit dort Kriege geführt
werden können.
Solange es nicht gelingt, die internationale Schattenwirtschaft auszutrocknen und so die Quelle, die solche
Kriege zum großen Teil überhaupt erst möglich macht,
zum Versiegen zu bringen, so lange wird es uns auch
nicht gelingen, dem Staatszerfall Einhalt zu gebieten.
Ein Waffenstillstand und eine Übergangsregierung in der
Demokratischen Republik Kongo bedeuten noch nicht,
dass die Kriegsherde auf Dauer gelöscht sind. Noch gibt
es zu viele, die an der Fortsetzung solcher Konflikte zu
gut verdienen.
Wir hatten gestern in der Sitzung des Ausschusses für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den
Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten
Nationen für die Demokratische Republik Kongo und
Leiter der UN-Mission MONUC, William Lacy Swing,
zu Besuch. Herr Swing hat sich - das gebe ich gerne
Brigitte Wimmer ({5})
weiter - bei der Bundesrepublik Deutschland und bei allen Abgeordneten ausdrücklich für die deutsche Unterstützung im Kongo sowie für die bisher geleistete technische und humanitäre Zusammenarbeit bedankt.
Wie er uns berichtete, wird man sich im Rahmen der
MONUC, der Friedensmission der UN im Kongo, in den
nächsten Jahren auf fünf zentrale Ziele konzentrieren:
auf die Schaffung von Frieden und Sicherheit, auf die
Unterstützung der Übergangsregierung, auf die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der
Menschenrechte, auf die Schaffung menschlicher Bedingungen für dauerhaften Frieden und auf Capacity Building und Management.
Warum führe ich das so detailliert aus? Der Kongo
liegt im Herzen des afrikanischen Kontinents. Wenn es
uns nicht gelingt, in diesem Land eine positive Entwicklung zu initiieren, dann wird das auf die ganze Region
ausstrahlen und wird Konsequenzen für weit mehr Länder als nur für den Kongo haben.
Bei der Förderung der Menschenrechte kommt der
Entwicklungszusammenarbeit eine zentrale Rolle zu.
({6})
Immerhin gibt es in der Übergangsregierung seit Juli
eine Ministerin für Menschenrechte, Frau Kalala. Ich
möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf hinweisen, dass sie in der neuesten Ausgabe des Journals
von Amnesty International ein sehr bemerkenswertes Interview gegeben hat.
Die Entwicklungen im Kongo seit Juli zeigen, dass es
Hoffnung auf Veränderung gibt. Das gilt auch für den
Sudan. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und der FDP, in Ihrem Antrag finden sich sehr viele
Anmerkungen zum Sudan. Wir können uns sehr gut vorstellen, dass wir im Ausschuss dazu eine gemeinsame
Lösung finden.
Es gibt jedoch auch andere positive Beispiele in Afrika.
Mosambik zum Beispiel ist zehn Jahre nach Ende des
Bürgerkrieges auf einem sehr viel versprechenden Weg.
Ich könnte noch andere Staaten als Beispiele nennen. Es
liegt aber noch ein langer Weg vor uns, bis Frieden, Sicherheit und Menschenrechte in Afrika garantiert sein
werden.
Wir sollten uns gemeinsam dagegen wehren, dass
Afrika, nach dem Motto „Vergesst Afrika!“, häufig als
der verlorene Kontinent dargestellt und wahrgenommen
wird. Das wird den Menschen in Afrika trotz aller Probleme, die es auf diesem Kontinent gibt, nicht gerecht.
({7})
Viele von uns waren schon einmal in Afrika. Ich kann
für mich sagen, dass mich die Würde, der Humor, die
Herzlichkeit und die Wärme der Menschen jedes Mal
aufs Neue berühren. Das gilt gerade auch für die Menschen, deren Würde durch Verfolgung und Unterdrückung angetastet wurde.
({8})
Ich komme zum Schluss. Wir, die SPD-Fraktion, werden Afrika im nächsten Jahr zu einem Schwerpunktthema unserer Arbeit machen. Dabei werden wir
darüber reden müssen, wie unser Beitrag in Zukunft aussehen kann und welchen Anteil die afrikanischen Staaten
selbst übernehmen müssen. Außerdem unterstützen wir
die Einrichtung eines afrikanischen Menschenrechtsgerichtshofs. Dieser ist außerordentlich wichtig für alle
afrikanischen Staaten.
Es muss klar sein: So sehr wir helfen müssen, es müssen die Staaten und die Menschen in Afrika selbst ihre
Entwicklung in die Hand nehmen und ihr Recht auf
Menschenwürde, Nahrung und Gesundheit verfolgen.
Wir sollten ihnen so viel Unterstützung geben, wie wir
leisten können.
({9})
Das Wort hat die Abgeordnete Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte hat deutlich gemacht, dass die Menschenrechte in allen Erdteilen bedroht sind. Ich möchte
Ihren Blick auf ein kleines Land in Osteuropa lenken,
nämlich auf die Republik Moldau; viele kennen sie
wahrscheinlich noch unter ihrem alten Namen Moldawien.
Im Rahmen meiner Funktion als Länderbeauftragte
für Moldau habe ich mich in den letzten Monaten sehr
intensiv mit diesem Land beschäftigt. Seit Dienstag hält
sich eine Delegation von Abgeordneten und Vorsitzenden von Oppositionsparteien in Deutschland auf. Sie
wissen sicher, dass die Kommunisten seit 2001 in Moldau die Mehrheit im Parlament haben. Die Delegation
hat uns mehrfach auf die kritische Lage in Moldau aufmerksam gemacht.
Moldau ist eines der ärmsten und unfreiesten Länder
Europas. Die Menschen leben zu einem großen Teil von
Subsistenzwirtschaft. Korruption ist unter solchen Bedingungen gar nicht zu verhindern. Der Transnistrienkonflikt ist nach wie vor ungelöst. Oftmals kann nicht
von einer unabhängigen Justiz oder von freien Medien
gesprochen werden. Die Situation in den Gefängnissen
ist zum Teil unmenschlich. Der Freedom House Index
für die Einhaltung der politischen Freiheit fällt, seitdem
die Kommunisten an der Macht sind. Die schlimmste
Menschenrechtsverletzung in Moldau stellt nach wie vor
der Menschenhandel mit Frauen dar.
Bemühungen, diese großen Probleme Moldaus zu lösen, sind durchaus vorhanden. Vor allem die OSZE und
der Europarat sind dort aktiv. Man muss sich die Rolle
der Nachbarländer, insbesondere Russlands, kritisch anschauen. Trotz Zusagen beendet Russland seine Militärpräsenz in Transnistrien nicht. Es führt Parallelverhandlungen mit Moldau und Transnistrien, die aber weniger
der Einheit und Integrität Moldaus, sondern eher der
Einflusssicherung Russlands dienen. Ich denke, dass das
der Verbesserung der Menschenrechtslage in Moldau
nicht dient. Die Regierung Moldaus hat sich bislang
nicht eindeutig und kontinuierlich zu den Werten der Europäischen Union bekannt. Ich finde es trotzdem wichtig, dass wir uns um dieses Land kümmern und dass es
uns nicht gleichgültig lässt.
Schauen Sie sich an, welch geringes Engagement
Deutschland in der Entwicklungshilfe in diesem Land
zeigt. Das finde ich einfach nicht angemessen. Ich
denke, dass die Bundesregierung in einem viel stärkeren
Maß gefordert ist, auf Akteure wie den Moldauer Präsidenten Woronin, auf Russland und auf die Ukraine einzuwirken, um sie an ihre Verpflichtungen und Verantwortung zu erinnern.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das Eintreten
für die Menschenrechte einen langen Atem erfordert, sehen wir an Afghanistan. Deutschland hat sich dort immer unter der Maßgabe, die Durchsetzung der Menschenrechte und vor allen Dingen die der Frauen zu
sichern, in einer sehr intensiven Weise engagiert. Ich
denke, in Afghanistan ist auch eine ganze Reihe von Ergebnissen zu sehen. Erstmals besteht dort die Möglichkeit, dass die internationalen Menschenrechtskonventionen nicht nur unterzeichnet, sondern auch eingehalten
werden. Einige Durchsetzungsinstrumente in Afghanistan wie der Oberste Gerichtshof, das Justizministerium
oder der Generalstaatsanwalt sind nach Angaben der
UNDP mittlerweile funktionsfähig. In allen Provinzen
wurden die Gerichte wiederhergestellt. Auch im Verfassungsentwurf, der in den nächsten Tagen beraten werden
soll, gibt es Verweise auf die Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechte.
Wir alle wissen: Zur praktischen Umsetzung von
Rechten gehört natürlich die sicherheitspolitische Stabilität und auch eine ökonomische und soziale Entwicklung. Wir wissen, welch große Rolle gerade die Frauen
bei der sozialen Entwicklung eines Landes spielen. Welche Stellung die Frauen in einem Land einnehmen und
welche Entfaltungsmöglichkeiten sie haben, ist immer
ein Zeichen dafür, welchen Entwicklungsstand ein Land
hat.
Wenn wir nach Afghanistan schauen, sehen wir, dass
dort noch vieles offen ist und noch viele Probleme bestehen. Ich denke, gerade in den ländlichen Regionen Afghanistans sind Frauen nach wie vor großen Repressionen ausgesetzt. Ich bin der Frau Kollegin Graf dankbar,
dass sie das hier so kritisch und ausführlich beleuchtet
hat. Wir würdigen daher, dass die Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
im April 2003 von Afghanistan unterzeichnet wurden.
Man muss sicherlich beachten, von welch niedrigem
Niveau Afghanistan ausgegangen ist und dass man Schäden von 23 Jahren Krieg nicht in kurzer Zeit beseitigen
kann. Umso mehr sind wir im Rahmen unserer Hilfestellungen und Hilfeleistungen gefordert, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und darauf zu drängen, dass gerade Frauen in den politischen und ökonomischen
Entwicklungsprozess einbezogen werden.
({1})
Ich finde es gut, dass in dem neu vorgelegten Koalitionsantrag zu den Menschenrechten in Afghanistan
diese Probleme klar angesprochen werden und nichts beschönigt wird. Ich denke, es wird eine wichtige Debatte
in den Ausschüssen geben, in denen wir diese Anträge
intensiv diskutieren werden. Den von Ihnen aufgenommenen Forderungskatalog halte ich für sehr viel präziser
als die Anträge von vor zwei Jahren.
({2})
Wir haben hier wiederholt über Afghanistan diskutiert. Das spricht für unser kontinuierliches Engagement
in dieser wichtigen Frage.
({3})
Aber wir müssen wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir mit unseren Anträgen allein die Menschenrechte noch nicht durchsetzen.
({4})
Das heißt, es werden täglich weiterhin Taten von uns gefordert.
Vielen Dank.
({5})
Danke schön. - Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf Drucksache 15/2078 mit dem Titel
„Schutz von bedrohten Menschenrechtsverteidigern“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Antrag ist einstimmig angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 15/1633 zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung über die
Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zu den strategischen Leitlinien zur Intensivierung der EU-Maßnahmen für die Mittelmeerpartnerländer in den Bereichen Menschenrechte und
Demokratisierung. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis
der Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 15/2152, 15/2168, 15/2169, 15/2174 und
15/2175 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 sowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:
21 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Änderungsprotokoll vom 22. Juni 1998 zum
Europäischen Übereinkommen zum Schutz
der für Versuche und andere wissenschaftliche
Zwecke verwendeten Wirbeltiere
- Drucksache 15/2143 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP6a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November
1997 über die Staatsangehörigkeit
- Drucksache 15/2145 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Die deutsch-koreanischen Beziehungen dynamisch fortentwickeln
- Drucksache 15/2167 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das scheint der
Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 h sowie
die Zusatzpunkte 7 a bis 7 f auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
({2})
Wir sind noch im Abstimmungsprozess. Ich bitte die
Kolleginnen und Kollegen, das zu beachten.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen auf Grund von
Art. K.3 des Vertrags über die Europäische
Union vom 26. Juli 1995 über den Einsatz der
Informationstechnologie im Zollbereich
- Drucksache 15/1969 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 15/2185 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({5})
Georg Fahrenschon
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2185,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte die, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Stimmt
jemand dagegen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der
Fall. Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ausführung des Übereinkommens aufgrund
von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische
Union vom 26. Juli 1995 über den Einsatz der Informationstechnologie im Zollbereich, zu dem
Protokoll gemäß Art. 34 des Vertrags über die Europäische Union vom 8. Mai 2003 zur Änderung
des Übereinkommens über den Einsatz der Informationstechnologie im Zollbereich hinsichtlich der
Einrichtung eines Aktennachweissystems für Zollzwecke sowie zur Verordnung ({6}) Nr. 515/97 des
Rates vom 13. März 1997 über die gegenseitige
Amtshilfe zwischen Verwaltungsbehörden der
Mitgliedstaaten und die Zusammenarbeit dieser
Behörde mit der Kommission im Hinblick auf die
ordnungsgemäße Anwendung der Zoll- und Agrarregelung ({7})
- Drucksachen 15/1970, 15/2130 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 15/2186 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({10})
Georg Fahrenschon
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2186, den Gesetzentwurf
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung vom ganzen Haus angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/1672 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung
({12})
- Drucksache 15/2176 Berichterstattung:
Abgeordneter Gerald Weiß ({13})
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2176, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt
es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und FDP bei Enthaltung der CDU/CSU in dritter Lesung
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche
- Drucksache 15/1490 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 15/2189 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Marco Wanderwitz
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2189, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt
es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des
gesamten Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Sie dürfen sich erheben, wenn
Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. ({16})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 22 e:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen
von Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften in den neuen Ländern
- Drucksache 15/1407 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({18})
- Drucksache 15/2187 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Hilsberg
Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2187, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sie haben sich enthalten?
({19})
Ich habe es so gesehen, dass der Gesetzentwurf mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und zwei Stimmen aus der FDP bei Enthaltung von zwei
anderen Stimmen aus der FDP angenommen worden ist.
({20})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen,
CDU/CSU und zwei Stimmen aus der FDP bei Enthaltung von zwei anderen Kollegen der FDP angenommen
worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 22 f:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. März
2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Mosambik über die
Förderung und den gegenseitigen Schutz von
Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1845 ({21})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2091, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Weiterhin Tagesordnungspunkt 22 f:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. August
2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko über die
gegenseitige Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1846 ({22})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2091, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wiederum bitte ich diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Weiterhin Tagesordnungspunkt 22 f:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Oktober 2001 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Bosnien und Herzegowina
über die Förderung und den gegeneitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1847 ({23})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({24})
- Drucksache 15/2091 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Hempelmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt
unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2091, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 22g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Schutz des olympischen Emblems und
der olympischen Bezeichnungen ({25})
- Drucksache 15/1669 ({26})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({27})
- Drucksache 15/2190 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Günter Krings
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2190, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt
jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt
es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({28}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Tauss, Eckhardt Barthel ({29}),
Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Grietje Bettin, Volker Beck ({30}), Claudia Roth
({31}) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Chancengleichheit in der globalen Informationsgesellschaft sichern - VN-Weltgipfel zum
Erfolg führen
- Drucksachen 15/1988, 15/2184 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Dr. Günter Krings
Hans-Joachim Otto ({32})
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1988 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt
dagegen?
({33})
- Ich passe schon auf. Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP bei Gegenstimmen der CDU/CSU angenommen worden.
({34})
- Ich sagte doch, ich passe auf.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 7 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 81 zu Petitionen
- Drucksache 15/2177 Wer stimmt dafür? - Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 81 ist einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 7 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 82 zu Petitionen
- Drucksache 15/2178 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 82 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 7 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 83 zu Petitionen
- Drucksache 15/2179 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Sammelübersicht 83 ist ebenfalls einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 7 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 84 zu Petitionen
- Drucksache 15/2180 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 84 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 7 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 85 zu Petitionen
- Drucksache 15/2181 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 85 ist mit den Stimmen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 7 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen
- Drucksache 15/2182 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 86 ist mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Damit sind wir am Ende der Abstimmungen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des 1. Untersuchungsausschusses nach
Art. 44 des Grundgesetzes
- Drucksache 15/2100 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Florian Pronold
Hans-Joachim Otto ({41})
Ortwin Runde
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre
ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Peter Altmaier.
({42})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
besichtigen heute einen traurigen, aber durch und durch
realen Rekord.
({0})
Noch nie in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
({1})
gab es eine Bundesregierung, die mit ihren Versprechungen und Prognosen vor einer Bundestagswahl so meilenweit daneben lag wie die derzeitige Bundesregierung.
Sie können die Themen Haushaltsdefizit, MaastrichtKriterium, Renten- und Krankenversicherungsbeiträge,
Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit, Steuern, Sozialleistungen bis hin zur LKW-Maut nehmen: In keinem
einzigen relevanten Politikbereich entspricht die Lage
nach der Wahl auch nur annährend Ihren Ankündigungen vor der Wahl.
({2})
Es vergeht kein Tag, an dem Sie nicht neue Ankündigungen zurücknehmen und durch traurige Hiobsbotschaften
ersetzen müssen.
({3})
Es war die Öffentlichkeit, nicht in erster Linie wir, die
Ihnen deshalb Unehrlichkeit und Wahlbetrug vorgeworfen hat.
({4})
Nach Umfragen aus dem Herbst 2002 fühlten sich
56 Prozent der Wählerinnen und Wähler von Rot-Grün
betrogen, waren 68 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Auffassung, dass Rot-Grün den Wahlkampf mit
falschen Versprechungen geführt hat, und fanden 84 Prozent der Wählerinnen und Wähler es unglaubwürdig,
dass die Bundesregierung das ganze Ausmaß der Finanzlücken erst nach der Bundestagswahl erkannt hat.
Meine Damen und Herren, nicht wir, sondern die Öffentlichkeit, der Volksmund hat für den 1. Untersuchungsausschuss, dessen Bericht wir heute debattieren,
den Namen „Lügenausschuss“ geprägt.
({5})
Allein dieser Name ist der schlagende Beweis dafür,
dass die Bundesregierung ihre politische Glaubwürdigkeit bei den Menschen draußen im Land voll und ganz
und bis auf den heutigen Tag verloren hat.
({6})
Dass Ihre Ankündigungen, meine Damen und Herren,
samt und sonders falsch waren, stand sehr schnell nach
der Wahl fest. Offen und unklar war allerdings, ob es
sich dabei um Nachlässigkeit, um Unfähigkeit oder um
bewusste vorsätzliche Täuschung von Parlament und Öffentlichkeit gehandelt hatte. Aus genau diesem Grund
war der Untersuchungsausschuss richtig und notwendig.
({7})
Dabei ging es nicht, Frau Kollegin, um die vielen Ankündigungen von der SPD und ihrem Vorsitzenden bzw.
von den Grünen, die im Hinblick auf die Reduzierung
der Arbeitslosigkeit und die Nichterhöhung der Steuern
ebenfalls samt und sonders falsch waren.
({8})
Es ging nicht um den politischen Meinungskampf,
sondern einzig und allein um die Frage, wie Mitglieder
der Bundesregierung in ihrer amtlichen Eigenschaft mit
regierungsamtlichem Wissen umgegangen sind.
({9})
Dies ist ein klassischer Gegenstand der Tätigkeit von
Untersuchungsausschüssen. Keine Regierung hat das
Recht, das Parlament und die Öffentlichkeit zu irgendeinem Zeitpunkt falsch oder unvollständig zu informieren
und zu täuschen, auch wenn die Umfragewerte noch so
schlecht sind und die Lage noch so verzweifelt und aussichtslos zu sein scheint.
({10})
- Im Gegensatz zu all Ihrem Getöse kann ich heute von
dieser Stelle aus feststellen: Dieser Untersuchungsausschuss war einer der seriösesten,
({11})
fairsten, kürzesten, effektivsten und erfolgreichsten
({12})
in der deutschen Parlamentsgeschichte.
({13})
Meine Damen und Herren, nach intensiver Arbeit,
dem Studium von Tausenden von Akten und der Vernehmung von Dutzenden von Zeugen, steht eines fest: Diese
Bundesregierung und mehrere ihrer Minister haben das
Parlament und die Öffentlichkeit vor der Bundestagswahl in vier zentralen Bereichen falsch informiert, getäuscht und belogen.
({14})
Dies gilt zunächst einmal für die Schuldenlüge. Noch
am 12. Dezember letzten Jahres hat Finanzminister
Eichel von dieser Stelle aus erklärt, es bleibe für das Jahr
2002 bei einer Neuverschuldung von 21,1 Milliarden
Euro. Die Arbeit des Ausschusses hat ergeben, dass ihm
die Beamten seines eigenen Ministeriums bereits am
17. Juli mitgeteilt hatten, dass mit einer Neuverschuldung von bis zu 33 Milliarden Euro zu rechnen sei. Dieselben Beamten, die ihm vorher 21,1 Milliarden Euro
ausgerechnet hatten, zogen nun die Notbremse. Weder
der Bundestag noch die Öffentlichkeit wurden von Herrn
Eichel bis zur Bundestagswahl auch nur mit einem Sterbenswörtchen über diesen Umstand informiert.
Dasselbe gilt für die Maastricht-Lüge. Finanzminister
Eichel hat mehrfach erklärt, der Stabilitätspakt werde
eingehalten und die Neuverschuldung bleibe unter 3 Prozent. Am 17. September 2002, wenige Tage vor der
Wahl, erklärte er, er sei sich sicher, dass es keinen blauen
Brief aus Brüssel geben werde.
({15})
Die Arbeit des Ausschusses hat ergeben, dass die Beamten seines eigenen Ministeriums bereits seit dem 17. Juli
mit 3,5 Prozent Neuverschuldung gerechnet hatten.
Dasselbe gilt für die Gesundheitslüge und die Rentenlüge. Anhand der Renten stelle ich es Ihnen exemplarisch
dar, weil es die Menschen draußen im Land besonders
betrifft, wenn es um ihre Renten- und Pensionsansprüche
geht.
({16})
Arbeitsminister Riester hat bis kurz vor der Wahl erklärt,
die Beiträge in der Rentenversicherung blieben stabil.
Die Arbeit des Ausschusses hat ergeben, dass die Beamten seines eigenen Hauses ihm bereits im Juni 2002 erklärt hatten, dass mit einem Anstieg auf 19,6 oder
19,7 Prozent zu rechnen sei.
Meine Damen und Herren, das Strickmuster war in all
diesen Fällen dasselbe: Der Minister zieht mit positiven
Erklärungen in den Wahlkampf, die Beamten seines
Hauses weisen ab Jahresmitte darauf hin, dass es dafür
keine Grundlage mehr gibt,
({17})
der Minister ignoriert die Warnungen, bekräftigt seine
Haltung und erklärt nach der Wahl, er sei völlig perplex
und überrascht, dass es ganz anders gekommen sei. Wer
sich so eindeutig gegen die Ratschläge seiner eigenen
Beamten verhält und die Öffentlichkeit mit längst überholten Zahlen und Prognosen konfrontiert, der muss sich
zu Recht den Vorwurf des Täuschens und der Lüge gefallen lassen.
({18})
Der Untersuchungsausschuss hat seinen Auftrag
längst erfüllt.
({19})
Er hat dafür gesorgt, dass in den entscheidenden Monaten nach der Bundestagswahl die Diskussion über das
Verhalten dieser Bundesregierung in der Öffentlichkeit
lebendig geblieben ist. Sie haben für Ihr Verhalten vor
der Wahl einen hohen Preis gezahlt: Die SPD hat alle
Wahlen des Jahres 2003 verloren. Sie haben ausweislich
Ihrer Bundesgeschäftsstelle im vergangenen Jahr
30 000 Mitglieder verloren. Bei den SPD-Gliederungen
stehen 1 000 Stellen auf dem Spiel, weil Sie aufgrund
der schlechten Wahlergebnisse und des Rückgangs der
Mitgliederzahl Ihre Beschäftigten nicht mehr bezahlen
können.
({20})
Ihre eigenen Anhänger sind enttäuscht. Niemand anders als der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes - er ist Sozialdemokrat und auch SPD-Mitglied hat erklärt: Bundeskanzler Schröder gehört vor den Lügenausschuss. Sie haben bei Ihren eigenen Anhängern,
die Ihren Versicherungen Glauben geschenkt haben,
längst den höchstmöglichen Preis für Ihr Verhalten vor
der Bundestagswahl gezahlt.
Mit dem Abschlussbericht haben Sie, wie ich meine,
eine Chance verpasst. Wir haben in unserem Sondervotum durchaus differenziert,
({21})
etwa was die Rolle des Kanzleramtes und der einzelnen
Ministerien angeht.
({22})
Sie haben mit Ihrer Mehrheit im Untersuchungsausschuss einen Abschlussbericht durchgesetzt, der die Augen vor der Realität verschließt und in bewährter Manier
den politischen Gegner verteufelt.
({23})
Meine Damen und Herren, wenn wir einen Beitrag
zur politischen Kultur in unserem Land leisten und erreichen wollen, dass die Politik ein kleines Stück ehrlicher
wird, dann sollten wir in einer Debatte wie am heutigen
Tag auch den Mut haben, das, was vor der Bundestagswahl falsch gelaufen ist, beim Namen zu nennen und
daraus gemeinsam die Konsequenzen für die Zukunft zu
ziehen.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Klaus Uwe
Benneter.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren
Kollegen! Der erste Untersuchungsausschuss dieser Legislaturperiode hat - wie wir es uns vorgenommen hatten - pünktlich nach einem Jahr seine Arbeit abgeschlossen. Wie die vielen anderen Untersuchungsausschüsse
vorher hat auch dieser Ausschuss eine Unmenge Papier
zu bewältigen gehabt, die er ausgewertet und verdaut
hat. Seine Ergebnisse liegen Ihnen heute in Form eines
286 Seiten umfassenden Abschlussberichtes, mit einem
entsprechenden Dokumentenanhang auf CD - also
durchaus modern -, vor.
Wir sind zügig fertig geworden und haben diesen völlig überflüssigen Ausschuss schnell zu Ende gebracht.
Insofern haben Sie Recht, Herr Kollege Altmaier: Das
ist in der Tat das Ergebnis, das wir heute feststellen können.
Was war an diesem Untersuchungsausschuss gegenüber den vielen vor ihm neu und anders?
({0})
Neu war das erstmals angewandte Untersuchungsausschussgesetz, das sich aus meiner Sicht bewährt hat. Ich
sehe keinen gravierenden Bedarf an neuen Bestimmungen des Untersuchungsausschussgesetzes, auch nicht
hinsichtlich der Erfordernisse an den Mindestinhalt eines
zulässigen Beweisantrags, die die Opposition immer
wieder nicht beachten zu müssen meinte. Auf Beweiserhebungen finden nun einmal die Vorschriften zum Strafprozess sinngemäß Anwendung, wie es das Grundgesetz
vorsieht. Unser Spezialist in Fragen des Untersuchungsausschussrechts, Herr Dr. Wiefelspütz, bestätigt dies klar
und unmissverständlich.
({1})
Damit ist auch klar gesagt,
({2})
was ein zulässiger Beweisantrag ist, wie er auszusehen
hat und wie ein Beweisthema einzugrenzen und zu bestimmen ist. Weitere gesetzliche Klarstellungen werden
nicht weiterhelfen.
Bewährt haben sich auch die übrigen Regelungen des
Untersuchungsausschussgesetzes,
({3})
auch was die Verteilung der Befragungszeiten angeht,
Herr Kollege Otto. Dass die FDP so wenig davon hatte,
liegt nicht an dem Gesetz, sondern an den Wahlergebnissen.
({4})
- Ich wollte damit immer abkürzen, wie Sie unschwer
bemerken konnten, weil ich damit Ihre Fragen im Wesentlichen vorweggenommen hatte.
Neu und weltweit einmalig, denke ich, war aber auch,
dass die bei der Bundestagswahl knapp unterlegenen
Oppositionsparteien meinten, hier ihre Begründung für
ihre Wahlniederlage finden zu können. Altbundespräsident von Weizsäcker wurde schon vor der Einsetzung
des Untersuchungsausschusses gefragt, was bei einem
solchen Ausschuss herauskommen solle und ob er einen
solchen Ausschuss für richtig halte. Er hat bereits damals vorausgesagt:
Was soll herauskommen? Angriff, Gegenangriff,
gegenseitige Schmutzladungen! Geschädigt ist am
Ende das Ansehen der Parteien. Die Einsetzung des
Ausschusses ist die Fortsetzung des Wahlkampfes.
({5})
Diese Einschätzung ist jetzt dokumentiert. Entsprechend
der ursprünglichen Bewertung haben wir zwar teilweise
gemeinsame Feststellungen getroffen. Aber wir, SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, halten die gegen Mitglieder
der Bundesregierung erhobenen Vorwürfe schlicht für
ausgeräumt:
({6})
keine falschen Informationen, keine Verletzung der Berichtspflichten, keine Täuschung! Das ist unser Ergebnis. Für Sie von der CDU/CSU steht dagegen fest, dass
Mitglieder der Bundesregierung im Jahre 2002 den Bundestag und die Öffentlichkeit falsch oder unvollständig
informiert und getäuscht haben. Aus der Sicht der FDP
hat der Untersuchungsausschuss hinreichend Belege dafür erbracht, dass die Wähler ihr Votum auf der Basis
von Informationen abgegeben haben, die hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes fragwürdig waren. Alles ist also
so gekommen, wie es vorausgesagt worden ist.
Untersuchungsausschüsse sind auf jeden Fall - ich
möchte sie mit der Haushaltskontrolle durch das Parlament fast gleichstellen - ein ungeheuer wichtiges Pfund
eines jeden Parlaments. Die Institution Untersuchungsausschuss hat den Sinn, der Regierung auf die Finger zu
schauen und ihr notfalls auch auf die Finger zu klopfen.
Streng genommen ist ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss dazu da, zu ermitteln, ob durch Regierungshandeln Gesetze verletzt, missachtet, umgangen
oder unterlaufen worden sind. Klassische Themen für
Untersuchungsausschüsse waren beispielsweise die
Parteispendenaffäre
({7})
- in bleibender Erinnerung durch die Namen Flick
und Kohl -, Rüstungsskandale wie der HS 30 oder die
U-Boote - in bleibender Erinnerung durch die Namen
Strauß und wieder Kohl -, Geheimdienstaffären wie der
Fall Tiedge, der Fall Guillaume oder der Plutoniumschmuggel, aber auch die Vorgänge um die Neue Heimat
oder die Aufklärung der Machenschaften im Imperium
Schalck-Golodkowski und seltsamer Praktiken bei der
Treuhand. Wer sich die Reihe dieser Themen ansieht, der
merkt sofort, dass angebliche Wahllüge oder angeblicher
Wahlbetrug nicht in diese Kategorie gehören, dass sie
keine Tatbestände sind, die eine parlamentarische Untersuchung rechtfertigen. Herr Altmaier, um Ihnen entsprechend zu entgegnen: Das sind keine klassischen Themen. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind
dazu da, um Missstände aufzudecken, anzuprangern und
abzustellen. Das ist der Sinn und Zweck. Dieser ist hier
missachtet und missbraucht worden.
({8})
Es gehört zweifellos zu den Rechten der Opposition,
zu bestimmen, was sie untersuchen möchte. Sie hat sich
in diesem Fall einen angeblichen Wahlbetrug herausgegriffen. Wer aber mit solchen moralischen Kategorien
hantiert, wie Sie das getan haben, der muss sich aber
auch selbst daran messen lassen. Ich sage Ihnen klipp
und klar: Das Anliegen der Union war selbst verlogen.
Anders kann man das nicht bezeichnen.
({9})
Dass die Einsetzung des Untersuchungsausschusses
ausgerechnet von dem hessischen Ministerpräsidenten
Koch betrieben und inszeniert wurde, ist ein besonders
heikles Kapitel dieser Verlogenheit. Wer so fragwürdige
Auftritte in den Parteispendenausschüssen des Deutschen Bundestages und des Hessischen Landtages hatte
wie dieser Ministerpräsident, der sollte beim Hantieren
mit solchen Untersuchungsgremien generell vorsichtig
sein.
({10})
Herr Koch hatte sich hiervon offenbar rauschende Propagandaeffekte versprochen. Aber dieses Koch-Rezept
hat nicht funktioniert. Es gab weder Grundsubstanz noch
Würze. Es wurde eine ganz fade Suppe: dünn und geschmacklos. Deshalb sind Sie mit Ihrem Begehren auch
nicht durchgedrungen. Niemand im politischen Raum,
niemand in den Medien und niemand in der Bevölkerung
hat diesen Untersuchungsausschuss ernsthaft verfolgt.
({11})
Niemand hat ihn ernst genommen. Herr Kollege
Altmaier, genau das ist das äußerst bedenkliche Ergebnis
Ihres Vorgehens. Ihr Vorgehen ist nicht deshalb bedenklich, weil es für uns schmerzlich war aufgrund des unnützen Aufwandes von sehr viel Arbeit, Kraft und Zeit.
({12})
Das ernsthaft Bedenkliche an diesem Ergebnis ist, dass
die parlamentarische Arbeit dadurch entwertet wird.
({13})
Sinnvolle parlamentarische Institutionen werden so abgewertet. Das Parlament wird so lächerlich gemacht. Ich
behaupte nicht, dass das Ihr Vorsatz war; aber Sie haben
diesen Effekt in Kauf genommen.
({14})
Sie haben damit denjenigen in die Hand gearbeitet
- das geht von Populisten bis hin zu Rechtsextremen -,
die das System der parlamentarischen Demokratie
verachten, die es für verlogen erklären und die es am
liebsten abschaffen wollen. Darum haben Sie mit der
Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses etwas Gefährliches getan.
Herr Altmaier, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass ein sehr hoher Preis gezahlt wurde. Sie haben
nämlich ein demokratisches Instrument, eine Musterinstitution der parlamentarischen Demokratie, abgewertet. Sie haben Material für bösartige Kommentare
geliefert, die darauf hinauslaufen, das Parlament sei sowieso nur eine Versammlung von Lügnern und es gehe
im Bundestag nur um eine vordergründige Show.
Damit haben Sie - bewusst oder unbewusst - Ihren
eigenen Ruf und den Ruf von uns allen beschädigt.
({15})
Das, was Sie damit angerichtet haben, hat nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige Auswirkungen. Das
dürfen wir alle nicht zulassen. Meine ernsthafte Bitte an
Sie lautet: Kontrolle ja, aber nicht noch einmal solch einen Klamauk!
({16})
Sie haben zudem bedenklicherweise auch noch die
Seriosität politischer und ökonomischer Prognosen derart infrage gestellt, dass niemand mehr Vorhersagen vertrauen mag.
({17})
Solche Vorhersagen werden als Hinweise für politisches
Handeln sehr wohl gebraucht. Es ist eine billige Masche,
mit wichtigen Prognosen so umzugehen, dass Fehleinschätzungen - es hat sie immer gegeben und es wird sie
auch in Zukunft geben - als Lügen dargestellt werden.
Wie gesagt, es gehört zum Recht der Opposition, einen Untersuchungsausschuss durchzusetzen. Allein dafür muss sie sich nicht rechtfertigen. Sie muss sich aber
rechtfertigen, wenn sie das parlamentarische Instrument
eines Untersuchungsausschusses in dieser Weise herabwürdigt. Sie braucht sich dann nicht zu wundern, wenn
der einhellige Tenor der beobachtenden Öffentlichkeit
ist: Es konnte nicht anders ausgehen als das berüchtigte
Hornberger Schießen.
Herr Altmaier, das war ein wirklicher Schildbürgerstreich. In einer Überlieferung heißt es, dass die Hornberger das ganze Pulver schon verschossen hatten, bevor
es richtig losging. In einer anderen Überlieferung heißt
es, dass die Hornberger vergessen haben, überhaupt Pulver zu besorgen. Das von Ihnen veranstaltete Hornberger
Schießen war jedenfalls - egal, welcher Variante man
zuneigt - nicht besser.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim
Otto.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Benneter, wenn es eines Beweises überhaupt
noch bedurft hätte,
({0})
wie fragwürdig es ist, die Doppelrolle des Vorsitzenden
eines Ausschusses und eines parteiischen Abgeordneten
einzunehmen, dann ist Ihre Rede dafür sehr gut geeignet.
({1})
Darauf komme ich noch zurück.
