Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, begrüße ich Herrn Dr. Wolfgang Zeh, der hinter mir als
neuer Direktor beim Deutschen Bundestag Platz genommen hat. Ich wünsche ihm persönlich und im Namen
des Hauses viel Erfolg.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Art. 51
der Satzung der Vereinten Nationen und des
Art. 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 ({1}) und 1373 ({2}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 15/37 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Peter Struck das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist Teil der weltweiten Antiterrorkoalition. Es nimmt seine Verantwortung wahr in internationaler Solidarität und im eigenen nationalen Interesse; denn
der internationale Terrorismus bedroht uns ganz direkt,
wie wir zum Beispiel in Djerba gesehen haben. Die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom mit
militärischen Kräften ist Ausdruck dieser Verantwortung
für die globale Sicherheit und den Schutz der Werte aller
demokratischen Staaten.
({0})
Unser Ziel ist klar: Wir wollen dem terroristischen
Handeln auf allen Ebenen die Grundlagen entziehen. Das
Übel des Terrorismus hat mehrdimensionale Wurzeln und
kann nur mehrdimensional bekämpft werden:
({1})
auf den Finanzmärkten, beim internationalen Verkehr,
beim illegalen Handel mit Waffen und Drogen, durch Lösung der regionalen Konflikte - wie im Nahen Osten - mit
allen verfügbaren politischen, aber eben auch mit militärischen Mitteln. Der Einsatz militärischer Mittel bleibt
unverzichtbar, um eine Wiederholung von Anschlägen
wie dem vom 11. September nach Möglichkeit zu verhindern.
Deutsche Soldatinnen und Soldaten leisten hierzu einen substanziellen Beitrag. Ihre Bilanz im Rahmen von
Enduring Freedom ist positiv.
({2})
Die Bundeswehr braucht keinen internationalen Vergleich zu scheuen. Sie hat durch ihre Leistungsfähigkeit
und ihre Professionalität hohes Ansehen bei den Streitkräften unserer Partner im Kampf gegen den Terrorismus
erworben. Die Übergabe des Kommandos über die internationale Task Force 150 am Horn von Afrika an die
deutsche Marine war ein deutlicher Beweis für das Vertrauen, das allgemein in unsere Soldatinnen und Soldaten
gesetzt wird. Für diese großartigen Leistungen spreche
ich allen Angehörigen der Bundeswehr, die zum Erfolg
der Operation Enduring Freedom beigetragen haben, im
Namen der Bundesregierung meinen Dank und meine
Anerkennung aus.
({3})
Der Kampf gegen den Terror ist nicht in Tagen, Wochen oder Monaten zu gewinnen. Hier ist deshalb ein langer Atem erforderlich. Die beachtlichen Erfolge, die wir
bisher erzielt haben, dürfen nicht unseren Blick darauf
verstellen, dass die Führungs- und Ausbildungseinrichtungen der al-Qaida noch nicht zerschlagen und ihre Finanzierungsquellen noch nicht ausgetrocknet sind. Die
weltweite terroristische Bedrohung ist noch nicht gebannt. Das mussten wir in Djerba am 11. April, in Karatschi am 5. Mai und am 14. Juni, vor Aden am 5. Oktober
und in Denpasar am 13. Oktober schmerzlich erfahren.
Sprecher der al-Qaida haben öffentlich mehrfach weitere
Angriffe auf die USA und in Europa angekündigt und
dazu aufgerufen.
Auch wenn das deutsche Staatsgebiet bisher von Anschlägen verschont wurde, ist die Gefahr für uns real. Der
internationale Terrorismus bedroht auch unser Land, unsere Lebensweise und das Fundament, auf dem unsere politische Kultur begründet wird. Wir werden daher unser
militärisches Engagement gegen den Terror an der Seite
der USA und anderer Nationen im Rahmen von Enduring
Freedom so lange fortsetzen, wie es erforderlich ist.
Die Bundeswehr wird angesichts der aktuellen und absehbaren Sicherheitslage in engem Schulterschluss mit
unseren Verbündeten und Partnern für zunächst weitere
zwölf Monate militärisch engagiert bleiben: mit den Seeund Seeluftstreitkräften, die am Horn von Afrika den Seeraum überwachen, Handelsschiffe schützen und darüber
hinaus eine wichtige Rolle bei der Aufklärung der Aktivitäten des internationalen Terrorismus spielen, mit Lufttransport- und Sanitätskräften, die unter anderem einen
Airbus A310 zur notfallmedizinischen Evakuierung in
Deutschland bereithalten, mit ABC-Abwehrkräften, die in
Kuwait den Nukleus einer Fähigkeit zur Reaktion auf terroristische Angriffe mit ABC-Waffen nicht nur auf unsere
amerikanischen Verbündeten bilden, und mit Spezialkräften, die unter größtmöglicher Geheimhaltung unmittelbar
gegen die al-Qaida eingesetzt werden.
Unverändert bis zu 3 900 Soldaten und Soldatinnen
leisten diesen gewichtigen Beitrag für die Sicherheit der
internationalen Gemeinschaft, der auch Leistungen zur
humanitären Hilfe und zur Sicherstellung des Lufttransports einschließt.
Die Streitkräfte wären völlig überfordert, wollte man
ihnen zumuten, allein des Terrorismus Herr zu werden.
Wir sind daher mit unserem umfassenden Herangehen auf
dem richtigen Weg. Auf nationaler Ebene haben wir ein
Paket von Sofortmaßnahmen zur Stärkung der inneren
und äußeren Sicherheit auf den Weg gebracht. Auf europäischer Ebene wurde ein umfassender Aktionsplan zur
Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet, der auf
eine deutsche Initiative zurückgeht. Die NATO hat ihrerseits über die Erklärung des Bündnisfalls hinaus am
4. Oktober 2001 ebenfalls ein umfangreiches Bündel ziviler und militärischer Maßnahmen geschnürt. Ein weiteres Maßnahmenpaket wird noch in diesem Monat auf dem
Prager Gipfel beschlossen werden. Und schließlich hat
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der bereits
angesprochenen fundamentalen Weiterentwicklung des
Völkerrechts den Rahmen für den Kampf gegen den Terrorismus auf allen Ebenen gesteckt.
Damit haben wir eine solide Grundlage, um den Terroristen und denen, die ihr unheilvolles Wirken mittel- oder
unmittelbar unterstützen, Einhalt zu gebieten. Den Kampf
gegen den Terrorismus zu gewinnen ist schwierig, aber
unter Einsatz aller Kräfte nicht unmöglich. Unser Ziel,
Frieden und Freiheit zu verteidigen und eine internationale Ordnung zu erreichen, die auf der Herrschaft des
Rechts, der Demokratie und der Menschenrechte aufbaut,
lässt uns keine andere Wahl.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Friedbert Pflüger, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einem Jahr
führt eine Koalition aus etwa 90 Staaten einen Verteidigungskrieg gegen den internationalen Terrorismus.
Deutschland hat sich daran beteiligt. Wir haben es ermöglicht, dass sich deutsche Soldaten in diese Koalition
einreihen, und wir, die Union, werden der Verlängerung
dieses Mandates, der Weiterführung des Kampfes gegen
den internationalen Terrorismus, in der nächsten Woche
zustimmen; denn der internationale Terrorismus ist die
große Gefahr der Zukunft. Da kann niemand, ganz egal
wo er parteipolitisch steht, Nein sagen. Es ist eine Aufgabe für uns alle, diesen Kampf gegen den Terrorismus in
den nächsten Jahren zu führen und uns nicht auszugrenzen, nicht alleine zu bleiben, uns nicht, Herr Bundeskanzler, zu isolieren und abzukoppeln.
({0})
Da wir in diesen Tagen über die Verlängerung von Enduring Freedom entscheiden, sollten wir uns am Anfang
dieser Debatte ein paar Minuten daran erinnern, wie es vor
einem Jahr war, als sich große Teile Ihrer Koalition verweigern wollten und als Sie die Vertrauensfrage stellten,
um eine Mehrheit zu bekommen. Damals gab es in
Deutschland eine starke Bewegung „Stoppt diesen
Krieg!“ linksgerichteter Intellektueller. Was wäre auf der
Welt und in Afghanistan in den letzten Monaten passiert,
wenn die Amerikaner diese Koalition nicht angeführt hätten und wenn wir damals nicht ernst gemacht und das Talibanregime in die Knie gezwungen hätten?
All denjenigen, die sich damals verweigert haben,
muss man heute sagen: Schaut nach Afghanistan! Die
Hilfsorganisationen können dort wieder arbeiten. Es gibt
Aufbauprogramme für Afghanistan. Die Frauen können
wieder auf die Straße gehen, ohne die Burka mit den kleinen Sehschlitzen tragen zu müssen. In den Sportstadien
wird wieder Fußball gespielt, anstatt dass dort Menschen
exekutiert werden. Man kann in Afghanistan wieder Musik hören. Trotz allem, was noch zu tun ist, muss man also
sagen, dass es einen großen Fortschritt bei den Menschenrechten gibt. Dieser Fortschritt ist nicht durch Friedensappelle, sondern durch den Einsatz von Soldaten unter Beteiligung deutscher Soldaten erreicht worden. Dafür
danken wir allen, die sich daran beteiligt haben.
({1})
Die Kollegin Nickels von den Grünen hat es für richtig
gehalten, in der „Welt“ heute in erster Linie daran zu erinnern, dass Menschenrechtsstandards beim Antiterrorkampf nicht gefährdet werden dürfen.
({2})
Diese Warnung ist richtig: Wenn man das Böse bekämpft,
darf man in der Tat selbst nicht böse werden. Wer wollte
das bestreiten? Aber ist es nicht genauso wichtig, daran zu
erinnern, dass es zunächst einmal der Terrorismus sowie
der islamistische Extremismus und Totalitarismus sind,
die die Menschenrechte, die Demokratie und unsere Zivilisation im Kern bedrohen? Sie sind die eigentliche Bedrohung für die Menschenrechte. Diese Tatsache muss in
den Vordergrund unserer Debatte gerückt werden und
nicht irgendwelche anderen Erwägungen.
({3})
Die Gefahr des Terrorismus ist nicht geringer geworden. Im Gegenteil: Wir haben nach dem 11. September andere Terrorakte von unvorstellbarer Brutalität erlebt. Ich
nenne die Anschläge von Djerba, Bali und Moskau sowie
den Anschlag auf den französischen Tanker Limburg.
Es gab eine Reihe von versuchten Terrorakten, die gerade
noch verhindert werden konnten und die wir fast schon
aus unserem Bewusstsein verdrängt haben. Ich nenne beispielsweise den Anschlag auf die römische Wasserversorgung.
Wir wissen vom BKA und vom BND, dass es eine
akute Bedrohung auch für uns in Deutschland gibt. Wir
sind, wie das BKA sagt, vom Ruheraum zum Zielobjekt
geworden. Der Terrorismus geht uns alle an. Er bedroht
nicht nur Amerika, sondern die gesamte Zivilisation.
Wenn ich einmal versuche, das, was gegenwärtig passiert, historisch einzuordnen, dann zögere ich nicht, zu sagen, dass es sich um die dritte totalitäre Herausforderung
handelt, die die freiheitlichen Demokratien auf der Welt
zu bestehen haben.
Die erste totalitäre Herausforderung war der Marxismus-Leninismus, ein Gedankengebäude, das am Ende
eine herrschaftsfreie Gesellschaft versprach, das aber bewirkte, dass es nur eine Wahrheit gab und dass eine ganze
gesellschaftliche Klasse umgebracht wurde. Unendliches
Leid ist durch den Marxismus-Leninismus und vor allen
Dingen durch den Stalinismus über die Welt gekommen.
({4})
Die zweite totalitäre Herausforderung war der Nationalsozialismus. Er gab nicht einer gesellschaftlichen
Klasse, sondern einer Rasse die Schuld an allem Übel der
Welt. Die Nationalsozialisten haben im Glauben an eine
Weltordnung, in der andere Rassen versklavt oder vernichtet werden sollten, unzählige Menschen umgebracht.
Jetzt haben wir eine dritte totalitäre Bewegung, die
sich natürlich von den anderen unterscheidet. Denn sie ist
eine Bewegung, die die Erlösung im Paradies verspricht.
Aber wieder haben wir ein Feindbild: Für alle Würdelosigkeit, für alle Probleme und für alle Ungerechtigkeiten
auf der Welt wird der Westen, seine Zivilisation, unsere
Demokratie verantwortlich gemacht. Dies ist eine fundamentale Herausforderung. Es gibt wieder den Glauben:
Für die höhere Wahrheit, dafür, höhere Ziele zu erreichen,
darf ich morden, auch wenn es sich um Frauen, Kinder
oder alte Menschen handelt.
Das sind die Kennzeichen von unterschiedlichen, aber
dann doch wieder gleichen totalitären Bewegungen. Genauso wie wir die erste und die zweite Herausforderung,
nämlich den Kommunismus und den Nationalsozialismus, mit großen Opfern besiegt haben, so müssen die
westlichen Demokratien auch diese dritte totalitäre Herausforderung besiegen. Daran wollen wir uns als Deutsche beteiligen.
({5})
Immer ist der Fehler gemacht worden, diese Bewegungen zunächst zu unterschätzen. Führen Sie sich vor Augen,
wie anlässlich der Olympiade die ganze Welt an Hitler im
Olympiastadion vorbeimarschiert ist! Erinnern Sie sich daran, wie oft der Kommunismus als eine Art bessere Befreiungsbewegung - von einigen offenbar bis in heutige Tage
hinein - unterschätzt worden ist! Nichts ist gefährlicher, als
solche Bewegungen zu unterschätzen. Der Preis dafür, dass
man nicht gleich alles Notwendige gegen sie unternimmt,
ist ungeheuer hoch. Deswegen muss man aufpassen, zupacken und diese Bewegungen unter Druck setzen - und
dies nicht erst dann, wenn es zu spät ist und sie stark sind.
Man muss den Anfängen wehren; darauf kommt es an.
({6})
Winston Churchill hat in seinem großen Buch „Der
Zweite Weltkrieg“ ausgeführt:
Wenn man nicht kämpfen will, solange der Sieg gewiss und nicht zu kostspielig wäre, dann kann der
Augenblick eintreten, dass man kämpfen muss,
wenn alle Bedingungen ungünstig sind und nur geringe Aussicht besteht, mit dem Leben davonzukommen.
({7})
Ich finde, das ist ein sehr wichtiges Churchill-Zitat.
Es gibt viele, die sagen: Der Irak geht uns nichts an. Der Außenminister hat letzte Woche festgestellt, das sei
nicht die richtige Priorität.
({8})
Es wird geäußert: Wir als Deutsche sollten uns, ganz egal
was die UNO, die NATO und die EU machen, abkoppeln
und nicht mitmachen. - Der Bundeskanzler hat doch im
Wahlkampf gesagt: Mit uns nicht, ganz egal was die Weltgemeinschaft macht! - Wer angesichts der Bedrohung
durch Massenvernichtungswaffen und einem Diktator,
der diese Massenvernichtungswaffen bereits angewendet
hat, sagt, das habe für ihn keine Priorität, und feststellt:
„Mit uns auf keinen Fall!“, der koppelt sich von dem internationalen Kampf gegen den Terrorismus ab und der
beraubt sich des Gewichtes und des Vertrauens, das die
deutsche Politik lange Zeit in der Welt und vor allen Dingen in Amerika und bei den europäischen Partnern genossen hat. Sie haben hier im Wahlkampf einen katastrophalen Fehler begangen.
({9})
Man kann über sehr viel sprechen und diskutieren,
Herr Kollege Büttner. Es gibt sehr gute Gründe dafür
- das will ich zugestehen -, gegen einen Krieg gegen den
Irak zu sein.
({10})
Was passiert hinterher? Welche Ordnung soll es im Irak
nach einem Militärschlag geben?
({11})
Was passiert in den muslimischen Ländern?
Für die gesamte Union stelle ich fest: Wir hoffen zutiefst, dass der Frieden erhalten werden kann. Aber dies
geschieht nur dann, wenn wir den Druck auf den Hauptanstifter von Krieg aufrechterhalten. Saddam Hussein
wird auf seine Massenvernichtungswaffen nicht aufgrund
der freundlichen Appelle von Herrn Fischer verzichten,
sondern nur dann, wenn es eine internationale Drohkulisse gibt, die dazu führt, dass Waffeninspektoren wieder
in dieses Land kommen. Darum geht es uns in der Union.
Wir wollen Frieden, aber nicht um jeden Preis. Frieden
und Saddam Husseins Waffen wegzubekommen, das ist
das Entscheidende, worum es in den nächsten Wochen,
Monaten und Jahren geht.
({12})
Saddam Hussein ist von Hans Magnus Enzensberger
1991 als der genuine Nachfolger Hitlers bezeichnet worden. Es ist in der Tat wichtig, Druck auf ihn auszuüben,
damit die Waffeninspekteure wieder in das Land gelassen werden; denn wir wissen von unseren Nachrichtendiensten - das ist nicht nur eine Behauptung -, dass er an
der Herstellung von Massenvernichtungswaffen arbeitet.
Vielleicht hat er sie auch schon. Unsere größte Herausforderung ist, dass die Terroristengruppen nicht in den
Besitz solcher Waffen kommen. Wenn Terror und Massenvernichtungswaffen zusammenkämen, hätte dies katastrophale Auswirkungen für uns alle. Dagegen müssen
wir uns zur Wehr setzen, indem wir uns an Enduring
Freedom beteiligen.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
es ist absolut wichtig, dass wir Deutsche unsere Vorstellung von einer gerechten Ordnung in der Welt, von einer
Ordnung, die dem Terrorismus den Nährboden entziehen
kann, und auch von einer friedlichen Lösung des Tschetschenienkonfliktes auch gegenüber den Amerikanern ansprechen. Man kann diese Probleme nicht nur mit Hilfe
des Militärs lösen. Wer wollte das bestreiten? Wir müssen
versuchen, die großen Ungerechtigkeiten der Welt gemeinsam zu beseitigen, und zwar durch Öffnung unserer
Märkte, durch Entwicklungspolitik und durch Förderung
der Demokratie. All dies ist notwendig. Das ist aber nur
die eine Seite der Medaille. Demokratieförderung und
Weiterentwicklung der Regionen sind gut. Dies wird aber
umso besser gelingen, je mehr dahinter der Wille steht,
notfalls den „blutigen Rändern“ des Islam entgegenzutreten.
({14})
Der Islam ist eine große Weltreligion; er hat viel für die
Welt geleistet. Wir wollen einen Dialog mit dem Islam.
Aber wer wollte verkennen, dass Osama Bin Laden und
seine Leute heute viel Gefolgschaft haben, dass es vielleicht Tausende oder Zehntausende junger Leute gibt, die
hinter dieser Bewegung stehen? Wir sollten uns vor Augen führen, dass beides zusammengehört: die Befriedung
von Regionen und die Schaffung von mehr Gerechtigkeit
auf der Welt mit friedlichen Mitteln auf der einen Seite
und die Bereitschaft, militärisch vorzugehen, wenn man
bedroht wird, auf der anderen Seite.
Herr Außenminister, ich möchte Ihnen deshalb für den
nächsten NATO-Gipfel einen Vorschlag unterbreiten:
Lassen Sie uns doch versuchen, eine gemeinsame Strategie gegen den Terrorismus zu entwickeln! Lassen Sie uns
versuchen, beide Punkte gleichzeitig zu betonen! Dafür
müssen Sie von der bisherigen Totalverweigerung Abstand nehmen. Sie müssen Abschied nehmen von der
Politik: Mit uns auf keinen Fall! Damit berauben Sie sich
nämlich jeglicher Möglichkeit, etwa gegenüber amerikanischen Gesprächspartnern Ihre Positionen durchzusetzen.
Sie geben gesinnungsethische Friedensbekenntnisse ab.
({15})
Das ist wunderbar. Aber verantwortungsethisch tun Sie
nichts; denn Sie bewirken nichts. Wie schön wäre es,
wenn Deutschland jetzt zusammen mit Frankreich im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für eine vernünftige, gemäßigte Resolution eintreten könnte!
({16})
Tatsache aber ist, dass wir in der Welt keine Rolle spielen.
Keiner fragt uns mehr. Herr Putin und Herr Chirac, alle reden miteinander; nur Deutschland spielt keine Rolle. Es
ist absolut tragisch, dass Sie unser Land seines Gewichts
beraubt haben.
({17})
Das ist das eigentlich Schlimme Ihrer Politik, die Sie in
Zeiten des Wahlkampfes geführt haben.
Herr Bundeskanzler, Sie lächeln jetzt so freundlich.
Dennoch haben Sie keinen Gesprächstermin bei George
Bush bekommen.
({18})
Sie haben in der letzten Zeit nicht einmal mit ihm telefoniert. Der Außenminister war in Washington und hat nur
einen kurzen Termin mit Herrn Powell bekommen. Niemand im Weißen Haus wollte ihn sehen. Das war ein sehr
karger Besuch, eine diplomatische Ohrfeige. Das ist doch
die Lage, in der sich Rot-Grün momentan befindet. Sie
haben kein Gewicht, kein Vertrauen in der Welt.
({19})
Herr Kollege Pflüger, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Außenminister, Sie haben in Washington in einem
Pressegespräch gesagt, Sie wollten keine Beteiligung,
jedenfalls keine aktive Beteiligung. Wir freuen uns über
die Formulierung „keine aktive Beteiligung“; denn das
könnte der Einstieg in eine echte Kehrtwende sein.
({0})
Wir wollen diese Kehrtwende. Wir als Union werden
Ihnen dabei helfen, die Kehrtwende zu vollziehen und Ihre
Abkoppelung zu beenden. Wir werden Ihnen dabei helfen,
Ihre Totalverweigerung aufzugeben. Aber Sie müssen
Ihren Leuten, SPD und Grünen, und den Wählern dann sagen, dass Sie im Wahlkampf eine andere Sprache gesprochen haben. Der deutsche Weg, den der Kanzler propagiert
hat, von dem Sie gesagt haben: „Forget it“, ist die eigentliche Gefahr, wenn wir dem Terrorismus begegnen wollen.
Wir müssen es gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und gemeinsam mit der NATO machen und dürfen es
nicht allein und isoliert als Deutsche tun. Es wäre eine
katastrophale Position, wenn wir es anders machten.
({1})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile Bundesminister Joseph Fischer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich beim Sprecher der Unionsfraktion für die
Ankündigung, dass die Unionsfraktion dem Antrag der
Bundesregierung betreffend Verlängerung des Mandats
für Enduring Freedom um ein Jahr zustimmen wird. Es ist
wichtig, dass wir eine breite Unterstützung für den gefahrvollen Einsatz unserer Soldaten - er ist aus Sicht der
Bundesregierung alternativlos - finden. Um allerdings
das, was wir heute diskutieren und nächste Woche entscheiden werden, in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Totalverweigerung zu bringen, reicht meine
Sprachkompetenz im Deutschen schlicht und einfach
nicht aus, Herr Kollege Pflüger.
({0})
Womit haben wir es zu tun? Jenseits der oberflächlichen Polemik gibt es ganz offensichtlich, zumindest seit
der gestrigen Ausschussdiskussion, ein hohes Maß an
Übereinstimmung in der Lageeinschätzung, auch wenn
ich glaube, dass die platte Totalitarismusdefinition, wie
Sie sie wählen, eher schädlich als nützlich ist;
({1})
denn Sie lassen dabei einen entscheidenden Punkt außer
Acht, nämlich die Frage, was wirklich die Ursachen für
das Entstehen von Totalitarismen sind. Es sind - das können wir auch an der eigenen Nationalgeschichte sehen in der Regel traumatische nationale oder regionale Katastrophen oder gescheiterte Modernisierungsversuche wie
bei uns die Revolution von 1848.
({2})
- Ich meinte: wie bei uns. Darauf kommt man, wenn man
auf die Ursachen zurückgeht. - Aus blockierter Modernisierung entsteht dann ein Nährboden für Totalitarismen.
Wenn man das so sieht, Kollege Pflüger, dann muss
man meines Erachtens den umfassenden Sicherheitsbegriff, den der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung dargestellt hat, zur Grundlage des Kampfs gegen
den Terror machen. Das ist die entscheidende Konsequenz und da liegt meines Erachtens auch der Ansatzpunkt.
({3})
Nach diesem umfassenden Sicherheitsbegriff - das
kann man am Beispiel Balkan, aber auch am Beispiel
Afghanistan sehen - geht es um den Einsatz auf allen Ebenen. Ich möchte den Zuhörerinnen und Zuhörern, aber
auch den Menschen, die die heutige Debatte im Fernsehen
mitverfolgen,
({4})
klar sagen: Es kommt nicht nur entscheidend darauf an,
dass wir über Militäreinsätze abstimmen; dies müssen wir
aus konstitutiven Gründen, aus verfassungsrechtlichen
Gründen tun. Die Einsätze auf dem Balkan, im Kosovo,
in Mazedonien, in Bosnien, und auch in Afghanistan sind
allerdings viel umfassender. Über die zivilen Teile müssen wir jedoch nicht abstimmen. Dazu bedarf es keiner
konstitutiven Beschlussfassung des Bundestages.
Wenn wir im Kampf gegen den internationalen Terrorismus über Enduring Freedom entscheiden, dann entscheiden wir auch darüber, Afghanistan eine Perspektive
zum Wiederaufbau zu geben,
({5})
dann entscheiden wir über die Umsetzung dessen, was auf
dem Petersberg beschlossen wurde. Es geht darum, dass
wir mit der humanitären Hilfe Ernst machen. Wenn wir
auf die Situation von vor einem Jahr zurückblicken, dann
stellen wir fest, dass einer der wesentlichen Unterschiede
darin besteht, dass die humanitäre Hilfe jetzt - bei allen
Schwierigkeiten, die es gibt - im ganzen Land an die
Menschen herangebracht werden kann. Dies ist schlicht
und einfach eine Frage des Überlebens.
Hierbei sind wichtige Fortschritte erzielt worden. Die
Lage der Frauen und Mädchen, der Wiederaufbau des Bildungssystems - bei allen Problemen, die es nach wie vor
gibt -, etwas mehr an Sicherheit, auch wenn diesbezüglich noch sehr, sehr große Defizite vorhanden sind, eine
international kooperierende Regierung, deren Einfluss
zwar noch im Wesentlichen auf wenige Metropolen, vor
allem Kabul, begrenzt ist, der Beginn des Wiederaufbaus
afghanischen Militärs und afghanischer Polizei - bei der
Polizei engagiert sich die Bundesrepublik Deutschland
besonders - und der Wiederaufbau des Gesundheitssystems, alles das sind wichtige Dinge, die man vor einem
Jahr noch nicht im Bereich des Möglichen gesehen hat
und die jetzt erreicht wurden. Das entspricht der Umsetzung dessen, was wir unter einem umfassenden Sicherheitsbegriff verstehen.
({6})
Vor diesem Hintergrund bedarf es allerdings einer realistischen Analyse. Wir müssen feststellen, dass die Gefahr des internationalen Terrorismus, insbesondere die
Gefahr der Verknüpfung des Terrorismus mit Regionalkonflikten - Afghanistan stand immer in einem engen Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen den beiden Nachbarn Indien und Pakistan um
Kaschmir -, mitnichten gebannt ist, und zwar weder in der
Region des südlichen und des nördlichen Kaukasus noch
im Nahen Osten. Viele Länder haben große Modernisierungsprobleme. Es gibt nicht - demokratische Regierungen, Diktaturen und regionales Hegemonialstreben. Es
gibt außerdem die Gefahr der Massenvernichtungsmittel.
Aber, Kollege Pflüger, Sie müssen schon konsequent sein.
Sie können das, was Sie vorgetragen haben, nicht nur auf
eine Linie fokussieren. Sie müssen sich dann auch die Fragen stellen, wo gegenwärtig in dieser Region das entwickeltste Potenzial bei Trägersystemen liegt und wer
über das entwickeltste Nuklearprogramm verfügt. Auch
in anderen Regionen befinden sich solche Trägersysteme
und Programme in diktatorischen Händen. Ist es dann
sinnvoll, das internationale Kontrollregime herunterzufahren sowie die Beschlussfassung über Chemiewaffenund Biowaffenprotokolle zu erschweren, wenn nicht sogar unmöglich zu machen? Brauchten wir nicht vielmehr
ein wesentlich härteres, international wirksameres Kontrollregime, um Proliferation zu verhindern? Das sind
doch die entscheidenden Fragen.
({7})
Ich möchte in diesem Zusammenhang gar nicht an die
80er-Jahre erinnern. Damals hat nicht Rot-Grün regiert,
als bestimmte Entwicklungen stattgefunden haben.
({8})
Sie können uns heute aber nicht die Schuld an Saddam
Hussein und seinen Potenzialen an Massenvernichtungswaffen geben. Das wird Ihnen nicht gelingen.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle nur eines sagen:
Wenn Sie sich die Region anschauen, dann müssen auch
Sie die Frage nach der Prioritätensetzung beantworten.
Das können Sie doch nicht einfach nach Ihnen gegebenen
Vorgaben, sondern nur nach einer Bedrohungsanalyse
tun. Am Ende werden Sie sich sogar fragen lassen müssen, ob Sie nicht das Gegenteil von dem erreichen, was
Sie eigentlich wollen. Denn wenn der erste Teil Ihrer Analyse richtig ist, wenn also die erste Priorität ist - deshalb
wollen wir heute die Fortsetzung von Enduring Freedom
beschließen -, dass der Kampf gegen den internationalen
Terrorismus geführt werden muss, weil wir unter diesem
Damoklesschwert, mit den menschenverachtenden Angriffen auf so genannte - das ist ein perverser Begriff weiche Ziele, also auf Menschen, die sich nicht verteidigen können, wie zum Beispiel auf Zivilisten und Touristen egal welchen Alters, welchen Geschlechts und welcher Herkunft, nicht leben können - Bali ist das letzte
schlimme Beispiel -, dann werden Sie zumindest die
Frage erlauben müssen - Sie werden sie auch beantworten müssen - , ob eine Verschiebung der Prioritäten, die
nicht unbedingt in Übereinklang mit dem zu bringen ist,
was Kampf gegen den Terrorismus bedeutet, letztendlich
nicht kontraproduktiv ist, Herr Kollege Pflüger. Das ist
die entscheidende Differenz, mit der wir es hier zu tun haben.
({9})
Wir wünschen uns seitens der Bundesregierung - wir
halten es auch für notwendig - eine möglichst breite Unterstützung bei dem Beschluss über die Verlängerung des
Mandats in seinem ganzen Umfang, so wie wir es vor einem Jahr beschlossen haben, und zwar sowohl hinsichtlich des Umfangs der Streitkräfte als auch seines regionalen Umfangs. Es ist in der Tat richtig, dass die Fortschritte
in Afghanistan dazu geführt haben, dass dem Terrorismus
seine direkte regionale Basis entzogen wurde. Es gibt kein
anderes vergleichbares Land, das die frühere Rolle
Afghanistans bei der Unterstützung der Terrorismusorganisation al-Qaida und des internationalen Terroris384
mus spielen würde. Dennoch besteht die Gefahr fort. Es
gab regionale Verlagerungen vor allen Dingen hin zum
Nahen und Mittleren Osten. Ich erinnere mich in diesem
Zusammenhang daran, dass es noch vor einem Jahr Zweifel daran gab, ob der Einsatz der Marine wirklich notwendig ist. Wir können heute, nach dem Terroranschlag
auf die „USS Cole“, ein Kriegsschiff der Amerikaner, in
Aden, der vor dem 11. September stattgefunden hat, und
auch nach dem Angriff auf den französischen Tanker
„Limburg“ feststellen, dass dieser Einsatz sehr wohl notwendig ist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen über die
Kommunikation zwischen der arabischen Halbinsel und
dem östlichen Afrika ist das ein weiterer wichtiger Punkt.
Es ist genauso richtig - auch das ist ein entscheidender
Punkt - , dass wir die zunehmenden Gefahren auf der arabischen Halbinsel ernst nehmen. Auch aus diesem Grund
ist die Aufstellung, wie wir sie vor einem Jahr beschlossen haben, notwendig, richtig und wichtig.
Meine Damen und Herren, es gibt doch überhaupt keinen Zweifel: Die Bundesrepublik Deutschland hat vor einem Jahr eine ohne jeden Zweifel schwere Entscheidung
fällen müssen. An diesem Punkt kann ich Ihnen, Kollege
Pflüger, nur sagen: Es ist eine schmerzhafte Auseinandersetzung gewesen, aber die Mehrheit war vorhanden, das
wollen wir nicht vergessen. Wenn es in der Frage über
Krieg und Frieden eine Auseinandersetzung gibt und sie
immer wieder hinterfragt wird, dann halte ich das nicht für
kritisierenswert; denn ich meine, dieser Auseinandersetzung muss man sich stellen.
({10})
Sie führen die Diskussion gerade so, als ob die Begründungspflicht, die der Verfassungsgeber wollte, nicht
existieren würde und als ob die Mehrheit, und zwar sowohl die alte wie die neue, nicht die Kraft dazu gehabt
hätte, die notwendigen Entscheidungen unter schwierigsten Bedingungen zu treffen und auch umzusetzen.
Meine Damen und Herren; wir halten es für notwendig,
dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus
unverändert fortgeführt wird, wir halten es aber auch für
notwendig, dass es hier nicht zu einer aus unserer Sicht
riskanten, weil in ihren Konsequenzen nicht zu Ende gedachten und dadurch hoch kontraproduktiven Verschiebung der Prioritäten kommt. Wir haben eine klare Haltung
und Sie werden mit noch so viel Sophisterei und dem Versuch, Textexegese zu betreiben, um politisch etwas auseinander zu dividieren, keinen Erfolg haben.
Der Bundeskanzler hat das in seiner Regierungserklärung in der letzten Woche wiederholt. Auch ich bin in
meiner Rede noch einmal darauf eingegangen: Wir werden uns an einer möglichen Irak-Aktion nicht beteiligen.
Dabei bleibt es. Umso wichtiger ist es, dass wir in der
Frage der klaren Prioritätensetzung, des Kampfs gegen
den internationalen Terrorismus unseren Beitrag leisten.
Ich danke Ihnen.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Günther Nolting,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Fischer, wenn Sie unsere Politik der 80er-Jahre hier
heute kritisieren, muss es auch erlaubt sein zu fragen, wie
Ihre Politik Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre
aussah. Ich glaube, Sie haben hier eine Gedächtnislücke.
({0})
Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion konnte im letzten Jahr dem Antrag der Bundesregierung zu Enduring Freedom nicht zustimmen, da der Bundeskanzler an die Zustimmung die Vertrauensfrage
gekoppelt hatte. Verständlicherweise konnten wir dem
Bundeskanzler unser Vertrauen nicht aussprechen und
werden dies auch heute nicht tun, übrigens auch in der
nächsten Woche nicht.
({1})
Seit einem knappen Jahr erfüllen Tausende deutscher
Soldaten im Rahmen von Enduring Freedom ihren Auftrag in Afghanistan, in Kuwait und am Horn von Afrika
mit Bravour. Wir bedanken uns bei unseren Soldatinnen
und Soldaten für diese Arbeit.
({2})
Dabei sind die Bedingungen, die ihnen vonseiten der Bundesregierung vorgegeben werden, nicht die besten, um
nicht zu sagen, schlechter könnten sie eigentlich nicht
sein.
Herr Minister Struck, Herr Minister Fischer, Sie haben
den Marineverband am Horn von Afrika angesprochen. Sie haben aber vergessen zu erwähnen, dass unsere
Soldatinnen und Soldaten mit unzulänglichem Material
ausgestattet sind. Eine effektive Arbeit ist hier nur eingeschränkt möglich. Die Technik ist nicht mit der anderer
Nationen kompatibel und hält den hohen Temperaturen
nicht stand. Die engen nationalen Einsatzrichtlinien verbieten den deutschen Marinesoldaten darüber hinaus ein
An- bzw. Festhalten oder Durchsuchen verdächtiger
Schiffe.
Das ist aus unserer Sicht nicht zu begreifen. Durch
reine Präsenz, ohne weitere Befugnisse und Eingreifmöglichkeiten kann dem internationalen Terrorismus nicht
Einhalt geboten werden.
({3})
Der Einsatz am Horn von Afrika scheint reines rot-grünes
Alibi zu sein. Deutschland ist zwar dabei, aber eingreifen
dürfen die Soldaten nicht wirklich. Herr Minister Struck,
das ist ein untragbarer Zustand. Dies haben unsere Soldaten nicht verdient.
({4})
In einer ähnlichen Situation sind die 52 deutschen
ABC-Abwehrsoldaten in Kuwait. Sie machen nur
20 Prozent des wichtigen Spezialverbandes aus. Der Rest
der Truppe ist in einer so genannten 96-Stunden-Bereitschaft in Deutschland. Die sechs ABC-Spürpanzer sowie
die weiteren in Kuwait stationierten Fahrzeuge sind jedoch nur mit der gesamten Truppe einsatzfähig. So erfüllen 52 Soldaten in Kuwait mehr oder weniger lediglich einen Wach- und Instandhaltungsauftrag; sie halten schlicht
und ergreifend die Stellung - mehr dürfen sie nicht.
Das Einsatzgebiet der ABC-Abwehrtruppe ist die arabische Halbinsel, ausgenommen Irak. Ich will jetzt auf
den Irak nicht näher eingehen. Aber ich will schon sagen,
dass auf diesem politischen Feld der Herr Bundeskanzler
und der Herr Außenminister längst alles verfügbare Porzellan zerschlagen haben.
({5})
Betrachten wir also lediglich Kuwait. Sollten dort chemische oder biologische Waffen von terroristischen Kräften gegen militärische oder zivile Ziele eingesetzt werden,
so bliebe den deutschen ABC-Abwehrsoldaten nur noch
das Zählen von Toten und Verwundeten, da der Großteil
des Verbandes in Deutschland ist und erst nach drei bis
vier Tagen vor Ort einsatzbereit wäre.
({6})
Das ist die Situation, die uns vor Ort vom zuständigen USGeneral im Camp Doha geschildert wurde. Er bat nicht
einmal um die Aufstockung der deutschen Kräfte auf
100 Prozent, aber er bat um die Stationierung der kompletten Besatzungen der sechs ABC-Spürpanzer und des
zwingend dazugehörigen Personals in Kuwait.
Aus unserer Sicht ist das schlichtweg ein Skandal.
Auch hier nur rot-grüne Symbolpolitik! Da besitzen wir
ausnahmsweise das beste Gerät bezüglich des Aufspürens
und Bekämpfens biologischer und chemischer Kampfmittel und die alliierten Streitkräfte wären für eine Unterstützung durch die deutschen Soldaten mehr als dankbar die im Übrigen nur eine schützende bzw. eine helfende,
also eine rein humanitäre, Funktion haben -, doch die
deutsche Regierung verdammt die Soldaten durch ihre
Vorgaben zur Untätigkeit. Nicht einmal humanitäre Hilfen werden gewährt - und das offensichtlich nur, weil
Kuwait das Nachbarland des Irak ist.
({7})
Die Menschen in Deutschland erwarten eine verantwortungsvolle Politik der Regierung. Sie verlangen auch
von der Opposition verantwortungsvolles Handeln. Die
FDP wird sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Allerdings können wir unter den derzeitigen Einsatz- und
Rahmenbedingungen nicht leichtfertig und ohne eingehende Prüfung einer Verlängerung der Beteiligung
deutscher Streitkräfte an der Operation Enduring Freedom zustimmen. Das gilt im Übrigen auch für die Finanzierung. Herr Minister Struck, der Hinweis, dass Einzelheiten im Haushalt 2003 festgelegt werden, reicht uns
nicht. Dazu werden Sie uns in der nächsten Woche auch
im Verteidigungsausschuss noch Auskunft geben müssen.
Herr Minister Struck und Herr Minister Fischer, ich
hätte es mir gewünscht, dass Sie heute auch ein Wort zu
den Arbeitsbedingungen der Soldatinnen und Soldaten gesagt hätten, dass Sie die Probleme - auch die
persönlichen Probleme - der Soldatinnen und Soldaten
angesprochen hätten, zum Beispiel die unzulänglichen
Unterbringungsmöglichkeiten und die viel zu langen Auslandsaufenthalte mit einer Dauer von sechs Monaten.
({8})
Sie haben Gelegenheit, in der nächsten Woche auch hierzu
noch einmal Stellung zu nehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Pflüger, wenn man sich Ihre Rede hier angehört hat - ich würde Ihnen empfehlen, sie selber noch
einmal nachzulesen -, dann war es jedenfalls für mich
schmerzhaft und offensichtlich, wie sehr wir den ehemaligen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion für Außenpolitik,
unseren verehrten Kollegen Karl Lamers, vermissen. Sie
haben dazu einen Kontrapunkt gesetzt - und zwar keinen
guten.
({0})
Ich will Ihnen das auch belegen. Sie haben in relativ verkürzter Form das Thema des Terrorismus angesprochen.
Auch ich glaube, dass wir es hier - das gestehe ich Ihnen
durchaus zu -, mit einer neuen Form des Totalitarismus zu
tun haben. Wir müssen hier aber genau differenzieren.
Wenn es richtig ist, was Sie sagen, dass man die Gefolgschaft, die Osama Bin Laden für sich gewinnen kann, zerstören muss, dann geht das nicht dadurch, dass wir uns auf
dem Pfad bewegen, den auch schon andere, wie zum Beispiel Samuel Huntington, analytisch beschrieben haben.
Das, was Sie gesagt haben, hörte sich so an, als wenn wir
uns in einem Clash of Civilisations, in einem Kampf der
Kulturen, befänden. Aber in Wahrheit findet innerhalb des
Islams ein kultureller Kampf statt. In dieser Hinsicht müssen wir differenzieren. Wir müssen durch den Dialog der
Kulturen dafür sorgen, dass die gewaltbesetzte Form des
Islamismus keine Chance hat. Diesem Aspekt haben Sie
in Ihrer Rede aber leider nicht Rechnung getragen.
({1})
Herr Kollege Nolting, Sie sind meines Wissens doch
Mitglied des Verteidigungsausschusses. Ich glaube, Sie
haben gestern genau über das debattiert, wozu Sie hier
eben Fragen gestellt haben. Ich würde mir sehr wünschen,
dass Sie das, was Ihnen der Verteidigungsminister gestern
gesagt hat, wenigstens einmal zur Kenntnis nehmen und
nicht genau die Fragen, die Sie gestern schon gestellt haben, hier wiederholen. Das wäre intellektuell redlicher.
({2})
Lieber Kollege Pflüger, es reicht nicht aus, voller Emotionen zu reden. Man darf sich durch Emotionen nicht hinreißen lassen, sondern muss ein wenig differenzieren, damit man das, was andere als Gefahr sehen, nicht nur
wiederholt und bestätigt. Man muss vielmehr die Frage
prüfen - das müssen wir in den nächsten Tagen in unseren Ausschüssen machen -, was eigentlich das Wichtigste
ist, worauf wir eine Antwort finden müssen. Die wichtigste Frage ist nicht die Frage nach der völkerrechtlichen
Substanz. Die Grundlage des Beschlusses für Enduring
Freedom hat sich nicht verändert. Dies sind Art. 51 der
Charta der Vereinten Nationen sowie die beiden Resolutionen des Weltsicherheitsrats.
Die wichtigste Frage lautet, warum der Kampf gegen
den internationalen Terrorismus, wie er sich in seiner
jüngsten Form zeigt, auch mit militärischen Mitteln fortgesetzt werden muss. Ist nicht al-Qaida entscheidend geschwächt? Ist nicht die Diktatur der Taliban zerbrochen?
Das ist geschehen. Die Diktatur der Taliban in Afghanistan in der Form, wie wir sie lange kannten, gibt es nicht
mehr. Der hundertfache Tod auf Bali, die Anschläge, die
wir auf Djerba erlebt haben, zeigen, dass sich der Terrorismus neue Ziele sucht und dass er sich Touristen als Ziel
aussucht. Diese grausamen Terrorakte machen deutlich:
Der Kampf ist längst nicht zu Ende. Er ist deshalb nicht
zu Ende, weil der Terrorismus seine Ziele noch nicht aufgegeben hat.
Ich würde Ihnen, Herr Kollege Pflüger, empfehlen,
einmal nachzulesen, was Sadik Jalal al-Azm, Professor
für Philosophie an der Universität in Damaskus, über die
neue Form des Terrorismus, soweit sie sich aus islamistischen Versatzstücken speist, sowie darüber, wie er den
Terrorismus empfindet, schreibt. Die jüngste Form des
Terrorismus habe bestimmte Methoden. Dieser Terrorismus greife auch auf Formen zurück, die wir in Europa
kennen. Die Action directe werde als das einzig verbliebene Mittel angesehen, die Menschheit aus dem Unglauben zu befreien. Der Westen verteidige den Unglauben, in
Europa habe er seine Wurzeln. Der wirkliche Kampf, der
hier geführt werde, richte sich dagegen - so dieser Kritiker des Islams, der selber aus dem Islam stammt -, dass
die Moderne der arabischen Welt von außen aufgezwungen worden sei. Dagegen wehrt sich diese Form des Islamismus. Deswegen glaube ich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass wir sehr viel differenzierter mit diesem
Problem umgehen müssen und sehr viel klarer erkennen
müssen, welche Chancen es gibt, durch den Dialog der
Kulturen dafür zu sorgen, dass diese Differenzierung innerhalb des Islams vorangetrieben wird. Das ist genauso
wichtig, wenn nicht sogar viel wichtiger, als sich nur militärisch mit dieser extremen, mit dieser terroristischen
Form auseinander zu setzen.
({3})
Etwas anderes: Der Angriff ist auf die offene Gesellschaft und auf die Freiheit, die wir leben, gerichtet. Die
Touristen in Bali wollten ihre Form des Konsums und der
Freiheit leben. Der Terrorismus hat sich dagegen gewehrt
und meint, dass er die Form der Freiheit, die wir leben, angreifen muss. Diese Auseinandersetzung steht uns wahrscheinlich erst noch bevor. Dieser Auseinandersetzung
richtig zu begegnen hat nicht allein etwas mit dem Instrument des Militärs zu tun.
Herr Nolting, lassen Sie mich an diesem Punkt noch eines sagen: Wir haben der Regierung mit der Entscheidung
zu Enduring Freedom im letzten Jahr die Möglichkeit gegeben, ein Mandat auszufüllen. Ich sage ganz klar: Ich
finde es gut, wie die beiden Verteidigungsminister
Rudolf Scharping und Peter Struck mit diesem Mandat
umgegangen sind. Sie sind den Ängsten, die wir vor einem Jahr hier erlebt haben, begegnet. Dieses Mandat ist
in einer Form umgesetzt worden, dass der Rahmen niemals überschritten wurde. Die Angst, die hier zu hören
war, es ginge um eine Militarisierung, hat sich nicht bestätigt. Ich danke den Verteidigungsministern, die dafür
gesorgt haben, dass dieses Mandat verantwortungsbewusst genutzt wurde.
({4})
Sie haben - das ist nicht zu vergessen - den Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit gegeben, sich an einem
multilateralen Prozess zu beteiligen. Die Koalition gegen
den internationalen Terrorismus aufzubauen ist in der Tat
eine wichtige Aufgabe unserer Zeit. Dafür brauchen wir
aber auch die Fähigkeiten und das Können der Soldatinnen und Soldaten. Ich bin dankbar, dass die Politik dafür
gesorgt hat, dass die Soldatinnen und Soldaten ihre Fähigkeiten in einem Prozess, der zum Frieden führt, einsetzen
können. Es ist heute die Aufgabe des Militärs, dafür zu
sorgen, dass die Menschen eine Chance haben, innerhalb
eines Rahmens der Sicherheit so zu leben, dass sie ihre
gewünschte Form der Freiheit in der Region, in der sie leben, auch wirklich verwirklichen können.
({5})
Die Soldatinnen und Soldaten haben innerhalb des Mandats von Enduring Freedom das erreicht, worauf es ankommt; dafür danken wir ihnen.
Der Auftrag - das wissen wir alle - ist voller Gefahren.
Die Soldaten beweisen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Kampf gegen den Terrorismus ein Partner in der
internationalen Koalition ist. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, auf diese Bundesrepublik Deutschland ist Verlass. Wir sind die Nation, die nach den USA das stärkste
Kontingent an Soldatinnen und Soldaten innerhalb der
unterschiedlichen Mandate aufweist. Ich sage Ihnen: Die
Isolierung, die Sie hier beschrieben haben, hat mit der
Gert Weisskirchen ({6})
Gert Weisskirchen ({7})
Realität auf der Erde und mit der Realität der Mandate, die
die UNO vergibt, absolut nichts zu tun. Das, was Sie hier
produzieren, ist nichts anderes als Wahlkampfgetöse.
({8})
Von 3 900 möglichen Soldatinnen und Soldaten ist gegenwärtig gerade einmal ein Drittel im Rahmen des Mandats von Enduring Freedom tätig. Sie leisten etwas: Heute
sehen wir, dass die territoriale Basis von al-Qaida in Afghanistan weitgehend zerschlagen werden konnte. Wir
alle wissen, dass diese Basis noch nicht völlig zerstört
wurde. Teilkräfte haben auch in Afghanistan begonnen,
sich neu zu gruppieren. Wir sehen, dass an den Rändern
Afghanistans - im Osten und im Süden - wieder neue
Netze geknüpft werden. Dies ist nicht allein dort zu beobachten. Die neue Form des Terrorismus fordert die internationale Staatengemeinschaft auch weiterhin heraus.
Sie muss Strategien gegen die Privatisierung von Gewalt
und gegen die Privatisierung von Krieg entwickeln. Enduring Freedom - eine militärische Operation - ist ein Instrument und nichts anderes.
Gewiss, immer wird es Menschen geben, die hassen
und töten, selbst wenn alle Ungerechtigkeiten beseitigt
sein werden. Doch ist klar: Täter zu verhindern ist wichtiger und wirkungsvoller, als Taten zu verhindern. In dem
Moment, in dem es keine Täter gibt, wird es hoffentlich
auch keine Taten geben. Deswegen ist richtig: Prävention
kann den Kampf gegen den Terrorismus nicht ersetzen.
Der beste Kampf gegen den Terrorismus ist, ihn gar nicht
erst entstehen oder jedenfalls keinen neuen Terrorismus
nachwachsen zu lassen.
Man kann den Worten Kofi Annans zustimmen - ich
zitiere -:
Aber wenn die Welt beweisen kann, ... dass sie beharrlich an der Schaffung einer stärkeren, gerechteren, gütigeren und noch internationaleren Gemeinschaft über alle Grenzen von Religion und Rasse
hinweg arbeitet, dann wird der Terrorismus sein Ziel
verfehlen.
Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich regionale
Konflikte entschärfen, dass wir uns für mehr Gerechtigkeit einsetzen. Wer dafür streitet, dass sich für alle Menschen Chancen eröffnen, dass sie ihre Form der Freiheit
leben können, der hilft mit, dass Terroristen nicht mehr
gehört werden. Deswegen ist es so wichtig, dass zum Beispiel das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung beim Bau von Schulen und Krankenhäusern mithilft.
Der Aufbau einer zivilen Gesellschaft in Afghanistan
ist nicht möglich, wenn Enduring Freedom nicht fortgesetzt wird. Aus diesem Grunde brauchen wir die Erneuerung und Verlängerung des Mandats. Wir brauchen es, damit es eine Form der Sicherheit gibt, die durch Militär
gewährleistet werden kann, damit die Menschen ihre Freiheit in Afghanistan und in anderen Regionen dieses bedrohten Raumes wirklich durchsetzen können.
({9})
Wer einmal - darum möchte ich alle bitten, die sich mit
dem Gedanken tragen, lieber Kollege Ströbele, möglicherweise mit Nein zu stimmen - mit Menschen aus Afghanistan spricht, der sollte ihnen genau in die Augen
schauen. Er sollte sich überlegen, woher die Angst
kommt, die aus diesen Menschen spricht. Es ist die Angst
von 22 Jahren Krieg, die sie erlitten haben, einer Kette
von Bürgerkriegen. 1979 war der Einmarsch der Sowjets.
Es folgte Krieg auf Krieg. Zehntausende von Menschen
wurden ermordet. Hunderttausende sind geflohen. Ein
Fünftel der afghanischen Bevölkerung hat bis zum letzten
Jahr außerhalb Afghanistans leben müssen, weil es aus
dieser Zone des Krieges und der Gewalt fliehen musste.
Jetzt können die Menschen zurückkehren. Ist das nicht
ein Zeichen dafür, dass diese Form der äußeren Sicherheit
garantiert werden muss? Wenn sie von innen nicht gewährleistet werden kann, dann muss die internationale
Staatengemeinschaft dafür sorgen, dass die Flüchtlinge
zurückkehren können. Das ist ein deutliches Zeichen des
Erfolges. Das muss man denen sagen, die sich noch die
Frage stellen, ob sie der Verlängerung des Mandats zustimmen werden.
Mein letzter Punkt. Die Menschen in Afghanistan befürchten noch etwas. Ihre Angst ist: Werden wir das
nächste Mal vergessen, wenn die Scheinwerfer der
Weltöffentlichkeit nicht mehr auf Afghanistan gerichtet
sind? Dieser doppelten Angst - Rückkehr des Krieges und
die Furcht, vergessen zu werden, verlassen zu sein - begegnen wir, wenn wir Enduring Freedom zustimmen.
({10})
Ausweislich des Protokolls hat der Kollege Hans
Büttner während der Rede von Friedbert Pflüger dazwischengerufen: „Sie sind ein Kriegshetzer!“ Lieber Kollege Büttner, so etwas sollten wir uns bei aller Auseinandersetzung in diesem Parlament nicht antun. Ich erteile
Ihnen einen Ordnungsruf.
Nun hat Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! So
ganz recht weiß ich nicht, was die aufgeregte Rede des
Kollegen Weisskirchen bewerkstelligen sollte. Offensichtlich richtete sie sich vor allem an die eigene Koalition.