Es ist nicht sehr beeindruckend, wenn sich diejenigen,
zu deren Vorteil Täuschungen waren, hier hinstellen
und sagen: Es ist alles widerlegt worden. Das einzig Entscheidende ist: Wie gehen die Bürgerinnen und Bürger
mit den Fakten um, die wir ermittelt haben? Der Kollege
Altmaier hat schon darauf hingewiesen, wie sie bewertet
werden. Es ist doch nicht so, dass sich irgendwelche dahergelaufenen Abgeordneten von CDU/CSU und FDP
Täuschungen ausgedacht haben; die breite Mehrheit des
Volkes - sogar Anhängerinnen und Anhänger Ihrer Partei, Herr Benneter - fühlte sich getäuscht.
({2})
Wir haben uns diese Täuschungen doch nicht aus den
Fingern gesaugt.
Es ist schon witzig, wenn Sie sagen, wir würden mit
unserer Arbeit die Glaubwürdigkeit von Prognosen
erschüttern. Lieber Herr Benneter, wo waren Sie eigentlich, als wir im Ausschuss festgestellt haben, dass beispielsweise im Bundesfinanzministerium von den tüchtigen Beamten absolut zuverlässige Prognosen erstellt
wurden, die allerdings - das ist doch die Wahrheit! - von
dem Minister missachtet bzw. ignoriert wurden?
({3})
Es geht nicht um die Zuverlässigkeit von Prognosen. Die
Prognosen waren höchst zuverlässig. Die Prognosen waren sehr viel zuverlässiger als das, was Minister Eichel
- da liegt das Problem - in der Öffentlichkeit, auch vor
diesem Hause, erklärt hat.
({4})
Lieber Herr Benneter, Ihre Rede hat mich wirklich
nicht sehr überzeugt. Bei allen parteipolitischen Unterschieden, die es hier gibt, können wir doch nüchtern feststellen: Dieser Untersuchungsausschuss hat jedenfalls
eine Menge von Dokumenten und eine Menge von Zeugenaussagen hervorgebracht, die bei Ihnen und vor allem bei den von Ihnen gestellten Ministern ein bestimmtes Maß an Selbstkritik und Einsicht zur Umkehr
erzeugen sollten. Wenn das nicht geschieht, lieber Herr
Benneter, dann beschreiten Sie Ihren Weg weiter! Aber
noch einmal werden Sie eine Wahl damit nicht gewinnen
können!
Ich will in aller Nüchternheit sagen: In den Häusern
- das war eine durchgängige Feststellung - haben die
Beamten Erkenntnisse gesammelt und an die Leitung
weitergegeben, die aber dann von den jeweiligen Ministern missachtet und in der Öffentlichkeit falsch dargestellt wurden. Die Entscheidung darüber, ob man das
eine Lüge oder eine objektive Täuschung nennt, will ich
anderen überlassen. Die Beurteilung beispielsweise
durch die Bürgerinnen und Bürger, die hier auf der Tribüne sitzen, ist da sehr viel entscheidender als die Beurteilungen, die wir oder die Sie abgeben. Das ist eine Sache, die im öffentlichen Meinungskampf entschieden
werden muss. Unsere Aufgabe ist es, die Fakten zur Verfügung zu stellen. Die Faktensammlung liegt auf dem
Tisch. Ich denke schon, dass sie sehr aufschlussreich ist.
Ich will hier in aller Deutlichkeit noch einmal eines
sagen: Frau Ministerin Ulla Schmidt hat als Zeugin vor
dem Untersuchungsausschuss an einer nicht unwesentlichen Stelle objektiv die Unwahrheit gesagt.
({5})
- Sie kommen nachher dran, lieber Herr Montag.
({6})
- Gut, dann ist das meine Meinung. Sie werden nachher
eine andere Meinung äußern. Aber Sie sind erst nach mir
dran. Ich will jetzt sagen, was mein Vorwurf ist.
Frau Ministerin Schmidt hat als Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss erklärt, die Notwendigkeit eines
Vorschaltgesetzes, also eines Kostendämpfungsgesetzes
im Gesundheitswesen, beruhe auf Erkenntnissen, die sie
erst zwischen dem 23. und dem 29. September 2002 erhalten habe; deswegen hätten erst am 29. September die
Vorarbeiten begonnen und das habe sich auf eine Maßnahme zur Ausgabenbegrenzung beschränkt.
Wir wissen - das ist glasklar belegbar -: Bereits am
24. September, wenige Tage nach der Wahl, hat Frau
Schmidt den Auftrag für ein umfassendes Kostendämpfungsgesetz erteilt. Das kann also nicht auf Erkenntnissen beruhen, die sie erst am 27. oder 28. oder
29. September erhalten hat.
({7})
Diesem Vorwurf wird sie nicht entgehen können.
({8})
Die Meinungen sind ausgetauscht worden. Ich
möchte den Blick nach vorn richten. Ich teile ganz und
gar nicht die Auffassung des Herrn Vorsitzenden, dass
sich das Untersuchungsausschussgesetz in jeder Hinsicht bewährt hat. Ich kann schon verstehen, dass Sie,
Herr Benneter, als Vorsitzender damit glücklich sind.
Aber es ist doch wirklich nicht in Ordnung, dass Abgeordnete, die die Wahrheit oder jedenfalls Fakten ermitteln sollen, in ein derartiges Zeitkorsett gezwängt
Hans-Joachim Otto ({9})
werden. Ich durfte gerade mal sechs Minuten fragen; da
waren die Antworten schon inbegriffen.
({10})
- Ja, ja. Ich wehre mich auch nicht gegen die sechs Minuten als solche. Aber dass ein Vorsitzender, ein parteiischer Vorsitzender - wie parteiisch Sie sind, Herr
Benneter, haben Sie in Ihrer Rede eben noch einmal bewiesen -, vorab eine Stunde schwadronieren, den Saal
leer- und die Leute müdereden darf, kann doch nicht
sein. Es kann nicht angehen, dass die beiden großen
Fraktionen abwechselnd den Vorsitzenden eines Untersuchungsausschusses bestimmen können.
({11})
- Dann können Sie eine neue Doktorarbeit schreiben,
Herr Wiefelspütz!
({12})
Mein Vorschlag lautet ganz klar wie folgt - das hat
sich auch in anderen Gremien bewährt -: Lassen Sie uns
mit einer qualifizierten Mehrheit, beispielsweise Zweidrittelmehrheit, aus dem Untersuchungsausschuss heraus einen Vorsitzenden wählen!
({13})
Ein solcher Vorsitzender hat dann auch eine andere
Rolle. Er ist dem gesamten Ausschuss verpflichtet und
nicht so ein parteipolitischer Kämpfer, wie Sie einer
sind. Es kommt nicht der Wahrheitsfindung zugute,
wenn ein Vorsitzender in einer solch parteipolitischen
Rolle agiert, wie Sie es getan haben. Das werfe ich Ihnen
alleine, Herr Benneter, noch nicht einmal vor. Ich halte
das für einen Strukturfehler. Ich bin der Meinung, wir
müssen das Untersuchungsausschussgesetz an dieser
Stelle ändern. Meine zwei Vorschläge lauten:
Erstens. Zukünftig soll der Vorsitzende mit einer
Zweidrittelmehrheit von den Mitgliedern des Ausschusses gewählt werden. Zweitens halte ich es nicht für erforderlich, dass der Vorsitzende unbedingt ein Abgeordneter sein muss. Ein qualifizierter Richter oder eine
andere angesehene Persönlichkeit wären sicherlich auch
gut.
({14})
Insgesamt will ich bestätigen: Dieser Ausschuss hat
eine gute Arbeit geleistet, weil wir uns zusammengerauft
haben. Das enthebt uns aber nicht der Notwendigkeit, zu
analysieren, ob es nicht auch Verbesserungsbedarf im
Recht für parlamentarische Untersuchungsausschüsse
gibt. Ich jedenfalls bin zu der Überzeugung gekommen:
Wir müssen hier etwas ändern.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jerzy Montag.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Vor einem Jahr hat das Plenum den Untersuchungsausschuss eingesetzt. Gestern haben wir dem Präsidenten den Bericht abgeliefert. Heute empfehlen wir dem
Hohen Hause, diesen Bericht zur Kenntnis zu nehmen.
Um es gleich vorneweg zu sagen: Die Sacharbeit in
diesem Ausschuss haben wir geleistet und nicht Sie, die
Antragsteller.
({0})
Wir haben Ihren Antrag dem Geschäftsordnungsausschuss zugeführt, um dort prüfen zu lassen, ob der Auftrag überhaupt verfassungsmäßig ist.
({1})
Wir haben Ihren Antrag ergänzt, damit der Auftrag überhaupt vernünftig bearbeitet und behandelt werden kann.
({2})
Wir haben für einen geordneten Ablauf des Verfahrens
durch einen systematischen Aufbau der Beweisaufnahme in Form einer Dreiteilung - Haushalt, gesetzliche
Krankenkasse, gesetzliche Rentenversicherung - gesorgt.
({3})
Darüber hinaus haben wir für einen systematischen
Aufbau gesorgt: erst Aktenstudium, dann Erarbeitung
der Grundlagen durch Sachverständige und zum Schluss
Vernehmungen von Zeugen aus den Behörden, vernünftigerweise in der Folge der Dienstränge von unten nach
oben.
({4})
Sie aber stellen in Ihrem Minderheitsvotum den Ablauf
so dar, als seien Sie in diesem Ausschuss fortwährend
vergewaltigt worden.
Tatsache ist aber, meine Damen und Herren von der
Opposition, insbesondere von der CDU/CSU, dass Sie in
den internen Sitzungen, in denen wir uns darüber unterhalten haben, meistens zugestimmt und nur vor laufenden Kameras gemosert haben. Sie haben sich ja auch
kein einziges Mal bei Gericht beschwert.
({5})
Dies ist der erste Untersuchungsausschuss ohne eine gerichtliche Auseinandersetzung, Herr Dr. Gehb. Dies ist
ein Beleg für die Qualität der Arbeit der Koalition in diesem Ausschuss.
({6})
Es ist auch ein Beleg für die Qualität der Arbeit des Vorsitzenden Klaus Uwe Benneter, dem ich von dieser
Stelle für seine Arbeit ganz ausdrücklich danken
möchte.
({7})
Wir danken aber auch für die Zuarbeit aus dem Ministerium und dem Bundeskanzleramt, die die Akten so
vollständig wie noch nie einem Untersuchungsausschuss
vorgelegt haben.
({8})
- Es wurde alles vorgelegt, selbst die Unterlagen, aus denen Sie jetzt in Ihrem Sondervotum ein bisschen Honig
für Ihre verquere Argumentation saugen wollen.
({9})
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, meine Herren
von der Opposition, wäre das Chaos im Ausschuss vorprogrammiert gewesen. Sie wollten Zeugenbefragungen
ohne Akten, eine Befragung aufgrund von Unterstellungen aus dem politischen Raum - es hätte keine Möglichkeit gegeben, Vorhalte zu machen -, Befragungen kreuz
und quer zu irgendwelchen Themen, aber ohne jede
Struktur. Zur Erinnerung: Ihr Interesse war groß bis zum
2. Februar 2003. Da war der Wahltag in Hessen
({10})
und danach war es mit Ihrem Interesse vorbei, Herr
Dr. Gehb. Nachdem es Ihnen nicht gelungen war, diesen
Untersuchungsausschuss für den Wahlkampf zu missbrauchen, verlor nicht nur die Öffentlichkeit das Interesse, sondern auch Sie verloren das Interesse an der Arbeit. Manche Ihrer Mitglieder waren nur noch
Zaungäste; ihre Präsenz war erbärmlich. Davon nehme
ich ausdrücklich Herrn Kollegen Otto und Herrn Kollegen Altmaier aus. Alle übrigen mögen sich das ans Revers stecken.
Gestern hat Kollege Altmaier vor der Bundespressekonferenz im Brustton der Überzeugung erklärt, die Republik habe bis zum Sommer 2003 engagiert Anteil an
diesem Untersuchungsausschuss genommen; nichts Geringeres als der Irakkrieg habe den Untersuchungsausschuss von den ersten Seiten der Zeitungen verdrängt.
({11})
Diese Erklärung ist so absurd, dass sie für sich spricht.
Jeder politisch halbwegs interessierte Mensch in unserem Land kann über so viel Verblendung nur den Kopf
schütteln, Herr Kollege Altmaier.
({12})
Wie Sie sich diese Erklärung zurechtgestrickt haben,
so haben Sie auch das Beweisergebnis zusammengestrickt, um Ihre von Anfang an unsubstanziierten Vorwürfe gegen die Bundesregierung als erwiesen anzusehen. Kommen wir zu Ihrer Behauptung im Kern zurück!
Gegenstand der angeblichen Lügen sollen die Situation
des Bundeshaushalts und die Finanzlage der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung gewesen sein.
Aber wir haben doch alle lernen müssen - manche haben
es schon vorher gewusst -, was man über die Situation
des Bundeshaushalts weiß. Genaues weiß man erst einige Monate nach Ende des Haushaltsjahres. Die Steuerschätzungen liefern nur Prognosen mit einer bestimmten
Wahrscheinlichkeit.
Die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung ist noch unklarer, weil sich die Zahlen von Monat
zu Monat wandeln.
({13})
Klar waren die Basisdaten. Diese lieferte nicht die Bundesregierung. Sie waren der Öffentlichkeit von Anfang
an jederzeit bekannt. Jeder konnte sich einen eigenen
Reim auf diese Zahlen machen. Weil die Bundesregierung dabei vorsichtig vorging - Sie haben es doch von
den Sachverständigen gehört -, lag sie immer im Mittelfeld der Prognosen. Das war eine konservative Einschätzung der Situation des Haushalts und der Sozialkassen.
({14})
Bezeichnend für Ihre Beweisführung ist, dass Sie von
„den Beamten“ in „den Ministerien“ sprechen. Tatsächlich hat ein Beamter im Juli mit Zahlen vom Mai eine
rechnerische Linearprognose auf das Jahresende gemacht und ist dabei zu einer erschreckenden Zahl gekommen.
({15})
- Herr Dr. Gehb, Sie müssen noch eine Sekunde zuhören. - Diese Zahl hat sich als richtig erwiesen.
({16})
- Jawohl. - Aber diese Zahl ist damals aus guten Gründen als unverantwortlich und falsch angesehen worden.
({17})
Deswegen war es richtig, dass die politische Leitung des
Hauses diese Zahl kassiert und eine aus damaliger Sicht
verantwortliche Prognose abgegeben hat.
({18})
Angesichts Ihrer Verquickung von Fakten und Prognosen will ich Ihnen vorhalten, was die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ Ihnen zu Beginn dieses Untersuchungsausschusses ins Stammbuch geschrieben hat. Die
Union habe
das Einverständnis darüber aufgekündigt ..., was jedenfalls kein geeigneter Gegenstand für das ... Instrument
- des Untersuchungsausschusses ist. … Was bedeutet es, daß man einen ökonomischen Umgang mit Informationen, der eine Sache
der politischen Klugheit oder Dummheit ist,
- das will ich durchaus offen lassen durch ein Gremium aufklären lassen will, das seine
Arbeit gemäß der Strafprozeßordnung organisiert?
Dann die rhetorische Frage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an Sie:
Hat die Opposition die Hoffnung aufgegeben, noch
einmal die Regierung zu stellen?
({19})
Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich noch
ein Wort zu der Doppelzüngigkeit Ihrer Argumentation
sagen. Sie wurden und werden nicht müde, dem Bundesfinanzminister und der Bundesregierung vorzuwerfen,
den Bundeshaushalt 2003 im Laufe des Wahljahres
2002 bis in den Oktober 2002 hinein auf der Grundlage
der Steuerschätzung vom Mai entwickelt und vertreten
zu haben. Trotz angeblich vorliegender neuer Zahlen soll
darin ein Betrug liegen, dessen Opfer - als Wahlverlierer - Sie sein sollen.
Blicken wir nach Bayern, auf die Bayerische Staatsregierung.
Herr Kollege, ich glaube, Sie haben keine Zeit mehr,
nach Bayern zu blicken.
({0})
Ich will nur noch ein Zitat anführen, Frau Präsidentin,
und mir meine weiteren geplanten Ausführungen sparen.
({0})
Die bayerischen Sozialdemokraten haben der Bayerischen Staatsregierung im November 2002 den gleichen
Vorwurf gemacht wie Sie Herrn Eichel.
Herr Kollege, Sie hatten nur noch ein Zitat in Aussicht gestellt.
Es kommt jetzt; dann bin ich am Schluss meiner
Rede. - Noch am 12. Dezember 2002 hat der bayrische
Finanzminister Faltlhauser darauf geantwortet:
Sie müssen den Haushalt auf der Basis einer offiziellen Steuerschätzung aufstellen. … Alle Länder
und der Bund halten sich an die Steuerschätzung,
und zwar an die aktuellste. Die aktuellste war für
die Aufstellung dieses Haushalts die Mai-Steuerschätzung. Anders kann und darf ich mich nicht
verhalten. Wer dies leugnet, kennt das System in
unserem Land nicht. Wer das leugnet, will von Seriosität und von Berechenbarkeit abgehen.
Dies ist das Urteil des Herrn Faltlhauser über Ihre Politik.
Sie sind von der Berechenbarkeit und der Seriosität
der Politik abgegangen. Deswegen ist es okay, wenn wir
die rhetorische Frage der „FAZ“ so beantworten: Bleiben Sie bitte in der Opposition! Dies ist gut für unser
Land.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Montag, ich weiß nicht, was Sie
veranlasst hat, eine so abstruse Rede zu halten.
({0})
Die Behauptung, es sei nicht vertretbar gewesen, die
Wahrheit zu sagen, ist mir noch nie begegnet. Auch vor
der Wahl muss man die Wahrheit sagen. Ich dachte, das
sei der Gegenstand der Untersuchung gewesen.
({1})
Dass Sie uns jetzt vorwerfen, wir hätten während dieses Untersuchungsausschusses kein Gerichtsverfahren
angestrengt, ist die zweite Abstrusität in dieser ganzen
Geschichte. Wir haben natürlich Ihre Taktik, zu verzögern, hinzuhalten und uns permanent zu provozieren,
durchschaut und haben so manche Kröte geschluckt und
gesagt: Wir wollen zeitnah fertig werden und der Öffentlichkeit nach einem Jahr einen Untersuchungsausschussbericht vorlegen, damit diese Angelegenheit nicht in
Vergessenheit gerät. Das war der Grund dafür, warum
wir nicht geklagt haben. Ich denke, das könnte beim
nächsten Untersuchungsausschuss anders werden.
Dieser Ausschuss hat Zeugen vernommen. Es wurde
dokumentiert. Der Lügenausschuss konnte jedoch keine
Sanktionen verhängen und er konnte vor allem nicht das
verlorene Vertrauen der Bevölkerung gegenüber dieser
Regierung zurückgewinnen. Nach all dem, was wir in
diesem Ausschuss gehört haben, und bei all den Zeugenauftritten, die wir erlebt haben, gibt es nur ein Fazit: Die
Dr. Hans-Peter Friedrich ({2})
rot-grüne Bundesregierung hat das Vertrauen der Menschen in Deutschland nicht nur verspielt, sie hat es noch
nicht einmal verdient.
({3})
Sie selber haben den Zeugenaussagen entnehmen können, dass die Bundesregierung vor der Wahl die wahre
Haushaltslage und die wahre Lage der Sozialsysteme
verschleiert hat. Deswegen brauchen Sie sich jetzt nicht
darüber zu wundern, dass die Menschen in Deutschland
sagen: Egal was die uns versprechen - seien es Reformen, Entlastungen oder seien es Geldwertstabilität oder
sinkende Krankenkassenbeiträge, wie ich letzte Woche
gelesen habe -, wir glauben dies alles einfach nicht mehr.
Das ist wie an der Börse: Wenn die an der Börse angekündigten Gewinnerwartungen nicht eintreten, dann
sinkt zunächst einmal vorübergehend der Kurs.
({4})
Aber wenn Sie falsche Zahlen bzw. falsche Bilanzen
vorlegen, dann bewirkt das nicht nur einen vorübergehenden Vertrauensverlust. Dann ist das vielmehr ein
dauerhafter, fundamentaler Vertrauensverlust. Den
können Sie im Grunde nur durch den Rücktritt des gesamten Vorstands heilen. Wenn der Vorstand im Amt
bleibt, geht es mit der AG weiter bergab.
Vor der Bundestagswahl 2002 wurden den Menschen
falsche Bilanzen über die Arbeit der Regierung Schröder
1998 bis 2002 vorgelegt. Deswegen ist es egal, was diese
Regierung den Menschen verspricht oder in Aussicht
stellt, sie glauben es nicht mehr. Es ist egal, was Sie
heute ankündigen, es hat keine Wirkung mehr. Inzwischen geht es so weit, dass, wenn Sie die Leute fragen,
was sie sich von den Steuersenkungen erwarten, sie Ihnen antworten: Na ja, am Schluss haben wir ja doch
noch weniger in der Tasche. - So weit ist das Misstrauen
gegenüber dieser Regierung schon gediehen.
Die Täuschung der Bevölkerung vor der Bundestagswahl 2002 war vielleicht das entscheidende Element
für dieses Misstrauen. Dieses Misstrauen, Herr Kollege
Benneter, kam in über 300 Wahleinsprüchen zum Ausdruck, die dem Wahlprüfungsausschuss des Deutschen
Bundestages vorgelegt wurden, in denen die Menschen
im Grunde artikuliert haben: Wir sind vor der Wahl betrogen worden. - Wir als Untersuchungsausschuss haben
diese Beschwerde aufgenommen und die Dinge aufgeklärt. Der Untersuchungsausschuss hat untersucht, nachgewiesen und dokumentiert, was die Menschen im
Lande nach der Wahl eigentlich schon intuitiv gespürt
haben. Das war unsere Aufgabe.
Am 17. Juli 2002, spätestens am 31. Juli 2002 wusste
der Finanzminister von seinen Beamten, dass die Neuverschuldung weit über den geplanten Ansätzen liegen
würde. Herr Eichel wurde darüber informiert. Das hat er
in seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss
zugegeben. Am 12. September 2002, also etwa acht
Wochen später - wenn man vom 17. Juli 2002 ausgeht -,
sagte er im Bundestag: Es bleibt bei einer Neuverschuldung in Höhe von 21,1 Milliarden Euro. - Dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn es nach der Vernehmung in den Fluren des Bundestages hieß: Lügen
haben kurze Beine, nur kürzer sind dem Eichel seine.
({5})
Das war der Spruch, der damals überall zu hören war.
Dasselbe Spiel gab es bei den Maastricht-Defizitkriterien und bei Frau Schmidt hinsichtlich der Krankenkassenausgaben; Herr Otto hat es dargestellt. Der zuständige Referatsleiter im Gesundheitsministerium hat im
August in einer Vorlage dringende Maßnahmen angemahnt, vor allem im Arzneimittelbereich. Er hat gesagt:
Da explodieren die Kosten. - Frau Schmidt hat nicht gehandelt. Warum nicht? Wenn sie hätte handeln wollen,
hätte sie die wahre Situation der Krankenversicherungen
offen legen müssen. Das hat sie vor der Wahl nicht gewagt und nicht getan. Ich nenne das, wenn man handeln
muss und nicht handelt, weil man nicht offen legen will,
wie die Lage wirklich ist, eine politische Konkursverschleppung.
Diese politische Konkursverschleppung müssen die
erkrankten Menschen in Deutschland ab dem 1. Januar
2004 ausbaden, wenn sie wieder in die Tasche greifen
und noch mehr Euro auf den Tisch legen müssen. Wenn
man in der Politik nicht rechtzeitig handelt, werden die
Einschnitte, die man später vornehmen muss, umso tiefer und schmerzhafter für die Bevölkerung.
({6})
Die Krönung war freilich der Auftritt des Bundeskanzlers, der angeblich bis zum 22. September 2002
nicht gewusst hat, wie schwierig und schlimm die Lage
wirklich ist, der wirklich geglaubt hat, alles sei in Ordnung.
({7})
Ich habe mich während der Vernehmung vier Stunden
lang gefragt: Für wie blöd hält dieser Mann uns eigentlich? Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt am
2. November 2002, dass die Behauptung der Bundesregierung, das ganze Ausmaß der Finanzkrise sei erst nach
der Wahl erkennbar gewesen, 74 Prozent der SPD-Anhänger für unglaubwürdig halten.
({8})
- Herr Dreßen, das ist der weitere schwerwiegende Vorwurf, den sich diese Bundesregierung und dieser Bundeskanzler heute machen lassen müssen. Er hat sogar
das Vertrauen seiner eigenen sozialdemokratischen Genossen enttäuscht. Schröder und die 68er, die dieses
Land an vorderster Front malträtieren, haben den guten
Glauben der Menschen, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, einmal mehr für ihre Machtspiele benutzt.
Das passt hundertprozentig zum Auftritt von Herrn
Schröder beim letzten Parteitag, auch wenn dies nur am
Rande gesagt wurde: Ich mach euch fertig! Gemeint waren die Genossen in Niedersachsen, genauso gut hätten
die Grünen gemeint sein können.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({9})
({10})
- Noch ein oder zwei geplante Atomexporte und Sie haben keine Wähler mehr, Herr Montag, das verspreche
ich Ihnen.
Weil der Finanzminister bis zum 22. September durch
das Land gezogen ist und in jeder Fernsehsendung, jedem Interview und jeder Rede erzählt hat, man werde
das Defizitkriterium erfüllen, man werde unterhalb der
3-Prozent-Marke bleiben, obwohl ihm seine Experten
bereits zwei Monate vorher mitgeteilt haben, dass man
bei 3,5 Prozent liege, hat er Vertrauen unwiederbringlich
verspielt. Das hat der Untersuchungsausschuss - nachzulesen im Abschlussbericht - festgestellt.
Aus diesem Grund glaubt Herrn Eichel auch in der
Europäischen Kommission niemand mehr. Der Außenminister hat in der gestrigen Fragestunde verkündet: Die
Bundesregierung steht zum europäischen Stabilitätspakt. Ich habe gesehen, dass darüber selbst SPD-Genossen lachen mussten. Wenn man sieht, mit welcher
Selbstverständlichkeit Eichel den europäischen Stabilitätspakt in die Luft sprengt, wenn man sieht, mit welcher
Gedankenlosigkeit ein europäischer Verfassungsvertrag
unterschrieben werden soll, der die Unabhängigkeit der
europäischen Notenbank gefährdet - Sie können die
Presseerklärung der Bundesbank nachlesen -, dann spürt
man, welches Unheil diese Regierung über das Land gebracht hat und in Zukunft noch bringen wird.
({11})
Die Arbeit des Untersuchungsausschusses war mühsam, weil einige Zeugen es für völlig normal hielten,
sich zum Zwecke der Machterhaltung von der Wahrheit
zu entfernen.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Die Botschaft des Untersuchungsausschusses lautet:
Wir akzeptieren es nicht, wenn von Regierungsseite gelogen wird, und zwar weder vor noch nach der Wahl.
Deswegen wird die Opposition nicht nachlassen - in
welcher Form auch immer -, die Bundesregierung an
ihre Wahrheitspflicht zu erinnern.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Nein. Entschuldigung. Ich war schneller, als die Rednerliste es vorsieht.
Zunächst hat der Kollege Florian Pronold für die
SPD-Fraktion das Wort.
({1})
- Soweit wollen wir nicht gehen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
habe im Untersuchungsausschuss etwas über das Lügen
gelernt.
({0})
- Ja. Ich habe etwas gelernt; aber nicht von der Bundesregierung, sondern von Ihnen, von der Opposition. Sie
haben vor den Fernsehkameras gelogen, dass sich die
Balken bogen. Wer gehört hat, was Sie dort zum Besten
gegeben haben, hat sich gefragt, ob er vorher in der gleichen Sitzung wie Sie war. Sie haben das im Untersuchungsausschuss Geschehene verdreht und Fakten weggelassen. Sie haben immer nach der gleichen Methode
gearbeitet: Sie versuchten, der Öffentlichkeit vom Geschehen im Ausschuss einen Eindruck zu vermitteln, der
den konkreten Sitzungsverlauf nicht widerspiegelte.
({1})
Was war Ihre Methode? Sie gaben gerade ein Beispiel
dafür. Sie sagten, dass ein Ministeriumsmitarbeiter relativ früh im Jahr mittels einer linearen Hochrechnung ein
Ergebnis ermittelt hat, das er nach oben weitergeleitet
hat. Das stimmt. Dieses Ergebnis war am Jahresende näher an den tatsächlichen Werten als die Prognosen anderer Mitarbeiter, die bessere Prognosemethoden benutzt
haben.
Das wurde aber nicht verschwiegen oder vertuscht.
Bezüglich der Rentenfrage gab es beispielsweise auch
zwei objektive Gutachter, die als objektive Schiedsrichter eingeschaltet wurden. Im Juli wussten alle über die
strittigen Zahlen Bescheid.
Im Untersuchungsausschuss wurde der Mitarbeiter
befragt, ob er nun die angewandte Methode kritisieren
würde. Er sagte, er habe die Ergebnisse als richtig empfunden. Nun versuchen Sie, ihn als Belastungszeuge gegen die Bundesregierung anzuführen. Das ist wahrheitswidrig und unsauber, weil Sie die Hälfte der Fakten
weglassen.
({2})
Lassen Sie mich, wie Sie es tun, mit der linearen
Hochrechnung argumentieren. Ich zitiere aus der Rede
des Haushaltsexperten der Union, Herrn Austermann,
während der Sitzung vom 19. Dezember des vergangenen Jahres: „… wird die Nettokreditaufnahme eher …
40 Milliarden Euro erreichen.“ Tatsächlich betrug sie
31,8 Milliarden. Bei einem Zeitraum von zwölf Tagen
hat sich Ihr Experte um 8,2 Milliarden Euro verschätzt.
({3})
Wenn ich Ihre Berechnungsgrundlage bei der Hochrechnung auf ein Jahr zugrunde legte, müsste ich feststellen,
dass er sich um 249,41 Milliarden Euro verschätzt hat.
Das ist eine lineare Hochrechnung. So argumentieren
Sie in diesem Zusammenhang.
({4})
So ist es. Genau diese Geschichte verbreiten Sie dann. In
Wirklichkeit sind all Ihre Vorwürfe wie eine Seifenblase
zerplatzt.
Herr Otto, Ihren Bericht finde ich am schönsten. Sie
waren etwas seriöser als Ihre Kollegen von der Union.
Aber warum machen Sie unserem Vorsitzenden die Vorwürfe, dass er nachgefragt, kritische Fragen gestellt und
zur Wahrheitsfindung beigetragen hat?
({5})
Jemandem im Endeffekt vorzuwerfen, dass er, obwohl er
der SPD angehört, den Mitgliedern der Bundesregierung
kritische Fragen stellt, finde ich sehr gewagt. Dass Sie
dieselben Fragen nicht noch einmal stellen wollten, was
Sie trotzdem des Öfteren getan haben, kann man Ihnen
nicht vorhalten.
({6})
Für mich war dieser Untersuchungsausschuss nichts
anderes als eine Wahlkampfhilfe für den Lügenexperten der Union, der Koch heißt.
({7})
Er hat ihn - vor der Wahl in Hessen - initiiert.
({8})
Es wurde ein großes Brimborium gemacht. Es ist aber
absolut nichts herausgekommen. Wenn wir im Umgang
mit Steuergeldern fair wären, dann würden wir die Kosten des Untersuchungsausschusses als Wahlkampfhilfe
für die Union werten
({9})
und sie Ihnen von der nächsten Wahlkampfkostenerstattung abziehen.
Danke.
({10})
Nun, Herr Gehb, bekommen Sie ohne Widerspruch
aus welcher Fraktion auch immer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer das
klinische Wörterbuch Pschyrembel durchblättert, findet
Krankheitsbilder, die manchmal nach den Patienten,
manchmal nach dem behandelnden Arzt benannt sind.
Dort findet man zum Beispiel auch das Pfeiffersche Drüsenfieber. Was ich dort nicht beschrieben gefunden habe,
ist ein Phänomen,
({0})
bei dem der Betroffene vor, während oder nach der Konfrontation mit früheren, eigenen Aussagen, die etwa
durch Fernsehbilder, Zeitungsartikel, Interviews oder
Reden dokumentiert sind, mit heftigem Kopfschütteln,
meist verbunden mit erhobenem Zeigefinger, reagiert.
({1})
Die Kenner wissen es, die Laien ahnen es: Es handelt
sich um das eichelsche Schüttelsyndrom, meine Damen
und Herren.
({2})
Ich möchte Ihnen eine kleine Kostprobe geben. Am
1. September 2002, also vor der Bundestagswahl, hat
Herr Eichel in der Sendung „Sabine Christiansen“ gesagt: Die Bundesregierung macht keine Schulden. Das
haben wir immer klar gesagt. Wir machen keine Schulden.
({3})
- Das mache ich gleich. - Am 20. Oktober 2002, also
kurz nach der Wahl, sagte er, mit dieser Aussage konfrontiert, dass man bei niedrigerem Wachstum höhere
Schulden hinnehmen muss.
Meine Damen und Herren, ich kenne Hans Eichel
sehr gut: aus seiner Zeit als Oberbürgermeister von Kassel, als hessischer Ministerpräsident und jetzt als Bundesminister. Herr Eichel hat sich nie besonders gerne im
Zentrum der Wahrheit, sondern immer viel lieber an deren Peripherie bewegt.
({4})
Wer erinnert sich nicht an den theatralischen Auftritt
Eichels in der Kanzleretatdebatte am 14. September
2000, bei der er auf den Vorwurf meines Kollegen
Friedrich Merz, 1989 habe es keinen maßgeblichen
SPD-Politiker gegeben, der die Wiedervereinigung gewollt habe, mit Tränen der Rührung reagierte.
Schon damals waren die Tränen, wie auch das Schütteln, Täuschungstränen. Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, was Herr Eichel in dem im Kampfblatt „Wir in
Hessen“ erschienenen Artikel „Jetzt: Konkrete deutschdeutsche Politik“ 1989 geschrieben hat:
({5})
Die deutsche Frage steht derzeit als akute Frage der
Wiedervereinigung entgegen aller Demagogie auch
von Seiten rechter CDU- und CSU-Kreise, bei der
auch der derzeitige hessische Ministerpräsident
- gemeint war Herr Wallmann in populistischer Manier mitzieht, nicht auf der
weltpolitischen Tagesordnung.
Ich könnte Ihnen seitenweise zitieren, was er an dieser
Stelle alles ausgeführt hat. Am Ende dieses Artikels
kommt er noch darauf zu sprechen, den von der SPD seit
Jahren mit der SED gepflegten Dialog fortzusetzen.
({6})
Meine Damen und Herren, demjenigen, der hier vor
diesem Hintergrund mit tränenerstickter Stimme spricht,
muss ich sagen: Jeder Delinquent, dem man in einem
Verfahren die Wahrheit vorhält, ist nach der Salami-Taktik bereit, alles zuzugeben. Nicht einmal das tut Herr
Eichel. Er geht vielmehr immer selbst in Anbetracht anderer Tatsachen sowie beschrieben vor. Das ist das eichelsche Schüttelsyndrom. Da muss man sich kaputtlachen.
({7})
Ich sehe Herrn Eichel gelegentlich in Kassel bei Eishockeyspielen. Er hat lange Zeit nicht gewusst, dass die
Scheibe, mit der man spielt, Puck und nicht Ball heißt.
Das ist aber auch nicht weiter tragisch. Böse Zungen in
Kassel behaupten aber, Herrn Eichel könne man noch
nicht einmal das Endergebnis eines Eishockeyspiels abnehmen. So viel zur Glaubwürdigkeit dieses Mannes.
Ich sage Ihnen: Diese haben auch wir im Ausschuss kennen gelernt.
({8})
Über den ungenauen Umgang mit der Wahrheit haben
wir in unserem Untersuchungsausschuss fast ein Jahr
lang viel gehört. Deswegen möchte ich mich nun dem
Verfahren widmen und hierzu etwas aus dem Nähkästchen plaudern.
({9})
- Wenn ich so wie Sie die doppelte Redezeit in Anspruch nehmen würde, Herr Montag, dann reichte diese
noch zu einer Wattwanderung. Dann könnten Sie sich
wieder Ihr rosa Höschen anziehen.
Ich will nun zum Verfahren etwas aus dem Nähkästchen plaudern. Die Angst, mit der Sie an diesen Ausschuss herangegangen sind, hat sich schon bei der Einsetzung dieses Ausschusses gezeigt.
({10})
Schon bei der Einsetzung haben Sie gegen die grundgesetzlich verbriefte Regel verstoßen, dass auf Antrag der
Untersuchungsausschuss unverzüglich einzusetzen ist.
({11})
Was haben Sie gemacht? - Sie haben den Umweg über
den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung genommen.
Herr Wiefelspütz, aufwachen!
({12})
Wissen Sie, über wen ich am meisten enttäuscht
bin? - Über Sie bin ich am meisten enttäuscht. Ich
möchte auf Ihre rechtswissenschaftlichen Aufsätze zu
sprechen kommen. Jemand, der so spät wie Sie zu so
akademischen Weihen wie einem Doktorgrad gekommen ist, der sollte so aufrichtig sein, dass er die
Rezepte - ({13})
- Das will ich Ihnen sagen: Sie haben in der Fachzeitschrift „DÖV“, Jahrgang 2002, Seite 803, einschlägige
Passage auf Seite 804, geschrieben, dass der Untersuchungsausschuss gegen den Willen der qualifizierten
Einsetzungsmehrheit nicht den Umweg über einen anderen Ausschuss nehmen darf. Was haben Sie
gemacht? - Sie haben treu und brav diesem Umweg zugestimmt.
({14})
Ähnliches haben Sie, der Sie ein Vielschreiber sind
- allerdings schreiben Sie meistens dasselbe -, in der
Zeitschrift „Parlamentsfragen“, Jahrgang 2002, auf
Seite 557 geschrieben. Darin haben Sie zum Beispiel
ausgeführt, dass der Arkanbereich heute in einem Untersuchungsausschuss nicht mehr so übertrieben ausgedehnt werden darf. Sie waren aber derjenige, der in Ausschusssitzungen am lautesten gebrüllt hat, dass das eine
Frage sei, die man nicht stellen dürfe. Es war so schlimm
und peinlich, dass der Chef des Bundeskanzleramtes,
Staatssekretär Steinmeier, von seinen eigenen Leuten
pausenlos gemahnt worden ist, er dürfe dieses oder jenes
nicht sagen.
({15})
Herr Benneter, wissen Sie noch, Sie mussten sogar einschreiten und ihnen sagen, dass Herr Steinmeier als Chef
des Kanzleramtes selber wissen werde, was er sagen darf
und was nicht. Bei der Vernehmung von Herrn Metzger
war es ähnlich.
Ich möchte noch etwas über die vorgelegten Akten sagen. Das war unvergleichlich. Die Akten wurden vom
Kanzleramt in großem Ausmaß als Verschlusssache
eingestuft. Dabei waren die Akten noch dünner und magerer als der Kollege Wiefelspütz. Ihnen war fast überhaupt nichts zu entnehmen.
({16})
Deswegen haben wir einen Geheimbericht erstellt. Das
ist übrigens die richtige Antwort auf die Geheimniskrämerei, die Sie in diesem Ausschuss an den Tag gelegt
haben.
Ich komme zum Schluss. Ich hatte mir vorgenommen,
weil es Weihnachtszeit, also Zeit der Besinnlichkeit ist,
meine Rede mit dem schmissigen Wort „fortiter in re,
suaviter in modo“ zu schließen. Schließlich sind nicht
alle von Ihnen Absolventen einer integrierten Gesamtschule. Trotzdem will ich das Wort für Sie, Herr Dreßen,
übersetzen: Hart in der Sache, aber anständig im Umgang.
Herr Benneter, Sie haben mit Ihrer Auftaktrede diese
versöhnliche Geste fast im Keim erstickt. Trotzdem will
ich die Gelegenheit nutzen, bei allem, was in solch einem Untersuchungsausschuss die unterschiedliche
Schlachtordnung hergibt, zu sagen, dass wir häufig sehr
viel kollegialer miteinander umgegangen sind, als es den
Anschein hat, vor allen Dingen dann, wenn keine Fernsehkameras gelaufen sind, Herr Montag. So war das
auch in diesem Jahr, in dem wir zusammen im Untersuchungsausschuss gesessen haben.
Ich möchte allen Kollegen danken, vor allem aber den
Mitarbeitern, die sich viel Mühe gegeben haben, alles
vorzubereiten - sie verdienen keine Geringschätzung -,
damit wir als Vortänzer auftreten können. In diesem
Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein besinnliches Weihnachtsfest. Herr Pronold,
üben Sie noch ein wenig. Dann lernen Sie noch etwas.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({17})
Zum Schluss der Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt erhält der Kollege Dr. Wiefelspütz für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin erleichtert, dass wir alle uns in Zukunft wieder sinnvolleren Tätigkeiten als der Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss zuwenden können.
({0})
Wenn die Öffentlichkeit jetzt nicht dabei wäre, würden Sie alle sagen, dass der Wiefelspütz Recht hat; denn
so geht es den Kollegen von der FDP, von der CDU/
CSU, von den Bündnisgrünen und auch von der SPD.
Dies war der 34. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages. Die zwölf Untersuchungsausschüsse
des Verteidigungsausschusses, der sich ebenfalls als Untersuchungsausschuss konstituieren kann, sind dabei
nicht mitgerechnet. Der 34. Untersuchungsausschuss
war der mit Abstand überflüssigste. Das ist meine feste
Überzeugung.
({1})
Ich betone - Herr Otto, das habe ich schon vor einem
Jahr gesagt, aber die Wahrheit muss man immer wieder
sagen und
({2})
manchen muss man sie zu sehr häufig sagen, damit sie
sie wirklich begreifen -:
({3})
Dies war der überflüssigste Untersuchungsausschuss
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Herr Dr. Gehb, das Untersuchungsrecht des Parlaments ist sehr wichtig. Ich will es nicht überschätzen,
aber es ist fraglos sehr wichtig. Übrigens ist es nicht nur
ein Recht der Opposition, sondern es gab auch sehr
wichtige Untersuchungsausschüsse, die von der Mehrheit des Hauses eingesetzt worden sind.
({5})
- Ja, beispielsweise in der letzten Legislaturperiode.
Wir alle wissen, dass man von Rechten klug und umsichtig Gebrauch machen muss. Manchmal ist es vielleicht eher ein Zeichen von Kraft und Stärke, einen Untersuchungsausschuss nicht einzurichten, anstatt einem
ersten Reflex nachzugeben und ihn einzusetzen. Die
Verantwortung für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses hat allein die Opposition, weil es
ein Minderheitenrecht ist. Wir haben uns dem selbstverständlich nicht widersetzt. Das könnten wir auch gar
nicht und wir würden es auch nicht tun. In dieser Konstellation ist es ein Oppositionsrecht.
Ich bin der festen Überzeugung - heute noch mehr als
vor einem Jahr -, dass es für Sie zwei Gründe dafür gab,
diesen Untersuchungsausschuss einzurichten. Der erste
Grund war: Sie haben die Wahlniederlage vom
22. September 2002 nicht verkraftet. Sie waren sich so
sicher, diese Bundestagswahl zu gewinnen. Sie haben
sich durch die Wählerinnen und Wähler so ungerecht behandelt gefühlt, dass Sie sich gesagt haben: Wir wollen
versuchen, das zu korrigieren. Wahlergebnisse kann man
aber nicht korrigieren. Der Souverän von uns allen, das
Volk, entscheidet und es hat am 22. September entschieden. Sie können dem Volk doch nicht unterstellen, dass
es sich von irgendjemandem hat täuschen lassen. Genauso wie Sie und ich hat das Volk alle vorhandenen relevanten Daten und Zahlen gekannt und es hat dann eine
Entscheidung getroffen.
Es gab einen zweiten Grund, der hier schon mehrfach
angesprochen worden ist. Ministerpräsident Koch
meinte, ein Wahlkampfthema haben zu müssen. Sie
wollten sich nicht zum Jagen tragen lassen - das gilt insbesondere für die Unionsfraktion - und haben einen Untersuchungsausschuss installiert. Lieber Herr Altmaier,
Ihre eigene Fraktion nimmt Ihre Arbeit nicht wirklich
ernst.
({6})
- Sie merken es heute an der Resonanz Ihrer Kolleginnen und Kollegen. Wenn das eine so tolle Sache gewesen wäre, dann müssten doch ein paar mehr Ihrer Kolleginnen und Kollegen hier sein.
({7})
- Ich weiß, sie sitzen alle am Bildschirm und schauen Ihnen zu, Herr Dr. Friedrich. Es kann gar nicht anders sein.
({8})
Ich kann Ihnen sagen: Dieser Untersuchungsausschuss war nichts anderes als ein geronnenes Vorurteil.
Sie hatten ein Vorurteil und kein einziges Schlüsseldokument. Sie haben mit Ausforschungsbeweisanträgen
versucht, zu Fakten zu kommen.
({9})
Heute stehen Sie mit genauso leeren Händen da, wie Sie
in den Untersuchungsausschuss hineingegangen sind.
Das Ganze ist eine Nullnummer, eine Luftbuchung. Sie
haben ein Nichts ins Leben gerufen.
({10})
Damit haben Sie erwachsene Leute ein ganzes Jahr lang
beschäftigt. Nach meiner Auffassung müssten Sie die
Kosten dieses Untersuchungsausschusses selber tragen,
Herr Altmaier.
Ein Kollege hat gesagt: Unser Schiedsrichter ist das
Volk. Deshalb ist es vielleicht auch gar nicht so wichtig,
was wir hier sagen, sondern wer sich wirklich die Zeit
nehmen will, kann den Bericht des Untersuchungsausschusses anfordern, die Drucksache 15/2100 plus CDROM mit den Dokumenten. Jeder Bürger kann sich das
anschauen und sich dann sein eigenes Urteil darüber bilden, ob jemand gelogen hat oder ob Sprüche gemacht
worden sind, ob ein unsinniger Untersuchungsausschuss
eingesetzt worden ist oder nicht.
Lassen Sie mich noch etwas zum Verfahren sagen.
Ich habe noch einmal über die Frage nachgedacht, die
Sie, Herr Otto, gestern vor der Bundespressekonferenz
gestellt haben. Müssen wir dieses Recht ändern?
({11})
Das sage ich nicht, weil ich selber mit dabei gewesen
bin, genauso wie Sie, Herr Schmidt. Wir haben das Untersuchungsausschussgesetz, Herr Dr. Gehb, einstimmig
hier im Deutschen Bundestag verabschiedet.
({12})
Das schließt aber nicht aus, dass man das eine oder andere auch besser machen kann.
Ich muss Ihnen freimütig sagen, auch unter Zugrundelegung kritischer Maßstäbe: Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses, Klaus Uwe Benneter, hat
seine Arbeit ordentlich gemacht. Er hat heute zum ersten
Mal eine sehr politische, sehr pointierte Rede gehalten.
({13})
Aber heute war er hier nicht mehr als Ausschussvorsitzender tätig, sondern natürlich als Politiker, der eine
Meinung hat und eine Wertung abgibt. Als Vorsitzender
hat er nie Interviews gegeben oder Bewertungen abgegeben. Sie schlagen einen Nichtparlamentarier als Ausschussvorsitzenden vor. Darüber denke ich nach. Dann
müssten Sie das Grundgesetz ändern. Das kann man natürlich machen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das Untersuchungsrecht ist
eine parlamentarische Veranstaltung mit Menschen, die
ihre Aufgabe im Untersuchungsausschuss hoffentlich
engagiert und mit Leidenschaft erfüllen. Aber wir alle
miteinander, weder Sie, Herr Dr. Gehb oder Herr
Altmaier, noch ich, sind nicht neutral. Wir sind als Politiker befangen.
({14})
Auch der Vorsitzende Benneter - das hat er selber eingeräumt, ich würde mir gar nicht anmaßen, das zu sagen sagt, er sei befangen. Das heißt aber noch lange nicht,
dass man grob parteiisch ist und die Regeln eines fairen
Untersuchungsausschusses verletzt. Das hat der Mann
nicht gemacht. Wenn er es gemacht hätte, wären Sie zu
Recht zu Gericht gegangen.
Bei allen unterschiedlichen Auffassungen kann man
darüber reden, ob das Gesetz an der einen oder anderen
Stelle verbessert werden kann. Ich will Ihnen nur sagen:
Das Gesetz zwingt uns dazu, aufeinander zuzugehen.
Das haben wir in diesem Jahr getan. Manchen Büchsenspannern hier und dort hat das nicht gefallen. Ich finde
es sehr positiv, dass wir alle, sowohl Sie als auch wir,
nicht der Versuchung erlegen sind, das alles vor Gericht
auszutragen. Wir haben uns zusammengerauft. Dazu
zwingt das Gesetz.
({15})
Ich sage Ihnen: Der Vorsitzende sollte weiterhin ein
Abgeordneter sein. Man kann mit uns über die Frage reden: Wie lange fragt der Vorsitzende?
Herr Kollege Wiefelspütz, Herr Otto hatte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen wollen. Da ich vermute, dass Sie
sonst bald das Mikrofon räumen müssen, sollte Ihnen die
Zwischenfrage ganz gelegen kommen.
Lieber Herr Präsident, ich danke für diese Vorlage
und Fürsorge.
Sie sollten mir danken. Ich verhelfe Ihnen zu dieser
Vorlage und ermögliche Ihnen damit, noch ein bisschen
länger zu sprechen.
Weil Sie hier eine nachdenkliche, differenzierte Rede
halten, lasse ich an dieser Stelle die Sache mit der Parteilichkeit des Vorsitzenden außen vor. Sie haben den
Punkt, um den es mir geht, eben schon angesprochen.
Wie wollen Sie denn ernsthaft rechtfertigen, dass ein
Abgeordneter auf der Suche nach der Wahrheit in ein
dermaßen enges Zeitkorsett von sechs oder zwölf Minuten gezwängt wird, während der Vorsitzende stundenlang fragen darf? Das geht nicht. Wenn der Vorsitzende,
wie Sie eben gesagt haben, als Parlamentarier parteiisch
ist und parteiisch sein muss, dann muss seine Fragezeit
auf die Fragezeit der jeweiligen Fraktion angerechnet
werden. Stimmen Sie mit mir darin überein?
Herr Otto, ich habe nicht gesagt, dass dieser Vorsitzende parteiisch gewesen ist. Ich habe darauf hingewiesen, dass er ein Politiker ist und insoweit genauso
befangen ist wie Sie und ich. Er war ein fairer Vorsitzender.
Nach Abschluss dieser Debatte können wir im neuen
Jahr gerne interfraktionell darüber reden, ob wir in diesem Punkt auch beim Gesetzgebungsverfahren Handlungsbedarf sehen. Was ich mir beispielsweise vorstellen
kann, lieber Herr Otto, ist die Regelung: Der Vorsitzende
fragt eine Viertelstunde und dann ist Schluss. Wenn er
länger fragt,
({0})
wird diese Zeit auf das Kontingent seiner Fraktion angerechnet. Ich bin der Auffassung, dass der Ausschussvorsitzende der Erste unter Gleichen ist, aber keine Privilegien hat. Darüber muss man doch reden können.
Damit das nicht unter den Tisch gekehrt wird, will
ich ergänzend sagen: Es ist in diesem einen Jahr des
Untersuchungsausschusses nicht ein einziger Beweisantrag nicht abgearbeitet worden. Trotz unserer wechselseitigen Bedenken, die wir an der einen oder anderen Stelle hatten, ist kein einziger Beweisantrag nicht
aufgerufen worden. Kein Zeuge ist zurückgewiesen
worden. Jede Akte ist beigezogen worden. Wir haben
uns ernsthaft bemüht, Vermerke abzustufen und Bedenklichkeiten bei der Regierung auszuräumen. Jeder
Zeuge ist geladen worden.
({1})
Lieber Herr Kollege Gehb, ich bin jederzeit für Spott
und Ironie zu haben, auch wenn ich selber die Zielscheibe bin. Das gehört selbstverständlich mit dazu. Ich
persönlich lege großen Wert darauf - so unterschiedlich
die Bedingungen auch sind -, dass ich das, was ich in
wissenschaftlichen Zeitungen schreibe - das müssen Sie
nicht gut finden -,
({2})
auch in der Arbeit des Untersuchungsausschusses praktiziere. Anderenfalls würde ich das sehr persönlich nehmen. Bei dem großen Interesse, das ich am Untersuchungsausschussrecht habe, glaube ich, dass wir das
Verfahren im Großen und Ganzen gut geregelt haben.
An dieser einen Stelle, Herr Otto, können und sollten wir
gemeinsam nachdenken, ob wir das noch besser machen
könnten, damit noch mehr Fairness an den Tag gelegt
wird. Aber ich sage noch einmal: Dieser Vorsitzende war
ein Garant dafür, dass wir gut über die Bühne gekommen
sind.
Ich möchte mich bei den Mitarbeitern herzlich bedanken, die auf der Empore sitzen, statt in ihren Büros für
uns alle zu arbeiten. Aber heute sei das ausnahmsweise
genehmigt. Schönen Dank! Ich wünsche Ihnen gute Arbeit an sinnvolleren Gegenständen als an diesem überflüssigen Untersuchungsausschuss.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des 1. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 15/2100. Der Ausschuss empfiehlt, den Bericht
zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Dann hat das
Hohe Haus einstimmig Kenntnis genommen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Unterstützung der Bewerbung der Stadt Leipzig mit dem Segelstandort Rostock um die
Ausrichtung der XXX. Olympischen Sommerspiele und der XIV. Paralympics 2012
- Drucksache 15/2170 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Jürgen Wieczorek für die SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Olympische Sommerspiele und Paralympics
2012 in Leipzig und in Rostock - heute noch eine Vision, aber keinesfalls eine Illusion, sondern greifbar und
durchaus realistisch. Mit der Ausrichtung dieser Spiele
verbindet sich die große Chance, das Ansehen Deutschlands in der Welt maßgeblich zu fördern und enorme Impulse für den Sport auszulösen, der in einer Zeit zunehmender Bewegungsarmut immer mehr an Bedeutung
gewinnt.
({0})
Mit der Hoffnung auf die Ausrichtung der Spiele verbindet sich aber auch die Aussicht auf eine maßgebliche
Entwicklung der Infrastruktur und vor allem auf Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung in ganz
Deutschland. Dies gilt ganz besonders in den gastgebenden ostdeutschen Regionen, wo sie von enormer Bedeutung wären.
Die Probleme der letzten Wochen sollten überwunden
sein, insbesondere auch deshalb, weil durchaus aufdeckungswürdiges Fehlverhalten durch bestimmte politische Interessen stark überhöht wurde. Vergessen soll
auch sein, dass sich in dieser Phase, weniger von Sachlichkeit, als vielmehr von Häme und Neid getrieben, so
mancher unfeine Finger namhafter Freunde des Sports in
Richtung Leipzig streckte.
Die Chance, mit der Bewerbung Leipzigs und
Rostocks gegen starke Konkurrenz zu bestehen, ist sehr
groß. Eine Reihe von vorhandenen und von geplanten
Alleinstellungsmerkmalen sprechen eindeutig für Leipzig: kurze Wege, kompakte Spiele, ein hoher erreichbarer Nachhaltigkeitsfaktor, große sportliche Traditionen
und Erfolge über viele Jahrzehnte. Auch nicht zu vergessen ist, dass eine große Zahl von Trainern aus vielen Teilen der Welt in Leipzig ausgebildet wurde, die heute
vielfach einflussreiche Funktionen in ihren Verbänden
und im IOC einnehmen. Dazu kommt eine enorme
Sportbegeisterung und die Unterstützung nahezu der gesamten Bevölkerung in den Regionen.
({1})
Die Gefahr des Gigantismus ist faktisch ausgeschlossen. Neben einem hervorragenden Wettkampfstättenkonzept in der Stadt Leipzig bieten sich am Südrand von
Leipzig durch die großflächige Sanierung und Veränderung der ehemaligen Tagebaulandschaft geradezu einmalige Potenziale. Hier wird vor den Toren Leipzigs
nicht nur eine attraktive wasserreiche Landschaft für
Freizeit und Tourismus entstehen, es bieten sich auch
unvergleichliche Möglichkeiten, olympiataugliche Freiluftwettkampfstätten nach Maß zu gestalten.
Rostock bietet ideale Möglichkeiten für die Segelwettbewerbe. Beide Städte haben sich bei der Ausrichtung hochkarätiger internationaler Sportveranstaltungen
vielfach bewährt. Nicht zu vergessen die führende Rolle
des Deutschen Behindertensportverbandes, des mitgliederstärksten in der Welt, mit seiner Kompetenz für die
Förderung von Sportmöglichkeiten und die Ausrichtung
von Wettkämpfen für Menschen mit Behinderungen.
({2})
Ich denke, das ist ein starkes Argument für die Paralympics.
Erste Investitionsmaßnahmen sind bereits im Gange.
Namhafte und erwiesenermaßen qualifizierte Mitstreiter
haben sich inzwischen in die Bewerbungsgremien integriert. Die Bundesregierung und beide Landesregierungen haben die notwendigen Unterstützungserklärungen
abgegeben. Insbesondere Bundesinnenminister Otto
Schily setzt sich besonders stark für den Erfolg ein.
Wirtschaftsverbände und immer mehr Unternehmen unterstützen tatkräftig die Bewerbung. Zunehmend kann
man wirklich von einer nationalen Bewerbung, ja, von
einer nationalen Bewegung sprechen.
({3})
Mit der Ausrichtung der olympischen Sommerspiele
und der Paralympics 2012 in Deutschland, in Leipzig
und Rostock, verbindet sich eine großartige Möglichkeit,
uns den Völkern der Welt als weltoffen, tolerant und als
hervorragende Gastgeber zu präsentieren. Die Vorbereitung auf das Ereignis, die Atmosphäre und der Geist
olympischer Spiele würden eine Reihe sehr positiver Impulse für die Entwicklung unserer Kinder und Jugendlicher auslösen.
Mit unserem Antrag, den alle Fraktionen des Hauses
tragen, worüber man sich sehr freuen sollte, fordern wir
deshalb die Bundesregierung und alle Teile der Bevölkerung, im Besonderen auch die Medien, auf, die Bewerbung nach Kräften zu unterstützen.
({4})
Wir Parlamentarier sollten uns dabei beispielhaft verhalten. Ich sehe hier vielfach das Zeichen von Olympia an
Jürgen Wieczorek ({5})
den Kleidungsstücken hervorragen. Dabei sollte es nicht
bleiben.
Ich bin davon überzeugt, dass dabei die Menschen aus
allen Teilen Deutschlands weiter zusammenwachsen
werden und dass viele Hürden, die heute leider zum Teil
noch zwischen uns stehen, endlich fallen. Schon allein
dafür lohnt es sich, dass wir gemeinsam die Chance nutzen und um den Erfolg kämpfen.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Eberhard Gienger für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 40 Jahre
nach München könnte wieder einmal eine deutsche Stadt
Gastgeberin für das wohl größte Sportfest der Welt werden. Am 12. April hat sich das Nationale Olympische
Komitee entschlossen, Leipzig den Zuschlag für die
Olympiabewerbung 2012 zu geben.
Wenn man Athleten nach ihrem größten Ziel fragt,
dann ist die Antwort fast stereotyp „Teilnahme an den
Olympischen Spielen“. Es ist tatsächlich so - ich habe es
schließlich einmal mitgemacht -: Du marschierst in die
Halle ein, du erfüllst dir deinen Lebenstraum, du bist gut
vorbereitet und motiviert, aber hast doch noch ein paar
Zweifel. Dann schwenkt irgendwo oben einer eine
schwarz-rot-goldene Fahne, du glaubst, es sei für dich,
gewinnst dadurch Selbstvertrauen und es kann fast
nichts mehr schiefgehen. Es gibt für einen jungen Menschen nur eine Steigerung der Teilnahme an Olympischen Spielen, nämlich die Teilnahme an Olympischen
Spielen im eigenen Land.
({0})
Nach dem 1:0 für Leipzig am 12. April dieses Jahres
in München hat die Stadt allerdings einige Gegentore
kassiert. Trainer und Manager haben aber die Verteidiger
und Stürmer schnell ausgewechselt; eine neue Mannschaft läuft zur zweiten Halbzeit auf. Mit dem erfahrenen Manager und neuen Mannschaftskapitän Peter
Zühldorff und weiteren Spitzenspielern wie Heinrich
von Pierer, Lothar Späth und Wendelin Wiedeking sowie
einem souveränen Libero namens Hans-Dietrich
Genscher kann der Rückstand durchaus aufgeholt werden.
({1})
Tatsächlich hat Leipzig eine Chance. Sie liegt in einer
bewusst und offensiv zur Schau gestellten Bescheidenheit als deutschem Gegenpol zu den Plänen aus New
York, Paris, London, Madrid und von weiteren Mitbewerbern. Das IOC hat des Öfteren definitiv von einer
Abkehr vom Gigantismus gesprochen. Jaques Rogge,
immerhin Präsident des Internationalen Olympischen
Komitees, brachte bereits für die Spiele 2008 in Peking
die Initiative ein, die Größe und Kosten Olympischer
Spiele zu begrenzen. Er war damals noch nicht erfolgreich. Aber hier sehe ich die Chance für Leipzig, denn
dies ist ein Alleinstellungsmerkmal, das Leipzig von allen anderen Bewerbern unterscheidet.
Hinzu kommt die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2010 nach Vancouver und der Olympischen Sommerspiele 2008 nach Peking. Somit könnte Europa bei
der Vergabe für 2012 durchaus favorisiert werden.
Optimistisch stimmt mich des Weiteren eine Umfrage
von Ende Oktober, die besagt, dass 58 Prozent der Bundesbürger Leipzig eine gute Chance für 2012 einräumen.
Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des
Münchener Forschungsinstituts polis. Mit 69 Prozent ist
dabei allerdings der Optimismus in den neuen Bundesländern noch größer als im Westen mit 56 Prozent. Diese
Umfragewerte können und müssen in den nächsten Wochen und Monaten noch deutlich verbessert werden.
({2})
Gerade gestern hat der Aufsichtsrat der Olympia 2012
GmbH getagt. Der Kooperationsvertrag mit ARD und
ZDF für Hörfunk, Fernsehen und Onlinemedien wurde
auf den Weg gebracht.
Der Fragenkatalog des IOC, der am 15. Januar abgegeben werden muss, ist so gut wie fertig beantwortet.
Die vom IOC geforderten Garantien werden erfüllt, unter anderem durch das Gesetz zum Schutz der Olympischen Ringe und der olympischen Begriffe, das gerade
eben einstimmig, wie ich miterlebt habe, vom Bundestag
beschlossen worden ist. Dieses Gesetz war vom IOC als
Voraussetzung für eine Bewerbung gefordert worden.
Ab Januar 2004 wird eine deutschlandweite Kampagne für Leipzig und Rostock starten. Auch so kann
auf Olympia in Leipzig aufmerksam gemacht werden:
Die Deutsche Welle zum Beispiel hat Leipzig auf die
Wetterkarte genommen
({3})
und der Intendant hat zugesagt, Themen zur Olympiabewerbung Leipzigs ins Programm aufzunehmen.
Mit diesem Sturmlauf und mit gefälligem Spiel sollte
es gelingen, am 18. Mai 2004 den Status „Candidate
City“ zu erhalten. Danach muss allerdings noch wesentlich härter gearbeitet werden, um sich am 5. Juli 2005
bei der Wahl zur Gastgeberstadt für die Spiele der
30. Olympiade durchzusetzen.
Aber - Sie hören sicherlich an meinem Akzent, dass
ich aus Baden-Württemberg komme; ich bin Schwabe auch der wirtschaftliche Nutzen solcher Spiele sollte
nicht außer Acht gelassen werden.
({4})
Mitarbeiter der Deutschen Sporthochschule Köln haben
nämlich herausgefunden, dass von den Olympischen
Spielen in Deutschland ein zusätzliches Bruttoinlandsprodukt von 9,4 Milliarden Euro und Steuermehreinnahmen in einer Größenordnung von 2,4 Milliarden Euro zu
erwarten sind und dass mit den Spielen
46 000 Vollzeitarbeitsplätze entstehen würden.
Diese Rechnung wurde zwar seinerzeit für Frankfurt/
Main aufgestellt; sie lässt sich aber durchaus auf Leipzig
übertragen. Schließlich wohnen in dieser Region in einem Radius von 250 Kilometer 30 Millionen Menschen.
Auch andere Berechnungen - beispielsweise von Professor Wolfgang Maennig bezogen auf Hamburg - kamen
zu ähnlichen Ergebnissen. Last, but not least sollte man
sich auf der Zunge zergehen lassen, dass Sydney im
Jahr 2000 einen operativen Gewinn von 200 Millionen
Dollar eingefahren hat.
Leipzig bietet alles, was für die erfolgreiche Durchführung der Olympischen Spiele notwendig ist: Qualität
und Kompaktheit des Sportstättenkonzepts, eine überzeugende Nachhaltigkeitskonzeption und vor allem eine
Planung, die die Athleten und Athletinnen in den Mittelpunkt stellt.
Zu den weiteren Alleinstellungsmerkmalen für Leipzig gehört das Konzept der kurzen Wege. 91 Prozent
aller Entscheidungen werden in Leipzig innerhalb eines
Umkreises von 10 Kilometer um den Marktplatz herum
stattfinden. Leipzig hat - darauf hat auch Herr
Wieczorek schon hingewiesen - bei den Spitzenkräften
und Trainern, die ihre Ausbildung in Leipzig genossen
haben und heute zum Teil in ihren Ländern Entscheidungspositionen innehaben, einen Namen. Vor allem
steht eine begeisterte Bevölkerung hinter der Bewerbung, wie auch die deutschen Athletinnen und Athleten,
die sich nichts sehnlicher wünschen, als die Olympischen Spiele und die Paralympischen Spiele 2012 in
Leipzig und Rostock durchführen und dort daran teilnehmen zu können.
In den kommenden Monaten wird es darauf ankommen, die Begeisterung, die in Leipzig bereits überall zu
spüren ist, auf das ganze Land zu übertragen. Von den
Olympischen Spielen und den Paralympischen Spielen
würden nicht nur die Städte Leipzig und Rostock sowie
die Bundesländer Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern profitieren, sondern ganz Deutschland.
({5})
Die Annahme des heute diskutierten Antrages aller
im Bundestag vertretenen Fraktionen wird ein deutliches
Zeichen setzen, dass wir für die Olympischen
Spiele 2012 in Deutschland bereit sind.
Schönen Dank.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin mir ziemlich sicher, dass noch vor einem
Jahr keiner der anwesenden Experten geglaubt hätte,
dass Leipzig und Rostock den deutschen Wettbewerb gewinnen würden.
Vor allem Leipzig war ein Außenseitersieger. Ich sage
ganz offen, dass ich selber auch nicht an diesen Sieg geglaubt habe. Erstaunlicherweise hat meine Fraktionsvorsitzende, Katrin Göring-Eckardt, schon im April in einem Gespräch mit Vertretern des DSB gesagt, sie
glaube, dass Leipzig gewinnt. Sie hatte Recht, obwohl
sie nicht zu den Experten des Sports gehört. Aber sie
hatte vielleicht das richtige Gefühl.
Zunächst waren Leipzig und Rostock zwei Bewerberstädte innerhalb Deutschlands. Inzwischen befinden wir
uns aber in einer anderen Phase, in der sich Deutschland
mit den Städten Leipzig und Rostock auf internationaler
Ebene bewirbt. Das muss allen klar sein.
Nur wenn wir es schaffen, diese Bewerbung als nationale Bewerbung der Bundesrepublik Deutschland
darzustellen und voranzubringen, werden wir eine
Chance haben, zu gewinnen. Es ist ebenfalls völlig klar:
Wenn Leipzig und Rostock verlieren sollten, dann wird
das eine Blamage für die gesamte Bundesrepublik sein.
Aber davon möchte ich heute nicht reden.
Inzwischen ist die Bewerbung gut vorangekommen.
Es gibt zahlreiche Unterstützungserklärungen von der
Bundesregierung, den beiden Landesregierungen und
der Sportministerkonferenz. ARD und ZDF - darauf ist
gerade hingewiesen worden - haben einen Vertrag mit
Leipzig geschlossen. Die Deutsche Welle wird in nächster Zeit Deutschland verstärkt als Sportland darstellen.
NOK und DSB rücken enger zusammen. An allen Stellen merkt man, dass die Unterstützung für diese Bewerbung immer mehr zunimmt. Diese breite Unterstützung
ist sicherlich möglich geworden, weil die Verfehlungen
und die Unregelmäßigkeiten, die es in Leipzig vor allem
in der Vorbewerbungsphase gab, rechtzeitig aufgedeckt
wurden und weil rechtzeitig aufgeräumt wurde, das heißt
personelle und institutionelle Konsequenzen gezogen
wurden. Das sage ich ganz deutlich; denn manche
behaupten, hier wären die eigenen Leute beschmutzt
worden. Wenn diese Verfehlungen nicht rechtzeitig aufgedeckt worden wären, dann wären sie später herausgekommen. Das wäre das Ende der Bewerbung gewesen.
Insofern war es gut, dass gerade das Innenministerium
und insbesondere der Innenminister sehr darauf geachtet
haben, dass das Ganze rechtzeitig geklärt wurde.
Ich danke auch den Medien recht herzlich dafür, dass
sie uns frühzeitig gewarnt haben und uns so in die Lage
versetzt haben, rechtzeitig Konsequenzen zu ziehen.
Nun können wir mit voller Kraft in die internationale
Bewerbung gehen. Es gibt des Weiteren eine neue Geschäftsführung und einen neuen Aufsichtsrat. Beide haWinfried Hermann
ben unser Vertrauen. Ich glaube, dass die jetzige Mannschaft, zu der erfahrene Leute auch aus dem Business
und dem Management gehören, in der Lage ist, die Bewerbung professionell und kompetent voranzubringen.
Es wird immer wieder gefragt - mein Kollege
Ströbele hat mich noch kurz vor meiner Rede darauf angesprochen -: Hat Leipzig in diesem großen internationalen Wettbewerb überhaupt eine Chance? Jedem von
uns wird diese kritische Frage ständig gestellt. Diese
müssen wir auch beantworten. Ich sage ganz klar: Leipzig hat eine gute Chance, aber nur dann, wenn es gelingt,
das jetzige Konzept als etwas Besonderes herauszustellen, als ein Konzept der nachhaltigen, der überschaubaren und der bescheidenen Spiele, bei denen nicht weiter
auf Kommerzialisierung und Gigantomanismus gesetzt
wird. Genau das möchte Jacques Rogge. Er ist der Meinung, dass es wieder möglich sein muss, auch in mittelgroßen Städten Olympische Spiele auszurichten.
({0})
Dazu gehören natürlich die entsprechende Infrastruktur und insbesondere die entsprechenden Sportstätten.
Leipzig hat sich konsequent auf den Weg gemacht, die
Sportstätten so zu bauen, dass sie für die Olympischen
Spiele angemessen sind, dass sie aber dort, wo sie - gemessen an den Anforderungen nach den Olympischen
Spielen - zu groß sind, zurückgebaut werden können,
dass sie in die Region eingebunden sind und dass sie
später - das ist besonders wichtig für eine Region, die
zum Teil industriell stark geprägt ist, in der zum Beispiel
der Bergbau große Löcher hinterlassen hat - zu Freizeitanlagen naturnah umgestaltet werden können. So werden die Olympischen Spiele nicht nur den Sportlerinnen
und Sportlern, sondern auch der ganzen Region nutzen.
Das zeichnet die Nachhaltigkeit des Konzepts aus.
Es kommt aber nicht nur auf die „Hardware“ an. Vielmehr kommt es auch darauf an, dass alle aus Politik,
Wirtschaft und Kultur für die deutsche Olympiabewerbung bei internationalen Begegnungen werben und Kontakte schaffen. Wir sollten übrigens in der Sportpolitik
klar machen, dass Deutschland immer, also nicht nur
dann, wenn es sich um die Ausrichtung der Olympischen
Spiele bewirbt, international ist, dass Deutschland die
Sportkooperation mit Entwicklungsländern sucht und
dass Deutschland internationale Wettbewerbe in großer
Gastfreundschaft und Weltoffenheit ausrichtet. Deutschland muss sich klar und eindeutig als Sportland zeigen
und dies auch leben.
Der Kanzler war in diesen Tagen in China. Er hat
mich nicht in jeder Hinsicht erfreut.
Herr Kollege, Sie sollten jetzt aber nicht zu einem
neuen Gelände aufbrechen!