({0})
Offensichtlich hat man gemerkt, dass nicht mehr wie vor
einem Jahr die Substanz vorhanden ist, nach dem eigenen
Gewissen und der eigenen Gesinnung zu handeln und einige zustimmen und einige ablehnen zu lassen, damit man
sozusagen auf beiden Schultern Wasser tragen kann. Diesmal müssen Sie schon alle mit an Bord nehmen.
Ich möchte Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass
Sie keine Carte blanche von uns bekommen. Sie müssen
sich Ihre Mehrheit schon selbst besorgen.
({1})
Wenn Sie der Meinung sind, dass die Fortsetzung dieses
Mandats notwendig ist, klären Sie das bitte erst in Ihren
eigenen Reihen ab, bevor Sie es als Antrag in das Plenum
des Deutschen Bundestags einbringen.
({2})
Um es noch einmal klarzustellen: Eine Carte blanche
ist nicht erteilt worden. Die grundsätzliche Zustimmung,
die der Kollege Pflüger signalisiert hat, hat mit unserer
grundsätzlichen Übereinstimmung hinsichtlich der Erkenntnis zu tun, dass Terrorismus bekämpft werden
muss. Die handwerkliche Arbeit muss von Ihnen durchgeführt werden. Dann werden wir konkret entscheiden,
wie wir uns dazu verhalten. Das wird nächste Woche der
Fall sein.
({3})
Herr Kollege Weisskirchen, ich weiß, dass Professoren
dazu neigen, Zensuren zu erteilen und professoral zu reden, aber ich schlage Ihnen vor, die Zensuren, die Sie den
Kollegen Pflüger und Nolting erteilt haben, wieder
zurückzunehmen. Denn die Opposition hat nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht, im Interesse unseres Landes und der Soldaten Fragen zu stellen. Die Fragen, die
der Kollege Nolting gestellt hat, sind durchaus noch zu
beantworten. Dazu werden wir in den nächsten Tagen
noch einiges hören wollen.
Was das Problem betrifft, ob tatsächlich alle Fragen zur
Zukunft des KSK, des Einsatzspektrums und zum Einsatzgebiet am Horn von Afrika bereits geklärt worden
sind, so sind zwar erste Hinweise erfolgt, aber ich sehe
trotzdem gespannt der nächsten Woche entgegen, wenn
der Verteidigungsminister, Herr Struck, nach Washington
reisen wird - ich wünsche ihm eine gute Reise und gute
Gespräche mit Herrn Rumsfeld - und wenn wir dann erfahren werden, welche Ergebnisse er mitbringt und ob
sich möglicherweise das eine oder andere in einem anderen Licht darstellen wird.
Eines habe ich noch vergessen. Ich will Ihnen diese Arbeit nicht abnehmen, Herr Verteidigungsminister, aber es
sind eine Dankesschuld und auch Glückwünsche fällig.
Möglicherweise wird Herr Rumsfeld keinen großen Wert
darauf legen, dass Sie die besten Glückwünsche aus
Deutschland zum Wahlsieg von Präsident Bush und seiner Partei bei den Zwischenwahlen ausrichten; deshalb
gratuliere ich vorsichtshalber von dieser Stelle aus unseren Freunden in den USA.
({4})
Zu der sauberen handwerklichen Arbeit, über die wir
zu sprechen haben, gehört auch, dass Sie, Herr Fischer,
nicht den Eindruck erwecken, Sie würden die Außen- und
Sicherheitspolitik nach dem Aktenbocksystem betreiben.
Ihnen als Chef einer großen Behörde ist ja bekannt, dass
es dort Aktenboten gibt, die für den Posteingang und den
Postausgang zuständig sind. Die Weiterleitung der Post
erfolgt nach dem Motto „First in, first out“, und entsprechend wird gehandelt. So kann die Außenpolitik aber
nicht funktionieren. Sie verbrämen Ihre Politik stets mit
dem Begriff Prioritätensetzung nach dem Motto „Lasst
uns zunächst die Operation Enduring Freedom zu Ende
führen; dann schauen wir, was im Irak oder sonst irgendwo los ist“. Leider handelt es sich hierbei um Hydren, denen mehrere Köpfe wachsen. Das heißt, man
muss zwar das eine tun, darf aber das andere nicht lassen.
Sie werden sich auch nicht mit der Erklärung „Ohne
mich! Ich mache dabei nicht mit“ aus der internationalen
Entwicklung verabschieden können. Das ist eine Übung,
die seit den 50er-Jahren bzw. seit den Ostermärschen Tradition hat und die Sie in den 70er- und 80er-Jahren in
Frankfurt auf der Zeil dokumentiert haben. Das mag zwar
Ihrem Verständnis von Außenpolitik entsprochen haben,
geholfen hat es unserem Lande aber nicht.
({5})
Genauso wenig hilft es, diese „Ohne-mich-Haltung“ jetzt
fortzusetzen. Sie sind doch gefordert festzustellen, welche Konsequenzen eine mögliche Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hat, weil der
Bundeskanzler, der offensichtlich bereits aus dieser Debatte geflüchtet ist, die große Chance vertan hat, die der
Kollege Pflüger unterstrichen hat, nämlich die Chance einer Annäherung an die französische Position und der Entwicklung einer europäischen Position, um im Sinne der
Interessen unseres Landes wieder ins Spiel zu kommen.
Nachdem er die vertan hat, stehen Sie doch außen vor. Sie
wissen doch genauso gut wie wir, dass der zweite Teil von
Enduring Freedom eben nicht abgesetzt von anderen internationalen politischen Entwicklungen gesehen werden
kann. Wenn sich im Irak Entwicklungen ergeben, was wir
nicht anstreben, müssen doch folgende Fragen beantwortet werden: Was ist mit den Spürpanzern in Kuwait?
({6})
Ist das passiv oder nehmen wir aktiv teil?
({7})
Was ist, wenn Giftgas eingesetzt wird? Ich habe vor
kurzem - der eine oder andere hat solche Bilder vielleicht
auch schon einmal gesehen - mit dem Untersuchungsführer der Vereinten Nationen, einem Medizinprofessor aus
Gent, Bilder über die Giftgaseinsätze von Saddam
Hussein gegen den Iran gesehen, die einem den Appetit
vergehen lassen. Da sind nüchterne Fragen gestellt, übrigens bis hin zu der Frage, ob die Ausrüstung, auch die
NATO-Ausrüstung, ausreicht, damit sich die Soldaten gegen solche Dinge, von denen wir alle wissen, dass sie in
den Arsenalen von Herrn Saddam Hussein vorhanden
sind, selber schützen können. Das gehört für mich zum
Handwerk und das zähle ich zum Thema Aufrichtigkeit
vor der Öffentlichkeit und vor uns selbst. Wenn Sie, Herr
Außenminister, die Öffentlichkeit, die an den Fernsehern
Christian Schmidt ({8})
Christian Schmidt ({9})
und sonst wo zuhört, schon ansprechen, dann müssen Sie
auch diese Fragen beantworten.
({10})
Übrigens sind die wesentlichen Abrüstungsschritte der
80er- und der 90er-Jahre von einer christlich-liberalen
Koalition in diesem Lande mit nach vorne gebracht worden. Ich darf hier daran erinnern, dass sowohl das Atomteststoppabkommen, das mit vielen Problemen behaftet
war und leider - vor der jetzigen Administration - in
Washington gescheitert ist, als auch einige andere Dinge
von den Regierungen Kohl/Genscher und Kohl/Kinkel
betrieben worden sind. Die Legenden, die Sie hier zu bilden versucht haben, wollen wir gleich einmal zurückweisen und ablegen.
Selbstverständlich geht es auch um die Sicherheit der
Soldaten; das Thema muss fast an erster Stelle stehen.
Der Verteidigungsminister hat, was ihm im Kabinett sicherlich zur Ehre gereicht, diese Debatte eröffnet. Federführend ist allerdings der Außenminister. Ich habe gedacht, jetzt kommt jemand und sagt: Unsere Soldaten
stehen unter diesen und jenen Gefährdungen, vielleicht
unter mehr Gefährdungen als noch vor einem Jahr, und
deswegen möchten wir diese und jene Schritte tun. Darüber werden wir noch einmal reden müssen, angefangen
bei den Stehzeiten der Soldaten. Das alles mag uns hier als
Lappalie erscheinen, aber sechs Monate in Afghanistan
oder sonst wo fern der Heimat, mit allen familiären Problemen, veranlassen uns schon - ich glaube, zu Recht - zu sagen: in Zukunft flexibler und vier Monate als Grundregel.
({11})
Eine letzte Bitte: In der Tat ist es gut, wenn die Soldaten bei ihrem Einsatz wissen, dass wir alle hinter ihnen
stehen und unsere Fürsorgepflicht wahrnehmen. Aber
eine Bemerkung kann ich mir nun nicht verkneifen. Herr
Kollege Weisskirchen, Sie haben die Entwicklungspolitik
zitiert. Der amerikanische Präsident hat, übrigens von diesem Pult aus, noch vor einigen Monaten den Appell an uns
alle gerichtet, auch die Entwicklungspolitik als Instrument von Friedenspolitik zu sehen. Er leistet in diesem
Bereich finanziell vielleicht mehr als diese Bundesregierung. Aber die Chefin des Entwicklungshilfeministeriums, Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, hat, wenn ich mich
richtig erinnere - das genaue Zitat habe ich nicht mehr im
Kopf -, vor ziemlich genau einem Jahr, wie viele andere
im rot-grünen Spektrum, noch vor Enduring Freedom, vor
militärischen Eingriffen in Afghanistan gewarnt. Es gab
das Wort von der drohenden humanitären Katastrophe.
Heute hört sich das alles ganz anders an. Im besten Falle,
Herr Weisskirchen, können Sie sagen: Ich, Weisskirchen,
habe mit meinen Kollegen dazugelernt, ich bin schlauer
geworden. Kein Mensch verhindert das, das passiert jeden
Tag. Arbeiten Sie weiter daran; Sie haben noch viel zu tun.
({12})
Ich erteile das Wort der fraktionslosen Abgeordneten
Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
vorangegangene Debatte über Bundeswehreinsätze in
Afghanistan ist vielen in diesem Hause sicherlich noch in
Erinnerung. Der Bundeskanzler verknüpfte damals den
Marschbefehl mit der Vertrauensfrage. Es war sehr viel
von Nötigung die Rede.
Danach bemühten sich insbesondere die Fraktionsspitzen vom Bündnis 90/Die Grünen, den Charakter des
Afghanistan-Mandats umzudeuten. Fast mochte man
glauben, der Einsatz erfolge auf Bitte des Weltfrauengipfels und - ich betone dies - ausschließlich zum Wohle
tatsächlich unterdrückter Frauen in Afghanistan. Die zivilen Opfer des Antiterroreinsatzes wurden bislang übrigens nicht erwähnt. Auch daran sei hier erinnert: Eigentlich sollte es darum gehen, jener Terroristen habhaft zu
werden, die für die Anschläge am 11. September in den
USA verantwortlich sind und in Afghanistan vermutet
wurden.
Einen Merksatz aus der Debatte im Dezember des vergangenen Jahres will ich nicht vergessen. Damals versicherte der Bundeskanzler ausdrücklich, deutsche Soldaten würden auf keinen Fall an Kampfeinsätzen
teilnehmen. Seit anderthalb Wochen lesen wir anderes, im
„Spiegel“ ebenso wie in der „FAZ“: Es geht doch um
Kampfeinsätze; es geht um einen eigenständigen Beitrag
deutscher KSK-Kräfte; es geht hier heute also um ein
Kriegsmandat für mindestens ein Jahr.
Gewiss, im heute vorliegenden Antrag liest sich das
nicht ganz so deutlich; es wird aber auch nicht ausgeschlossen. Also halte ich fest: Minister Struck hat - so lese
ich es in den zitierten Artikeln - die von mir genannten
Pressemeldungen bestätigt. Ich stelle fest: Er hat auch
heute kein glaubwürdiges Widerwort dazu gefunden. Der
Bundestag entscheidet also keineswegs über die bloße
Verlängerung eines ablaufenden Mandats. Es geht um
eine neue Qualität: Es geht um Kriegseinsätze.
Auch einen weiteren Verdacht schaffen Sie mit diesem
Antrag und der heutigen Debatte nicht aus dem Raum:
Die rot-grüne Regierung setzt auf Vernunft und verweigert sich bisher einem Krieg gegen den Irak - so weit, so
gut. Offenbar geschieht das sehr zum Verdruss der Opposition zur Rechten. Nun klemmt es aber seit dem Nein
zum Irak-Krieg im Verhältnis zwischen den USA und der
Bundesrepublik. Das Ganze, was jetzt abläuft, riecht ganz
übel nach einem Deal: Deutschland entlastet die USA militärisch in Afghanistan und anderswo, damit diese sich
weiter auf den Irak einschießen können. Sie wissen, dass
die „PDS im Bundestag“ dem nicht zustimmen wird.
({0})
Vor Jahresfrist war viel von der Not der Menschen in
Afghanistan, vom drohenden Winter und von den Minenopfern die Rede. Auch heute droht der Winter, auch heute
herrscht bittere Not und auch heute werden Menschen
Opfer von Minen. Wir beide, die Vertreterinnen der PDS,
können keine Debatte zu diesem Thema hier im Bundestag beantragen. Aber ich finde, es wird höchste Zeit, dass
sich der Bundestag auch damit beschäftigt. Vielleicht fin390
den sich Kolleginnen und Kollegen beim Bündnis 90/Die
Grünen oder bei der SPD, die bereit sind, auch diese Fragen auf die Tagesordnung zu setzen.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/37 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
- Drucksache 15/25 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
- Drucksache 15/26 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aktivierung kleiner Jobs ({2})
- Drucksache 15/23 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dagmar Wöhrl, Wolfgang
Börnsen ({4}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen Fördern
und Fordern in Vermittlungsagenturen
({5})
- Drucksache 15/24 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({6})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt-
schaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Dirk Niebel, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Handeln für mehr Arbeit
- Drucksache 15/32 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
({8})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir eröffnen heute die Debatte über einen GesetzPetra Pau
entwurf zur Förderung moderner Dienstleistungen auf
dem Arbeitsmarkt. Das ist das erste große Gesetzespaket,
das zur tiefgreifendsten Strukturänderung des Arbeitsmarktes in Deutschland hinführen soll.
Was wir vorlegen, stützt sich, wie Sie alle wissen, auf
die Ergebnisse der Hartz-Kommission. Ich möchte zu
Beginn dieser Debatte gern darauf hinweisen, dass es der
Kommission gelungen ist, das bisherige Lagerdenken zu
überwinden und einen Konsens zwischen den gesellschaftlichen Gruppen über zu ziehende Konsequenzen zu
entwickeln. Meine Vorstellung und Hoffnung ist, dass uns
ein solcher Konsens bei diesem überragend wichtigen arbeitsmarktpolitischen Thema des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit ebenfalls gelingt.
({0})
Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es
überaus wichtig, dass wir uns vornehmen, möglichst
gleich zu Anfang Missverständnisse, die es offensichtlich
gibt, auszuräumen, keine Scheingefechte oder Gefechte,
die keine tief greifenden Auseinandersetzungen zulassen,
zu führen und, wenn nur irgendwie möglich, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Das eilt, wie wir alle wissen. Die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland duldet keinen Aufschub unserer Aktivitäten.
Einige Schritte sind bereits im Sinne dessen, was die so
genannte Hartz-Kommission, also die Kommission unter
Leitung von Peter Hartz, uns empfohlen hat, getan. Der
neue Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit ist dabei, die
Arbeit der Anstalt effektiver und effizienter zu gestalten.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau bietet bereits, wie Sie
wissen, das Modell eines Jobfloaters an. Das Programm
mit dem Namen „Kapital für Arbeit“ gibt ja insbesondere mittelständischen Unternehmen zusätzliche Anreize,
Arbeitslose einzustellen. Weil es daran sowohl in den Debatten hier als auch öffentlich Kritik gegeben hat, weise
ich darauf hin, dass bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau inzwischen Hunderte von Anfragen zur Teilnahme an
dem Programm „Kapital für Arbeit“ vorliegen. Deshalb
scheint mir die Hoffnung, dieses Programm könne erfolgreich sein und für an die 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze
in Deutschland sorgen, nicht unbegründet.
({1})
Heute geht es darum, einen weiteren, einen sehr großen
Schritt voranzugehen. Es liegen die Gesetzentwürfe der
Koalitionsfraktionen vor, mit denen der erste große Baustein des Konzepts der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ umgesetzt werden soll. Diesem
Schritt werden weitere folgen: Als Nächstes werden die
gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine weitere Modernisierung der Bundesanstalt für Arbeit geschaffen.
Wir wollen dann die Selbstverwaltung auch auf örtlicher
Ebene reformieren und bei der Bundesanstalt weg von einer monetären Steuerung hin zu einer effektiven Zielsteuerung mit einem starken Controlling kommen. Außerdem wollen wir weg von dem starren Amtsapparat der
Arbeitsverwaltung hin zu einem kundenorientierten Handeln.
Der dritte große Schritt wurde auch bereits angekündigt: Bis Anfang 2004 müssen wir das Nebeneinander von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe überwunden und beides in
einem neuen Arbeitslosengeld II, wie der technische Begriff im Konzept der Hartz-Kommission lautet, zusammengefasst haben. Es ist sinnvoll, die Arbeitslosenhilfe
und die Sozialhilfe, jedenfalls soweit sie arbeitsfähigen
Sozialhilfeempfängern zukommt, in einer Leistung
zusammenzufassen. Es ist auch klar, dass wir uns vorgenommen haben, dieses Arbeitslosengeld II oberhalb des
bisherigen Satzes der Sozialhilfe zu positionieren, und
zwar auch materiell und finanziell. Vorbereitende Maßnahmen für diese Zusammenführung enthalten schon die
jetzt vorliegenden Gesetzentwürfe. Weil wir aber die finanziellen Folgen insgesamt berücksichtigen müssen, ist
es im Hinblick auf eine generelle Lösung sinnvoll, die Ergebnisse der Kommission zur Gemeindefinanzreform
abzuwarten und die endgültige Zusammenführung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bereich der Arbeitsfähigkeit erst zum 1. Januar 2004 wirksam werden zu
lassen.
Heute geht es um eine grundlegende Erneuerung der
Rahmenbedingungen für eine rasche und nachhaltige Vermittlung von Arbeitslosen in Arbeit, also um eine neue
Beschäftigungspolitik. Zugleich geht es auch um die Konsolidierung der Haushalte der Bundesanstalt und des Bundes. Der Umfang dieser Konsolidierungsbemühungen
liegt, wie von mir schon mehrfach öffentlich bestätigt, bei
rund 6 Milliarden Euro. Dabei sollen Arbeitnehmer und
Arbeitgeber trotz aller Sparnotwendigkeiten erstklassige
Dienstleistungen erhalten. Um das zu erreichen, verbessern wir den Service und die Vermittlungsarbeit der Arbeitsämter. Angebot und Nachfrage sollen also schneller
und besser befriedigt werden.
({2})
Es kann und sollte auch zukünftig nicht sein, dass Arbeitslose durchschnittlich mehr als 33 Wochen ohne Job
bleiben. Deshalb muss die Vermittlungsgeschwindigkeit
deutlich erhöht werden.
({3})
Jede Woche, die wir Arbeitslose früher vermitteln, bedeutet - aufs Ganze gerechnet - 115 000 Arbeitslose weniger
und entspricht einer Einsparung von etwa 1 Milliarde
Euro. Deshalb müssen wir auf ein höheres Tempo, einen
früheren Beginn der Vermittlungsarbeit drängen.
Wir nutzen zudem die Beschäftigungspotenziale der
Zeit- und Leiharbeit, um Arbeitslosen den Wiedereinstieg
ins Arbeitsleben zu erleichtern. Gleichzeitig wollen wir
mit diesem Gesetzespaket sozial abgesicherte Wege in die
Selbstständigkeit und die Dienstleistung in privaten
Haushalten fördern. Dass die Bekämpfung der Schwarzarbeit dabei ein wesentliches Anliegen ist, liegt auf der
Hand.
Die Gesetzentwürfe zur Umsetzung der Hartz-Vorschläge, die wir heute beraten, bringen einen wesentlichen Impuls für eine neue Beschäftigungspolitik in
Deutschland. Es geht um mehr Arbeitsplätze, um neue
Arbeitsplätze, um ein größeres Wachstum. Das ist ein wesentlicher Teil unserer Politik.
Konkret heißt das:
Wir wollen flächendeckend Jobcenter einrichten.
Diese Jobcenter sollen künftig die erste Adresse auf dem
Arbeitsmarkt sein. Das wird zum Nutzen all derer sein,
die arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Sie
werden künftig einen einzigen Ansprechpartner haben,
der die Integration in den Arbeitsmarkt in die Hand
nimmt. Es sollen also schon jetzt - bereits vor der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
Anfang 2004 - einheitliche Anlaufstellen geschaffen werden. In vielen Ländern, Städten und Gemeinden geschieht
das bereits.
Wir haben mit der Einführung dieser Methode bereits
gute Erfahrungen gemacht. Verschiedene Projekte im
Rahmen der Modellvorhaben zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe zeigen, dass so eine bessere Betreuung arbeitsloser
Menschen möglich wird. Wir wollen dafür sorgen, dass es
ab sofort mehr solcher Stellen gibt.
({4})
Ein wesentliches Hindernis dabei ist - das haben die
Projekte gezeigt - die Begrenztheit des Datenaustausches
zwischen den Behörden. Deshalb haben wir jetzt in den
Gesetzentwürfen vorgesehen, dass dieser Datenaustausch
uneingeschränkt möglich wird. Es liegt auf der Hand, dass
dies wichtig ist.
Die Vermittlungsgeschwindigkeit - ich habe es bereits
gesagt - muss erhöht werden. Gekündigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehen, wie wir wissen, oft nicht
sofort zum Arbeitsamt. Ich kann das verstehen; wer geht
schon gerne zum Arbeitsamt? Dieser unangenehme und
vielen Menschen fremde Gang wird nicht selten auf den
ersten Tag der Arbeitslosigkeit verschoben. Aber so geht
wertvolle Zeit verloren, die sinnvoll genutzt werden
muss. Der Vermittlungsprozess muss sofort nach der
Kündigung einsetzen und mögliche Vermittlungshemmnisse müssen sofort erkannt werden. Das heißt, bereits die
Zeit zwischen Kündigung und Beendigung der Arbeit
muss aktiv genutzt werden.
({5})
Nur so kann es gelingen zu erreichen, dass Arbeitslosigkeit erst gar nicht entsteht.
Wir wollen deshalb, dass sich Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer unverzüglich beim Arbeitsamt melden.
Nach Eingehen der Kündigung - das ist unsere gesetzliche Aufforderung - müssen sie diese in Zukunft beim Arbeitsamt melden, möglichst schon - so schwer das fallen
mag - an dem Tag, an dem sie ihre Kündigung erhalten.
Um dies zu erreichen, müssen wir einen gewissen Druck
ausüben: Eine verspätete Meldung wird in Zukunft, sobald der Gesetzentwurf Gesetzeskraft erreicht hat, Einbußen beim Arbeitslosengeld zur Folge haben.
Aber auch die Arbeitgeber, die kündigen, müssen ihrer
Verantwortung gerecht werden.
({6})
Wir erwarten von den Arbeitgebern, dass sie gekündigte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in zumutbaren Grenzen
zur Stellensuche und zur Teilnahme an Maßnahmen des
Arbeitsamtes freistellen.
Darüber hinaus müssen Arbeitslose verstärkt in die
Pflicht genommen werden. Wir müssen stärker auf die
Eigenbemühungen von Menschen drängen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Deshalb verlangen wir mit
diesem Gesetzentwurf eine größere Bereitschaft zur Mobilität, die wir auch fördern. Mobilität wird besonders
dann erwartet, wenn die familiäre Situation einen Wechsel des Wohnortes über den üblichen Pendlerbereich hinaus zulässt. Das gilt vor allen Dingen für ledige, jüngere
Menschen, denen dies abverlangt werden kann.
Zudem muss künftig ein Arbeitsloser bzw. eine Arbeitslose nachweisen, warum er oder sie ein Arbeitsangebot für unzumutbar hält. Die Beweislast für die Zumutbarkeit der Arbeit liegt nicht mehr beim Arbeitsamt,
jedenfalls dann nicht, wenn die Gründe für die Verweigerung einer Arbeitsaufnahme in der Sphäre des Arbeitslosen bzw. der Arbeitslosen liegen. Dies ist ebenfalls eine
wesentliche Veränderung, deren logische Konsequenz ist,
dass wir die starren Sperrzeitregelungen in Form von abgestuften Sanktionen flexibler handhaben werden, sodass
angemessen auf eine mangelnde Kooperationsbereitschaft von betroffenen Menschen reagiert werden kann.
Das heißt, wir drängen auf eine enge Kooperation zwischen dem Arbeitslosen und der Arbeitsverwaltung. Es
muss klar werden, dass die Hauptaufgabe der Arbeitsverwaltung die Arbeitsvermittlung und nicht die Finanzierung von Arbeitslosigkeit ist.
({7})
Deswegen brauchen wir die Kooperationsbereitschaft
aller, auch und vor allen Dingen der Betroffenen.
Auch Zeitarbeit und Leiharbeit sind grundsätzlich
zumutbar. In Zeitarbeit und Leiharbeit liegt ein erhebliches Beschäftigungspotenzial in Deutschland. Wir haben
dieses Potenzial lange nicht ausgenutzt, wie die Beispiele
in vielen hoch entwickelten Volkswirtschaften um uns
herum zeigen:
({8})
in Frankreich, in den Niederlanden und in vielen anderen
Staaten.
({9})
- Hören Sie erst einmal zu! Dann können wir uns vielleicht in unseren Vorstellungen annähern. Das ist auf diesem Feld besonders wichtig.
({10})
In jedem Arbeitsamtsbezirk soll nach dem Gesetzentwurf in Zukunft eine PSA, eine Personal-Service-Agentur, eingerichtet werden. Wir verfolgen mit diesen Agenturen mehrere Ziele:
Erstens. Wir verstehen vermittlungsorientierte Zeitarbeit als eine Einstiegschance für Arbeitslose in neue BeBundesminister Wolfgang Clement
schäftigung und durchaus auch als eine Einstiegschance
in dauerhafte Beschäftigung. Es gibt diese Chance, wie
alle Erfahrungen zeigen.
Zweitens. Wir erschließen mit den Personal-ServiceAgenturen zusätzliche Möglichkeiten zur betriebsnahen
Qualifizierung, entweder in der Entleihphase beim Entleiherbetrieb oder aber auch in den entleihfreien Zeiten,
die in den Zeitarbeitsunternehmen, in denen der Arbeitslose beschäftigt sein wird, sinnvoll für Qualifizierung genutzt werden können.
Drittens. Wir wollen die prinzipielle Orientierung auf
Equal Pay - das ist der entscheidende Punkt, den wir sehr
ernsthaft erörtern müssen -, wie sie in den acht Staaten um
uns herum, in denen es Zeit- und Leiharbeit gibt, geregelt
ist und wie sie eine Richtlinie vorsehen wird, die die
Europäische Kommission vorbereitet.
({11})
Wir wollen mit prinzipiell gleicher Bezahlung für Leihund Zeitarbeit wie für die Stammbelegschaften der Unternehmen und mit der Orientierung auf Tarifverträge die
Arbeitsbedingungen in diesem Bereich für ganz Deutschland grundlegend regeln. Wir wollen eine Regelung zum
Nutzen aller.
Mithilfe des Abschlusses von Tarifverträgen und der
Orientierung auf Equal Pay kann von den Begrenzungen
des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes weitestgehend
abgewichen werden. Wenn wir diesen Weg gehen - mir
liegt daran, dass dies erkannt wird -, können wir die bisherigen grundlegenden Begrenzungen der Zeit- und Leiharbeit in Deutschland aufheben - ich nenne beispielsweise
Synchronisationsverbot, Befristungsverbot, Wiedereinstellungsverbot, Befristung der Dauer der Leih- und Zeitarbeit - und können einen Deregulierungsprozess in
Gang setzen, der aber verantwortbar ist und der für die betroffenen Menschen einen vernünftigen Weg in die Zukunft darstellt.
Es ist der Aufbruch nach Europa. So hat es beispielsweise der Gründer von Adecco, dem in Deutschland
zweitgrößten und weltweit größten Zeitarbeitsunternehmen, gesagt. Er hat davon gesprochen, dass es der Aufbruch in die richtige Richtung sei. Diese Richtung heißt
Europa. Wir stehen unmittelbar vor einer europäischen
Regelung, die die gerade von mir angesprochenen Punkte
ebenfalls vorsehen wird.
({12})
Die Zeit- und Leiharbeit gehört zu den Hauptthemen.
Es hat in der Zwischenzeit viele Äußerungen dazu und
viel Kritik an diesem Weg gegeben. Ich möchte ein paar
Kritikpunkte aufgreifen.
Um es klar zu sagen: Die Arbeitsämter sollen grundsätzlich - das ist die Regel - auf private Zeitarbeitsunternehmen zurückgreifen. Im Bonner „General-Anzeiger“ - wie
Sie wissen, wohne ich in Bonn - habe ich ein Interview
mit unserer Kollegin Frau Dr. Merkel gelesen, in dem sie
sagt, dass unser Weg über die PSA falsch sei. Sie sagt,
dass sie es für richtig hielte, dass die Vermittlung von Leiharbeitskräften von bestehenden privaten Firmen übernommen wird.
({13})
Ich muss schon fragen: Wo liegt da der Gegensatz? Sie behaupten, dass wir mit dem Vorhaben von Rot-Grün in eine
Verstaatlichung der Beschäftigung geraten und dass die
Leiharbeit Mittel zum Zweck der Bereinigung der Arbeitslosenstatistik wird.
({14})
Nachdem Sie sich beruhigt haben, möchte ich Sie fragen: Was meinen Sie damit? Die Personal-Service-Agenturen, so steht es in dem Gesetzentwurf, werden in der Regel private Zeitarbeitsunternehmen sein.
({15})
Frau Kollegin Merkel, meine Bitte ist, dass wir diesen
wichtigen Punkt in Ruhe besprechen können. Nur wenn
es vor Ort kein Zeitarbeitsunternehmen gibt, das diese
Aufgabe übernehmen kann, wird die Arbeitsverwaltung
zunächst einmal versuchen, Kooperationen mit Zeitarbeitsunternehmen einzugehen. Nur wenn auch das nicht
gelingt, wird es eine Initiative der Arbeitsverwaltung
geben, damit vor Ort eine Vermittlung in Zeit- und Leiharbeit stattfindet. Ich bitte, das wirklich ernst zu nehmen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist in dieser Hinsicht jedenfalls aus meiner Sicht klar und eindeutig.
({16})
Zum Zweiten sagten Sie auf die Frage „Was halten Sie
von der Forderung ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘?“
- ich nehme das einmal auf, damit wir zu einer vernünftigen Debatte kommen -:
Die Leiharbeit soll Langzeitarbeitslosen den Einstieg
in eine reguläre Beschäftigung erleichtern.
Hier besteht ein grundlegender Irrtum. Leiharbeit und
Zeitarbeit sind natürlich für alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die ansonsten nicht in Arbeit gebracht werden können, gedacht und keineswegs nur für Langzeitarbeitslose. Deshalb ist es, wenn ich über die Vermittlung
von Arbeitnehmern spreche, auch richtig, prinzipiell eine
Orientierung auf Equal Pay, auf gleichen Lohn, vorzunehmen und dafür zu sorgen, dass es keine Unterschiede
zwischen den entliehenen Arbeitnehmern und der Stammbelegschaft gibt.
Allerdings werden im Gesetzentwurf - dies bitte ich
zu beachten; Herr Schleyer hat dies kritisiert; ich werde
ihn heute Abend sehen und mit ihm darüber sprechen zwei Ausnahmen von dieser Regel gemacht. Wir haben
die Orientierung an der Stammbelegschaft vorgesehen;
das ist die Regel. Jetzt kommt die erste Ausnahme. Sie
lautet: In den ersten sechs Wochen kann vonseiten des ent394
leihenden Zeitarbeitsunternehmens auf einen Lohn in
Höhe von mindestens des Arbeitslosengeldes hinuntergegangen werden. Die zweite Ausnahme in diesem Gesetzentwurf ist: Von diesen Regeln kann, und zwar gerade im
Interesse von Langzeitarbeitslosen und anderen, abgewichen werden, allerdings auf der Basis von Tarifverträgen
bzw. durch eine tarifvertragliche Regelung.
Wer das nicht will, der muss sagen, ob er diesen Bereich generell ungeregelt - auch tarifvertraglich ungeregelt - organisieren will. Denn die Realität heute ist ja: Wir
haben an die 1 000 Zeitarbeitsunternehmen und bei etwa
30 gibt es Tarifverträge. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein, Herr Kollege Laumann. Wir brauchen hier
vielmehr die Entwicklung zu mehr Tarifverträgen.
({17})
Meine Bitte ist, dass Sie dies ernst nehmen und den
Weg, den wir gehen wollen, beachten. Wir orientieren uns
grundsätzlich an Equal Pay. Wir würden uns außerhalb
der gesamten europäischen und internationalen Orientierung bewegen, wenn wir da etwas anderes vorsehen würden. Deshalb haben wir diese zwei Stufen vorgesehen:
zum einen die Probezeit zu Anfang - so wird sie wahrscheinlich auch in der europäischen Richtlinie, die in diesem Zusammenhang entwickelt wird, enthalten sein - und
zum anderen die Möglichkeit, im Rahmen von Tarifverträgen davon abzuweichen.
Sie können nicht davon ausgehen, dass dies von den
Gewerkschaften - von welcher auch immer - prinzipiell
nicht genutzt würde. Sie sollten ernst nehmen, was beispielsweise der Vorsitzende der IG BCE, Herr Schmoldt,
erklärt hat, nämlich dass die Gewerkschaften selbstverständlich bereit sind, für bestimmte schwer vermittelbare
Gruppen, etwa für Langzeitarbeitslose, im Rahmen von
Tarifverträgen Löhne festzulegen, die unterhalb des Niveaus der Löhne der Stammbelegschaft liegen. Er hat ausdrücklich darauf hingewiesen - das sollten Sie zur Kenntnis nehmen; denn ansonsten kommen wir nicht weiter; es
hat doch keinen Zweck, immer die gleichen Klischees
auszutauschen -:
({18})
Wir sind bereit, dies zu tun. - Sie können Herrn Schmoldt
beim Wort nehmen. Er hat auch in verschiedenen anderen
Bereichen seine Zustimmung für solche tariflichen Bewegungen nicht nur signalisiert. Schon heute wird das von
der IG BCE praktiziert.
Deshalb liegt mir überaus daran, hier nicht eine Diskussion aufkommen zu lassen, die nicht zuträglich ist.
Klar ist, dass ein Unternehmen wie Adecco, das weltweit
größte Zeitarbeitsunternehmen, den Weg, den wir vorgeschlagen haben, begrüßt. Klar ist, dass das Unternehmen
Randstad diesen Weg mitgeht. Klar ist - das wussten wir
vorher; jeder Experte, Herr Kollege Laumann, hat das
vorher gesagt -, dass die Zeitarbeitsunternehmen, die
heute völlig tarifvertragsfrei arbeiten, versuchen werden,
gegen diesen Weg zu opponieren.
Meine Bitte ist, dass wir als zivilisierte Menschen mit
einer entsprechend entwickelten Tarifkultur in Deutschland nicht sagen: Wir bewegen uns völlig ohne Tarifverträge. - Das ist ein Weg, den keiner von uns verantworten
kann. Den können auch Sie von der Opposition nicht verantworten.
({19})
Wir werden vermutlich heute noch darüber streiten;
das ist in Ordnung. Ich werde kein Gesprächsangebot auslassen, insbesondere nicht ein Gespräch mit Herrn
Schleyer, der unser Vorhaben kritisiert.
({20})
Nach meinem Verständnis ist das, was wir hier vorlegen,
mehr als das, was die Hartz-Kommission vorgeschlagen
hat. Wir machen nämlich erstens den Weg in die Zeit- und
Leiharbeit für den gesamten Bereich und nicht nur im
Rahmen der PSA frei. Wir heben die bisher auf diesem
Sektor bestehenden Einschränkungen der Arbeitnehmerüberlassung komplett auf. Das geht über den Vorschlag
der Hartz-Kommission hinaus. Wir orientieren uns zweitens an Equal Pay - das tut übrigens auch die Hartz-Kommission nach einem Jahr -, aber wir geben gleichzeitig die
Möglichkeit, durch Tarifverträge nach oben und nach unten davon abzuweichen. Wir alle wissen, dass es um die
Schwervermittelbaren geht, für die dann Sondertarifverträge geschlossen werden müssen.
({21})
Das muss ich von einem Zeitarbeitsunternehmen in
Deutschland verlangen können.
({22})
Darüber müssen wir mit denjenigen, die das nicht wollen,
ernsthaft diskutieren. Ich bin dazu bereit. Das werden wir
auch tun.
Aber bitte machen wir uns nichts vor: Die Zeitarbeitsunternehmen, die bereit sind, in die Vermittlungsarbeit
einzusteigen, Adecco, Randstad und andere - ich kann Ihnen die nordrhein-westfälischen gleich dazu nennen -,
werden in diesem Prozess mitarbeiten. Es ist wichtig, dass
das geschieht. Auf diesem Feld gewinnen wir keine parteipolitischen Schlachten. Lassen Sie uns lieber versuchen, hier zu wirklichen Fortschritten zu kommen und
darüber miteinander in einer vernünftigen Weise zu sprechen!
({23})
Meine Damen und Herren, oftmals hilft die Möglichkeit einer solchen Vermittlung nicht weiter. Oftmals geht
es darum, Defizite in der beruflichen Bildung auszugleichen, einen Berufsabschluss nachzuholen oder sich neue
Qualifikationen anzueignen, wenn ein einmal erzielter
Berufsabschluss keine Verwendung mehr findet. Deshalb
geht es auch um die Förderung der beruflichen Weiterbildung Arbeitsloser. Gerade diese WeiterbildungsmaßBundesminister Wolfgang Clement
nahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit sind aber, wie
Sie aufgrund des letzten Berichts des Bundesrechnungshofes wissen, in massive Kritik geraten. Die Maßnahmen
gelten als uneffektiv; es ist sogar von Korruptionsgefährdung die Rede.
Deshalb werden wir das Recht der Weiterbildung deutlich vereinfachen. Unnötiger Verwaltungsaufwand soll
vermieden werden. Wir fördern den Wettbewerb zwischen den Bildungsträgern, schaffen Gestaltungsspielräume für die Arbeitsämter vor Ort und führen Bildungsgutscheine für Arbeitslose ein; sie sollen sich frei
zwischen zugelassenen Maßnahmen entscheiden können.
Wir verzichten auf detaillierte Regelungen, richten allerdings unabhängige Zertifizierungsagenturen ein, um dem
Wildwuchs, den es im Bereich der Weiterbildung gibt,
entgegenzuwirken. Im Vordergrund stehen für uns die Eigenverantwortung und die Wahlfreiheit. Den betroffenen
Menschen soll bei der Weiterbildung ein größerer Spielraum eingeräumt werden.
Im Gegenzug müssen wir von den Arbeitslosen aber
auch Zugeständnisse erwarten können. Wir erwarten, dass
sie sich so früh wie möglich um eine rasche Weiterqualifizierung oder Neuqualifizierung bemühen. Deshalb sieht
der Gesetzentwurf vor - natürlich auch aus Gründen der
Haushaltskonsolidierung -, dass das bisher gezahlte Anschlussunterhaltsgeld in dieser Form entfällt und das Unterhaltsgeld teilweise auf das bisherige Arbeitslosengeld
angerechnet wird. Wir wollen und müssen aus unserer
Sicht Abschied davon nehmen, dass Arbeitslosen- und
Unterhaltsgeld schlicht addiert werden. Es muss zu einer
Anrechnung kommen, auch damit sich die betroffenen
Menschen früher und mit der gebotenen Ergebnisorientiertheit auf eine Weiterqualifizierung einlassen.
Ich komme damit zu einer weiteren Herausforderung,
die sich uns stellt, und zwar zu der Gruppe der älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die, wenn sie
von Arbeitslosigkeit betroffen sind, besondere Probleme
haben. Hier müssen wir etwas tun, auch wenn trotz der
Probleme am Arbeitsmarkt - die aktuellen Zahlen liegen
ja vor - die Zahl der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der behinderten Menschen, die arbeitslos
sind, deutlich zurückgegangen ist. Das Ziel der Bundesregierung, die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten
im Vergleich zum Oktober 1999 um 25 Prozent zu verringern, ist faktisch erreicht. Die Zahl derer hat bereits um
24 Prozent abgenommen. Das ist ein großer Fortschritt.
({24})
Auch die Zahl der älteren arbeitslosen Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen ist heute um 98 000 niedriger als im
vergangenen Jahr.
({25})
Das reicht natürlich nicht. Deshalb müssen wir die
Strategien zur Förderung der Beschäftigung Älterer komplettieren. Aus diesem Grund werden wir nach dem Vorschlag der Hartz-Kommission für Menschen ab dem
55. Lebensjahr eine Entgeltsicherung einführen. Dies
beinhaltet faktisch eine Ersetzung des Arbeitslosengeldes
durch eine Aufstockung des Lohns bei Aufnahme einer
geringer bezahlten Beschäftigung. Wer also bereit ist, eine
solche Beschäftigung aufzunehmen, findet Unterstützung
durch Zahlung eines Zuschusses in der Höhe, die den
Lohnausfall zur Hälfte auffängt.
Wir wollen aber auch Arbeitgeber, die ältere Menschen
einstellen, unterstützen. Wer Menschen über 55 Jahre einstellt, soll daher für diese Beschäftigten vom Arbeitgeberanteil des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung befreit
werden.
Viele Arbeitgeber scheuen generell die Einstellung älterer Menschen; die Motive kann ich jetzt nicht erörtern.
Hier müssen wir einen Ausweg finden. Die Hartz-Kommission hat vorgeschlagen, die befristete Beschäftigung
deutlich auszuweiten und die Altersgrenze für die Zulässigkeit unbegrenzt zeitlicher Befristungen von Arbeitsverhältnissen auf 50 Jahre zu senken.
({26})
Das ist ein sehr weit reichender Schritt, über den wir in
Ruhe diskutieren werden. Wir müssen erörtern, inwieweit
dies zu tiefer Unsicherheit bei älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern führen kann.
Besonders kritisiert wird das so genannte Bridge-System; das hat Frau Merkel in dem Interview, das ich vorhin
zitiert habe, meines Erachtens zu Recht angemerkt. Es beinhaltet die Möglichkeit, für ab dem 55. Lebensjahr arbeitslos gewordene Menschen, die sich einen Rückzug
aus dem Arbeitsmarkt leisten können, einen Zuschuss zur
Rente zu zahlen. Mit einem solchen Brückengeld, das maximal fünf Jahre gezahlt wird, soll den Menschen der Weg
von der Arbeitslosigkeit in die vorzeitige Verrentung
eröffnet werden. Voraussetzung ist natürlich, dass jemand, der dies in Anspruch nimmt, dem Arbeitsmarkt
nicht zur Verfügung steht.
Weil wir auch die Bedenken sehen, die es auf diesem
Feld gibt, und weil wir nicht in massenhafter Weise einen
neuen Weg in den Vorruhestand eröffnen wollen, sehen wir
in dem Gesetzentwurf Folgendes vor: Erstens wollen wir
nur für einen begrenzten Zeitraum, nämlich für zwei Jahre, individuelle und flexible Möglichkeiten für einen solchen Ausstieg aus dem Erwerbsleben ermöglichen. Zweitens haben wir die Höhe des Brückengeldes so bemessen,
dass es nur genau halb so hoch ist wie der jeweilige Anspruch auf das Arbeitslosengeld, sodass die Attraktivität
dieses Weges, nämlich des Beschreitens der Brücke,
außerordentlich niedrig ist. Es ist jedenfalls, anders als
früher, kein Weg für Unternehmen - ich habe selbst daran
mitgewirkt, um das so zu gestalten; ich sage dies der Klarheit halber -, in größerer Zahl Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer auf Gemeinschaftskosten in den Vorruhestand zu schicken. Diesen Weg wollen wir und werden wir
nicht mehr eröffnen.
({27})
Ein weiteres Ziel ist, die Selbstständigkeit besonders
zu fördern. Jeder Selbstständige schafft, wie wir alle wissen, früher oder später neue Jobs, neue Ausbildungs- und
Arbeitsplätze und leistet damit einen Beitrag zum Abbau
der Arbeitslosigkeit. Das wollen wir nach dem Vorschlag
der Hartz-Kommission verstärkt fördern. Neben dem
Überbrückungsgeld schaffen wir mit der Ich-AG und der
Familien-AG ein neues Instrument zur Förderung von
Existenzgründungen. Wir wollen Arbeitslosen einen sozial abgesicherten Start in die Selbstständigkeit ermöglichen, ohne dass sie den sozialen Schutz, den Beschäftigte genießen, opfern müssen. Sie bleiben also zu
günstigeren Bedingungen renten- und krankenversichert,
und zwar mit Unterstützung der Arbeitsverwaltung; für
drei Jahre erhalten sie einen im Laufe der Zeit abnehmenden Zuschuss durch die Arbeitsverwaltung.
Die neue Ich-AG wird darüber hinaus von einer günstigen steuerlichen Behandlung profitieren. Was wir uns
gemeinsam mit dem Finanzminister - mit dem diskutieren wir über diese Frage noch, weil es hierbei gewissermaßen darum geht, ein neues Steuerrecht für das Kleinstgewerbe zu schaffen - vorstellen, ist die Zugrundelegung
eines geringen Pauschbetrages. Die steuerliche Behandlung soll so günstig - auch so bürokratiefern - wie möglich sein, um solche Unternehmen auf den Weg zu bringen und zu fördern. Diese Ich-AGs wollen wir so bis zu
einem Einkommen von 25 000 Euro pro Jahr positiv begleiten.
Ich habe schon in unserer letzten Debatte darauf hingewiesen, dass die Einführung dieser Ich-AGs auch Einfluss auf das Handwerksrecht haben wird, was nicht zu
unterschätzen sein wird. Mir ist klar, dass dies von verschiedenen Seiten kritisch gesehen wird. Auch hierzu darf
ich - und zwar im positiven Sinne - Herrn Schleyer in Anspruch nehmen, der in der Hartz-Kommission diesen Weg
ebenfalls mitgetragen hat. Es soll so sein, dass man keinen Meister braucht, wenn man mit der Ich-AG ins Handwerk oder in einen handwerksähnlichen Bereich kommt.
({28})
Es geht darum, hier allererste Schritte zur Verwaltungsvereinfachung zu machen. Es wird faktisch unterstellt - so
ist es im Gesetzentwurf angelegt -, dass für eine solche
Tätigkeit eine Genehmigung nach dem Handwerksrecht
vorliegt. Dies ist ein erster Schritt, um das auf den Weg zu
bringen.
({29})
Als jemand, der in den Jahren, in denen er in der Politik mit Wirtschaft zu tun hatte, die Handwerkskammern
und die Industrie- und Handelskammern als Institutionen
immer verteidigt und gerechtfertigt hat - ich halte sie im
Hinblick auf den wirtschaftspolitischen Dialog für wichtig -, appelliere ich von hier aus an das Handwerk, dies
nicht als einen Pauschalangriff anzusehen, sondern als
Aufforderung, auch im eigenen Sektor zu deregulieren,
die Aufforderung zur Deregulierung also nicht nur an andere zu schicken, sondern auch im eigenen Sektor für Deregulierung und für mehr Flexibilität zu sorgen.
({30})
Herr Minister, ich darf eine Zwischenbemerkung machen. Sie reden schon sehr lange und verbrauchen - ich
will Sie nur darauf hinweisen - die Redezeit der Ihnen
nachfolgenden Redner der SPD-Fraktion.
Herr Präsident, ich danke Ihnen für diesen Hinweis. Ich bitte um Entschuldigung; ich will natürlich niemandes
Redezeit aufessen. Mein Anliegen war es, Ihnen das so
rasch wie möglich darzustellen.
Sie wissen, dass wir gleichzeitig den Einstieg in die
Minijobs in Privathaushalten fördern wollen. Es ist bereits hinlänglich öffentlich diskutiert worden, dass wir
500-Euro-Jobs auch in Privathaushalten ermöglichen
wollen.
({0})
Dafür sind ebenfalls ganz sanfte Beiträge zur Sozialversicherung vorgesehen. Auch das erörtern wir noch und werden in den nächsten Tagen einen Vorschlag zur besseren
steuerlichen Behandlung, zur steuerlichen Absetzbarkeit
solcher Ausgaben - das müssen wir vorsehen - vorlegen.
Es ist mir jetzt nicht möglich, in vollem Umfang das
aufzuzeigen, was der vorliegende Gesetzentwurf enthält.
({1})
Mein Anliegen ist es - ich hoffe, dass ich Ihnen dies ausreichend deutlich gemacht habe -, mich um einen Konsens
auf diesem Gebiet zu bemühen, überflüssige Streitigkeiten
zu überwinden und Missverständnisse auszuräumen, damit wir so rasch wie möglich zu einem Ergebnis kommen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl-Josef
Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Clement, Sie haben uns in Ihrer Rede mehrfach angeboten, in schwierigen Fragen der Arbeitsmarktpolitik gemeinsam nach richtigen Lösungen zu suchen.
Deshalb verstehe ich nicht, warum Sie auch gesagt haben,
dass man in den nächsten Tagen noch mit vielen darüber
reden müsse, wie das zu machen sei. Ich möchte Sie nur
darauf hinweisen, welchen Zeitplan Ihre Fraktion vorgegeben hat:
({0})
am Dienstag Anhörung, am Mittwoch oder Donnerstag
Abschluss und am Freitag dritte Lesung. Dieser Zeitplan
ist so angelegt, dass er das Angebot ernsthafter Mitberatung und Gespräche über Lösungen, die sinnvoll und richtig sind und die vielleicht von vielen mitgetragen werden,
an die Opposition als Worthülse erscheinen lässt.
({1})
Als ich begann, den Gesetzentwurf zu lesen, der am
Dienstagabend gegen 19.30 Uhr in meinem Büro eintraf,
wichen meine Hoffnungen, die ich mit der Umsetzung des
Hartz-Konzeptes verbunden hatte, teilweise Erstaunen,
Kopfschütteln und leider auch blankem Entsetzen.
Ein erster Punkt: Es ist zwar richtig, dass wir das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz - im Volksmund heißt es
Zeitarbeitsgesetz - liberalisieren wollen. Die Union hat in
den 80er- und 90er-Jahren die Verantwortung für dieses
Gesetz gehabt. Damals befand sich die Zeitarbeit noch in
den Anfängen und die Strukturen waren sehr schwierig.
Deshalb waren wir der Meinung, dass wir dem normalen
Arbeitsrecht ein Arbeitsrecht speziell für diesen Bereich
überstülpen müssen. Da sich die Zeitarbeit inzwischen
etabliert hat und vernünftige Strukturen vorhanden sind,
könnten wir dieses spezielle Arbeitsrecht - dieser Meinung sind wir schon lange - logischerweise ein Stück weit
zurücknehmen. Ihre Fraktion hat sich bislang sehr schwer
getan, dies zu tun. Was war das noch für ein Kampf, bis
vor einem Dreivierteljahr die Verleihdauer von zwölf Monate auf 24 Monate verlängert wurde!
Sie wollen nun - das finde ich in Ordnung - diese Regelungen liberalisieren. Aber gleichzeitig wollen Sie auch
die denkbar stärkste Restriktion gesetzlich festlegen:
nämlich dass sich die Entlohnung der Zeitarbeitnehmer an
der betriebsüblichen Entgeltstruktur - dazu gehört bei
Audi unter Umständen auch das Jahreswagenprivileg orientiert. Wenn man liberalisiert, dann muss man natürlich auch über die Frage sprechen, ab wann tarifähnliche
Strukturen im Entleihbetrieb gelten müssen; denn sonst
kann Lohndumping entstehen. Auch ich kenne die Sorgen
der Stammbelegschaften. Aber ich glaube, dass aufgrund
der von Ihnen angestrebten restriktiven Lösung die Zeitarbeitsjobs gerade im Segment der Helfer wegbrechen
werden, also nicht dort, wo sehr qualifizierte Arbeitnehmer benötigt werden, sondern dort, wo es um die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen geht. Schließlich hat
jeder zweite Langzeitarbeitslose keine abgeschlossene
Berufsausbildung. Diese Einschätzung wird - das weiß
ich auch aus Pressemitteilungen - vom Bundesverband
Zeitarbeit geteilt.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden in der kommenden Woche im Ausschuss und in der dritten Lesung im
Bundestag einen eigenen Entwurf zum AÜG einbringen.
Wir werden uns bei der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfs von der Frage leiten lassen, inwieweit dieses Gesetz
aufgelöst werden kann. Wir werden zwar daran festhalten,
dass diejenigen, die bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind
und die vom Entleihbetrieb übernommen werden können,
relativ schnell von Zeitarbeit in reguläre Beschäftigung
kommen, damit die Brückenfunktion der Zeitarbeit erhalten bleibt. Aber wir sind nicht der Meinung, dass vom ersten Tag an die gleichen Tarif- und Entlohnungsstrukturen
gelten sollen.
Wir werden wahrscheinlich die Zwölfmonatsfrist in
den Gesetzentwurf hineinschreiben. Dies ist eine vernünftige Zeitspanne und schließlich hat auch Rot-Grün dies vor
einem Dreivierteljahr noch so beschlossen. Natürlich sollten wir die mit den Leuten, die Erfahrung mit der Zeitarbeit haben, vernünftig über die richtige Frist reden. Ich
biete Ihnen die Diskussion dazu ausdrücklich an.
Aber wir sollten die Zeitarbeit nicht überschätzen. So
lange wir so wenige Jobs und eine so schlechte Konjunkturlage haben, in der es nichts zu vermitteln gibt, wird
auch die Zeitarbeit keine Jobs vermitteln, das ist wahr.
({2})
Es gibt einige Leute in der Zeitarbeitsbranche, die sagen: Selbst wenn ihr alles ändern und uns jeden Wunsch
erfüllen würdet, könnten wir euch zurzeit im Jahr vielleicht 30 000 bis 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze zusagen. Das macht uns schon besorgt und meine Vorsitzende
hat mit dem, was sie in einem Interview mit dem Bonner
„General-Anzeiger“ gesagt hat, schon Recht: Wenn wir
die Zahlen der Hartz-Kommission sehen, haben wir die
Angst, dass Menschen, die heute in der Arbeitslosenstatistik geführt werden, auch in Zukunft in Wahrheit gar nicht
in Arbeit sind, sondern nur - Simsalabim - aus der Arbeitslosenstatistik fallen, weil sie zu den PSA gehen und
dort Umschulungen, Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen, wie zum Beispiel das Üben von Bewerbungsgesprächen, erhalten.
({3})
Das wird uns aber nichts nützen und es wird auch den
Herrn Minister Clement einholen; denn am Ende werden
wir daran gemessen, wie viele Menschen wir aus den
staatlichen Transferleistungssystemen - es ist egal, wie
die Systeme heißen und in welcher Statistik wir die Menschen führen - in Arbeit bringen, damit sie selber, ohne
den Staat zu belasten, einen großen Teil - oder besser
noch: den gesamten Lebensunterhalt - verdienen können.
Denn ansonsten bekommen wir die Entlastungen, die wir
alle gemeinsam anstreben, nicht hin.
Ich will einen zweiten Punkt nennen, der mich vom
Kopfschütteln zum Entsetzen gebracht hat. Ich hatte mich
durchaus gefreut, als Sie während des Wahlkampfs - die
Hartz-Vorschläge waren gerade vorgelegt - gesagt haben:
Wir müssen uns auch den Minijobs zuwenden. - Wir hatten damals einen Gesetzentwurf zur Förderung niedrig
entlohnter Tätigkeiten eingebracht. Wir wollten zu einer
Regelung kommen, die mehr Flexibilität bei Zusatzverdiensten - ich meine damit die alten 630-Mark-Jobs schafft. Noch wenige Wochen zuvor wurde mir von den
Leuten, die hier sitzen, gesagt: Das ist alles Quatsch, was
ihr vorschlagt.
({4})
Ich hatte also große Hoffnungen, als die Hartz-Kommission von Minijobs sprach.
Ich war deshalb erstaunt, warum Sie diese Jobs auf den
Haushalt begrenzen wollen. Warum sollen Minijobs nicht
auch in anderen Branchen zulässig sein?
({5})
Ist denn der Minijob im Haushalt schlechter, besser, anders als anderswo in der Gesellschaft?
({6})
Jetzt erwägen Sie, diese Jobs in „haushaltsnahen
Dienstleistungen“ zuzulassen. Ich wette, dass wir bald
den ersten Prozess in Deutschland über die Frage „Was ist
eine haushaltsnahe Dienstleistung?“ haben werden. Dann
werden sich Menschen, die viel mehr verdienen, als man
je mit Minijobs verdienen könnte, mit der schönen Frage
beschäftigen: Ist das Streichen einer Haustür haushaltsnah? - Wollen Sie vielleicht, dass das Gericht dann sagt:
Das Streichen einer Haustür von innen ist haushaltsnah;
aber wenn die Außenseite gestrichen wird, ist es haushaltsfern? Solche Gesetze passen nicht in die Landschaft,
wenn Sie Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wollen.
({7})
Ich komme aus dem Münsterland und kenne die Familienbetriebe in der Gastronomie. Wie wollen Sie kontrollieren, ob eine Frau, die bei einer Gastwirtsfamilie arbeitet, im Haushalt das Frühstück für den Gastwirt oder
vorne in der Kneipe das Frühstück für den Urlauber richtet? Wie wollen Sie das kontrollieren?
Wir haben unsere Vorschläge zum Niedriglohnsektor
in dieser Lesung eingebracht und werden dies auch in den
Ausschüssen tun. Ich glaube, dass unsere Überlegungen
hierzu richtig sind. Von seinerzeit 630 DM wollen wir die
Grenze auf 400 Euro erhöhen. Damit die Sozialversicherung nicht darunter leidet, wollen wir ihr im Gegensatz zu
früher die Pauschalversteuerung zur Verfügung stellen.
Das würde die Sozialversicherung im Übrigen nicht so
belasten wie das, was Sie separat für den Haushaltsbereich vorsehen.
Viel wichtiger ist es aber, dass der CDU/CSU-Gesetzentwurf - es ist ja nicht alles verkehrt, nur weil CDU/CSU
darauf steht - eine Antwort, nach der wir lange gesucht
haben, gefunden hat. Die Frage war doch: Wie können wir
die so genannte 630-Mark-Falle überwinden? Sie arbeiten
für 325 Euro und verdienen ein wenig mehr, weil mehr zu
tun ist, aber bekommen am Ende weniger ausbezahlt, als
wenn Sie unter der Grenze geblieben wären. Das ist doch
idiotisch. Es kann doch nicht sein, dass ein Mensch, der
mehr gearbeitet und mehr brutto hat, netto weniger bekommt, weil sofort 20 Prozent Sozialversicherungsbeiträge fällig werden. Wer das einmal im Leben gemacht
hat, ist kuriert - oder er macht das „BAT“, was in diesem
Fall aber „bar auf die Tatze“ heißt.
Wir haben gesagt, wir wollen bei einem Verdienst in
Höhe von 400 Euro langsam mit Sozialversicherungsbeiträgen beginnen und schleichend bei einem Verdienst
von 800 Euro - die FDP nimmt 1 000 Euro als Grenze auf 20 Prozent kommen.
Ich glaube, dass das wirklich eine Lösung wäre, wie
man in einem ersten Schritt für diejenigen, die es am meisten brauchen - die nämlich leider eine Arbeit verrichten
müssen, bei der man wenig verdient -, Brutto- und Nettoverdienst in ein vernünftiges Verhältnis bringen könnte.
Ich würde es gerade jenen gönnen, die für 6 oder 7 Euro
in der Stunde arbeiten müssen. Das ist soziale Politik.
({8})
Wenn Sie mit uns darüber reden wollen, was für den
Arbeitsmarkt gut ist, Herr Clement, dann frage ich: Sind
Sie bereit, mit Repräsentanten der CDU und CSU über
unseren Gesetzentwurf zu den kleinen Jobs zu reden und
mit ihnen zu überlegen, wie man das im Rahmen der Gesamtkonzeption, die Sie heute dem Hohen Haus vorstellen, umsetzen kann? Ich kann Ihnen nur sagen: Ich bin sicher, dass die Repräsentanten meiner Fraktion zu jeder
Tages- und Nachtzeit bereit sind, das zu tun, weil uns
nämlich die Interessen der kleinen Leute sehr am Herzen
liegen.
({9})
Ich will einen dritten Punkt nennen, bei dem meine Reaktion Entsetzen und Kopfschütteln war. Ich meine Ihren
Vorschlag zur Abschmelzung der Vermögensfreigrenzen
für Arbeitslosenhilfebezieher in Ihrem Gesetzentwurf. Ich
mache es mir nicht so einfach, wie das früher in diesem
Hause bei der Opposition war, als wir noch regiert haben.
Jede Veränderung im Sozialsystem galt ja damals als sozialpolitischer Kahlschlag; Sie können sich sicher an die
Auseinandersetzungen bis 1998 erinnern. Ich bin schon
der Meinung, dass wir, wenn wir die beiden Systeme zusammenführen wollen, auch darüber reden sollten. Das
kann dann aber nicht auf dem Niveau der Arbeitslosenhilfe geschehen. Das würde ich mittragen, auch wenn es
nicht populär ist. Aber es sollte nicht so fantasielos gemacht werden, dass man die Beträge einfach halbiert.
({10})
Sie behandeln den Maurer, der mit 14 in die Lehre gegangen ist und mit 52 arbeitslos geworden ist, in Bezug auf
die Vermögensfreigrenze genauso wie denjenigen, der mit
14 in die Lehre gegangen ist und dann bis zum Alter von
52 arbeitslos war. Ihre Art der Anrechnung berücksichtigt
nicht eine Philosophie von Lebensleistungen und die
Möglichkeiten, dass sich jemand etwas aufgebaut hat.
({11})
Ich frage: Wo ist eigentlich Ihre Philosophie, wenn es darum geht, dass das, was Menschen sich in einem langen
Leben erarbeitet haben, geschützt wird?
Ich komme jetzt zu meinem letzten Punkt; meine Redezeit geht langsam zu Ende. Wenn das ganze Haus der
Meinung ist, dass wir dem solidarischen, gesetzlichen Sicherungssystem Rente eine private, kapitalgedeckte Säule
hinzufügen müssen - das ist ja vernünftig; es ist im
Grundsatz ebenfalls vernünftig, es für kleine Einkommen
zu fördern, wie es in der Riester-Rente geschehen soll; allerdings ist es in der Durchführung dadurch, dass es so
kompliziert ist, unvernünftig -, dann müssen wir doch für
denjenigen, der in seinem Leben viele Jahrzehnte gearbeitet hat und sich in diesen Systemen etwas geschaffen
hat, eine andere Freigrenze gelten lassen als für denjenigen, der genauso alt ist, aber nie etwas geleistet hat.
({12})
Sie haben meiner Meinung nach in diesem Bereich einen
wunden Punkt. Ich wäre auch bereit, mit Ihnen, Herr
Clement, darüber zu reden, damit wir eine Lösung finden,
die es ermöglicht, dass diese Frage im Gesamtkonzept kostenneutral geregelt werden kann. Ich verstehe ja, dass Sie
in der jetzigen Situation Einsparungen brauchen. Ich wäre
dazu bereit und fordere Sie auf: Überlegen Sie, ob auch Sie
bereit wären, einen solchen Weg mit uns zu gehen.
Ich habe einige sehr konkrete Vorschläge genannt. Ich
werde es in den nächsten Tagen und Wochen
({13})
ja erleben, ob Ihre Bereitschaft, mit uns darüber zu reden,
was für den Arbeitsmarkt das Richtige ist, politische Rhetorik oder ein ernst gemeintes Herzensanliegen ist.
({14})
Sie können sicher sein, dass das, was ich gesagt habe,
ernst und auch ehrlich gemeint ist. Ich würde es toll finden, wenn die politische Klasse in Deutschland in der
Lage wäre, etwas zu tun, von dem die Menschen in einigen Jahren sagen könnten: Die im Bundestag haben das
getan, was Wohlstand, Arbeit, Zuverlässigkeit für unsere
Familien und mehr Beschäftigung ermöglicht hat. Wir reichen Ihnen die Hand dazu. Ich bin gespannt, ob Sie in
diese Hand einschlagen oder ob das Ganze nur Rhetorik
war. Wenn Sie das wollen, müssten Sie das Beratungsverfahren, wie es jetzt angedacht ist, aufhalten. Denn in fünf
Tagen wird man das nicht leisten können.
Schönen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Laumann, Ihr Beitrag hat gezeigt, in welchem Dilemma
sich die Union befindet;
({0})
denn das, was Sie an Kritik am Hartz-Konzept und an seiner Umsetzung hier vorgetragen haben, ist doch eher eine
Phantomdebatte als eine ernsthafte inhaltliche Kritik.
({1})
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Das
eine Beispiel hat der Minister schon genannt. Sie reden
hier darüber, dass es zum Beispiel keine Einstiegstarife
bei der Arbeitnehmerüberlassung und bei der Zeitarbeit
geben werde. Das ist definitiv falsch und steht anders im
Gesetzentwurf.
Sie reden hier davon, dass es ernsthafte Probleme bei
den Minijobs, mit denen wir gegen Schwarzarbeit vorgehen wollen, gibt, und führen als Beispiel den Streit an, ob
die Tür außen nicht zum Haushalt gehört und ob die Tür
innen zum Haushalt gehört. An diesem Beispiel wird die
ganze Lächerlichkeit dieser Kritik an dem Ansatz deutlich,
({2})
der im Grundsatz darauf gerichtet ist, die Menschen aus
der Schwarzarbeit zu führen. Nein, Sie machen es sich zu
einfach, so mit dem Hartz-Konzept umzugehen.
Wir verkaufen das Hartz-Konzept nicht als eine Wunderwaffe im Kampf um die Arbeitslosigkeit. Wir wissen,
dass es das nicht ist. Jedem und jeder hier ist bekannt, dass
die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine zentrale
Rolle spielen. Richtig ist aber, dass es die Hartz-Kommission geschafft hat, aus einer großen Krise am Arbeitsmarkt, nämlich aus der Krise der Bundesanstalt für Arbeit,
eine Chance zu machen. Ich sage Ihnen: Wir werden diese
Chance nutzen. Ich hoffe sehr, dass Sie angesichts dieser
Minimalkritik, die Sie hier vorgetragen haben, mitmachen
können.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht darum, Gerechtigkeit beim Zugang zum Arbeitsmarkt für diejenigen herzustellen, die daran bisher nicht teilhaben. Ihnen müssen wir
eine Perspektive geben. Wir müssen uns für diejenigen
stark machen, die es schwer haben, in den Arbeitsmarkt
hineinzukommen.
Deswegen ist die vergangene „Sündenbockdebatte“
gerade bei der Union und bei der FDP fehl am Platz. Es
muss darum gehen, dass den Arbeitslosen von uns, vom
Staat, von den Unternehmen und von der Arbeitsvermittlung etwas geboten wird, um sie von dem Tropf der Ämter zu lösen und aus den Fluren der Ämter hinaus zu bekommen. Sie müssen die Chance bekommen, wieder am
Arbeitsmarkt teilzunehmen. Das ist übrigens auch ein
Grund dafür, warum wir ihnen in den Jobcentern Hilfe aus
einer Hand anbieten werden.
Arbeitsmarktpolitik ist sehr viel mehr als Sozialpolitik. Wir müssen endlich dieses Kästchendenken überwinden: die einen mit ihren neoliberalen Ansätzen, was letzten Endes nur zu Working Poor führt, und die anderen mit
strukturkonservativen Ansätzen, was die Starrheit am Arbeitsmarkt zementiert. Deswegen haben wir als Grüne vor
zwei Jahren den Ansatz der „Flexicurity“ entwickelt. Das
heißt: Wir wollen Flexibilität am Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit für die Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, verbinden. Genau das ist der Kern.
Es geht hier um mehr, nämlich darum, ein neues Denken in der Arbeitsmarktpolitik einzuführen. Hartz ist genau das in seiner Kommission gelungen, nämlich widerstreitende Interessen, die auf der einen Seite aus der
neoliberalen Schule kommen und auf der anderen Seite
eher strukturkonservativ sind, zu einem Ansatz zusam400
menzuführen. Darin liegen zusammen mit den vielen
neuen Elementen, die in den Konzepten verbunden sind,
die Chancen.
Sie haben im Wahlkampf immer wieder gesagt, das sei
„Hartz-Gequatsche“. Das zeigt, dass Sie überhaupt nicht
verstanden haben, worum es geht.
({4})
Vielleicht glauben Sie Lyndon B. Johnson eher, der schon
in den 60er-Jahren die soziale Frage als eine Frage des
„new border“, als ein neues Grenzgebiet beschrieben hat,
was nichts anderes bedeutet, als dass man auch in diesem
Bereich neue Ideen, Pioniergeist sowie Mut zur Veränderung braucht und dass Innovationen angegangen werden
müssen.
Es geht eben um Bewegung und nicht um die Pflege von
Anspruchsdenken.
Fördern und Fordern - das ist ein zentrales Element
in diesem neuen Konzept. Wir meinen damit alle und
nicht nur die Arbeitslosen und die Arbeitsuchenden - die
FDP konzentriert sich mit ihrer Sündenbocktheorie immer wieder nur auf diese Klientel -, also auch die Arbeitgeber, die beispielsweise eine Beschäftigungsbilanz zu erstellen haben, weil sie Rechenschaft darüber abzulegen
haben, wie sie mit ihren Belegschaften umgehen und ob
sie eine Beschäftigungsverantwortung übernehmen.
Diese müssen ihre Beschäftigten freistellen, wenn sie ihnen die Kündigung ins Haus schicken, sodass hier präventiv gehandelt, also vorgesorgt werden kann. Mit dem
Fordern meinen wir insbesondere auch die Arbeitsverwaltung selbst, die vollständig umstrukturiert wird und
sich an den Kunden, also den Arbeitslosen und auch den
Unternehmen, ausrichten muss.
Deswegen geht es um neue Instrumente rundum und
darum, Bürokratien abzubauen. Es geht, weil die Dauer
der Arbeitslosigkeit viel zu hoch ist, eben nicht nur um
eine schnelle Vermittlung, sondern auch darum, die Eigenaktivität der Menschen zu stärken, damit sie selbstständig
wieder aus der Arbeitslosigkeit herauskommen können.
Herr Laumann, ich muss Ihnen sagen, dass ich mir die
Augen gerieben habe, als ich mir in den letzten Tagen die
Presse angeschaut habe. Die Menschen erhalten mit der
Ich-AG eine Chance, aus der Arbeitslosigkeit und gleichzeitig auch aus der Schwarzarbeit herauszukommen. Mit
dieser Diskussion spielen Sie die Arbeitslosen und das
Handwerk gegeneinander aus. Damit zerstören Sie die
Perspektiven für diese Menschen; Sie reden sie klein.
({5})
Meine Damen und Herren von der Union, Sie führen
den Bürokratieabbau im Munde und machen sich mit
Zähnen und Klauen auf, gerade in diesem Bereich den
Meisterbrief zu verteidigen. Sie müssen sich beispielsweise jemanden vorstellen, der am Morgen selbstständig
Büros putzen will. Viele Frauen wollen dies tun. Diese
müssen den Meister in der Gebäudereinigung gemacht
haben. Stellen Sie sich jemanden vor, der seinen Bekannten oder den Menschen im Umfeld seines Wohnbereichs
die Haare schneiden will. Dieser braucht den FriseurMeisterbrief. Stellen Sie sich auch andere vor, die Fahrräder oder Autos reparieren wollen. Diese werden systematisch daran gehindert.
Ich denke, dass es gut ist, dass wir mit der Ich-AG endlich einen Ansatz gefunden haben, wenigstens in einem
kleinen Bereich, in dem sich aber viele Menschen aufhalten, dieses mittelalterliche Zunftdenken zu überwinden.
({6})
Mit der Ich-AG und den Minijobs holen wir die Arbeit aus
der gesellschaftlichen Grauzone heraus in eine individuelle Gewinnzone.
({7})
Mit den Minijobs geben wir den Schwarzarbeiterinnen
und Schwarzarbeitern in den Haushalten eine Perspektive, und zwar ohne Bürokratie. Das wird nur - darüber
werden wir in den nächsten Tagen noch zu streiten haben - mit Steuererleichterungen - die Haushalte brauchen
nämlich einen Anreiz dafür, Menschen legal einzustellen - und mit Zuschüssen für die Dienstleistungsagenturen funktionieren.
({8})
Das große M, Merz und Merkel, geht davon aus - Herr
Laumann übrigens auch -, dass die Zeitarbeit, die unbestritten eine große Chance hat, als Brücke in den Arbeitsmarkt zu fungieren, zu einem staatlichen Monster verkommt. Ich habe eingangs schon gesagt, dass Sie wirklich
nicht wissen, worüber Sie reden. Lesen Sie es einfach
nach!
({9})
Wir werden es ja auch noch diskutieren. Es geht darum,
dass in erster Linie private Zeitarbeitsfirmen auf der Basis von Tarifverträgen die Chance erhalten, Menschen in
Arbeit zu vermitteln.
Die Chance und die Attraktivität, Herr Laumann - das
wissen Sie ganz genau -, liegen für die entleihenden Unternehmen weniger in der niedrigeren Bezahlung, sondern
ihnen wird die Möglichkeit gegeben, in schwierigen Situationen, in denen normalerweise Überstunden anfallen,
jemanden einzustellen, um diese Situation zu überwinden. Dieser neue Angestellte, der durch die Personal-Service-Agentur vermittelt wurde, erhält den vollen Kündigungsschutz. Das ist praktisch umgesetzte „Flexicurity“:
Menschen, die entliehen werden, genießen vollen Kündigungsschutz, diejenigen, die sie entleihen, können flexibel vorgehen. Darum geht es.
In diesem Zusammenhang wurde der Marktführer
Adecco genannt. Dieses „equal pay“, das wir zugrunde legen, hat ihn nicht daran gehindert, europaweit eine marktführende Position zu erreichen. Ich weiß nicht, was Sie für
einen Popanz im Umgang mit der Arbeitnehmerüberlassung aufbauen. Wir werden diese Chance nutzen.
({10})
Leider bekomme ich allmählich Schwierigkeiten mit
meiner Redezeit. Das Gesetzeswerk mit seinen neuen Ansätzen ist eben sehr umfassend.
Abschließend möchte ich zwei Bemerkungen machen.
Mehr Markt für den Arbeitsmarkt - das gilt auch für die
Weiterbildung. Diese Möglichkeit müssen wir nutzen.
Dabei geht es nicht darum, Arbeitslose in Warteschleifen
oder arbeitsmarktpolitischen Parkhäusern unterzubringen. Die neuen Strukturen machen eine Selbstbedienung
möglich. Deswegen werden wir einen freien Marktzugang eröffnen und Bildungsgutscheine einführen, damit
die betroffenen Menschen mit den Füßen darüber abstimmen können, wo sie eine ordentliche Ausbildung erhalten.
({11})
Den Paradigmenwechsel, den wir mit dem JobAQTIV-Gesetz angefangen haben, führen wir weiter.
Dazu gehört auch - das schreibe ich uns als Koalition ins
Stammbuch - das Gender Mainstreaming. Dies muss
auch für die Hartz-Konzeption, die PSA und alle anderen
neuen Angebote gelten. Das Gender Mainstreaming muss
überall Berücksichtigung finden.
({12})
Frau Kollegin Dückert, Ihre Redezeit ist in der Tat fast
zu Ende.
Ich komme zum Schluss. Wir werden mit dieser Perspektive das Ziel von mehr Flexibilität und Sicherheit
bald erreichen. Zu diesem Ziel gehört für uns auch - das
sage ich hier noch einmal ausdrücklich -, die Lohnnebenkosten in der Zukunft zu senken. Dafür werden wir Konzepte entwickeln, weil die Senkung der Lohnnebenkosten
gerade in kleinen und mittleren Betrieben zu mehr
Beschäftigung führt.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
({0})
Ihre Erwartungen sind berechtigt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit zwei Zitaten aus dem Herbstgutachten der Forschungsinstitute für die Bundesregierung.
Erster Satz: Die Hoffnung der Hartz-Kommission,
durch Umsetzung ihrer Vorschläge in den nächsten drei
Jahren zwei Millionen Arbeitslose in Lohn und Brot zu
bringen, erscheint illusorisch. Grund dafür sind Mitnahme- und Verdrängungseffekte usw.
Zweiter Satz: Die Probleme des deutschen Arbeitsmarktes resultieren nur in geringem Maße aus einer ineffizienten Arbeitsvermittlung und unzureichenden Instrumenten. In der Tat sind die Strukturprobleme entscheidend. Es ist bezeichnend, dass der Gesetzentwurf
von Grün-Rot mit „Aufgrund seiner exportorientierten
Wirtschaft ...“ mit einem Lamento über die Exportorientierung beginnt. Man sträubt sich immer noch, zu erkennen, dass der Kern der Probleme die Strukturverwerfungen am deutschen Arbeitsmarkt sind. Darum geht es.
({0})
Auch ist bezeichnend, dass eine externe Kommission die
Arbeit für die Regierungsfraktionen erledigen musste, um
die Denkblockaden von Funktionären zu überwinden und
neue Ansätze auf den Weg zu bringen.
Aber es kommt noch schlimmer. Im ursprünglichen
Hartz-Konzept standen viele Vorschläge, die die FDPFraktion in diesen Bundestag eingebracht hat.
({1})
Sie wurden von Grün-Rot regelmäßig niedergestimmt.
({2})
Dazu gehört die Deregulierung der Zeitarbeit, die Ausweitung der Minijobs, die Beweislastumkehr. Auch die
Einrichtung von Jobcentern wurde von Grün-Rot abgelehnt. Sie haben also noch viele Probleme und müssen
wahrscheinlich auch weiterhin auf externen Rat zurückgreifen,
({3})
weil Sie - insbesondere der Zwischenrufer - selbst nichts
Eigenständiges hinbekommen.
Sie haben inzwischen ein weich gespültes Hartz-Konzept vorgelegt. Vieles entspricht nicht mehr der ursprünglichen Arbeit der Kommission. In diesem Zusammenhang
hat ein unverdächtiges Kommissionsmitglied, der Personalvorstand der Deutschen Bahn AG, Norbert Bensel, gestern gegenüber der „FAZ“ festgestellt: „Wenn es so kommt,
geht das in die verkehrte Richtung.“
({4})
Der Kollege Niebel wird das noch im Einzelnen darlegen.
Der Kernpunkt ist: Sie gehen im Krebsgang an die notwendigen Veränderungen im Arbeitsmarkt heran.
({5})
Die Hartz-Kommission dient Ihnen ein Stück weit als
Alibi zur Kostümierung der wahren Probleme. Sie gehen
nicht an die Reform des Tarifvertragswesens heran.
Warum lassen Sie nicht zu, dass 75 Prozent der Belegschaft eines Betriebs unabhängig von den übergeordneten
Regelungen des Flächentarifvertrags in geheimer Abstimmung eigene Regeln setzen können?
({6})
Im Osten Deutschlands stehen 70 Prozent aller Arbeitsverhältnisse außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts. Kein Mensch, keine Gewerkschaft und kein Zwischenrufer rühren daran, weil sich die Arbeitslosigkeit
sofort verdoppeln oder verdreifachen würde. Geben Sie
den Betrieben doch ein Stück Freiheit!
({7})
Herr Clement, reden Sie doch einmal mit Ihrem neuen
Staatssekretär Rezzo Schlauch! Er hat in der vergangenen
Legislaturperiode exakt das Gleiche gesagt. Er hat dafür
fürchterliche Prügel von seiner grünen Fraktion, insbesondere von dem Kommunikationswissenschaftler und
Arbeitsmarktexperten Kuhn, bekommen. Aber Herr
Schlauch hatte Recht. Wenn die linke Seite des Hauses
heute etwas beschließt, das sie in der letzten Legislaturperiode noch abgelehnt hat, sind Sie vielleicht auch so
weit, Rezzo Schlauch heute zuzustimmen. Dann kämen
wir ein Stückchen weiter.
({8})
Das Herz von Hartz ist die Einrichtung von PersonalService-Agenturen. Damit bewirken Sie eines: Sie umgehen die Tatsache, dass Sie den Kündigungsschutz verschärft und so gestaltet haben, dass Sie bei kleinen
Betrieben eine hohe Einstellungshürde errichtet haben,
indem Sie den Kündigungsschutz quasi verstaatlichen
und sozialisieren. Der Betrieb, der Leiharbeiter einstellt,
hat damit nichts zu tun; er bezahlt sie nach geleisteten Arbeitsstunden. Mit Ihrer Personal-Service-Agentur wird
das, was noch an „Verharzung“ vorhanden ist, quasi sozialisiert und beim Staat abgeliefert.
({9})
Machen Sie es doch gleich richtig und führen Sie eine
vernünftige Reform durch! Sie stehen sozusagen vor der
richtigen Tür, kriechen aber durch den Schornstein in das
Haus hinein. Es geht einfacher: Machen Sie die Tür auf!
({10})
Erhöhen Sie hinsichtlich der Kündigungsschutzregelungen die Betriebsgröße auf 20 Mitarbeiter, machen Sie
das Kriterium von zwei Jahren Beschäftigung zur Voraussetzung und gestalten Sie Alternativen über Abfindungsvereinbarungen oder arbeitgeberfinanzierte Weiterbildungsmaßnahmen! Nehmen Sie die Vorschläge von Herrn
Gerster ernst! Er hat schließlich viele Vorschläge gemacht, wie die Effizienz der Bundesanstalt für Arbeit mit
ihren 90 000 Beschäftigten - bei einem Aufkommen von
110 Milliarden DM für die Sozialversicherungen - gesteigert werden könnte.
Bemerkenswert erschien mir, was Sie zum Kartell der
Weiterbildung ausgeführt haben.
({11})
Wenn das ernst gemeint war, fordere ich Sie auf, diesen
Vorschlag umzusetzen.
({12})
Es ist doch merkwürdig, dass fast alle Weiterbildungsmaßnahmen rein zufällig bei den Arbeitgeberverbänden
und den Gewerkschaften landen. Führen Sie doch endlich
den Wettbewerb ein und lassen Sie die Betroffenen entscheiden!
({13})
Führen Sie endlich die Gutscheine ein und brechen Sie
das Kartell wenigstens ein Stück auf! Damit können Sie
den Ansatz liefern, mit dem Sie die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung senken, und zwar, indem Sie die Vermittlung und Beratung von den Versicherungsleistungen
trennen. Die Landesarbeitsämter können Sie abschaffen.
Gehen Sie an die Reformansätze heran, damit Sie damit
endlich dem Mittelstand Luft verschaffen, sodass dieser
seine Leistungen entfalten kann! Seien Sie konsequent!
Sie gehen aber nur kostümiert und halbherzig an die Lösungen heran.
Heute Morgen um elf Uhr haben wir die aktuellen Arbeitslosenzahlen bekommen. Es sind 204 000 Arbeitslose mehr als im Vorjahr. Es ist eine dramatische weitere
Verschlechterung der Arbeitsmarktsituation und eine Verstärkung der damit verbundenen Belastungen erfolgt. Sie
müssen mehr Reformmut aufbringen und konsequenter
herangehen. Ihr Vorhaben ist ein Fortschritt, aber es ist
weicher gespült als das Ursprungskonzept. Sie haben
nicht den Mut, an Kernpunkte wie das Tarifvertragswesen
und das Übertreiben des Kündigungsschutzes bei den
kleinen Betrieben heranzugehen. Dabei können Schutzrechte zu einer Diskriminierung pervertieren, weil die Betroffenen keine Chancen mehr bekommen und Sie damit
das Gegenteil von dem auslösen, was Sie ursprünglich geplant haben.
({14})
Wenn Ihr Vorschlag ernst gemeint ist, mit den anderen
Fraktionen offen in einen Dialog zu treten und ein vernünftiges Vorhaben umzusetzen, dann tun Sie das auch,
statt Vorschläge nur deshalb zu verteufeln, weil sie von
anderen Fraktionen stammen. In der vergangenen Legislaturperiode wurde ein Vorschlag von uns als „Dienstmädchenprivileg“ beschimpft. Als wir Minijobs im Haushalt, die Sie jetzt einführen wollen, gefordert haben, war
es ein „Dienstmädchenprivileg“, aber wenn die Forderung jetzt von Gewerkschaftsfunktionären kommt, ist es
kein Neofeudalismus, sondern eine Großtat. Machen Sie
es vernünftiger!
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Brandner, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Lautstärke, meine Damen und
Herren von der Opposition, haben Sie sich zwar Gehör
verschafft, aber konstruktive Vorschläge, die die Situation
verbessern, haben Sie nicht gemacht.
({0})
Sie haben bei Ihren Vorschlägen insbesondere nicht zur
Kenntnis genommen, dass sich die Arbeitsmarktlage zwischenzeitlich stabilisiert hat.
({1})
Es gibt sogar erste Zeichen der Besserung. Die Zeitreihen
der Arbeitslosigkeit und der Erwerbstätigkeit weisen darauf hin, dass der Höhepunkt der Flaute erreicht ist und
wir keine weitere Verschlechterung bekommen werden.
Reden Sie die Situation deshalb nicht schlecht! Sie haben
gesagt, Sie wollen konstruktiv mitarbeiten. Sagen Sie,
dass sich die Situation gebessert hat, und sorgen Sie so mit
dafür, dass die Arbeitslosen und die Wirtschaft auch ein
Zeichen der Hoffnung bekommen und damit eine bessere
Situation in diesem Lande eintritt!
({2})
Deutschland liegt nämlich nach wie vor im europäischen
Mittelfeld. Das ist keine Entwarnung, aber die Menschen
in Deutschland sollen auch wissen, dass es vermehrte
Hoffnungen gibt. Die heute zu veröffentlichenden
Arbeitslosenzahlen werden das zeigen.
Das Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, um weiteren Drive in die Arbeitsmarktpolitik zu bringen. Es muss
so schnell wie möglich in Kraft treten. Ich nehme gerne
zur Kenntnis, dass sich die Opposition einem schnellen
Verfahren nicht entzieht, und hoffe sehr, dass Sie auch im
Bundesrat dafür sorgen, dass dieses Gesetz schnell in
Kraft treten kann. An uns liegt es nämlich nicht. Für eine
Beratung steht ausreichend Zeit zur Verfügung, sowohl in
der Anhörung als auch im Ausschuss. Wir wollen dieses
Gesetz nicht durchpeitschen, sondern wir geben Ihnen die
Gelegenheit zur Beratung. Wir haben Ihnen eine Ausschusssitzung am Freitag angeboten, Ihr Wunsch war eine
Sitzung am heutigen Abend. Wir können die Anhörung
verlängern, wir können in der nächsten Woche weiter tagen. Wir gehen auf Ihre Wünsche ein, wenn Sie Fragen
haben und wenn Sie konstruktiv mitarbeiten wollen. Bitte
tun Sie das. Es ist ein Angebot, dem Sie sich nicht entziehen sollten.
({3})
Insgesamt gesehen haben wir die große Chance für einen nachhaltigen Aufbruch der verkrusteten Strukturen.
Wir haben eine Chance für eine Arbeitsmarktreform aus
einem Guss. Wir haben eine Chance für eine Arbeitsmarktreform, die der Wirtschaft hilft und die neue Stellen
schafft.
({4})
Die Bedingungen dafür lassen es nicht zu, in einer Kuschelecke zu bleiben. Uns geht es darum, auf der einen
Seite den sozialen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voll zu wahren und auf der anderen Seite
Flexibilisierungsansprüche der Wirtschaft zu gewährleisten.
({5})
Es geht um die Bekämpfung der strukturellen Arbeitslosigkeit. Aufgrund der langen Tradition stehen in
Deutschland die passiven Lohnersatzleistungen immer
noch eher im Vordergrund als aktive Arbeitsmarktpolitik.
Das wollen und das werden wir ändern. Wir wollen eine
umfassende Aktivierung, die nachhaltiges Wachstum und
damit die Bedingungen für neue Arbeitsplätze schafft.
Aber es geht auch darum, das Wachstum beschäftigungsintensiver zu machen. Bisher entstehen neue Arbeitsplätze erst, wenn die Wirtschaft um mindestens 1,2 bis
2 Prozent wächst. Unsere Gesetze werden dazu führen,
dass die Beschäftigungsschwelle sinkt. Wachstum kann
dann schneller und nachhaltiger greifen.
Eine umfassende Aktivierung der Arbeitslosen, die
nicht immer schmerzfrei verlaufen wird, braucht gesellschaftliche Akzeptanz. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass die Kommission unter Leitung des VW-Vorstandsmitglieds Peter Hartz ihre Vorschläge einstimmig
beschlossen hat. Das allein ist angesichts dieses Personenkreises eine ganz herausragende Leistung.
({6})
Wir dürfen den Konsens nicht zerreden. Wer nur einzelne
Elemente für sich herauspickt, verfolgt eben gerade nicht
das Ziel einer umfassenden Reform. Die CDU/CSU fordert in ihrem Antrag in vielen Punkten nur populistischen
Sozialabbau. Druck auf Sozialhilfeempfänger allein ist jedoch keine Reform. Und die FDP möchte wieder die Tarifautonomie unterhöhlen. Dabei ist doch nicht die Tarifautonomie für die hohe Arbeitslosigkeit in diesem Lande
verantwortlich. Machen Sie doch nicht den Bock zum
Gärtner! Helfen Sie mit, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen, aber nicht auf Kosten der Arbeitnehmer!
({7})
Dabei sind die Hartz-Vorschläge auch Vorschläge, die
die Tarifautonomie stärken. Wir wollen durch die Umsetzung der Hartz-Vorschläge Arbeit und Kapital versöhnen.
Das ist die Grundbotschaft, die Hartz ausgesendet hat.
({8})
Herr Kollege Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Bitte.
Herr Brandner, Sie haben gerade vom CDU-Konzept
gesprochen. Können Sie einmal erklären, welche Auswirkungen es auf die Sozialversicherung hätte, wenn wir die
Schaffung von Minijobs verstärkt förderten? Wir haben in
der Vergangenheit erlebt, wie der Arbeitsmarkt durch die
Politik der Union in Unordnung gebracht worden ist, weswegen in der Sozialversicherung Beträge in Milliardenhöhe gefehlt haben. Können Sie sich vorstellen, dass es
sogar zum Kollaps der Sozialversicherung führen wird,
wenn wir die Schaffung von Minijobs verstärkt fördern?
Selbstverständlich führt es zum Zusammenbruch der
Sozialversicherung, wenn immer mehr Beschäftigungsverhältnisse sozialversicherungsfrei sind und damit die
Zukunft breiter Bevölkerungsschichten nicht gesichert
ist. Das kann kein Weg sein, der in die Zukunft führt. Wir
müssen die Strukturen verändern, indem die Lohnnebenkosten gesenkt und neue, sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze geschaffen werden. Dieses Konzept verfolgen wir.
({0})
Die von uns vorgelegten Entwürfe für Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt sind kein Strohfeuer - Sie wissen das -, sondern Teil einer nachhaltigen
beschäftigungspolitischen Strategie. Die Bundesanstalt
für Arbeit wird zu einem modernen Dienstleister umgebaut werden. Davon profitiert insbesondere der Mittelstand; denn die schwerfälligen Arbeitsmarktverwaltungsstrukturen haben insbesondere die kleineren und
mittleren Betriebe belastet. Die großen Betriebe mit kompetenten Personalabteilungen und Personalentwicklungsplänen könnten sich und konnten sich letztlich selbst helfen. Dabei wollen sich viele Beschäftigte in den
Arbeitsämtern engagieren. Wir sorgen für Bewegung,
ohne dass Angst entstehen muss. Wir wissen, dass das
ganze System als solches nicht mehr zeitgemäß ist, und
deshalb muss es dringend reformiert werden.
In diesem Zusammenhang komme ich auf die zu gründenden Personal-Service-Agenturen zu sprechen. Sie
sollen für viele eine Brücke in den Arbeitsmarkt bauen.
Sie helfen den Arbeitgebern, die sich nicht oder noch nicht
fest binden wollen. Sie bauen Einstellungsbarrieren ab.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist dabei ein wichtiges
Grundprinzip, das auch für Zeitarbeitnehmerinnen und
Zeitarbeitnehmer gelten muss; sonst kommt es zu Wettbewerbsverzerrung und -verdrängung. Anscheinend will
die Opposition das billigend in Kauf nehmen und genau
das wollen wir nicht.
({1})
Es gilt nämlich der Grundsatz: Wenn Qualifikation und
Erfahrung eines Zeitarbeitnehmers denjenigen eines Mitarbeiters der Stammbelegschaft entsprechen, dann muss
er einen Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit
haben.
Um das zu organisieren, brauchen wir Tarifverträge.
Der Gesetzgeber kann den Grundsatz festlegen; die Ausnahmen und die Feinjustierungen bleiben den Tarifvertragsparteien überlassen. So steht es übrigens ausdrücklich im Hartz-Konzept. Die Umsetzung erfolgt also im
Verhältnis eins zu eins, Herr Brüderle. Durch Hartz ist
nicht das Aufweichen, sondern das Stärken der Tarifautonomie angesagt.
({2})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, handeln
Sie hier nicht einseitig und unredlich, wenn Sie den
Grundsatz kritisieren, die Tariföffnungsklauseln aber verschweigen!
Natürlich geht es dabei um Abweichungen auch nach
unten. Das ist aber im wohlverstandenen Interesse von Arbeitslosen. Sie müssen schließlich vermittelbar sein. Nach
unserem Verständnis ist Zeitarbeit nämlich vermittlungsorientierte Arbeitnehmerüberlassung. Ziel der Personal-Service-Agenturen ist es, zusätzliche Arbeitsplätze zu
schaffen und aus Zeitarbeitnehmern fest angestellte Arbeitnehmer zu machen.
Die Kritik aus den Oppositionsreihen verschweigt
auch, dass wir die einschränkenden Bestimmungen des
bisherigen Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes weitgehend aufheben. Es gibt dann nämlich kein Synchronisationsprinzip, kein Befristungsverbot und kein Wiedereinstellungsverbot mehr. Weitere Vorschriften werden
genauso gestrichen werden. Wir verbinden damit die
langjährige Forderung aus dem Arbeitgeberlager nach
Deregulierung mit der langjährigen Forderung der Gewerkschaften nach Nichtdiskriminierung. Die CDU, Herr
Laumann, kommt mit ihrem angekündigten Gesetzentwurf zu spät. Die Arbeit könnten Sie sich sparen. Die Deregulierungsmaßnahmen, die in unserem Gesetzentwurf
im Zusammenhang mit der Zeitarbeit enthalten sind, werden Sie ja jetzt erst zusammenschreiben. Erkennen Sie an,
dass die Koalition bei der Umsetzung des Hartz-Konzeptes schnell arbeitet. Die Zeitarbeitsunternehmen können
sich nur zu einer anerkannten und wachsenden Branche
entwickeln,
({3})
wenn sie den Nichtdiskriminierungsgrundsatz anerkennen und dazu stehen.
({4})
Die ersten Interessenten stehen, wie Sie wissen, ja schon
in den Startlöchern.
Übrigens entspricht unsere Regelung im Wesentlichen
dem erfolgreichen niederländischen Vorbild. Deshalb verstehe ich die Logik der Arbeitgeberverbände nicht, die das
niederländische Modell in der Vergangenheit als vorbildlich gepriesen haben, unseren Gesetzentwurf jetzt aber
kritisieren.
({5})
Herr Laumann hat hier ja heute sehr deutlich gesagt,
dass ihn zwei Dinge befallen: zum einen Kopfschütteln,
zum anderen blankes Entsetzen. Ich würde ihn bitten, eine
Klärung mit dem Generalsekretär der CSU herbeizuführen, der noch vor kurzem gesagt hat, dass die Union für
den Niedriglohnsektor ein Alternativkonzept anbiete,
das ohne die von der Hartz-Kommission vorgeschlagene
„Versklavung von Leiharbeitnehmern“ auskomme. Mit
einer solchen Formulierung macht man sich bei den Zeitarbeitsunternehmen mit Sicherheit nicht beliebt. Sie haben sich ja eben als Lobbyist dieser Gruppe aufgespielt.
Ich will Ihnen nur sagen, wie sich Ihre Parteifreunde zu
diesem Thema äußern, nämlich dass ein Niedriglohnsektor ohne Versklavung von Leiharbeitnehmern auskommen
müsse. Genau das aber wollen Sie: Sie wollen den Lohn
drücken; Sie wollen keine fairen Arbeitsbedingungen.
({6})
Dazu sollten Sie auch offen stehen.
({7})
In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein weiteres Thema ansprechen, das für mich von zentraler Bedeutung ist, nämlich: Wie kommen wir zur Stärkung der
Wachstumskräfte in Deutschland? Unter anderem durch
Abbau von Bürokratie. Wir haben im Koalitionsvertrag
eindeutig festgelegt, dass wir den Kurs des Bürokratieabbaus fortsetzen wollen.
({8})
Das ist gerade für kleinere und mittlere Unternehmen besonders wichtig. Wir werden einen Masterplan vorlegen,
mit dem Hemmnisse schnell und wirksam abgebaut werden. Bei der Bundesanstalt für Arbeit - das will ich deutlich sagen - machen wir dabei den Anfang.
Das Beispiel Zeitarbeit wurde genannt. Außerdem wird
es eine radikale Vereinfachung von Vorschriften zur beruflichen Weiterbildung geben. Das Meldeverfahren und
die Vorschriften zur Erstellung von Statistiken zu Minijobs sind denkbar einfach. Im Übrigen passt auch das
nicht zu dem gerade eben wieder von Ihnen geforderten
Überwachungsinstrument, mit dem festgestellt werden
soll, ob es sich wirklich um einen Minijob handelt oder
nicht. Wir werden die Unternehmen auch sonst von überflüssigen Statistiken entlasten. Wir werden den Kontakt
zur Wirtschaft und zur Verwaltung weiterhin intensivieren, um gemeinsam das Ziel Bürokratieabbau zu realisieren.
Die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen ist
das wichtigste Vorhaben, das wir jetzt zur Schaffung
neuer Arbeitsplätze auf den Weg bringen. Wir werden
- insgesamt gesehen, nicht nur mit diesen Maßnahmen den Haushalt konsolidieren, wie Sie wissen. Dabei liegt
mir noch eine Botschaft ganz besonders am Herzen: Wir
werden natürlich im Rahmen der Zusammenführung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe finanzielle Einsparungen
vornehmen müssen. In diesem Zusammenhang werden,
um es klar zu sagen, auch Vermögenseinkünfte stärker angerechnet, als es in der Vergangenheit der Fall war. Indem
die CDU/CSU aber gegen diese Regelung polemisiert und
in der Öffentlichkeit sagt, dass auch die Ansprüche durch
die Riester-Rente und die Beiträge zur Altersvorsorge von
diesen Anrechnungsvorschriften betroffen sind, geben Sie
bewusst eine falsche Orientierung und verunsichern Sie
die Menschen in diesem Land.
Herr Kollege Brandner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Damit sorgen Sie dafür, dass eine Verunsicherung entsteht, die nicht richtig und nicht notwendig ist. Wir werden genau diesen Bereich nicht angehen, sondern dafür
sorgen, dass bei einer Verschärfung der Anrechnungsvorschriften diejenigen, die für die Altersversorgung Vorleistungen treffen, geschont werden und ihnen ihre Leistungen ungeschmälert zukommen.
({0})
Insofern gibt es in diesem Bereich Sicherheit und keine
Unsicherheit. Ich bitte Sie deshalb, bei den anstehenden
Vorhaben konstruktiv mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar - diese
Maxime von Ingeborg Bachmann, die Sie bestimmt kennen, sollte gerade in Krisenzeiten Leitbild der politisch
Verantwortlichen sein. Man muss den Menschen reinen
Wein einschenken, denn nur so wird die Notwendigkeit
von Reformen verstanden und nur so werden vor allen
Dingen diese auch von ihnen mitgetragen werden.
Aber wie sieht die Wahrheit aus? Wie sieht die Wahrheit aus, der Herr Schröder, der Sie, Herr Clement und
Herr Eichel, nicht ins Gesicht schauen wollen? Fast 4 Millionen Menschen sind arbeitslos in Deutschland, zusätzlich 1,7 Millionen werden vor der statistischen Arbeitslosigkeit versteckt, das heißt mit arbeitsmarktpolitischen
Beruhigungspillen vertröstet. 40 000 Insolvenzanträge
sind dieses Jahr zu erwarten. Dabei sprechen wir nur von
Anträgen. Man darf bei der Interpretation dieser Zahl
nicht vergessen, dass es sich dabei nur um die Anträge
handelt, die statistisch erfasst sind. Die vielen kleinen Betriebe, die still und leise ihre Türen zuschließen, ohne in
Statistiken zu erscheinen, sind hier gar nicht aufgeführt.
({0})
Und was sagen Sie zu den 300 000 Arbeitslosen in diesem Bereich, die wir schon im ersten halben Jahr hatten?
Im ersten Halbjahr hatten wir ein Wirtschaftswachstum
unter 0; für das gesamte Jahr rechnen Sie mit einem Wirtschaftswachstum von 0,75 Prozent, für nächstes Jahr
rechnen Sie mit einer Zunahme um 1,5 Prozent. Aber bei
einer Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent, die wir in
Deutschland haben, ist das nichts anderes als eine Kapitulation vor der Massenarbeitslosigkeit.
({1})
Wir wissen alle: Wir sind in einer schwierigen Phase.
Aber anstatt hier Anreize für mehr Dynamik, mehr
Wachstum und Optimismus zu schaffen, bringen Sie ein
Kostenexplosionsprogramm auf den Weg, das Konsumenten und Unternehmer gleichermaßen vor den Kopf
stößt. Was haben wir denn jetzt? - Jetzt haben wir steigende Rentenversicherungsbeiträge, steigende Krankenversicherungsbeiträge, eine höhere Ökosteuer und vor allem ein Aussetzen der Steuerreform gerade für die
Personengesellschaften bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Ich möchte nicht wissen, was nach den Landtagswahlen
noch alles auf uns zukommt.
Warum haben Sie die Aussagen Ihrer führenden Wirtschaftsexperten nicht zur Kenntnis genommen? Diese haben gesagt, dass Ihre Beschlüsse erstens das Wachstum,
zweitens den Aufbau von Beschäftigung und drittens eine
dynamische Wirtschaftsentwicklung behindern. Sie können doch über solche Aussagen nicht einfach hinweggehen!
Ihre Bundessozialministerin sagt zu der Anhebung der
Rentenversicherungsbeiträge auf 19,5 Prozent: Da haben wir erst einmal Ruhe. Was ist denn das für eine Aussage? Was ist denn mit den 20 Milliarden Euro Ökosteuer,
die zukünftig, auch durch die nächste Erhöhung am 1. Januar, eingenommen werden, wodurch die Rentenversicherungsbeiträge eigentlich gesenkt werden sollten, wie
Sie versprochen haben? Jetzt wird gesagt: Da haben wir
erst einmal Ruhe. - Ja, Ruhe haben wir schon, aber wo
denn? Wir haben Ruhe in den Betrieben, weil Arbeit und
Produktion noch teurer werden, wir haben Ruhe im Einzelhandel, weil noch mehr Kaufzurückhaltung geübt werden wird, und wir haben Ruhe bei den Reformanstrengungen. Das ist der falsche Weg.
({2})
Es darf hier nicht um Ruhe gehen, sondern es muss um
Dynamik und wirtschaftlichen Aufschwung gehen.
Es darf nicht sein, dass eine Zeitung wie die „Financial
Times Deutschland“ am vergangenen Dienstag titelt:
„Exodus des Mittelstandes“ und „Tschüs, Deutschland!“.
Wenn man dann sieht, dass nach einer Berechnung der
Boston Consulting Group die Verlagerung eines Betriebes
aus Deutschland heraus heute nur noch - nehmen wir ein
Beispiel aus dem Elektronikbereich - sechs Monate dauert und sie sich für einen Betrieb heute schon nach ein bis
zwei Jahren rechnet - das waren früher viel längere
Zeiträume -, dann wird klar, dass wir gefordert sind, dass
wir handeln müssen, dass uns die Zeit davonrennt.
Aber Sie hören das alles nicht, Sie nehmen das nicht
zur Kenntnis. Sie haben nur eine Zauberformel, die aus
fünf Buchstaben besteht: Hartz. Damit, glauben Sie, würden alle Probleme der Zukunft gelöst.
Eigentlich hat sich der Zauber jedoch schon längst verflüchtigt. Was ist denn mit der Vorgabe der Eins-zu-einsUmsetzung, die der Kanzler gemacht hat? Was heute als
Gesetzestext vorliegt, ist doch nicht die Eins-zu-eins-Umsetzung der Hartz-Vorschläge, sondern unterscheidet sich
massiv von ihnen.
Lassen wir einmal beiseite, dass durch die PersonalService-Agenturen wahrscheinlich eine gigantische Beschäftigungsgesellschaft geschaffen wird, dass wir vermutlich den Weg in einen dritten Arbeitsmarkt gehen und
dass die Arbeitslosenzahlen zwar sinken werden, aber nur
auf dem Papier, nämlich in den Statistiken. Ein viel drängenderes Problem wird nicht erkannt, nämlich dass Hartz
am Kern der Ursachen für die katastrophale Lage am Arbeitsmarkt vorbeigeht. Das ist das Hauptproblem.
({3})
Man muss bedenken, dass den über 4 Millionen Arbeitslosen 1 Million offene Stellen gegenüberstehen. Inzwischen machen nur noch ein Drittel der mittelständischen Betriebe Gewinn. Vor dem Hintergrund dieser
Zahlen kann man den Reformeifer doch nicht darauf beschränken, nur zu einer schnelleren und besseren Arbeitsvermittlung zu kommen. Wir brauchen etwas ganz anderes. Wir brauchen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, die
ohne staatliche Unterstützung auskommen. Wir brauchen
einen Mittelstand, der wieder erfolgreich am Markt bestehen kann.
({4})
Wir brauchen außerdem eine Aufbruchstimmung. Wo ist
denn diese Aufbruchstimmung? Ich kann draußen im
Lande nichts davon spüren - im Gegenteil. Ich glaube,
dass es Ihnen genauso geht.
Was bis vor kurzem noch als Jobfloater bezeichnet
wurde, heißt jetzt Kapital für Arbeit. Wenn ein Unternehmer zukünftig einen Arbeitslosen einstellt, dann hat er
die Möglichkeit, einen zinsgünstigen Kredit von bis zu
100 000 Euro mit einem Effektivzins von 5,5 Prozent zu
bekommen. Dieser Kredit wird aber nur dann gewährt,
wenn man ein zukunftsfähiges Unternehmen hat; denn
man bekommt das Geld nicht automatisch, wenn man einen Arbeitslosen einstellt, sondern erst dann, wenn man
positiv geratet wurde.
Wenn man Zinsen in Höhe der Bundesbankzinsen von
6,37 Prozent zugrunde legt, dann erkennt man, dass die
Förderung bei unter 100 Euro im Monat liegt. Dafür soll
ein Unternehmer einen Arbeitslosen einstellen? Glauben
Sie wirklich, dass dadurch auch nur ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen wird, der auch ohne staatliche Förderung nicht geschaffen würde? Die KfW gibt per
anno 5 Milliarden Euro aus. Mit dem, was Sie hier auf den
Weg bringen, betreiben Sie eine versteckte Staatsverschuldung und nichts anderes.