Ich komme zum Schluss und ich werde auch kein
neues Thema ansprechen. - Doch der Kanzler hat dafür
gesorgt - viele haben das nicht wahrgenommen -, dass
Verträge mit den Sportorganisationen geschlossen werden. Sie wollen die internationalen Kontakte voranbringen und Erfahrungen austauschen. Das ist gut so.
Wenn es uns gelingt, die Bewerbung von Leipzig als
eine besondere, eine nachhaltige darzustellen, die in jeder Hinsicht wirklich zukunftsfähig ist, die eine Bewerbung eines ganzen - sportbegeisterten - Landes ist, dann
haben wir eine Chance, uns sogar gegen Megastädte
durchzusetzen. Gerade diese Megastädte können nicht
das anbieten, was wir mit Leipzig bieten können: ein
nachhaltiges, sportliches Konzept.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch vor
wenigen Monaten war man in Hamburg „Feuer und
Flamme für 2012“. In Düsseldorf und der Rhein-RuhrRegion schwärmte man von „unseren Spielen - so bunt
wie die Welt“. In Frankfurt hieß es schlicht und doch
treffend: „Frankfurt für Deutschland“. Leipzig forderte
„Spiele mit uns“. Stuttgart sprach von der „Faszination
Olympia“. Weite Landstriche in Deutschland waren vom
Olympiafieber gepackt. Wir wollten die Spiele für
Deutschland. Der olympische Geist war aus der Flasche.
Egal was nach der Entscheidung von München geschah: Wir müssen diesen Geist wieder wecken. Wir
müssen die Menschen in ganz Deutschland auf den Weg
der Bewerbung mitnehmen. Wir müssen die Kandidatur
Leipzigs zu einer nationalen Aufgabe machen.
({0})
Dazu steht die FDP.
Wir sind stolz darauf, dass unser Ehrenvorsitzender
Hans-Dietrich Genscher den Vorsitz des Kuratoriums
übernommen hat. Gemeinsam mit Lothar Späth, Arend
Oetker und weiteren Personen steht er wie wenige andere für Glaubwürdigkeit und Vertrauen in eine neue
Olympia GmbH, die mit Peter Zühlsdorff an der Spitze
die Sport- und Olympiabegeisterung über die Grenzen
Sachsens hinaus wieder auferstehen lassen kann.
Wir müssen jetzt groß denken. Wir dürfen uns nicht
wieder im Klein-Klein verzetteln. Die deutsche Olympiabewerbung darf nicht zum Gegenstand eines kleinkarierten Landtagswahlkampfs von CDU und SPD in
Sachsen werden.
({1})
- Jetzt müssen Sachsen und Leipzig die Leipziger Freiheit, Reinhold, wieder mit Leben erfüllen und sie national sowie international zur Geltung bringen.
Als wir gestern mit dem Intendanten der Deutschen
Welle, Erik Bettermann, zusammengesessen haben, haben wir gehört: Die Deutsche Welle wird weltweit den
pfiffig produzierten Film „Stadt ohne Grenzen“ zeigen.
Dieser Film wird auch bei CNN und CNBC gezeigt.
Leipzig findet jetzt - das ist mehrmals erwähnt worden seinen Platz auf der Wetterkarte, auch bei Pro Sieben.
Die Lufthansa widmet Leipzig die Titelstory ihres
nächsten Magazins, das in den Fliegern 600 000-mal
verteilt und viel gelesen wird. Der weltweit hohe Bekanntheitsgrad der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig wird eingesetzt: Alle ehemaligen Studierenden - viele sind heute in weit über 100 Ländern
als Sportfunktionäre und Trainer tätig - sollen zu einem
Treffen eingeladen werden. All das beweist: Wir sind
endlich wieder in der Offensive und zeichnen uns durch
Kreativität aus.
({2})
Wir erinnern uns vielleicht alle an das Treffen der
Oberbürgermeister der fünf Bewerberstädte bei Bundespräsident Rau. Die Oberbürgermeister haben damals ein
Fairnessabkommen für die nationale Bewerbung unterzeichnet. Sie sicherten sich gegenseitige Unterstützung
unabhängig vom Wahlausgang zu. Davon sind wir aber
heute leider ein Stück weit entfernt. Dem dringend erforderlichen nationalen Schulterschluss stand zeitweise regionale Eigenbrötelei und Selbstüberschätzung gegenüber. Hinter der deutschen Olympiabewerbung muss
aber mehr als Wolfgang Tiefensee und Ostalgie stecken.
Man benötigt dafür die Bündelung aller Kräfte. Egoismen und parteipolitische Partikularinteressen müssen in
Anbetracht dieser nationalen Aufgabe in den Hintergrund treten.
({3})
Die FDP ist dem Aufruf des Bundesinnenministers an
Politiker aller Fraktionen, das Olympiaprojekt nachdrücklich zu unterstützen, gern gefolgt. Der heutige gemeinsame Antrag ist der Beweis dafür. Auch wir begrüßen, dass sich der Bund 2004 an den Sofortmaßnahmen
für die Olympiabewerbung noch zusätzlich beteiligt und
erhebliche Mittel für die Sachkosten bereitstellt, dass am
14. Januar - einen Tag, bevor die Unterlagen beim IOC
eingereicht werden müssen - ein Olympiagipfel beim
Kanzler stattfinden soll. Bereits die Bewerbungsphase
tut dem Sportland Deutschland gut.
Das Gesetz zum Schutz der olympischen Symbole
ist verabschiedet. Ich bin davon ausgegangen, es würde
erst morgen verabschiedet; aber wir haben es bereits verabschiedet. Damit ist ein weiterer Schritt hin zu einer erfolgreichen Bewerbung getan. Alle Rechtspolitiker in
diesem Haus haben eine sondergesetzliche Regelung kritisch diskutiert. Auch als Sportpolitiker habe ich Verständnis für bestimmte ordnungspolitische Bedenken.
Ich habe aber auch Vertrauen in die Autonomie des
Sports und bitte dringend darum, dass sich IOC und
NOK als sensible Herren der Ringe in unserem Land erweisen.
Jetzt schauen wir zunächst auf den 18. Mai 2004, den
Termin zur Wahl der offiziellen Bewerberstädte. Wir
schließen uns dem Appell des Initiativkreises der Kammern und Verbände Sachsens und Mecklenburg-Vorpommerns an: Gemeinsam für Deutschland - Leipzig
und Rostock 2012.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Götz-Peter Lohmann, SPDFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste auf den Tribünen! Es ist immer eine besondere Ehre, in diesem Hohen Hause reden zu dürfen.
Aber hier und heute zu diesem Antrag reden zu dürfen
ist mir eine ganz besondere Ehre und Freude zugleich.
Das hat mehrere Gründe.
Wie es der Zufall manchmal so will, habe ich an der
damaligen Deutschen Hochschule für Körperkultur in
Leipzig Sport studiert.
({0})
Jetzt wohne ich schon seit vielen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern, nicht allzu weit entfernt von
Rostock. In dieser Kombination ist man weitestgehend
prädestiniert, etwas zu diesem Thema zu sagen.
Wenn man Sport und damit auch die Geschichte
Olympias studiert hat, ist man angesichts der Chance,
dass Deutschland 2012 Ausrichter der Olympischen
Spiele wird, besonders engagiert. 1 503 Jahre hat Olympia bis zu den ersten modernen Olympischen Spielen
1896 geschlafen. Es gab noch nie eine Idee, die - das
sollte man in diesem Zusammenhang auch einmal ansprechen dürfen - über mehrere Tausend Jahre solch
eine Auswirkung auf Bildung und Kultur weltweit gehabt hat.
({1})
Ich habe mich darüber gefreut, dass das Bundesinstitut für Sportwissenschaft gestern während der Sportausschusssitzung das Buch „Sportgroßveranstaltungen ökonomische, ökologische und soziale Wirkungen“ vorgestellt hat; denn - jetzt möchte ich besonders für Mecklenburg-Vorpommern reden dürfen, das durch den möglichen Segelstandort Rostock beteiligt ist - genau diese
Thematik spielt eine große Rolle. Wir alle, die wir mit
dieser Thematik zu tun haben, haben schon mindestens
zwei Präsentationen erlebt. Wir alle, denke ich, waren
von der Präsentation von Leipzig, aber auch von der von
Rostock angenehm überrascht. Der Jachthafen von
Rostock kann sich sehen lassen und würde 2012 einen
guten Segelstandort abgeben.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen,
auch wenn das wahrscheinlich jedem bekannt ist, dass
gerade in meinem leider immer noch relativ strukturschwachen Bundesland die Tourismusbranche eine
enorme Rolle spielt und in den letzten Jahren, aber gerade auch in diesem Jahr, 2003, enorm hinzugewonnen
hat, was für die Wirtschaft und für den Arbeitsmarkt von
wesentlicher Bedeutung ist. Auch ein Segelstandort
Rostock 2012 hätte eine enorme Bedeutung für den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft, die Infrastruktur, vor allem
die kommunale Infrastruktur und auch die Verkehrsanbindung gerade von Rostock. Ich weiß, dass allein für
die Verkehrsanbindung des Olympiastandortes Rostock
immerhin 870 Millionen Euro im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen sind. Das ist eine wichtige Sache für
Mecklenburg-Vorpommern.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich bestätigen: Sowohl die Landesregierung von
Mecklenburg-Vorpommern als auch der Senat der Hansestadt Rostock stehen eindeutig und engagiert hinter
dem Projekt Olympiastandort Leipzig unter Einschluss
von Rostock. Das haben wir spätestens bei der Präsentation während des parlamentarischen Abends vor zwei
Wochen gemerkt.
Gestatten Sie mir bitte noch ein paar Gedanken: Bei
Olympischen Spielen bewegt mich immer ganz besonders der Nachklang, die Paralympics. Es gibt Gott sei
Dank jetzt auch eine Behindertenvariante des Segelsports, das Handicapsegeln. Auch darauf freuen wir uns
in Rostock sehr. Meine besondere Hochachtung gilt immer wieder den Teilnehmern an den paralympischen
Wettbewerben. Deutschland hat die Chance, sich bei dieser speziellen Veranstaltung ganz besonders gut darzustellen.
Es fällt einem schwer, sich überhaupt die Dimension
dessen vorzustellen, was diese Sportler leisten. Ich
möchte das an einem Beispiel deutlich machen: Jeder
weiß, wie hoch er in seinem Leben gesprungen ist. Vielleicht hat einmal jemand gesehen, wie ein Beinamputierter beim Hochsprung Anlauf nimmt, dann hoch springt
und eine Höhe erreicht, die wir alle - ich wage jetzt einmal diese Hypothese - nie erreicht haben. Beinamputierte springen nämlich über eine Höhe von 1,80 bis
1,90 Meter, sogar fast 2 Meter. Man muss sich einmal
vergegenwärtigen, welche enorme Leistung diese Behinderten bei den paralympischen Wettbewerben erbringen.
Auch das wäre ein ganz wichtiger Aspekt, wenn es uns
gelingen würde, die Olympischen Spiele 2012 nach
Deutschland zu holen.
({4})
Ich möchte es zum Schluss nicht versäumen, ein wenig den Stolz auf mein Bundesland zum Ausdruck zu
bringen. Trotz mancher Probleme auf dem Gebiet des
Sports ist Mecklenburg-Vorpommern, wenn man das im
Verhältnis zur Bevölkerungszahl von 1,7 Millionen betrachtet, ein gutes Beispiel für die Förderung von
Leistungssport, denn unsere drei Olympiastützpunkte
Rostock, Schwerin und Neubrandenburg können sich
ebenso wie die Sportgymnasien sehen lassen. Jeder
weiß, dass hier Segeln, Rudern und Kanufahren betrieben werden. Nach meinem Dafürhalten ist Andreas
Dittmer im Kanadier einer der sichersten - ganz sicher
kann man sich ja nie sein - Medaillenkandidaten für die
Olympischen Spiele im Jahre 2006. Bei der Leichtathletik gibt es im Moment einige Probleme. Ich wollte eigentlich den Namen Astrid Kumbernuss erwähnen.
Herr Kollege, wir werden jetzt aber nicht mehr alle
Erfolgsaussichten im Einzelnen durchdeklinieren können.
- Das ist klar. - Ich wollte zum Schluss noch einen
Satz sagen: Woher kommen eigentlich die Athleten, die
bei den Olympischen Spielen Leistungsträger sind?
({0})
Die Grundlage für ihre Fähigkeiten erhalten die Talente
in den Vereinen; da machen sie ihre ersten Schritte. Hier
tragen wir große Verantwortung dafür - ich nenne nur
das Stichwort „Goldener Plan Ost“ -,
({1})
dass die Voraussetzungen geschaffen werden, dass Talente die Möglichkeit zu diesen ersten Schritten erhalten,
damit sie dann zu entsprechender Zeit auch die Bundesrepublik Deutschland vertreten können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Riegert für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Präsident, Sie sehen, dass heute viele Kollegen aus
allen Fraktionen ein Emblem mit Feuer und Flamme tragen, auch Ihre Schriftführer.
({0})
Ich hoffe, dass das keine unangemeldete Demonstration
darstellt.
Sie hätten die Nachfrage besser bleiben lassen sollen,
denn so muss ich das jetzt prüfen. Ich sage aber eine
wohlwollende Prüfung zu.
({0})
Meine Damen und Herren, Olympische Spiele und
Paralympics 2012 in Leipzig und Rostock sind noch eine
Vision. Doch diese soll und kann Wirklichkeit werden.
Das wäre eine großartige Sache für den deutschen Sport,
für unser Land, für Leipzig und Rostock, vor allem für
unsere Bürgerinnen und Bürger. Der deutsche Sport hat
mit Leipzig und Rostock aussichtsreiche Kandidaten ins
Rennen geschickt. Es gilt, sie vorbehaltlos und ohne
Wenn und Aber zu unterstützen.
({0})
Deutschland kann auf viele hervorragend ausgerichtete Sportgroßveranstaltungen zurückblicken. Ich
denke an die Olympischen Spiele 1972. Trotz des furchtbaren Attentats haben diese Spiele weltweit Lob und Anerkennung gefunden. Sportveranstaltungen wie Weltund Europameisterschaften im Fußball oder in der
Leichtathletik waren Topereignisse. Deutschland war
stets ein hervorragender Gastgeber, nicht nur was die Organisation betrifft. Unsere Bürgerinnen und Bürger haben die sportlichen Events auf einer Welle der Begeisterung mitgetragen.
({1})
Wir können unseren Gästen unser Land, das wiedervereinigte Deutschland, unsere Wirtschaft und unsere
Kultur näher bringen, unsere Weltoffenheit und Toleranz
zum Ausdruck bringen. Sportliche Topereignisse waren
und sind die besten Werbeträger für unser Land und
seine Menschen. Auch deshalb wollen wir die Olympischen Spiele und die Paralympics 2012 in unserem Land
haben.
Die Sportpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben sich vor dem nationalen Entscheid alle
Bewerbungsstädte vor Ort angeschaut. Jede Bewerbung war olympiatauglich. Jede der fünf Bewerbungen
hatte ihren Charme, hatte Alleinstellungsmerkmale, jeweils in einem anderen Sinne. Düsseldorf, Frankfurt,
Hamburg, Leipzig und Stuttgart: Alle waren gut aufgestellt, alle haben in ihren Städten und Regionen einen
Schub der Begeisterung ausgelöst.
({2})
Das NOK und die Sportverbände haben sich für Leipzig und Rostock entschieden. Die Euphorie in Leipzig
und Rostock war verständlich wie die Enttäuschung bei
den nicht ausgewählten Städten. Eines aber war immer
klar: Welche Stadt auch immer ausgewählt wird, sie
braucht die uneingeschränkte - ich betone: die uneingeschränkte - Unterstützung aller.
({3})
Nur wenn die Bewerbung von allen mitgetragen wird,
hat der deutsche Sport überhaupt eine Chance, international wahrgenommen zu werden.
Die regionalen Begeisterungen müssen zu einem nationalen Strom zusammengeführt werden. Dies hat sich
- das muss man ganz nüchtern feststellen - als sehr
schwierig erwiesen. In München bei der nationalen Auswahl mag ein Cellist noch genügt haben. Für das IOC,
für die weltweite Anerkennung und Auswahl brauchen
wir ein stimmgewaltiges, eingespieltes Orchester.
({4})
Meine Damen und Herren, in der heutigen Debatte
stimmen alle Fraktionen in diesem Hause überein. Erlauben Sie mir dennoch, wenigstens begründete Zweifel an
der Olympiatauglichkeit dieser Bundesregierung anzumelden.
({5})
Ich kann nicht über die Fitness der beiden Staatssekretäre auf der Regierungsbank befinden. Aber in Staffelstärke ist die Bundesregierung jedenfalls nicht anwesend.
Der Bundeskanzler stimmt einem Olympiagipfel zu,
hat aber zunächst keine Termine frei. Nun macht er am
14. Januar ein Medienspektakel; am 15. Januar ist der
Abgabetermin. Aber immerhin wurde gestern im Kabinett eine formelle Unterstützungserklärung beschlossen
und unterzeichnet. Das begrüßen wir.
Meine Damen und Herren, vergeblich werden Sie im
Verkehrswegeplan ein Sonderprogramm „Infrastruktur
für Leipzig und Rostock 2012“ suchen.
({6})
Ich weiß allerdings nicht, ob das für die Bewerbung
nicht vielleicht sogar besser ist. Denn alles, was Verkehrsminister Stolpe bisher angefasst hat, ist bekanntlich
nichts geworden.
({7})
Deshalb ist es wichtig, dass das Parlament mit dem
vorliegenden Antrag seine Entschlossenheit zeigt, die
Bewerbung als nationale Aufgabe voranzubringen. Ein
bisschen Engagement für Olympia und die Paralympics
geht nicht. Wir fordern volle Kraft und volle Unterstützung.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich muss es
in der ganzen Republik einen Schub für die Jugend, einen Schub für den Schulsport geben. Jeder Schulleiter,
jeder Übungsleiter, jeder Vereinsvorsitzende und jeder
Bürgermeister muss ein Interesse daran haben, dass er
2012 einen Olympiasieger aus seinem eigenen Land, aus
seinem eigenen Verein bzw. aus seiner eigenen Gemeinde beglückwünschen und ehren darf.
Die Olympia GmbH ist nun - das haben wir gehört mit Persönlichkeiten besetzt, die national und international Vertrauen genießen. Die CDU/CSU-BundestagsfrakKlaus Riegert
tion ist überzeugt: Leipzig und Rostock können es schaffen. Beide Städte haben eine sympathische Bewerbung
auf den Weg gebracht: weg vom Gigantismus, hin zu
Spielen, in denen das sportliche Ereignis und die Sportler im Mittelpunkt stehen; ein Sportstättenkonzept der
kurzen Wege, bei dem Begegnungen im Kreise der Jugend der Welt mehr denn je möglich sein werden;
Spiele, in die die Bevölkerung mehr denn je eingebunden werden kann.
Es gilt nun, die vorhandene Sympathie mit den Kriterien des IOC in Einklang zu bringen. Im Mai 2004 wird
sich zeigen, dass Leipzig und Rostock die Bedingungen
des IOC erfüllen und zu Bewerberstädten werden.
Mit dem vorliegenden Antrag dokumentiert der Deutsche Bundestag: Dies ist eine nationale Bewerbung, dies
ist eine nationale Aufgabe, die aus voller Überzeugung
angegangen wird. Wir wollen die Olympischen Spiele
und die Paralympics 2012 in Leipzig und Rostock.
({9})
Zum Schluss dieser Debatte spricht der Kollege
Dr. Peter Danckert, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich
wollte ich damit beginnen, meiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass wir hier mit diesem gemeinsamen Antrag viele Gemeinsamkeiten zum Ausdruck
bringen. Aber, lieber Klaus Riegert, du machst es einem
wirklich schwer, an dieser Stelle die gebotene Zurückhaltung zu wahren.
({0})
Ich denke, dass dieser gemeinsame Antrag wirklich
das entscheidende Zeichen ist. Alle Fraktionen haben
sich zu diesem Antrag bekannt - und das kommt ja in
diesem Hause nicht allzu häufig vor. Insofern will ich
einfach einmal das Positive herausstellen: 601 Abgeordnete des deutschen Parlaments - ich sage: 601 Abgeordnete; denn die zwei restlichen Abgeordneten, die sich an
solchen Debatten sonst auch immer beteiligen, sehe ich
nicht ({1})
stehen hinter diesem Antrag. Das ist, denke ich, das Zeichen einer parlamentarischen Kraftanstrengung, die gerade zur rechten Zeit kommt, um der Bewerbung von
Leipzig und Rostock noch den nötigen Schwung zu geben. Das zeigt, dass die Politik insgesamt hinter diesem
Antrag steht.
({2})
Ich will jetzt nicht Kritik anmelden; das hätte ich an
der einen oder anderen Stelle tun können. Lassen Sie
mich einfach einmal Dankeschön an einige Adressen in
der Politik, in der Wirtschaft und im Sport sagen. Ich
finde es sehr bemerkenswert, wie sich der Bundeskanzler hinter diese Bewerbung gestellt und keinen Zweifel
daran gelassen hat, dass es sich dabei um eine zentrale
Aufgabe dieser Bundesregierung handelt, wobei ich
sage: Andere würden das wahrscheinlich auch so machen. Der Bundeskanzler hat sich aber sogar an die
Spitze der Bewegung gestellt.
({3})
Herr Staatssekretär Körper, ich bitte Sie, dass Sie Ihrem Minister ausdrücklich sagen: Er hat in den letzten
Wochen und Monaten mit seinem Einsatz in ganz kritischen Phasen dieser Bewerbung deutliche Signale gesetzt. Er hat viele andere Termine - zum Beispiel, wie
wir wissen, einen in Paris; auch da war er gefragt - sausen lassen, um dieses Schiff, die Olympiabewerbung
Leipzig/Rostock, wieder richtig in Fahrt zu bringen. Er
hat hart daran gearbeitet. Ich denke, viele Personalentscheidungen sind auf ihn selbst zurückzuführen. Deshalb
muss er an dieser Stelle einmal erwähnt werden.
({4})
Ich persönlich finde es gut, dass sich zwei namhafte
Repräsentanten des deutschen Sports, Klaus Steinbach
und Manfred von Richthofen, wieder in eine Linie gestellt haben. Man hatte manchmal den Eindruck, dass
persönliche Dinge eine wichtige Rolle spielen. Sie stehen hinter dieser Bewerbung. Das finde ich sehr überzeugend. Auch Detlef Parr hat sich diesen Reihen angeschlossen. Hans-Dietrich Genscher als Vorsitzender des
Kuratoriums ist - das muss man wirklich sagen - ein positives Signal. Wir sollten ihm an dieser Stelle - du hast
es ja schon getan - sehr herzlich dafür danken.
({5})
Es ist schon erwähnt worden, dass Leipzig eine Vielzahl von Alleinstellungsmerkmalen hat, also von solchen Merkmalen, die andere Bewerberstädte nicht haben. Lassen Sie mich an dieser Stelle sinngemäß den
IOC-Präsidenten Rogge zitieren: Leipzig und Rostock
haben gute Chancen. Es geht nicht immer nur darum,
große Metropolen zu bevorzugen; auch kleine Städte wie
Helsinki und Lillehammer haben Chancen. Leipzig steht
für Bescheidenheit. Es soll sicherlich auch ein Zeichen
dafür gesetzt werden, dass der Gigantismus, den wir in
den letzten Jahrzehnten nach Helsinki beobachtet haben,
zurückgeführt wird.
Deshalb glaube ich persönlich, dass Leipzig im Gegensatz zu den vielen Metropolen, die sich bewerben,
wirklich eine sehr gute Chance hat. Wenn das IOC die
Worte seines Präsidenten ernst nehmen und die Abkehr
vom Gigantismus in einer Entscheidung zum Ausdruck
bringen will, dann ist Leipzig eine sehr, sehr gute Wahl.
({6})
Hier gilt nicht das Motto „höher, schneller, weiter“, sondern es geht darum, einer Stadt, die sich durch vielfältigen Bezug zum Sport ausgezeichnet hat, möglicherweise
den Vorrang vor anderen Bewerberstädten zu geben.
Leipzig wird - auch das ist hier schon gesagt worden - eine Stadt sein, die die Spiele auf engstem Raum
stattfinden lassen kann. Die Menschen von Leipzig werden die ganze Stadt zu einem olympischen Dorf machen.
In dem Film, den wir über die Bewerbung gesehen haben, sieht man, wie sich alle einreihen. Wenn ich mir
vorstelle, dass diese Spiele auf engstem Raum stattfinden können, die Menschen sie hautnah miterleben können, dann denke ich, dass dies ein sehr gutes Zeichen ist.
Dem olympischen Gedanken werden dadurch neue Impulse gegeben.
({7})
Es wird eine besucherfreundliche Atmosphäre geben,
es wird eine athletenfreundliche Atmosphäre sein und
die ganze olympische Familie wird davon begeistert
sein. Auch sehr wichtig und mit dem olympischen Gedanken verbunden ist der Gedanke des Friedens. Pierre
de Coubertin hat es so formuliert: „Sich gegenseitig
messen, übertreffen ist das Ziel. Ein Wettstreit im Frieden.“ Wenn wir diesen Gedanken des Friedens einmal in
den Blick nehmen, kann man feststellen, dass Leipzig
eine Stadt ist, die sich durch die Montagsdemonstrationen besonders ausgezeichnet hat. Da hatte die deutsche
Einheit sozusagen ihren Beginn. Der Frieden, der mit
Leipzig und den Montagsdemonstrationen verbunden
ist, ist ein ganz wichtiger Punkt.
({8})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen. Alle
Bewerberstädte haben diesen oder jenen Vorzug. Leipzig
hat einen, der ganz eng mit dem Sport verbunden ist.
Leipzig war über Jahrzehnte und ist noch heute eine
Trainerschmiede, hat eine Akademie, in der viele Sportler ihre Ausbildung bekommen. Ich glaube, dass das bei
der Entscheidung, welche der Bewerberstädte schließlich den Zuschlag bekommt, eine ganz große Rolle spielen kann, weil hier vorgearbeitet wird. Lange bevor man
sich überhaupt um die Olympischen Spiele beworben
hat, hat Leipzig durch diese Ausbildungsstätte Zeichen
gesetzt. Ich glaube, dass diese Zeichen in der Welt gesehen werden.
Der Präsident blinkt schon.
({9})
Wenn wir den Gedanken der Völkerverständigung,
den Gedanken des Friedens und den Gedanken von kompakten Spielen in den Blick nehmen, dann haben Leipzig
und auch Rostock - die beiden muss man zusammen sehen - wirklich gute Chancen. Ich bin sehr froh, dass wir
gemeinsam an diesem Ziel arbeiten. Wir hoffen, dass die
Bewerbung von beiden Städten zum Erfolg führt.
Herzlichen Dank.
({10})
Herr Kollege Danckert, der Präsident selbst blinkt selten; aber die Uhr hat in der Tat geblinkt, um anzuzeigen,
dass die Redezeit überschritten war.
Ich schließe nun die Aussprache. Wir kommen zur
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf
Drucksache 15/2170. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen worden.
({0})
Am liebsten würde ich dem Internationalen Olympischen Komitee mitteilen, damit sei die Entscheidung abschließend gefallen.
({1})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Dr. Maria Flachsbarth, Dr. Rolf
Bietmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Tierversuche in der europäischen Chemikaliengesetzgebung auf ein Minimum begrenzen
- Drucksache 15/1982 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSUFraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Im Februar 2001 legte die EU das Weißbuch
„Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“ vor,
das, mehrfach überarbeitet, im Oktober dieses Jahres
von der EU-Kommission als Verordnungsentwurf vorgelegt wurde. In diesem Hause wird das Ziel der Chemikalienpolitik auf europäischer Ebene, nämlich die Sicherheit für Mensch und Umwelt beim Umgang mit
Chemikalien zu erhöhen, fraktionsübergreifend begrüßt.
Zudem ist das Ziel, fast 40 Verordnungen und Gesetze
im Bereich der europäischen Chemikalienpolitik zusammenzuführen, richtig. Ob das aber mit dem über
1 200 Seiten umfassenden Verordnungsentwurf gelungen ist, wage ich doch sehr zu bezweifeln.
({0})
Ich will eingangs auch feststellen: Der Umgang mit
Chemikalien, auch mit Altchemikalien, also solchen
Stoffen, die vor 1981 bereits auf dem Markt waren, ist in
Deutschland in hohem Maße sicher. Dafür sorgen unter
anderem das Chemikaliengesetz, das Bundes-Bodenschutzgesetz, das Wasserschutzgesetz, das Bundes-Immissionsschutzgesetz sowie das Arbeitsschutzgesetz.
Daher ist der Eindruck, der von der rot-grünen BundesDr. Maria Flachsbarth
regierung und von den die Regierung tragenden Fraktionen erweckt wird, dass unmittelbare Gefahr im Verzuge ist, zumindest irreführend.
({1})
Vielmehr besteht die Gefahr, dass die neue europäische
Chemikalienverordnung zu einem insbesondere für die
mittelständische chemische Industrie kaum zu bewältigenden zusätzlichen Bürokratieaufwand sowie zu Mehrkosten führen könnte, was wiederum viele Arbeitsplätze
gefährdet.
Alle produzierten, importierten und gehandelten Chemikalien müssen zukünftig aufgrund des vorgesehenen
REACH-Verfahrens - das steht für Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien - entlang
ihrem gesamten Lebensweg erfasst und bewertet werden. Dabei orientiert sich das Untersuchungsregime
nicht etwa am Risiko, das von den Stoffen für Mensch
und Umwelt ausgeht, bzw. an ihrer tatsächlichen Exposition, das heißt ihrem tatsächlichen Kontakt zu Mensch
und Umwelt, sondern allein an der produzierten Menge.
Neben diesen höchst fragwürdigen wirtschaftspolitischen Aspekten will ich auf höchst bedenkliche Entwicklungen im Bereich des Tierschutzes hinweisen, die
in der Öffentlichkeit bislang weitgehend unbemerkt geblieben sind.
({2})
Es steht zu befürchten, dass über 12 Millionen neue
Tierversuche - so das Ergebnis einer Studie der University of Leicester - erforderlich werden. Schwedische
Studien gehen von bis zu 25 Millionen zusätzlichen
Tierversuchen aus. Im Jahr 1999 wurden - das verdeutlicht die Größenordnung - in allen Bereichen der Forschung und für alle im Rahmen des Verbraucher- und
Umweltschutzes gesetzlich notwendigen Überprüfungen
in der EU 9,8 Millionen Tiere für Versuche verwendet.
Tierversuche können bedauerlicherweise nicht bei allen Fragestellungen der Forschung vermieden werden.
Wir müssen derzeit leider feststellen, dass ihre Anzahl
wieder zunimmt, was unter anderem auf das humane Genomprojekt zurückzuführen ist. Die Erforschung genetisch verursachter Erkrankungen und ihrer Therapiemöglichkeiten rechtfertigen unserer Meinung nach - auch bei
einer kritischen Würdigung ethischer Aspekte - allerdings diese Untersuchungen.
Ist es aber ethisch zu rechtfertigen, Daten im Rahmen
von Tierversuchen zu erheben, die zum Beispiel im Rahmen arbeitsschutzrechtlicher oder anders motivierter
Untersuchungen schon längst erhoben wurden, bzw. sie
nur deshalb zu erheben, weil der zu untersuchende Stoff
in großen Mengen produziert wird, ohne dass zunächst
das von diesen Stoffen ausgehende konkrete Risiko abgeschätzt wurde? Abgesehen davon verursachen Tierversuche natürlich auch Kosten in erheblichem Umfang.
Eine Vielzahl der Versuche könnte durch anerkannte
Methoden und Strategien auf das erforderliche Mindestmaß begrenzt werden.
({3})
Altstudien könnten herangezogen werden. Der Verordnungsentwurf stellt die Herausgabe von Altstudien weitgehend in das Ermessen der jeweiligen Auftraggeber
und sieht zu wenige Kompensationen für Alteigentümer
vor. Schon seit 1994 sieht das deutsche Chemikalienrecht demgegenüber eine bewährte Alternativregelung
vor, nämlich die anteilige Übernahme der durch die Anfertigung der Studie verursachten Kosten. Wettbewerbsverzerrende Zeitvorteile der Auftraggeber durch das Verwenden der Altstudien sind durch Sperrfristen
auszugleichen.
Die Bundesregierung muss die Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch auf nationaler und EU-Ebene fördern und darauf hinwirken,
dass diese Alternativmethoden als Standards im Rahmen
des REACH-Systems akzeptiert werden.
({4})
Meine Damen und Herren, Deutschland besitzt mit
der 1989 gegründeten ZEBET - der Zentralen Erfassungsstelle für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum
Tierversuch, die jetzt beim Bundesamt für Risikobewertung angesiedelt ist - eine Einrichtung mit großer wissenschaftlicher Expertise und internationalem Renommee. Die ZEBET hat die Aufgabe, Daten über bereits
erfolgte Tierversuche zu sammeln und so Doppelversuche zu vermeiden, außerdem neue Ergänzungsmethoden
zu erarbeiten, wissenschaftlich zu validieren und auf internationaler Ebene als international anerkannte Prüfverfahren bei WTO, OECD und ECVAM zu akkreditieren.
In Deutschland haben das strenge Tierschutzgesetz und
die ZEBET maßgeblich dazu beigetragen, dass die Zahl
der Tierversuche erheblich reduziert werden konnte.
Wie ist es aber angesichts dieser international anerkannten Erfolgsstory und angesichts des erhöhten Bedarfs für die Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden im Rahmen der Chemikalienverordnung zu
rechtfertigen, dass der Haushalt des BMBF noch 1998
Fördermittel in Höhe von 4,3 Millionen Euro vorsah,
dass der nächste Haushalt aber nur noch Fördermittel in
Höhe von 2,5 Millionen Euro ausweist?
({5})
Der Tierschutz ist im vergangenen Jahr mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit dieses Hauses als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen worden. Doch die
konkrete Politik von Rot-Grün kann sich an dem hehren
Ziel, mehr Tierschutz zu verwirklichen, leider nicht messen lassen.
({6})
Lassen Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Ihren schönen Worten nun auch Taten
folgen und unterstützen Sie diesen Antrag. Ziehen Sie
sich nicht immer wieder nur auf die gemeinsame
Stellungnahme von Bundesregierung, IG BCE und VCI
zurück. In dieser Stellungnahme steht nämlich kein Wort
zum Tierschutz.
Geben wir als Parlament der Bundesregierung einen
konkreten Verhandlungsauftrag, sich im Rahmen der Beratungen innerhalb der EU für mehr Tierschutz in der
Chemikalienverordnung einzusetzen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Heinz Schmitt von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,
dass wir nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer
Zeit über einen Antrag der Union, der sich mit der neuen
europäischen Chemiepolitik befasst, diskutieren. Am
heutigen Tag liegt der Schwerpunkt dabei auf dem Tierschutz. Neben den hauptsächlichen Zielen eines verbesserten Umwelt- und Gesundheitsschutzes im europäischen Rahmen ist es auch ein zentrales Anliegen, diese
Verbesserungen mit einer möglichst geringen Zahl an
unverzichtbaren Tierversuchen zu erreichen.
In diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, stimmen wir voll mit Ihnen überein. Das
ist auch ein erklärtes Ziel der Bundesregierung. Schließlich haben ja wir die Aufnahme des Tierschutzes in das
Grundgesetz durchgekämpft. Sie wissen ja, wie die
Mehrheit von Ihnen abgestimmt hat.
({0})
Daher können auch Sie sich heute auf unseren damaligen
Erfolg berufen.
({1})
Dass auch die Europäische Kommission den Tierschutz
sehr ernst nimmt, macht der neue Kommissionsentwurf
für die Chemiepolitik, um den es geht, deutlich.
Ich möchte auf einige Argumente Ihres Antrags eingehen. Ich habe erneut, wie schon bei Ihrem letzten Antrag zur Chemiepolitik, den Eindruck, dass wir uns erst
einmal darüber verständigen sollten, worüber wir überhaupt reden. Sie reden davon, dass durch die neue Chemiepolitik nach einer englischen Studie ein Zuwachs der
Tierversuche in einer Größenordnung von ungefähr
12 Millionen zu erwarten sei. Diese Aussage, liebe Kollegin Flachsbarth, bezieht sich aber auf das alte Weißbuch, die Ausgabe vom Februar 2001.