({5})
Es handelt sich um ein großes Mitnahmeprojekt für
diejenigen Unternehmen, die sowieso schon ausreichend
liquide und finanzstark sind. Es ist aber kein Projekt für
die Existenzgründer, für den finanzschwachen Mittelstand und vor allen Dingen für die Arbeitslosen; denn der
Unternehmer muss den Arbeitslosen, den er eingestellt
hat, nicht behalten. Er kann ihn jederzeit entlassen.
({6})
Trotzdem läuft der Kredit zehn Jahre lang weiter.
Ich wollte mit diesem Beispiel zeigen, dass Ihnen,
meine Damen und Herren von Rot-Grün, der Blick für das
Ganze fehlt. Ihnen fehlt der Blick für wirtschaftliche Zusammenhänge. Darin liegt Ihr Problem. Lesen Sie einmal
die Düsseldorfer Leitsätze zur sozialen Marktwirtschaft aus dem Jahr 1949, die wir oft zitieren. Darin findet man die Maxime Ludwig Erhards, die überhaupt
nichts an Aktualität eingebüßt hat:
Die beste Sozialpolitik nützt nichts, wenn sich nicht
Wirtschafts- und Sozialordnung wechselseitig ergänzen und fördern.
Genau das ist der Punkt: Bei uns ergänzen sie sich nicht
mehr. Die Räder greifen nicht mehr ineinander, sondern
sie blockieren sich. Deswegen brauchen wir wieder eine
Wirtschaftspolitik aus einem Guss. Wir brauchen wieder
den Gleichklang von sozialen Belangen auf der einen
Seite sowie Markt und Wirtschaft auf der anderen Seite.
Wir brauchen wieder Eigenverantwortung und unternehmerisches Engagement. Das sind Begriffe, die wieder positiv besetzt werden müssen. Dazu gehört auch der Leistungsgedanke.
({7})
Nicht zuletzt muss die Kostenbelastung der Betriebe und
Haushalte abgebaut werden.
Der Bundeswirtschaftsminister hat letzte Woche Einsparmöglichkeiten von 6 Milliarden Euro vorgerechnet.
Warum wird dieses Geld nicht dazu verwandt, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge zu senken? Schon die
Senkung der Sozialversicherungsbeiträge um 1 Prozentpunkt schafft 50 000 bis 100 000 Arbeitsplätze. Das wäre
der richtige Weg.
({8})
Warum spricht keiner von dem riesigen Etat der Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 54 Milliarden Euro?
Warum spricht keiner von den 21 Milliarden Euro, die für
die aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben werden? Ich
bin mir sicher, dass hier immense Spielräume vorhanden
wären, wenn man kreativ sparen wollte.
Herr Brandner hat einen weiteren Bereich angesprochen: die Bürokratie. 90 Prozent der von der Bürokratie
verursachten Kosten tragen die kleinen und mittleren Betriebe. 2 000 Bundesvorschriften und 85 000 Verordnungen, die zu beachten sind, um überhaupt wirtschaften zu
können, machen den kleinen Betrieben das Leben schwer.
Das muss zurückgeführt werden.
Warum haben Sie unseren Vorschlag einer Entbürokratisierungstaskforce mit klaren Zielvorgaben und vor allem
eindeutigen Zeitvorgaben nicht aufgenommen? In Ihrem
ersten Entwurf einer Koalitionsvereinbarung hatten Sie
diesen Gedanken doch. Warum ist er jetzt nicht mehr enthalten? Sie sprechen jetzt von einem Masterplan. Was ist
ein Masterplan?
Viel wichtiger ist, endlich konkrete Einzelmaßnahmen
anzugehen und anzupacken. Wir müssen zu einer umfassenden Entriegelung des Niedriglohnsektors kommen.
In diesem Bereich der geringen Qualifikation gibt es mehr
als 2 Millionen Menschen ohne Arbeit. Diese brauchen
wirkliche Perspektiven auf dem ersten Arbeitsmarkt und
nicht nur im Hinblick auf haushaltsnahe Beschäftigungen.
({9})
Unsere Anträge und Forderungen liegen nicht erst seit
heute, sondern schon seit Wochen auf dem Tisch: die Forderung nach einem modernen Kündigungsschutzrecht gerade für Problemgruppen, nach einer Steuerentlastung,
nach flexiblen Bündnissen für Arbeit in den Betrieben und
nach einer Änderung des Günstigkeitsprinzips.
Es ist ja nicht so, dass nur wir dies fordern. Alle Experten schreiben Ihnen dies ins Stammbuch. Die von
Ihren Fachleuten besetzte Benchmarkinggruppe hat Ihnen
vor einem Jahr eine wunderbare Reformagenda an die
Hand gegeben, wonach Sie eigentlich nur hätten handeln
müssen. Aber was haben Sie getan? - Sie haben nichts getan.
Frau Kollegin Wöhrl, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja.
Ich glaube - auch Sie spüren das -, dass es in unserer
Gesellschaft eine Reformbereitschaft gibt. Die Menschen sind zu Veränderungen bereit. Aber die Menschen
wollen auch, dass man ihnen die Wahrheit sagt. Sie haben
nicht das Gefühl, dass Sie ihnen die Wahrheit sagen.
Hören Sie endlich auf den Expertenrat der Wirtschaftsinstitute! Setzen Sie sich mit den Vorschlägen Ihrer eigenen
Fachleute auseinander und werden Sie endlich der großen
Verantwortung, die Sie als Regierungspartei in unserem
Land haben, gerecht! Es wird Zeit.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Wöhrl, in einer Sache gebe ich Ihnen Recht: Man sollte
die Vorschläge der Hartz-Kommission nicht überschätzen.
({0})
Man sollte sie allerdings auch nicht unterschätzen.
({1})
In beiden Betrachtungsweisen liegt eine gewisse Tücke.
Wenn Sie etwas kleinreden, was überhaupt noch nicht begonnen hat und noch nicht ausprobiert wurde, dann nenne
ich das Kleinmut.
({2})
Sie sollten sich einmal die flammende Aufmunterungsschrift von Graf Lambsdorff - Sie haben uns ja gerade Literaturhinweise gegeben - anschauen, in der er
über Mut statt Missmut schrieb. Was wir brauchen, ist
Mut zur Veränderung.
({3})
Die Vorschläge der Hartz-Kommission führen zu Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.
({4})
Sie haben eine Debatte, die parteipolitisch festgefahren
bzw. blockiert war, wieder in Bewegung gebracht. Dass
wir heute über die Frage sprechen, was Flexibilisierung
auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, ist durch die Hartz-Kommission zustande gekommen.
Wir verlangen doch den Arbeitslosen eine ganze
Menge ab, wenn wir das Prinzip „Fördern und Fordern“ umsetzen, wenn wir Arbeitslose mit einer Maßnahmenbalance aus Sanktionsmöglichkeiten und positiven Anreizen aktivieren. Das versuchen wir umzusetzen,
({5})
um wieder zusätzliche Beschäftigung zu bekommen.
Die Vorschläge, die im Bericht der Hartz-Kommission
enthalten sind, die wir mit einem ersten Gesetzentwurf
umsetzen und die im Einzelnen die Schaffung von Personal-Service-Agenturen, Minijobs, Ich-AGs und dergleichen umfassen, bieten Möglichkeiten, um zu mehr
Beschäftigung zu kommen. Die Aussage, dass das HartzKonzept nur eine bessere Vermittlung bringt und keine zusätzliche Arbeit schafft, stimmt so nicht. Es werden zusätzliche Arbeitsanreize geschaffen und für Arbeitslose
die Möglichkeiten erhöht, Arbeit anzunehmen.
Schauen Sie sich die Personal-Service-Agenturen an:
Hier versuchen wir, die Defizite im Bereich der Dienstleistungen, die wir in Deutschland noch haben, zu überwinden. Ein Imageproblem besteht beispielsweise darin,
dass die Zeit- und Leiharbeit mit einem gewissen Minderwertigkeitskomplex versehen ist. Wir müssen der Leiharbeit durch vernünftige und vor allem annehmbare Bedingungen der Entlohnung und Arbeitszeit zur Akzeptanz
in der Gesellschaft verhelfen.
Das geht natürlich mit einem Abbau von Bürokratie
einher. Insofern greift Ihre Kritik ins Leere. Schauen Sie
sich nur einmal das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz an!
Wir tragen an verschiedenen Stellen zum Bürokratieabbau bei, beispielsweise durch Abschaffung des Synchronisationsverbots, des Befristungsverbots, des Wiedereinstellungsverbots und des Abwerbeverbots. Dies
alles sind doch Schritte in die Richtung Deregulierung.
Wenn wir Anpassungsleistungen von den Arbeitslosen
verlangen, dann sind wir selber aufgefordert, in Vorleistung zu gehen und auf der administrativen Seite ebenfalls
Flexibilität zu zeigen. Das tun wir hiermit.
Wir sollten die Wirkung der von der Hartz-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen nicht überschätzen.
Sie müssen natürlich in eine innovative Wirtschaftspolitik
eingebettet sein. Daher bemühen wir uns - Sie haben es
verfolgt und das letzte Wort in Sachen Lohnnebenkosten
ist noch nicht gesprochen -, den Faktor Arbeit zu entlasten. Zudem müssen wir mutige Schritte im Bereich der
Rente unternehmen und zur Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen beitragen.
({6})
Das alles sind Herausforderungen, die von uns in Angriff
genommen werden. Wir stehen doch erst am Beginn dieser Legislaturperiode.
Genauso ist es mit der Politik der innovativen Technologien, der Clusterbildung, die wir mit dem Inno-RegioProgramm planen. Dies alles werden wir vertieft angehen.
Das bezieht - das muss ich ganz klar sagen - die ökologische Steuerreform mit ein. In diesem Rahmen ist es uns in
der letzten Legislaturperiode erstmalig gelungen, den
Faktor Arbeit ernsthaft zu entlasten
({7})
und den Faktor Umweltverbrauch stärker in den Mittelpunkt zu rücken.
({8})
Das mag Ihnen nicht gefallen, aber das war bisher erfolgreich. Daran werden wir festhalten, nicht nur weil es ein
Umsteuern bedeutet, sondern auch weil dadurch neue
Arbeitsplätze entstanden sind.
Wenn Sie fragen, wo neue Arbeitsplätze entstanden
sind, kann ich Sie auf diesen Bereich verweisen: 150 000
neue Arbeitsplätze sind allein im Bereich der regenerativen Energien und der Umweltschutztechnologien entstanden. Hier sind wir Exportweltmeister.
({9})
Diese Position werden wir halten.
Zusammengenommen mit den im Rahmen der HartzKommission vorgesehenen Maßnahmen haben wir ein
Konzept, wie wir die Arbeitslosigkeit senken werden. Ihre
Kritik greift also zu kurz.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel,
FDP-Fraktion.
Werner Schulz ({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Schulz hat gerade zu Recht das Papier zu Mut zur Veränderung von Otto Graf Lambsdorff
gelobt. Ich kann Ihnen versichern, dass wir auf der Grundlage der Theorien von Otto Graf Lambsdorff sehr gerne
bereit sind, mit Ihnen in den nächsten vier Jahren die Arbeitsmarktpolitik zu gestalten. Das Problem ist nur, dass
aus dem „Hartz“, der jetzt vorliegt, niemals ein Bernstein
werden kann. Das, was Sie jetzt umsetzen wollen, hat
nämlich mit dem Hartz der Kommission nur noch herzlich
wenig zu tun. Es kommt nicht zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung,
({0})
sondern zu einer Eins-zu-null-Umsetzung zugunsten von
Frau Engelen-Kefer und zulasten der Arbeit suchenden
Menschen in diesem Land.
({1})
Es gibt einige richtige Ansätze, Herr Minister Clement:
Sie führen Jobcenter ein, die den Arbeitssuchenden ein
umfassendes Angebot aus einer Hand bieten sollen. Sie
haben angeregt, die Beweislast umzukehren, weil Solidarität keine Einbahnstraße sein kann. Derjenige, der eine
zumutbare Beschäftigung nicht annimmt, muss verpflichtet werden, nachzuweisen, dass er dafür einen wichtigen
Grund hat. Das ist heute nicht der Fall. All das ist richtig.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als wir dies beantragt haben. Damals haben Sie dies in diesem Hause unter Absingen schmutziger Lieder abgelehnt. „Neoliberaler
Turbokapitalismus“ lautete der Vorwurf von Ihrer Seite.
Ich freue mich, dass Sie in der Realität angekommen sind.
Auf diesem Weg müssen Sie weitergehen, denn nur durch
Fördern und Fordern können wir die Arbeitsmarktprobleme tatsächlich in den Griff bekommen.
Dennoch wird aus diesem Hartz kein Bernstein werden
können. Hartz hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass
Ihre gesetzgeberischen Initiativen der letzten Legislaturperiode fehlgeschlagen sind. Die Einführung von 500-EuroJobs im haushaltsnahen Dienstleistungsbereich ist nichts
anderes als der Beweis dafür, dass Ihre 325-Euro-Regelung, die alte 630-DM-Regelung, einfach nicht gegriffen
hat. Sie haben damit Schwarzarbeit gefördert.
({2})
Sie haben Arbeitskräfte in die Illegalität getrieben, die
sich durch ihrer eigenen Hände Arbeit etwas dazuverdienen wollten. Das sind die Leistungsbereiten in diesem
Land.
Jetzt frage ich mich: Warum bleiben Sie auf halbem
Weg stehen? Warum diskriminieren Sie wieder einmal
Arbeitsplätze, nämlich in privaten Haushalten, die regulär
besetzt werden könnten, indem Sie eben nicht den ganzen
Weg gehen, das heißt die privaten Haushalte, die sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze anbieten, so behandeln wie andere Arbeitgeber auch, bei denen reguläre
Arbeitsplätze steuerlich entsprechend zu berücksichtigen
sind - als Betriebsausgaben bei Selbstständigen oder Werbungskosten bei abhängig Beschäftigten?
({3})
Warum gehen Sie den Weg nicht weiter, auch in der
Frage des Niedriglohnsektors? Warum sagen Sie in
Ihrem Gesetzentwurf, dass ein 500-Euro-Job im haushaltsnahen Bereich unschädlich ist, wenn er zusammen
mit einem 325-Euro-Job irgendwo anders ausgeübt wird?
Warum ist es nicht unschädlich, wenn er neben einem so
genannten regulären Arbeitsverhältnis ausgeübt wird,
({4})
und zwar deshalb, weil sich jemand noch etwas dazuverdienen will, weil er das Häuschen abbezahlen will, weil er
sich einen zusätzlichen Urlaub leisten will?
({5})
Wodurch Hartz Ihnen auch ganz klar sagt, dass Sie gescheitert sind, ist die so genannte Ich-AG. Wenn Sie
Selbstständigkeit fördern wollen, dann schaffen Sie das
Gesetz zur Förderung der Scheinselbstständigkeit ab!
({6})
„Ich-AG“ bedeutet doch nichts anderes, als dass ein
Kleingewerbetreibender, der arbeitslos ist, subventioniert
und in den Sozialversicherungssystemen abgesichert
wird, wahrscheinlich auch noch durch einen niedrigen
pauschalen Steuersatz gefördert wird, sodass jeder andere
Kleingewerbetreibende, der nicht auf arbeitslos und nicht
auf Ich-AG macht, doch geradezu bescheuert sein muss.
({7})
Sie schaffen hiermit einen weiteren Subventionstatbestand, der dazu führt, dass die Menschen den Umweg über
die Arbeitslosigkeit suchen, um in die Selbstständigkeit
zu gehen. Das ist der falsche Ansatz.
Ein weiterer Grund dafür, dass aus diesem Hartz kein
Bernstein werden kann, ist die PSA, die Personal-Service-Agentur. Die Personal-Service-Agentur soll nach
Ihrem Verständnis dafür sorgen, dass die Möglichkeiten
der Zeitarbeit intensiver genutzt werden. Sie wird aber der
Todesstoß für die privaten Zeitarbeitsfirmen sein,
({8})
jedenfalls der kleinen und mittleren, vielleicht nicht der
ganz großen. Die mittelständischen Zeitarbeitsbetriebe
können unter diesen Wettbewerbsbedingungen überhaupt
nicht mehr mithalten. Keine Chance!
Sie schaffen vor allem eines nicht: Sie schaffen die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nicht. „Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit“ heißt, dafür zu sorgen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden könnnen und Leute ohne Subventionen beschäftigt werden. „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ heißt aber nicht, 2 Millionen Arbeitslose beim
Staat anzustellen, um sie aus der Statistik zu bekommen.
Nur das aber werden Sie mit Ihrer Personal-ServiceAgentur schaffen.
({9})
Sie gehen den Weg auch nicht weit genug, was die
Strukturveränderung bei der Bundesanstalt für Arbeit
anbetrifft. Herr Clement hat gerade den Rechnungshofbericht über die Qualifizierung angesprochen.
({10})
Ein konsequenter Schritt wäre, sich über die Strukturen
Gedanken zu machen. Die Strukturen und zum Teil sogar
die handelnden Personen sind bei den Selbstverwaltungsorganen der Bundesanstalt und den Führungsetagen der
größten Bildungsträger in der Bundesrepublik Deutschland deckungsgleich. Es ist schon hochinteressant festzustellen, wer diese Bildungsträger sind. Das bfw des DGB
auf der einen Seite und die Bildungswerke der Wirtschaft
in den jeweiligen Ländern auf der anderen Seite sind die
Hauptträger der beruflichen Qualifizierung in diesem
Land. Das sind auch die gleichen, die sich in den Verwaltungsstrukturen der Bundesanstalt wiederfinden.
({11})
Vielleicht wäre es hilfreich, wenn man hier zu mehr
Wettbewerb und zu mehr Entzerrung käme, wenn die
Bundesanstalt für Arbeit in eine Versicherungsanstalt umgewandelt würde und wenn die arbeitsmarktpolitischen
Instrumentarien, zum Beispiel auch das Gutscheinsystem,
wie Sie es vorschlagen, interessanter gestaltet würden für
diejenigen, die sie nutzen sollen, nämlich die Arbeitssuchenden. Aber gestalten Sie das Gutscheinsystem bitte so,
dass es auch funktioniert und nicht so wie bei den Vermittlungsgutscheinen! Dass die Vermittlungsgutscheine
jetzt floppen - es sind gerade einmal 7 000 wirklich vermittelte Bewerberinnen und Bewerber -, liegt nicht daran,
dass Gutscheine die falsche Idee sind, sondern daran, dass
Sie die Gutscheine nicht marktgerecht ausgestaltet haben,
dass Sie die Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber nicht berücksichtigt haben und dass Sie darauf
verzichtet haben, einen wirklichen Wettbewerb dadurch
einzuführen, dass man die Gutscheine auch beim staatlichen Vermittler einreichen kann, der sich dann natürlich
durch den Erfolg refinanzieren müsste.
Deswegen gilt: 1 : 1 ist das mit Sicherheit nicht. Es ist
1 : 0 für Engelen-Kefer. Wir warten mit großem Interesse
ab, wie die Beratungen vorangehen.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sechs Wochen nach der Bundestagswahl wachsen der rot-grünen Bundesregierung die wirtschaftspolitischen Probleme buchstäblich über den Kopf. Die Sozialversicherungssysteme entgleiten Ihnen. Man muss sich
nur die heute veröffentlichten Arbeitsmarktzahlen anschauen. Inzwischen gibt es neue Höchststände bei der
Arbeitslosigkeit im Fünfjahresrhythmus.
({0})
Die Menschen in Deutschland weichen in Schwarzarbeit
aus oder verfallen in Depression.
Herr Minister, in dieser Situation preist Ihre Regierung
das Hartz-Konzept als letzten Rettungsanker und als politisches Allheilmittel an. Die Finanzlöcher von Herrn Eichel
sollen damit saniert, die Rentenversicherung und das Gesundheitssystem vor der Pleite bewahrt, die Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung gesenkt, das Wirtschaftswachstum angekurbelt und für die Kommunen eine neue, nicht
versiegende Geldquelle zum Sprudeln gebracht werden.
Aber das Hartz-Konzept ist keine Wunderdroge, kein Antidepressivum gegen die miese Stimmung in unserem Land;
denn alle Vorschläge der Hartz-Kommission sorgen nur für
eine Umverteilung der Arbeitslosigkeit und schaffen keinen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz.
({1})
Der Kernauftrag der Hartz-Kommission war ja schließlich, die Vermittlung von Arbeitslosen zu verbessern und
dadurch auch Kosten sparen zu helfen. Aber selbst wenn
Ihnen das optimal gelingen würde, wenn Sie einen Vermittlungsturbo zünden würden und jedem Arbeitslosen
versprechen könnten, innerhalb von 24 Stunden erfolgreich vermittelt zu werden, nutzt das alles nichts, wenn die
Arbeitsplätze fehlen. Das Modell, das Sie uns heute präsentiert haben, entspricht im Wesentlichen einem riesigen
Drehtürmodell: Millionen von Arbeitslosen werden durch
Tausende von Bürokraten in ständiger Bewegung gehalten
werden. Sie werden aber keinen Einstieg in eine neue Beschäftigung finden.
({2})
Das ist der entscheidende Fehler in Ihrem Konzept.
({3})
Die Tätigkeit der jetzigen Bundesregierung steht unter
keinem guten Stern; denn der größte Wahlbetrug in der
Geschichte der Bundesrepublik hängt wie ein großer
Schatten über Ihnen.
({4})
Dieser wird sich auch nicht vertreiben lassen.
({5})
Beim Hartz-Konzept setzen Sie Ihre Unseriosität fort.
Der Kanzler selbst hat noch am 20. Oktober dieses Jahres - das ist eine seiner vielen Äußerungen - auf dem
SPD-Parteitag verkündet, dass das Hartz-Konzept 1 : 1
umgesetzt werde. Das sei festgeschrieben. Wer daran
zweifle, bekomme es mit ihm zu tun. Natürlich wird es
nicht 1 : 1, sondern nur bruchstückhaft umgesetzt werden.
Wie negativ das selbst von denen bewertet wird, die ihre
Arbeitskraft bei der Erarbeitung des Hartz-Konzeptes eingebracht haben, können Sie heute in den Zeitungen nachlesen. Der Generalsekretär des ZDH, Herr Schleyer,
spricht von Vertrauensbruch. Tatsache ist, dass die jetzige
Bundesregierung die Mitglieder der Hartz-Kommission
getäuscht und missbraucht hat. Das kommt jetzt heraus.
({6})
Ich möchte Ihnen als Beispiel die hier schon öfter aufgeführten Personal-Service-Agenturen nennen. Ursprünglich war geplant, Zeitarbeitnehmer unterhalb starrer Tariflöhne zu entlohnen und sie so für Arbeitgeber
attraktiv zu machen. Doch jetzt soll das nicht mehr möglich sein. Das betriebsübliche Arbeitsentgelt und die
festen Tarifverträge sollen - zunächst nur mit wenigen
Ausnahmen - für alle gelten. Damit wird klar, wie das Ergebnis aussehen wird: Außen steht als Etikett PersonalService-Agentur, PSA, drauf. Innen ist aber nichts anderes als die uralte AB-Maßnahme drin.
({7})
Die erfolgreiche Tätigkeit der Zeitarbeitsfirmen - Herr
Kollege Niebel, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen wird dadurch massiv erschwert; denn wenn die PSA-Zeitarbeitnehmer subventioniert und privilegiert werden, die
mittelständischen Firmen aber bestraft werden, dann führt
das natürlich dazu, dass besonders bei diesen Firmen
Arbeitsplätze frei werden, dass also das genaue Gegenteil
von dem eintritt, was Sie versprechen.
({8})
Hinzu kommt das so genannte Bridge-System. Sie
wählen ja bewusst einen englischen Ausdruck, um zu verschleiern, was sich dahinter verbirgt. Mithilfe dieses
Brückensystems sollen arbeitslose Arbeitnehmer ab
55 Jahre ein so genanntes Brückengeld bis zum Eintritt in
die Rente erhalten. Tatsächlich wird damit aber eine neue
gefährliche Lawine der Frühverrentung in Gang gesetzt.
Der Bundeskanzler hat noch vor wenigen Tagen zu Recht
erklärt, man müsse langsam auf das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 Jahren kommen und könne nicht
bei einem durchschnittlichen Renteneintrittsalter von unter 60 Jahren verweilen. Vor diesem Hintergrund wird das
Brückensystem glatt zum Gegenteil führen.
Sie haben jetzt beklagt, dass die Rentenversicherungsbeiträge auf 19,5 Prozent ansteigen und bald 20 Prozent
erreichen werden. Das Brückenmodell wird dazu beitragen, dass die 20 Prozent noch sehr viel schneller erreicht
werden.
({9})
Bei all diesen Maßnahmen sind Sie in einer Sache konsequent: Die Schicksalszahlen der Nation, die Erfolgsziffern einer Bundesregierung - das sind die Arbeitslosenzahlen -, werden durch Ihre Maßnahmen frisiert. Mit
dem Brückensystem können Sie bis zu 500 000 Arbeitslose, eine halbe Million, aus der Statistik entfernen. Mit
den Personal-Service-Agenturen werden bis zu 780 000
Arbeitslose staatlich geparkt. Wenn Sie dann noch - wie
von Ihnen angekündigt - die internationale Statistik für
Arbeitslosigkeit, die ILO-Statistik, einführen, werden
weitere 1,2 Millionen Arbeitslose aus der Statistik verschwinden.
Herr Bundesminister, Sie können so weitermachen, Sie
können uns auch in den nächsten Monaten vorrechnen,
dass es in Deutschland überhaupt keine Arbeitslosigkeit
gibt, Sie können sich selbst täuschen, aber die Menschen
in Deutschland niemals.
({10})
Hinzu kommt die völlig ungeklärte und unseriöse
Finanzierung, mit der Sie diese Maßnahmen gestalten
wollen. Herr Wirtschaftsminister, Sie sagen, Sie wollen
und müssen 6 Milliarden Euro einsparen. Wie denn?
Glauben Sie denn wirklich, dass unter den jetzigen Bedingungen 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze in der Zeitarbeit entstehen können? Glauben Sie das ernsthaft?
({11})
Wovon soll die Subventionierung der haushaltsnahen
500-Euro-Jobs der Ich-AGs bezahlt werden? Wie soll das
Bonussystem für einstellende Betriebe bezahlt werden?
Woraus wird die Einführung des JUMP-plus-Programms
finanziert? Wer zahlt denn allein in diesem Jahr das Defizit der Bundesanstalt von 4,5 bis 4,8 Milliarden Euro, wie
es ihr Chef Gerster vor kurzem gemeldet hat?
Dazu passt es, dass Sie gleichzeitig ankündigen, das
Projekt Arbeitslosengeld II wolle man ebenso anpacken.
({12})
Das kostet als Unterstützung für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger ab 2004 im Rahmen des Hartz-Konzeptes
6 Milliarden Euro zusätzlich.
Meine Damen und Herren, das Gesamtbild zeigt, dass
die Finanzierung unseriös ist und Sie die selbst gesteckten Ziele, vor allem Ihr Hauptziel, mehr Arbeitsplätze zu
schaffen, mit Ihren Plänen niemals erreichen werden.
({13})
Als Opposition wird uns gelegentlich vorgeworfen:
Wo sind eure eigenen Vorstellungen? Wie sehen eure
Pläne aus?
({14})
Wir haben sie vorgelegt. Wir haben sie exakt ausgearbeitet und überzeugend formuliert. Sie sind in ihrer Konsequenz ein Segen für Deutschland.
({15})
Unser Dreistufenprogramm würde als Konjunkturspritze wirken. Die erste Stufe: Minijobs bis zu 400 Euro
brutto gleich netto, das heißt ohne Abzüge.
({16})
Mehrere Hunderttausend Jobs würden allein im Einzelhandel und im Bereich der Gastronomie gesichert werden.
Warum? Wenn ein Arbeitnehmer, der einen 400-EuroMinijob hat, sein Geld ohne irgendwelche Bürokratie
brutto gleich netto erhält, wird er es auch rasch für den
Konsum ausgeben. Das Geld würde dahin fließen, wo es
notwendig gebraucht wird, um Arbeitsplätze sicherer zu
machen, beispielsweise in den Einzelhandel.
Deshalb ist die Umsetzung der ersten Stufe, die wir ganz
schnell bewerkstelligen könnten, konsequenter, besser und
weiterführender als das, was Sie mit Ihrem 500-Euro-Programm nur für den schwer abgrenzbaren Haushaltsbereich
vorschlagen.
({17})
Es muss dann natürlich auch eine zweite Stufe geben;
Sie können nicht bei der ersten stehen bleiben. Denn Arbeit in regulären Beschäftigungsverhältnissen muss sich
wieder lohnen. Deshalb haben wir dieses Einschleifmodell entwickelt. Das heißt, Arbeit in regulären Beschäftigungsverhältnissen soll sich auch bei einem Betrag ab
400 Euro lohnen; es sollte nicht so sein, dass man erst ab
750 Euro mehr Geld netto in der Tasche hat. Deshalb haben wir die zweite Stufe dieses Modells entwickelt.
Zunächst wird der Sozialversicherungsbeitrag für den Arbeitnehmer bei 1 Prozent festgelegt. Das heißt, auch dann,
wenn jemand über 400 Euro verdient, bleibt ihm mehr in
der Tasche. Es macht wieder Freude zu arbeiten; es lohnt
sich wieder. Damit wird der Leistungsanreiz, den wir
dringend brauchen, entsprechend verstärkt.
In der dritten Stufe geht es dann um mehr Anreize zur
Arbeitsaufnahme.
Verehrte Kollegen von der Regierung, es ist Ihnen von
unserer Seite, gerade auch vom Kollegen Laumann, die
ernsthafte Mitarbeit angeboten worden. Uns liegt Deutschland am Herzen. Wir werden uns nicht verweigern. Sie
werden mit diesem Konzept, wenn Sie es unverändert verwirklichen, Deutschland nicht voranbringen, sondern weiter in den Abgrund führen. Dabei werden wir nicht mitmachen.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Karin Roth, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor der Bundestagswahl haben wir den Menschen in diesem Land versprochen, die Vorschläge der
Hartz-Kommission vollständig und zügig umzusetzen.
({0})
Heute, nur sieben Wochen später, lösen wir dieses Versprechen ein. Ich verstehe, dass sich die Opposition darüber ärgert.
({1})
Aber es geht nicht um die Befindlichkeit der Opposition;
es geht um das Schicksal der Menschen in unserem Land.
Darum kümmern wir uns.
({2})
Durch die konsequente Durchsetzung des Prinzips
„Fördern und Fordern“ im Arbeitsmarkt geben wir der
Arbeitsvermittlung eine neue Dynamik, eine Dynamik,
Herr Laumann,
({3})
die den Arbeitslosen und der Wirtschaft gleichermaßen
nutzen wird. Das haben Sie eingeklagt und das tun wir, indem wir diesen Gedanken des Förderns und Forderns in
den Gesetzentwurf aufgenommen haben.
({4})
Mit unserem Gesetzesvorschlag schaffen wir eine bessere Verzahnung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Wir denken nämlich tatsächlich im Ganzen; auch Frau
Wöhrl könnte das beherzigen. Von dieser Arbeitsmarktpolitik profitieren die Arbeitslosen und die Wirtschaft.
Das ist dadurch möglich, dass wir mehr Flexibilität in
den Arbeitsmarkt hineinbringen. Das mag der FDP zu wenig sein, aber es ist uns genug. Wir wollen die Menschen
nämlich auch sozial absichern, weil wir wissen, dass Freiheit nur durch soziale Sicherheit möglich ist.
({5})
- Herr Laumann, ich werde noch auf Sie zurückkommen.
Ich nenne hier nur wenige Punkte. Erstens: die schnellere und passgenaue Vermittlung in Arbeit. Wir sorgen
dafür, dass sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
unverzüglich mit dem Aussprechen der Kündigung beim
Arbeitsamt melden, das heißt in einen Vermittlungsprozess eintreten.
({6})
Das bedeutet eine schnellere Geschwindigkeit für diesen
Prozess. Das heißt natürlich auch - das ist wichtig -: Die
Betroffenen tragen Verantwortung dafür, dass sie sich sofort im Anschluss an die Kündigung melden. Wir erwarten vonseiten der Betroffenen Eigeninitiative und Verbindlichkeit.
Zweitens. Wir werden die Zeitarbeit aufwerten.
({7})
Auch hier habe ich den Eindruck: Das passt Ihnen irgendwie nicht, weil Sie das eigentlich nicht wollen, obwohl doch klar ist, dass wir in Deutschland noch ein
Karin Roth ({8})
großes Potenzial in diesem Bereich haben und diese Branche weiter entwickeln können.
({9})
Die Zahl der Zeitarbeiter betrug im vergangenen Jahr
360 000. Die Zahl der Arbeitnehmer in diesem Bereich ist
in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht worden.
Aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern haben wir hier noch ein großes Wachstumspotenzial.
({10})
Aber die Frage ist: Wie erreichen wir dieses Wachstumspotenzial? Wir erreichen es nur, wenn wir die Zeitarbeit,
wie es Minister Clement gesagt hat, aus der Schmuddelecke herausholen, indem wir in diesem Bereich reguläre
Arbeitsplätze schaffen. Dann können wir mit diesen Zeitarbeitsverhältnissen auch offensiver arbeiten.
({11})
Mit den neuen Bestimmungen holen wir die Zeitarbeit
aus dem Abseits und platzieren sie im Arbeitsmarkt.
({12})
Wichtige Voraussetzung dafür ist, dass für diesen Sektor
verbindliche soziale Standards entwickelt und faire Bedingungen hergestellt werden, um die Akzeptanz dieses
Sektors zu erreichen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist
für uns eine wesentliche Devise. Diesen Grundsatz haben
wir im Gesetz verankert. Das machen uns die europäischen Nachbarn vor.
Herr Laumann, ich komme jetzt auf Sie zu sprechen.
Sie haben sich eben im Zusammenhang mit den Minijobs
zum Wächter der kleinen Leute aufgespielt.
({13})
Gleichzeitig haben Sie aber mit Blick auf den Bereich der
Zeitarbeit gesagt, wir bräuchten einen Billiglohnsektor.
Das ist eine Doppelmoral. Die Menschen in diesem Land
werden erkennen, dass Sie auf zwei verschiedenen Ebenen argumentieren. Sie werden nicht akzeptieren, dass Sie
behaupten, wir würden bei den Minijobs deregulieren und
bei den Personal-Service-Agenturen nicht. Wir sind stolz
darauf, dass wir eine Regelung getroffen haben, die Flexibilität schafft. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Mit uns wird
es keine Arbeitnehmer erster und zweiter Klasse geben.
Dafür garantieren wir.
({14})
Mit der flächendeckenden Einrichtung der PersonalService-Agenturen, dem Herzstück der Hartz-Kommission, wird die Vermittlung beschleunigt. Gleichzeitig
bauen wir eine neue Brücke in den Arbeitsmarkt; denn
jeder Vierte, der ein Zeitarbeitsverhältnis hat, wird früher
oder später von der Leiharbeitsfirma übernommen. Das
könnte beschleunigt und noch besser werden.
({15})
Mit dem Gesetzespaket zur Umsetzung der Hartz-Vorschläge werden wir den Arbeitsmarkt in Deutschland umgestalten und auf die Anforderungen der Zukunft vorbereiten. Jetzt stellen Sie sich, meine Damen und Herren von
der Opposition, hierhin und sagen, das sei für die Konjunktur schädlich und werde überhaupt nichts bringen. Ich
sage Ihnen: Sie haben einfach keine Ahnung von ökonomischen Zusammenhängen. Ihnen fehlt einfach der Blick
fürs Ganze.
({16})
Für die Bundesregierung ist und bleibt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die zentrale Aufgabe. Die Arbeitsmarktpolitik der rot-grünen Bundesregierung aktiviert alle, Arbeitslose und Arbeitgeber.
({17})
Wir erwarten, dass sich die Menschen, die Arbeit suchen
und die während der Zeit der Arbeitslosigkeit Lohnersatzleistungen beziehen, aktiv an der Qualifizierung
und am Vermittlungsprozess beteiligen. Wir erwarten von
allen, an der Umsetzung mitzuhelfen.
Sie sehen, die Bundesregierung ist bereit und entschlossen, tatkräftig voranzugehen. Allein kann es die
Bundesregierung allerdings nicht packen. Wir brauchen
eine große gemeinsame Kraftanstrengung. Peter Hartz
würde es so formulieren: Jetzt sind die Profis der Nation
aufgefordert, zu zeigen, was sie können. Die Arbeitgeber
können zeigen, wo und in welchen Branchen die so oft
genannten 1,5 Millionen Arbeitsplätze sind, und diese den
Arbeitsämtern melden. Sie können die im Bündnis für Arbeit gegebene Zusage, die etwa 1,9 Milliarden Überstunden abzubauen, endlich einlösen; sie könnten dies den
Personal-Service-Agenturen melden und diese in Anspruch nehmen.
({18})
Von den Gewerkschaften erwarte ich Unterstützung
beim Ausbau der Zeitarbeit. Die Arbeitsverwaltung muss
ihre Neuorganisation auch weiterhin vorantreiben, um
kundenfreundlicher zu sein. Sie muss effizienter und innovativer werden.
Was erwarte ich von der Opposition? Von Ihnen erwarte ich, dass Sie aus Ihren parteitaktischen Schützengräben herauskommen und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Verantwortung übernehmen. Aber nach
dem, was ich heute zum ersten Mal gehört habe, habe ich
im Moment große Zweifel. Ihr ständiges Lamentieren
über den radikalen Abbau von Arbeitnehmerrechten und
über Deregulierung um jeden Preis, Herr Laumann, ist
kein Allheilmittel.
({19})
Ich fordere Sie einfach auf: Meckern und mosern Sie
nicht! Machen Sie mit! Verstehen Sie sich endlich als
Profi der Nation und machen Sie mit, damit in Deutschland endlich mehr Arbeitsplätze entstehen!
({20})
Frau Kollegin Roth, ich gratuliere Ihnen im Namen des
ganzen Hauses sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen für Ihre politische Zukunft alles Gute.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist Robert Hochbaum,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Da mich außer Herrn Schwanitz nicht viele von
der SPD-Fraktion kennen, stelle ich mich kurz vor: Ich
komme aus Sachsen, genau genommen aus dem Vogtland.
({0})
- Danke schön.
Meinen Wählerinnen und Wählern, den Bürgerinnen
und Bürgern dort habe ich versprochen, dass ich mich in
diesem Hohen Hause ganz besonders für die Probleme
des Ostens einsetzen werde.
({1})
- Klatschen Sie nicht zu früh! - Darum freue ich mich
ganz besonders darüber, dass ich schon heute, nachdem
ich Ihre Gesetzesvorlagen lesen durfte, die Gelegenheit
dazu bekomme.
Seit vorgestern liegt das Machwerk also vor. Die beiden Gesetzentwürfe für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt wurden, wie ich gehört habe, ohne Rücksicht
auf Verluste in wenigen Tagen und Nächten durchgepeitscht. Ich spreche dabei nicht von den Verlusten an Personal, sondern von den Verlusten an Substanz; die fehlt in
Ihren Gesetzesvorlagen nämlich.
({2})
Vielleicht hätten Sie sich ein paar Tage mehr Zeit nehmen
sollen; denn Schnellschüsse waren noch nie der Garant
für Qualität. Das sieht man auch bei diesen Gesetzentwürfen.
({3})
- Das tue ich gerne; extra für Sie.
({4})
Meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, wenn man sich die Gesetzesvorlagen aufmerksam
durchliest, wird man wieder das feststellen, was bereits in
den letzten vier Jahren festzustellen war: Der Osten findet nicht statt.
({5})
Sie haben ihn wie immer schlichtweg vergessen.
({6})
Ich kann nur sagen: Da Sie dem Osten schon seit vier Jahren den Rücken zukehren, sollten Sie ihn wenigstens
huckepack nehmen und mittragen.
({7})
In welcher Welt leben Sie eigentlich?
({8})
- Ost und West ist das Thema. - Haben Sie noch nicht gemerkt, dass es in Deutschland zwei vollkommen unterschiedliche Arbeitsmärkte und zwei vollkommen unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen gibt? Das haben Sie
anscheinend nicht gemerkt; denn das kann man in Ihren
Gesetzentwürfen nicht wiederfinden.
({9})
- Ganz besonders freut es mich heute, dass mir bei meiner ersten Rede gerade auch von der Koalition so viel Aufmerksamkeit und Wachheit geschenkt wird. Danke schön,
meine Damen und Herren.
({10})
Sie haben den Osten doch schon immer vergessen. Wie
war es denn beim letzten Mal nach Ihrer Regierungsübernahme?
({11})
Damals, Sie waren kaum an der Regierung, haben Sie die
einzige Förderung der Ostwirtschaft, die LKZOfW, um
die Hälfte gekürzt. Das Ergebnis war, dass dieses sehr
sinnvolle Instrument für den Osten ziemlich weit nach unten gefahren wurde und heute kaum mehr wahrgenommen
wird. Das war vor vier Jahren Ihre Arbeit. So haben Sie
sich um den Osten gekümmert.
({12})
Karin Roth ({13})
Ich kann mich auch noch ganz gut daran erinnern, dass
hier im Hohen Hause irgendjemand davon gesprochen
hat, der Osten stehe auf der Kippe. Meine Damen und
Herren von der Regierung, von der SPD und von den Grünen, ich kann Sie beruhigen: Nach den ersten vier Jahren,
die Sie an der Regierung sind, steht der Osten nicht mehr
auf der Kippe - er befindet sich im freien Fall nach unten.
Das haben Sie in den vier Jahren geschafft.
({14})
Bleiben wir ganz kurz bei Ihren arbeitsmarktpolitischen „Glanzleistungen“. In der Einführung zu Ihren
Gesetzentwürfen erläutern Sie, dass die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung unter anderem durch das Job-AQTIV-Gesetz nachhaltig verbessert worden seien. Als Beweis - das steht in Ihrer jetzigen
Konzeption; lesen Sie das einmal nach - geben Sie die
Steigerung der Erwerbstätigenzahl an. Dabei haben Sie
den Trick angewandt, dass Sie über Nacht ein paar geringfügig Beschäftigte in die Statistik der Sozialversicherung aufgenommen haben.
({15})
Damals war zumindest im Bereich der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten plötzlich ein Zuwachs zu verzeichnen. Aber Sie haben Recht: Die Zahl der Erwerbstätigen von
1998 bis zum Jahr 2001 ist in Deutschland gestiegen.
({16})
Schauen Sie sich diese Zahlen einmal genau an. Es gibt
Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Im
Westen hat dieses Spielchen funktioniert. In diesen Jahren
war eine Steigerung zu vermerken. Aber im Osten stand
dem ein stetiger Rückgang entgegen. Mir kommt es so vor,
als ob Sie auf einem Auge, nämlich dem Ostauge, nicht so
richtig sehen können; sonst hätten Sie das festgestellt.
({17})
Etwas versöhnlicher, aber keinesfalls beruhigend ist
für mich, dass Sie es dieses Jahr geschafft haben, dass
beide Zahlen ins Negative tendieren. Dazu kann ich Ihnen
nur gratulieren.
({18})
Glauben Sie allen Ernstes an die Mär, die Masse unserer ostdeutschen Arbeitslosen sei arbeitsunwillig? So
kommt es mir nämlich vor, wenn ich den Gesetzestext
lese. Darin ist nämlich sehr viel von Mobilität die Rede.
Das heißt für mich Abwanderung. Hat es Ihnen noch nicht
genügt, dass Sie Jugendlichen im Osten „Abwanderungsprämien“ gezahlt haben? Sind denn nicht schon genug
gegangen?
({19})
- Sie ist dann schlecht, wenn sie dazu führt, dass der Osten
ausblutet, meine Dame. Das ist nicht in Ordnung, liebe
Kollegin.
Leider glänzt der Bundeskanzler gerade durch Abwesenheit. Aber ich wäre ja schon froh, wenn zum Beispiel
der „Ostminister“ anwesend wäre.
({20})
- Entschuldigung, es ist also ein Vertreter des Hauses da.
({21})
Aber der Minister ist nicht in persona anwesend, um sich
einmal um Wirtschaft und Arbeit zu kümmern.
Weil so viel von Mobilität gesprochen wird, hätte ich
dem Bundeskanzler geraten, er solle sich einmal Sonntagabend oder Montagmorgen auf eine der Autobahnbrücken bei Hof stellen. Dann würde er sehen, wo sein
Volk hinfährt. Es fährt nämlich Woche für Woche Richtung Westen, ein Auto hinter dem anderen, eine nicht enden wollende Schlange. So sieht das aus. Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen es noch mehr werden. Dann müssen
Sie erst einmal eine zweite Autobahn bauen, damit das
Ganze Richtung Westen besser abfließt.
({22})
- Nein, ich rede darüber, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf
auf Themen wie Mobilität eingehen.
Kommen wir zu weiteren Bestandteilen Ihrer Gesetzesvorlagen.
({23})
Darin gibt es etliche Aussagen zum Thema Vollzugsaufwand.
({24})
- Sie müssen jetzt gut zuhören. - Vollzugsaufwand ist die
Umschreibung für Bürokratie und Verwaltung. Einige
Aussagen kommen mir bekannt vor. Sie erinnern an Ihr
berühmtes Job-AQTIV-Gesetz.
({25})
Auch damals haben Sie zugegeben, dass ein erhöhter
Vollzugsaufwand, sprich Bürokratie und Verwaltung, auf
die Behörden zukommt, Sie dies aber durch einen deutlichen Abbau der Arbeitslosigkeit kompensieren wollen.
Wo ist denn dieser deutliche Abbau von Arbeitslosigkeit?
Schauen Sie sich die heutigen Zahlen an. Was heißt denn
das? Bürokratie ist geblieben, mehr Verwaltung ist hinzugekommen und die Arbeitslosenzahlen sind unverändert.
Das ist das Ergebnis Ihres Job-AQTIV-Programmes.
({26})
Dasselbe steht auch heute im Gesetzentwurf. Sie haben
also nichts dazugelernt. Es könnte natürlich auch sein,
dass Sie einen Teil aus dem alten Gesetz schlichtweg ab416
geschrieben haben. Ich kann dazu nur sagen: Öfter mal etwas Neues!
Lassen Sie mich kurz die grandiosen Einsparideen zum
Thema Vollzugsaufwand ansprechen: Wegfall der Hinterlegung der Sozialversicherungsausweise, Anpassung des
Arbeitslosengeldes - die wieder insbesondere die Bürger
im Osten treffen wird -, Verzicht der Prüfung auf Eigenleistungsfähigkeit und die „tolle“ Pauschalisierung der
Übergangsbeihilfe von bisher 80 Prozent des Nettoeinkommens auf 1 000 Euro. Jedem Insider ist bekannt, dass
diese Tätigkeiten nur einen relativ kleinen Teil der verwaltungstechnischen Belastung in der Vermittlung ausmachen, sodass diese durch die von Ihnen vorgesehenen
Maßnahmen kaum entlastet wird. Vielmehr ergibt sich
durch die Vielzahl der Neuerungen ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand, der zu einer Zunahme der Bürokratie,
aber nicht zu einer Zunahme bei den Vermittlungen führen
wird.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich habe
mir fest vorgenommen, mit meiner Redezeit auszukommen. Deswegen möchte ich nur kurz die Einleitung Ihrer
Gesetzentwürfe ansprechen, in der festgestellt wird, dass
die Herstellung einer neuen Ordnung auf dem Arbeitsmarkt nur gelingen kann, wenn neue Wege und Lösungsansätze verfolgt werden. - Das hört sich nicht schlecht an.
({27})
Ich kann Ihnen aber eines garantieren - wir können in ein
oder zwei Jahren wieder über das Thema sprechen -: Die
von Ihnen vorgelegten Gesetzentwürfe werden den Problemen der unterschiedlichen Arbeitsmärkte, vor allem
den Problemen im Osten, genauso wenig gerecht wie das
gefloppte Job-AQTIV-Gesetz und sie werden diese Probleme nicht beseitigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({28})
Herr Kollege Hochbaum, ich gratuliere Ihnen ebenfalls
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen viel Durchsetzungskraft für Ihre politischen Ziele.
({0})
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch, fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die
Zuschauerinnen und Zuschauer möchte ich vorwegschicken: Ich bin Abgeordnete der PDS. - Gegen Kommissionen ist eigentlich nichts einzuwenden, wenn nicht,
wie in diesem Fall, der Eindruck entstehen würde, dass
die Kommissionen den Bundestag ersetzen sollen. Anders ist das Verfahren nicht zu verstehen: Wir bekommen
einen Tag vor der ersten Beratung dicke Gesetzespakete
auf den Tisch gelegt. Ich möchte bezweifeln, liebe Vorrednerinnen und Vorredner, dass jeder Gelegenheit hatte,
die Gesetzentwürfe im Detail zu studieren.
Diese Regierung hat hektisch die Koalitionsvereinbarung erarbeitet und schon wieder nachbessern müssen.
Jetzt versuchen die Regierungsfraktionen, diese unproduktive Hektik in den Bundestag zu tragen. Herr Minister
Clement hat zwar mehrmals davon gesprochen, dass das
in aller Ruhe diskutiert werden solle; aber das Verfahren
zeugt keineswegs von Ruhe. Wenn die Rolle des Parlaments nur noch auf die Abstimmung von Kommissionsberichten reduziert werden soll, dann ist wahrscheinlich
unsere zweiköpfige PDS-Gruppe für die Bundesregierung
in Zukunft die Wunschgröße für alle Fraktionen.
({0})
Das würde zwar den Steuerzahlern viel Geld ersparen;
aber ich hoffe, dass das nicht dem Selbstverständnis der
vom Volk gewählten Abgeordneten entspricht.
Meine Damen und Herren, das Hartz-Konzept hat
mehrere schwere Geburtsfehler. Alle sollen sich mehr bewegen; alle sollen auf der Suche nach Arbeitsplätzen mobiler werden. Bloß geht aus dem Konzept nicht hervor, wo
die Arbeitsplätze herkommen sollen. Das Gesetz sieht
vor, dass die, die bei der Jagd auf einen Arbeitsplatz auf
der Strecke bleiben, mit Leistungskürzungen rechnen
müssen. Insbesondere die Verbindung von Sozial- und
Arbeitslosenhilfe ist mit deutlichen Leistungsverschlechterungen verbunden.
In der Koalitionsvereinbarung werden die 1,7 Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger schon auf den neuen
Kurs eingestimmt. Ich darf mit Genehmigung der Präsidentin aus der Koalitionsvereinbarung zitieren:
In einem ersten Schritt zur Umsetzung des HartzKonzepts für die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe werden wir
- also die Regierung bei den Leistungen der Arbeitslosenhilfe Einkommen und Vermögen stärker berücksichtigen.
Statt zum Beispiel durch die Kappung des Ehegattensplittings oder die Wiedereinführung der Vermögensteuer soll
ein Sparvolumen von 2,3 Milliarden Euro durch die Senkung des Einkommens von arbeitslosen Ehegatten erbracht werden. Hier ist der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Herr Stolpe, der leider zurzeit nicht im Saal ist,
gefragt; denn fast die Hälfte der Arbeitslosenhilfeempfänger lebt in Ostdeutschland. Das heißt also: Diese sozialen Kürzungen treffen in erster Linie die Menschen im
Osten.
Meine Damen und Herren, wer nicht so flink ist wie ein
Wiesel, hat persönlich Pech gehabt. Es wird der Eindruck
vermittelt, dass die Arbeitslosen schon Jobs bekommen
könnten, wenn sie nur wollten. Doch gerade in den Regionen mit einer Arbeitslosigkeit von 20 Prozent und
mehr wird diese Strategie von den Menschen als zynisch
empfunden. Die Mobilmachung der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger ist besonders hart für allein erziehende
Mütter und Väter, für alte und für kranke Menschen. Was
soll denn mit denen geschehen, die beim besten Willen
nicht mehr fit zu machen sind? Fallen der Regierung da
wirklich nur Leistungskürzungen ein?
Zum zweiten Geburtsfehler, auf den mein Vorredner
ausführlich eingegangen ist: Das Hartz-Konzept hat den
Osten bereits abgeschrieben. Höhere Mobilität heißt in
diesem Fall doch, dass vor allem junge Menschen, die im
Osten keine Arbeit finden, in den Westen gehen. Schon
jetzt klagen potenzielle Investoren, die sich in Ostdeutschland niederlassen wollen, dass es in Ostdeutschland kaum
noch junge Fachkräfte gibt, weil sie schon ausgewandert
oder zwangsausgewandert sind.
Meine Damen und Herren, die Orientierung des HartzKonzeptes auf den ersten Arbeitsmarkt ist ein dritter
schwerer Geburtsfehler. Gerade in Anbetracht der
Schwäche des ersten Arbeitsmarktes ist der zweite Arbeitsmarkt leider unverzichtbar. Die Verkürzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen würde wieder besonders
die strukturschwachen Regionen hart treffen. Man muss
einfach zur Kenntnis nehmen, dass ein großer Teil der sozialen Infrastruktur im Osten über AB-Maßnahmen finanziert wird. Viele Jugendprojekte basieren auf dem
zweiten Arbeitsmarkt. Es ist einfach so, dass diese Bereiche keinen Profit abwerfen. Sie sind für den ersten Arbeitsmarkt deshalb uninteressant.
Meine Damen und Herren, das Hartz-Konzept hat eine
horizontale und eine vertikale Schieflage. Es trifft besonders die Menschen, die schon arm sind und die durch das
Konzept noch ärmer werden, und es ist ein Konzept, das
den Osten nicht aus der Krise führt, sondern die Probleme
noch verschärft, anstatt sie zu lösen. Das kann nicht der
richtige Weg sein.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 15/25, 15/26, 15/23, 15/24 und 15/32 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wie mir von den Fraktionen mitgeteilt wurde, soll die
Sitzung jetzt für circa eine Stunde unterbrochen werden.
Der Wiederbeginn wird rechtzeitig durch Klingelsignal
angekündigt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Erhöhung derAnzahl von Ausschussmitgliedern
- Drucksache 15/22 Zur Information: Es handelt sich um den Haushaltsausschuss. Es soll einvernehmlich je ein weiteres Mitglied
vonseiten der SPD und der CDU/CSU gestellt werden.
Da keine Aussprache vorgesehen ist, kommen wir
gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur Eigenheimzulage
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Joachim
Günther, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die FDP-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde beantragt,
weil aufgrund der Ankündigungen der Regierungskoalition in Bezug auf die Eigenheimzulage und damit auch in
Bezug auf den ganzen Baubereich und sein Umfeld dramatische Entwicklungen hervorgerufen wurden.
({0})
Betriebe stehen Kopf und demonstrieren. Zukunftsplanungen von Familien werden durcheinander gebracht.
Die rot-grüne Regierung scheint nach dem Grundsatz
„Was interessiert mich mein Gerede vor der Wahl?“ zu
handeln. Sie hat nicht nur im Wahlkampf im Prinzip die
Unwahrheit gesagt. Inzwischen wird auch jedes aufkommende Fachthema neu ausgerichtet und zuungunsten der
Bürger gestaltet.
({1})
Sie haben in Ihren plaudernden Koalitionsrunden Beschlüsse gefasst, über deren Auswirkungen Sie meines Erachtens gar nicht nachgedacht haben.
({2})
Sie sind verheerend für unsere Volkswirtschaft und für unsere Arbeitsplätze.
Die Giftliste Ihrer Streichungen zum Bereich Wohnungswirtschaft hört sich an wie die Liste von einem anderen Stern: Abschaffung der degressiven Gebäudeabschreibung, Zusammenstreichung der Eigenheimzulage,
Begrenzung des Verlustabzugs usw. Ganz nebenbei wird
die Anhebung des Steuersatzes auf Erdgas angekündigt,
damit auch endlich einmal die zur Kasse gebeten werden,
die sich gemäß Ihren Vorstellungen umweltgerecht mit
Energie versorgen wollen.
({3})
Zur Eigenheimzulage. Im Oktober 1995 wurde die Eigenheimzulage fraktionsübergreifend und mit großer Zustimmung der SPD beschlossen. Ich will zwei Sätze zitieren, die damals gefallen sind:
Heute erleben wir ein kleines Wunder: ... Die starke
Benachteiligung der Menschen in den neuen Bundesländern ist ab heute beendet; denn die einkommensunabhängige Förderung wird dazu führen, dass
viele Menschen, die von Eigentum bisher nur träumen konnten, diesen Traum verwirklichen können.
Das sagte damals Achim Großmann, der jetzige Staatssekretär im Bauministerium.
({4})
Aber jetzt verfliegen diese Träume wieder.
({5})
Heute wird die Einschränkung der Eigenheimzulage
von allen Seiten kritisiert. Vor dem Brandenburger Tor
findet zurzeit eine große Demonstration statt. Ich bin sicher, dass es nicht die letzte bleiben wird. Hier sieht man
eine nicht alltägliche Situation: Verbände und Gewerkschaften ziehen bei diesem Thema an einem Strang bzw.
gehen sogar in die gleiche Richtung. Alle haben erkannt,
dass dieser Einschnitt 200 000 Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft und in den angrenzenden Bereichen - wenn
man den Demonstranten glauben darf, sind es sogar
400 000 - kosten wird.
({6})
Betroffen sind vor allem wieder die Klein- und Handwerksbetriebe. Aber die scheinen Sie ja noch nie interessiert zu haben.
({7})
Selbst die Grundrechenarten scheinen bei Ihnen keine
Rolle zu spielen.
({8})
Laut Koalition sollen durch die Kürzung der Eigenheimzulage Einsparungen in Höhe von 210 Millionen im Jahre
2003 bis 2,27 Milliarden Euro im Jahre 2006 erfolgen.
Wenn diese Absichten zutreffen und umgesetzt werden, dann sind nicht nur kinderlose Paare ungerechtfertigt
von der Förderung ausgeschlossen; diese Pläne sind vielmehr selbst für eine kinderorientierte Förderung nachteilig. Denn viele Paare wollen erst Eigentum erwerben, bevor sie die zusätzliche Belastung durch ein Kind und
damit eventuell den Wegfall eines zweiten Einkommens
in Kauf nehmen wollen. Aber auch Familien trifft es hart.
Die vorgesehene Einschränkung bedeutet zum Beispiel,
dass eine Familie mit einem Kind statt bisher 3 320 Euro
pro Jahr nur noch eine Förderung von 1 200 Euro pro Jahr
für den Neubau eines Einfamilienhauses erhält.
Hans Eichel freut sich. Ob er sich noch freut, wenn er
die Steuerausfälle und das zusätzlich zu zahlende Arbeitslosengeld gegenrechnet, darüber bin ich mir nicht im
Klaren. Wenn man auf der Basis der Zahl der Baugenehmigungen für 2001 rechnet, kommt man auf rund 12 Milliarden Euro, die der Staatskasse durch weniger Einnahmen aus der Umsatzsteuer und der Grunderwerbsteuer
sowie durch zusätzliche Ausgaben aufgrund einer höheren Arbeitslosigkeit verloren gehen. In dieser Politik ist
keinerlei Logik mehr zu erkennen.
({9})
Wer mittelfristig eine negative Entwicklung im Wohnungsbereich herbeiführt, der wird eines Tages ein böses
Erwachen haben. Wir brauchen einen funktionierenden
Wohnungsmarkt, einen Wohnungsmarkt, in den weiter investiert wird, und zwar in den Neubau und vor allem auch
in den Bestand. Wenn in diesem Bereich Investoren einmal verunsichert sind und Eigentümer aufgrund finanzieller Rahmenbedingungen nicht mehr in die Werterhaltung der Gebäude investieren,
({10})
dann kommen wir wieder zu der alten DDR-Methode:
Ruinen schaffen ohne Waffen! Dagegen werden wir uns
mit allen Mitteln wehren.
({11})
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie diese Kürzungspläne
umgehend zurück! Unsere Fraktion wird dazu einen Antrag einbringen.
Herzlichen Dank.
({12})
Nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staatssekretärin Barbara Hendricks.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Lage der öffentlichen Haushalte
lässt sich nur durch eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung verbessern.
({0})
Das ist nur mit einem umfassenden und durchgreifenden
Abbau von Subventionen erreichbar. Das gilt für Finanzhilfen und Steuervergünstigungen gleichermaßen. Ob der
Bund zu viel Geld ausgibt oder zu wenig Geld einnimmt,
beides muss in gleicher Weise betrachtet werden.
Ungerechtfertigte und ökonomisch fragwürdige Steuersubventionen und Steuervergünstigungen müssen daher
gezielt abgebaut werden. Davon nehmen wir grundsätzlich keine Wirtschaftssektoren und Branchen und keine
sozioökonomischen Gruppen aus.
({1})
Darin liegt der erste und gegenwärtig vorrangige Grund
dafür, warum die Eigenheimzulage auf den Prüfstand zu
stellen ist.
Joachim Günther ({2})
Dies wird erst recht deutlich, wenn wir uns vor Augen
führen, welche Beträge wir bisher für die Eigenheimförderung bereitgestellt haben. Seit dem Bestehen des Eigenheimzulagengesetzes belief sich in den Jahren von
1996 bis 2001 die Förderung auf rund 25,9 Milliarden
Euro. Diesen Betrag haben wir ausschließlich für die Eigenheimzulage aufgebracht. Noch auslaufende Altförderungen nach § 10 e EstG oder davor § 7 b EstG sind darin
nicht enthalten. Allein im Jahr 2002 ist nach dem Ergebnis der Steuerschätzung von Mai 2002 mit Ausgaben für
die Eigenheimzulage von rund 8 Milliarden Euro zu rechnen, während wir im Bundeshaushalt für die 20 größten
Finanzhilfen in diesem Jahr zusammen nur mit Ausgaben
von rund 7,8 Milliarden Euro zu rechnen haben.
({3})
Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass es sich bei der
Eigenheimzulage um die größte Subvention handelt, die
wir finanzieren.
Da die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat, erlaube ich mir, aus dem FDP-Wahlprogramm zu zitieren.
Dort heißt es unter anderem:
Subventionen führen zur Fehlleitung von Ressourcen zulasten der Steuerzahler und Verbraucher...
({4})
Unvertretbar sind Dauersubventionen.
Bezieht man weitere Maßnahmen in die Betrachtung
ein, beispielsweise die degressive Abschreibung und die
direkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus, erkennt
man deutlich, dass die Wohnungswirtschaft insgesamt der
größte Subventionsempfänger dieser Republik ist. Daran
ist nicht zu deuteln. Deswegen können wir die Wohnungswirtschaft nicht außen vor lassen. Wer ernsthaft
konsolidieren will, darf davor nicht Halt machen. Das
Sankt-Florians-Prinzip kann hier nicht angewandt werden; dies zu fordern kann man sich nur in der Opposition
erlauben.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Lage des Wohnungsmarkts in Deutschland. Zwar hat die räumliche Differenzierung des Wohnungsmarkts ein hohes Maß erreicht. Leerstände auf unterschiedlichen Teilmärkten,
verstärkt in Ostdeutschland, aber auch Wohnungsknappheit in einzelnen Ballungsräumen kennzeichnen die Situation. Gleichwohl ist die Wohnungsversorgung in
Deutschland im statistischen Durchschnitt gut, gegenwärtig so gut wie nie zuvor. Überdies steigen die Bevölkerungszahlen nicht mehr. Von dieser Tatsache haben wir
uns auch bei der Schaffung des Altersvermögensgesetzes
und der Rentenreform leiten lassen.
Angesichts des erreichten Niveaus der Wohnungsversorgung und der sich abzeichnenden Bevölkerungsentwicklung war es deshalb notwendig, zu prüfen, ob die
Wohneigentumsförderung wie bisher weitergeführt werden soll oder ob eine Fokussierung auf einen engeren
Kreis von Begünstigten angezeigt ist. Dies ist der Fall.
({5})
Zu diesem Zweck haben wir gestern Abend mit Fachpolitikern des Bundes und der Länder die Förderkonditionen in einer Arbeitsgruppe gemeinsam erörtert. Hierbei
haben wir insbesondere die Anregungen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel aufgenommen.
({6})
Die Eigenheimzulage wird in Zukunft auf Alleinstehende mit Kindern bzw. Familien mit Kindern konzentriert. Es wird eine einheitliche Förderung bei Neubauten
und Bestandserwerb für einen Förderzeitraum von acht
Jahren geben. Zukünftig wird ein Familiengrundbetrag
von jährlich 1 000 Euro und eine Kinderzulage von jährlich 800 Euro je haushaltszugehöriges Kind gewährt.
({7})
- Frau Lenke, regen Sie sich nicht auf! Wir haben dies in
unserer Koalitionsvereinbarung beschlossen und sind dabei, das entsprechende Gesetzgebungsverfahren vorzubereiten.
({8})
Selbstverständlich ist es möglich, im Gesetzgebungsverfahren innerhalb der gesteckten Grenzen die Vorschläge
neu auszutarieren. Das tun wir hier, ebenso wie an anderer Stelle.
({9})
Die Förderung ist kinderbezogen gestaltet und beginnt,
soweit zum Zeitpunkt des Bezugs des Eigenheims noch
keine Kinder geboren sind, mit der Geburt des ersten Kindes. Dies gilt, wenn das erste Kind innerhalb von vier Jahren nach Einzug in die Immobilie geboren wird.
({10})
Weitere Kinder, die innerhalb des Förderzeitraums von
acht Jahren geboren werden, erhalten die Kinderzulage
wie bisher bis zum Ende des verbleibenden Förderzeitraums.
({11})
Die Einkunftsgrenze für den maßgeblichen Zweijahreszeitraum wird auf 70 000 Euro für Alleinerziehende
und 140 000 Euro für zusammenveranlagte Ehepaare gesenkt. Für jedes Kind erhöht sich diese Grenze für den
Zweijahreszeitraum um 20 000 Euro. Darüber hinaus
wird der Einkommensbegriff so modifiziert, dass künftig
die Summe der positiven Einkünfte berücksichtigt wird.
Dies verhindert Steuertricksereien, wie sie in der Vergan420
genheit der Fall waren. Soweit Anspruch auf die Förderung besteht, bleibt auch die ökologische Zusatzförderung
in angepasster Form erhalten.
Ich möchte wegen der in den vergangenen Wochen entstandenen Unruhe auf Folgendes hinweisen:
In den Fällen, in denen bereits Eigenheimzulage gewährt wird, tritt durch die beabsichtigte neue Gesetzgebung keine Änderung ein. Wer die Förderung schon jetzt
aufgrund eines Zulagenbescheids erhält, dem bleibt sie
entsprechend dem geltenden Recht bis zum Ende des Förderzeitraums erhalten. Dies ist eigentlich selbstverständlich.
({12})
Da es gleichwohl Beunruhigung gegeben hat, möchte ich
sie hiermit zerstreuen.
({13})
- Wenn Sie daran interessiert sind, dass die Bürgerinnen
und Bürger in ihrem eigenen Interesse hören, um was es
geht, sollten Sie etwas ruhiger sein.
({14})
Wer noch in diesem Jahr für einen Neubau einen Bauantrag oder, bei genehmigungsfreien Objekten, die Bauunterlagen, zum Beispiel eine Bauanzeige, einreicht, hat
damit die Eintrittskarte zur Eigenheimzulage bereits erhalten. Sobald er in den Neubau einzieht, bekommt er die
Eigenheimzulage nach geltendem Recht, soweit auch die
anderen Voraussetzungen, zum Beispiel das Nichtüberschreiten der Einkunftsgrenzen, erfüllt sind.
Wer eine Gebrauchtimmobilie oder bei einem Investor
eine Immobilie erwirbt und den dafür erforderlichen Notarvertrag noch in diesem Jahr abschließt, bekommt die
Eigenheimzulage nach geltendem Recht für den vollen
Förderzeitraum. Zieht er erst im kommenden Jahr ein, gilt
dies nur, wenn der Übergang von Nutzen und Lasten des
Grundstücks oder der Eigentumswohnung erst für das
kommende Jahr vereinbart ist.
Das geltende Recht bleibt also für alle Erwerbsvorgänge bestehen, die - so sage ich jetzt einmal etwas vereinfacht - bis zum Ende des Jahres stattfinden. Auch bei
Bauanträgen, die bis zum Ende des Jahres eingereicht
werden, bleibt das geltende Recht bestehen. Es wird in
Zukunft weiterhin eine Familiengrundförderung und eine
Kinderförderung geben. Diese Förderung kann auch vier
Jahre nach Bezug des Objekts einsetzen, wenn bis dahin
erstmals ein Kind geboren wird. So wie das im Schwäbischen üblich ist: erst das Nest bauen und dann die Eier legen.
({15})
Vier Jahre dürften dafür reichen.
Danke schön.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Eduard Oswald, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit der Eigenheimzulage treibt die rot-grüne Koalition
ein böses Spiel.
({0})
Zu nennen sind die Widersprüchlichkeiten und die Unkalkulierbarkeit rot-grüner Bau- und Wohnungspolitik.
({1})
Frau Staatssekretärin, wer sich selbst das politische Ziel
setzt, alles zu tun, um Konjunktur und Wirtschaft zu stärken, und wer die Arbeitslosigkeit abbauen will, darf die
Wohnungs- und Bauwirtschaft als wichtigsten binnenwirtschaftlichen Impulsgeber mit ihrer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit nicht kaputtsparen.
({2})
Glauben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
das, was die Staatssekretärin heute gesagt hat, in der Koalition und in der Regierung das letzte Wort ist?
({3})
Ich nicht.
({4})
Heute sagt man dies, morgen sagt man das. Heute beschließt man dies, morgen korrigiert man jenes. Eines
aber ist klar: Was Sie nach Ihrer Koalitionsvereinbarung
alles getan haben, Schritt für Schritt, hat nur kosmetischen
Charakter und soll die Öffentlichkeit beruhigen.
({5})
Ihre Aussagen vor der Wahl stehen in einem eklatanten
Widerspruch zu dem, was Sie nun vorhaben. Sie täuschen
damit die Menschen in unserem Land. Einmal enttäuschen Sie die Menschen, die ihren Traum von den eigenen
vier Wänden zerplatzen sehen. Der Wunsch nach Wohneigentum steht in unserem Land immer noch obenan und
das ist gut so, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Zum anderen geht es um das Baugewerbe, das in einen bedrohlichen Sog gerät. Als Folge der massiven Einschnitte
bei der Eigenheimzulage stehen rund 200 000 Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft und bei ihren Zulieferern auf
dem Spiel. Es geht nicht nur darum, Bauwilligen leichter
zu Wohneigentum zu verhelfen; es geht auch darum - das
ist ein ganz wichtiger Punkt -, eine ganze Branche nicht
kaputtzusparen.
({7})
Bereits in den ersten sieben Monaten dieses Jahres ist
der Umsatz im Wohnungsbau um 9,5 Prozent zurückgegangen. Der Auftragseingang ist um 17,1 Prozent
gesunken. Erneut hat auch die Zahl der Genehmigungen
im Wohnungsbau abgenommen, nämlich um 9,4 Prozent,
nachdem schon im vergangenen Jahr ein Rückgang um
16,5 Prozent und im Jahr zuvor um mehr als 20 Prozent zu
verzeichnen war. Das sind doch Warnsignale, die nicht außer
Acht gelassen werden dürfen. Der Bau von 10 000 Wohnungen in Ein- und Zweifamilienhäusern - hören Sie zu! schafft fast 44 000 Arbeitsplätze, im Mehrfamilienhausbau immerhin noch 25 000 Arbeitsplätze. Das heißt, eine
Erhöhung des Bauvolumens um 500 Millionen Euro im
Wohnungsbau erhöht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage um etwa 1,17 Milliarden Euro. Durch eine Eigenheimzulage von beispielsweise 26 000 Euro wird - man
höre und staune - ein durchschnittliches Investitionsvolumen von 160 000 Euro ausgelöst. Das rechnet sich also für
den Staat. Man muss diese Rechnung nur aufmachen.
({8})
Nutzen Sie die Eigenheimzulage doch als Konjunkturmotor. Das Baugewerbe hat es Ihnen doch vorgerechnet: Wenn die rot-grünen Kürzungspläne, so wie sie vereinbart worden sind, umgesetzt werden, dann schrumpft
das Volumen der Bauinvestitionen um jährlich 28 Milliarden Euro. Dann verliert der Finanzminister durch die
Kürzung 10,4 Milliarden Euro, spart aber nur 5,8 Milliarden Euro. Das muss man doch einmal zur Kenntnis nehmen. Sie können doch nicht nur vom Sparen reden. Sie
müssen doch das Gesamte im Auge haben.
({9})
Sie müssen Farbe bekennen. Schluss mit dem Hin und
Her! Sie müssen klar sagen, was gilt und welche Ziele Sie
verfolgen. Ich sage Ihnen: Ihre Politik führt zu Wohnungsknappheit und diese wiederum zu Mietsteigerungen. Auch das müssen Sie dann verantworten.
Ich frage Sie auch: Wie stehen Sie eigentlich zum
Thema Eigentum? Wollen Sie, dass auch künftig eine
große Zahl von Menschen Wohneigentum hat? Es ist
doch eine Tatsache: Wer im Alter belastungsfrei in den eigenen vier Wänden leben kann, hat die beste Altersvorsorge.
({10})
Welche gesellschaftspolitischen Ziele stecken also hinter
Ihren Kürzungsvorschlägen? Das müssen Sie uns erläutern. Es kann doch nicht sein, dass Sie angesichts der vorliegenden Zahlen die Mittel streichen wollen. Sie verfolgen offenbar irgendeine Ideologie. Beenden Sie das
Herumexperimentieren an der Eigenheimzulage. Wir appellieren an Sie: Erstens. Schaffen Sie bessere Voraussetzungen zur Stärkung des Wohnungseigentums in Neubau
und Bestand. Zweitens. Gestalten Sie die Eigenheimförderung familienfreundlicher. Drittens. Sorgen Sie dafür,
dass auch Arbeitnehmerfamilien die Chance haben,
Wohneigentum zu bilden. Viertens. Binden Sie das
Wohneigentum wirksam in die Förderung der privaten Altersvorsorge ein.
Handeln Sie, bevor es zu spät ist. Handeln Sie aber
richtig!
({11})
Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Oswald, wir handeln richtig und verantwortlich. Das muss man deutlich sagen.
({0})
Es stimmt zwar, dass SPD und Grüne vor der Wahl gehofft
haben, dass die Konjunktur und die Beiträge zur Sozialversicherung stabil bleiben und dass die Steuereinnahmen
höher sind. Wir wollen gar nicht leugnen, dass es hier Probleme gibt. Aber diesen müssen wir uns stellen und diese
müssen wir lösen. Eigentlich müsste eine verantwortliche
Opposition sagen, welche Antworten sie auf die aktuellen
Probleme hat.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass Sie gar keine haben. Sie behaupten einfach, man könne die Staatsausgaben weiter
nach oben fahren, und tun dabei so, als gäbe es keine
Maastricht-Kriterien und keine Verantwortung für eine
nachhaltige Konsolidierung des Haushalts und für einen
verantwortlichen, sparsamen Umgang mit den uns anvertrauten Steuergeldern.
Besonders pikant ist - das muss ich schon sagen -, dass
die heutige Aktuelle Stunde von der FDP-Fraktion beantragt worden ist. Die plaudernden Oppositionsrunden bei
Ihnen müssen sehr interessant sein. Aber Sie reden
schlicht und einfach mit gespaltener Zunge, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie haben
vor der Wahl versprochen, die Steuersätze auf 15, 25 bzw.
30 Prozent zu senken.
({2})
- Klatschen Sie ruhig. - Das würde Mindereinnahmen in
Höhe von 77 Milliarden Euro bedeuten. Woher wollen Sie
dieses Geld nehmen? Sie sollten nicht nur sagen, wie Sie
die Probleme mit Ihren Parteikassen lösen wollen, sondern auch aufzeigen, wie Sie mit der Staatskasse verantwortlich umgehen wollen. Die Antwort auf die letzte
Frage sind Sie uns bis heute schuldig geblieben.
({3})
Sie haben des Weiteren erklärt, Sie würden die öffentlichen Ausgaben um mindestens 278 Milliarden Euro und
so die Staatsquote auf 35 Prozent - das ist ja ein berühmtes Ziel - senken. Woher nehmen Sie das Geld? Wo wollen Sie kürzen? Wie kommen Sie dazu zu sagen, bei der
Eigenheimzulage darf kein Millimeter gekürzt werden?
Es passt doch nicht zusammen: Sie versprechen den Bürgern die Senkung der Steuern und der Staatsquote und
wollen dabei die Subventionen auf maximaler Höhe lassen. Das stimmt doch vorn und hinten nicht.
({4})
- Kollege Gerhardt, ich habe gerade sehr wohl gesagt,
dass wir vor der Wahl einige Punkte optimistischer eingeschätzt haben, als sie jetzt, wo wir konkret handeln müssen, wirklich sind. Das sagen wir dem Bürger aber auch.
({5})
Wir lügen uns nichts in die Tasche, während Sie weiterhin
so tun, als könnten Sie den Bürgern alle Wohltaten, alle
Subventionen belassen und gleichzeitig Steuern und
Staatsquote senken. Das ist von vorn bis hinten falsche
Politik und einfach verlogen. Den Bürgern gegenüber
muss man aufrecht und ehrlich sein.
({6})
Wir arbeiten momentan mit einer ausgewogenen Mischung, indem wir die Nettoneuverschuldung nur ein
Stück weit erhöhen, weil wir sonst in die Gefahr kämen,
die Konjunktur abzuwürgen, aber auch all jene steuerlichen Subventionen streichen, deren Abbau verantwortbar ist.
Bei der Eigenheimzulage ist es verantwortbar und das
will ich Ihnen konkret sagen: Es gibt im Großen und
Ganzen eine angemessene Wohnversorgung. Engpässe in
München, Frankfurt und Stuttgart - wir haben oft genug
darüber gesprochen - sind uns sehr wohl bewusst, aber
wir meinen durchaus, dass die zuständigen Länder - es
sind nicht die ärmsten - ihrerseits, sei es auch aus Mitteln
des sozialen Wohnungsbaus, kofinanzieren können.
({7})
Sagen Sie nicht, dass hier keine Handlungsverantwortung
seitens der Länder besteht.
Wir gehen an diese Sache gerade nicht ideologisch
heran, sondern angesichts des demographischen Wandels,
angesichts des Wandels in der Wohnversorgung und angesichts der Verantwortung für nachhaltige Haushaltssicherung, gehen wir momentan die Steuersubventionen
durch und agieren entsprechend. Insofern ist das, was wir
machen, nämlich Konzentration auf Familien mit Kindern
({8})
und auf den Bestand sowie Stabilisierung des öffentlichen
Haushalts, sehr sinnvoll.
({9})
Ein letzter Satz zur Lage der Bauwirtschaft. Hier werden nach dem Prinzip „Wer bietet mehr?“ abenteuerliche
Zahlen geboten. Der Verband der Bauindustrie sagt, es
geht um 100 000 Arbeitsplätze, während die FDP von
400 000 Arbeitsplätzen spricht. Was stimmt denn? Hier
wird doch offenbar nach dem Prinzip „Es kommt überhaupt nicht darauf an, Hauptsache, wir machen große
Sprüche“ gehandelt und dabei ist es egal, was der Bevölkerung an Wahrheit und Klarheit vermittelt wird.
({10})
Wir werden die Probleme der Bauwirtschaft, die wir
sehr ernst nehmen, ganz konkret lösen. Die Maßnahmen
möchte ich nennen. Dazu gehört die Stärkung der Kommunalfinanzen,
({11})
denn die wichtigsten Aufgaben der Bauwirtschaft liegen
in der kommunalen Infrastruktur und den kommunalen
Investitionen. Ebenso gehört das Programm zur Förderung des Baus von Ganztagsschulen dazu. Das ist ein Investivprogramm, das die Bauwirtschaft stärkt. Es geht dabei um jährlich 1 Milliarde Euro.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich bin sofort fertig.
({0})
Unsere Verkehrs- und Bauinvestitionen sind so hoch
wie noch nie. Daneben haben wir die Altbausanierung
nicht nur in der letzten Legislaturperiode beschlossen,
sondern wir werden die Mittel dafür noch einmal um
150 Millionen Euro pro Jahr erhöhen. Nachhaltige Haushaltspolitik und nachhaltige Bauwirtschaft vertragen sich
also durchaus miteinander, aber es ist gefährlich, sich
Illusionen zu machen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Am Beispiel der Eigenheimzulage wird einmal mehr
deutlich: Flickschusterei auf der ganzen Ebene,
({0})
von der Rente über die Kommunalfinanzen, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, bis zum Wohnungsbau. Stündlich gibt es neue Wasserstandsmeldungen, frei nach der
Devise: Nichts Genaues weiß man nicht. Das, was gestern
noch richtig und wichtig erschien, ist heute überholt und
das von heute wird morgen wieder eingesammelt.
Wirtschaft und Arbeitsmarkt brechen ein, die Kommunen stehen am Rand des finanziellen Ruins. Täglich gibt
es neue Pleitemeldungen vom Bau. Das sind die Blutspuren rot-grüner Politik.
Jetzt wird der einzige noch einigermaßen funktionierende Baubereich, nämlich das eigengenutzte Wohneigentum, auch noch zertrampelt. Offensichtlich verschmerzt es diese rot-grüne Regierung nicht, wenn es
irgendetwas in diesem Staat gibt, was noch einigermaßen
funktioniert und noch nicht von ihr zerstört ist.
({1})
Sie nehmen den Familien die Eigenheimzulage weg
({2})
und verkaufen das Ganze draußen noch lauthals als familienpolitische Leistungen.
({3})
Das ist eine Frechheit. Ob der Generalsekretär der SPD
damit die Lufthoheit über Kinderbetten gewinnt, das
wage ich erheblich zu bezweifeln. Jetzt wird begonnen,
teilweise zurückzurudern.
({4})
Die Menschen werden ein weiteres Mal belogen. Ihnen
glaubt keiner mehr.
({5})
Ehegattensplitting, Wohnungsbauprämie, Eigenheimzulage - am Schluss wird alles auf die Zeit nach dem 3. Februar, auf die Zeit nach den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen geschoben. Es ist unverantwortlich,
so mit den Menschen umzugehen, die eine Familie gründen und Wohneigentum bilden wollen. Wohneigentum
kauft man nicht wie ein Paar Socken. Die Menschen brauchen Sicherheit für ihre Lebensplanung und sie wird hier
systematisch zerstört.
({6})
Noch haben wir ein gutes Gesetz, das auch der Vorsorge im Alter dient, ein Gesetz, das sozial, familien- und
kinderfreundlich ist, ein Gesetz, Frau Kollegin von der
Regierung, das einfach zu verstehen ist. Jetzt basteln Sie
schon wieder an irgendeinem bürokratischen Monster.
Der von Rot-Grün geplante Kahlschlag ist nicht nur sozial-, familien- und wohnungspolitisch falsch; er ist auch
ein ökonomischer Irrweg. Denn Wohneigentumsförderung ist auch Mittelstandsförderung. Die geplanten Einschnitte führen zum Wegfall zahlreicher Arbeitsplätze im
Baugewerbe, im Handwerk und damit beim Mittelstand.
Der Kollege Oswald hat die Zahlen genannt; sie sind richtig. Heute schreibt das „Handelsblatt“ - ich zitiere -:
Die Bauwirtschaft hat nach den Steuerplänen der rotgrünen Bundesregierung kaum noch eine Chance,
aus der Rezession zu kommen.
In der „Welt“ konnten wir vor wenigen Tagen lesen, dass
sich der Superminister für Verkehr, Bau-, Wohnungswesen und Aufbau Ost, Manfred Stolpe, über Nacht mit Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel an die
Spitze derer stellt, die gegen die geplanten Änderungen
bei der Eigenheimzulage protestieren. Der SPD-Oberbürgermeister Ude aus München ruft zum Widerstand auf.
Draußen, vor dem Brandenburger Tor, wird protestiert.
Mehrere Tausend Leute vom Bau demonstrieren heute gegen die geplante Abschaffung und Reduzierung der Eigenheimzulage. Ich gehe davon aus, dass der Bauminister
gerade draußen ist, um mit den Menschen gegen die rotgrüne Bundesregierung zu wettern.
({7})
Anstatt die Eigenheimzulage zu kürzen, hätten Sie besser die Förderung für den Erwerb von sanierungswürdigem Altbaubestand ausgedehnt. Das wäre ökologisch,
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, und ökonomisch sinnvoll.
({8})
Es würde zu einer Stärkung der Innenstädte führen und es
wäre eine Chance, vor allem für die Kommunen in den
neuen Ländern, sanierungswürdigen Altbaubestand aus
kommunalem Vermögen verkauft zu bekommen,
({9})
sodass sie ihre desolaten Haushalte - das haben Sie zu
verantworten - entlasten könnten.
({10})
Manchmal hat man das Gefühl, dass diese Regierung
bei ihrer Finanz- und Steuerpolitik rein kameralistisch, in
Millimeterpapier und in Spaltenvordrucken, denkt, ohne
die gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichen
Auswirkungen zu sehen, geschweige denn zu berücksichtigen. Was Sie machen, ist ein konzeptionsloses Gewurstel und keine gute Politik für die Menschen in unserem
Land. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie die Hände weg von
der Eigenheimzulage!
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich darf
das Haus vielleicht darauf aufmerksam machen, dass der
Bundesbauminister auf der Trauerfeier in Luxemburg ist.
Wenn man ein Fazit aus den bisherigen Redebeiträgen
der Opposition, die wortgewaltig waren, die gleichzeitig
aber von Ideologien - das ist etwas, was Sie uns immer vorwerfen - und bisweilen wenig von der Sache geprägt waren - Herr Götz, das war sehr deutlich -, ziehen will, wird
man sagen müssen: Sie wollen alles beim Alten lassen und
noch ein bisschen Geld obendrauf legen. Der Wähler hat
recht getan, dass er Sie dort gelassen hat, wo Sie jetzt sind.
({0})
Ich darf in Erinnerung rufen: 1995, als wir in den Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundestages über
diese Materie debattierten, hatten wir die Situation, dass
die Fördertatbestände in § 7 b, § 10 c usw. im Einkommensteuergesetz vor allen Dingen Familien und Bezieher
von hohem Einkommen begünstigten.
({1})
Einkommensschwache Familien hatten zum damaligen
Zeitpunkt keinen finanziellen Anreiz, Eigentum zu erwerben.
({2})
Wir alle haben damals die neue Regelung sehr begrüßt.
Aber der Vorschlag, dieses Eigenheimzulagengesetz zu
verabschieden, kam nicht von der damaligen Regierungsfraktion.
({3})
Ich kann mich noch sehr gut erinnern: Sie haben sich damit sehr schwer getan, bis zum letzten Tag wurde gepokert, weil durch diese Umstellung, wie uns allen bewusst
war, eine Verlagerung von den Gutverdienenden auf die
Schwellenhaushalte stattfinden würde. Sie haben aber
exorbitant hohe Einkommensgrenzen angesetzt, sodass
- das kam aus dem Hause des damaligen Bundesfinanzministers, Herrn Waigel - rund 95 Prozent aller Haushalte
in die Förderung gelangten. Uns war klar: Das Ziel, dieses neue Förderinstrument auf Schwellenhaushalte zu
konzentrieren, auf die Haushalte, die ohne staatliche Hilfe
nicht in der Lage sein würden, Eigentum zu bilden, war
von Anfang an nicht zu erreichen. Das war bereits 1995
der Sündenfall. Das muss man einfach einmal zur Kenntnis
nehmen. Sie können doch nicht einfach sagen, man solle alles beim Alten lassen. Sie hätten wahrscheinlich auch darüber nachdenken müssen. Es passt nicht zusammen, dass
auf der einen Seite alles beim Alten bleiben soll, aber auf
der anderen Seite die Steuersätze abgesenkt werden sollen.
Die Zulage hat heute für viele Familien nichts mehr mit
Hilfe zur Selbsthilfe zu tun. Hören Sie sich einmal an, was
Ökonomen zum Thema Subventionen im Bausektor sagen. Diese haben natürlich Konsequenzen: Baufirmen haben einen größeren Preisspielraum. Die Förderung landet
wegen höherer Preise letztlich zum Teil auch bei den Baufirmen. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
Wir werden - das hat die Staatssekretärin eben gesagt die Einkommensgrenzen absenken, aber verhältnismäßig
moderat. Das Ziel ist für uns die Konzentration auf die
Schwellenhaushalte, die ohne staatliche Hilfe kein
Wohneigentum bilden können.
Es ist unstrittig - das haben auch Sie in Ihrem Programm gesagt -, dass Subventionen abgebaut werden
müssen, um die Konsolidierung der Staatsfinanzen zu erreichen. Das ist im Interesse unserer Kinder und der nachfolgenden Generationen. Sie waren es doch, die uns diesen Schuldenberg hinterlassen haben;
({4})
sonst brauchten wir uns heute nicht in dieser Ausführlichkeit darüber zu unterhalten. Wenn wir Ihre ihm Wahlkampf immer wieder vorgetragenen steuerpolitischen
Vorschläge realisiert hätten oder wenn Sie sie hätten realisieren können, dann wären die Schulden noch höher.
({5})
Die finanzpolitische Vernunft gebietet es, die finanziellen
Auswirkungen der Förderung zu überdenken. Das muss
unstrittig sein. Eine Reform können sich nur diejenigen
verkneifen, die keine politische Verantwortung tragen.
Wir haben vorhin einige Ausführungen über die Höhe
des Fördervolumens gehört. Wir müssen eines bedenken:
Nach dem Verteilungsschlüssel der Einkommensteuer
- die Förderung verteilt sich letztlich nach dem Schlüssel
der Einkommensteuer - tragen Bund und Länder jeweils
42,5 Prozent und die Kommunen 15 Prozent. Mit einer
Fokussierung der Förderung, so wie es die Staatssekretärin
eben vorgetragen hat, eröffnen sich auf allen staatlichen
Ebenen Finanzierungsspielräume. Die Kommunen - das ist
hier immer wieder beklagt worden - hatten über lange Zeit
hinweg nicht den Spielraum, um zu investieren und den
Unterhaltungsaufwand zu finanzieren. Die Kommunen
brauchen Mittel, um in Infrastrukturmaßnahmen investieren zu können. Es wird auch der Bauindustrie helfen, wenn
sie von den Kommunen, die dann die Kosten für die notwendigen Bauinvestitionen aufbringen können, Aufträge
erhält, um Schulen und Kindergärten instand zu halten.
Danke.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es zeigt sich erneut, dass Ihnen für Ihre Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik jede ordnungspolitische Leitschnur fehlt.
({0})
Was Sie in der Wohnungsbauförderung allerdings jetzt
hier liefern, schlägt dem Fass den Boden aus.
({1})
Das wird zu unvorhersehbaren Auswirkungen auf dem
Markt führen.
Zunächst einmal haben Sie auch noch die Unverschämtheit, uns diese Maßnahme als familienpolitisches
Konzept anzubieten. Meine Damen und Herren, das können Sie nun wirklich niemandem mehr verkaufen. Nach
den alten Kriterien hätte das dazu geführt, dass bei einem
Neubau nur Familien ab sechs Kindern ein Mehr an Förderung erhalten hätten.
({2})
Nach dem, was Frau Hendricks eben vorgetragen hat - ich
gehe davon aus, dass das nur noch für wenige Stunden
gilt -, konnten wir gerade errechnen, dass sich bei einem
Altbau das Mehr an Förderung auf Familien ab neun Kindern und bei einem Neubau vermutlich auf Familien ab
15 Kindern konzentrieren wird.
({3})
- Sie können das ja nachrechnen. - Das können Sie vergessen.
({4})
Welches Familienbild versteckt sich eigentlich hinter diesen Maßnahmen? Es ist wirklich eine Dreistigkeit
({5})
- rechnen Sie es doch bitte nach; es ist sehr einfach auszurechnen -, das als familienpolitische Maßnahme zu verkaufen.
Wenn man das einmal etwas umfassender betrachtet
und sich fragt, was durch diese Regierung im Bereich des
Wohnungsbaus geschieht, dann erkennt man, dass Ihre
Maßnahmen dazu führen, dass der Wohnungsbau in
Deutschland total zum Erliegen kommt. Die Bauwirtschaft liegt ohnehin schon auf den Knien; Sie geben ihr
jetzt den Rest.
({6})
Selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung,
das uns nicht nahe steht, sagt voraus, dass Ihre Wohnungsbauförderung dazu führt, dass der Wohnungsbaumarkt in den nächsten Jahren um etwa 20 Prozent einbrechen wird.
Meine Damen und Herren, Sie dürfen diese Einschränkungen bei der Eigenheimförderung doch nicht isoliert
sehen
({7})
- Frau Hendricks, im Moment habe ich das Wort -, sondern Sie müssen auch die vielen anderen Maßnahmen sehen, die Sie gleichzeitig durchführen.
({8})
- Gehen Sie doch bitte auf die Regierungsbank, Sie stören
mich beim Reden.
({9})
Sie wollen eine Wertzuwachssteuer für Immobilien
einführen,
({10})
Sie wollen die degressive AfA abschaffen und die anderen Abschreibungssätze auf 2 Prozent vereinheitlichen,
Sie wollen eine Mindestbesteuerung einführen und Sie
wollen eine zusätzliche Begrenzung des Verlustvortrages
auf sieben Jahre bei einer Begrenzung der Verlustverrechnung auf 50 Prozent einführen. Die Bauwirtschaft
sagt, dass das dazu führen wird, dass große Bauobjekte
nicht mehr abgewickelt werden können, weil man sie
nicht mehr finanzieren kann.
({11})
Hinzu kommen die Maßnahmen, die Sie bereits in der
letzten Legislaturperiode getroffen haben. Ich erinnere
Sie an die Einführung der Begrenzung der Verlustverrechnung nach § 2 Abs. 3 - das war die Mindestbesteuerung à la Lafontaine -, an die Abschaffung des Vorkostenabzugs bei Eigenheimen und an die Begrenzung des
Verlustrücktrages auf ein Jahr, die mit einer Einschränkung im Volumen verbunden wurde. All das wirkt ja zusammen.
({12})
Hinzu kommt auch noch die Ökosteuer auf Erdgas und
Erdöl, was die Heizkosten verteuern wird. Schließlich
droht - der SPD-Spitzenkandidat Bökel in Hessen fordert
das ja - die Wiedereinführung der Vermögensteuer und
eine erhebliche Erhöhung der Erbschaftsteuer. Frau
Hendricks, auch das betrifft die Immobilien; das wissen
Sie doch genauso gut wie ich.
({13})
Franz-Christoph Zeitler - Mitglied des Vorstandes der
Bundesbank und früherer Staatssekretär; Frau Hendricks,
er versteht von der Sache mindestens so viel wie Sie schreibt heute in der „FAZ“, dass all diese Maßnahmen
zusammengenommen dazu führen werden, dass die Immobilienwerte - also das Preisniveau für Immobilien - in
Deutschland drastisch nach unten gehen werden. So werden Sie zwangsläufig einen deflatorischen Prozess auslösen. Japan lässt grüßen.
({14})
Sie tun dies offenen Auges, obwohl Ihnen alle Experten
sagen, welche Folgen das haben wird.
({15})
Sie werden einen Einbruch in der Bauwirtschaft erleben, was zu 100 000 zusätzlichen Arbeitslosen führen
wird. Es wird dazu kommen, dass sich Familien jedweder
Einkommensgruppe - außer den ganz Reichen - ein Eigenheim nicht mehr leisten können.
({16})
Schließlich und endlich wird die ganze Volkswirtschaft in
eine sehr große und schwere Existenzkrise geraten. Überlegen Sie sich, was Sie da tun!
Ein letztes Wort, Frau Hendricks. Wir haben in unserem Wahlprogramm die Abschaffung von Subventionen
gefordert. Auch wir haben vorgeschlagen, die Abschreibungsbedingungen beim Wohnungsbau auf 2 Prozent zu vereinheitlichen. Wir haben das aber in den Zusammenhang mit einer deutlichen und drastischen
Steuerentlastungs- und Vereinfachungsreform gestellt.
Das fehlt bei Ihnen.
({17})
Im Übrigen steht in unserem Wahlprogramm dezidiert,
dass wir die Eigenheimförderung so lassen wollten, wie
sie war. Das war richtig und gut überlegt. Wir haben darüber lange diskutiert.
Meine Damen und Herren, kommen Sie bitte zur Besinnung. Es ist höchste Zeit; denn die wirtschaftliche Situation lässt keine weitere Belastung zu. Wir brauchen
wieder marktwirtschaftliche Orientierung,
({18})
keine höheren Steuern und keine höheren Abgaben.
({19})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war mehrfach vom Rechnen die Rede. Seitens der FDP
kam die Aufforderung, die Grundrechenarten zu berücksichtigen. Ich will dazu sagen: Diese Forderung seitens
der FDP entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie.
({0})
Weil diese Aufforderung gerade gekommen ist, möchte
ich sie gerne auf mich selbst anwenden. Während ich Ihnen zugehört habe, habe ich meine eigenen Angelegenheiten vor meinem geistigen Auge Revue passieren lassen. 1999 habe ich als Vater zweier Kinder einen Altbau
erworben. Dafür bekam ich 2 500 DM Grundförderung
und zweimal 1 500 DM pro Kind. Das waren 5 500 DM,
also gut 2 700 Euro.
Wenn ich im Jahre 2003 als Vater zweier Kinder das
Gleiche tun und einen Altbau erwerben würde, so würde
ich eine Grundförderung von 1 000 Euro und zweimal
800 Euro pro Kind bekommen. Das wären 1 600 Euro.
Das macht alles zusammen 2 600 Euro. Diesen Konsolidierungsbetrag - es war von den Grundrechenarten die
Rede - von 100 Euro bin ich gerne bereit zu erbringen.
({1})
In diesem Fall gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen vorher und nachher. Übertreiben Sie nicht so maßlos. Das glaubt Ihnen sowieso kein Mensch.
Ich will etwas zu den Kriterien sagen, mit denen wir
Grünen uns an diese Reform der Eigenheimzulage herangemacht haben. Es sind drei Kriterien: Erstens. Es muss
ökologisch vernünftig sein. Zweitens. Es muss kinderfreundlich sein. Drittens. Es muss einen nennenswerten
Beitrag zur Haushaltskonsolidierung bringen.
({2})
Zum ersten Kriterium, dass es ökologisch vernünftig
sein muss. Der große Sprung nach vorne bei dieser Reform - das ist für uns ganz wichtig - ist, dass Altbau und
Neubau gleichgestellt werden.
({3})
Damit machen wir das Gleiche, was Sie bei der Entfernungspauschale - Sie haben das damals Kilometerpauschale genannt - auch schon gemacht haben. Wir haben
die damalige Ungleichbehandlung von Verkehrsträgern,
auf der einen Seite das Auto, auf der anderen Seite die anderen Verkehrsträger, aufgehoben und alle gleichgestellt.
Es geht also um das Prinzip der Gleichbehandlung. Das ist
ökologisch höchst vernünftig.
({4})
Es geht auch um das Thema Flächenversiegelung. Wir
versiegeln in Deutschland heute pro Tag durch SiedlungsDr. Hermann Otto Solms
und Verkehrsflächen eine Fläche von 130 Hektar. Das ist
ganz einfach zu viel.
({5})
Wir wollen - das hat sich die Bundesregierung vorgenommen - gemäß den Vorschlägen des nationalen Nachhaltigkeitsrates diese Flächenversiegelung von 130 Hektar pro Tag auf 30 Hektar pro Tag zurückführen. Das hat
als zwingende Voraussetzung, dass wir im Bereich der
Wohnungsbaupolitik mehr und mehr zur Bestandsorientierung übergehen. Das ist ökologisch höchst vernünftig.
({6})
Im Übrigen ist es so, dass wir im Bereich der Baupolitik viele ökologisch ergänzende Maßnahmen ergriffen haben. Sie kennen sie alle, aber Sie benennen sie nicht. Wir
haben das Altbausanierungsprogramm aufgelegt. Das stocken wir jetzt von zurzeit 200 Millionen Euro auf
350 Millionen Euro auf. Das haben wir vorletzte Nacht
beschlossen. Wir haben das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien entwickelt. Wir haben das 100 000Dächer-Programm ins Leben gerufen. Summa summarum
komme ich zu dem Ergebnis: Diese Reform ist ökologisch
höchst vernünftig.
({7})
Ich komme zum zweiten Kriterium. Die Reform ist
kinderfreundlich. Dazu habe ich das Notwendige gesagt.
Familien mit Kindern werden jetzt in besonderer Weise
gefördert.
({8})
Zum dritten Kriterium: Die Reform ist ein wichtiger
Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte,
und zwar nicht nur - Sie werden sich noch umgucken zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes, sondern auch
zur Konsolidierung der Länder- und Gemeindehaushalte.
Das bringt enorme Einsparungen.
({9})
Wenn ich das alles zusammenfasse, dann komme ich zu
dem Ergebnis, dass das eine vernünftige Reform ist,
({10})
die wir mittragen können.
Jetzt noch kurz zur FDP: Herr Kollege Solms, ich erinnere mich daran, wie Sie damals Benzin für 50 Pfennig
an die Leute verschenkt haben. Sie sind ein sehr großzügiger Mann - das ist sicherlich eine sehr positive persönliche Eigenschaft -, aber wenn Sie einerseits als Mitglied
einer Partei auftreten, die allen Subventionen an den Kragen will, aber andererseits eine Rede halten wie ein Subventionsritter, dann passt das nicht zusammen.
({11})
Herr Kollege Günther, lassen Sie mich noch einmal auf
Ihre Zahlen - die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig hat
es bereits angesprochen - und die maßlosen Übertreibungen bezüglich der Beschäftigungsverluste zu sprechen
kommen. Herr Günther sprach von 400 000 Arbeitsplätzen,
die verloren gingen; Herr Oswald sprach von 200 000; die
Bauwirtschaft selber spricht von 100 000. Auch das ist
eine maßlose Übertreibung; denn gerade die Altbausanierung bringt enorme Beschäftigungseffekte; das darf nicht
vergessen werden.
({12})
Wenn ich diese Zahlen miteinander vergleiche, dann entspricht Ihre Übertreibung ziemlich genau dem Faktor vier,
so, wie Sie mit Ihren 18 Prozent beim Wahlergebnis
um den Faktor vier übertrieben haben. 18 geteilt durch 4
ist 4,5. So soll es kommen!
({13})
Der nächste Redner ist der Kollege Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der grüne Abgeordnete hat wenigstens die Wahrheit gesagt. Er hat in etwa gesagt: „Wir brauchen keinen
Neubau von Wohnungen mehr. Was in diesem Bereich
passiert, ist mir letztendlich egal, insbesondere was die
Förderung der Familien im Neubau angeht.“
(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Zuhören!]
Meine Damen und Herren, der Begriff der Nachhaltigkeit erlebt in der Koalitionsvereinbarung eine inflationäre
Entwicklung.
({0})
Aber in der Eigenheimförderung, in der nachhaltig große
Erfolge erzielt wurden, zerstören Sie den Lieblingstraum
der Deutschen nach einer eigenen Wohnung oder nach einem eigenen Haus. Hierbei hätten Sie aber Nachhaltigkeit
beweisen können.
({1})
Sie wissen offensichtlich nicht, dass die Zukunftsplanung von mehr als 70 Prozent unserer Bürgerinnen und
Bürger auf die eigene Immobilie ausgerichtet ist, dass sich
die Menschen krumm legen und mit Leidenschaft und mit
Kraft dafür einsetzen. Denn eine eigene Immobilie bietet
nach wie vor einen sicheren Ort für die Familie und eine
sichere Basis für das Alter. Die Förderung stellte immer
ein Stück Vermögensbildung in breiten Schichten der Bevölkerung dar. Was Sie betreiben, ist ein sozialpolitischer
Kahlschlag, den Ihnen die Bürgerinnen und Bürger entsprechend verübeln werden.
({2})
Mit Ihren neuen Beschlüssen testen Sie nicht nur die
Belastbarkeit der Wirtschaft, sondern auch die der Bürgerinnen und Bürger. Steuererhöhungen, Erhöhungen der
Sozialbeiträge und nun die Kürzung in der Vermögensbildung - das ist der rot-grüne Aufbruch in ein neues Jahrzehnt.
({3})
Seit heute haben Sie also ein Konzept für die nächsten
Jahre. Es ist schon erstaunlich: Sie verkünden die Änderungen bei der Eigenheimzulage und merken erst nach
den Protesten der Opposition und der Verbände, dass sich
- so bis vor kurzem - eine Familie mit zwei Kindern bei
einem Neubau um 13 500 Euro verschlechtert. Sie merken offensichtlich jetzt auch, dass das Ganze auch etwas
mit der Baukonjunktur und mit den Arbeitsplätzen zu tun
hat.
({4})
Wie wir gerade gehört haben, gibt es nun also eine
Grundförderung von 1 000 Euro und 800 Euro als Kinderzulage. Egal, welche Variante Sie wählen, meine Damen und Herren, den Familien geht es auf jeden Fall
schlechter als vorher.
({5})
Eine Familie mit einem Kind erhält bei einem Neubau
46 Prozent weniger Förderung, eine mit zwei Kindern
37 Prozent und eine mit drei Kindern 30 Prozent. Das alte
Niveau wird - weil in der Kinderzulage nur noch eine
Differenz von 38 Euro besteht - bei einem Neubau erst
mit dem einundvierzigsten Kind erreicht. Das ist eine
grandiose familienpolitische Leistung. Sie sollten sich
dafür schämen.
({6})
Sie sollten einmal ernsthaft erläutern, warum die Kinderzulage nur dann gewährt werden soll, wenn sich die
Kinder innerhalb von vier Jahren nach der Eheschließung
einstellen. Offensichtlich merken Sie nicht, welchen
Druck Sie auf junge Familien ausüben, wenn, wie der
„Focus“ diese Woche schreibt, die Frau nicht schnell genug schwanger wird.
({7})
Das Ganze ist ein untauglicher Versuch, sich familienfreundlich zu geben, und entpuppt sich als riesengroße
Täuschung der Wähler.
({8})
Sie werden auch die Einkommensgrenze senken. Es
geht bekanntlich um den Gesamtbetrag der Einkünfte.
Auch damit treffen Sie wieder die Leistungsträger in dieser Gesellschaft, die sich hochgearbeitet haben. Das ist
die neue Mitte, auf die Sie noch 1998 gesetzt haben. Aber
jetzt haben Sie sich selbst auf die neue Mitte gesetzt.
({9})
Wenn Ihre Beschlüsse greifen, wird der Bau von Eigenheimen in Ballungszentren überhaupt nur noch für die absoluten Hochverdiener möglich sein.
({10})
Mit Ihren Vorstellungen müssen viele ihren Traum vom
Eigenheim an den Nagel hängen.
Der Finanzminister träumt von 210 Millionen Euro
Einsparungen und vergisst dabei erstens den Steuerausfall
durch die nicht realisierten Bauvorhaben und zweitens die
Belastung durch die steigende Arbeitslosigkeit. Warum
sind die Menschen heute hier in Berlin auf der Straße?
Weil sie merken, dass es immer weiter abwärts geht und
diese Regierung die absolut falschen Beschlüsse herbeiführt. Die Menschen draußen haben unsere absolute
Solidarität, meine Damen und Herren.