Inzwischen liegt eine grundlegende Weiterentwicklung des Verordnungsentwurfs vor. Auch in Ihrem Antrag gehen Sie zum Teil davon aus, dass 30 000 Stoffe zu
registrieren seien. An anderer Stelle sprechen Sie sogar
von 100 000 Stoffen. Auch dies entspricht nicht mehr
dem aktuellen Verordnungsentwurf vom 29. Oktober
2003. Dort wird von 10 000 Stoffen mit mehr als 10 Jahrestonnen in der Produktion gesprochen, bei denen Tierversuche bei der Registrierung nach den jetzigen Anforderungen notwendig wären. Die Anzahl der
Tierversuche, von der Sie in Ihrem Worst-Case-Szenario
ausgehen, können Sie also ruhig um 90 Prozent senken.
({2})
Ich möchte Ihren Antrag aber nicht im Grundsätzlichen infrage stellen; dafür ist dieses Thema zu bedeutsam. Die Kommission ist in den zurückliegenden Wochen auch beim Tierschutz nicht untätig geblieben. Im
aktuell vorliegenden Verordnungsentwurf für die neue
Chemiepolitik findet man den Titel „Gemeinsame Nutzung von Daten und Vermeidung unnötiger Tierversuche“. Dort heißt es wörtlich:
Um unnötige Tierversuche zu vermeiden, werden
Wirbeltierversuche für den Zweck dieser Verordnung nur durchgeführt, wenn die benötigten Erkenntnisse auf andere Weise nicht gewonnen werden können.
Daran anschließend finden sich Regelungen für eine
gemeinsame Datennutzung, um Doppeltests und damit
zusätzliche Tierversuche bei der Registrierung zu vermeiden. Neue Prüfdaten sollen in erster Linie mit Methoden ohne Tierversuche gewonnen werden. Ausdrücklich wird zum Einsatz von alternativen Methoden anstatt
der Durchführung von Tierversuchen aufgefordert, so
etwa zum Einsatz computergestützter Verfahren. Das alles ist im aktuellen Entwurf zu lesen. Sie sehen also: Die
Kommission nimmt die Anforderungen des Tierschutzes
ernst. Damit sind etliche Forderungen Ihres Antrages,
den Sie vorgelegt haben, bereits weitgehend umgesetzt
und erfüllt.
Es gibt gegenwärtig aber noch Klärungsbedarf, welche Prüfverfahren der Registrierung zugrunde gelegt
werden müssen, um den Schutz von Umwelt und Gesundheit ausreichend, das heißt auch für eventuelle Störfälle zu gewährleisten. Daher stellt auch der Vorschlag
im vorliegenden Antrag, Prüfanforderungen und damit
Tierversuche in erster Linie von der vorgesehenen Exposition eines Stoffes abhängig zu machen, keine befriedigende Lösung dar. Es wird in dieser Frage also noch eine
gewissenhafte Abwägung zu treffen sein, welche Prüfverfahren notwendig sind.
Eine aktuelle Studie des Umweltbundesamtes geht
hinsichtlich des Einsatzes verfügbarer Vermeidungs- und
Ersatzstrategien von folgenden Zahlen aus: Die Einführung des REACH-Systems mit gegenüber der jetzigen
Fassung umfassenderen Prüfanforderungen würde gegenüber 2001 eine Zunahme der Zahl der Tierversuche
um jährlich ungefähr 11 Prozent bei der toxikologischen
Charakterisierung und eine Zunahme von 2,3 Prozent
bei der ökotoxologischen Charakterisierung bedeuten,
und dies befristet auf den Einführungszeitraum des
REACH-Systems, also etwa auf elf Jahre.
Das bedeutet, dass wir aus heutiger Sicht - darin
stimme ich Ihnen zu - ein Mehr an Tierversuchen leider
nicht ausschließen können. Das bedeutet aber auch, dass
es um weitaus niedrigere Zahlen geht, als Sie von der
Heinz Schmitt ({3})
Union in Ihrem Antrag geschrieben haben. Die Zunahme
hängt jedoch nicht mit der Einführung des neuen
REACH-Systems zusammen - wie man vordergründig
meinen könnte -, sondern vielmehr mit der Tatsache,
dass gegenwärtig Tausende von Stoffen auf dem Markt
sind, deren Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt noch
nicht untersucht ist. Hier machen sich also die Versäumnisse der Vergangenheit bemerkbar.
Bei der Einführung des REACH-Systems müssen wir
einerseits unserer Verantwortung für den Umwelt- und
den Gesundheitsschutz gerecht werden. Andererseits
wollen wir die Zahl der Tierversuche auf das absolut
notwendige Maß reduzieren. Die Bundesregierung und
die Kommission sind hier auf dem richtigen Weg. Ihre
Anstrengungen unterstützen wir ausdrücklich.
Der Antrag der Union enthält demgegenüber keine
weiter gehenden Vorschläge und Verbesserungen. Deshalb müssen wir ihn heute aus inhaltlichen Gründen ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
- Das waren Fakten, Herr Kollege.
Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute über einen speziellen Aspekt der Chemikalienverordnung. Für die FDP war die Sicherheit im
Umgang mit Chemikalien schon immer ein zentrales
Anliegen. Das möchte ich zu Beginn meiner Rede feststellen.
({0})
Deutschland verfügt hinsichtlich des Umgangs mit
Chemikalien bereits heute über ein Sicherheitsniveau,
das vorbildlich ist. Es wurde kontinuierlich weiterentwickelt und wird auch in Zukunft weiterentwickelt werden.
Die Kollegin Dr. Flachsbarth hat zu Recht alle Vorschriften, die in der Bundesrepublik Deutschland gelten, aufgezählt.
({1})
Auch wir unterstützen das Ziel der europäischen Chemikalienpolitik, die Sicherheit für Mensch und Umwelt
beim Umgang mit Chemikalien zu verbessern und zugleich die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit der
europäischen Chemieindustrie zu erhalten und zu fördern.
({2})
Wir stehen selbstverständlich hinter dem Ziel, die
Zahl der Tierversuche einzuschränken, wie es beispielsweise auch im 34. Erwägungsgrund des Verordnungsentwurfs heißt. Deswegen ist der Antrag der CDU/CSUFraktion vollkommen berechtigt. Der derzeit vorliegende Regelungsentwurf wird der von der Kommission
selbst formulierten Zielsetzung nämlich in keinem Punkt
gerecht.
({3})
Ausgehend von der Exposition und den stofflichen
Eigenschaften chemischer Substanzen sind für eine Risikobewertung vor allem die Art der Anwendung und die
bereits getroffenen Maßnahmen für den Schutz von
Mensch und Umwelt entscheidend.
({4})
Es ist nämlich völlig unsinnig, dass der Verordnungsentwurf bezüglich der Gefährlichkeit auf Mengenschwellen
abstellt. Die bei der Produktion festgesetzte Mengenschwelle von einer Jahrestonne sagt gar nichts darüber
aus, wie gefährlich der Umgang mit diesem Stoff ist.
({5})
Deshalb führt der von der EU-Kommission gewählte
Ansatz absehbar zu einem immensen bürokratischen
Aufwand, der vor allem kleine und mittelständische Betriebe unangemessen belastet und in ihrer Innovationsfähigkeit behindert. Gleichzeitig wird die vorgesehene Altstoffbewertung zu einer drastischen Erhöhung der Zahl
gesetzlich vorgeschriebener Tierversuche führen. All
dem - genau das ist das Problem - steht allerdings kein
deutlich höheres Maß an Umwelt- und Gesundheitsschutz gegenüber.
({6})
Daher sollten sich die Informations- und Prüfanforderungen nach den Expositionen und Risiken und nicht
nach den Mengen richten. So ist ein hohes Schutzniveau
für die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu erreichen. Gleichzeitig kann die Zahl der Tierversuche reduziert und unnötige Bürokratie abgebaut werden. Wenn
man von alternativen Testmethoden absieht, die völlig
zu Recht gefordert werden, müssten, wenn man es so
macht, wie wir es fordern, nicht alle Stoffe einzeln getestet werden. Vielmehr wären Untersuchungen nur bezüglich vergleichsweise weniger Expositionsszenarien erforderlich.
Die Bundesregierung hat sich bisher nicht bereit gezeigt, auf eine entsprechende Änderung der europäischen Verordnung hinzuwirken. Das offenbart erneut die
komplette Verlogenheit rot-grüner Politik.
({7})
Während Ihre Agrarministerin Künast angeblich aus
Tierschutzgründen ein Vorziehen des In-Kraft-Tretens
der Legehennenverordnung in Deutschland erreichen
will, ignoriert ihr Kollege Trittin bei den Verhandlungen
zur Chemikalienverordnung die möglichen dramatischen
Auswirkungen auf den Tierschutz.
({8})
Die Arbeit dieser beiden grünen Minister führt in ihrer
dilettantischen Ausführung lediglich zu Produktionsverlagerungen in Länder, in denen weder im Tierschutz
noch im Gesundheits- und Umweltschutz auch nur annähernd so hohe Standards herrschen wie bei uns.
({9})
Deshalb fordert die FDP die Bundesregierung erneut
auf, in Brüssel auf eine Änderung der Verordnung hinzuwirken. Damit würde sie endlich den an sich selbst gestellten Anforderungen nach Bürokratieabbau und Tierschutz gerecht werden. Leider haben Sie von Rot-Grün
im Umweltausschuss erst gestern wieder einen entsprechenden Antrag der FDP abgelehnt.
({10})
Wir bedauern das sehr und hoffen, Sie im weiteren Verlauf der Beratungen vielleicht doch noch dazu bringen
zu können, dass wir in Brüssel gemeinsam vorstellig
werden.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen!
Frau Homburger, ich glaube, die Ablehnung Ihres Antrags war sehr wohl begründet.
Wir sehen in der Reform der europäischen Chemiepolitik und der Überprüfung von Altchemikalien auf ihre
Toxizität für Mensch und Umwelt einen großen Erfolg
für den Verbraucherschutz. Ich denke, viele Menschen
haben unter den Belastungen durch die Chemikalien gelitten. Es hat oft viele Jahre gedauert, bis sehr problematische Stoffe - übrigens mit hohen Kosten für die Allgemeinheit - letztendlich verboten worden sind. Wir sehen
hier einen großen Erfolg für den Verbraucherschutz und
für die Umwelt.
({0})
Das REACH-System bildet dabei das Herzstück.
Wir begrüßen es natürlich, dass sich auch die CDU/
CSU mit einem Antrag zur Minimierung von Tierversuchen für mehr Tierschutz einsetzen will. Ich kann mich
aber des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass die CDU/
CSU mit dem Antrag einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen will, um die Bedeutung der EU-Chemikalienrichtlinie zu schwächen. Das zeigt sich auch anhand des
Beitrags von Frau Homburger.
({1})
Bündnis 90/Die Grünen fordern schon seit vielen Jahren, die Tierversuche durch tierversuchsfreie Methoden
oder Verzichtsmöglichkeiten überflüssig zu machen.
Aber man muss ganz klar sehen: In der Forschungsförderung und in der Forschungslandschaft wurden jahrzehntelang die falschen Akzente gesetzt und es wurde zu
wenig in die Untersuchung von Ersatzmethoden für
Tierversuche investiert. So hätte man auch schon früher
zu dem Ersatz des Draize-Tests für die Kaninchen kommen können. Hätte man früher angefangen, gäbe es
heute nicht die Lücken bei den Alternativmethoden, die
wir leider in manchen Bereichen, wie zum Beispiel bei
der Embryonenschädigung oder Ähnlichem, verzeichnen müssen.
Richtig ist: Wir müssen Professor Spielmann von der
ZEBET danken, der mit seiner Arbeit so viel zu den
Fortschritten bei den Ersatzmethoden beigetragen hat.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Flachsbarth?
Bitte.
Frau Kollegin Höfken, stimmen Sie mit mir überein,
dass das, was Sie gerade bezüglich der Historie der Arbeit an Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch gesagt haben, nicht ganz in Einklang damit steht,
dass 1987 für die ZEBET bzw. für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch noch 6,5 Millionen
Euro durch das BMWF aufgewandt worden sind, im
Jahre 2002 aber nur noch 2,5 Millionen Euro und im
nächsten Haushalt noch weniger zur Verfügung stehen?
Von daher kann ich dem, was Sie sagen, nicht folgen.
Stimmen Sie außerdem mit mir überein, dass die Aufnahme des Tieres ins BGB über den reinen Sachbegriff
hinaus, die Gründung der ZEBET im Jahr 1989 und die
vollkommene Novelle zum deutschen Tierschutzgesetz
im Jahr 1998 in der Vergangenheit wichtige Wegmarken
in der deutschen Tierschutzgesetzgebung waren?
Liebe Kollegin, darauf komme ich gleich noch. Man
muss einfach sehen: Natürlich waren das gute erste
Schritte, aber sie waren überfällig. Das heutige Defizit
zeigt aber, dass es eben nicht ausreicht und vor vielen
Jahren schon nicht ausreichend gewesen ist. Deshalb
müssen wir heute genau diese Defizite aufarbeiten und
das tun wir auch.
({0})
Liebe Kollegin, gegen Tierversuche spricht ja nicht
nur die Qual der Tiere, sondern auch die Tatsache einer
mangelhaften Aussagefähigkeit von Tierversuchen für
den Menschen. Es sei nur verwiesen auf die Bestimmung chronischer Giftwirkungen, die die größte Gefahr
für die Menschen darstellen. Wegen der begrenzten Lebensdauer der Tiere sind eben oft kaum vernünftige Aussagen möglich.
Wir wollen versuchen, die Lücken in der Finanzierung der Forschung zu schließen und die Forschung zu
stärken. Wir haben trotz der strengen Sparmaßnahmen,
über die auch Sie im Vermittlungsausschuss gerade verhandeln, in den Verhandlungen zum Haushalt 2004 eine
Aufstockung des Forschungsschwerpunktes „Ersatzmethoden zum Tierversuch“ um 12 Prozent auf 2,8 Millionen Euro erreichen können. Das ist - da gebe ich Ihnen
Recht - zu wenig. Wir werden aber in unseren Bemühungen nicht nachlassen und uns weiter für eine Aufstockung der Mittel in diesem Bereich stark machen.
({1})
Wir werden gleichzeitig weiter das Gespräch mit der
Industrie suchen und eine stärkere Beteiligung an der
Forschung für Alternativmethoden zum Tierversuch einfordern. Man muss ganz klar sagen, dass auch die Industrie durch den Ersatz von Tierversuchen Mittel einspart,
weil Tierversuche nun einmal sehr teuer sind.
({2})
Wir brauchen immer, nicht nur unter bestimmten Voraussetzungen - da unterscheiden wir uns in der Einschätzung deutlich von Ihnen -, einen Grunddatensatz, um
das Grundrisiko abschätzen zu können und für ein Störfallrisiko oder ein unbeabsichtigtes Risiko eine angemessene Reaktion sichern zu können. Der Expositionsbezug verbindet die Informationen aus den Grunddaten
mit den Sicherheitsanforderungen. Ohne diese Verknüpfung ist keine substanzielle Aussage zum jeweiligen
Stoff möglich.
Im Antrag der CDU/CSU wird die Bundesregierung
quasi aufgefordert, eine Sicherheitslücke im Gesundheits- und Umweltschutz zuzulassen. So werden wir das
natürlich nicht mittragen.
({3})
Auf die veralteten Zahlen gehe ich nicht weiter ein.
Aber die Forderung nach einer Minimierung von Tierversuchen in der europäischen Chemikaliengesetzgebung kann nur dann umgesetzt werden, wenn die Unternehmen beim zwingenden Datenaustausch keine
Abstriche machen. Das deutsche Chemikalienrecht bietet eine praktikable und rechtskonforme Regelung.
({4})
Diese möchten wir auf die europäische Ebene übertragen. Möglicherweise können wir dies gemeinsam tun.
Wir wollen die Aufnahme und Vorschrift aller international anerkannten und validierten Ersatzmethoden
zum Tierversuch. Die zwingende Vorschrift des Datenaustausches zur Vermeidung von Mehrfachtests wird im
deutschen Chemikalienrecht beispielhaft gehandhabt.
Wir wollen eine gleichzeitige Registrierung aller zu prüfenden Stoffe, um die bereits vorhandenen Prüfdaten
nutzen und die weltweit vorhandenen Daten auch aus
dem Bereich der Humanmedizin und -genetik ausweiten
zu können. Darüber hinaus wollen wir eine angemessene
Interessensbeteiligung der Tierschutzorganisationen, die
vieles an konstruktivem Input geliefert haben, was nicht
ausreichend berücksichtigt wurde.
Wir werden in Kürze einen Koalitionsantrag hierzu
einbringen. Darüber können wir gemeinsam weiterverhandeln, wenn es Ihnen mit dem Tierschutz Ernst ist.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Noch nie haben Regierungsparteien in Deutschland
ihre eigenen Überzeugungen so grundlegend verraten,
wie dies SPD und Grüne getan haben. Insbesondere die
Grünen haben bei der Umsetzung ihrer Programmatik in
Regierungspolitik eine nie gekannte Flexibilität an den
Tag gelegt.
Das lässt sich an einigen Beispielen deutlich belegen.
Ihre Grundsätze in der Verteidigungspolitik haben immerhin dazu geführt, dass deutsche Soldaten in vielen
Ländern der Welt sind. In der Umweltpolitik pflastern
Sie unsere Landschaft und bald auch die Meere mit
Windkraftanlagen zu. In der Atomenergiepolitik erreichen Sie jetzt einen neuen Höhepunkt, indem die Plutoniumanlage aus Hanau nach China verkauft wird. Was
mich als Tierschutzbeauftragter meiner Fraktion aber besonders traurig stimmt, ist, dass Sie auch beim Tierschutz weit hinter Ihrem Anspruch zurückbleiben.
({0})
Es ist eine einfache Übung, für die Aufnahme des
Tierschutzes in die Verfassung zu kämpfen. Die Umsetzung dieser hehren Ziele in der Praxis aber lässt sehr zu
wünschen übrig. Sie haben ein Scheitern auf ganzer Linie zu verantworten. Ich kann es Ihnen deshalb nicht ersparen, hier noch einmal die in den letzten Jahren gestiegenen Zahlen bei den Tierversuchen zu nennen. Die
Zahl der Tierversuche ist in diesen fünf Jahren von
1,6 auf 2,2 Millionen gestiegen. Das sind immerhin
39 Prozent. Auch wenn die statistische Erfassung verändert worden ist, ist diese Zahl erschreckend. Ganz besonders schlimm ist die Zahl der Tiertötungen zu Versuchszwecken, die zwischen 2000 und 2001 um ganze
67 Prozent angestiegen ist. Vor diesem Hintergrund hat
Ihre Ministerin, die für Tierschutz zuständig ist, Frau
Künast, ihre Legitimation verloren.
({1})
Leider drohen diese traurigen Zahlen angesichts der
veränderten Chemikalienpolitik der Europäischen Union
in der Zukunft zur Banalität zu werden.
({2})
Danach sollen - das ist schon angesprochen worden alle in Europa hergestellten und gehandelten Chemikalien neu registriert und bewertet werden. Im Grundsatz
ist dies positiv, weil hiermit versucht wird, eine einheitliche Chemikalienpolitik umzusetzen. Aber das, was auf
über 1 200 Seiten vorgelegt worden ist, ist schlicht ein
bürokratischer Moloch.
({3})
Erstens wird dies erhebliche Kosten für unsere Unternehmen zur Folge haben und damit Arbeitsplätze gefährden.
Zweitens werden bereits geregelte Bereiche wie Biozide,
Pflanzenschutzmittel und Lebensmittel noch einmal abgedeckt, was eine Doppelregistrierung zur Folge hat.
Drittens wird für die Registrierung von Chemikalien
eine Flut von Daten erforderlich sein, die mit der Verbesserung der Sicherheit von Herstellern, Anwendern und
Verbrauchern nichts zu tun haben.
Für mich ist nicht nachvollziehbar - und auch die Begründung ist nach wie vor nicht stichhaltig -, dass die
100 000 Altstoffe, die zum Teil schon vor 1981 Jahrzehnte im Umlauf waren, nochmals umfangreichen Testverfahren unterzogen werden sollen, für die mindestens
20 Millionen Tiere - so sind die Schätzungen - in Tierversuchen verwendet werden müssen.
({4})
Dass dabei die 30 000 am häufigsten hergestellten Altstoffe einer zusätzlichen Überprüfung mit einheitlichen
Tierversuchen unterzogen werden müssen, ist besonders
schändlich und deshalb von uns zu verurteilen.
Was das für den Chemiestandort Deutschland bedeutet, lässt sich nur erahnen. Die deutschen Großunternehmen und auch die mittelständischen Unternehmen haben
in Europa einen Marktanteil von 26 Prozent. Bei den
Altstoffen ist dieser Anteil sicher noch höher. Im Klartext heißt dies, dass ein Großteil dieser zusätzlichen
Tierversuche in Deutschland stattfinden muss. Deshalb
stelle ich hier fest:
Erstens. Die Tierversuche zur Bewertung der schon
vor 1981 in Umlauf befindlichen Altstoffe sind in den
meisten Fällen unnötig und damit besonders grausam,
weil sinnlos.
({5})
Zweitens. Sollten dennoch Zweifel an der Unbedenklichkeit einer Altchemikalie bestehen, müssen, bevor
Tierversuche gemacht werden, alle vorhandenen Daten
aus dem Humanbereich, zum Beispiel dem Bereich des
Arbeitsschutzes, aber auch die der Hersteller und Anwender herangezogen werden; denn diese haben diese
Daten zum großen Teil vorrätig, teilweise aus Gründen
des Eigenschutzes, aber auch aus Gründen der Produkthaftung. Sie müssen nur zugänglich gemacht werden.
Dafür wären jedenfalls keine Tierversuche notwendig.
Soweit Eigentumsrechte beeinträchtigt werden, müssen
diese ausgeglichen werden. Dies halte ich aber für ein
lösbares Problem.
Drittens. Die Forschung für die Entwicklung zuverlässiger Alternativmethoden zu Tierversuchen muss intensiviert werden. Frau Flachsbarth hat das in ihrer Rede
schon sehr deutlich angesprochen.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, insbesondere die für den Tierschutz zuständige Ministerin
Künast, sich endlich um die Tierschutzfragen im Zusammenhang mit der neuen Chemikalienpolitik der Europäischen Kommission zu kümmern und ein Tiermassaker
zu vermeiden.
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Lassen Sie mich, weil Weihnachten ist, den Schlusssatz sagen: Viele Mitbürger tragen sich mit dem Gedanken, Weihnachten Tiere zu verschenken. Achten Sie darauf, dass bei den Beschenkten die nötige Sachkompetenz vorhanden ist. Tierliebe allein ist nicht ausreichend,
sondern es bedarf auch des Wissens um die Bedürfnisse
der Tiere, damit eine glückliche Beziehung zwischen
Mensch und Tier die Folge sein kann.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU
und die FDP haben ihr Herz offensichtlich nicht nur für
die Chemieindustrie entdeckt, sondern seit kurzem auch
für die Versuchstiere. Das scheint zumindest vordergründig aus dem Antrag deutlich zu werden. Zu dem Zwecke
hat die CDU/CSU seit kurzem einen Tierschutzbeauftragten. Herr Kollege Bleser, ich beglückwünsche Sie
dazu.
({0})
- Er ist doch ganz neu.
({1})
Auf den chemiepolitischen Sprecher Ihrer Fraktion
warte ich noch.
Es ist nicht ausschließlich die CDU/CSU, die in den
letzten Jahrzehnten den Tierschutz in besonderer Weise
vorangetrieben hat.
({2})
- Nein, nicht nur das.
({3})
Das Tierschutzgesetz ist zweifellos eine große Errungenschaft. Daran besteht auch von unserer Seite überhaupt
kein Zweifel. Aber gerade in den letzten Jahren ist der
von Ihnen kritisierte Einsatz von alternativen Versuchsmethoden im Bereich der Toxikologie in ganz entscheidender Weise vorangetrieben worden.
({4})
- Das stimmt, wenn Sie von dem Höchstansatz zu CDUZeiten ausgehen. Schon wenige Jahre später, Anfang der
90er-Jahre, waren Sie ebenfalls bei einem Ansatz von
2,5 Millionen Euro.
({5})
- Ich kann Ihnen die Zahlen mitteilen. Die können Sie
gleich bei mir einsehen.
Die Ausgaben haben bis 1998 im Durchschnitt
4 Millionen Euro betragen. Die Absenkung ist also nicht
so gravierend, wie Sie das hier darzustellen versuchen.
({6})
Das Gießkannenprinzip, das wir abgeschafft haben,
ist nicht unbedingt zielführend gewesen. Nunmehr führt
die Evaluierung von Forschungsansätzen unter dem Aspekt, dass der jeweilige Ansatz zu konkreten Ergebnissen führt, zum Ziel. Nach Rückfragen im BMBF ist mir
mitgeteilt worden, dass kein bedeutendes Forschungsprojekt im laufenden Haushaltsjahr abgelehnt worden
sei.
Der Grund für die Absenkung der Ansätze erklärt sich
natürlich aus Haushaltszwängen. Die Alternativen sind
hier bereits aufgezeigt worden. Wir werden uns dafür
einsetzen, dass dieser Ansatz im Haushalt wieder erhöht
wird, sodass auch Projekte möglich werden, die im
Moment nicht realisiert werden können. Wer einen
Projektvorschlag vorlegt, kann zu gegebener Zeit mit der
notwendigen Unterstützung rechnen. - So viel zur
Finanzierung und den Haushaltsmitteln.
Zweifelslos wird der Ansatz der Chemikalienpolitik
zu mehr Tierversuchen führen. Allerdings wird das von
Ihnen hier aufgezeigte Horrorszenario nicht eintreffen.
Die Studie, die Sie hier zitiert haben, habe ich dabei; jeder von Ihnen kann sie sich anschauen. Hinsichtlich dieser Studie ist ausgeführt worden, dass allein schon das
Erfassen der Daten, die aus den Jahren 1999 und 2000
stammen, mit vielen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten belastet war, sodass ihre Aussagen nur mit äußerster
Vorsicht zu diskutieren sind. Auch sind in sie keine alternativen Verfahren einbezogen worden. Auf der anderen
Seite ist dort eine Maximalrechnung aufgemacht worden.
({7})
Die Entwicklung hat dazu geführt, dass sich die Zahl
der zwischenzeitlich auch im Rahmen der Test-Guidelines
der OECD zugelassenen Verfahren vervielfacht hat;
das müssen Sie doch zugestehen. Wenn man all diese
Verfahren, die zwangsläufig einbezogen werden, letztendlich auch bei der Umsetzung der Chemikalienrichtlinie einbeziehen wird, wird es zweifellos nicht zu der von
Ihnen dargestellten Größenordnung von Tierversuchen
kommen. Sie haben hier, wie ich glaube, einen fadenscheinigen Versuch unternommen, um Aspekte des Tierschutzes zum Zwecke der Durchsetzung der Interessen
der chemischen Industrie zu instrumentalisieren.
({8})
- Dies ist aus Ihrer Argumentation deutlich geworden;
Sie haben vorwiegend ökonomische Argumente vorgetragen.
({9})
Angesichts der Milliardenumsätze in diesem Bereich ist
es unter Kostengesichtspunkten durchaus hinzunehmen,
dass der im Augenblick stattfindende Feldversuch, der
auch mit Ihnen durchgeführt wird, in dem ein Großteil
der Chemikalien ungeprüft bleibt, beendet wird und
auch die Altchemikalien, die notwendigerweise geprüft
werden müssen - die Reihenfolge richtet sich nach ihrer
Gefährlichkeit -, einer zielgerichteten Prüfung unterzogen werden.
({10})
In diesem Sinne wird auch dieser Ansatz erfolgreich
sein.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlage auf
Drucksache 15/1982 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit sowie zur Mitberatung an den Rechtsausschuss,
den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft,
den Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung,
den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung und den Ausschuss für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zu überweisen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP
Neue EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie
- Drucksache 15/2171 -
Diese Debatte soll geschlossen zu Protokoll genom-
men werden. Es geht dabei um die Beiträge der Kollegen
Stephan Hilsberg von der SPD, Leo Dautzenberg und
Georg Fahrenschon von der CDU/CSU, Hubert Ulrich
vom Bündnis 90/Die Grünen und Dr. Andreas Pinkwart
von der FDP1).
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 15/2171 mit dem Titel
„Neue EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mögliche Interessenüberschneidungen bei der
Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit auf allen Ebenen nachhaltig
vermeiden
- Drucksache 15/771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten bekommen soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für
den Antragsteller der Kollege Dirk Niebel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach dem Vermittlungsskandal im Jahr 2002
hatten wir die historische Chance, die Strukturen der
Bundesanstalt für Arbeit zukunftsfähig zu gestalten
und die Anstalt auf den richtigen Weg im Rahmen einer
modernen Arbeitsmarktpolitik zu bringen.
({0})
Diese Chance ist leider vertan worden. Aufgrund der
aktuellen Situation der vergangenen Wochen wird immer deutlicher erkennbar, dass ein großer Personenkreis
innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit nicht bereit ist,
die notwendigen Reformschritte mitzugehen.
({1})
1) Anlage 8
Die FDP-Bundestagsfraktion ist der festen Überzeugung, dass die Bundesanstalt für Arbeit in ihrer derzeitigen Form nicht reformierbar ist. Deswegen haben wir in
einem Antrag gefordert, die Bundesanstalt für Arbeit
aufzulösen und neu zu strukturieren. Da zurzeit - ich betone ausdrücklich: zurzeit - die politischen Mehrheiten
hierfür offenkundig noch nicht zustande kommen, müssen wir mit dem gegenwärtigen Status quo effizienter
umgehen. Das heißt, wir müssen schon allein den Anschein einer möglichen Interessenkollision vermeiden.
Dazu gehört auch, sich mit der Frage zu befassen, wer in
der Affäre um Florian Gerster ungeachtet aller von ihm
begangenen Fehler und der politischen Instinktlosigkeit,
die sich dahinter verbirgt, ein Interesse daran hat, dass
diese Affäre mit vielen neuen Vorwürfen, die über die
Ausgangssituation hinausgehen, so massiv in die Öffentlichkeit getragen wurde.
Dazu muss man sich fragen, wer von den ersten Reformvorhaben am stärksten betroffen gewesen ist. Dann
wird erkennbar, dass von der effizienteren Verwendung
der Mittel der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in
der Weiterbildung vor allem die deutsche Arbeitslosenindustrie betroffen ist, die über zig Milliarden Euro verfügt. Im Jahr 2001 betrug der Gesamtumsatz in der Arbeitslosenindustrie 40 Milliarden Euro; die Hälfte davon
wurde durch öffentliche Hände finanziert.
Auf dem Markt, der fast 35 000 Anbieter umfasst,
gibt es drei große Spieler. Zwischen diesen und den Mitgliedern des Verwaltungsrates, des Aufsichtsgremiums
der Bundesanstalt für Arbeit, gibt es keine persönliche,
aber eine institutionelle Verbundenheit. Der größte
Bildungsträger in Deutschland ist die DAA, die Deutsche Angestellten-Akademie, die Verdi mit dem grünen
Bsirske an der Spitze gehört. Im Verwaltungsrat der
Bundesanstalt sitzt seit über 20 Jahren Herr Issen, der
ehemalige DAG-Vorsitzende. Die DAG ist in Verdi aufgegangen. Er ist zwar ein honoriger Mann, aber das ändert nichts daran, dass eine institutionelle Verbundenheit
besteht.
Der zweitgrößte Bildungsträger in Deutschland ist
das bfw, das Berufsfortbildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes, das allein im Jahr 2001 einen Jahresumsatz von 240 Millionen Euro erwirtschaftet hat.
Bei der DAA waren es 360 Millionen Euro.
Verwaltungsratsvorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit ist die stellvertretende DGB-Vorsitzende, Frau
Dr. Ursula Engelen-Kefer, die seit 1978 - also seit einem
Vierteljahrhundert - an führender Stelle die Geschicke
der Bundesanstalt für Arbeit mitbestimmt hat, in Aufsichtsgremien vertreten und zeitweise sogar Vizepräsidentin war, die aber mit all den Fehlern und Schwächen
innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit bis hin zu Skandalen in all diesen Jahren nie irgendetwas zu tun gehabt
haben will.
({2})
An der Dame ist immer alles abgeperlt. Sie ist schlichtweg eine Teflonfrau, an der nichts hängenbleibt. Aber es
gibt eine institutionelle Verquickung über das bfw des
DGB, das letztlich dem DGB und damit Frau EngelenKefer gehört.
Nur wegen der Ausgewogenheit will ich den drittgrößten Bildungsträger nennen, das Bildungswerk der
Bayerischen Wirtschaft, das 2001 einen Jahresumsatz in
Höhe von 190 Millionen Euro erwirtschaftet hat. Zufälligerweise sitzt der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, Herr Götzl, im
Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit. Er ist bestimmt auch ein honoriger Mann. Aber erzählen Sie mir
nicht, dass er keine besondere Affinität zur bayerischen
Wirtschaft hat. Natürlich wird er diese haben, ebenso
wie der CSU-Staatssekretär aus dem Arbeitsministerium. Hätte er sie nicht, dann wäre er in diesem Amt fehl
am Platz.
Uns muss es aber darum gehen, den Anschein von Interessenkonflikten und Selbstbedienungsmentalität
schon im Vorfeld zu verhindern. Da Sie im Moment
noch nicht bereit sind, die Bundesanstalt für Arbeit in ihrer jetzigen Struktur aufzulösen - das wäre der richtige
Weg, weil sie eigentlich nicht reformierbar ist -, müssen
Sie zumindest die parlamentarischen Schritte unterstützen, die darauf abzielen, dass in Zukunft nicht mehr der
Anschein erweckt wird, dass in der Bundesanstalt für
Arbeit eine Selbstbedienungsmentalität vorherrscht und
dass es sich hier um ein Abkassiersystem handelt.
({3})
Im Augenblick verhält es sich so: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber liefern
ihr Geld bei der Bundesanstalt für Arbeit ab. Die Selbstverwalter - das sind Gewerkschafter und Arbeitgeberfunktionäre sowie diejenigen, die ihre öffentlichen
Hände zumeist in den Taschen der Bürger haben - nehmen es entgegen und schmeißen es zum Fenster hinaus.
Die gewerkschaftseigenen und die arbeitgebereigenen
Bildungsinstitute sammeln es dann wieder auf, um es für
ihre Zwecke zu verwenden. Das ist nicht zielführend.
Wenn Sie vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion der Meinung sind, dass es noch eine Chance gibt,
die Bundesanstalt für Arbeit zu reformieren, anstatt sie
aufzulösen, dann ist der erste Schritt, den Sie gehen müssen, unserem Antrag zuzustimmen, damit jegliche Verdächtigung hinsichtlich möglicher Interessenüberschneidungen abgewendet werden kann.
Zum Schluss möchte ich noch anmerken: Wer ein Fan
der Altersteilzeit und der Frühverrentung ist, der sollte
nach einer gewissen Zeit der Zugehörigkeit zu einer großen deutschen öffentlichen Institution dieses Instrument
selbst in Anspruch nehmen, damit wir irgendwann einmal reformfähig sind und optimistisch in die Zukunft
schauen können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Werner Bertl von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Niebel, wenn der Antrag, den Ihre Fraktion gestellt hat, ernst gemeint wäre,
({0})
dann würde er ein paar Kriterien mehr erfüllen. Wenn
die Situation tatsächlich so schlimm wäre, wie Sie das
mit Vermutungen und abenteuerlichen Argumenten unterstellt haben, dann würden wir auf jeden Fall versuchen, die Missstände abzustellen. Ich wundere mich angesichts der Größe Ihrer Fraktion, dass nicht alle Namen
der Fraktionsmitglieder auf dem Antrag zu finden sind.
Auch darüber könnte man einmal reden.
Warum ist der Antrag der FDP so unglaubwürdig?
Diesen Antrag gibt es bereits seit dem 2. April dieses
Jahres und so lange liegt er ganz unten in Ihren Akten.