({11})
Das Eigenheim oder auch die selbstgenutzte Wohnung
waren von allen Parteien gesellschaftspolitisch und sozialpolitisch immer gewünscht; denn sie waren immer auch
ein Stück Stabilisator der Konjunktur und versprachen
den Bauarbeitern sichere Arbeitsplätze. Das DIW kalkuliert heute mit einem Rückgang im Bauvolumen von
4,7 Prozent im nächsten Jahr und von über 10 Prozent im
Jahr 2004.
({12})
Sie können übrigens die Einschränkungen bei der Eigenheimzulage auch nicht von anderen steuerpolitischen
Beschlüssen im Wohnungsbau trennen. 80 Prozent der
Wohnungsbauinvestitionen werden durch Private finanziert und stützen sich auf drei Säulen: auf die Miete, auf
die vom Staat gewollten Steuervorteile, damit Geld in den
Wohnungsbau fließt, und auf die Wertsteigerung. Sie
schlagen zwei Säulen kaputt: die Steuervorteile und die
Wertsteigerung.
Es wird Zeit, dass wir über die Inhalte reden und nicht
mehr über die Verpackungen. Wenn Sie Nachhaltigkeit
wollen, können Sie das jetzt beweisen. Was ist die Folge
Ihrer Beschlüsse? Weniger Wohnungen, weniger Eigenheime, mehr Druck auf die Mieter, Mietsteigerungen,
Wohnungsknappheit.
({13})
Schon schließt sich der Kreis und wir werden in absehbarer Zeit wieder über Wohnungsnot und die notwendigen
Fördermaßnahmen diskutieren. Lassen Sie die Finger von
der Eigenheimzulage und ziehen Sie Ihre verheerenden
wohnungspolitischen Beschlüsse zurück, meine Damen
und Herren.
({14})
Herr Kollege Flosbach, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag und wünsche Ihnen für Ihre politischen Ziele
alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Subventionsabbau war eines der beiden zentralen Themen der
vergangenen Wochen, und zwar parteiübergreifend, nicht
nur bei uns. Das andere Thema war Familie. Beide Themen nehmen wir auch nach dem Wahltermin überaus
ernst. Das ist in einigen Teilen dieses Hohen Hauses und
erst recht bei den Interessenvertretungen leider nicht so.
Viel mehr Bedeutung hat in der Zwischenzeit das Wörtchen „aber“ bekommen. Subventionsabbau ja, aber nicht
hier. Sparen ja, aber doch nicht da. Kürzungen selbstverständlich, aber nicht auf diesem und nicht auf jenem und
überhaupt auf keinem Feld und schon gar nicht bei mir.
({0})
Aber so, liebe Kolleginnen und Kollegen, funktioniert
diese Aufgabe nicht.
({1})
Was ist denn Subventionsabbau? Die Definitionen sind
unterschiedlich. Nach dem Duden ist das der Abbau von
zweckgebundenen finanziellen Unterstützungen oder
staatlichen Zuschüssen. Populistisch und zur Verunglimpfung nach Oppositionsart viel besser geeignet wird daraus
schlicht und ergreifend Steuererhöhung. Da tut es gut zu
sehen, dass die Fachliteratur das anders sieht, natürlich
nicht die Boulevardpresse, allen voran die „Bild-Zeitung“, das neue Kampfblatt der CDU/CSU.
({2})
Am Wochenende habe ich in meiner Kanzlei die Fachliteratur durchgesehen. Ich gebe zu, dass mich der Teil, der
sich mit dem Koalitionsvertrag befasste, am meisten interessierte.
({3})
In der Fachliteratur steht nichts von Steuererhöhungen,
sondern es wird über den Abbau von Steuersubventionen
und Vergünstigungen geschrieben. Es zeigt sich: Die
Fachleute fallen nicht auf die platten Parolen derer herein,
({4})
die morgens eine radikale Vereinfachung des Steuersystems fordern und abends im Wahlkreis die Abschaffung
von Sonderregelungen schlichtweg ablehnen.
Wir machen mit dem Abbau von Subventionen Ernst.
Dabei müssen alle Tatbestände auf den Prüfstand. Einer
dieser Tatbestände ist die Eigenheimzulage. Wir müssen
uns doch heute, wo wir nicht mehr mit dem Füllhorn
durchs Land ziehen und Wohltaten verteilen können, folgende Fragen stellen: Würden wir heute eine solche Förderung einführen? Wenn ja, wie würde sie aussehen?
Würden wir den Bau oder den Erwerb von Eigentum fördern oder die Kinder, die darin wohnen und aufwachsen
sollen? Wenn Sie es mit Ihrem Bekenntnis zur Familie
ehrlich meinen, dann müssen Sie unserem Vorhaben zustimmen, die Förderung nur noch Familien mit Kindern
zukommen zu lassen.
({5})
Familie ist, wo Kinder sind. Diesem Grundsatz trägt diese
Veränderung Rechnung.
Warum die gleiche Förderung für Alt- und Neubau? Sie
wissen genauso gut wie ich, dass der Städtebund, allen
voran Frau Roth, CDU-Mitglied und Oberbürgermeisterin von Frankfurt, und ähnliche Organisationen wegen der
Stadtflucht und der Zersiedelung Klage führen. Die Leerstandskommission im Osten spricht doch eine ganz deutliche Sprache. Wir müssen gegensteuern. Viele Häuser in
Baugebieten aus den 50er- und 60er-Jahren stehen heute
zum Verkauf an. Wir können doch nicht zulassen, dass
sich diese Stadtteile zu Geisterstadtteilen entwickeln und
dass auf der anderen Seite, hundert Meter weiter, ein
neues Baugebiet im wahrsten Sinne des Wortes aus dem
Acker gestampft wird.
({6})
Das hat auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun. Wir
müssen uns überlegen, was wir unseren Kindern hinterlassen. Eine intakte Umwelt ist ein Gut, auf das auch die
kommenden Generationen einen Anspruch haben. Wir
werden niemanden hindern, ein Häuschen im Grünen zu
bauen; aber der Anreiz, ein neues Haus zu bauen, statt
eines zu kaufen, weil die Förderung dafür höher ist, entfällt.
({7})
Es wird für den Bau eines Hauses künftig eine Förderung
in derselben Höhe wie für den Erwerb eines Hauses geben. Die Rechenbeispiele, um das zu erläutern, lasse ich
einmal weg.
({8})
- Wollen Sie die Rechenbeispiele hören? Okay, bitte!
Mein Vorredner hat gesagt, eine Familie müsste heute
41 Kinder haben, um genügend Fördermittel zur Deckung
der Kosten für den Erwerb eines Neubaus zu bekommen.
Er hat leider das Komma übersehen. Bisher waren es
4 900 Euro für einen Neubau und es werden bei einer Familie mit vier Kindern - ({9})
- Nein, 4 200 Euro, junger Mann. Lernen Sie Rechnen,
bevor Sie hierhin kommen!
({10})
Die Einkommensgrenze bei einer Familie mit zwei
Kindern wurde für zwei Jahre auf 180 000 Euro reduziert.
({11})
- Nein, die nehme ich nicht zurück. Grundförderung:
1 000 Euro. Dazu kommen viermal 800 Euro. Na, wissen
Sie, was dabei herauskommt? Insgesamt sind das
4 200 Euro.
({12})
Lassen Sie Ihren Worten im Wahlkampf Taten folgen!
Wir sind zum Subventionsabbau bereit. Seien Sie es auch!
({13})
Auch Ihnen, liebe Kollegin Frechen, vom ganzen Haus
herzliche Glückwünsche zu Ihrer engagierten ersten Rede
hier im Deutschen Bundestag! Ich wünsche auch Ihnen
persönlich alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Willi Zylajew,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Frechen, da wir uns aus dem Wahlkreis
kennen,
({0})
muss ich zunächst einmal darauf hinweisen, dass Sie vor
einigen Jahren behauptet haben, Ihre Regierung habe den
Altbestand endlich schlechter gestellt als den Neubau,
weil sie den Vorkostenabzug abgeschafft habe.
({1})
Das muss man einmal sagen. Sie haben vor drei oder
vier Jahren im Erftkreis propagiert, dass die SPD für steuerliche Gerechtigkeit sorgt. Heute haben Sie in Ihrer ersten Rede hier erklärt, dass Sie jetzt durch die Gleichstellung des Altbestandes etwas Tolles tun. Es kann doch
nicht richtig sein, dass Flickschusterei weiterhin Handlungsmaxime dieser Regierung ist.
({2})
Ich will, liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf hinweisen, dass für viele Menschen in unserem Land ein angenehmes Lebensgefühl und Wohlbefinden einfach mit
Wohneigentum zusammenhängen. Das ist in allen soziologischen Schichten unserer Bevölkerung so. Das ist in
den Ballungszonen der Fall, in den Ballungsrandzonen,
aber auch im ländlichen Bereich. Rund zwei Drittel unserer Bevölkerung haben - Klaus-Peter Flosbach hat das
angesprochen - ihre Lebensplanung darauf fixiert, sich
Wohneigentum zu schaffen. Dies haben alle Regierungen,
aber auch wirklich alle, in der Nachkriegszeit in entsprechendem Maße gefördert.
({3})
- Das ist aktuell, Herr Kollege. - Sie brechen mit dieser
vernünftigen Praxis, die zumindest aus unserer Sicht eine
wesentliche Säule einer guten Familien- und Sozialpolitik
darstellte.
({4})
Die Gründe, warum Menschen Wohneigentum wünschen, liegen doch auf der Hand. Da hat sich nichts geändert, auch nicht nach dem 22. September. Wohneigentum
schafft eine Grundsicherung. Woanders legen Sie auf
Grundsicherung so einen großen Wert und belasten die
Kommunen mit enormen Kosten. Wohneigentum ist wertbeständig und nicht so extrem problematisch wie andere
Anlageformen. Wohneigentum bietet die Chance zur Umfeldgestaltung und dazu, für Kinder Entfaltungsräume zu
schaffen; die sind Ihnen doch angeblich so wichtig. Alle
Wissenschaftler und alle Fachleute mit praktischen Erfahrungen in diesem Bereich sagen uns: Für die Entwicklung von Kindern und jungen Menschen ist Wohneigentum ein ganz ganz wichtiger Faktor.
({5})
Sie brechen diese wichtige Stütze der deutschen Sozialund Familienpolitik weg.
Hier wird - Frau Frechen, Sie kennen das - geschrödert, das heißt, etwas anderes getan, als man gestern erklärt hat.
({6})
Die Zahlen brauche ich nicht zu wiederholen; diesen Passus aus dem Manuskript kann ich mir sparen, denn die
Kollegen haben sie genannt. Aber auch wenn Sie jetzt
flickschustern und ein bisschen nachbessern, ändert das
nichts daran, dass Sie gestern etwas anderes erzählt und
versprochen haben, als Sie heute tun. Das ist ein schändliches Verhalten.
({7})
In meiner Heimat - ich erlebe das hautnah - gibt es
viele junge Paare, deren Lebensplanung so ausschaut,
dass sie sich erst Wohneigentum schaffen und dann den
Kinderwunsch realisieren. Ich frage mich: Warum schaden wir denen?
({8})
Die haben das nicht verdient. Das sind die jungen Menschen, Frau Kollegin, die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
({9})
Liebe Kollegin, wir beide in unserem Alter hoffen auf sie.
({10})
Diese werden jetzt durch Ihr Handeln ganz negativ erwischt. Sie verschlechtern sehenden Auges die Chancen
der Alterssicherung von Männern und Frauen.
Die Wohneigentumsförderung der vorherigen Regierungen war doch letztendlich wie eine Riester-Rente mit
100-prozentigem Wirkungsgrad. Die Menschen haben
eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation im Alter erzielt, weil sie Wohneigentum hatten und etwa ein
Drittel des Einkommens, das sonst an Miete wegging,
sparen konnten.
Allein erziehenden Müttern und Vätern, denen Sie angeblich helfen wollen - ich weiß nicht, ob das bis in jede
Ecke der Regierung schon durchgedrungen ist -, rauben
Sie schlechthin Lebensräume. Ich denke an Zuwanderer,
die Ihnen doch angeblich so sehr am Herzen liegen. Zuwanderer
({11})
sind sehr an Wohneigentum interessiert. Aber Sie nehmen
mit dieser Gesetzesänderung denen fast alle Chancen, dieses Ziel zu erreichen. Ich denke auch an junge Leute.
Abschließend möchte ich sagen, weil die Zeit drückt:
Sie strangulieren die mittelständische Bauwirtschaft, vernichten Hunderttausende von Arbeitsplätzen, reduzieren
die Chancen auf Alterssicherung, engen Selbstverwirklichungsspielräume ein, kappen Zukunftsperspektiven für
Junge und Alte und dämpfen damit die Lebensqualität von
Menschen.
Ich hoffe sehr, dass Sie den Rest an Vernunft, den man
bei Ihnen vielleicht noch erwarten kann, aufwenden, um
zu einer vernünftigen Politik zurückzukommen.
Danke.
({12})
Auch Ihnen, Herr Kollege Zylajew, unsere herzlichen
Glückwünsche zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen
Bundestag und persönlich alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich
habe Ihnen sehr genau zugehört.
({0})
Substanziell war da wirklich nichts.
({1})
Es war viel künstliche Erregung, viel Pathos; ich erinnere
nur an „Blutspuren“ und „Lufthoheit über Kinderbetten“.
Es war schon sehr interessant, welche sprachlichen Spiele
Sie da getrieben haben; aber substanziell war nichts, bis
auf folgende Forderungen: Erstens, es soll alles so bleiben, und zweitens, es soll kräftig draufgepackt werden.
({2})
Schauen wir uns den Wohnungsmarkt einmal in der gebotenen Ruhe und Sachlichkeit an. Wir haben nun einmal
in weiten Teilen einen gesättigten Wohnungsmarkt. Das
Spiel von Angebot und Nachfrage sollten Sie als Letztes
außer Kraft setzen. Wir hatten schon in den letzten Jahren
einen Rückgang der Nachfrage auch nach Eigenheimen.
Das ist ein Faktum. Was das Anfachen des Wohnungsbaus
mit künstlichen Anreizen angeht, haben wir mit der Sonderabschreibung in den neuen Bundesländern Erfahrungen gemacht. Den Fehler, den Sie damals gemacht haben,
werden wir auf keinen Fall wiederholen.
({3})
Zur realistischen Betrachtungsweise des Wohnungsmarkts gehören auch folgende Zahlen des Zeitraums 1999
bis 2001: jährlich durchschnittlich lediglich plus 1 Prozent bei den Nettokaltmieten, 1,8 Prozent Steigerung der
Nebenkosten, Baupreisindex stabil, sogar mit leichtem
Minus versehen, durchschnittlicher Zinssatz von 6 Prozent. In einem einzigen Punkt haben wir allerdings eine
deutliche Steigerung, und zwar beim baureifen Land. Hier
sind die Kosten in diesem Dreijahreszeitraum um 10 Prozent gestiegen.
Wir haben also sehr ausgeglichene Bedingungen auf
dem Wohnungsmarkt.
Zum Eigenheimzulagengesetz. Zwei Ziele sind 1995
mit diesem Gesetz verfolgt worden: erstens eine kräftige Belebung der Eigentumsbildung. Das ist gelungen:
50 Prozent Bestandserwerb, 44 Prozent Neubau, 6 Prozent Ausbau und Erweiterung. Das zweite war ein sozialpolitisches Ziel, nämlich die Förderung von Familien mit
Kindern. Auch dies ist in hohem Maße erreicht worden.
Diese Förderung war sozial treffsicher.
Aber die Wirkungsanalyse der Bauministerkonferenz,
die ich gerade zitiert habe, stellt fest, dass die Wirkung
räumlich sehr unterschiedlich war und sehr stark von den
örtlichen Bedingungen abhängt. Günstige Bodenpreise
sind dabei ein ganz entscheidender Faktor. Wir brauchen
also ein ausreichendes und nachgefragtes Angebot und
nicht künstliche Anreize.
Es gibt zwei Schlüsselfaktoren: die Eigenheimzulage
und die Bodenpreise. Beide sind maßgeblich für den Erfolg der Eigentumsförderung.
Zum finanzpolitischen Aspekt. Es ist richtig: Die Eigentumsförderung ist der bedeutendste Brocken der Subventionen. 1996 sind wir von einem Volumen von rund
17 Milliarden DM ausgegangen. Das höchste Finanzvolumen werden wir 2003 haben. Es liegt noch höher, als die
verehrte Parlamentarische Staatssekretärin hier gerade
mitgeteilt hat: Wir liegen bei Aufwendungen von insgesamt etwa 10 Milliarden Euro, weil wir noch Steuerschleppen aus den vergangenen Jahren haben.
Die Ausgaben sind also trotz Rückgangs der Anträge in
den letzten Jahren fortlaufend gestiegen. Wir kommen um
folgende Tatsache nicht herum: Es gibt sehr enge finanzpolitische Rahmenbedingungen. Wir alle gemeinsam also Regierungskoalition, Opposition, Bund, Länder und
Kommunen - haben den Auftrag, den Haushalt zu konsolidieren. Diese Notwendigkeit kann man nicht wegdiskutieren; denn Bund und Länder müssen finanziell entlastet
werden.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden: Der
Schrei nach Subventionsabbau, den ich in den letzten
Monaten - auch in meinem Wahlkreis - so oft hören
musste, ist auf einmal völlig verstummt. Er wird sogar ins
Gegenteil verkehrt, indem nach mehr und höheren Subventionen geschrien wird.
({4})
Dass die Wohnungsförderung bei der Konsolidierung
nicht außen vor bleiben kann, muss auch ich als engagierter Wohnungsbaupolitiker akzeptieren. Im Übrigen
sehen die Länder das genauso.
({5})
Ich greife einmal ein Land heraus: nicht Baden-Württemberg, sondern Bayern, das mir besonders am Herzen
liegt. Was tut Bayern im Haushaltsentwurf für das Jahr
2003? - Bayern kürzt die Wohnförderung auf einen
Schlag um 30 Prozent von 286 Millionen Euro auf
200 Millionen Euro ({6})
aus genau den gleichen Gründen, denen auch wir Rechnung tragen müssen. Der Pathos und die Erregung, mit denen Sie Ihre Standpunkte vorgetragen haben, sind nicht
mehr nachvollziehbar, wenn man die Finanzsituation
nüchtern betrachtet.
({7})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Es ist blanke Polemik, wenn in der Öffentlichkeit gesagt wird, die Eigenheimzulage werde auf null gebracht.
Wir werden im Jahre 2006 immerhin noch 75 Prozent des
jetzigen Finanzvolumens ausgeben. Wir werden im Jahre
2010 bei knapp der Hälfte des gegenwärtigen Volumens
sein. Von Auf-null-Bringen kann also überhaupt keine
Rede sein.
Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen im Parlament und
auch im Bundesrat Ihren Beitrag dazu leisten werden, eine
sozial ausgewogene Eigentumsförderung mit der dringend notwendigen Haushaltskonsolidierung auf allen
staatlichen Ebenen zu verknüpfen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Staatssekretärin, wenn man Ihre Ausführungen und auch
die Reden vonseiten der Regierungsfraktionen hört, kann
man den Eindruck gewinnen, es handele sich bei der
Eigenheimzulage lediglich um ein Steuerschlupfloch am
Rande der Legalität, das sich irgendein findiger Steuerberater ausgedacht hat.
({0})
Auch hier hat Sie der Sinn für die Realität verlassen.
Ich möchte Sie daran erinnern: Die Eigenheimzulage soll
Bürgerinnen und Bürgern den Bau oder den Erwerb von
Wohneigentum finanziell erleichtern und damit letztlich
auch den Vermögensaufbau und die Altersvorsorge fördern. Ich meine, die Eigenheimzulage in der bisherigen
Form hat sich bewährt und entspricht den Anforderungen,
die man seinerzeit, als man sie beschlossen hat, in sie gesetzt hat.
({1})
Vor allem den Durchschnittsverdienern wird es dadurch ermöglicht, Eigentum zu erwerben. Durch die Eigenheimzulage wurde erreicht, vor allem Familien mit
Kindern bei der Eigentumsbildung zu unterstützen. Dies
bestätigt im Übrigen auch eine Studie des Bundesamtes
für Bauwesen und Raumordnung. Das Fazit dieser Studie
lautet: Für eine Reform der Eigenheimzulage gibt es keine
sachlichen Gründe.
({2})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, das haben
Sie bis vor einiger Zeit genauso gesehen; denn im Juni betonten SPD und Grüne in einem gemeinsamen Antrag:
Stefan Müller ({3})
Die Förderung des selbst genutzten Wohneigentums
hat gesellschaftspolitisch einen hohen Stellenwert.
Wir messen der Eigenheimzulage einen hohen Stellenwert zu.
Herr Kollege Spanier, im April betonten Sie:
Aus wohnungspolitischer Sicht halten wir auch die
derzeitige Höhe des Fördervolumens für sinnvoll.
({4})
Sie haben diese Aussage in einer Debatte im Juni mit den
deutlichen Worten ergänzt:
Die Eigentumsförderung bleibt selbstverständlich
erhalten.
({5})
Im Koalitionsvertrag heißt es lediglich:
Die Eigenheimzulage werden wir auf diejenigen
konzentrieren, die sie wirklich brauchen: Familien
mit Kindern.
Nach Ihrem ersten Vorschlag hätte eine Familie mit zwei
Kindern 1 600 Euro im Jahr weniger bekommen. Das ist
offensichtlich Ihr Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.
({6})
Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel
hat angekündigt, er werde auf keinen Fall zustimmen,
wenn die Grundförderung gestrichen werden sollte. Jetzt
haben Sie das Ganze noch einmal überarbeitet und wieder
einmal - wie schon so oft - ein bürokratisches Monster
vorgestellt. Ich frage Sie heute: Ist das das letzte Wort? Ich
persönlich glaube dies nicht.
({7})
Meine Damen und Herren, es ist ein Stochern im Nebel. Bei Ihnen weiß die linke Hand nicht, was die rechte
tut. Die Bürger werden stattdessen jeden Tag mit neuen
Meldungen weiter verunsichert. Es ist an der Zeit, dass
Sie endlich für Klarheit sorgen.
Dabei sollten Sie sich vor Augen führen, was die Kürzung der Eigenheimzulage für die Betroffenen bedeutet.
Die Eigenheimzulage ist ein wesentlicher Baustein bei einer privaten Baufinanzierung, auch und gerade für junge
Familien, also für die Personengruppe, die Sie, wie Sie
vorgeben, fördern wollen.
Wenn ein Bauwilliger heute bei einer Bank um ein
Darlehen nachsucht, muss er zum einen Eigenkapital mitbringen und zum anderen imstande sein, den entsprechenden Kapitaldienst zu leisten. Die Eigenheimzulage
ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Kapitaldienstfähigkeit einer Familie. Es ist für Familien ohnehin
schwierig genug, den verbleibenden Kapitaldienst zu bewältigen.
Wenn es bei dem, was Sie vorgeschlagen haben, bleibt,
wird der Bau und der Erwerb von privatem Wohnungseigentum noch mehr zurückgehen. Wenn Sie die Eigenheimzulage kürzen, werden in diesem Land noch weniger
Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen ein
Eigenheim erwerben können - und das, obwohl wir in
Deutschland ohnehin schon eine unterdurchschnittliche
Wohneigentumsquote haben.
Führen Sie sich bitte vor Augen: Der Erwerb von
Wohneigentum ist in unserem Land von ganz wesentlicher Bedeutung für die Altersvorsorge und die Vermögensbildung. Die Eigenheimzulage ist ein sinnvolles Instrument, die Bemühungen zur privaten Vorsorge und
Vermögensbildung zu unterstützen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf etwas hinweisen: Gebetsmühlenartig machen Sie uns immer wieder
darauf aufmerksam, dass wir die Wahl nicht gewonnen
hätten. Sie haben die Wahl nicht verloren, weil Sie die
Wähler getäuscht haben. Wortbruch und Wählertäuschung sind zum Markenzeichen Ihrer Politik geworden.
Die Eigenheimzulage ist dabei nur eines von vielen Beispielen.
({8})
Herr Kollege Müller, im Namen des Hauses gratuliere
ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundeskanzler meinte nach der Wahl, eine Mehrheit habe
für den Erhalt des Sozialstaates gestimmt und damit gegen eine Regierung von CDU/CSU. Das mag so sein; aber
das, was Sie in den letzten drei Wochen hier abgeliefert
haben, das sind klaftertiefe Einschnitte in den Sozialstaat.
Das hat mit der sozialdemokratischen Epoche, die der
Bundeskanzler auch nach dieser Wahl wieder ausgerufen
hat, nichts zu tun.
({0})
Damit wir uns nicht falsch verstehen, Frau Staatssekretärin: Auch ich meine, dass in der Bundesrepublik
Subventionen abgebaut werden können. Aber Subvention
ist nicht gleich Subvention. Man muss sehr genau hinschauen, wo etwas gestrichen wird.
Ich denke, Ihre Reihenfolge ist schlicht falsch. Erforderlich ist zuallererst einmal die Verbesserung der Situation in den Ballungszentren. Diese Situation treibt viele
Familien nicht nur aus den Städten, sondern in die einzig
bestehende Alternative. Wenn Sie schnell die Altschuldenfrage zugunsten von Wohnungsgenossenschaften und
den verbliebenen Wohnungsgesellschaften lösen, dann
können Sie auch an die Überprüfung der Subventionen
des Eigenheimbaues gehen,
({1})
und zwar nicht im Sinne von ersatzloser Streichung, sondern im Sinne der Förderung sowohl des privat und selbst
genutzten Wohneigentums als auch des genossenschaftlichen Wohnungserwerbs bzw. Wohnungsbaus.
In der Koalitionsvereinbarung ist nicht zu ersehen, was
Sie mit den eingesparten Mitteln durch den Wegfall der
Grundförderung tun wollen. Wollen Sie den sozialen
Wohnungsbau dort, wo noch notwendig, stärken? Wollen
Sie einen attraktiveren Stadtumbau Ost bewerkstelligen,
um die Flucht aus den Städten im Osten zu verhindern, indem Sie den Menschen dort eine lebenswerte Perspektive
geben? Oder sollen diese Gelder dem mittelständischen
Bausektor zugute kommen, zum Beispiel durch die Stadterneuerung und die Schaffung rechtsklarer Verhältnisse?
Selbst in dieser Stadt müssen für einige Straßenzüge
zunächst klare Rechtsverhältnisse geschaffen werden, bevor entsprechend investiert werden kann.
Ich habe noch einen Vorschlag, wie die Regierung sparen könnte,
({2})
nämlich durch die Abschaffung der steuerlichen Begünstigung nicht selbstgenutzten privaten Wohneigentums.
Sie könnten Abschreibungsmöglichkeiten streichen und
die dadurch eingesparten Gelder für die Verbesserung des
Lebens in den Stadtzentren einsetzen.
Danke schön.
({3})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung
der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der gesetzlichen Rentenversicherung ({0})
- Drucksache 15/28 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur
Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({2})
- Drucksache 15/27 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort die Kollegin Helga Kühn-Mengel von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition spricht nur
allzu gerne von einer hausgemachten wirtschaftlichen
Krise. Sie irrt auch in diesem Punkt.
({0})
Die Ökonomen sind sich einig: Wir haben es mit einer
globalen Konjunkturabkühlung zu tun.
({1})
Der weltwirtschaftliche Abschwung hat Spuren hinterlassen, sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei den sozialen Sicherungssystemen. In der gesetzlichen Krankenversicherung haben wir ein Einnahmeproblem. Zudem sind
die Ausgaben deutlich zu hoch; dies gilt insbesondere für
den Arzneimittelbereich. Auch die Einnahmen in der Rentenversicherung sind wegen der schwachen Konjunktur
unter dem erwarteten Niveau geblieben.
In ihrem Frühjahrsgutachten 2002 hatten die Wirtschaftsweisen für den Herbst eine wirtschaftliche Belebung prognostiziert. Wir durften deshalb mit Fug und
Recht hoffen, dass die aufgelaufenen Defizite in Höhe
von etwa 2,5 Milliarden Euro im zweiten Halbjahr weitgehend abgebaut werden können. Die weltweite Konjunkturabkühlung hat auch starke Auswirkungen auf die
deutsche Wirtschaft. Hier musste die Prognose ebenfalls
nach unten korrigiert werden. Deshalb, liebe Kolleginnen
und Kollegen, müssen wir feststellen, dass das Einnahmedefizit in der gesetzlichen Krankenversicherung zum
Jahresende 2002 etwa 1,5 Milliarden Euro betragen wird.
Aber wir handeln,
({2})
und zwar sowohl im Bereich der GKV als auch im Bereich der Rentenversicherung.
({3})
Ich möchte daran erinnern, dass uns die heutige Opposition einen Beitragssatz in der Rentenversicherung von
20,3 Prozent hinterlassen hat.
({4})
- Den Überschuss, von dem Sie reden, haben Sie auf dem
Rücken der Patientinnen und Patienten durch Zuzahlungen,
die Benachteiligung chronisch Kranker, Krankenhausnotopfer und andere Maßnahmen erwirtschaftet.
({5})
Wir haben inzwischen dafür gesorgt, dass die Rente für
ältere Menschen sicher ist und dass sie auch für die jüngeren bezahlbar bleibt.
({6})
Wir fördern die private Altersvorsorge mit fast 13 Milliarden Euro. Das hat noch nie eine Regierung getan.
Bitte erinnern Sie sich: Wir haben die Patientinnen und
Patienten von Zuzahlungen befreit,
({7})
die Arzneimittelzuzahlungen reduziert, chronisch Kranke
entlastet, die Zuzahlungen für Psychotherapie abgeschafft
und das Krankenhausnotopfer rückgängig gemacht. Wir
haben die Prävention, die Sie abgeschafft haben, wieder
eingeführt.
({8})
Wir haben vor allem die Qualität in der Behandlung
({9})
endlich erhöht und eine bessere Versorgung auf den Weg
gebracht.
({10})
Das Gebot in der Gesundheits- und Sozialpolitik lautet
im Moment: Beitragssatzsteigerungen nach Möglichkeit vermeiden. Jetzt steht die Politik
({11})
vor einer schwierigen und verantwortungsvollen Entscheidung. Sie kann, wie Sie es gemacht haben, die Hände
in den Schoß legen und Beitragssatzerhöhungen in Kauf
nehmen - oder sie gestaltet und ergreift kurzfristig Maßnahmen zur Gegensteuerung.
({12})
Für den letzteren Weg haben wir uns entschieden.
Die anstehenden Reformen entsprechend den Vorschlägen der Hartz-Kommission werden mittelfristig
dazu beitragen, die wirtschaftliche Situation und damit
auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
Sie werden die Einnahmebasis der Kranken- und Rentenversicherung verbreitern und verstärken. Steigende Lohnnebenkosten erschweren natürlich die Belebung des Arbeitsmarkts. In der Ära Seehofer ist die schwarz-gelbe
Koalition in derselben Situation auf den Dreh verfallen,
den Patientinnen und Patienten tiefer in die Tasche zu
greifen und Leistungen auszugrenzen. Das haben Sie gemacht! Diesen unsozialen Fehler wollen wir vermeiden.
({13})
Wir setzen weiter auf Qualität, auf Transparenz und
auf Solidarität. Unser Kostendämpfungskonzept
({14})
sieht vor, allen Hauptakteuren im Gesundheitswesen finanzielle Opfer abzuverlangen,
({15})
und wir meinen, dass dies gerechtfertigt ist. Sie sollen
ihren Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen der Krankenkassen beisteuern.
({16})
Die Belastungen fallen unterschiedlich aus. Den größten Konsolidierungsbeitrag fordern wir denjenigen ab, die
in den letzten Jahren von den Ausgabensteigerungen der
gesetzlichen, solidarisch finanzierten Krankenversicherung am meisten profitiert haben: pharmazeutische Industrie, Pharmagroßhandel und Apotheken.
({17})
In der Wertschöpfungskette Arzneimittel wollen wir im
Jahr 2003 über Großkundenrabatte 1,4 Milliarden Euro
einsparen.
Neben der Einführung von Rabatten auf der Herstellerund Verteilebene wollen wir auch das Problem der
Arzneimittel angehen, bei denen das Preis-LeistungsVerhältnis nicht stimmt. Hier unternehmen wir einen weiteren Schritt zur Kosten-Nutzen-Analyse von Medikamenten. Die Positivliste wird folgen.
Bei der Vergütung von Ärzten und Zahnärzten wird es
im Jahr 2003 keine Steigerung geben, es sei denn, wir finden Unterstützung in unserem Bemühen, mehr Qualität
und Effizienz ins System zu bringen.
({18})
Ich will in diesem Zusammenhang die strukturierten Behandlungsprogramme erwähnen, die wir auf den Weg gebracht haben und die endlich einmal den Patienten, die Patientin in den Mittelpunkt stellen, Transparenz schaffen,
Leitlinien geben, das System besser vernetzen und durchsichtiger machen. Das ist ganz entscheidend und soll belohnt werden.
({19})
Ärzte und Zahnärzte erleiden gegenüber dem Jahr
2002 also keine finanziellen Einbußen; Vertragsärzte
müssen lediglich auf eine Vergütungssteigerung von im
Durchschnitt 158 Euro im Monat verzichten.
({20})
Wir meinen: Das ist zumutbar.
Auch die Krankenhäuser werden im Jahr 2003 haushalten und mit den Budgets des Jahres 2002 auskommen
müssen.
({21})
Aber es gibt eine Reihe von Ausnahmen für die Kliniken.
Damit wollen wir diejenigen ermutigen und belohnen, die
Strukturveränderungen vorantreiben, eine mutige Reformpolitik unterstützen sowie Qualität und Wirtschaftlichkeit
stärken. Erste Ausnahmen gibt es für diejenigen, die das
Fallpauschalensystem für das Jahr 2003 eingeführt haben.
Sie werden also unterstützt. Sie können Budgets vereinbaren, bei denen die Steigerungsrate der Grundlohnsumme bis zur Obergrenze von 0,81 Prozent im Westen
und 2,09 Prozent im Osten ausgeschöpft wird.
Wir öffnen noch einen weiteren Korridor: Wir geben
den Krankenhäusern, die sich bisher noch nicht entscheiden konnten, dieses Entgeltsystem einzuführen, die Möglichkeit, bis zum Jahresende ihre Entscheidung zu überdenken, zu korrigieren und dieses neue System zu
unterstützen. Auch sie werden also belohnt werden.
({22})
Es sind inzwischen - auch dies soll einmal Erwähnung
finden; schließlich ist das wichtig - 470 von rund 2 000
Krankenhäusern, die sich für dieses System entschieden
haben.
Eine weitere Ausnahme sind Arbeitszeitmodelle, die
- genauso wie Rationalisierungsmaßnahmen - von uns
unterstützt werden. Nach geltendem Recht können auch
Krankenhäuser überbudgetäre Zahlungen von den Krankenkassen erhalten, wenn sie nicht in der Lage sind, BATSteigerungen aus ihrem Budget zu finanzieren.
Das alles zeigt, dass wir uns um diesen Bereich kümmern. Wir stärken diejenigen, die den Reformweg mitgehen, und halten es daher für völlig kontraindiziert, wenn
die Deutsche Krankenhausgesellschaft mit Plakaten und
in großen Anzeigen gegen unsere Politik vorgeht. Das
dafür verwendete Geld hätte sie besser gespart.
({23})
Die Höchstpreise für Zahnersatz werden um 5 Prozent
gesenkt. Dadurch sparen die Krankenkassen Ausgaben in
Höhe von 100 Millionen Euro. Wir haben uns des Weiteren auch an ein schwieriges Thema herangewagt: Das
Sterbegeld wird halbiert. Es ist nicht einfach, diesen Weg
zu gehen. Aber ich darf Sie daran erinnern, dass viele das
Sterbegeld für eine so genannte versicherungsfremde
Leistung halten. Wir erhalten immerhin noch die Hälfte
dieser Leistung.
Den Konflikt mit der privaten Krankenversicherung
um die Versicherungspflichtgrenze entschärfen wir. Wir
belassen es bei der jetzigen Gesetzesmechanik, wonach
die Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen
Krankenversicherung 75 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung beträgt. Nach der
Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze auf 5 100 Euro
liegt die Versicherungspflichtgrenze demnach bei 3 825
Euro. Sie gilt nicht mehr nur für Berufsanfänger, sondern
für alle Mitglieder der Krankenkassen. Wir erreichen mit
der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze, dass auch
junge, gut verdienende Arbeitnehmer mehr und länger als
bisher ihren solidarischen Beitrag leisten. Diesen brauchen wir, damit wir den Rücken freihaben und ohne Kosten- und Zeitdruck über eine Strukturreform - diese bereiten wir vor - diskutieren können. Wir wollen eine
Reformpolitik machen, die die Qualität weiter stärkt, die
Transparenz im Gesundheitswesen herstellt und die eine
optimale Versorgung für jeden Mann und für jede Frau
möglich macht.
({24})
Unterstützen Sie uns auf diesem Weg;
({25})
denn dieser ist gut für die Patientinnen und Patienten in
Deutschland.
({26})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Storm von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Heren! Frau Kollegin Kühn-Mengel, das, was Sie uns gerade erzählt
haben, war in Anbetracht der Uhrzeit - es ist erst
15:23 Uhr - eine vorgezogene Märchenstunde.
({0})
Ihre Rede zeugte davon, dass Sie unter einem erschreckenden Realitätsverlust leiden. Alles erfolgt nach
dem Motto: Schuld sind die anderen.
Es ist ja eigentlich ein Unding, dass wir heute überhaupt eine solche Debatte führen müssen. Frau Ministerin
Schmidt, Sie haben doch im Sommer gesagt: Bei der
Rente bekommen wir das in den Griff; es wird keine Beitragserhöhungen geben! Sie haben auch noch Anfang August in einer Debatte erklärt, zwar drohten bei den privaten Krankenversicherern steigende Beiträge, aber bei den
gesetzlichen Krankenkassen habe man alles im Griff. Die
gesetzlichen Krankenkassen wiesen in diesem Jahr kein
Defizit auf, niemand brauche sich Sorgen über mögliche
Beitragssteigerungen zu machen.
Nun, wenige Wochen nach der Bundestagswahl, stehen
Sie vor einem Scherbenhaufen. Die Behauptung, zwischen Anfang August und Anfang November sei die Weltkonjunktur zusammengebrochen und deshalb müsse der
Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung
angehoben werden, ist eine Lachnummer. Sie dient nur
dazu, die Menschen an der Nase herumzuführen.
({1})
Nun versucht Rot-Grün in heilloser Panik einen massiven Beitragsanstieg durch ein Vorschaltgesetz, das ein
verkapptes Notstandsgesetz ist, in letzter Minute zu stoppen.
(Widerspruch bei der SPD - Fritz Schösser
[SPD]: Wissen Sie, was Notstandsgesetze
sind? - Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was heißt
„verkappt“?
Aber kein Mensch glaubt ernsthaft, dass Ihnen das gelingen wird. Wir werden im nächsten Jahr einen neuen Rekordbeitrag bei den gesetzlichen Krankenkassen erleben.
Die 40 Krankenkassen, die bereits jetzt eine Erhöhung der
Beiträge beantragt haben, sind die Vorläufer. Wir werden
erleben, dass Anfang Dezember, also noch vor dem InKraft-Treten Ihres Vorschaltgesetzes, die Beiträge auf
breiter Front steigen werden.
Bei der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Lage
schlichtweg katastrophal.
({2})
Vor eineinhalb Jahren haben Sie eine so genannte Jahrhundertreform verabschiedet. Herr Riester sagte: Im Jahr
2003 werden wir einen Rentenbeitrag von 18,7 Prozent
haben. Vor der Bundestagswahl haben Sie immer noch behauptet, der Rentenbeitrag bleibe stabil bei 19,1 Prozent.
Nun erdreisten Sie sich und legen ein Vorschaltgesetz vor,
in dem steht, dass der Beitrag zur Rentenversicherung
ohne Korrekturen auf 19,9 Prozent steigen wird - eine
Veränderung von 1,2 Beitragssatzpunkten innerhalb von
eineinhalb Jahren.
({3})
Dazu kann man nur sagen: Schlimmer geht’s nimmer.
({4})
Wie hat die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
getönt und die Muskeln spielen lassen. Es war die Rede
von Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Fritz
Kuhn, der Grünen-Chef, erklärte noch am Montag dieser
Woche, am Ziel von 19,3 Prozent festzuhalten, sei für die
Grünen elementar und wichtig.
({5})
Sie sind als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.
({6})
Was ist denn aus den großen Sprüchen geworden? Wo ist
denn die Beitragsstabilität? Der Anstieg auf 19,5 Prozent
ist massiv. Was ist mit der Generationengerechtigkeit?
Was ist mit der Nachhaltigkeit?
Sie erklären nicht nur, dass die Beiträge massiv steigen, sondern gleichzeitig erhöhen Sie die Beitragsbemessungsgrenze von 4 500 auf 5 100 Euro. Das ist so
ziemlich die verrückteste Maßnahme, die man im Hinblick auf Generationengerechtigkeit machen kann;
({7})
denn die Konsequenz einer solchen Politik
({8})
ist doch, dass Sie zwar im nächsten Jahr ein bisschen mehr
einnehmen, in 20 Jahren aber, wenn die Probleme bei der
Alterssicherung kaum noch in den Griff zu bekommen
sind, höhere Ansprüche bestehen.
Ein ganz entscheidender Punkt: Sie zwingen ausgerechnet die Besserverdienenden - das sind oft die Facharbeiter, die Leistungsträger unserer Gesellschaft -, einen
höheren Teil ihres Einkommens für die gesetzliche Rente
aufzuwenden.
({9})
Damit versetzen Sie der ohnehin kaum angelaufenen
Riester-Rente den Todesstoß. Es macht keinen Sinn, eine
solche Politik zu betreiben.
({10})
Meine Damen und Herren, das Ganze wird mit dem
Vorhaben, die Rücklagen der Rentenversicherung weiter abzuschmelzen, auf die Spitze getrieben. Es war bereits ein Unding, dass Sie im vergangenen Jahr die
Schwankungsreserve auf 80 Prozent reduziert haben;
denn diesen Notgroschen brauchen die Rentenversicherer, damit sie auch dann, wenn die Einnahmen nicht rechtzeitig eingehen, in der Lage sind, die Renten aus eigener
Kraft zu finanzieren.
Die 80-Prozent-Marke werden wir in diesem Jahr weit
unterschreiten. Es ist sogar fraglich, ob noch 60 Prozent
erreicht werden. Sie aber reduzieren weiter und sagen:
Die Rentenversicherer brauchen nur noch 50 Prozent einer Monatsausgabe vorzuhalten. Damit ist völlig klar,
dass die Rentenversicherer spätestens in den Spätsommermonaten des Jahres 2003 die Renten nicht mehr aus
eigener Kraft bezahlen können.
Das bedeutet nicht, dass deswegen die Renten nicht gezahlt werden, es bedeutet aber, dass die Rentenversicherer dann Geld vom Finanzminister brauchen. Wenn der
Finanzminister seine Finger in den Kassen der Rentenversicherung hat, ist eines vorprogrammiert: Rente nach
Kassenlage. Deswegen ist dieses Vorhaben falsch und
schändlich.
({11})
Sie behaupten nun, die Probleme der Rentenfinanzierung mit einem Beitragssatz in Höhe von 19,5 Prozent im
Griff zu haben. Auch das ist ein Ammenmärchen. Der
Chef der Rentenversicherungsträger in Frankfurt am
Main, Professor Ruland, hat gestern in einem Interview
deutlich gemacht: Die Rentenfinanzen sind auch bei einem Beitragssatz von 19,5 Prozent, trotz all dieser Maßnahmen, „auf Kante genäht“. Das bedeutet: Auch die
19,5 Prozent werden wohl nicht ausreichen, um im nächsten Jahr eine ordentliche Finanzierung der Rente sicherzustellen. Damit sind auch die Beschwichtigungsversuche von Ihnen, Frau Schmidt, auf Sand gebaut. Sie haben
gestern wieder in Interviews erklärt: Der Beitragssatz
wird vielleicht schon 2004 auf 19,4 Prozent sinken und
2005 würde er weiter sinken. Wer sich dermaßen verschätzt hat wie Rot-Grün in den letzten 18 Monaten und
dann noch behauptet, der Beitragssatz würde im kommenden Jahr wieder heruntergehen, der legt eine Form
von Dreistigkeit an den Tag, die sich gewaschen hat.
({12})
Man braucht kein großer Prophet zu sein,
({13})
um vorauszusagen: Im Jahre 2004 werden die Beiträge für
die gesetzliche Rentenversicherung die 20-ProzentMarke übersteigen.
Nicht nur die finanzielle Situation in der Rentenversicherung ist katastrophal. Sie müssen ein totales Scheitern
auch in der Gesundheitspolitik konstatieren. Die Kollegin Kühn-Mengel hat den Versuch unternommen - nach
dem Motto: Schuld sind die anderen -, ein sozusagen
ehernes Naturgesetz zu formulieren, das besagt: Wir machen alles richtig; nur die Umwelt funktioniert nicht so,
wie sie soll. Das geht an den eigentlichen Ursachen der
Probleme der Sozialversicherung vorbei. Professor
Schwartz, der frühere Vorsitzende des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen,
hat Ihnen dieser Tage ins Stammbuch geschrieben, dass
wir es nicht in erster Linie mit einem Ausgabenproblem,
mit einem Kostenproblem zu tun haben, vielmehr handelt
es sich um ein selbst gemachtes Einnahmenproblem.
({14})
Die Beitragsbasis der sozialen Sicherungssysteme
schmilzt dahin wie Eis in der Sonne. Das hat vor allen
Dingen drei Gründe. Der erste Grund ist die verfehlte
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Über 4 Millionen
Arbeitslose auch in diesem Monat - heute kamen die neuesten Zahlen; es gibt wiederum eine Verschlechterung -,
über 40 000 Firmenpleiten, eine herabgesetzte Einschätzung der Wachstumsentwicklung - das alles entzieht den
Sozialversicherungsträgern Jahr für Jahr Milliardensummen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben es bereits
errechnet: Allein der Beitragssatzanstieg in der gesetzlichen Rentenversicherung im kommenden Jahr vernichtet
weitere 60 000 Arbeitsplätze. Das ist die Politik von RotGrün!
({15})
Es gibt aber einen weiteren Punkt, der zeigt, warum Sie
die Probleme selbst mit verursachen: Ich meine die Verschiebebahnhöfe zulasten der Sozialkassen.
({16})
Sie machen ein Paket für das Gesundheitswesen, über das
Sie sagen: Damit werden die Kassen um etwa 3,5 Milliarden Euro entlastet. Gleichzeitig wird die Sozialversicherung durch Ihre Maßnahmen im nächsten Jahr um
mehr als 2 Milliarden Euro geschröpft. Diese 2 Milliarden
Euro ergeben sich insbesondere als Konsequenz aus der
Gesetzgebung im Zusammenhang mit den Hartz-Vorschlägen. Der Bund zahlt dann weniger Beiträge für die
Empfänger von Arbeitslosenhilfe; sie sehen Maßnahmen
bei der Entgeltumwandlung vor, die den Sozialkassen
Geld entziehen. Das verrückteste Beispiel finden wir
beim Zahnersatz. Da werden die Leistungserbringer gezwungen, ihre Kosten zu reduzieren; gleichzeitig wird die
Mehrwertsteuer in diesem Bereich vom reduzierten auf
den vollen Satz erhöht. Absurder kann man eine solche
Politik nicht machen: Mit der einen Hand wird genommen, mit der anderen Hand wird zugunsten des Finanzministers gegeben.
({17})
Auch an anderer Stelle ist dieses Sparpaket in weiten
Teilen der pure Irrsinn. Ärzten und Krankenhäusern
verordnen Sie eine Nullrunde. Aber Sie übersehen dabei,
dass sich die laufenden Kosten nicht an staatlich verordnete Nullrunden halten. Krankenhäuser und Arztpraxen
werden Personal entlassen müssen; notwendige Operationen und Behandlungen werden verschoben werden müssen. In vielen Fällen wird wahrscheinlich sogar beides
eintreten. Das bedeutet: Rot-Grün geht nicht nur zulasten
der Versicherten, sondern auch und vor allen Dingen zulasten der Patienten. Darüber hinaus geht Rot-Grün zulasten der Beschäftigten im Gesundheitswesen.
Der nächste Punkt bezieht sich auf die dirigistischen
Eingriffe in die Arzneimittelpreisbildung. Sie sind ein
Musterbeispiel dafür, was ein Kanzlerwort heute noch
wert ist.
Noch vor einem Jahr hatte die Bundesregierung die Zusage gegeben, bis Ende 2003 auf gesetzliche Preisregulierungen zu verzichten. Man muss sich fragen, was davon übrig geblieben ist.
({18})
All diese Maßnahmen werden nicht nur die Versorgung
der Patienten verschlechtern, sondern sie werden auch
Arbeitsplätze im Gesundheitswesen vernichten. Allein
die Apotheken sind durch die Maßnahmen aus diesem
Sparpaket in letzter Konsequenz in einer Größenordnung
von 1 Milliarde Euro betroffen. Damit sind bis zu
20 000 Stellen bei den Apotheken gefährdet. Abgesehen
vom Verlust an Arbeitsplätzen, den dies hervorruft, abgesehen von den Problemen, die bei der Versorgung der Bevölkerung mit Apotheken auftreten werden, trägt dies vor
allen Dingen auch zu weiteren Ausfällen an Sozialbeiträgen
und Einkommensteuer bei. Durch diese Politik ist die Abwärtsspirale vorprogrammiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen weiteren Punkt in diesem Paket, den ich ansprechen möchte.
Die Verwaltungskosten sollen im nächsten Jahr nicht erhöht werden. Auf den ersten Blick erscheint das als eine
vernünftige Maßnahme. Aber die Frage ist doch: Warum
sind die Verwaltungskosten überdurchschnittlich gestiegen? Der Grund dafür liegt ganz eindeutig darin, dass RotGrün den Kassen immer wieder neue Verwaltungsaufgaben übertragen hat. Ich nenne nur wenige Stichworte:
Disease-Management-Programme sollen eingeführt werden; in den Krankenhäusern erfolgt eine Umstellung des
Abrechnungssystems auf Fallpauschalen; nehmen Sie die
Aut-idem-Regelung. All dies hat dazu geführt, dass die
Verwaltungskosten in diesem Jahr überdurchschnittlich
ansteigen mussten. Man braucht sich nicht zu wundern,
dass in den letzten vier Jahren Rot-Grün die Verwaltungskosten insgesamt um 15 Prozent gestiegen sind. Dann
aber zu erklären, die Verwaltungskosten würden pauschal
eingefroren, ist mit Sicherheit ein untaugliches Instrument.
({19})
Dass Sie, meine Damen und Herren, an den Erfolg Ihrer Einsparmaßnahmen selbst nicht glauben, wird daran
deutlich, dass Sie den Kassen vorschreiben wollen, sie
dürften die Beiträge nicht erhöhen. Wenn Sie wirklich
glaubten, die 3,5 Milliarden Euro kämen rein, dann
bräuchten Sie eine solche Maßnahme nicht in das Gesetz
zu schreiben.
({20})
Es ist klar: Die Verschiebebahnhöfe und die massiven
Probleme, die die Kassen haben, werden dazu führen,
dass die Beiträge auf breiter Front steigen. Für dieses Jahr
zeichnet sich ein Defizit ab, das wohl mindestens in einer
Größenordnung von 3 Milliarden Euro liegen wird. Deswegen ist absehbar, dass der durchschnittliche Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung im nächsten
Jahr eher bei 14,5 Prozent denn bei 14,3 Prozent liegen
wird.
Um die eigene Unfähigkeit zu vertuschen, gehen Sie
nun hin und setzen Kommissionen ein. Das ist für die
Rentenreform des vergangenen Jahres natürlich eine Beerdigung erster Klasse, da man gesagt hat, man habe im
letzten Jahr eine Jahrhundertreform gemacht. Man fragt
sich, ob die nächste rot-grüne Rentenreform vielleicht
eine Jahrtausendreform werden soll! Die ganze Zeit vor
der Wahl haben Sie behauptet, Sie hätten das Rentenproblem im Griff. Jetzt kommt eine Kommission und alles
beginnt wieder von vorne. Was soll das bedeuten? Im Gesundheitswesen ist es das Gleiche.
Im Grunde können Sie sich die Arbeit dieser Kommissionen sparen, wenn Sie dieses Vorschaltgesetz durch den
Deutschen Bundestag peitschen sollten. Denn es verschärft die Finanzprobleme sowohl der Rentenversicherung als auch der Krankenversicherung, anstatt sie zu entlasten. Mit einer solchen verkappten Notstandsgesetzgebung
fahren Sie die Sozialversicherung vollends gegen die
Wand. Deshalb, meine Damen und Herren: Kehren Sie
um! Nehmen Sie diesen Gesetzentwurf zurück! Sonst
werden wir im nächsten Jahr über einen weiteren saftigen
Anstieg der Sozialbeiträge und über das Ende der Sozialversicherung in der Form, wie wir sie seit Jahrzehnten
kennen, diskutieren müssen.
({21})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Das tue ich immer. - Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Storm, ich kann Ihnen versichern: Wir fahren die Sozialversicherungssysteme nicht
gegen die Wand. Die aktuelle Gesetzgebung dient dazu,
das zu verhindern.
Was die Rentenversicherung angeht, so werden die getroffenen Maßnahmen im kommenden Jahr die Finanzierung der Renten sicherstellen und einen Beitragsanstieg
auf 19,9 Prozent verhindern, nicht mehr und nicht weniger.
Wenn Sie dann von der Rente nach Kassenlage sprechen, kann ich nur sagen: Selbstverständlich kommt die
Rente aus einer Kasse. Die Frage ist doch nur, wie die Zuund Abflüsse in diese und aus dieser geregelt werden. Genau darüber diskutieren wir heute.
Sie kritisieren hier, die Schwankungsreserve werde zu
stark abgesenkt, wodurch die Renten in Gefahr seien.
Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen: Telefonieren
Sie doch einmal mit Norbert Blüm! Unter seiner Regentschaft lag die Schwankungsreserve schon mal bei 0,5. Damals wurden die Renten auch gezahlt.
({0})
Ich will nicht verhehlen, dass die getroffenen Maßnahmen nicht direkt dem Handbuch grüner Reformtugenden
entstammen.
({1})
Wir wissen nämlich sehr wohl, dass steigende Beiträge
eine Belastung des Faktors Arbeit bedeuten,
({2})
unter der insbesondere Klein- und Mittelbetriebe zu leiden haben. Wir wissen auch, dass steigende Beiträge in
der Rentenversicherung eine einseitige Belastung der jüngeren Generation bedeutet. Deswegen sagen wir Grünen,
dass das auf Dauer nicht so bleiben kann.
({3})
Meine Damen und Herren von der Opposition, die
Häme ist trotzdem fehl am Platz; denn es gibt eine Verständigung zwischen Rot und Grün, dass wir Ende des
Jahres eine weitere Rentenreform einleiten werden.
({4})
Den Weg dazu wird in der Tat eine Kommission ebnen.
Wir werden sehen, ob Sie dann immer noch lachen; denn
die Arbeit dieser Kommission wird sich am Leitwert der
Generationengerechtigkeit und am Ziel, die Beiträge zu
senken, orientieren.
({5})
Sie wird ihre Arbeit im Herbst beenden; wir haben einen
ambitionierten Zeitplan.
({6})
Dann ist das Parlament am Zug. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, dann werden wir mal sehen,
wer hier die Kraft zu Reformen aufbringt.
({7})
Die CDU/CSU will immer alles gleichzeitig. Die Unlogik ihrer Argumente kann man besonders gut anhand der
getroffenen Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung,
beim Sparpaket Gesundheit, erkennen. Erst geht die Sozialministerin Bayerns hin und sagt: Wunderschön, liebe Kassen, wenn ihr die Beiträge erhöhen wollt, kommt zu mir, ich
genehmige sie sofort. Sie lädt sie also geradezu dazu ein.
Dann stellt sich der Kollege hier hin und sagt: Oh Gott, es
gibt Beitragserhöhungen; das ist völlig unakzeptabel.
({8})
Dies hält er uns dann noch vor.
({9})
Ich frage Sie, Herr Kollege Zöller, ob das nicht ein Widerspruch in Ihrer Logik ist und wie Sie den erklären.
({10})
Im Übrigen habe ich heute Morgen Herrn Seehofer im
Radio gehört.
({11})
Er hat gesagt: Was Rot-Grün da macht, gefährdet die Versorgung. Ich sage Ihnen: Wenn die Beiträge erhöht werden, dann nur, damit die Versorgung nicht gefährdet wird.
So wird ein Schuh daraus.
({12})
Sie werden sich entscheiden müssen, ob Sie nun für
Beitragsstabilität oder ob Sie ein Sprachrohr für die Lobbyisten sind.
({13})
Man kann nicht gleichzeitig die Begrenztheit der Mittel
anerkennen und Everybodys Darling sein wollen; das
geht nicht. Ihre Rede vom Aufschwung betet keinen Aufschwung herbei. Was für den Arbeitsmarkt getan wird, tun
wir.
({14})
Die Arbeitsteilung heißt zurzeit: Die Opposition jammert
und die Regierung handelt.
({15})
Zum Gesundheitswesen gibt es klare Verabredungen
im Koalitionsvertrag; die werden umgesetzt.
({16})
Jetzt ergreifen wir Notmaßnahmen, um kurzfristige Beitragssteigerungen zu verhindern. Die Liste ist Ihnen bekannt. Die Kollegin Kühn-Mengel hat die Maßnahmen ja
genannt. Darauf will ich verweisen.
({17})
Wenn wir Einschränkungen für die Pharmaindustrie,
den Großhandel und die Apotheken vorsehen, dann ist zu
berücksichtigen, dass es im letzten Jahr eine Steigerung
der Arzneimittelausgaben um 30 Prozent gab, sodass
aufgrund dieser hohen Umsatzsteigerung Einbußen verkraftbar sein müssen, und dass es eine Steigerung der Arzneimittelausgaben pro Mitglied um 15 Prozent gab, was
medizinisch wohl kaum zu begründen ist.
Im Übrigen will ich auf einen Punkt hinweisen: Wenn
etwa ein Demenzmittel, das auf dem deutschen Markt
zunächst für 66,48 Euro verkauft wird, nach der EU-Zulassung und einer Namensänderung ohne Änderung der
Wirkstoffzusammensetzung für 109,64 Euro verkauft
wird, dann bezweifle ich, dass preisliche Regulierungen
den Forschungsstandort Deutschland gefährden.
({18})
Vielleicht sollten wir einmal über die Überlegungen
reden, die wir nicht realisiert haben. Wir erlegen den
Zahntechnikern nicht so viel auf, wie ursprünglich geplant.
({19})
Auch haben wir darauf verzichtet, den Krankenkassen
längere Zahlungsfristen einzuräumen, weil wir wohl wissen, wie sehr gerade Menschen im handwerklichen Bereich auf pünktliche Zahlungen angewiesen sind.
Es wird auch bei den Verwaltungskosten der Krankenkassen eine Nullrunde geben. Mich interessiert, ob die
CDU-Länder bei der Abstimmung im Bundesrat dagegen
sein werden und was Sie sich als Begründung einfallen
lassen werden. Ich bin wirklich neugierig, ob Sie die Verantwortung übernehmen werden, wenn Sie das verhindern.
Auch bei der Nullrunde für Ärzte und Zahnärzte denken wir, dass sie im Gesamtpaket verkraftbar ist. Bei den
Krankenhäusern ist es uns besonders wichtig, dass gerade
eingeleitete und bevorstehende Strukturreformen wie die
Einführung der Fallpauschalen und der Chronikerprogramme nicht gefährdet werden. Das ist natürlich auch
eine Frage der Motivation der Beschäftigten in den Krankenhäusern. Deswegen haben wir hier eine sehr weite
Öffnungsklausel vorgesehen, von der wir glauben, dass
sie berechtigt ist.
Auf der anderen Seite machen wir starke Einschränkungen beim Sterbegeld, das wir auf die Hälfte reduzieren. Ich weise darauf hin, dass das eine Leistung ist, die
von jüngeren Versicherten mitbezahlt wird, obwohl sie
darauf ohnehin keinen Anspruch mehr haben. Angesichts
all dessen ist es durchaus angemessen, dass die Versicherungspflichtgrenze moderat angehoben wird. Ich erinnere
daran, dass im letzten Jahr netto 210 000 Versicherte in die
private Krankenversicherung abgewandert sind.
({20})
Das sind meistens die Jungen und Gesunden, die so genannten guten Risiken.
({21})
Von den Besserverdienenden für die gesetzliche Krankenversicherung einen Solidarbeitrag einzufordern ist
außerordentlich berechtigt.
Kurz und gut: Was wir insgesamt tun, ist kein Ersatz für
Reformen. Das wird es nicht sein. Es ist eine Art Winterfestmachung
({22})
für ein Haus, das, so verspreche ich Ihnen, im Frühjahr
grundlegend umgebaut wird.
({23})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Rot-Grün hat vier Jahre regiert. Die erste entscheidende Handlung war, ein Notprogramm im Gesundheitswesen aufzulegen. Das war hoch kreativ. Man muss
sagen: Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist ein Rationierungspaket.
({0})
Das Erstaunliche ist: Die Einnahmenseite wird massiv
zurückgefahren. Die Kosten für die Arbeitslosenversicherung schätzt man auf 700 Millionen Euro. Experten sprechen aber schon von 900 Millionen Euro. Das Brückengeld, das eingeführt wird, vermindert ebenfalls massiv die
Möglichkeiten, eine vernünftige finanzielle Grundlage zu
bekommen. Hier hat die Gesundheitsministerin in der politischen Auseinandersetzung massiv verloren,
({1})
aber zulasten der Patienten. Das ist das Problem.
({2})
Ich muss sagen: Die Krankenkassen werden in Zukunft
nicht die Beiträge erhöhen, sondern sie werden das Leistungspaket einschränken. Sie werden mit den Leistungserbringern schlechtere Vereinbarungen zulasten der Patienten treffen. So läuft das ab.
({3})
Wenn Sie großzügig über Zahlungsziele sprechen,
frage ich Sie: Ist Ihnen das Verhalten der Krankenkassen
in der Praxis bekannt? Wissen Sie, wie lange die Zahlungen der Krankenkassen an die Krankenhäuser ausstehen?
Wie läuft das denn? Wenn ein Patient abgerechnet wird,
kommen in der Regel viele Nachfragen. Es dauert doch
jetzt schon bis zu einem Jahr, bis die Rechnungen der
Krankenhäuser bezahlt werden.
({4})
Sie behaupten, die Nullrunde in den Krankenhäusern
sei nicht so gravierend, und bieten Ausstiegsmöglichkeiten. Schauen Sie sich doch einmal an, wie es vor Ort aussieht! Vor Ort werden sich die Krankenkassen anders verhalten; das gilt auch für den ambulanten ärztlichen
Bereich. Sie meinen, für die niedergelassenen Ärzte
bringe es keine finanziellen Probleme, eine Nullrunde zu
akzeptieren. Aber allein für Brandenburg, wo eigentlich
eine Steigerung von etwas mehr als 2 Prozent erfolgen
soll, bedeutet eine Nullrunde für die ambulante medizinische Versorgung einen Rückgang in Höhe von 12 Millionen Euro.
({5})
- Doch, das ist so. Schauen Sie sich das genau an!
Brandenburg hat schon genug Probleme bei der ambulanten Versorgung. Viele Praxen können nicht mehr besetzt werden. Die Verantwortlichen in Brandenburg hatten
geglaubt, sie könnten Anreizsysteme schaffen, um die
freiberufliche ambulante ärztliche Versorgung zu stärken.
Aber das geschieht jetzt nicht. Sie wollen bekanntlich die
Polikliniken, ich aber halte das für den falschen Weg der
medizinischen Versorgung.
({6})
Krankenhäuser werden Wartezeiten in Kauf nehmen
müssen. Patienten werden sich in der ambulanten Versorgung ebenfalls verstärkt auf Wartezeiten einstellen müssen. Vonseiten der Zahnärzte und vor allem der Zahntechniker wurde schon mehrmals festgestellt, wie schizophren
Ihre Lösung ist.
Sie gehen davon aus, dass es vielleicht teilweise populär wäre, auch im Arzneimittelbereich zuzuschlagen.
Ich versichere Ihnen aber, dass auch das zulasten der Patienten und der Arbeitsplätze in der Bundesrepublik
Deutschland gehen würde.
Gestern hat der Vorstandsvorsitzende einer großen
deutschen Pharmafirma deutlich zum Ausdruck gebracht,
dass, wenn dieses Gesetz auf den Weg gebracht wird, die
Forschung die Bundesrepublik Deutschland verlassen
wird. Forschung im Pharmabereich wird in Deutschland
so gut wie nicht mehr stattfinden. Das bedeutet, dass hoch
innovative Arbeitsplätze vernichtet werden. Aber das
scheint Sie nicht zu interessieren.
({7})
Sie wollen nur eines: Sie wollen alles gleichmachen.
Sie wollen den Patienten in Deutschland zwar versprechen, dass es bei der Selbstbeteiligung bleibt, aber es ist
eine 100-prozentige Selbstbeteiligung, die der Patient in
Kauf nehmen muss, da er die Leistungen sonst nicht mehr
bekommt.
({8})
Wenn er diese Leistungen bekommen will, muss er eine
private Krankenversicherung abschließen.
({9})
Das ist ein Betrug am deutschen Volke und an den deutschen Patienten! Sie werden das bald feststellen. Im Frühjahr werden die Patienten erkennen, dass Ihre Politik reiner Betrug ist.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Kollege Thomae, mit einem haben Sie Recht:
Rot-Grün hat vier Jahre regiert und wird auch weiter
regieren.
({0})
Sie haben aber 16 Jahre mit regiert und was war das
Ergebnis?
({1})
Ein Berg von Schulden für unser Land und ein Berg von
Zuzahlungen für die Patientinnen und Patienten. Wir aber
gehen einen anderen Weg.
({2})
Herr Storm hat 16 Minuten geredet, kritisiert und
gemäkelt, aber keine Sekunde lang auch nur eine einzige
Alternative genannt. Das aber ist zu wenig, Herr Storm.
({3})
Deshalb sind Sie 1998 abgewählt und 2002 nicht wiedergewählt worden.
({4})
Wenn Sie den Begriff Notstandgesetzgebung in den
Mund nehmen, lieber Herr Storm, dann empfehle ich Ihnen, nachzulesen, was dies bedeutet.
({5})
Dann stellen Sie vielleicht nicht mehr solche Vergleiche
an.
({6})
Wir, die Koalitionsfraktionen, unternehmen große Anstrengungen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Heute
haben wir die Umsetzung des Hartz-Konzeptes auf die
Schiene gesetzt und mit dem Gesetz zur Sicherung der
Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung
und in der gesetzlichen Rentenversicherung werden wir
dieses flankieren und die Lohnnebenkosten stabilisieren.
Die Rentenversicherung ist auf der Einnahmenseite
nun einmal von der Weltwirtschaft und von der Konjunktur betroffen.
({7})
Schauen Sie doch einmal in die USA, schauen Sie nach
Japan und sehen Sie sich in Europa um!
({8})
Deutschland als ein stark exportorientiertes Land ist nun
einmal von der weltwirtschaftlichen Situation abhängig.
Deshalb sind auch die Beitragseinnahmen niedriger, als
noch zur Jahresmitte angenommen werden konnte. Viele
Unternehmen haben übertarifliche Lohn- und Gehaltsbestandteile auf Tariferhöhungen angerechnet. Es gab nun
einmal Entlassungen im Bankenbereich. Der Neue Markt
ist auch nicht das, was viele sich davon versprochen haben. Die Kirch-Pleite und der Konkurs der Maxhütte seien
ebenfalls als Beispiele genannt. Es trifft die Menschen,
die arbeitslos werden, und die Sozialsysteme, denn Lohnersatzleistungen müssen gezahlt werden, aber Beitragszahler fehlen.
Wenn wir jetzt eine maßvolle Steigerung des Beitrags
zur Rentenversicherung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber beschließen wollen, dann ist das nun einmal der wirtschaftlichen Lage geschuldet. Gleichzeitig flankieren wir
damit aber die Anstrengungen des Wirtschafts- und Arbeitsministers. Wir setzen darauf, dass zukünftig wieder
mehr Menschen erwerbstätig sein können. Dann werden
auch wieder mehr Menschen Beiträge für RentenverDr. Dieter Thomae
sicherung und Krankenversicherung bezahlen und auch
die Steuereinnahmen werden höher sein.
({9})
Das Beitragssicherungsgesetz legt den Beitragssatz auf
19,5 Prozent fest. Damit begeben wir uns auf einen soliden, sicheren Weg
({10})
und tun alles, um einen höheren Anstieg zu verhindern. Wir
erreichen das mit einer maßvollen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze von 4 500 Euro auf 5 100 Euro pro
Monat in den alten Bundesländern sowie von 3 750 Euro
auf 4 250 Euro in den neuen Bundesländern. Ich weiß,
dass wir damit den Beschäftigten mit einem höheren Einkommen Teile ihres Einkommens belasten, welche bisher
beitragsfrei waren. Das löst bei den Betroffenen keinen
Jubel aus. Wer zahlt schon gerne mehr?
({11})
Ich bitte aber zu bedenken, dass die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auch höhere Rentenanwartschaften bedeutet. Man bekommt etwas dafür.
({12})
Auf der Grundlage der heutigen Beitragsbemessungsgrenze erwerben diese Arbeitnehmer 1,8 Entgeltpunkte
pro Jahr, zukünftig werden es 2 Entgeltpunkte sein. Wir
setzen damit auch auf die Solidarität in unserer Gesellschaft. Solidarität endet nicht bei 4 500 Euro
({13})
und es ist richtig, dass stärkere Schultern mehr tragen. Ich
bin der Meinung, dass dieser Weg auch konjunkturpolitisch richtig ist.
({14})
Nun noch ein Wort zur Schwankungsreserve. Wir verzichten darauf, die Schwankungsreserve auf 80 Prozent
einer Monatsausgabe aufzufüllen und vermeiden dadurch
einen noch höheren Beitragssatz. Es ist aber immer noch
eine ausreichende Schwankungsreserve vorhanden. Auch
bei dem niedrigeren Zielkorridor von 50 bis 70 Prozent
muss kein Rentner und keine Rentnerin befürchten, dass
die Rente nicht pünktlich gezahlt wird. Die Rente ist umlagefinanziert. An den Ansprüchen heutiger und zukünftiger Rentner ändert sich dadurch nichts.
({15})
Es gibt nun einmal ausreichende Erfahrungen aus der Vergangenheit, Herr Storm; das haben Sie vergessen in Ihrem
Vortrag zu sagen. Unter dem früheren CDU-Arbeitsminister Blüm ist die vorgesehene Schwankungsreserve häufig
unterschritten worden und die Renten wurden trotzdem
pünktlich gezahlt. Der Bund garantiert die Liquidität der
Rentenversicherung. Rentnerinnen und Rentner können
also sicher sein, dass die Rente pünktlich auf dem Konto
ist.
({16})
Nun hat Herr Laumann heute Morgen in der Debatte
zum Arbeitsmarkt die Forderung nach einem KleineJobs-Gesetz erhoben. Dieses Gesetz soll vorsehen, dass
bei Einkommen bis 400 Euro keine Sozialversicherungspflicht besteht. Für Einkommen zwischen 400 Euro und
800 Euro soll es einen verminderten Beitrag geben, der,
was immer das heißt, „eingeschliffen“ werden soll.
Für das Jahr 2002 erwarten wir Beitragseinnahmen aus
Arbeitsverhältnissen geringfügig Beschäftigter in Höhe
von 3,6 Milliarden Euro. Wenn wir Ihren Vorschlag umsetzten, dann bedeutete das weitere Einnahmeverluste der
Rentenversicherung und der Krankenversicherungen in
Milliardenhöhe.
({17})
Das hätte höhere Beiträge, Leistungskürzungen oder
mehr private Vorsorge zur Folge. Aber das sagen Sie
nicht; diese Antwort bleiben Sie schuldig.
({18})
Was Sie vorschlagen, ist keine Lösung für unser heutiges
Problem.
Sie geben keine Antwort darauf, woher die Menschen
die Mittel für ihre Altersvorsorge nehmen sollen.
({19})
Da setzen Sie offensichtlich auf die von Ihnen bekämpfte
und von uns durchgesetzte soziale Grundsicherung.
In Matthäus 7 Vers 15 heißt es:
Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie
reißende Wölfe.
({20})
Ihr Vorschlag bedeutet Schwächung und Entsolidarisierung. Er ist ganz einfach populistisch. Ich habe heute weder von Ihnen, Herr Storm, noch von Ihnen, Herr Thomae,
auch nur eine einzige Alternative gehört.
({21})
Unser dreiteiliges Paket ist insgesamt eine sozial ausgewogene Lösung für schwierige Probleme. Mit dem,
was wir heute vorlesen - ({22})
- Ach, du lieber Himmel! Herr Storm, Sie haben doch
ebenfalls vorgelesen. Tun Sie doch nicht so! - Mit dem,
was wir heute vorlegen, verteilen wir die Lasten auf möglichst viele Schultern. Uns geht es darum, das Rentensystem stabil zu halten und gleichzeitig dafür zu sorgen,
dass die verfügbaren Einkommen so hoch wie möglich
sind. Wir bedenken auch bei diesem Gesetz, dass die
Kaufkraft gestärkt werden muss. Ich denke, die Menschen
werden das verstehen.
({23})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Zunächst: Ich weiß nicht, in welcher Veranstaltung ich bin. Auf der Tagesordnung steht: Beratung der
von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen eingebrachten Gesetzentwürfe. Dennoch wundern Sie sich, dass wir nicht über etwas anderes reden. Es
sind doch Ihre Vorlagen, über die wir hier so bescheuert
diskutieren müssen!
({0})
Ich stelle mir schon die Frage, was eine Ministerin eigentlich dazu bewegte, kurz vor der Wahl festzustellen,
das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung werde
sich gegen Ende des Jahres ausgleichen, und zwar bei stabilen Beiträgen. Die warnenden Hinweise der Opposition
wurden als Panikmache hingestellt. Die gleiche Ministerin holte unmittelbar nach der Wahl ein so genanntes Notprogramm aus der Schublade, das drastische Kürzungen
der Leistungen für die Patienten und für die Leistungserbringer im Gesundheitssystem vorsieht.
({1})
Ich frage mich schon: War die Welt eine Woche vor der
Wahl anders als eine Woche nach der Bundestagswahl?
({2})
Wenn dem nicht so war, dann muss ich mir die Frage stellen: Hatten Sie Wahrnehmungsstörungen? Diese Frage
muss man verneinen. Sie hatten nämlich ein Notprogramm
schon vorbereitet; also können Sie keine Wahrnehmungsstörungen gehabt haben. Es bleibt nur der Schluss übrig:
Sie haben bewusst Falschinformationen gegeben. Man
könnte auch sagen: Es waren Lügen, die Sie den Leuten
vor der Wahl bewusst aufgetischt haben.
({3})
Der knappe Wahlsieg ist auf Lügen aufgebaut. Sie würden jetzt am liebsten zur Tagesordnung übergehen; aber es
gebietet die politische Kultur, dass man dies nicht schweigend zur Kenntnis nimmt. Nichts hat Rot-Grün mehr zu
fürchten als die Wahrheit. Die Art und Weise, wie RotGrün mit der Opposition und mit den Verbänden umgeht,
kann man nur mit den Worten „Machtarroganz kontra
Sachargumente“ überschreiben. Wer, wenn es um die Gesundheit der Menschen geht, mit der Wahrheit so schlampig umgeht, der verspielt sehr viel an Glaubwürdigkeit.
({4})
Da stellt sich ein Bundeskanzler hin und spricht vom
„Gejammere der Verbände“. Meine sehr geehrten Damen
und Herren, es geht hier nicht primär um Verbände, sondern um Arbeitsplätze. Es geht um Existenzen ganzer Betriebe. Es geht um Existenzen von ganzen Familien. Diese
beschweren sich nicht, dass die Konjunktur schlecht ist
und sie Einnahmeverluste zu verzeichnen haben. Nein, sie
beschweren sich zu Recht darüber, dass Rot-Grün die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenversicherung dramatisch verschlechtert,
({5})
indem sie mit Beitragsgeldern andere Haushaltslöcher
subventioniert und den daraus entstehenden Fehlbetrag
bei Patienten und Leistungserbringern abkassiert.
({6})
Deshalb muss man es als schäbig bezeichnen, wenn der
Bundeskanzler mit der Formulierung „jammernde Verbände“ von den berechtigten Sorgen vieler einzelner Betroffener, ob Krankenschwester, Zahntechniker oder Patient, einfach ablenken will. Wenn Sie schon die Sorgen
von Zahntechnikern, Patientenverbänden und Apothekern
nicht ernst nehmen, sollten Sie doch wenigstens die Argumente von Verdi ernst nehmen. Dort spricht man von
der Gefährdung von 36 000 Arbeitsplätzen in den Krankenhäusern.
Eine besonders widersinnige Regelung ist im Bereich
des Zahnersatzes von Ihnen vorgeschlagen worden.
Eichel und Rot-Grün beschließen eine Mehrwertsteuererhöhung bei Zahnersatz von 7 auf 16 Prozent.
({7})
Auf der einen Seite soll bei zahntechnischen Leistungen
gespart werden, auf der anderen Seite bürdet man den
Kassen mit dieser Regelung Mehrbelastungen in Höhe
von über 200 Millionen Euro auf. Jetzt kommt die ideale
Lösung von Rot-Grün. Nachdem man den Kassen eine
Mehrbelastung in Höhe von 200 Millionen Euro durch die
Mehrwertsteuererhöhung aufgebürdet hat, macht man einen Vorschlag zur Gegenfinanzierung: Die Vergütung für
zahntechnische Leistungen wird zunächst um 10 bzw.
- das ist jetzt die neueste Version - um 5 Prozent gekürzt,
obwohl bei den Ausgaben für Zahnersatz und besonders
für zahntechnische Leistungen in den letzten Jahren ein
beispielhafter Beitrag zur Stabilisierung der Ausgaben geleistet worden ist. Warum ausgerechnet dieser Sektor ein
Sonderopfer bringen soll, müssen Sie einmal jemandem
erklären. Ich finde bestimmt keinen, der das versteht.
({8})
Dieser Eingriff ist völlig überzogen und trifft mit den
Zahntechnikern eine besonders schwache Gruppierung
im Gesundheitswesen. Die ursächlich auf Eichel zurückgehenden Mehrausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen durch eine Preisabsenkung bei Zahnersatz auf
dem Rücken der zahntechnischen Betriebe und deren Mitarbeiter auszugleichen halte ich schlicht und ergreifend
für eine Unverschämtheit, die fachlich durch nichts zu begründen ist. Im Übrigen ist vor dem Hintergrund der EUUmsatzsteuerrichtlinie, nach der Lieferungen von Zahnersatz nicht der Umsatzbesteuerung unterliegen sollen,
diese Maßnahme mehr als fragwürdig.
({9})
Noch ein Wort zu den Grünen. Sie haben sich ja oft als
Partei der Nachhaltigkeit ausgegeben.
({10})
Das einzig Nachhaltige, das ich momentan bei Grün erkenne, ist, dass sie täglich ihre Meinung ändern.
({11})
Ihre Fraktionsvorsitzende Frau Sager
({12})
lehnt beispielsweise den geplanten Beitragsstopp in der
gesetzlichen Krankenversicherung ab, da es das falsche
Signal sei. Gleichzeitig lehnt sie die Erhöhung der Rentenbeiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent ab. Falls es aber
doch dazu komme, dürfe nicht gleichzeitig die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden, denn es dürfe
keine Zweifachbelastung geben und die Lasten dürften
nicht auf künftige Generationen verschoben werden. Die
Begründungen waren alle richtig. Nur: Keine einzige
wurde umgesetzt.
({13})
Getreu dem Motto eines Kabarettisten, der in dieser
Woche im Fernsehen gesagt hat: Die Grünen haben den
Roten die Zähne gezeigt. Was kam dabei heraus? - Nichts,
denn die Roten haben den Grünen ihr Gebiss nicht
zurückgegeben.
({14})
Daran ist leider sehr viel Wahres.
Jetzt frage ich mich natürlich: Warum bringt Rot-Grün
momentan so viel Unruhe in unser Gesundheitswesen? In
der gestrigen Ausschusssitzung wurden die Maßnahmen,
die Sie heute hier einbringen, erstens mit Defizit und
zweitens mit Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen
Krankenversicherung begründet. Wer allerdings die Zahlen richtig registriert hat, muss zu dem Ergebnis kommen,
({15})
dass die Bürger schon wieder hinters Licht geführt werden. Die Staatssekretärin spricht von einem Defizit von
1 bis 1,5 Milliarden Euro.
({16})
Das heißt, hätte Rot-Grün nicht über 1 Milliarde Euro in
andere Haushalte verschoben und hätte nicht die Ministerin durch ihre unsinnige und unzeitige Ankündigung, die
Versicherungspflichtgrenze anzuheben, eine weitere Einnahmeverschiebung von 1 Milliarde Euro zu verantworten, hätten die gesetzlichen Krankenversicherungen in
diesem Jahr einen Überschuss. Ausschließlich rot-grüne
Fehler sind also die Ursache des Defizits, das die Krankenkassen diesmal zu verzeichnen haben.
({17})
- Für Sie mag das Blödsinn sein; aber das sind einfache
Rechnungen, die man nachvollziehen kann.
Aber es kommt noch dicker. Nach Ihrem Vorschlag sollen nämlich nicht nur 1 Milliarde Euro, sondern 3 bis
3,5 Milliarden Euro abkassiert werden, da durch die zu erwartende Umsetzung der Hartz-Vorschläge noch weitere
Quersubventionen erforderlich seien.
Das ist der eigentliche Skandal bei Ihren Vorschlägen:
Kranke und Leistungserbringer finanzieren die Verschiebebahnhöfe von Rot-Grün.
({18})
Die derzeitigen GKV-Probleme sind das Ergebnis
falscher rot-grüner Politik. Mit diesem Notprogramm verstärken Sie die Probleme, statt sie zu lösen. Deshalb kann
ihm kein vernünftiger Mensch zustimmen.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Wir sind auf der Suche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
es noch einmal auf den Punkt bringen, um es auch nach
außen deutlich zu machen: Wir langen den Kranken auch
in dieser Situation nicht in die Tasche.
({0})
Wir führen keine Strafabgabe für Patienten ein. Wir werden das Solidarsystem sichern. Wir fordern von den Patientinnen und Patienten auch nichts zurück, zum Beispiel
im Arzneimittelbereich, sondern wir belassen es bei der
Freistellung, sodass heute nur jede zweite Patientin bzw.
nur jeder zweite Patient in der Apotheke zuzahlen muss.
Es wird nichts zurückgenommen.
({1})
Wir fordern aber umgekehrt von den Anbietern einen
Solidarbeitrag, der ausgewogen ist und niemanden überfordert. Das müsste mir erst jemand nachweisen, dass eine
Arztpraxis mit 158 Euro Belastung im Monat überfordert
wäre und daraus vielleicht sogar Konsequenzen in Form
von Personalentlassungen ziehen müsste.
Trotz allem schaffen wir ein Sparvolumen von bis zu
3 Milliarden Euro. Das belegt einen zentralen Punkt, nämlich dass Gesundheitspolitik wie Rudern gegen den Strom
ist: Wenn man aufhört, treibt man zurück. Im Gegensatz
zu Ihnen haben wir nie aufgehört, sondern uns immer
kräftig ins Zeug gelegt. Das hat Früchte getragen. Wir realisieren ein Einsparvolumen von bis zu 3 Milliarden Euro,
ohne die Patientinnen und Patienten zu belasten.
Wenn man einmal in die Gesundheitsgeschichte zurückgeht und sich die Reformen blümscher und seehoferscher
Natur ansieht, dann fallen einem zwei Aspekte auf:
({2})
erstens die Kurzatmigkeit bei der Nachhaltigkeit und
zweitens die Tatsache, dass die Patienten bei Ihren Reformen immer den Kürzeren gezogen haben. Wenn Sie sich
also hier hinstellen und von Qualität oder gar der Sicherstellung der Qualität reden, ist das sehr anmaßend, um das
einmal vorsichtig auszudrücken,
({3})
ganz zu schweigen davon, dass Sie in Bezug auf Alternativkonzepte eine Fehlanzeige zu verbuchen haben.
Ich habe das entsprechende Seehofer-Zitat aus der Debatte zum Beitragsentlastungsgesetz im Jahr 1996 herausgesucht:
Wir werden morgen das Beitragsentlastungsgesetz
verabschieden und damit erstmals seit langer Zeit in
der gesetzlichen Krankenversicherung ab 1. Januar
- gemeint ist der 1. Januar 1997 die Beiträge um 0,4 Beitragspunkte senken. Das entlastet die Beitragszahler um 7,5 Milliarden DM.
({4})
Aber schon 1998 mussten Sie den Offenbarungseid
leisten; denn trotz des so genannten Überschusses, den der
Kollege Zöller angeführt hat, waren die Beitragssätze in
der Amtszeit von Herrn Seehofer seit 1991
({5})
von 12,3 auf 13,6 Prozent gestiegen. Dass Sie das Erfolgsrezept in der Tasche haben, mögen Sie erzählen,
wenn Sie lustig sind. Die Konsequenz war klar: Sie wurden abgewählt,
({6})
weil sich gezeigt hat, dass Ihre Reformen kurzatmig waren und letztendlich immer mit einem Kahlschlag in Richtung Patienten verbunden waren. Sie haben Ihr Ziel verfehlt.
({7})
Woran liegt es, dass Sie Ihr Ziel verfehlt haben? Viele
Experten sind der Meinung, dass Sie erstens die Einsparpotenziale im Arzneimittelbereich nicht genutzt haben
und dass Sie zweitens die Qualitäts-, Wirtschaftlichkeitsund Steuerungsdefizite nicht beseitigt haben. Wir lernen
aus Ihren Fehlern und ziehen daraus die richtigen Konsequenzen.
({8})
Wir werden einen anderen Weg gehen, um die Reformen
voranzubringen.
Auch Ihr Ruf nach mehr Geld im System ist nicht hilfreich. Sie wissen sehr wohl, dass dies der kleinste gemeinsame Nenner ist, den Sie mit den Anbietern finden
können. Wir sagen: Solange das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Wettbewerb nicht wieder seine
hohe Effizienz erlangt hat, das heißt, solange für das viele
Geld keine angemessene Gegenleistung und keine angemessene Qualität geliefert wird, dürfen wir weder den Patienten noch den Beitragszahlern in die Tasche greifen.
({9})
Sie haben immer einen großen Bogen der Opportunität
um den heißen Brei der Arzneimittel gemacht. Wir schaffen mit unserem Gesetz endlich Fakten, weil die vorhandenen Probleme nach Lösungen rufen.
({10})
Der Arzneiverordnungsreport 2002 spricht von einem
Einsparvolumen von 4,2 Milliarden Euro. Wir müssen anfangen, diese Einsparungen zu realisieren.
Auch die Mehrausgaben im Arzneimittelbereich im
Jahre 2001 in Höhe von 2 Milliarden Euro waren alarmierend. Aber noch alarmierender ist, dass die Fachleute
der Meinung sind, dass 1 Milliarde Euro dieser Ausgaben
medizinisch nicht begründbar ist. Deshalb wollen wir von
den Herstellern einen Rabatt von 0,4 Milliarden Euro für
Horst Schmidbauer ({11})
Horst Schmidbauer ({12})
die große Versichertengemeinschaft bekommen. Deshalb
wird der Großhandel ein Drittel seiner Naturalrabatte in
einen Rabatt von 0,6 Milliarden Euro umwandeln. Wir
sind nämlich der Auffassung, dass die Naturalrabatte in
die Tasche der Versicherten und ihrer Krankenkassen und
nicht in die Taschen des Großhandels gehören.
({13})
Deshalb werden sich die Apotheken mit einem Rabatt
von 0,35 Milliarden Euro beteiligen, um für Patienten und
Versicherte einen angemessenen Anteil durch die Kappung der Höchstpreise zu realisieren. Deshalb werden wir
die Positivliste per Gesetz einführen. Sie soll nicht noch
einmal geschreddert werden und als Geburtstagsgeschenk
an den Geschäftsführer eines Pharmaverbandes gehen.
({14})
Mit der Positivliste werden wir Transparenz schaffen und
Qualität sichern, aber auch Einsparungen erreichen, was
wichtig ist für die Deckung der Kosten, die sich aus weiteren Aufgabenstellungen ergeben.
Deshalb werden wir die hochpreisigen Analogpräparate in die Festbetragsregelung einbeziehen. Diese Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen, die nur einen geringen Zusatznutzen aufweisen, sollen wie vor
1996 in die Festbetragsregelung kommen. Damit haben
wir die Chance, dass die wirklichen therapeutischen Innovationen davon unberührt bleiben. Das sind die richtigen Signale an die forschende Arzneimittelindustrie;
denn falsche Signale führen zu falschen Entwicklungen in
diesem Bereich.
({15})
Unser Ziel ist also nicht Kostendämpfung zulasten der
Patienten und schon gar nicht Kostendämpfung als Ersatz
für Reformen. Mit dem Vorschaltgesetz stärken wir die
Reformkräfte. Wir sagen: Wer sich als Facharzt, als
Hausarzt oder im Krankenhaus an den Chronikerprogrammen, den Disease-Management-Programmen, beteiligt, erfüllt bei der Nullrunde einen Ausnahmetatbestand. Wir sagen: Wer in den Krankenhäusern ab dem
1. Januar 2003 das neue Fallpauschalengesetz anwendet
und damit erreicht, dass nach Leistung abgerechnet wird
und nicht mehr nach der Zahl der belegten Betten, erfüllt
einen Ausnahmetatbestand. Wir sagen: Wer eine mit dem
Betriebsrat abgeschlossene Vereinbarung zur Einhaltung
des Arbeitszeitrechts vorweisen kann, erfüllt einen Ausnahmetatbestand.
Nur so können wir die notwendigen Reformen durchführen und bekommen die Geschwindigkeiten, die wir
brauchen, um die in einem großen Umfang bestehende
Über- und Unterversorgung rasch abzubauen.
Zum Schluss hoffe ich, dass, wenn nicht mein Appell,
vielleicht der der heutigen Ausgabe der „Zeit“ hilft. Dort
steht:
({16})
Die Interessenvertreter zu bezwingen wird nicht einfach sein, ebenso wenig wie die Überzeugungsarbeit
bei den Patienten und der Opposition. Jahrelang hat
die Union sich vor Einschnitten gedrückt, jetzt soll
sie wenigstens die Reformen ihrer Nachfolger unterstützen. Die Zeit drängt.
Ich hoffe, dieser Appell fruchtet.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, im Koalitionsvertrag die Worte „Generationengerechtigkeit“ und
„Nachhaltigkeit“ nachzuzählen.
({0})
Das Ergebnis war, dass das Wort „Generationengerechtigkeit“ sechsmal und das Wort „Nachhaltigkeit“ sogar
19-mal im Koalitionsvertrag stand. Schöne Worte ersetzen aber keine Taten. Der erste Lackmustest zeigt, dass
die Forderung nach Generationengerechtigkeit nur ein
Lippenbekenntnis ist.
({1})
Allein der Titel des vorliegenden Gesetzes ist ein
Hohn. Beitragssatzsicherungsgesetz heißt es. Viel treffender wäre: Beitragserhöhungsgesetz. Denn anstatt die
Beiträge in der Rentenversicherung zu sichern, werden
sie schamlos erhöht.
({2})
Vor der Wahl haben Sie vollmundig stabile Beiträge versprochen, um nach der Wahl voll zuzulangen.
Der Kollege Poß von der SPD spricht von einer sozial
gerechten Beteiligung aller Gruppen. Von wegen! Das
Loch in der Rentenkasse wird allein zulasten der Beitragszahler
({3})
und damit allein zulasten der jungen Generation gestopft.
({4})
Das einzig Nachhaltige an dieser Politik ist, dass Sie
nachhaltig Wahlversprechen brechen.
({5})
Im Interesse der Generationengerechtigkeit, Frau
Kollegin, sind die notwendigen Anpassungslasten so zu
verteilen, dass die Erwerbstätigen sie eben nicht allein
schultern. Auch die heutigen Rentner müssen einen Beitrag leisten. Mit den Anpassungsschritten muss deshalb
jetzt begonnen werden. Denn je schwächer die Anpassungen heute ausfallen, desto größer wird die Last für die
Rentner des Jahres 2030 sein.
({6})
Rot-Grün spricht davon, mit einem Rentenbeitrag
von 19,5 Prozent sei man auf der sicheren Seite.
({7})
Frau Ministerin Schmidt, Sie sagen, dass die Beiträge bis
2006 nicht mehr steigen würden, 2005 sogar wieder sinken könnten. Ich sehe es schon kommen: Spätestens in einem Jahr werden wir hier erneut über steigende Beitragssätze beraten.
({8})
Denn das ist nichts Neues. Vor fast genau einem Jahr, am
9. November 2001, hat die damalige Parlamentarische
Staatssekretärin Frau Mascher hier im Bundestag erklärt
- ich zitiere wörtlich -:
Deswegen halten wir den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung für stabil. Wir werden
den Rentenversicherungsbeitrag auch im kommenden Jahr bei 19,1 Prozent halten.
({9})
- Genau, am 9. November 2001.
Allein dieses Beispiel zeigt: Sie wollten und wollen
den wahren Reformbedarf nicht sehen.
Frau Ministerin Schmidt, schon Ihr Vorgänger als Rentenminister, Herr Blüm, hat den Reformbedarf nicht
wahrhaben wollen. Bei Blüm hieß es immer: „Die Rente
ist sicher.“ Bei Ihnen, Frau Schmidt, heißt es anscheinend
nun: Der Beitragssatz ist sicher. - Die Formulierungen ändern sich; das Prinzip bleibt das gleiche. Frau Ministerin
Schmidt, machen Sie nicht den gleichen Fehler! Doktern
Sie nicht an den Symptomen herum, sondern gehen Sie an
die Ursachen und legen Sie endlich eine nachhaltige Rentenstrukturreform vor. Das ist nötig.
({10})
Die Probleme, die steigende Beiträge mit sich bringen,
sind doch bekannt. Nach Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft kostet allein die Erhöhung des
Rentenbeitragssatzes auf 19,5 Prozent - in diesen Berechnungen ist noch nicht die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze enthalten - 60 000 Arbeitsplätze.
({11})
Wann erkennt die Bundesregierung endlich den Teufelskreis: Jede Steigerung des Beitragssatzes kostet
Arbeitsplätze, da die Unternehmen die steigenden Lohnnebenkosten durch Rationalisierungen und Entlassungen
auffangen? Jeder zusätzliche Arbeitslose aber reißt neue
Löcher in die Kassen der Sozialversicherungssysteme.
Die Folge ist schon heute erkennbar: weitere Steigerungen der Beitragssätze und noch mehr Arbeitslosigkeit.
Diese Politik verdient nur das Etikett „Arbeitsplatzvernichtungsprogramm“.
({12})
Zu den Grünen. Die Grünen haben in dieser Debatte
die Klappe ganz schön weit aufgemacht und haben danach keine Zähne mehr gehabt; die SPD weiß auch nicht,
wo sie geblieben sind.
({13})
Frau Kollegin Bender hat eben festgestellt: Die Rente
kommt sehr wohl aus der Kasse. Das ist eine Einsicht wie
die, dass der Strom aus der Steckdose komme.
({14})
Die Grünen hatten sich die Generationengerechtigkeit auf
die Fahnen geschrieben - sehr löblich. In ihrem Grundsatzprogramm - wenn ich das einmal zitieren darf - heißt
es: „Wir treten ein für Generationengerechtigkeit.“ Wie
die Grünen die Erhöhung auf 19,5 Prozent dann aber als
Kompromiss verkaufen können, ist mir vollkommen
schleierhaft.
({15})
Das ist kein Kompromiss, liebe Grüne, das ist eine Niederlage auf der ganzen Linie.
({16})
Frau Kollegin Bender, ich habe den Eindruck, die Grünen klammern sich jetzt an den Strohhalm der Kommission. Jetzt soll eine Kommission für die Wunder zuständig sein, die zu vollbringen die Regierung nicht imstande
war. Das Problem ist, dass wir dabei Zeit verlieren. Wann
wird die Kommission denn die Ergebnisse vorlegen? Das
wird doch erst im Jahre 2003 sein. Die Umsetzung dieser
Ergebnisse, Frau Kollegin, wird dann erst im Jahre 2004
stattfinden. Das heißt, Sie sagen allen - vor allem der jungen Generation -, sie müssen noch zwei Jahre länger warten. Das wird die junge Generation und das werden wir als
Opposition nicht hinnehmen.
({17})
Meine Damen und Herren, warum brauchen wir überhaupt eine neue Kommission? Wir hatten doch genügend
Kommissionen und Arbeitsgruppen, die Konzepte vorgelegt haben. Allein in diesem Jahr wurde das Ergebnis der
Kommission „Demographischer Wandel“ vorgelegt. Tun
Sie nicht so, als ob darin keine Vorschläge enthalten waren; darin waren viele sehr gute Vorschläge enthalten. Es
kommt darauf an, diese Vorschläge umzusetzen, anstatt
alles immer nur auf die lange Bank zu schieben.
({18})
Durch die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze
werden 1,5 Millionen Betroffene noch zusätzlich, also
Daniel Bahr ({19})
Daniel Bahr ({20})
doppelt belastet. Der Vorschlag trifft keine Millionäre,
sondern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dem
Einkommensbereich, in dem Steuerprogression und Erhöhung der Bemessungsgrenze in der Summe Gehaltserhöhungen vollständig aufzehren. Rot-Grün spricht von
einer maßvollen Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Frau Kollegin Lotz hat auch noch gesagt: Dafür
bekommen sie ja auch etwas. - Natürlich bekommen sie
etwas dafür, nämlich Rentenansprüche. Genau das verschärft das Problem noch, weil Sie damit den Verschiebebahnhof weiter fortsetzen. Das werden wir als FDP-Fraktion nicht mitmachen.
Herzlichen Dank.
({21})
Herr Kollege Bahr, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede hier im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen
alles Gute für die Zukunft.
({0})
Als nächster Redner spricht für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es tut weh, wenn man nicht das Ziel erreicht hat, das
man sich für den 22. September gewünscht hat; das merken wir. Wir werden nicht davon ablassen - da können Sie
noch so viel Kritik äußern -, Sozialpolitik hier in diesem
Haus gerecht, innovativ, effizient und auch transparent zu
gestalten. Das bleibt Leitbild unserer Politik in diesem
Land.
({0})
Wir haben die längst fälligen Reformen angepackt, die
Sie liegen gelassen haben, als Sie abgewählt worden sind.
Die Bürgerinnen und Bürger haben uns dafür am 22. September erneut das Mandat gegeben. Dass das in schwierigen Zeiten passiert ist, in Zeiten großer globaler Veränderung und wirtschaftlicher Herausforderung, zeigt
eigentlich doppelt, dass wir hier auf dem richtigen Weg
sind. Sie können davon ausgehen, dass Solidität und
Solidarität auch in Zukunft die Grundpfeiler unserer sozialen Sicherungssysteme bleiben werden.
Wir sorgen für Stabilität und Generationengerechtigkeit. Deswegen möchte ich kurz auf den Beitrag meines Vorredners antworten, was die Generationengerechtigkeit angeht. Wir wissen, dass unser Rentensystem ein
Umlagesystem ist, bei dem immer die jetzige Generation
für die Generation einzahlt, die gestern eingezahlt hat,
und für die jüngere Generation, die nachwächst. Wenn
man das Niveau betrachtet, auf dem die heutige junge Generation arbeitet und lebt, dann kann man mit ganz großer
Sicherheit sagen, dass es einer jungen Generation in der
Geschichte Deutschlands noch nie so gut gegangen ist wie
heute. Das haben sie den Älteren zu verdanken, die dieses
Land aufgebaut haben.
({1})
Die ältere Generation ist auch an der Generationengerechtigkeit im Rahmen der Rentenreform, die wir gemacht haben, beteiligt. Wenn jetzt die private Altersvorsorge aufgebaut wird, ist sie mit daran beteiligt, weil der
Anteil, der dafür aufgewendet wird, auch bei ihrer Rentenberechnung eine Rolle spielt und weil damit ihre Renten auch langsamer ansteigen werden. Also fangen Sie
nicht an, hier einen Krieg zwischen den Generationen anzuzetteln; denn das schadet diesem Land.
({2})
Das sollte man schon gar nicht dann tun, wenn man sozusagen eine große Baustelle hinterlassen hat.
({3})
Die Modernisierung der Alterssicherung war längst überfällig. Ihre Rentenpolitik bestand am Ende in Kürzungen,
Kappungen und Niveauabsenkungen, ohne den Menschen die Gelegenheit zu geben, als Ausgleich für das
Alter privat vorzusorgen.
Die jüngere Generation haben Sie mit ständig steigenden Beiträgen belastet.
({4})
Allein in den letzten fünf Jahren Ihrer Regierungszeit sind
die Beiträge von 17,5 Prozent auf 20,3 Prozent gestiegen.
Wenn Sie nicht Ende des Jahres 1997 die Mehrwertsteuer
noch um einen Prozentpunkt angehoben hätten, dann
wären wir bei 21,3 Prozent gelandet. Das war die Ausgangslage, als wir die Regierung übernommen haben.
({5})
Bei Ihnen lag der Beitragssatz bereits 1985 bei
19,2 Prozent. Dann haben Sie ein bisschen verschoben
und das im Zusammenhang mit der deutschen Einheit verbraucht. 1994 ist der Satz von 17,5 Prozent auf 19,2 Prozent gestiegen, also um 1,7 Prozentpunkte. Also werfen
Sie uns heute an der Stelle nicht Schamlosigkeit vor,
meine Damen und Herren!
({6})
Ihre Politik hat nichts mit Generationengerechtigkeit
und schon gar nichts mit einer gewinnbringenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu tun gehabt.
({7})
Von den Folgen hat sich dieses Land bis heute noch nicht
erholt. Wir arbeiten daran, das in Ordnung zu bringen.
({8})
Wir haben in den letzten vier Jahren die Beiträge von
20,3 Prozent auf 19,3 Prozent und 19,1 Prozent gesenkt.
({9})
Die Lohnnebenkosten sind von 42,5 Prozent um 1,3 Prozentpunkte gesenkt worden. In Ihrer letzten Amtsperiode
sind sie um 3,4 Prozentpunkte gestiegen. Da, auf der rechten Seite, sitzt die Koalition der Lohnnebenkostenerhöhungen. Da, auf der linken Seite, sitzt die Koalition der
Lohnnebenkostensenkungen. Nehmen Sie das einmal zur
Kenntnis!
({10})
Mit dem größten Aufbauprogramm in Deutschland fördern wir jetzt auch die private Altersvorsorge mit gut
13 Milliarden Euro bis zum Jahr 2008. Wir bringen auch
Transparenz hinein, sodass die Menschen jetzt sehen,
welche Ansprüche sie im Alter an die Rentenversicherung
haben. Seit Mitte dieses Jahres erhalten die Bürgerinnen
und Bürger sukzessive Bescheinigungen, die ihnen zeigen, was sie künftig erwarten können. Dann kann jeder
deutlich erkennen, wie er vorsorgen muss und wie er das
am besten anstellt.
Die aktuelle wirtschaftliche Schwächephase ist kein
Problem, das Deutschland allein trifft.
({11})
Es handelt sich - das müssen auch Ihre Ökonomen zur
Kenntnis nehmen - um einen weltweiten Konjunktureinbruch,
({12})
der sich auf die Staatsfinanzen auswirkt und der sich
natürlich auch auf die Sozialhaushalte auswirkt. Der
Sachverständigenrat ist bei seinen Prognosen auf der Basis dessen, was im Juni zu berücksichtigen war, und vor
dem Hintergrund der zu erwartenden Tarifabschlüsse bis
hin zu der Lohnentwicklung im Jahr 2003 davon ausgegangen, dass wir bei den Pflichtbeiträgen eine Einnahmeerhöhung von gut 2,5 Prozent haben werden. Bis
einschließlich September waren in der Rentenversicherung aber nur 0,36 Prozent zu verzeichnen.
({13})
Wenn Sie an der Regierung wären, würden Sie sich auch
auf die vorliegenden Zahlen der Sachverständigen berufen und Ihre Planungen darauf aufbauen.
Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, die Engpässe in den Sozialkassen zu beheben
({14})
und auch sozial ausgewogen - ich erinnere an die intensiven Anstrengungen, die zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht werden - zu beheben. Die anfallenden Mehrbelastungen wollen wir nicht nur irgendwem aufbürden, sondern wir versuchen, sie denen
aufzubürden,
({15})
die etwas stärkere Schultern haben, und sie auf alle Beteiligten sozial gerecht zu verteilen.
({16})
Das Schiff Rentenversicherung haben wir von Ihnen
als Reparaturfall übernommen.
({17})
Wir haben es für die Zukunft gerüstet.
({18})
Jetzt gilt es eigentlich nur, bei schwerer See die Stabilisatoren rechtzeitig und kombiniert zu nutzen, damit das
Schiff auch gut durch diese schwere See kommt.
({19})
Schwere See ist eine Herausforderung für jedes Schiff.
Wir haben aber keinen Grund, an der Seetüchtigkeit des
Schiffs - um das einmal ganz deutlich zu sagen - und damit an der Reform zu zweifeln.
({20})
Ein Stabilisator ist die Beitragsbemessungsgrenze, die
wir behutsam anheben. An der Stelle muss man ganz deutlich sagen: Sie müssten schon einmal erklären, warum die
Einforderung von Solidarität bei den Menschen aufhören
soll, die doppelt so viel verdienen wie ein Durchschnittsverdiener.
Ein weiterer Stabilisator ist die Schwankungsreserve.
Vorgesehen ist, vorübergehend auf das Wiederauffüllen
auf den bisherigen Wert von 80 Prozent zu verzichten. Wir
wollen eine Senkung der Schwankungsreserve auf einen
Korridor von 50 bis 70 Prozent einer Monatsausgabe. Damit reagieren wir flexibel auf die konjunkturelle Situation. Die Rentenversicherung ist dadurch nicht gefährdet.
Herr Storm, machen Sie den Menschen von diesem
Rednerpult aus nicht unnötig Angst!
({21})
Schauen Sie sich Ihre eigene Regierungszeit an. Die
Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass der vorgeschriebene Zielwert in der Praxis über Jahrzehnte nicht
erforderlich war. Die finanziellen Reserven der Rentenversicherung lagen in den letzten drei Jahren Ihrer Regierungszeit bei 60 bzw. 70 Prozent. Dadurch war die Zahlungsfähigkeit der Rentenversicherungsträger nicht
gefährdet. Faktisch ist die Rentenversicherung in
Deutschland immer umlagefinanziert gewesen. Das heißt,
die Schwankungsreserve ist dazu da, konjunkturelle
Schwankungen auszugleichen. Wenn wir also vorübergehend den Zielwert der Schwankungsreserve senken, dann
tun wir damit niemandem weh. Wir sorgen vielmehr
dafür, dass die jüngere Generation nicht mit überdimensionierten Beitragserhöhungen belastet wird.
Sie wollen die Schwankungsreserve in vollem Umfang
erhalten, obwohl Sie wissen, dass es darüber hinaus die
Möglichkeit gibt, den Bundeszuschuss vorzuziehen, und
dass am Ende auch noch eine Bundesgarantie für die Renten steht.