Ein weiterer Punkt, der diesen Antrag sehr unglaubwürdig erscheinen lässt, ist Folgendes: Sie haben eben von
der vertanen historischen Chance gesprochen, den
Umstrukturierungsprozess der Bundesanstalt für
Arbeit zu gestalten. Ich möchte Ihnen dazu nur sagen:
Um diese „vertane Chance“ geht es im Moment im Vermittlungsausschuss; denn mit Hartz III sollen genau die
von Ihnen geforderten Strukturreformen bei den Aufsichtsgremien vorgenommen werden. Ich werde gleich
noch aus Ihrem Antrag zitieren, damit man sieht, wie absurd seine Zielrichtung ist.
Sie haben vorhin im Zusammenhang mit der Deutschen Angestellten-Akademie, dem Berufsfortbildungswerk des DGB und dem Bildungswerk der Bayerischen
Wirtschaft Zahlen genannt. Sie haben einmal von
360 Millionen Euro, einmal von 240 Millionen Euro und
einmal von 190 Millionen Euro gesprochen.
({1})
- Stimmt, 2001. - Sie sollten vorsichtig sein; denn das
sind die Umsätze und nicht die direkten Zuflüsse aus der
Bundesanstalt für Arbeit.
({2})
Das sollte man genau zur Kenntnis nehmen.
Herr Niebel, vollkommen unglaubwürdig wird Ihr
Antrag, wenn Sie unter II. verlangen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die stellvertretende DGB-Vorsitzende
Ursula Engelen-Kefer als Mitglied der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit … abzuberufen.
({3})
Ich möchte Ihnen dazu Folgendes sagen: Mich verwundert, dass Sie in Ihrem Antrag nicht ebenfalls die Abberufung des von Ihnen zitierten Mitglieds fordern, das der
bayerischen Wirtschaft nahe steht.
({4})
Sie sollten sich auch einmal mit dem Verfahren beschäftigen, nach dem die Aufsichtsgremien besetzt werden. Dann wüssten Sie nämlich, dass die jeweiligen Seiten vorschlagen und dass die Bundesregierung beruft
sowie dass Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter zwei
Drittel der Mitglieder der Aufsichtsgremien stellen, in
denen ein interessanter und notwendiger Interessenausgleich stattfindet. Das alles - ich denke, das ist auch in
der heutigen Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft und
Arbeit deutlich geworden ({5})
lässt in keiner Weise eine Interessenverquickung im Bereich der Mittelvergabe zu.
({6})
Ich will Ihnen eines sagen: Hartz III wird letztendlich einen Umbau der Bundesanstalt für Arbeit bewirken
und die Aufsichtsgremien zu einem reinem Kontrollorgan machen. An diesem Prozess können Sie teilnehmen;
aber er gefällt Ihnen ja nicht. Die Forderung, die Bundesanstalt für Arbeit aufzulösen, ist relativ absurd.
({7})
In Ihrem eigenen Antrag steht:
Zwar fallen Einzelfallentscheidungen über die Verwendung von Beitragsmitteln nicht in den Selbstverwaltungsgremien der Arbeitsämter und auch
nicht in den Selbstverwaltungsorganen der Mittelbzw. Oberinstanzen, der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit bestimmt aber die Grundlinien
der Politik …
Das wirkt also nicht einmal bis in die unteren Ebenen.
Lediglich auf der Ebene der Arbeitsämter besteht aufgrund der paritätischen Besetzung - ein Drittel Arbeitnehmer, ein Drittel Arbeitgeber und ein Drittel öffentliche Hand - im Moment noch die unmittelbare
Möglichkeit, beim Eingliederungstitel mitzubestimmen.
({8})
Genau das wird mit Hartz III abgeschafft.
({9})
Da es nach Hartz III diesen Umbau in der Mittel- und
in der Oberinstanz gibt, ist Ihr Antrag hinfällig. Wenn
Hartz III realisiert wird, dann ist genau das erfüllt.
({10})
Der Kern Ihres Antrages ist die Forderung, ein einziges Mitglied abzuberufen.
({11})
Sie liegen falsch, wenn Sie im Zusammenhang damit
eine Interessenkollision festmachen wollen. Wenn Sie
diesen Antrag ernst meinten, dann müssten Sie auch
mögliche Interessenkollisionen betreffend die Arbeitgeberseite und die öffentliche Hand berücksichtigen.
Bei aller Kritik, die wir auch heute in der sehr ausgiebigen Sitzung unseres Ausschusses - wir haben uns mit
der Bundesanstalt für Arbeit und ihren Strukturen beschäftigt - erfahren haben, hat sich eines herausgestellt
- das blieb unwidersprochen -: Das Präsidium des Verwaltungsrats hat uns zweifelsfrei deutlich machen können, dass die Kontrollorgane funktionieren, dass sie
Fehler offen legen und dass sie schnell reagiert haben.
({12})
- Doch, das ist deutlich geworden. Wir werden das im
weiteren Verfahren klarstellen können.
({13})
Ihr Antrag hat etwas Absurdes.
({14})
- Ja, er ist wirklich absurd. Eigentlich ist es schade, dass
wir uns darüber hier so lange unterhalten müssen. Er
wird auch noch an den Ausschuss überwiesen. Das heißt,
wir Parlamentarier werden uns mit dieser absurden Vorlage weiterhin beschäftigen müssen.
Im Hinblick auf die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg ist es in keiner Weise relevant, ob sich ihr Verwaltungsrat und das Präsidium dieses Verwaltungsrats mittelbar oder unmittelbar in einem Interessenkonflikt
befinden.
({15})
Ich muss Ihnen eines sagen: Wenn Sie sich mit § 16
SGB X befasst hätten, dann hätten Sie feststellen müssen, dass schon dort Regelungen vorgesehen sind, die Interessenkonflikte ausschließen.
({16})
Ihnen müsste auch bekannt sein, dass die Bundesanstalt
für Arbeit im März 2000 einen Runderlass zum Abstimmungsverhalten der Mitglieder von Aufsichtsorganen
herausgegeben hat, um solche Interessenkonflikte zu
vermeiden.
Ein Punkt ist für unsere Fraktion etwas erschreckend.
Ich weiß, dass Ihnen manche der neuen Strukturen der
Bundesanstalt für Arbeit, die im Moment entwickelt
werden, nicht gefallen. Damit kann man sich sachlich
und inhaltlich ganz gut auseinander setzen. Ich akzeptiere, dass eine Fraktion oder einzelne Mitglieder des
Parlaments eine andere Meinung haben. Hier wird aber
mit Verdächtigungen gearbeitet. Man diskreditiert und
versucht, Interessenkonflikte festzumachen. Außerdem
haben Sie eine sehr einseitige Betrachtung entwickelt:
Sie stellen nämlich nur ein Drittel dieser Bundesanstalt
infrage.
In diesem Zusammenhang haben Sie bisher nicht
mehr auf den Tisch gelegt als Verdächtigungen, Vorwürfe, die Sie nicht belegen können, und Zahlen, die mit
dem Vergabevolumen der Bundesanstalt für Arbeit überhaupt nichts zu tun haben. Ihr Antrag ist im Grunde genommen ein Skandal. Im Ausschuss werden wir Ihnen
- vielleicht mithilfe von Auskünften der Bundesanstalt
für Arbeit - klar machen, wie absurd Ihre Denkrichtung
ist, die Bundesanstalt für Arbeit insgesamt zu zerschlagen.
({17})
Ihre Fraktion sollte lieber unseren Weg mitgehen, im
Bereich der Arbeitsverwaltung die dringend erforderliche Strukturreform vorzunehmen. Wir diskutieren hier
über etwas, was für die Bewältigung der Probleme auf
dem Arbeitsmarkt und für die Bewältigung der Situation, in der sich die Bundesanstalt für Arbeit und die
Politik befinden, völlig irrelevant ist, statt denjenigen
Menschen, die Arbeit suchen, eine optimale Institution
anzubieten, die vernünftig strukturiert ist, die ihre Aufgaben erfüllt und Menschen annimmt.
Wer diese vagen Verdächtigungen zum Anlass
nimmt,
({18})
in die Kontrollorgane der Bundesanstalt für Arbeit einzugreifen, der - das muss ich Ihnen wirklich sagen wird der Situation, vor der wir bei der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit stehen,
nicht nur nicht gerecht, sondern der zeigt auch, dass er
und seine Fraktion die Probleme, vor denen unser Land
steht, überhaupt nicht begreifen, auch nicht begreifen,
wohin wir mit Hartz III und Hartz IV wollen, dass wir
eine Umstrukturierung vornehmen, die die Bundesanstalt tatsächlich effektiv macht und die sie deutlich besser in die Lage versetzt, ihre Aufgabe zu erfüllen.
({19})
Sie haben hier gerade einen interessanten Begriff geprägt. Sie haben nämlich von der deutschen Arbeitslosenindustrie gesprochen.
({20})
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten mit vielen
Bildungsträgern Gespräche geführt. Ich kann verstehen, dass sich die Bildungsträger, die Strukturen haben,
die sehr lange gewachsen sind, Sorgen machen und sich
fragen: Wie wird die Bundesanstalt für Arbeit bei der
Vergabe ihrer Mittel zukünftig vorgehen? Wie soll die
berufliche Fort- und Weiterbildung strukturiert werden?
Ich sage Ihnen eines: Im Mittelpunkt unserer Betrachtungen - das haben wir den Bildungsträgern immer gesagt - stehen die Beseitigung von Arbeitslosigkeit und
die Qualifizierung von Menschen. Es ist nicht vordringliche Aufgabe der Bundesanstalt für Arbeit, Bildungsträger zu finanzieren. Aber hier von einer deutschen Arbeitslosenindustrie zu sprechen, die ihre Interessen bis
unmittelbar in den Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit
hineintransportiert, ist - das muss ich Ihnen ganz ehrlich
sagen - absurd.
({21})
Wir werden Ihren Antrag - ich sage Ihnen das schon
jetzt - im Ausschuss beraten, wie sich das für ein parlamentarisches Verfahren gehört
({22})
- das werden wir auch -, und wir werden ihn ablehnen.
({23})
- Ja, wir werden ihn ablehnen.
({24})
- Nun regen Sie sich nicht so auf! - Dieser Antrag bietet
nämlich kein bisschen Perspektive.
Unabhängig von den Dingen, die heute und in den letzten Tagen im Zusammenhang mit der Bundesanstalt eine
Rolle gespielt haben - manche Kritik ist berechtigt -, interessiert uns eine Strukturreform der Bundesanstalt für
Arbeit, die zum Ergebnis hat, dass Menschen, die arbeitslos werden oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind,
kompetente Partner finden, die ihnen etwa den Wiedereinstieg in den Beruf ermöglichen, die die Vermittlungsgeschwindigkeit erhöhen, die kompetente Dienstleister
für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind.
({25})
Wenn auch Sie diesen Weg gehen wollten, dann wäre
ich bereit, Herr Niebel, zielführend mit Ihnen zu diskutieren. Aber so kann ich nur sagen: Es ist schade, dass
dieser Antrag vom 2. April dieses Jahres nicht da geblieben ist, wo er war, nämlich bei Ihnen ganz unten in der
Schublade. Aufgrund der aktuellen Situation haben Sie
ihn herausgeholt, um hier Ihren Show-down zu machen.
Wir werden den Antrag im Ausschuss ablehnen.
({26})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bertl, wenn eine Fraktion des Bundestages einen
Antrag zur Thematik Bundesanstalt für Arbeit einbringt,
die die Öffentlichkeit und auch die Beitragszahlerinnen
und Beitragszahler beschäftigt,
({0})
dann muss man nicht mit allem darin übereinstimmen.
Aber das als Skandal zu bezeichnen halte ich für völlig
abwegig.
({1})
Ich sage das auch vor dem Hintergrund der Diskussion, die wir heute Nachmittag fast vier Stunden lang im
Ausschuss geführt haben. Dort ist zumindest eines ganz
deutlich geworden, nämlich dass es zumindest massive
Interessenüberschneidungen bei der Vergabe öffentlicher Mittel über die Bundesanstalt für Arbeit gibt
und dass man darüber reden muss. Deswegen muss man
nicht der Auffassung sein, dieser Antrag bilde das alles
ab; das tut er nach meiner Meinung nicht. Er ist eben
auch schon etwas älter, vom 2. April 2003. Wenn man
einen solchen Antrag jetzt, im Dezember 2003, formulieren würde, würde man es sicherlich völlig anders machen.
Der Bericht des Bundesrechnungshofs, der uns seit
gestern Abend vorliegt und sich auf ein ganz bestimmtes
Vergabeverfahren betreffend WMP bezieht, zeigt im
Grunde genommen, dass formale Regeln nicht eingehalten worden sind und dass auch jedes Fingerspitzengefühl
gefehlt hat.
({2})
Das zeigt, dass wir allen Anlass haben, darüber zu reden,
wie eigentlich bei der Bundesanstalt für Arbeit mit öffentlichen Mitteln umgegangen wird.
({3})
Mich überzeugt auch der Verwaltungsrat nicht unbedingt. Dass sich der Verwaltungsrat jetzt, Ende November - das Thema ist seit Februar/März aktuell -, mal
eben damit beschäftigt hat, ist für mich schon ein Problem, über das man reden muss. Natürlich versucht gegenwärtig der Verwaltungsrat, nicht nur die Gewerkschaftsseite, sondern auch die Arbeitgeberseite, das
Problem kleinzureden. Dafür gibt es einen schlichten
Grund: Wenn man es nicht kleinreden würde, würde
sofort die Frage gestellt, wie denn der Verwaltungsrat
seine Kontrollfunktion wahrgenommen hat. Auch hier
stimmte meiner festen Auffassung nach etwas nicht.
So müssen wir uns, wie ich glaube, nicht nur bei der
Bundesanstalt für Arbeit, sondern auch darüber hinaus
daran gewöhnen, dass die Menschen von uns wissen
wollen, wie wir mit ihren Beitragsgroschen und ihren
Steuergroschen umgehen. Diese Verpflichtung haben wir
als Parlamentarier.
({4})
Ich glaube weiterhin, dass es sich die Bundesregierung, die hier aufgrund der Sitzung des Vermittlungsausschusses nicht vertreten sein kann, etwas zu leicht
macht. Ich erinnere an die Debatte, die wir im Ausschuss
mit Herrn Staatssekretär Andres am 28. November
- das ist noch nicht sehr lange her, Sie waren auch
dabei - geführt haben, als das Problem immer virulenter
wurde. Zunächst hat er sich auf die Position zurückgezogen, dass er damit gar nichts zu tun habe. Er hat damals
gesagt - ich darf das zitieren -:
Das Problem ist: Einerseits haben wir die Rechtsaufsicht, andererseits haben wir auch haushaltsrechtlich mit bestimmten Dingen zu tun.
Auf die Frage, ob wir die Verträge und die Vermerke
kriegen, sagte er:
… wir kriegen alles. Ich darf Ihnen aber sagen, ich
kenne sie nicht, will sie auch gar nicht kennen.
Auf Zwischenrufe hat er dann gesagt:
Halt, halt, halt, ich bitte, mich nicht misszuverstehen. Ich will Ihnen sagen, da draußen steht eine
Riesenmeute, die will dieses und jenes wissen. Ich
kann guten Gewissens sagen, dass ich das nicht
weiß.
Das sagt der Vertreter der Bundesregierung, der die
Rechtsaufsicht repräsentiert. Falls es hier einen Skandal
gibt, dann ist aus meiner Sicht diese Aussage ein Skandal.
({5})
Das geht dann weiter: Herr Gerster hat vor zwei Tagen im „Mannheimer Morgen“ gesagt - das zur Einschätzung der Situation und zum Schuldbewusstsein -,
es handele sich bei der ganzen Diskussion um diesen so
genannten Beratervertrag mit WMP um eine Kampagne
mit einer inszenierten öffentlichen Erregung, bei der sich
verschiedene Interessen bündeln.
({6})
Bei einer so undurchsichtigen Auftragsvergabe, die,
wie der Bundesrechnungshof klipp und klar gesagt hat,
nicht mit rechten Dingen zugegangen sei und bei der
man alle formalen Regeln verletzt habe, davon zu reden,
es handele sich lediglich um eine Kampagne, halte ich
nun wirklich für abwegig.
({7})
Ich will nicht bestreiten, dass auch ich kein gutes Gefühl angesichts der Tatsache habe, dass im Verwaltungsrat nicht nur Vertreter der Gewerkschaftsseite, sondern
auch Vertreter der Wirtschaftsseite sitzen, die zum Teil
Angebote abgeben und gleichzeitig verschiedene Aufträge seitens der Bundesanstalt für Arbeit annehmen. Ich
halte es auch für problematisch, dass etwa 15 Mitglieder
der Hartz-Kommission über irgendwelche Firmenverbindungen nicht nur an der Ausschreibung bestimmter
Projekte beteiligt sind, sondern auch Aufträge entgegennehmen. Ich hatte Herrn Gerster im Ausschuss gefragt,
ob das denn alles so stimmig sei. Darauf wurde gesagt,
es gebe nur einige ganz wenige Topleute, unter anderem
eben den Präsidenten von Hertha BSC, und man müsse,
wenn man sie gewinnen wolle, schon in Kauf nehmen,
dass sie sich gleichzeitig auch an Ausschreibungen beteiligen und um Aufträge bewerben - natürlich nur,
wenn es nicht freihändig wie bei WMP vergeben wird;
ansonsten könne man die dafür überhaupt nicht mehr gewinnen.
Es fehlt schlichtweg an Transparenz bei der Bundesanstalt für Arbeit. Um diesen Punkt müssen wir uns
kümmern.
({8})
Vielleicht sind wir uns an dieser Stelle sogar einig. Ich
glaube jedenfalls, wir sollten den Antrag der FDP zum
Anlass nehmen, darüber im Ausschuss in aller Ruhe und
Offenheit zu diskutieren, auch die ganze Bandbreite der
Thematik, die sich jetzt in den letzten Monaten entwickelt hat, abzugreifen und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen.
({9})
Das setzt allerdings voraus - irgendeiner wird das ja
übermitteln -, dass sich die Bundesregierung dieser Problematik ernsthaft annimmt und nicht versucht, das Problem kleiner zu reden, als es ist.
Herzlichen Dank.
({10})
- Wir liegen da ja nicht weit auseinander.
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn davon die Rede ist, wer den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit gefährdet, dann kann ich nur sagen:
Der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit wird durch
diejenigen Personen gefährdet, die mit Verschwörungstheorien über quasi mafiose Beziehungen zwischen Weiterbildungsträgern und Selbstverwaltung den Eindruck
erwecken, hier würden Beitragsgelder systematisch veruntreut und hier würden Leute sich Gelder in die Tasche
stecken. Der Umbau der BA wird durch Leute blockiert,
die den Eindruck erwecken, die linke Seite des Hauses
mache der rechten Seite des Hauses keine Kooperationsangebote und versuche nicht intensiv, mit Hartz III endlich die dienstleistungsorientierte Agentur für Arbeitsvermittlung aufzubauen. Durch solche Anträge und nicht
durch uns wird der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit
verhindert.
({0})
Dieser Antrag dient der Ablenkung.
({1})
Er lenkt von den tatsächlichen Problemen ab: Wie wird
der Eingliederungstitel verwandt? Sind die Ausschreibungskriterien nach VOL wirklich sachgerecht? Die
Diskussion über diese wirklich notwendigen Fragen effizienter Mittelverwendung wird durch diesen Antrag einfach vernebelt.
({2})
Ich bin froh, dass hier das Stichwort WMP gefallen
ist. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass da - bei der
Nichtausschreibung und was Information und Kommunikation anbelangt - schwere Fehler begangen wurden.
Das Ergebnis der heutigen Ausschusssitzung war ja relativ eindeutig.
Aber als Sie vor einigen Monaten diesen Antrag
schrieben, da wussten Sie wahrscheinlich noch nichts
von der Vorstandsfunktion Ihres Kollegen Rexrodt in
der jetzt umstrittenen Firma WMP. Sie zielten auf Frau
Engelen-Kefer, die ehrenamtlich im Vorstand von Weiterbildungseinrichtungen tätig war. Nun zeigt sich aber,
dass Frau Engelen-Kefer sehr agil an der Aufklärung der
WMP-Affäre mitgewirkt hat.
({3})
Herr Kollege Kurth, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel?
Ja, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Kurth.
Sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
wir, schon als wir den Antrag schrieben, wussten, dass
Günter Rexrodt Finanzvorstand der Firma WMP ist?
({0})
Würden Sie mir zweitens zustimmen, dass ein Wirtschaftsunternehmen schlicht die Aufgabe hat, sich um
Aufträge zu bemühen, aber nicht die Aufgabe, sich darum zu kümmern, ob der Auftraggeber alle seine internen Vorschriften beachtet?
({1})
Ich bin bereit, das Erste zur Kenntnis zu nehmen.
Auch das Zweite nehme ich zur Kenntnis, aber mit Erschütterung.
({0})
Denn der Auftragnehmer nimmt in diesem Falle auf der
einen Seite eine wirtschaftliche Funktion und auf der anderen Seite ein öffentliches Amt wahr.
Ich finde es wirklich skandalös, dass der Kollege
Rexrodt sagt, wenn das Thema WMP im Haushaltsausschuss behandelt werde, gehe er einfach hinaus und mache nicht mit.
({1})
Thematisieren Sie doch einmal, dass ein Abgeordneter
des Deutschen Bundestages sein Mandat nicht wahrnimmt, weil er es, wie mein SPD-Kollege Scheer es ausgedrückt hat, kommerzialisiert hat! Das ist doch das
Problem im Zusammenhang mit Interessenüberschneidungen. Es ist wirklich bigott, dass Sie diesen Antrag in
dem Wissen stellen, welche Interessenverquickungen
und -überschneidungen bestehen.
({2})
- Der Kollege Wend hat aber im Unterschied zum Kollegen Rexrodt offensichtlich die Konsequenzen gezogen.
({3})
Lassen Sie mich noch einige Worte zu dem Thema sagen, um das es wirklich geht: den Eingliederungstitel
und seine Verwendung, den Bereich, den Sie als Arbeitslosenindustrie bezeichnen.
({4})
Ich halte das für einen Kampfbegriff, der vollkommen
unangebracht ist, wenn es darum geht, die Weiterbildung
vernünftig zu organisieren.
Wir stellen gar nicht in Abrede, dass es dort Effizienzprobleme gegeben hat und noch gibt. Wir wollen ja genau dort eine zielgenaue Mittelverwendung erreichen.
Das muss durch vernünftige Ausschreibungsbedingungen erfolgen. Zum Beispiel dürfen wir nicht außer Acht
lassen, dass es kein sachdienlicher Ansatz ist, die Berufsbildungswerke auf einen Durchschnittskostensatz zu
drücken. Vielmehr müssen wir den jeweils unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen an einen Weiterbildungsplatz gerecht werden.
({5})
Wir müssen nach gewerblichen und kaufmännischen
Anteilen unterscheiden. Wir müssen dafür sorgen, dass
nicht 75 Prozent aller Maßnahmen zentral ausgeschrieben werden.
({6})
Arbeiten Sie doch an einer effektiven, dezentralen Struktur im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit mit! Verbessern Sie doch mit uns die Leistungen, die wir für spezielle Zielgruppen anstreben!
({7})
Meine Fraktion jedenfalls will qualitätsvolle Angebote
bei „JUMP plus“, für ältere Arbeitnehmer und Berufsrückkehrerinnen. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten,
das zu sichern.
Meine Gespräche mit Weiterbildungsträgern haben
mir gezeigt, dass sie Ausschreibungen, Qualitäts- und
Preiswettbewerb durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen.
({8})
Ich glaube, es ist wesentlich sinnvoller, den Dialog mit
diesen Einrichtungen zu suchen. Die Selbstverwaltung
sollte als Partner gesehen werden, nicht aber als jemand,
der einem in die Taschen greift. Natürlich müssen entsprechende Kontrollmechanismen aufgebaut werden.
Aber das Ganze ist im Dialog vernünftig zu regeln, damit die Mittel sachgerecht ausgegeben werden. Es sollte
nicht mit irgendwelchen Unterstellungen gearbeitet und
auf Konfrontation gesetzt werden, was letztlich nur dazu
führt, dass die gesamte aktive Arbeitsmarktpolitik zusammenbricht oder zumindest gefährdet ist.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der FDP ist, wie ich glaube, sehr wohl berechtigt.
({0})
Angesichts des großen Umfangs der mittlerweile in diesem Bereich zur Verfügung gestellten Mittel - denn die
Arbeitslosigkeit in unserem Land ist viel zu hoch und es
wird auf vielfältige Weise versucht, sie zu bekämpfen;
das ist sehr ehrenwert - hat sich eine große Weiterbildungs- bzw. Qualifizierungsindustrie gebildet.
Herr Kollege Niebel hat bereits darauf hingewiesen,
dass zwei der größten Institute in diesem Bereich den
Gewerkschaften gehören und eines den Arbeitgebern.
Die gleichen Leute sind bei der BA für das bereitgestellte Volumen verantwortlich. Sie bestimmen bei der
Genehmigung des Haushaltes mit,
({1})
wie viel für Weiterbildungsmaßnahmen jährlich ausgegeben wird. Deshalb war es natürlich logisch, dass
sich die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Frau
Engelen-Kefer, sofort, als im ersten Haushaltsansatz
Kürzungen bei Weiterbildungsmaßnahmen vorgesehen
waren, über diese Kürzungsmaßnahmen aufgeregt hat.
({2})
Deswegen ist es hier mit entscheidend, Herr Kollege
Bertl, dass wir uns berechtigterweise der Frage zuwenden: Kann es so sein, dass die Selbstverwaltung - ob nun
durch ehrenamtlich in einem Verwaltungsrat, Beirat oder
sonst wo Tätige - ausschließlich bestimmt, wie viel in
solche Weiterbildungsmaßnahmen eingebracht wird?
({3})
Dass es notwendig ist, diesen Punkt sehr kritisch zu
betrachten, zeigt der Bericht des Bundesrechnungshofes:
Der Bundesrechnungshof hat sich einmal mit dem Ausgabeverhalten befasst und musste feststellen, dass es
Projekte gibt, die von der Bundesanstalt für Arbeit bzw.
vom zuständigen Arbeitsamt nicht überprüft wurden.
Zum Beispiel fand bei einem mit 608 000 Euro geförderten Projekt keine Kontrolle statt. Zum Schluss war gerade einmal eine Person in den regulären Arbeitsmarkt
vermittelt. Das heißt meines Erachtens, dass möglicherweise mehr abkassiert wurde, als dass es etwas wirklich
Gutes gebracht hätte.
({4})
Eine weitere Maßnahme: Ein Projekt mit zehn
Eingliederungen verschlang eine Fördersumme von
1,1 Millionen Euro.
({5})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen! Mit einer Investitionssumme von 1,1 Millionen
Euro hätten sich, glaube ich, mehr Arbeitsplätze schaffen lassen; das ist hier nicht richtig zum Tragen gekommen.
({6})
Unsere Zurufe haben vielfältigst verdeutlicht, dass
unter dem Vorstandsvorsitzenden Gerster auch die Ausschreibungsmodalitäten geändert wurden. Diese Ausschreibungsmodalitäten begünstigen letztendlich die drei
großen von mir genannten Einrichtungen.
({7})
Es kann doch nicht so sein, dass zuerst ein Haushaltsvolumen gebildet wird, dieses auf die einzelnen Arbeitsamtbezirke aufgeteilt wird - je nachdem, wo der Bedarf
ist ({8})
und dass dort - sinnvollerweise - die entsprechenden
Projekte kreiert werden, diese dann aber wieder an die
Zentrale der Bundesanstalt für Arbeit zurückgegeben
werden, um zentral ausgeschrieben zu werden. Dort werden so umfangreiche Lose gebildet, dass sich kleine, vor
Ort tätige Institutionen, oft auch hoch qualifizierte Einrichtungen, überhaupt nicht mehr bewerben können oder
auch nicht mehr teilnehmen können, im Höchstfall als
Subunternehmer der gewerkschaftseigenen Institute
bzw. der Arbeitgeberinstitute. Ich möchte hier keinen
Unterschied machen. Das kann doch nicht der Sinn sein.
Ich glaube, Herr Bertl, deshalb ist es auch wichtig,
diese Fragen zu stellen, die mit dem vorliegenden Antrag der FDP aufgegriffen werden und natürlich in die
Diskussion einzubringen sind. Wir tun gut daran, auf alle
Fälle eine neue Praxis herauszubilden. Das ist auch im
Sinne der kleineren Anbieter und der Volkshochschulen
vor Ort, die eine gute und wichtige Arbeit erbringen.
Sie, Herr Bertl, haben gesagt, mit dem Antrag sei eine
absurde Denkrichtung verbunden. Das wird angesichts
dieser Fälle, die ich aufgezeigt habe und die mir heute
hinsichtlich der Mittelverwendung der BA wiederum
bewusst wurden, klar. Heute hat mir jemand von einem
Fall berichtet, den ich noch genauer rekonstruieren
werde. Ein 48-jähriger, seit 15 Monaten arbeitsloser
Maurerhelfer ohne Berufsausbildung wird jetzt für fast
ein halbes Jahr in eine Bildungseinrichtung gesteckt. Er
soll dort einen Computerkurs machen.
Ich glaube, dass die Mittelverwendung etwas Entscheidendes ist. Diese praktischen Beispiele beweisen,
dass manchem oft das nötige Fingerspitzengefühl abgeht. Ich habe in diesem Hause bereits einmal einen Fall
vorgetragen, in dem ein in Arbeit stehender Busfahrer
- es gibt Hunderttausende von Menschen, die sich als
Busfahrer ihren Lebensunterhalt verdienen - eine Umschulungsmaßnahme auf Kfz-Mechaniker vom Arbeitsamt genehmigt bekam. Das verstehe, wer will. Ich verstehe das nicht, weil ich davon überzeugt bin, dass damit
keine bessere Existenzgrundlage für die einzelne Person
geschaffen wird, sondern nur Mittel verwendet werden,
und zwar nicht sinnvoll.
({9})
Das ist unser Anspruch an die Politik: Sinnvolle Mittelverwendung und, wenn es geht, auch eine Absenkung
der Beiträge und die Reduzierung von überflüssigen
Maßnahmen. Darüber können wir uns dann im Ausschuss trefflich unterhalten.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/771 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Vereinbarte Debatte
zur europäischen Perspektive für Gesamtzypern
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Günter Gloser von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen haben wir vor einem etwas größeren Auditorium
über die europäische Verfassung gesprochen. Wir haben
über dieses wichtige Projekt für Europa diskutiert, zum
einen mit viel Übereinstimmung, zum anderen kontrovers. In einem zweiten großen europäischen Punkt, nämlich der Erweiterung der Europäischen Union, sind wir
uns in diesem Hause sehr viel einiger gewesen. Das ist
die Verbindung zwischen der Verfassung und der Erweiterung der Europäischen Union.
Wir haben zumindest die Überwindung der Teilung
zwischen Ost und West mit den osteuropäischen Ländern
geschafft. Aber wir haben es noch nicht geschafft - auch
andere haben es noch nicht geschafft -, die Teilung Zyperns zu überwinden. Deshalb ist es sinnvoll, vor dem
Hintergrund der Parlamentswahlen in Nordzypern
dies am heutigen Abend auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen. Denn die Zukunft Zyperns
bewegt nicht nur die türkischen und griechischen Zyprioten. Dieses Thema geht nicht nur die Türkei und Griechenland an. Die Wiedervereinigung Zyperns liegt in unser aller Interesse. Die Überwindung der Teilung Zyperns
ist ein Muss in dem sich vereinigenden Europa.
({0})
Deshalb ist die Türkei, die Teil dieses Europas sein
will, in besonderem Maße gefordert, an der Lösung des
Zypernproblems mitzuwirken. Ich appelliere in diesem
Zusammenhang auch - das sage ich im selben Atemzug an die griechisch-zypriotische Seite, das Fenster der
Gelegenheit in fairer Weise zu nutzen. Auch sie muss
Kompromissbereitschaft zeigen, damit ein für beide
Seiten annehmbares Verhandlungsergebnis erreicht werden kann.
In diesem zukunftsorientierten Europa ist kein Platz
für Stacheldraht und Abschottung, für Nationalismus
und ethnisch begründeten Separatismus. Das neue Europa hat alte Mythen auf den Scherbenhaufen der Geschichte befördert. Die - angeblich endgültige - Teilung
unseres Kontinents war ein solcher Mythos. Die Menschen in Mittelosteuropa haben nach Jahrzehnten der
Trennung die Teilung überwunden. Sie haben ihr Ziel,
wieder Teil von Gesamteuropa zu sein, erreicht.
Auch auf Zypern beginnt ein Mythos zu wanken. Seit
der Öffnung der Grenzen im April 2003 hat es Tausende
Begegnungen zwischen türkischen und griechischen
Zyprioten gegeben. Angeblich zu erwartende Konflikte
und Zusammenstöße blieben aus. Die Menschen beider
Seiten fügen sich nicht mehr der Lagermentalität und
dem Konfrontationsdenken. Der Mythos, die beiden
Volksgruppen könnten nie wieder in einem Staat zusammenleben, ist zusammengebrochen.
In drei Tagen, am kommenden Sonntag, entscheiden
die Nordzyprioten über die Zukunft ihres Landesteils. Es
ist eine Schicksalswahl für Zypern. Die Wählerinnen
und Wähler stimmen darüber ab, ob sie die europäische
Zukunft eines wiedervereinigten Zyperns oder die Zementierung der Teilung der Insel wollen. Sie entscheiden, ob sie weiterhin eine rückwärts gewandte Politik
wollen oder eine Politik, die den Menschen eine europäische Perspektive bietet.
An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass
die türkisch-zypriotische Opposition auf der Basis des
Annan-Plans, also des Plans des Generalsekretärs der
Vereinten Nationen, mit der griechisch-zypriotischen
Seite eine Lösung herbeiführen will. Im Falle des Sieges
der Opposition und der Ablösung des bisherigen Verhandlungsführers öffnet sich - das meinen viele - das
Fenster der Gelegenheiten. Bei gutem Willen beider Seiten könnte ein geeintes Zypern Mitglied der Europäischen Union werden.
Die Alternative ist nicht zukunftsfähig. Sie ist rückwärts gewandt. Sie wird verkörpert von einem Mann der
Vergangenheit, Rauf Denktasch. Seine Ablehnung von
Verhandlungen bedeutet ein Nordzypern, das - abgeschottet durch türkisches Militär - international isoliert
ist und bleibt. Würde diese Abschottung - das sage ich
ganz deutlich - nur für Herrn Denktasch gelten, brauchten wir heute Abend nicht darüber zu diskutieren. Seine
Politik führt aber bis heute dazu, dass viele Menschen in
Nordzypern isoliert und abgeschottet sind. Das ist kein
Merkmal eines wiedervereinigten Europas.
({1})
Im vergangenen Herbst sind über 80 000 Menschen in
Nordzypern auf die Straße gegangen. Sie demonstrierten
für eine Lösung des Zypernproblems und für den Beitritt
Gesamtzyperns zur Europäischen Union. Die jetzigen
Machthaber wissen um die Stimmung im Volk. Sie
fürchten, vom Volkswillen hinweggefegt zu werden.
Deshalb versuchen sie mit allen Mitteln, den Sieg der
Opposition zu verhindern. Die Hinweise auf Manipulation der Wählerlisten und Einschüchterung der Opposition mehren sich. Repressalien gegen oppositionelle
Medien und Journalisten häufen sich.
({2})
Die beschleunigte Einbürgerung von Festlandtürken soll
zusätzlich Stimmen für Herrn Denktasch bringen.
Eine offizielle Wahlbeobachtung durch die internationale Gemeinschaft ist aus juristischen Gründen nicht
möglich. Die so genannte Türkische Republik Nordzypern ist von keinem Land, außer der Türkei, völkerrechtlich anerkannt.
In diesem Zusammenhang bin ich der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie in Gesprächen mit der türkischen Seite - zuletzt im November - auf diese Problematik hingewiesen hat. Sie hat von der türkischen
Regierung ein Signal erhalten, dass sie für faire Wahlen
sorgen wolle.
Auf Bitten der nordzypriotischen Opposition wird
sich zum Zeitpunkt der Wahlen eine kleine SPD-Delegation, die Kolleginnen Elke Ferner und Lale Akgün, im
türkischen Landesteil aufhalten. Wir wissen: Es geht uns
dabei lediglich um eine symbolische Geste. Darüber, inwieweit die Wahlen frei und fair verlaufen, werden die
Nordzyprioten selbst zu befinden haben.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, Wahlbetrug war schon mehrfach der Anfang vom Ende eines
abgewirtschafteten Regimes. Als Beispiel nenne ich die
Wahlfälschungen in Ostdeutschland, die den Untergang
der DDR beschleunigt haben. In jüngster Zeit haben
Wahlmanipulationen in Georgien zum Sturz von Präsident Schewardnadze geführt. Dies sollte allen tatsächlichen und potenziellen Wahlfälschern eine Warnung sein.
Sie sollten die Zeichen der Zeit erkennen. Denn selbst
die türkischen Siedler wollen nicht mehr nur Stimmvieh
für Denktasch-treue Parteien sein. Viele von ihnen sehen
für sich eine Perspektive im EU-Beitritt der ganzen Insel, zumal auch das türkische Mutterland in die Europäische Union strebt. Wo bliebe dann der türkische Landesteil Zyperns?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie auch
immer diese Wahlen ausgehen werden: Die Türkei ist
und bleibt für die Lösung des Zypern-Problems in der
Verantwortung. Sie ist gefordert, aktiv mitzuwirken, damit Gesamtzypern der Europäischen Union beitreten
kann. Wenn keine Lösung zustande kommt, könnte sich
daraus ein ernsthaftes Hindernis für die EU-Bestrebungen der Türkei ergeben. So hat es die EU-Kommission
unmissverständlich formuliert. Diese klare Aussage
halte ich für angemessen.
Anfang Oktober dieses Jahres konnte ich mich allerdings bei politischen Gesprächen in der Türkei gemeinsam mit der Kollegin Lale Akgün davon überzeugen,
dass das Problembewusstsein bei der türkischen Regierung durchaus vorhanden ist. Man will eine rasche Lösung und weiß, dass man sie möglicherweise bis zum
1. Mai nächsten Jahres herbeigeführt haben muss. Das
ist eine schwierige Aufgabe. Dennoch: Man kann von
der türkischen Regierung in der Tat sagen, dass sie vor
dem Hintergrund ihrer Beitrittsbestrebungen versucht,
eine entsprechende Lösung zu finden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, an dieser
Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei den Nichtregierungsorganisationen bedanken, die den Dialog zwischen Nordzyprioten und Südzyprioten in den letzten
Jahren sehr intensiv gefordert haben, sowohl auf der Insel als auch in anderen Teilen Europas. Hier denke ich
vor allem an das deutsch-zypriotische Forum, das, vor
allem unter der Führung unseres früheren Kollegen
Eckart Kuhlwein, viele Kontakte geknüpft und viele bilaterale Beziehungen aufgebaut hat. Ich bedanke mich
auch bei den Kolleginnen und Kollegen der deutschzypriotischen Parlamentariergruppe und ihrem derzeitigen Vorsitzenden, dem Kollegen Helias, dass sie
auch in dieser schwierigen Zeit bei Besuchen auf der Insel Gespräche mit beiden Teilen geführt haben. Ich
denke, es ist für beide Seiten ein gutes Zeichen, dass das
deutsche Parlament ein Interesse an einer friedlichen,
aber auch überzeugenden Lösung für diese Insel hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Helias von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Gloser, ich glaube, das war eine
Rede, die wir alle unterschreiben können.
Deutschland ist ein Land mit den Erfahrungen der
Teilung und der Wiedervereinigung. Wahrscheinlich reagieren wir in der Bundesrepublik deshalb besonders sensibel auf die schwierige Situation in Zypern.
Allerdings bedarf es keines außergewöhnlichen Gespürs, um zu erkennen, dass die Wahlen in Nordzypern
am 14. Dezember dieses Jahres die letzte Chance sind,
noch vor dem EU-Beitritt im Mai nächsten Jahres die
Teilung der Insel zu überwinden. Zusätzlich gewinnt die
Wahl an Bedeutung, weil in Nordzypern zum ersten Mal
seit 1974 eine konzentrierte Opposition gegen das Parteibündnis des türkischen Volksgruppenführers Rauf
Denktasch vorhanden ist.
Anders als Denktasch sind die wesentlichen Oppositionsparteien sehr wohl bereit, über den Plan von Annan
zu verhandeln. Deshalb findet am 14. Dezember dieses
Jahres gleichzeitig eine Volksabstimmung über den von
UN-Generalsekretär Kofi Annan ausgearbeiteten Grundlagenplan für ein wiedervereinigtes Zypern statt.
Ohne Zweifel wird nach einem EU-Beitritt Zyperns
zum 1. Mai nächsten Jahres eine Aussöhnung schwerer
fallen. Formal wird zwar die gesamte Insel in die EU
aufgenommen; tatsächlich würde aber nur der Süden davon profitieren, der türkische Norden jedoch nicht. Die
Hilfsgelder aus Brüssel würden am hilfsbedürftigen Norden vorbeifließen.
Zudem könnte in diesem Falle die griechisch-zypriotische Regierung in Nikosia in allen EU-Gremien für die
gesamte Insel sprechen.
({0})
Sie könnte ihr Vetorecht also auch dazu nutzen, den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu
blockieren. Die Regierungen der EU-Mitgliedsländer
verwarfen allerdings einen Vorschlag von Günter
Verheugen. Der für die Erweiterung zuständige EUKommissar wollte Ankara zum Nachgeben im Zypernstreit drängen, indem er ein Scheitern der Verhandlungen
als ernsthaftes Hindernis für den von der Türkei angestrebten Beginn der Beitrittsverhandlungen einstufen
wollte. Allerdings stieß er auf erbitterten Widerstand,
insbesondere aus Athen und aus London.
Vor der Wiedervereinigung steht die Wahl in drei Tagen. Wir müssen uns fragen - Günter Gloser hat das zu
Recht angesprochen -, ob die Wahlen nach rechtsstaatlichen Maßstäben durchgeführt werden.
({1})
Selbst wenn am Wahltag korrekt abgestimmt und gezählt
werden sollte, so hat Denktasch bereits im Vorfeld seine
Macht eingesetzt. In diesem Zusammenhang sind in erster Linie die umstrittenen Wählerlisten zu nennen, die
von der Denktasch-Administration großzügig um zugewanderte Türken vom Festland ergänzt worden sind. Es
ist eine wundersame Vermehrung von 120 000 Wahlberechtigten 1998 auf 140 000 Wahlberechtigte zum jetztigen Zeitpunkt zu verzeichnen.
Darüber hinaus muss uns mit Besorgnis erfüllen, dass
in den Kasernen 35 000 türkische Soldaten unter Ausschluss der Öffentlichkeit wählen werden.
({2})
Denktasch hat in den vergangenen Jahren gegenüber
Journalisten unmissverständlich darauf hingewiesen,
dass es in Nordzypern keine sanfte Revolution wie in
Georgien geben werde. Denktasch hat gesagt, man habe
das türkische Armeekorps. Das werde niemals erlauben,
dass so etwas geschehe.
Ich danke der Bundesregierung ausdrücklich dafür,
dass sie sich dieses Themas angenommen hat, und zwar
nicht nur beim Treffen der deutschen und türkischen
Staatssekretäre in Berlin am 6. November, sondern auch
beim Treffen mit Vertretern der Türkei auf EU-Ministerebene in Rom am 11. November. Der türkische Außenminister Gül hat angekündigt, sein Land werde jedes
Wahlergebnis respektieren und mit dem Wahlsieger kooperieren. Inwieweit die Wahlen nach demokratischen
Spielregeln durchgeführt werden, wird deutlich machen,
wie es die Türkei mit der Anwendung der Kopenhagener
Kriterien hält.
Noch kann sich die türkische Regierung offensichtlich nicht entscheiden, welchen Weg sie in der Zypernfrage gehen soll: Einerseits schützt sie Denktasch demonstrativ, andererseits kündigt sie an, dass es vor dem
1. Mai 2004 eine Lösung in der Zypernfrage geben
könne. Diese „Schaukelpolitik“ hat mit dem lange noch
nicht ausgestandenen Machtkampf zwischen der AKP
Erdogans und den alten Eliten der Türkei im Außenministerium und in der Armee zu tun.
Wir fordern hier im Deutschen Bundestag die Türkei
auf, am 14. Dezember in Nordzypern korrekte und
rechtsstaatlich einwandfreie Wahlen sicherzustellen.
({3})
Wir fordern die Türkei außerdem auf, nach der Wahl in
Nordzypern auf der Grundlage des Plans von Kofi
Annan eine neue Initiative zu starten, die das Ziel hat,
dass zum 1. Mai 2004 ein geeintes Zypern in die EU aufgenommen werden kann. Die Türkei ist darüber hinaus
in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass in Nordzypern die Presse- und Informationsfreiheit, aber auch das
Demonstrationsrecht gewahrt werden; Günter Gloser hat
das bereits angesprochen.
Es erfüllt uns mit Sorge, dass kritische Journalisten in
immer stärkerem Maße verfolgt werden. Anfang November wurden fünf Journalisten der Tageszeitung „Kibris“ von Rauf Denktasch wegen Beleidigung der Sicherheitskräfte und des Staates angeklagt. Dies ist ein
weiterer Versuch, Medienvertreter kurz vor den Parlamentswahlen mundtot zu machen. Diese Journalisten haben nichts anderes getan, als über ein symbolisches Referendum der Opposition zu berichten, mit dem der
Annan-Plan unterstützt werden sollte. Ihnen drohen nun
Verfahren vor dem Militärgericht und jahrelange Haftstrafen. Meine Damen, meine Herren, die Türkei ist hier
in der Verantwortung, als Garantiemacht zu wirken.
({4})
Günter Gloser hat von der Idee Europas gesprochen.
Die Idee Europas ist die Zukunft, die Überwindung von
Grenzen, der Abbau von Barrieren, die Versöhnung, der
Ausgleich und das Bekenntnis zu gemeinsamen Werten.
Der europäische Gedanke ist deshalb eine ideale Klammer für beide Inselteile - für den Süden und für den Norden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, daher hoffen wir auf eine weise Entscheidung der nordzypriotischen Wählerinnen und Wähler im Interesse eines wiedervereinigten Zypern in einem
geeinten Europa.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
1. Mai des nächsten Jahres wird ein geteiltes Land Mitglied der Europäischen Union werden. Der nördliche
Teil dieses geteilten Landes ist noch von einem Land besetzt, das einen Kandidatenstatus für den Beitritt zur Europäischen Union hat. Das ist eine unerträgliche Situation und das kann diese Europäische Union nicht wollen
und nicht aushalten.
Deshalb sind wir alle, die wir uns als Europäer fühlen
- aufgrund der historischen Erfahrung in Deutschland
gilt das gerade auch für uns -, natürlich gefordert, alles
Mögliche dafür zu tun und dafür zu kämpfen, dass diese
unerträgliche Situation beseitigt wird. Ich glaube, es ist
ein gutes Zeichen für unsere Verantwortung und die Lehren, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben, dass
diese Debatte im Deutschen Bundestag vor den Wahlen
im Norden Zyperns stattfindet.
({0})
Meine Vorredner haben schon deutlich gemacht - dem
will ich ausdrücklich zustimmen -, dass der Schlüssel für
die Lösung dieses Problems nicht auf Zypern selbst, sondern in Ankara liegt. Das müssen wir unseren Freunden,
die wir auf der Regierungs- und der parlamentarischen
Ebene in der Türkei haben, immer wieder deutlich machen. Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesregierung das
Ihrige dazu beiträgt. Ich glaube, dass man der Türkei
ganz entschieden sagen muss, dass sie alles tun sollte, damit sie ausschließlich Teil der Lösung dieses Problems
wird, wenn sie Mitglied des demokratischen Europas
sein will. Bisher ist die Türkei nicht nur Teil der Lösung,
sondern auch Teil des Problems.
Wir erleben vor den jetzigen Wahlen, dass Denktasch
unterstützt wird. Erdogan hat die Insel besucht. Dieser
Besuch war - vorsichtig ausgedrückt - ambivalent. Vor
kurzem war sein Stellvertreter mehrere Tage lang zu einem Besuch auf der Insel. Das, was dort geschehen ist,
hat mich doch sehr beunruhigt. Dem - in Anführungsstrichen gesprochen - türkischen Teil Zyperns ist von
der türkischen Regierung eine massive finanzielle Unterstützung zugesagt worden. Daneben ist eine massive Unterstützung des Reaktionärs Denktasch durch die türkische Regierung und deren Vertreter offenkundig
geworden. Ich finde, man muss der Türkei sehr deutlich
sagen, dass sie damit keinen Anteil an dem Versuch hat,
dieses Problem zu lösen. Wenn die Türkei so argumentiert und sich auf der Insel so verhält, dann ist sie Teil
des Problems. Die europäischen Länder müssen der Türkei deutlich sagen, dass die Unterstützung eines reaktionären Führers, der sich selber als Führer der türkischen
Volksgruppe bezeichnet, keine Unterstützung ist, die ein
demokratisches, transparentes, offenes Europa leisten
sollte, und dass wir ein solches Verhalten entschieden
kritisieren.
({1})
Wir kritisieren die Misshandlung, die Inhaftierung,
die Unterdrückung von Journalisten durch Denktasch
und seine Verwaltung auf der Insel. Wir kritisieren, dass
Wählerlisten jenseits aller völkerrechtlichen Prinzipien
geführt werden. Unter diesen Bedingungen ist es der Opposition nur sehr schwer möglich, Wahlkampf zu machen und um Unterstützung zu werben.
Ich glaube, unser aller Solidarität gilt der türkischen
Opposition auf Zypern. Ich kann nur sagen: Wir hoffen
sehr, dass die Menschen im Nordteil Zyperns in den
Wahlen deutlich machen, dass sie nach Europa wollen,
dass sie sich, wie sie es jetzt auch mit der Beantragung
von Pässen im Süden der Insel deutlich machen, als Zyprioten, als Bürgerinnen und Bürger der gemeinsamen
Republik Zypern, fühlen. Ich bin sehr dafür, dass wir
diese Akzeptanz der gesamtzypriotischen Staatsbürgerschaft durch die Menschen aus dem Norden unterstützen.
Mein letzter Gedanke: Es ist möglich, dass sich bei
den Wahlen das Fenster in die Richtung öffnet, im Jahre
2004 doch ein geeintes Zypern in die Europäische Union
aufnehmen zu können. Wenn wir nach den Wahlen diese
Chance haben werden, dann sind nicht nur die Vereinten
Nationen gefordert, diese historische Chance zu nutzen,
sondern dann ist stärker als bisher auch die Europäische
Union in der Verantwortung, diesen demokratisch legitimierten Wunsch, zu einer gemeinsamen Republik zu
kommen, zu unterstützen. Wir dürfen der Türkei an dieser Stelle nicht ein ausweichendes oder lahmes Votum
entgegensetzen, sondern wir müssen der Türkei gegenüber massiv deutlich machen: Wir als Europäer wollen
ein geeintes demokratisches Zypern und kein geteiltes
Land als Mitglied der Europäischen Union.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Claudia
Winterstein von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zypern ist für Urlauber ein Traum, für viele
Zyprioten allerdings ein Albtraum. Seit 1974 ist die Insel
geteilt und der Norden von türkischen Truppen besetzt.
Teile der Bevölkerung sind vertrieben worden und können nicht in ihre Heimat zurückkehren. Die Insel ist ein
Konfliktgebiet und das tangiert natürlich auch die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei.
Die Verhandlungen über den Plan von UN-Generalsekretär Annan über die Wiedervereinigung der Insel
mussten im März 2003 leider erfolglos abgebrochen
werden. Grund hierfür war auch die wenig konstruktive
Haltung der türkischen Regierung. So wird am 1. Mai
leider faktisch nur der Süden der Insel der EU beitreten
können, es sei denn, die bestehende politische Blockade
wird noch überwunden.
Hierfür bieten die Wahlen am kommenden Sonntag,
am 14. Dezember, eine hervorragende Chance, denn die
Opposition setzt sich für eine Lösung des Konfliktes auf
Basis des Annan-Planes ein. Gerade die jüngere Generation der türkischen Zyprioten wünscht dies und zeigt es
auch durch Demonstrationen. Sie wollen zu Recht, dass
auch der Norden der Insel der Europäischen Union beitritt. Damit wirkt ohne Zweifel die Europäische Union
hilfreich als Katalysator für die Lösung des Zypernkonflikts. Wichtig ist, dass die EU den Druck auf die Türkei
aufrechterhält, um eine positive Lösung zu erreichen.
({0})
Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zur
Türkei wurde das Thema vor wenigen Wochen noch
einmal auf den Punkt gebracht. Dort heißt es: Kommt es
nicht zu einer Einigung, könnte dies ein ernstliches Hindernis für die EU-Bestrebungen der Türkei bedeuten.
Es darf allerdings in der Türkei zu keinen Missverständnissen kommen. Einerseits sind ohne vorherige Lösung des Zypernkonfliktes Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei aus meiner Sicht politisch kaum vorstellbar.
Andererseits darf aber bei der Türkei nicht der Eindruck
entstehen, dass die Lösung des Zypernkonfliktes ausreicht, damit EU-Beitrittsverhandlungen aufgenommen
werden. Die vollständige Erfüllung aller Kopenhagener
Kriterien ist und bleibt hierfür Voraussetzung.
({1})
Vergessen wir nicht: Wenn der Europäische Rat im
Jahr 2004 oder auch später einstimmig - man bedenke:
einstimmig - über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu entscheiden hat, dann sitzt
nämlich auch Zypern als EU-Mitglied mit am Tisch und
wird mit entscheiden. Insofern ist für die Lösung des Zypernkonfliktes die konstruktive Zusammenarbeit aller
Beteiligten notwendig. Ich hoffe deshalb, dass sowohl
aufseiten der Türkei wie aufseiten aller Zyprioten Bereitschaft besteht, nach der Wahl am Sonntag neue Vorschläge zu unterbreiten.
Wir brauchen Bewegung in der Sache, sonst tritt nämlich am 1. Mai 2004 die hoch problematische Situation
ein, dass die Türkei Truppen auf dem Staatsgebiet eines
EU-Mitgliedstaates stationiert hat. Das kann ja wohl
nicht richtig sein. Ich sage deswegen ganz deutlich: Bei
aller Anerkennung für die bereits geleisteten Reformanstrengungen muss sich die Türkei bewegen, und zwar
weg von Zypern.
({2})
Das Wort hat der Kollege Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zypern ist auf dem Sprung in die Europäische Union. Damit finden die Assoziierung Zyperns mit der EG von
1972 und der Beitrittsantrag Zyperns von 1990 ihren
krönenden Abschluss.
Der Süden der Republik Zypern ist gut auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union vorbereitet: wirtschaftlich prosperierend, ein Wirtschaftswachstum von
2 Prozent - darauf kann die Bundesregierung nur neidvoll schauen -, eine Arbeitslosenquote von 3,9 Prozent,
nach einer großen Steuerreform einheitliche Unternehmensteuersätze von 10 Prozent und Einkommensteuersätze von 20 Prozent, 30 Prozent und 35 Prozent. Dieses
Land ist spannend. Da ist etwas los. Zypern bleibt für
Finanzdienstleistungen nicht zuletzt aufgrund der attraktiven Steuergesetzgebung ein interessanter Standort.
({0})
Aber in Zypern gibt es ein großes Problem. Das ist die
große Mauer, die mitten durch dieses schöne Land
Zypern verläuft. Seit 1974 ist das Land zweigeteilt. Als
der damalige Staatspräsident Makarios weggeputscht
wurde, fand eine Invasion der türkischen Armee statt und
die faktische Teilung Zyperns begann. Rauf Denktasch,
von dem wir gerade schon gehört haben, hat einseitig die
Türkische Republik Nordzypern ausgerufen, die von
keinem Staat der Welt außer der Türkei anerkannt wird.
Die Vereinten Nationen haben den Vorgang scharf missbilligt.
Denktasch hat mehr als 100 000 Siedler vom anatolischen Festland nach Nordzypern geholt. Inzwischen haben Zehntausende Zyperntürken die Insel verlassen und
sind überwiegend nach Großbritannien ausgewandert.
Die türkischen Zyprer sind mittlerweile im eigenen Staat
zur Minderheit geworden. Rund 90 000 Zyperntürken
stehen etwa 110 000 Siedlern vom türkischen Festland
gegenüber. Gleichzeitig halten Zehntausende türkische
Soldaten den Norden Zyperns besetzt. Das ist die bittere
Realität, mit der wir es angeblich so friedliebenden Türkei in Europa zu tun haben.
Die Situation ist grotesk. Vor wenigen Wochen konnten sich verschiedene Bundestagsabgeordnete im Norden und im Süden Zyperns informieren. Es ist vorbildlich, wie die UNO die Greenline, die Demarkationslinie
zwischen Süden und Norden, mit 1 200 Soldaten bewacht, im Westen von Argentinien geleitet, im Mittelabschnitt von Großbritannien und im Osten von Ungarn
und der Slowakei. So macht die UNO ihre Arbeit. Eine
Polizeieinheit von 400 Männern aus Australien und
Irland macht ihren Dienst. Aufgabe dieser Militärs ist es
nur, den Status quo aufrechtzuerhalten und Gebietsveränderungen zu verhindern.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle einen sehr herzlichen Dank an die vielen Soldaten aus den unterschiedlichsten Ländern dieser Welt richten, die im Rahmen der
UNO in Zypern ihren friedenserhaltenden Dienst geleistet haben und in vorbildlicher Art und Weise als Militärs
zur Friedenserhaltung beitragen.
({1})
Wer die Demarkationslinie zusammen mit den UNOSoldaten entlangläuft, mitten in der Altstadt von Nikosia, über strittiges Gelände, über Dächer, Straßen und
Ruinen geht, der fühlt sich schon beim Anblick der verfallenden Häuser unweigerlich an die Zeit unmittelbar
nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Nur sind wir nicht
mehr im Jahr 1946, nein, wir sind im Jahre 2003 und die
Besatzungsmacht Türkei hat offensichtlich nichts gelernt.
Gespannt schauen wir auf die Parlamentswahlen am
14. Dezember. Wir hoffen, dass wir gute Ergebnisse bekommen, und wir hoffen, dass die Manipulation von
Denktasch das Wahlergebnis nicht verändern kann. Wir
hoffen, dass der Annan-Plan Grundlage der Vereinigung
wird, der einen bizonalen föderalen Staat mit einer
Staatsbürgerschaft und einer Regierung vorsieht, in dem
keine Seite die andere übervorteilen kann. Dieser
Annan-Plan kann die Grundlage für eine Vereinigung
und eine gemeinsame Zukunft Zyperns sein. Er verdient
Vertrauen.
({2})
Wir begrüßen die Öffnung der Demarkationslinie.
Hunderttausende sind von Süd nach Nord und von Nord
nach Süd gegangen. Es hat keine Zwischenfälle gegeben. Das zeigt, Griechen und Türken können friedlich
zusammenleben. Beeindruckend sind die vielen Initiativen der Zivilgesellschaft im Norden, aber auch im Süden Zyperns, die das Kennenlernen, die gemeinsamen
Initiativen und den vernünftigen Austausch der beiden
Volksgruppen tatkräftig unterstützen.
Auch unser Goethe-Zentrum - dessen Finanzierung
die rot-grüne Bundesregierung leider erheblich verschlechtert hat, leistet wertvolle Arbeit, wovon wir uns
vor Ort überzeugen konnten. Mitten in der Pufferzone
von Nikosia zwischen Nord- und Südzypern ist das
Goethe-Zentrum eine wichtige Anlaufstelle und Brücke
für die Gutwilligen aus beiden Landesteilen geworden.
Diese Initiative muss ausgebaut und nicht abgebaut werden. Das ist konkrete Außenpolitik mit friedensförderndem Charakter.
({3})
Herr Kollege Rachel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ganz Zypern gehört zu Europa. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Eine fortbestehende Teilung Zyperns mit Stacheldrahtzäunen und UNO-Soldaten können und dürfen wir Europäer und Deutsche nicht
hinnehmen. Dies sollte die Ausrichtung unserer gemeinsamen deutschen Außenpolitik sein.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Renate Blank, Gerhard
Wächter, Dirk Fischer ({1}), weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Interessen des deutschen Verkehrsgewerbes
wirksam erhalten und sichern - Chancen zur
Förderung des deutschen Transportgewerbes
national und international ergreifen
- Drucksachen 15/926, 15/1398 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({2}), Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fairer Wettbewerb für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe
- Drucksache 15/1592 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
Dreiviertelstunde für diese Debatte vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner der Kollege Uwe Beckmeyer von der SPD-Fraktion.
({4})
Sie haben neun Minuten, aber Sie müssen sie nicht ausschöpfen.
({5})
Herr Vorsitzender, halten Sie sich zurück. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bekanntlich ist Verkehrspolitik Wirtschaftspolitik. Hier
setzt die Bundesregierung erkennbar Prioritäten.
({0})
Handel und Gewerbe sind in einer arbeitsteiligen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft existenziell darauf
angewiesen, dass Halb- und Fertigwaren punktgenau ihr
Ziel erreichen. Gerade dann, wenn unsere deutschen Unternehmen für die Internationalisierung der Märkte fit
sein wollen, ist dies entscheidend.
Im Jahre 2002 wurden 2,9 Milliarden Tonnen Güter
auf der Straße transportiert; im Jahre 2015 sollen es
70 Prozent mehr sein. Mobilität und Logistik sind
Schlüsselthemen; Investitionen in die radiale Binnenerschließung unserer deutschen Verkehrsinfrastruktur sind
mindestens so wichtig wie die hier im Hause oft so hoch
gehandelte Ordnungspolitik, wenn nicht wichtiger.
50 Prozent unserer Exporte gehen nach Europa,
50 Prozent unserer Exporte werden überseeisch verbracht, davon allein 95 Prozent über unsere Seehäfen.
Sie sind für Deutschland im Standortwettbewerb ebenso
entscheidend wie für das Wachstum unserer Wirtschaft
und damit auch für die Wohlfahrt unserer Menschen.
Ohne leistungsfähige Verkehrsadern werden wir die
positiven Impulse des europäischen Binnenmarktes und
der Osterweiterung in Deutschland nicht in angemessenem Umfang erleben. Zu nennen sind aber auch die Produktions-, Beschäftigungs- und Einkommenseffekte, die
in der Bauwirtschaft und in den vor- und nachgelagerten
Wirtschaftszweigen entstehen. Die Verkehrserschließung ist also ein gewichtiger wirtschaftspolitischer
Standortfaktor, der die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, Regionen und Staaten stark beeinflussen kann.
Außerdem sind Mobilität und Logistik Wachstumsfelder
par excellence. Sie gehören gepflegt und ausgebaut; hier
sehe ich unsere Verantwortung. Ich betone dies vor allem mit Blick auf den aktuell tagenden Vermittlungsausschuss, der uns auf diesem Felde hoffentlich nicht so
stark einschränken wird, wie man es zum Teil befürchten
musste.
Notwendig ist eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur in den Bereichen Straße, Schiene, Wasser und
Luft, die die einzelnen Verkehrsträger sinnvoll miteinander verknüpft und auch die zukünftigen Mobilitätsbedürfnisse so effizient und umweltschonend wie möglich
abdeckt. Mehr als doppelt so viele Schwerlaster wie bisher werden sich nach den Prognosen über unsere Straßen
wälzen. Als Transitland ist Deutschland besonders berührt; wir wissen dies.
Doch wenn sich Union und FDP heute - vor geraumer Zeit haben wir dies auch im Ausschuss diskutiert als Hüter der Interessen des deutschen Verkehrsgewerbes darstellen wollen, sollten wir eines nicht vergessen:
Es war die Kohl-Regierung, die einer Liberalisierung
der europäischen Verkehrsmärkte und insbesondere
der Öffnung der osteuropäischen Märkte zugestimmt
hat, ohne für eine vorherige Harmonisierung zu sorgen.
({1})
Die Folgen: Den deutschen Spediteuren bläst der Wind
des Wettbewerbs kräftig ins Gesicht; denn im Osten
fährt die Konkurrenz zu Dumpingpreisen und im Westen
konnten die Mitbewerber bisher auf Subventionen ihrer
Heimatländer zählen.
({2})
Wir haben uns nach den Beratungen über die Maut
im Verkehrsausschuss energisch daran gemacht, das
deutsche Transportgewerbe mit einem Bündel von Maßnahmen zu entlasten. Nach unserem gemeinsamen Willen sollen in die Kassen der Unternehmen pro Jahr rund
600 Millionen Euro zurückfließen. So ist geplant, die
beschlossene Maut auf die Zahlung der deutschen Mineralölsteuer anzurechnen, was eine Entlastung der Transportunternehmen in Höhe von einigen Hundert Millionen Euro erwarten lässt.
({3})
Minister Stolpe wird - so denke ich nach seiner Erklärung im Ausschuss - alles tun, um die Europäische
Kommission davon zu überzeugen, dass diese Harmonisierungsmaßnahme vollständig mit dem EU-Recht vereinbar ist. Dabei muss aber eines ganz klar gesagt werden: Die Maut an sich wird von Brüssel nicht infrage
gestellt; denn die Idee ist überzeugend: Lastwagen schädigen die Straßen wesentlich stärker als PKWs. Mit der
Abgabe sollen ihnen die Wegekosten gerechter angelastet werden.
Nun gibt es die eine und andere Beschwerde aus dem
Gewerbe, die besagt, die Spediteure müssten für die
Straßenbenutzung zweimal zahlen, durch Maut und Mineralölsteuer. Dies geht am Sachverhalt vorbei. Auch
von „moderner Wegelagerei“, wie zu lesen ist, kann
keine Rede sein. Die Bundesregierung setzt vielmehr auf
einen Kreislauf der Mittel. Dies unterstützen wir, die
Koalitionsfraktionen, nachdrücklich. Die Einnahmen aus
der Maut sollen, wenn sie denn fließen, vor allem den
Verkehrswegen zugute kommen. Insbesondere für die
Erhaltung und den weiteren Ausbau der Bundesfernstraßen sind diese Mittel dringend erforderlich.
({4})
Zudem plant die Bundesregierung die Fortsetzung
des Anti-Stau-Programms.
({5})
- Wir müssen in der Tat aufpassen, dass die erforderlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Sie haben
völlig Recht, Frau Blank.
Man muss sich einmal klar machen, dass auf deutschen Autobahnen und Straßen täglich mehr als
30 Millionen Liter Kraftstoff im Stau verpuffen. Durch
die geplanten Maßnahmen wird das Transportgewerbe
unmittelbar profitieren.
Wir haben im Ausschuss über die eine oder andere
aktuelle Erfahrung im Zusammenhang mit der Maut und
dem Betreiberkonsortium Toll Collect diskutiert. Entscheidend ist, dass wir von Toll Collect endlich eine
klare Aussage bekommen - darin sind wir im Hause
wohl alle einig -: Können die Damen und Herren von
Toll Collect ein solches System aufbauen oder nicht?
Wenn sie es können, müssen sie uns verbindlich angeben, zu welchem Termin das möglich ist. Verbindlich
heißt für mich auch, dass ein erneuter Vertragsbruch
nicht ohne gravierende finanzielle Konsequenzen bleiben darf.
Ich will an dieser Stelle nicht über einen totalen Systemcrash, vielleicht im Mai nächsten Jahres, spekulieren. In einem solchen Fall wären die finanziellen Konsequenzen für das Betreiberkonsortium noch viel stärker
zu spüren. Gleichwohl müssen wir alles Mögliche tun
und notfalls auch über Alternativen nachdenken. Diese
sind im Ausschuss bereits angesprochen worden; ich
will sie an dieser Stelle nicht wiederholen.
Ich möchte noch etwas zu Ihren Anträgen anmerken.
Die gestellten Anträge sind zumindest geeignet, ein
durchaus wichtiges Thema zu diskutieren. Insofern begrüße ich sie, weil sie uns die Möglichkeit geben, die
Verkehrspolitik in den Fokus des politischen Betrachters
zu stellen. Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Verkehrspolitik muss in Deutschland wieder zu einem AThema in der Wirtschaftspolitik werden. Ich habe den
Eindruck, dass die Verkehrspolitik in allen politischen
Lagern etwas hintangestellt worden ist. Ich denke, wir
haben allen Grund, uns dagegen zu stemmen und deutlich zu machen, dass wir mit der Verkehrs- und InfraUwe Beckmeyer
strukturpolitik mehr für die nationale Ökonomie erreichen können.
An Ihrem Antrag stört uns, dass Sie ihn um des vermeintlichen kleinen politischen Vorteils willen
({6})
in dieser Form erneut diskutieren. Ich glaube, das lenkt
von Verantwortlichkeiten ab. Insofern regiert hier sozusagen das kleine Karo.
({7})
Die Bundesregierung hat sich bereits in der Vergangenheit vehement dafür eingesetzt, das deutsche Transportgewerbe sowohl national als auch international zu
fördern. Es bedarf nicht der Aufforderung durch die vorliegenden Initiativen der Opposition. Man erkennt die
Absicht und ist verstimmt. Daher lehnen wir die Anträge
von CDU/CSU und FDP ab.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Beckmeyer, ich glaube nicht, dass Sie in der rotgrünen Verkehrspolitik Zeichen setzen; vielmehr betätigen Sie sich als Totengräber des deutschen Transportgewerbes.
({0})
Das ist, glaube ich, treffender ausgedrückt.
Wir alle wissen doch: Der LKW ist und bleibt das
Verkehrsmittel Nummer eins im Gütertransport; schon
aufgrund der immer kleinteiliger werdenden Mengen im
Gütertransport wird dies auch in Zukunft der Fall sein.
Unabhängig von ideologischen Wunschvorstellungen
trägt die Straße jetzt und auch in Zukunft die Hauptlast
des Güter- und Personenverkehrs. Sie sollten auch zur
Kenntnis nehmen, dass derzeit rund 70 Prozent des Güterverkehrs durch den Verkehrsträger Straße geleistet
werden. Etwa 80 Prozent des Güteraufkommens werden
nur in einem Entfernungsbereich von bis zu 100 km auf
der Straße transportiert. Auf derart kurzen Strecken ist
die Bahn weder wirtschaftlich noch ökologisch eine Alternative zur Straße. Diese Meinung vertritt übrigens
auch Bahnchef Mehdorn. Selbst wenn die Bundesregierung ihr Ziel erreichen würde, den Güterverkehr auf der
Schiene bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln, müsste die
Straße noch immer den größeren Anteil leisten. Dass
dieses Ziel der Bundesregierung ohnehin unrealistisch
ist, steht auf einem anderen Blatt.
Die Bundesregierung steht aber in der Pflicht, ihre
Zusagen zur Unterstützung des deutschen Transportgewerbes einzuhalten, damit es national und international
wettbewerbsfähig bleibt. Leider sind durch die Kompromisse der Bundesregierung zulasten des deutschen
Transportgewerbes auf internationaler Ebene und durch
falsche Entscheidungen in der deutschen Wirtschaftsund Finanzpolitik deutsche Speditionen in alarmierender
Weise geschädigt worden. Allein durch die so genannte
Ökosteuer haben seit ihrer Einführung 20 000 Menschen ihre Arbeitsplätze im deutschen Transportgewerbe
verloren. Das deutsche Transportgewerbe ist zudem
durch die Zustimmung der Bundesregierung zur Fortführung der wettbewerbsverzerrenden Subventionierung
von Dieselkraftstoffen in Italien und Frankreich bis Ende
2004 geschädigt worden. Sie haben dem im Ausschuss
fröhlich zugestimmt. Vielleicht erinnern Sie sich noch an
folgende Aussage des ehemaligen Verkehrsministers
Bodewig:
Sie können sich darauf verlassen - laufen die Subventionen nicht aus, dann laufen sie bei uns eben
an.
Ja, wo laufen sie denn, die Subventionen bei uns?
Der ungebremste Anstieg der Insolvenzen von mittelständischen Transport- und Speditionsunternehmen ist
ein Alarmsignal. Statt den Unternehmen ständig weitere
Kostenbelastungen aufzubürden, müssen vor allen Dingen die Harmonisierungsdefizite abgebaut und die heimischen Spediteure entlastet werden. Geschieht dies
nicht, ist die Konsequenz ein weiterer dramatischer Verlust von Arbeitsplätzen. Denn es wird nicht weniger auf
deutschen Straßen transportiert werden; nur die Zahl der
LKWs mit deutschen Kennzeichen wird sich drastisch
verringern. Ich glaube, das ist auch nicht im Sinne des
Finanzministers.
({1})
Während das Güterverkehrsaufkommen deutscher
LKWs auf deutschen Straßen im vergangenen Jahr um
5,7 Prozent sank, haben die ausländischen Konkurrenten
im deutschen Binnenverkehr ein Plus von 8,8 Prozent erzielen können. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den
erbrachten Transportleistungen. Die deutschen Unternehmen weisen ein Minus von 1,7 Prozent auf, während
die ausländischen Wettbewerber ein Plus von
0,8 Prozent im grenzüberschreitenden Verkehr und - hören Sie gut zu - ein Plus von 12,6 Prozent bei der Kabotage zu verzeichnen haben. Wie lange will die Bundesregierung dieser offensichtlichen Marktverdrängung
heimischer Transportunternehmen, verschuldet durch
die ausbleibende Harmonisierung des europäischen
Wettbewerbs, eigentlich noch tatenlos zusehen? Wenn
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, allerdings keinen Wert mehr auf Arbeitsplätze im
deutschen mittelständischen Verkehrsgewerbe legen,
dann sollten Sie in Ihren Sonntagsreden auch nicht von
Mobilitätsoffensiven oder Logistikketten mit dem Ziel
der Stärkung des deutschen Verkehrsgewerbes reden.
Das nämlich ist Heuchelei.
Das deutsche Verkehrsgewerbe hat schon längst jedes
Vertrauen in die verkehrspolitischen Zusagen der rotgrünen Bundesregierung verloren. Bestes Beispiel ist
das aktuelle Mautdebakel. Ich erinnere Sie auch noch
daran, dass Sie in der gestrigen Ausschusssitzung unserem Antrag zum LKW-Sonntagsfahrverbot zuerst nicht
zustimmen wollten, obwohl Sie doch der gleichen Meinung wie wir sind. Was ist so schlimm daran, einem vernünftigen Antrag von uns zuzustimmen? Wir tun dies
doch auch, wenn Sie uns einen guten Antrag vorlegen.
Aber es kommt natürlich nur ganz selten vor, dass Sie einen guten Antrag vorlegen.
({2})
- Mir scheint, dass ich ein bisschen den Nerv getroffen
habe.
Wir alle wollten doch, dass die Bundesregierung innerhalb Europas das bei uns geltende Sonn- und Feiertagsfahrverbot für schwere LKWs verteidigt und dass
sie sich nach dem Ausscheren Italiens Verbündete sucht.
Zum Glück ist uns nun Luxemburg beigetreten. Wir wissen aber auch - deshalb haben wir unseren Antrag gestellt -, dass beim Wechsel der Präsidentschaft das
Thema immer wieder auf die Tagesordnung kommen
kann. Die entsprechende EU-Richtlinie liegt doch seit
fünf Jahren auf dem Tisch und wird nach der EU-Osterweiterung garantiert wieder aufgegriffen werden; denn
Deutschland ist in Europa das Transitland Nummer eins.
Es besteht zudem die Gefahr, dass unser Sonn- und Feiertagsfahrverbot durch ein vereinfachtes Verwaltungsverfahren gekippt wird. Aus all diesen Gründen haben
wir unseren Antrag formuliert, um der Bundesregierung
unsere Unterstützung zu geben.
({3})
Sie haben im Ausschuss gerade noch so die Kurve gekriegt.
Ich komme nun zur unendlichen Geschichte der
LKW-Maut, auch wenn mir „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende um einiges lieber ist. Dem
Bericht, den der Verkehrsminister im Ausschuss gestern
vorgetragen hat, lag doch eine Verschleierungstaktik zugrunde. Minister Stolpe hat wieder nur geredet,
({4})
aber inhaltlich nichts gesagt. Eigentlich hat das Parlament doch das Recht, zu erfahren, wie es nach dem
15. Dezember weitergehen soll und wie sich die Bundesregierung verhalten will.
({5})
Es ist immer das gleiche Spiel: Der Minister plaudert in
jovialer Unverbindlichkeit über die Maut, statt klare und
verbindliche Aussagen zu machen.
({6})
Eine Aussage hat er allerdings gemacht: Er sprach
von einem „dürftigen Vertrag“. In der Ausschreibung
war von einem Schadenersatz in Höhe von 9,3 Millionen
Euro pro Tag die Rede. Wer rechnen kann, weiß, wie viel
das ist: etwa 280 Millionen Euro pro Monat. Im geltenden Vertrag mit Toll Collect ist dagegen nur ein Schadenersatz von 250 000 Euro bzw. - später - von 500 000
Euro pro Tag festgelegt. Das sind etwa
7,5 Millionen Euro bzw. 15 Millionen Euro pro Monat.
Wenn der Minister angesichts dessen von einem „dürftigen Vertrag“ spricht, dann hat er allerdings Recht; wo er
Recht hat, hat er Recht.
({7})
Er hat auch keinen Zeitpunkt für den Beginn des Systems genannt. Wahrscheinlich wird das ganze Jahr 2004
mautfrei bleiben.
({8})
Das hat Einnahmeausfälle von weit mehr als
2 Milliarden Euro zur Folge. Der Minister hat schon
Baumaßnahmen bei Straßen, Schienen und Wasserwegen gestrichen. Allerdings hat er noch im September gesagt, dass es bei den Verkehrsinvestitionen keine Einschränkungen gebe. Auch sein Staatssekretär Nagel hat
noch Mitte November auf einer Logistiktagung bekräftigt, dass trotz des Mautdebakels kein Verkehrsprojekt
verschoben werde. In der Bundesregierung scheint man
Mitte November irgendwie noch geträumt zu haben.
Der Minister erklärte uns gestern, dass für die Infrastruktur 10 bis 11 Milliarden Euro pro Jahr vonnöten
sind. Er hat vor längerer Zeit einmal auch gesagt, dass er
Kredite aufnehmen möchte. Gestern musste er einräumen, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft überhaupt keinen Kredit aufnehmen kann; der
einzige Ausweg sei eine Änderung der Rechtslage, die
bewirke, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft nicht nur einer Organisationsreform, sondern
auch einer echten Aufgabenreform unterzogen werde.
Jetzt kommt das Tollste: Wie einem Bericht vom heutigen Tage zu entnehmen ist, hat er mit Österreich, mit
Italien und mit der Schweiz Verhandlungen über eine auf
Mikrowellen basierende Technologie aufgenommen.
Mittlerweile beklagt man sich darüber, dass auch dieses
System nicht richtig läuft. Ich bin gespannt, was der Minister macht, wenn sich das als wahr herausstellt.
Frau Kollegin Blank, kommen Sie bitte zum Schluss.
Im Übrigen ist noch nicht geklärt, wer die fehlerhaften OBUs bezahlt.
Ich komme zum Schluss. In Deutschland werden im
Zuge der EU-Osterweiterung Arbeitsplätze verloren gehen, da aufgrund der niedrigeren Kosten im Ausland
„ausgeflaggt“ wird. Auf unseren Straßen fährt also kein
einziger LKW weniger; vielmehr werden dort dieselben
LKWs fahren, allerdings mit einem anderen Kennzeichen.
({0})
So, jetzt kommen Sie aber bitte wirklich zum Schluss.
Wir brauchen als Verkehrsminister einen Macher und
keinen Moderator. Handeln ist angesagt!
({0})
Das Wort hat der Kollege Albert Schmidt vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beklagen heute einmal mehr die Folgen einer falschen
und einseitigen Verkehrspolitik in Europa, was den
Schwerlastverkehr der letzten Jahre anbetrifft, nämlich
eine Liberalisierung ohne eine gleichzeitige Harmonisierung. Das ist der Kern dessen, worum es seit Jahren geht.
Der Kollege Uwe Beckmeyer hat zu Recht gesagt: Die
Architektur dieser verfehlten, weil asynchronen Politik
wurde entwickelt, lange bevor Rot-Grün in Bonn mit der
Regierungsarbeit begonnen hat.
Das Problem im Straßengüterverkehr ist doch nicht
der mangelnde Erfolg der Branche.
({0})
Der Lkw-Verkehr an sich boomt seit Jahren in Europa
und in Deutschland ganz besonders.
({1})
Das Problem ist der ruinöse Wettbewerb zwischen den
Unternehmen.
({2})
Das hat damit zu tun, dass es in der Tat eine gnadenlose
Liberalisierung gab, ohne dass vorher die einschlägigen
Harmonisierungsschritte beschlossen, eingeleitet und
umgesetzt worden sind. Das ist das Problem, vor dem
wir heute stehen. Deshalb kann das in Deutschland eben
auch nicht im nationalen Alleingang gelöst werden.
({3})
Allerdings, Frau Kollegin Blank, wird dieser Prozess unsere gemeinsamen Anstrengungen - wie dies schon seit
Jahr und Tag der Fall ist - auch in Zukunft herausfordern.
({4})
Frau Kollegin Blank, Sie haben Tatenlosigkeit beklagt. Die Taten einer Regierung bemessen sich nicht an
der Zahl der verabschiedeten Anträge. Sie haben als Beispiel auf den Antrag zum Sonntagsfahrverbot hingewiesen.
({5})
Der Erfolg in puncto Sonntagsfahrverbot auf Deutschlands Straßen für schwere LKW beruht nicht auf der
Verabschiedung des Antrags gestern im Verkehrsausschuss, sondern darauf, dass der Verkehrsminister bei
den einschlägigen Verhandlungen in Brüssel Gott sei
Dank eine ausreichende Sperrminorität zustande gebracht hat, um die Aufweichung des Sonntagsfahrverbots abzuwenden. Das und nicht die Verabschiedung eines Papiers im Ausschuss hat den Erfolg gebracht.
({6})
„Tatenlosigkeit“ ist auch deshalb ein unangebrachtes
Wort, weil - ich will Sie wenigstens in Stichworten daran erinnern - diese Regierung natürlich eine ganze
Fülle von einzelnen Regelungen im Sinne des Güterkraftverkehrsgewerbes nicht nur auf den Weg gebracht,
sondern auch umgesetzt hat. Ich darf an die Steuerreform 2000 erinnern, die - wenn man ehrlich ist, muss
man das einräumen, auch als Mittelständler - selbstverständlich eine erhebliche Steuerentlastung für das mittelständische Gewerbe gebracht hat.
({7})
Ich darf an den erfolgreichen Einsatz für die Verordnung
über die Einführung einheitlicher Fahrerbescheinigungen erinnern,
({8})
die natürlich darauf abzielt, illegale Beschäftigung im
Güterkraftverkehr zu bekämpfen. Ich darf an das Gesetz
zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr im Vorgriff auf die Umsetzung
der Richtlinie erinnern. Ich darf auch an die Umsetzung
der Richtlinie zur verstärkten Unterwegskontrolle von
Nutzfahrzeugen erinnern, die das Ziel hat, bestimmte
technische Vorschriften, insbesondere was Bremsanlagen und Emissionen anbetrifft, schärfer und wirksamer
zu kontrollieren, um das Billigfahren um jeden Preis, sei
es auch zulasten der Umwelt und der Sicherheit, zu vermeiden. Das alles sind konkrete Schritte und Maßnahmen.
Ich füge aber hinzu: Das reicht natürlich nicht aus.
Das Grundziel der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im europäischen Vergleich bleibt bestehen.
Es bleibt eine Herausforderung für uns alle. Es wäre also
Albert Schmidt ({9})
vermessen, zu sagen, hier sei man schon am Ziel oder
man habe schon mehr erreicht als andere.
Für meine Fraktion möchte ich eines ganz klar ablehnen. Harmonisierung kann für uns nicht heißen: Subventionswettlauf - ich spreche jetzt ganz gezielt den
Punkt Dieselbesteuerung an ({10})
nach dem Motto: Wer bezahlt seinem nationalen Gewerbe am meisten Subventionen im Rahmen der Dieselbesteuerung? Das bedeutet eine Abwärtsspirale zulasten
der Staatshaushalte.
({11})
Das führt zu gar nichts. Der gegenteilige Weg ist richtig,
Frau Kollegin Blank, nämlich die Erhöhung des europäischen Mindeststeuersatzes.
({12})
Die Richtlinie, die am 1. Januar 2004 in Kraft treten
wird, wird einen ersten Erhöhungsschritt bringen.
Darüber hinaus wurde im Ecofin beschlossen, die ärgerlichen Subventionen - Frankreich und Italien sind
hierbei konkret anzusprechen - zu halbieren. Damit können wir noch nicht zufrieden sein, aber das ist ein erster
Schritt.
({13})
Im Rahmen einer großen Gemeinschaft von Mitgliedstaaten mit vielfältigsten Interessen und vielfältigsten
historischen Hintergründen ist ein Fortschritt auf diesem
schwierigen Feld - das wissen Sie doch, Frau Kollegin nur schrittweise und mühsam zu erreichen.
Auch beim Thema Maut spielt natürlich die Harmonisierung eine Rolle.
({14})
Die Einführung einer streckenbezogenen Maut in
Deutschland, so sie denn endlich kommt,
({15})
ist selbst ein Schritt zur Harmonisierung; denn sie bedeutet, dass zum ersten Mal ausländische Spediteure auf
dem deutschen Straßennetz in nennenswertem Umfang
zur Kasse gebeten werden. Umso ärgerlicher ist es, Frau
Kollegin, dass sich das weiter verzögert. Sie können
noch so viele Zwischenrufe machen: Die Ursache dafür
- das wissen Sie so gut wie ich und wie jeder im Land ist einfach, dass die Technik nicht funktioniert; da kann
der Minister heißen, wie er will, und da können wir auch
Anträge beschließen, wie wir wollen.
Wir wollen deshalb am Wochenende keine Versprechungen vonseiten des Konsortiums hören, sondern wir
brauchen klare Ansagen,
({16})
konkrete und mit substanziellen Strafen bewehrte Garantien im Hinblick auf den Starttermin und auf den Projektplan und darüber hinaus konkrete Ansagen bezüglich
des Ausgleichs für bereits entstandene wirtschaftliche
Schäden. Nur unter diesen Voraussetzungen macht es
Sinn, mit diesem Konsortium weiter zusammenzuarbeiten.
In diesem Sinne freue ich mich auf ein spannendes
Wochenende.
({17})
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich von der
FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es handelte sich ja um nichts anderes als um
ein Weihnachtsmärchen, als Vertreter der Koalition sagten, man habe alles getan, um dem deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe die Situation zu erleichtern, und an der
jetzigen Lage sei die Regierung schuld, die bis 1998 regierte. Man blendet dabei offensichtlich aus, dass die damalige von CDU/CSU und FDP getragene Regierung
1992 letztmalig Steuersenkungen für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe beschlossen hat. Nach einem
Ecofin-Beschluss ist nämlich die Kfz-Steuer für deutsche LKW seinerzeit letztmalig reduziert worden, von
10 500 DM auf 3 000 DM, im Übrigen gegen Ihre Stimmen.
({0})
Sie aber haben noch nicht einmal das Kreuz, das umzusetzen, was die EU möglich macht, nämlich eine Reduzierung der Mindestbesteuerung von 3 000 DM auf
1 900 DM. Sie hatten schon mehrfach dazu Gelegenheit,
das zu machen, zum Beispiel anlässlich der drei von uns
gestellten Anträge in der letzten Legislaturperiode.
Nun lesen wir mit großem Erstaunen im Protokoll
vom Vermittlungsausschuss vom 17. Mai, dass bezüglich der Maut vereinbart wurde, parallel zum Mineralölsteuererstattungsverfahren in Deutschland ein Kfz-Steueranrechnungsverfahren einzuleiten,
({1})
und die Bundesregierung sich verpflichtet, unverzüglich
die EU-Kommission bezüglich dieser Beihilfe zu kontaktieren. Ich frage mich da nur: Wo liegt denn der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Absenkung der
Kfz-Steuer für schwere LKW?
({2})
Horst Friedrich ({3})
Sie könnten also Ihren Worten schon lange Taten folgen
lassen, wenn Sie das umsetzen würden, was Sie selbst in
Verhandlungen zugesagt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Uwe Beckmeyer [SPD]: Die Maut ist noch
nicht da!
- Bei der Maut, Herr Kollege Beckmeyer, lasse ich jetzt
einmal das ganze Verfahren außen vor.
Zu einem Vertrag gehören immer zwei Seiten. In diesem Fall gibt es einen, der sich nicht an die Vertragsinhalte hält, und einen, der sich das gefallen lässt. Sie haben allerdings mit dem, was Sie sich da leisten und sich
bieten lassen, noch etwas erreicht, worüber kaum geredet wird. Die deutschen Transportunternehmer, die es
2003 geschafft hatten, die Kosten für die Maut auf ihre
Auftraggeber umzulegen, mussten dieses damit erkaufen, dass sie real keine größeren Einnahmen erzielten.
Jetzt aber kommen die ersten Rückforderungen von Verladern, die die Preissteigerungen für nicht gerechtfertigt
halten, weil die Maut nicht zu zahlen sei. Das Problem
ist nun, dass sich auch im Jahre 2004 notwendige Preiserhöhungen nicht durchsetzen lassen, weil die verladende Wirtschaft erst einmal abwarten wird, bis die
Maut kommt. Im Ergebnis ist nun das deutsche Gewerbe, das nicht einmal die Chance hat, weitere Preiserhöhung durchzusetzen, gleichzeitig von weiteren Erhöhungsschritten infolge Ihrer Politik betroffen.
Sie haben uns eben vorgeworfen, wir hätten die Branche im Regen stehen gelassen. Ich kann mich an fünf
Ökosteuerstufen seit 1998 erinnern, die nicht ausgeglichen worden sind.
({4})
Ihre Aussage, infolge der Ökosteuer seien die Sozialkosten im Transportbereich gesunken, ist doch schlicht nicht
wahr. Man kann bestenfalls davon ausgehen, dass
10 Prozent der Gesamtbelastung durch die Ökosteuer
kompensiert wurden. Insgesamt haben Sie die Arbeitskosten erhöht und nicht gesenkt. Sie haben mit Ihren
Vorschriften und durch das jetzige Debakel nur erreicht,
dass das Bundesamt für Güterverkehr mit höherer Dichte
Kontrollen durchführen muss. Das ist alles, was Sie in
Deutschland erreicht haben. Alle Ausnahmetatbestände
aber, die seit 2000 in Europa zugelassen wurden, sind
immer auf Zustimmung und nie auf Ablehnung der Bundesregierung gestoßen, nur um die Ausnahmen bei der
Steinkohle durchzubringen.
Die Kollegin Blank hat ja schon erzählt, dass der famose Minister Bodewig bei der Versammlung des BGL
hier in Berlin erklärt hat: Wenn die anderen bis zum Jahresende 2002 ihre Subventionen nicht abschaffen, dann
führen wir welche ein. Ich warte heute noch auf einen
Gesetzentwurf von Ihnen, in dem Sie dieses endlich umsetzen. Aber offensichtlich halten Sie sich nicht mehr
daran, was Herr Bodewig versprochen hat. Die Frage,
die sich nun stellt, lautet, wie ernst man das Ganze überhaupt nehmen kann.
({5})
- Die Haushaltssituation, lieber Kollege Weis, war ja
2002 auch nicht gerade rosig. Der hat ja schon gewusst,
was er sagt, wenn er sich da hinstellt. Oder ist er ohne
jegliche Vorbereitung auf die Versammlung eines wichtigen Verbandes gegangen?
Das ist doch das eigentliche Problem: Seitdem Sie an
der Regierung sind, haben Sie weder bei der Kfz-Steuer
noch bei der Mineralölsteuer noch bei den Wettbewerbsbedingungen des Gewerbes irgendetwas zur Entlastung
beigetragen, sondern die Situation des deutschen Gewerbes immer nur verschlechtert. Und jetzt sagen Sie: Wir
haben alles erledigt.
In der letzten Periode gab es ähnliche Anträge von
Union und FDP zu diesem Thema. Der Finanzausschuss
hat mit Ihrer Mehrheit beschlossen, die Bundesregierung
aufzufordern, einen Bericht über die Defizite des deutschen Gewerbes auf dem europäischen Markt abzugeben. Wenn Sie es nicht glauben, lesen Sie bitte in der
Drucksache 14/5300 vom 12. Februar 2001 nach! Der
Bericht ist meines Wissens bis heute nicht geliefert. Ich
bin gespannt, wann Sie ihn vorlegen. Vor allen Dingen
bin ich gespannt, ob Sie den gleichen Antrag, den Sie
selber beschlossen haben, jetzt ablehnen.
Unser Antrag ist gut. Unser Antrag ist richtig. Er
kommt zur rechten Zeit. Deswegen sind wir überzeugt,
dass Sie endlich zustimmen.
Danke sehr.
({6})
Für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ganz
überrascht, dass Horst Friedrich zugegeben hat, dass die
FDP zwischen 1982 und 1998 mit an der Regierung war.
({0})
Ich habe sonst immer das Gefühl, das erfolgreichste Gerücht sei, dass Sie regiert hätten. In jedem Politikbereich,
in dem wir Ihnen begegnen, scheint es, als seien Sie nie
dabei gewesen. Sie können sich gar nicht erinnern, jemals irgendwo Verantwortung getragen zu haben.
({1})
Das Problem des Güterkraftverkehrsgewerbes ist
ganz einfach zu erklären. Im März 1998 wurde eine Entscheidung getroffen: Liberalisierung vor Harmonisierung. Deshalb ist es so schwer, das Problem zu lösen.
Sie selbst wissen das sehr gut. Ich zitiere Herrn Friedrich
in der damaligen Debatte:
Zum Stichwort Harmonisierung. Die große Aufgabe der Verkehrspolitik dieser Periode bis zum
1. Juli 1998 besteht darin, die nachweislich noch
vorhandenen Harmonisierungsdefizite in Europa zu
beseitigen.
({2})
Ich kann nur sagen: ein wahrhaft ehrgeiziges Ziel! Das
war im März. Bis zum 1. Juli - innerhalb von drei Monaten - wollten Sie die Harmonisierungsdefizite beseitigen. Das erinnert mich an das, was wir manchmal hören:
Wir können auch früher.
({3})
Horst Friedrich, ich denke, das war gut gemeint. Vielleicht haben Sie ja tatsächlich daran geglaubt. Aber es
war völlig illusorisch, in diesem Zeitraum Harmonisierungsdefizite zu beseitigen.
({4})
Eines der Probleme bei der Beseitigung von Harmonisierungsdefiziten in der EU ist das Einstimmigkeitsprinzip im Ecofin-Rat.
({5})
Das muss übrigens im Umkehrschluss nicht unbedingt
bedeuten, dass mit Mehrheit bessere Entscheidungen getroffen würden. Ich glaube, wir sind mit der Energiesteuerrichtlinie, die am 1. Januar nächsten Jahres in Kraft
treten soll, ein gutes Stück vorangekommen. Trotz einer
Reihe von Ausnahmen und verschiedener Übergangsfristen ist die Erhöhung der Mindeststeuersätze auf
Kraftstoffe besonders im Hinblick auf die Beitrittsstaaten als Harmonisierungsfortschritt zu sehen.
({6})
Sie können ganz sicher sein, dass wir weiter an dieser
Harmonisierung im Bereich der Mineralölsteuer arbeiten
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz aller Unterstellungen sei es hier noch einmal gesagt: Wir machen
eine integrierte Verkehrspolitik.
({7})
Dabei hat die Straße eine besondere Bedeutung und auch
eine besondere Verantwortung. Sie ist der Verkehrsträger
Nummer eins und wird auch der Verkehrsträger Nummer
eins bleiben. Deshalb haben wir ein hohes Interesse an
zuverlässigen, flexiblen Transportleistungen und daran,
dass diese Transportleistungen von einheimischen Unternehmen erbracht werden, die hier ihre Steuern und
Abgaben zahlen. Wir haben ein hohes Interesse daran,
dass sich diese Unternehmen auch international behaupten können.
Das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe steht jedoch
seit Anfang der 90er-Jahre aufgrund der Liberalisierung der europäischen Verkehrsmärkte vor großen
Herausforderungen. Der Preisdruck hat sich verschärft;
die Wettbewerbsbedingungen sind ungleich.
({8})
Ich glaube, das ganze Haus wird dem zustimmen; da
beißt die Maus keinen Faden ab.
Die Maut ist vom Gewerbe gefordert worden. Sie ist
ein Stück Harmonisierung; das ist vorhin schon vom
Kollegen Schmidt angesprochen worden. Ein ausgesprochenes Transitland zu sein ist nicht besonders angenehm.
Dies bedeutet noch mehr: Es ist besonders teuer. Deshalb erheben alle zentraleuropäischen Länder seit Jahrzehnten eine streckenabhängige Maut.
({9})
Wir sind hier Nachzügler. Sie wissen, dass die streckenbezogene Maut keine Erfindung von Rot-Grün ist. Herr
Feibel, wir haben vielmehr die Schubladen aufgemacht:
Siehe da, da war etwas, was uns Herr Wissmann hinterlassen hat!
({10})
Das, was uns Herr Wissmann hinterlassen hat, war ja
auch richtig.
({11})
Wir haben damit Schluss gemacht, dass über die Maut
nur geredet wird.
({12})
Wir haben das Thema Maut ernsthaft angepackt.
({13})
Wir setzen die Maut bzw. das um, was andere Staaten
schon haben. Wir haben eine funktionale Ausschreibung
vorgenommen. Das heißt, wir haben kein bestimmtes
technisches System vorgeschrieben. Ich glaube, Ihr früherer Minister Wissmann ist ein Kronzeuge dafür, dass
man sich für ein modernes System entscheidet; da
nehme ich ihn gerne in Anspruch. Wenn er fair genug ist,
wird er das bestätigen.
({14})
Wir erwarten jetzt von Toll Collect einen konkreten,
belastbaren Termin für die Mauteinführung. Wir erwarten zudem einen Ausgleich für die entstandenen Ausfälle. Wir haben die Option, den Vertrag ab dem
15. Dezember 2003 zu kündigen.
Bundestag und Bundesrat haben sich im Rahmen der
Mautgesetzgebung darauf verständigt, Harmonisierungsmaßnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro
vorzunehmen. In einem ersten Schritt haben wir eine
Mautermäßigung für alle festgelegt. Diese wird durch
das Mineralölsteuerrückerstattungsmodell, das heißt
durch die teilweise Anrechnung von in Deutschland gezahlter Mineralölsteuer auf die Maut, abgelöst.
({15})
Das Vorhaben ist notifiziert. Die Kommission hat am
23. Juli dieses Jahres das beihilferechtliche Hauptprüfverfahren eröffnet. Auf Wunsch von Bundesminister
Stolpe hat am 27. November ein erneutes Gespräch mit
der Kommissarin stattgefunden.
({16})
Sollte das Prüfverfahren nicht in unserem Sinne ausfallen, wird das umgesetzt, was wir gemeinsam, und zwar
Bundesrat und Bundestag, vereinbart haben: die Absenkung der Kfz-Steuer und die Durchführung eines Innovationsprogrammes.
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung einiges für das Gewerbe
auf den Weg gebracht haben. Das Gewerbe hat lange
- übrigens auch unter Ihrer Regierung; Sie haben nichts
unternommen - die Bekämpfung grauer und illegaler
Kabotage verlangt. Wir haben das angepackt. Wir haben
zudem gesagt, dass im Zusammenhang mit der Mauteinführung Harmonisierungsmaßnahmen für das Gewerbe
ergriffen werden. Das haben wir eingehalten.
({17})
Wir haben uns dafür ausgesprochen, dass es zu keiner
Verlängerung der Abschreibungsfristen für LKW im Güterverkehr kommt.
Ich sage es nicht ohne Genugtuung: Wir haben die
Beibehaltung des LKW-Sonntagsfahrverbotes - ({18})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Ich
habe vorhin den Beitrag Ihrer Kollegin gehört. Wenn Sie
uns selbst das Sonntagsfahrverbot nicht als Erfolg gönnen, dann sind Sie eigentlich ein Fall für die Couch.
({19})
Ich möchte jedenfalls die Opposition bitten, im Zusammenhang mit dem Sonntagsfahrverbot ihre Reihen
geschlossen zu halten.
({20})
Es ist zu hören, dass sich der eine oder andere Abgeordnete hier oder im Europäischen Parlament etwas anderes
vorstellen könnte. Ich bitte Sie wirklich darum, dass wir
die Reihen äußerst geschlossen halten. PKW und LKW
- zwei, die sich nicht besonders mögen - gehen letztendlich Hand in Hand oder Stoßstange an Stoßstange; das ist
nicht unbedingt gering zu bewerten.
Ich möchte Sie zum Schluss trotzdem herzlichst, aber
auch sehr ernsthaft bitten und dazu einladen, sich mit uns
darüber zu unterhalten, wie wir die Bedeutung des Wirtschaftsverkehrs - Kollege Beckmeyer hat das schon angesprochen - den anderen Nutzern - egal ob auf der
Straße oder auf der Schiene - ein bisschen näher bringen.
({21})
Es ist doch nicht nur Ärgernis und Hindernis.
Ich habe neulich einen Spruch auf der Rückseite eines
LKW gelesen, den ich sehr schön finde und der die Bedeutung des Wirtschaftsverkehrs deutlich macht. Dort
stand: Klar bin ich ein bisschen langsamer als Sie, aber
dafür schleppe ich Ihnen Ihren Wein aus Spanien ins
Haus.
({22})
Ich denke, das stimmt.
Schönen Feierabend.
({23})
Als letzter Redner des Tages hat der Kollege Gerhard
Wächter von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Ich sage das so, um Sie zu ermutigen, sich kurz zu fassen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Staatssekretärin, das, was Sie hier vorgetragen haben, ist an Fröhlichkeit und mangelndem
Überblick nicht mehr zu überbieten. Das will ich Ihnen
in aller Deutlichkeit sagen.
({0})
Das war ein Weihnachtsmärchen, insbesondere mit Blick
auf die gesamte Mautdiskussion. Wir haben dieses Desaster hautnah in der letzten Sitzung erlebt. Ich weiß
nicht, worüber Sie reden. Das, was da zelebriert und mit
salbungsvollen Worten vom Minister entschuldigt wird,
ist kaum noch erträglich und nicht mehr zu überbieten.
({1})
Herr Beckmeyer, Sie haben uns eben als Hüter des
Transportgewerbes angesprochen. Ich will Ihnen sagen: Diese Rolle nehmen wir gern ein,
({2})
und zwar deshalb, weil seit 1998, seit Beginn der rotgrünen Regierungszeit, das Transportgewerbe nur Schaden erlitten hat. Deswegen ist das Transportgewerbe
heute in einer sehr schwierigen, verhängnisvollen Situation. Sie wissen, dass viele der kleinen und mittelständischen Unternehmen den Überlebenskampf schon längst
verloren und aufgegeben haben. Es gibt 15 Prozent mehr
Insolvenzen im Vergleich zum Vorjahr. Das ist ein absolut trauriger Rekord. Im Vergleich zu 1999 hat sich die
Insolvenzquote sogar noch verdoppelt. Das Schlimme
daran ist, dass darunter natürlich auch viele Arbeitnehmer leiden müssen. In diesem Jahr sind es 20 000.
Mit Blick auf das Desaster der Mauteinführung und
die bevorstehende EU-Osterweiterung ist abzusehen,
dass weitere 100 000 Arbeitsplätze verloren gehen, und
zwar deshalb, weil faire Wettbewerbsbedingungen und
verlässliche Vereinbarungen nach wie vor fehlen.
Der Hintergrund für dieses ganze Drama ist die verhängnisvolle wirtschaftliche Situation. Frau Mertens, Sie
haben soeben versucht, die Regierungspolitik unter der
Kohl-Regierung zu diskreditieren. Ich will Ihnen sagen:
Das Ergebnis nach fünf Jahren rot-grüner Bundesregierung sieht um ein Vielfaches dramatischer aus, als es jemals gewesen ist.
({3})
Wir waren noch nie in einer solch dramatischen Wirtschaftslage. Es ist doch völlig klar, dass sich diese auch
auf das Transportgewerbe ausgewirkt hat.
Vor allen Dingen eine Entscheidung, die die Bundesregierung getroffen hat, will ich hier noch einmal deutlich hervorheben. Sie betrifft die Ökosteuer. Sie hat zu
einer dramatischen Verschlechterung der Bedingungen
für unsere Transportunternehmen geführt. Das zeigen
die Fakten ganz klar. Die Erhöhung der Dieselpreise
geht - je nach Lage auf den Rohstoffmärkten - bis zu
56 Prozent auf die Ökosteuer zurück.
({4})
Das hält auf Dauer kein deutscher Wettbewerber aus.
({5})
Was die Harmonisierung betrifft: Über das Ergebnis
von Ecofin ist schon viel erzählt worden. Jedenfalls war
es ein fauler Kompromiss, ein wertloser Kompromiss für
unser Transportgewerbe und letztendlich ein verhängnisvoller Kompromiss.
({6})
Frankreich und Italien nutzen die ihnen eingeräumten
Ermäßigungsspielräume knallhart aus. An wem bleibt
das hängen? Im Endergebnis haben die deutschen Spediteure die Zeche zu zahlen. Sie müssen das verhängnisvolle Ergebnis ausbaden.
Ein Blick auf die Situation in Osteuropa: In wenigen
Monaten werden einige Länder der Europäischen Union
beitreten. Ich weise darauf hin, dass die Lohnunterschiede zwischen den Beitrittsländern und der Bundesrepublik Deutschland dramatisch - sie stehen im Verhältnis 1 : 10 - sind. Das gilt auch für die Sozialkosten. Das
stellt unser Gewerbe vor eine große Herausforderung,
die nur schwer zu verkraften ist. Deswegen besteht dringender Handlungsbedarf. Es ist völlig inakzeptabel, dass
unsere heimischen Transportunternehmen nicht zuletzt
aufgrund der fehlenden Harmonisierung und der zurzeit
falschen Rahmenbedingungen vom dynamischen Wirtschafts- und Verkehrswachstum nicht profitieren.
Bei den diesbezüglich zurzeit stattfindenden Gesprächen, bei denen auch die Kabotage geregelt werden soll,
muss darauf geachtet werden, dass unseren deutschen
Spediteuren die Möglichkeit eingeräumt wird, auf dem
zukünftigen erweiterten EU-Markt bestehen zu können.
({7})
Erforderlich sind die Sicherstellung einer behutsamen
Öffnung der Kabotagemärkte, die Beibehaltung von
Übergangsregelungen, bei denen die Kontingente
schrittweise, und zwar unter ständiger Prüfung der
Marktsituation, erweitert werden, sowie eine strenge
Überwachung der Einhaltung dieser Regelungen.
Die Bundesregierung hat unserem Transportgewerbe
in den vergangenen fünf Jahren bereits unerträglich viel
zugemutet, sodass viele resigniert haben. Die Bundesregierung muss nun endlich alle Harmonisierungs- und
Förderungsmöglichkeiten forcieren, damit das deutsche
Transportgewerbe eine realistische Überlebenschance
hat.
({8})
Diese Chance hat das Gewerbe nur bei fairen Wettbewerbs- und Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung
steht in der Pflicht. Da Minister Stolpe nicht anwesend
ist, sage ich an Ihre Adresse, Frau Staatssekretärin: Die
Bundesregierung muss ihre Aufgabe verantwortungsvoller und offensiver wahrnehmen, als das bisher der Fall
war. So darf und kann es nicht weitergehen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/1398 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/926. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/926
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1592 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tagespflege als Baustein zum bedarfsgerechten Kinderbetreuungsangebot - Bessere Rahmenbedingungen für Tagesmütter und -väter,
Eltern und Kinder
- Drucksache 15/1590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Zu diesem Tagesordnungspunkt sollen alle Reden zu
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re-
den der Kolleginnen Caren Marks von der SPD, Ingrid
Fischbach von der CDU/CSU, Ekin Deligöz vom Bünd-
nis 90/Die Grünen und Ina Lenke von der FDP. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall.1)
1) Anlage 9
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1590 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes
zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 15/2109 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss Gesundheit und Soziale Sicherung ({1})
Ausschuss Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Auch hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Dr. Marlies Volkmer von der SPD-Fraktion, Dr. Wolf
Bauer von der CDU/CSU-Fraktion, Birgitt Bender vom
Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Dieter Thomae von der
FDP und der Parlamentarischen Staatssekretärin Marion
Caspers-Merk.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2109 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({2})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. Dezember 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.