({22})
Sie kommen mir vor wie ein älterer Herr in einer etwas
ausgelatschten Hose, der Gummizug, Hosenträger und
Gürtel zu gleicher Zeit haben will. Wer so viel Sicherheit
haben will, dem trauen die Menschen nicht. Dafür haben
Sie bei der Bundestagswahl die Quittung bekommen.
({23})
Der Beitragssatz lässt sich durch die Maßnahmen, die
wir jetzt eingeleitet haben, bei 19,5 Prozentpunkten stabilisieren. Damit liegen wir noch immer unterhalb des von
Ihnen übernommenen Beitragssatzes von 20,3 Prozentpunkten. Herr Kollege Storm, Sie sollten Herrn Ruland in
Gänze zitieren. Er hat nämlich in der gestrigen Ausgabe
der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ auch deutlich gemacht,
dass es bei der momentanen Konstellation der Stabilisatoren keine Alternative zur Festsetzung des Beitragssatzes
auf 19,5 Prozentpunkte gibt.
Ich möchte abschließend noch etwas zu der geplanten
Kommission zur nachhaltigen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme sagen. Der Kollege Seehofer hat
gesagt: Wenn jemand ein Ministeramt übernimmt, sollte
er sein Handwerk so beherrschen, dass er in der Lage ist,
für Deutschland ein Problem zu lösen. Anschließend kritisiert er die Einrichtung der Kommission.
({24})
Vorsicht, Herr Kollege Seehofer! Kennen Sie noch die
Kommission zur Pflegeversicherung? Die fiel in Ihre
Amtszeit. Kennen Sie noch die Kommission zu den Tierversuchen? Die fiel in Ihre Amtszeit. Kennen Sie noch die
Kommission zur Krankenhaushygiene? Auch die fiel in
Ihre Amtszeit. Kennen Sie noch die blümsche Kommission zur Rentenreform? - Auch die fiel in Ihre Amtszeit.
Und was ist aus den Vorschlägen dieser Kommissionen
geworden? Der Unterschied zu heute ist, dass aus all diesen Vorschlägen nicht allzu viel geworden ist.
({25})
- Die haben wir ja gemeinsam auf den Weg gebracht.
({26})
Jetzt liegt ein Paket mit Vorschlägen der Hartz-Kommission auf dem Tisch, das mit aller Konsequenz durchgesetzt werden wird. Die Kommission - bitte hören Sie zu -,
die zur nachhaltigen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme eingesetzt werden soll, wird Vorschläge zur
Pflegeversicherung, zur Krankenversicherung und zur
Rentenversicherung erarbeiten. Ich bin sicher, dass sie
gute Ergebnisse zeitigen wird.
Sie können davon ausgehen: Unser Reformwille wird
auch bei der Umsetzung der Ergebnisse dieser Kommission grenzenlos sein. Wir werden die Ergebnisse konsequent umsetzen; denn uns liegt sehr viel daran, dass unser
Land in der Form modernisiert wird, dass die soziale Gerechtigkeit bewahrt wird, dass Arbeitsplätze geschaffen
werden und dass auch wirtschaftliches Wachstum möglich ist.
Schönen Dank.
({27})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
fraktionslos.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat im
Augenblick den Eindruck, dass die Regierungskoalition
glaubt, in Anbetracht der desolaten FDP das Erbe der
Liberalen antreten zu müssen. Egal ob es um die HartzKommission, um die Eigenheimzulage oder um das
Gesundheitssystem geht, überall wird der Rückzug des
Staates propagiert, obwohl der Kanzler vor der Bundestagswahl erklärt hat, dass sich nur die Reichen einen
schwachen Staat leisten könnten.
Die PDS will vor allem einen sozialen Staat, der nicht
die Krankenkassen aussaugt und nicht die Gesundheitslasten auf die Patientinnen und Patienten sowie auf die Beschäftigten des Gesundheitswesens abwälzt. Hier gibt es
eine Menge sinnvoller Vorschläge. So kann zum Beispiel
die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel gesenkt bzw. aufgehoben werden. Allein das beließe 2 Milliarden bis 3 Milliarden Euro an Versicherungsbeiträgen bei den Krankenkassen, die sich bisher der Fiskus aneignet. Wichtige
sozialpolitische Leistungen wie das Mutterschaftsgeld
oder die Zahlungen bei Erkrankung von Kindern müssen
endlich durch einen Bundeszuschuss an die gesetzliche
Krankenversicherung finanziert werden. Das würde weitere 1 Milliarde bis 2 Milliarden Euro ausmachen.
Stattdessen schwächt Rot-Grün die Finanzkraft der gesetzlichen Krankenversicherung sogar weiter. Durch die
vorgesehenen Senkungen - darüber haben wir heute Morgen diskutiert - bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe stehen auch den Kassen weniger Beiträge zur Verfügung. Damit treiben Sie die Kassen in das nächste
Finanzloch.
Richtig ist es - nicht all Ihre Vorschläge sind von uns
negativ zu bewerten -, die Arzneimittelausgaben zu verringern, indem überhöhte Medikamentenpreise gesenkt
und die Gewinne der Pharmaindustrie zumindest etwas
beschnitten werden. Auch eine Positivliste für Arzneimittel und das Einfrieren der Verwaltungsausgaben der Kassen sind seit langem überfällige und durchaus gerechtfertigte Maßnahmen.
Wir übersehen auch nicht, dass Rot-Grün das Solidarsystem erhalten und die Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vordergründig durch höhere Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen der Patienten oder
durch eine Einführung von Regel- und Wahlleistungen
beheben will. Natürlich ist auch die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze, die die Schwelle für den Übergang in eine private Krankenversicherung erhöht, ein
Schritt in die richtige Richtung. Aber das ist nur die eine
Seite der Medaille.
Für völlig falsch und unangemessen halten wir dagegen die für 2003 vorgesehene Nullrunde bei der Finanzierung der ambulanten und der stationären Versorgung.
Das wird sich in jedem Fall negativ auf die Behandlung
kranker Menschen auswirken, auch wenn von den Vertretern der rot-grünen Koalition hartnäckig versucht wurde,
dies zu leugnen.
Man muss es klar sagen: Auch dieser neue Spareingriff
geht sowohl zulasten der Patientinnen und Patienten als
auch der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Sie wissen
doch, dass vor allen Dingen in den Krankenhäusern für
Ärzte und Schwestern teilweise schon heute unerträgliche
Arbeitsbelastungen herrschen und Personalabbau, Arbeitsverdichtung und Tarifdruck weiter zunehmen. Das
gilt auch für die Krankenhäuser, die im Jahr 2003 noch
nicht zur Kalkulation nach Fallpauschalen übergehen und
denen eine Nullrunde ausdrücklich zugemutet werden
soll.
Sie, meine Damen und Herren von der rot-grünen Regierung, werden den Druck auf Ärztinnen und Ärzte,
Schwestern und damit natürlich auch auf die Patientinnen
und Patienten verstärken - und das ist nicht in Ordnung.
Besonders bei jenen Ärzten, die - so ist das in Ostdeutschland häufiger der Fall - seit längerem kein angemessenes Einkommen mehr erzielen, wird die Frustration
weiter wachsen. Die ohnehin bedrohlich gesunkene Motivation des medizinischen Nachwuchses, unter solchen
Bedingungen ärztlich tätig zu werden, wird sich weiter
verringern. Das ist nicht gut für unser Gesundheitssystem.
Mit Ihren Maßnahmen, meine Damen und Herren von
der rot-grünen Regierung, werden Versorgungsdefizite
vorprogrammiert. Das wollen wir nicht, das ist nicht gut
für unser Gesundheitssystem und das muss wieder verändert werden.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans Georg Faust
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün,
Verschleiern und Schönreden, gebrochene Versprechen,
vollkommen unangemessene Hektik und ein heilloses
Durcheinander sind inzwischen die Markenzeichen Ihrer
Gesundheitspolitik.
Herr Staatssekretär, Sie haben mit Blick auf den
Sicherheitsgedanken unsere Hose als Gummizughose mit
Hosenträgern und Gürtel beschrieben. Sie brauchen diese
Hilfsmittel natürlich nicht mehr; denn Sie stehen inzwischen bezüglich der Gesundheits- und Rentenpolitik vollkommen ohne Hose da.
({0})
Selten hat sich die Wahrnehmung so geändert wie in
den letzten sechs Wochen. Vor der Wahl war alles in Ordnung, alle Bedenken waren Panikmache und es hieß: Die
Krankenversicherung wird am Ende des Jahres einen ausgeglichenen Haushalt haben. Heute befindet sich die deutsche Krankenversicherung - ich sage es medizinisch - im
Reanimationsstadium: schnelle Beatmung und Herzmassage, sonst stirbt der Patient. Das deutsche Parlament wird
zum Emergency Room.
({1})
Sie von Rot-Grün hoffen, den Patienten Krankenversicherung mit Ihren verzweifelten Notfallmaßnahmen so
lange am Leben erhalten zu können, bis er die eigentliche
Therapie - die immer wieder versprochene, aber nie eingetretene Gesundheitsreform - noch erlebt. Winterfest
machen habe ich dazu eben gehört.
Aber den Kollegen, insbesondere den ärztlichen Kollegen in der Regierungsfraktion ist klar, dass die Götter
vor die Therapie die Diagnose gesetzt haben. Die Diagnose, die dem deutschen Gesundheitssystem die katastrophale Situation beschert, sind die demographische
Entwicklung und der medizinisch-technische Fortschritt.
Beides haben Sie bei Ihren Therapieüberlegungen vollkommen ausgeblendet.
Nun zu dem so genannten Vorschaltgesetz. Wenn
schon die rot-grüne Politik der Vergangenheit mit Einführung eines neuen Preissystems in den Krankenhäusern, mit Einführung von integrierten Versorgungssystemen, mit Überlegungen zu Leitlinien gestützter Medizin
und Krankheitsfallmanagement richtig gewesen sein soll,
wenn weitere Reformschritte auf diesem Weg Elemente
einer modernen Gesundheitspolitik sein sollen, dann ist
dieses Gesetz geradezu der Todesstoß für diese moderne
Entwicklung.
({2})
In einer Zeit, in der Leistungserbringer, Ärzte und
Krankenhäuser, die Arzneimittelindustrie, Patientenselbsthilfegruppen und Krankenkassen auf Veränderungen warten, müssten Sie, wenn Sie Ihre eigenen bisherigen Vorschläge ernst nehmen, Geld in die Hand nehmen,
damit über Investitionen die zukunftsweisenden Veränderungen durchgeführt werden können. Was tun Sie? - Sie
würgen mit Nullrunden jede Veränderung ab und verschlechtern für alle, insbesondere für die Patienten, die
Bedingungen.
({3})
Beispiel: Im letzten Moment, Frau Ministerin Schmidt,
fällt Ihnen ein, dass Sie mit den Nullrunden für Krankenhäuser die DRG-Optionen für 2003 torpedieren. Erst als
die Krankenkassen - wie ich es im eigenen Haus erlebt
habe - die Budgetverhandlungen für 2003 beim Stichwort
Nullrunde sofort abbrechen, wird Ihnen der deutliche
Nachbesserungsbedarf an einem hektisch gemachten Gesetz klar.
({4})
Im letzten Moment werden die umsteigewilligen - inzwischen sind es 437 - Krankenhäuser mit einer Steigerung von sage und schreibe 0,81 Prozent auf die Leimrute
geführt, wodurch sich natürlich der ja so notwendige
Einsparungsbetrag des Vorschaltgesetzes weiter reduziert. Das, Frau Ministerin Schmidt, ist keine solide Gesundheitspolitik. Das ist unkontrolliertes und panikartiges
Handeln in einer Notfallsituation, was nicht hätte sein
müssen, wenn die deutsche Öffentlichkeit vor der Wahl
nicht so schamlos in die Irre geführt worden wäre.
({5})
Gestern im Ausschuss: Irreführung oder neuer Streitpunkt zwischen Rot-Grün auch bei der Frage einer Nachfrist für die vom Köder 0,81 Prozent angelockten Krankenhäuser. Gestern erklärte uns die Kollegin Bender von
den Grünen im Ausschuss, dass eine Nachfrist vereinbart
sei.
({6})
Die SPD, Frau Kühn-Mengel, spricht dagegen von Absichtserklärungen, die im weiteren Gesetzgebungsverfahren umgesetzt werden können. Was ist denn nun Sache
hier?
({7})
Dieses Gesetzgebungsverfahren dauert gerade noch
eine Woche; das ist hektisch. Eine Anhörung sowie die
zweite und dritte Lesung finden nächste Woche statt.
({8})
Wann erhalten wir Klarheit über die letzten Chancen für
die Krankenhäuser, insbesondere für die vielen kleinen
Krankenhäuser, die sich mit der zusätzlichen Umstellungsbürokratie auf das neue Preissystem einstellen müssen? Geben Sie den Krankenhäusern Klarheit, Frau Ministerin! 40 000 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.
Katastrophale Auswirkungen gibt es nicht nur im
Krankenhausbereich. Es gibt sie ebenso für die niedergelassenen Ärzte, die nach Jahren der Budgetierung, nach
Jahren der Regressangst und der existenziellen Nöte für
ihre Praxen und Mitarbeiter, insbesondere auch in den
neuen Bundesländern, eine weitere Belastung in Form einer so genannten Nullrunde erfahren. Denn diese Nullrunde führt in Wahrheit zu einer 8-prozentigen Minderung
des verfügbaren Nettoeinkommens. Die Personal- und
Sachkosten in den ärztlichen Praxen steigen ja weiter.
Sie, Frau Ministerin, und Sie, Frau Kühn-Mengel, halten das für zumutbar. Wir sagen Ihnen: Das ist nicht zumutbar. Denn damit sind Sie auf dem besten Weg, die ambulante Versorgung der Bevölkerung zu gefährden. Auch
das werden wir der Öffentlichkeit klar sagen.
({9})
Da hilft es wenig - wie auch gestern geschehen -, auf die
Verpflichtung von Krankenhäusern und Ärzten hinzuweisen, dass kein Patient abgewiesen werden und dass keinem Patienten die notwendige Behandlung vorenthalten
werden darf. Die Wirklichkeit ist anders und das wissen
Sie auch ganz genau.
Noch ein Wort zu einer weiteren Nullrunde: eine Nullrunde für die Krankenkassenbeiträge, aber auch für die
Verwaltungsausgaben der Krankenkassen. Ich weiß, das
sehen die Leistungserbringer, die Ärzte und Krankenhäuser, gern. Ich denke aber, wer um die immense Bürokratie, wer um die Verbesserung der EDV-Ausstattung und
um die Schulung von Mitarbeitern im Rahmen der Einführung von Fallpauschalen weiß - in den Krankenhäusern, aber auch bei den Krankenkassen -, der muss auch
den Krankenkassen in solchen Umstellungszeiten den finanziellen Spielraum geben, den sie für die Bewältigung
der von Ihnen gestellten Aufgaben benötigen. Pauschale
Kürzungen nach der Methode Rasenmäher werden einer
verantwortungsvollen Gesundheitspolitik nicht gerecht.
({10})
Nicht zuletzt aus diesem Grund und angesichts der insgesamt verzweifelten Finanzlage erhöhen Dutzende von
Krankenkassen panikartig in letzter Minute ihre Beiträge.
Nun zur Arzneimittelversorgung. Die Apotheker
werden, da sie ein Drittel der Gesamtlast tragen müssen,
zu den Hauptleidtragenden des Gesetzes. Durch die Erhöhung der GKV-Rabatte und die Abwälzung der
Großhandelsrabatte allein wäre die Situation schon desolat. Aber die teuren Inkassodienste am Ende der Kette
werden viele Apotheker ruinieren. Der Weg zur nächsten
Apotheke wird für viele Bürger in Zukunft weit, sehr weit.
({11})
Wir haben damals den Ablasshandel der Regierung mit
den Pharmaunternehmen zur Vermeidung einer gesetzlich
verordneten Preisregulierung für festbetragsfreie verschreibungspflichtige Arzneimittel aus ordnungspolitischen Gründen kritisiert. Festzuhalten aber bleibt, dass
ausweislich einer Pressemitteilung der Bundesregierung
aus dem Jahr 2001 die Bundesregierung versprochen hat,
für die Jahre 2002 und 2003 auf Preisregulierungen zu
verzichten.
({12})
Dieses Wort, gegeben von Bundeskanzler Gerhard
Schröder und der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla
Schmidt, ist nach weniger als einem Jahr gebrochen. Auch
hier zeigt sich: Noch nie hat eine Regierung die Wählerinnen und Wähler, die Krankenhäuser, die niedergelassenen Ärzte, die Patienten, die Versicherten, die privaten
und gesetzlichen Krankenkassen, die Apotheker und die
Arzneimittelhersteller so hinters Licht geführt und damit
innerhalb kürzester Zeit das Vertrauen von allen im Gesundheitswesen missbraucht wie diese neue rot-grüne
Bundesregierung.
({13})
Würde ich als Arzt einen Patienten so behandeln wie
Sie unser Gesundheitssystem, ein Prozess wegen Aufklärungsmängeln und Kunstfehlern wäre mir so sicher
wie das Amen in der Kirche.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 15/27 und 15/28 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform
- Drucksache 15/21 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
Bundesfinanzminister Hans Eichel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist einer unserer zentralen Grundwerte. Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir die ökologischen
Grundlagen unseres Gemeinwesens stärken. Aus finanzpolitischer Sicht bedeutet Nachhaltigkeit, dass wir angesichts großer konjunktureller Herausforderungen auf dem
Weg der Konsolidierung des Staatshaushalts bleiben.
Beide Aspekte ergänzen sich. Beide vergrößern, wenn
wir sie erfüllen, die Handlungsspielräume für die nachfolgenden Generationen. Einfacher ausgedrückt heißt
das: Wir dürfen nicht auf Kosten unserer Kinder und Enkel leben.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf wird genau diesem
Anspruch gerecht. Mit ihm wird die ökologische Zielgenauigkeit erhöht, indem Subventionstatbestände abgebaut
werden.
({1})
Gleichzeitig werden die Spielräume für den Haushalt erhöht. Dabei greifen wir auch Kritikpunkte der Umweltverbände und der Opposition gegenüber der bisherigen
Ausgestaltung auf. Aber ich befürchte, die Opposition
wird sich auch in dieser Frage nicht an ihre früheren Positionen erinnern - es ist gut, dass Sie sich umdrehen Frau
Merkel; ich werde Sie gleich zitieren -, sondern in einer
unverantwortlichen Verweigerungshaltung verharren.
({2})
Das ist bisher auch in der gesamten Diskussion zur Ökosteuer so gewesen.
Dazu nun ein Zitat:
Energie ist heute zu billig. Es müssen aus meiner
Sicht die Steuern auf Energie angehoben werden, sei
es für Mineralöl, Heizgas oder Strom. Der gewünschte Lerneffekt tritt freilich nur dann ein, wenn
klar ist, dass die Steuersätze über Jahre allmählich
angehoben werden.
Diese Originalaussage stammt nicht von Vertretern von
Rot-Grün, sondern von Frau Merkel. Sie steht in der
„Frankfurter Rundschau“ vom 17. Juni 1997.
({3})
Für die Union ist das alles inzwischen Schnee von gestern.
({4})
- Sie müssen vorsichtig sein, sonst zitiere ich auch noch
Herrn Töpfer; lassen Sie das lieber.
({5})
Die Regierung Schröder hat mit der ökologischen
Steuerreform den auch von der Union als richtig anerkannten Ansatz umgesetzt. Wir haben im Interesse unserer Kinder und Enkel für die Nachhaltigkeit gehandelt.
Die Union hat sich gegen ihre bessere Einsicht von gestern in die Neinsageecke zurückgezogen.
({6})
Das ist gegenwärtig Ihre Gesamtlinie: Mäkeln, aber keinen eigenen Vorschlag unterbreiten.
({7})
Bereits die bisherige Ökosteuer hat zu einem effizienteren Umgang mit Energie geführt. Mit Blick auf das Klimaschutziel ist Deutschland verglichen mit anderen Staaten auf einem sehr guten Weg. Nach vier Jahren ist nun
aber die Zeit da, bestehende Lücken Schritt für Schritt zu
schließen; so steigern wir die ökologische Effizienz des
Steuersystems. Die Besteuerung von Heizstoffen wird
deshalb stärker als bisher an dem Energiegehalt ausgerichtet. Die Besteuerung von Erdgas wird entsprechend
angepasst. Mögliche Verzerrungen auf den Energiemärkten werden so abgebaut.
({8})
Ein zweiter wichtiger Bereich ist der Abbau der ermäßigten Ökosteuersätze für die Landwirtschaft und für
das produzierende Gewerbe.
({9})
Sie betragen in Zukunft 60 Prozent der Regelsätze. Ich bin
mir sicher, dass die Unternehmen nach einer Anpassungszeit von vier Jahren in der Lage sind, diese Abschmelzung
zu vertragen, ohne dass ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit leidet;
({10})
denn den Ökosteuerausgaben stehen ja - auch wenn das
im Moment ein sehr schwieriges Kapitel ist - nach wie
vor niedrigere Lohnnebenkosten im Vergleich zu 1998 gegenüber. Der Spitzenausgleich für besonders energieintensive Betriebe wird beibehalten, aber so modifiziert,
dass ein Anreiz zu einem effektiven Energieeinsatz für
alle erhalten bleibt. Das ist ökonomisch verträglich und
ökologisch sinnvoll.
({11})
Auch der Abbau der Subvention von Nachtspeicherheizungen ist geboten. Hier wird eine ökologisch besonders bedenkliche Heizform aus sozial berechtigten Gründen bisher noch gefördert. Es muss aber einen weiteren
Modernisierungsschub geben. Deshalb wird diese Vergünstigung schrittweise abgebaut und gleichzeitig ein
Programm zum Umbau dieser Heizung aufgelegt.
({12})
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr ökologischer
Nachhaltigkeit. Auch die Mehreinnahmen dienen der
Nachhaltigkeit; denn wir müssen auf dem Weg einer soliden Finanzpolitik bleiben.
({13})
Hierzu trägt einerseits der konsequente Kurs der Ausgabenbegrenzung bei.
({14})
Genauso wichtig ist es aber, andererseits zu überprüfen,
ob die Ausnahmen, die die steuerlichen Bemessungsgrundlagen wie einen Schweizer Käse durchlöchern, noch
zeitgemäß sind. Damit brechen wir auch den Trend zu
höheren Steuersubventionen, nachdem die Bundesregierung bei den Finanzhilfen - auf der Ausgabeseite - schon
deutliche Erfolge erzielt hat.
({15})
Wir haben den Kampf gegen die Subventionen nicht erst
im Oktober 2002 begonnen. Er prägte die Regierungspolitik bereits in der vergangenen Legislaturperiode. Hier
werden wir weiter voranschreiten.
({16})
Es gilt aber auch, dass wir nicht ohne Sinn und Verstand kürzen werden. Dies fordern ja viele, die generelle
Kürzungen aller Subventionen um einen bestimmten Prozentsatz verlangen, ohne das Ergebnis dieser Pseudolösung zu bedenken. Dies hätte zum Beispiel deutliche Einschnitte beim Aufbau Ost zur Folge, was wiederum ein
Verstoß gegen die innerdeutsche Solidarität und zudem
volkswirtschaftlich langfristig sehr teuer wäre.
Wir gehen den schwierigeren Weg und schauen ganz
genau, was notwendig und was nicht mehr zeitgemäß ist.
Deshalb werden wir auch eine Vielzahl einzelner Maßnahmen treffen, die insgesamt aber einem gemeinsamen
Zweck dienen: weniger Subventionen, mehr finanzieller
Handlungsspielraum für eine solide Finanzpolitik und
weniger Schulden.
Meine Damen und Herren, dieser Ansatz ist nicht einfach umzusetzen. Das zeigen die Attacken der betroffenen
Interessengruppen und Lobbyisten, die den Widerstand
organisieren.
({17})
Unser Ansatz wird aber erfolgreich umgesetzt werden und
dazu beitragen, dass Deutschland mit moderneren und
nachhaltigeren Strukturen aus der augenblicklichen wirtschaftlichen Herausforderung hervorgeht.
({18})
Die Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform ist
ein wichtiger Schritt in diese Richtung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat der Kollege Heinz Seiffert, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich will mit ein paar Zitaten beginnen, aber
meine sind neuer, Herr Finanzminister:
({0})
„Es wird keine Steuererhöhungen geben. Die Steuerbelastung wird nicht steigen, sondern sinken.“ Dies sagte Finanzminister Eichel am 14. April 2002. „Wir reduzieren
2003 und 2005 die Steuern. Wir planen keine Erhöhungen.“
So erklärte derselbe am 19. Juni 2002. „Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deswegen ziehen wir sie auch nicht
in Betracht“, Zitat von Bundeskanzler Schröder am
26. Juli 2002.
({1})
„Wir haben keine Steuererhöhungen geplant, keine angekündigt und wir werden auch keine machen“, so Ihr Übergangsvorsitzender Stiegler am 28. September 2002. „Ich
führe keine Debatte über Steuererhöhungen“, Finanzminister Eichel am 30. September 2002.
({2})
„Es wird keine Steuererhöhungen geben“, Müntefering
am 1. Oktober 2002. Herr Finanzminister, das Einzige,
was bei Ihnen wirklich nachhaltig ist, sind die gebrochenen Versprechen.
({3})
Ebenso nachhaltig ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Gerade einmal acht Tage nach der Regierungsübernahme
legen Sie einen Gesetzentwurf zur massiven Erhöhung der
so genannten Ökosteuer vor. Dies ist nur ein Teil eines
steuerpolitischen Amoklaufs, der am Tag nach der Wahl
begonnen hat und dessen Ende noch nicht absehbar ist.
({4})
Bereits beschlossen sind die fünfte Stufe der Ökosteuer, die Erhöhung der Tabaksteuer und die Verschiebung der Steuerreformstufe zum 1. Januar 2003. Hinzu
kommen jetzt Erhöhungen bei der Umsatzsteuer, eine
Mindeststeuer für Unternehmen, eine Aktiensteuer, eine
Immobilienspekulationsteuer und eine höhere Dienstwagensteuer. Nicht vergessen werden sollten die Erhöhung
der Renten- und Krankenversicherungsbeiträge und das
ständige Gerede über eine Modifizierung des Ehegattensplittings, eine neue Vermögensteuer und die Erhöhung
der Erbschaftsteuer. Aber darüber reden wir dann nach
dem 3. Februar des nächsten Jahres.
({5})
Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, was
glauben Sie Ihren so genannten Führungspersönlichkeiten
eigentlich noch?
({6})
Fühlen Sie sich noch wohl, wenn Sie eine solche Politik
vertreten und diesen Amoklauf letztendlich mitmachen
müssen? Spüren Sie nicht, dass sich die Menschen in
Deutschland - zumindest die wenigen, die noch zugeben,
dass sie Sie gewählt haben ({7})
betrogen und getäuscht fühlen? Daran ändert auch nichts,
wenn Sie diesen Steuergesetzen wohlklingende Überschriften verpassen. Diese Fortentwicklung oder Konsolidierung der ökologischen Steuerreform ist nichts anderes als die Fortsetzung eines Abkassiermodells, mit dem
Sie den Menschen und Betrieben unter dem Vorwand, etwas für die Ökologie zu tun, weitere 2 Milliarden Euro
aus der Tasche ziehen.
({8})
Das ist übrigens die sechste Stufe der Ökosteuer, von der
der Bundeskanzler immer gesagt hat, dass es sie nie geben wird - wieder ein gebrochenes Versprechen.
Trotz des Abkassierens bei der Ökosteuer, trotz der Erhöhung der Bemessungsgrundlage, trotz Plünderung der
Reservekasse steigen die Beiträge in der Rentenversicherung weiter. Sie werden wohl bald bei über 20 Prozent
liegen.
Nichts Neues bei Rot-Grün ist, dass die Reformen im
Schweinsgalopp durchgejagt werden. Schnelligkeit geht
wieder vor Sorgfalt. Der Zeitplan für Ihre Gesetze ist eine
Zumutung für das Parlament. Er ist eine Zumutung für die
Sachverständigen, deren Ratschläge Sie offenbar gar
nicht hören und schon gar nicht berücksichtigen wollen.
Er ist auch eine absolute Zumutung für alle, die das bezahlen müssen, die Betroffenen.
({9})
Sie wollen diese Grausamkeiten ganz schnell durchziehen
in der Hoffnung, dass die betroffenen Steuerzahler und
Unternehmen das gar nicht so richtig mitbekommen. Aber
das wird ein Irrtum sein.
Steuererhöhungen sind in unserer konjunkturellen Situation Gift. Sie sind, wie der Bundeskanzler richtig sagte,
„unsinnig“. Sie entziehen den Menschen durch Ihre Politik der Steuer- und Abgabenerhöhungen immer mehr
Kaufkraft. Sie verunsichern die Bürger und zerstören den
letzten Rest an Vertrauen, den sie vielleicht noch in die
Politik haben.
Ich halte es für ziemlich dreist, Herr Eichel, wenn Sie,
wie es im Gesetzentwurf heißt - Sie haben es jetzt auch
wieder gesagt -, die Steuererhöhungen auf die Energieträger als Bestätigung Ihres Konsolidierungskurses heranziehen. Sie erhöhen die Steuern und die Schulden, bekommen von der EU einen blauen Brief und reden dann
noch von Konsolidierung. Für wie dumm halten Sie denn
die Menschen?
({10})
Sie bringen energieintensive Unternehmen in Existenznot und schreiben in der Einleitung des Gesetzentwurfs - auch das haben Sie wiederholt -:
Nach einer fast vierjährigen Anpassungszeit können
diese Steuerbegünstigungen in weiten Bereichen abgeschmolzen werden, ohne die internationale Wettbewerbssituation der Unternehmen zu gefährden ...
({11})
Ich halte das für zynisch. Sie belasten den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zumindest aus diesem Grunde hätte
ich eigentlich von dem neuen Superminister Clement ein
Wort dagegen erwartet.
({12})
- Zu der Auffassung komme ich auch.
({13})
Mir sind Unternehmen bekannt, deren Produktionskosten allein durch diese Ökosteuererhöhung um mehr als
10 Prozent steigen. Ein solcher Kostenschub kann aber
weder durch Rationalisierung noch durch effizientere
Energienutzung aufgefangen werden. Wenn am Markt
höhere Preise nicht durchzusetzen sind, führt dies unweigerlich zum Abbau von Arbeitsplätzen und zu mehr Arbeitslosigkeit. Was sollen denn die Unternehmen in ihrer
Not sonst machen?
Nicht die international schwache Konjunktur, sondern
eine seit gut vier Jahren falsche Politik, die Sie jetzt lustig
fortsetzen, ist daran schuld, dass diesen Winter mehr als
4 Millionen Menschen keine Arbeit haben. Ihr ehemaliger
Diese
Entwicklung ist in erster Linie hausgemacht und daran
müssen Sie sich messen lassen.
({0})
Meine Damen und Herren, dass Ihnen Nachtspeicherheizungen ideologisch ein Dorn im Auge sind und Sie
Menschen, die auf diese Weise heizen, durch höhere Steuern abstrafen, ist schon schlimm genug. Die Ideologie ist
Ihnen eben wichtiger als der Mensch.
({1})
Dass Sie aber den Menschen, die umweltfreundlich mit
Gas heizen, jährlich über 1 Milliarde Euro mehr Steuern
abknöpfen wollen, ist schlicht unglaublich.
({2})
Da werden die Menschen jahrelang aufgefordert und finanziell angereizt, etwas für die Umwelt zu tun und mit
Gas zu heizen - 70 Prozent der Haushalte in den neuen
Bundesländern tun dies -, und dann werden sie auf unflätige Weise abkassiert.
({3})
Besonders viele Familien gerade in den neuen Bundesländern sind von diesem rücksichtslosen Kurswechsel,
den die Grünen offenbar ohne Widerspruch hingenommen haben, betroffen. Andernfalls würde ich jetzt sicherlich von Ihnen etwas zu diesem Kurswechsel hören, Herr
Loske.
({4})
Wo war denn der Minister Trittin bei dieser Kabinettsentscheidung? Sie schwächen doch auf diese Weise die ökologische Rolle im Energiemix. Ist Ihnen das gleichgültig?
Dass Sie damit in erster Linie Familien, ältere und sozial
schwache Menschen belasten, scheint Sie auch nicht zu
interessieren.
Finanzminister Eichel arbeitet nach dem Motto „Der
Zweck heiligt alle Mittel“. Für mehr Geld in seiner Kasse
ist er offenbar bereit, alle Grundsätze über Bord zu werfen.
({5})
Sie aber, meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün,
machen das alles mit. Wenn Sie die Kraft gehabt hätten,
rechtzeitig die dringend notwendigen Reformen bei der
Rente, im Gesundheitswesen und am Arbeitsmarkt durchzuführen, wenn Sie nicht den Kapitalgesellschaften durch
Ihre misslungene Steuerreform in den vergangenen zwei
Jahren 40 Milliarden Euro geschenkt hätten und wenn Sie
endlich mehr Wirtschaftswachstum ermöglichen würden,
dann wären die Ökosteuer und diese neuerliche Erhöhung
überhaupt nicht notwendig.
({6})
Sie setzen mit diesen Steuererhöhungen eine falsche,
für Deutschland und für die Menschen schädliche Politik
fort. Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diese Steuererhöhungen entschieden ab.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Thiele, Sie reden doch gleich. Warten Sie noch einen Moment!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das,
was Sie vorgetragen haben, Herr Kollege Seiffert, war
nicht wirklich neu. Das habe ich alles schon einmal
gehört.
({0})
- Beruhigen Sie sich! Sie müssen sich schon für eine Argumentation entscheiden, Herr Seiffert. - Wo ist er denn?
Er sitzt ganz hinten, sozusagen als Hinterbänkler. Dabei
hielt ich ihn für einen Vorkämpfer gegen die Ökosteuer.
({1})
Herr Seiffert, Sie haben ausgeführt, die energieintensiven Unternehmen würden durch uns in ihrer Existenz bedroht. Ich erinnere mich noch sehr gut an Debatten in diesem Hohen Hause, in denen Sie mahnend den Finger
gehoben und uns vorgeworfen haben, ausgerechnet die
energieintensiven Industrien zu bevorzugen. Was ist denn
nun richtig? Beides geht nicht.
({2})
Ich möchte - als Ökologe steht mir das vielleicht zu einmal die ökologische Wirkung dieser Reform in den
Vordergrund stellen.
Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich würde zwar gerne meine Rede fortsetzen, aber weil
der Kollege Seiffert so nett ist, gestatte ich seine Zwischenfrage.
({0})
Herr Kollege Loske, würden Sie zur Kenntnis nehmen,
dass wir nicht in erster Linie gegen die Ausnahmeregelungen waren, sondern insgesamt gegen die Ökosteuer?
({0})
Ich nehme zur Kenntnis, dass Ihre früheren und Ihre
heutigen Aussagen wie eh und je weit auseinander klaffen. Das ist wirklich sehr dramatisch.
({0})
Erster Punkt. Die Sonderregelungen für das produzierende Gewerbe sind Subventionen - sie finden sich im
Subventionsbericht der Bundesregierung -; diese werden
jetzt abgebaut. Der Steuersatz wird von 20 Prozent auf
60 Prozent erhöht und beim Spitzenausgleich werden
eben nicht mehr wie in der Vergangenheit 100 Prozent,
sondern nur 95 Prozent zurückgegeben. Das ist vernünftig; damit bleibt ein Anreiz zum sparsamen Umgang mit
Energie, gerade auch im produzierenden Gewerbe.
Zweiter Punkt. Wir verwenden einen Teil des Aufkommens in Höhe von 150 Millionen Euro für ein Altbausanierungsprogramm, indem wir den bisherigen Ansatz von
200 Millionen Euro auf 350 Millionen Euro aufstocken.
Ich glaube, das ist sehr vernünftig. Aber ich gehe davon
aus, dass Sie, so wie Sie gegen das EEG, gegen das Altbausanierungsprogramm oder gegen das 100 000-DächerProgramm gestimmt haben, auch gegen diese Erhöhung
stimmen werden,
({1})
weil Ihnen die Ökologie eben nichts bedeutet; das ist das
Problem. Hier liegt der Unterschied zu uns.
({2})
Zu den Nachtspeicherheizungen. Das ist ein weites
Feld, aber es gibt ein berühmtes Zitat, das ungefähr so lautet: Mit Strom zu heizen ist so, als würde man die Butter
mit der Motorsäge durchschneiden. Das kann doch nicht
vernünftig sein. Eine so edle Energie wie Strom zum Heizen einzusetzen hat keinen Sinn. Auf Dauer dürfen wir das
nicht zulassen. Deswegen reduzieren wir dies maßvoll und
schrittweise bis zum Jahr 2006 und schaffen es 2007 ganz
ab. Wir werden ein Umstellungsprogramm beschließen
und Umstellungsbeihilfen zur Verfügung stellen. Das ist
sozialpolitisch und ökologisch vernünftig.
({3})
Zum Erdgas. Es ist bekannt, dass wir dazu eine andere
Meinung hatten. Wir sind der Meinung, dass Erdgas zwar
nur eine Übergangsenergie ist, denn wir müssen perspektivisch ganz aus den fossilen Energien heraus,
({4})
aber dass es spezifische Vorzüge hat. Wir lassen die Steuer
nun etwas moderater ansteigen als vorgesehen. Aber es ist
vollkommen richtig, dass wir eine geringere Erhöhung
beim Gas und eine etwas stärkere Erhöhung beim leichten Heizöl angemessen gefunden hätten.
({5})
- Kohle wird im Heizungsbereich ja kaum noch eingesetzt.
Ich fasse die Wirkung der ökologischen Steuerreform
- die Zahlen liegen vor, sie wurden vom Minister schon
genannt - wie folgt zusammen: Das Umweltbundesamt
sagt als Folge der Ökosteuer in ihrer jetzigen Form einen
Rückgang der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2006 um
9 Millionen Tonnen CO2 voraus. Das DIW sagt die VerDr. Reinhard Loske
meidung von 20 bis 25 Millionen Tonnen CO2 bis zum
Jahr 2010 voraus. Wir sind aber nicht auf irgendwelche
Prognosen angewiesen, sondern können auf ganz konkrete Zahlen verweisen: Beim Benzinverbrauch hatten
wir 2000 ein Minus von 4,8 Prozent und 2001 ein Minus
von 3 Prozent. Die Prognose des Mineralölwirtschaftsverbands für 2002 geht von einem Minus von 2,7 Prozent
aus. Die Zahlen sind also ganz eindeutig: Die ökologische
Steuerreform wirkt, auch wenn Sie etwas anderes sagen.
({6})
Ich will noch etwas zur Verwendungsseite sagen, damit
die Proportionen deutlich werden. Es ist klar und ich gebe
ohne weiteres zu, dass wir haushaltsbedingt kurzfristig
vom Pfad der Tugend der Aufkommensneutralität abweichen.
({7})
Aber man muss sich die Zahlen genau vor Augen führen:
Mit der Ökosteuer erzielen wir im Jahr 2003 Einnahmen
von insgesamt 18,3 Milliarden Euro. Davon wird „nur“
1 Milliarde Euro für die Haushaltskonsolidierung eingesetzt, 17 Milliarden fließen in die Rentenkasse, in die Altbausanierung und in die erneuerbaren Energien. Mehr als
90 Prozent werden also für die Ökologie und für die Stabilisierung des Beitragssatzes der Rentenversicherung
verwendet. Ich will Sie daran erinnern, dass der Beitragssatz bei 20,3 Prozent lag, als wir an die Regierung kamen.
Wir haben die Beiträge schrittweise auf 19,5, 19,3 und
19,1 Prozent gesenkt. Jetzt müssen sie bedauerlicherweise ansteigen.
({8})
Das zeigt in der Tat Reformbedarf an. Es gibt aber einen
Unterschied: Nach Ihrem Konzept lägen wir jetzt bei über
21 Prozent, nach unserem Konzept liegen wir bei
19,5 Prozent. Wir müssen ihn weiter senken. Aber klar ist:
Es besteht ein gewaltiger Unterschied.
Danke schön.
({9})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig
Thiele für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der heute in erster Lesung zu debattierende Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform ist der erste Teil eines gigantischen
Steuererhöhungspakets und gleichzeitig Beitragserhöhungsprogramms der rot-grünen Koalition.
({0})
Gleichzeitig ist er das Eingestehen des Scheiterns der vor
vier Jahren mit großem medialen Tamtam gestarteten
ökologischen Steuerreform, die der Kollege Metzger das
„Herzstück grüner Finanzpolitik“ genannt hat.
In seiner Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998
hat Rot-Grün erklärt, dass die Sozialversicherungsbeiträge von damals 42,3 Prozent des Bruttolohns durch die
Einnahmen aus der ökologischen Steuerreform auf unter
40 Prozent gesenkt werden.
({1})
Der falsche Ansatz von Rot-Grün, dass die Rentenversicherung ausschließlich ein Einnahmeproblem und kein
Ausgabeproblem hat, hat verheerende Folgen für unser
Land. Trotz der gesamten Ökosteuereinnahmen, die sich
inzwischen auf 126 Milliarden DM belaufen, ist es nicht
gelungen, die Rentenversicherungsbeiträge entsprechend
zu senken. Das ist nicht nur Ihr finanzpolitischer, sondern
auch Ihr sozialpolitischer Offenbarungseid.
In schamloser Art und Weise belügen und betrügen Sie
die Bürger mit Ihrer ökologischen Steuerreform.
({2})
Seit Jahren predigen Sie den Leuten, dass höhere Steuern
auf Benzin, Heizöl, Erdgas und Strom dazu genutzt werden, die Lohnnebenkosten zu senken.
({3})
Gleichzeitig sinken die Rentenversicherungsbeiträge nicht
etwa, sie steigen im nächsten Jahr vielmehr um 0,4 Prozentpunkte. Die Krankenkassenbeiträge steigen um
0,7 Prozentpunkte. Dies bedeutet, dass die Lohnnebenkosten trotz der ökologischen Steuerreform von 41,3 Prozent in diesem Jahr auf 42,4 Prozent im nächsten Jahr
steigen werden. Das allein bedeutet einen Anstieg der
Lohnnebenkosten um 10 Milliarden Euro im nächsten
Jahr. Ich betone: Es geht dabei nur um den Faktor Arbeit,
der von Rot-Grün zusätzlich belastet wird.
({4})
Damit ist die Belastung - das muss einmal gesagt werden - sogar höher als die, die Sie 1998 von der von Ihnen
viel geschmähten Regierung übernommen haben,
({5})
und das trotz der angeblich tollen ökologischen Steuerreform. Arbeit sollte eigentlich billiger werden. Das Gegenteil ist unter Rot-Grün der Fall.
({6})
Herr Loske, ich zitiere aus Ihrer Rede vom
3. März 1999 - vielleicht ist das auch für Sie ganz interessant -:
Sie wissen, im ersten Schritt sollen die Beiträge um
0,8 Prozentpunkte gesenkt werden, in der zweiten
und dritten Stufe um weitere 0,8 Prozentpunkte.
Damit wollen wir erreichen, dass die Sozialversicherungsbeiträge um 2,5 Prozentpunkte gesenkt werden
können.
Ende des Zitats dieses famosen, sachkundigen Steuer-,
Ökologie- und Rentenexperten Loske. Damit ist das
Scheitern der gesamten Konzeption der ökologischen
Steuerreform der Grünen bewiesen.
({7})
Das Gegenteil von dem, was die Grünen wollten, ist
der Fall: Die Ökosteuer ist insgesamt um mehr als
100 Milliarden DM gestiegen, die Lohnnebenkosten sind
2003 höher als 1998. Die ökologische Steuerreform ist
das Eingestehen eines Scheiterns grüner Politik. Dass mit
diesem Gesetzentwurf die gescheiterte Politik noch fortentwickelt werden soll, ist nun wirklich das Letzte, was
Sie uns hier zumuten; denn das können wir tatsächlich
nicht gebrauchen.
({8})
Gleichzeitig belasten Sie die Bürger über höhere Arbeitskosten, über höhere Energiekosten und über die Verschiebung der Steuerreform um 7 Milliarden Euro. Ein weiteres Steuererhöhungspaket liegt bereits auf dem Tisch.
Sie wissen allerdings noch nicht genau, was Sie ändern wollen: die Eigenheimzulage, die Spekulationsfrist,
Dienstwagenregelungen. Es geht in der Diskussion munter
hin und her. Sie versuchen Ihre Pläne auf die Zeit nach den
Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zu verschieben, um nicht sagen zu müssen, was Sie konkret wollen.
Entgegen jeder finanzpolitischen Vernunft entziehen
Sie dem deutschen Volk Kaufkraft in Höhe von 30 Milliarden Euro, und das bei einem Bruttoinlandsprodukt von
2 000 Milliarden Euro. Das ist abenteuerlich; das ist ein
Anschlag auf die Arbeitsplätze; das ist ein Anschlag auf
die Wirtschaft in unserem Lande. Damit wird keine Aufbruchstimmung geschaffen. Das Gegenteil ist der Fall.
Wenn man ein Abbruchunternehmen führen wollte, dann
müsste man so handeln wie Rot-Grün, insbesondere mit
diesem Gesetz.
({9})
Das wollen wir aber nicht. Wir wollen, dass es mit unserem Land aufwärts geht.
Abgesehen davon, dass Sie Ihre Wähler in dreister
Weise belügen, geben Sie eine Bankrotterklärung für das
gesamte ökologische Projekt ab, welches - das sage ich
nach wie vor - nie ökologisch und nie logisch war. Die
ökologische Steuerreform ist und bleibt nichts als ein Abkassiermodell unter dem Deckmantel der Ökologie. Damit sind Sie auf breiter Front gescheitert.
Wie können Sie eigentlich erklären, dass eine Erhöhung der Steuer auf Erdgas um 60 Prozent ökologisch
sinnvoll ist, das Verbrennen von Kohle aber überhaupt
nicht besteuert wird?
({10})
Werden hiermit Umweltpolitik, Steuerpolitik oder wird
hiermit auch von den Grünen ausschließlich Klientelpolitik für die deutsche Kohlewirtschaft betrieben?
({11})
Ich frage mich das. Ökologisch ist daran wirklich nichts.
Rot-Grün macht eigentlich nur eins, nämlich unter dem
Deckmantel „Öko“ die Bürger abzuzocken. Aufgrund
dieser falschen rot-grünen Politik steigt die Zahl der Arbeitslosen, steigt die Neuverschuldung und steigen die
Lohnnebenkosten. Statt diese angeblich ökologische
Steuerreform fortzuentwickeln, gestehen Sie sich doch
ehrlicherweise ein: Das Konzept der Ökosteuer ist auf
ganzer Linie gescheitert. Wir verabschieden uns davon
und versuchen es jetzt einmal mit der Wahrheit. - Damit
haben Sie es aber nicht.
Deshalb bedauere ich, dass Sie hier weitermachen; das
macht mir Sorgen. Wir werden Ihnen das jedenfalls in
dieser Form nicht durchgehen lassen. Wir werden das mit
den Bürgern diskutieren.
({12})
Auch wenn Sie aufgrund ganz anderer Themen die Wahl
gewonnen haben, wird der Bürger sich merken, dass er
von Ihnen getäuscht und belogen worden ist. Wir werden
Ihnen das in jeder Debatte hier im Deutschen Bundestag
wieder unter die Nase reiben. Den Hauch von Kompetenz,
den Sie im Bereich ökologische Steuerreform vielleicht
einmal hatten, haben Sie spätestens mit diesem Gesetzentwurf vom Tisch gewischt.
({13})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein klein wenig weniger Energieverbrauch,
Herr Kollege Thiele und Herr Kollege Seiffert, würde der
Sache gut tun und wäre dem Thema angemessen. Ich verstehe ja sehr gut, dass Herr Thiele die ganzen Probleme,
die Möllemann und andere der FDP bereiten, durch Lautstärke auszugleichen versucht.
({0})
Sie haben hier versucht, durch ein akustisches Ablenkungsmanöver Ihre eigenen Probleme zu übertönen.
({1})
Ich will ja gar nicht bestreiten, dass die Ökosteuer das
Schicksal aller anderen Steuern teilt: Die Notwendigkeit
Reinhard Schultz ({2})
wird im Grundsatz anerkannt, geliebt wird sie nur von wenigen. Das ist nun einmal so.
({3})
Trotzdem muss man
({4})
den Blick auf die Frage richten, ob sie erfolgreich war
oder nicht.
Wir haben durch die schrittweise Anhebung der Steuern auf Kraftstoffe und Strom - die verstromte Kohle wird
genauso wie das verbrauchte Erdgas mitbesteuert und ist
hiervon ja nicht ausgenommen; so viel dazu - dazu beigetragen, dass Energie gespart wurde,
({5})
Erfolge beim Klimaschutz erreicht wurden
({6})
und die Nachfrage nach Energie sparenden Autos und
energieeffizienterer Technik angestiegen ist.
({7})
Auch im produzierenden Gewerbe ist seit dem Jahr
2000 die Nachfrage nach Energiespartechnik deutlich angestiegen.
({8})
Das war ja auch der Sinn. Wir haben das angeregt, indem
wir gesagt haben: Liebe Freunde, ihr erhaltet einen ermäßigten Steuersatz. Nutzt die Zeit zur Umstellung, denn
wir können auf Dauer nicht verantworten, dass im Gegensatz zu den Verbrauchern für euch immer nur Sondertatbestände gelten und ihr ökologische Subventionen erhaltet! Stellt euch um! - Das ist schon bei den ersten
Einbringungsreden so gesagt worden. Viele haben die
Chance tatsächlich genutzt. Vor diesem Hintergrund ist es
natürlich verantwortbar, die Steuerermäßigungen etwas
zurückzunehmen. Wir sind ja immer noch nicht bei den
Steuern angelangt, die der private Haushalt zu zahlen hat;
da gibt es immer noch einen deutlichen Abstand.
Für die vielen Unternehmen, die im internationalen
Wettbewerb stehen und energieintensiv produzieren,
Energie brauchen, um Stoffe umzuwandeln, haben wir
den Spitzenausgleich voll erhalten. Er wird jetzt anders
errechnet,
({9})
bleibt aber im Prinzip genauso erhalten. Es wird also im
Wesentlichen keine nennenswert oder gar unzumutbar
höhere Belastung für Zementwerke, für die Aluminiumindustrie, für Glashütten, für die Braunkohleindustrie
oder für andere Betroffene geben.
({10})
Wir mussten hart darum ringen, aber das haben wir erreicht. Die Standorte dieser standortgebundenen, grundstoffbezogenen Industrien werden nicht gefährdet. Ich
denke, das ist trotz aller Umstellungen, die wir hier vorgenommen haben, eine ganz wichtige Botschaft.
Wir haben beim Vorbereitungsprozess dieses Gesetzes
dafür gesorgt, dass der Selbstbehalt, also der Betrag, um
den die Rückerstattung von Öko- und Mineralölsteuer reduziert wird, für kleine Unternehmen, die jede Belastung
spüren, bei 511 Euro bleibt und nicht, wie einmal geplant,
heraufgesetzt wird.
Man muss die Belastungen der energieintensiven Industrien auch im Zusammenhang mit anderen Belastungen sehen. Das tun wir. Neben der Ökosteuer werden auch
die Kosten für erneuerbare Energien und KWK übergewälzt. Dies muss bei der Diskussion über den CO2-Zertifikatehandel berücksichtigt werden. Man muss sich ein
Bild davon machen, was insgesamt erträglich ist, damit
die Grundstoffindustrien nicht aus dem Land gejagt oder
zur Aufgabe gezwungen werden. Das wird eine wichtige
Aufgabe der kommenden Monate sein.
({11})
Wir werden uns ebenso darüber unterhalten müssen,
was auf die Dauer mit den anderen aus ökologischen
Gründen erfolgenden Subventionen geschieht. Wenn es
uns durch die Mineralölsteuerbefreiung für alle biogenen
Kraftstoffe gelingt, dafür zu sorgen, dass diese natürlichen Kraftstoffe künftig flächendeckend in großem
Maße zur Verfügung stehen, und dafür auch die notwendigen Aggregate angeboten werden, dann werden wir uns
in den nächsten Jahren darüber Gedanken machen müssen, ob die Einrichtung des Agrardiesels, für die ich mich
persönlich eingesetzt habe, noch sinnvoll ist und aufrechterhalten werden sollte.
({12})
Denn ich denke, die Erzeuger biogener Kraftstoffe sollten
diese auch als Erste nutzen.
({13})
Wir haben die Lenkungswirkung der ökologischen
Steuerreform mit dem Gesetz, das wir heute diskutieren,
eher verstärkt. Den Beitrag der privaten Haushalte wollen
wir künftig fördern, indem wir ein zinsgünstiges Darlehensprogramm auflegen, aus dem zum Beispiel die Umsetzung der Energieeinsparverordnung im Altbaubestand
mitfinanziert werden soll. Mit 150 Millionen Euro pro
Jahr mobilisieren wir etwa 2 Milliarden Euro Investitionsvolumen, wodurch wir im Altbaubestand dazu beitragen, dass Klimaschutz für die Mieter bzw. Eigentümer
bezahlbar wird.
({14})
Das trifft sich mit unseren Überlegungen, mehr in den
Bestand als ständig neu auf der grünen Wiese zu investieren. Hier greifen Siedlungspolitik und Klimaschutz sehr
gut ineinander.
Auch das Thema Unterglasgartenbau haben wir
im Auge. Solange die Unterglaswettbewerber in den
Niederlanden besonders günstige Gasbezugspreise ha462
ben, so lange können wir unsere Unterglasbetriebe nicht
so belasten, wie wir es eigentlich müssten. Deswegen haben wir neben dem Spitzenausgleich das Programm zur
Förderung der Umstellung der Heizsysteme dieser Betriebe verlängert. Das ist vernünftig und wird ihnen helfen. Es wird von diesen Betrieben auch honoriert, wie sie
uns bereits erklärt haben.
({15})
Die Nachtspeicherheizung ist kein ideologisches
Thema. Das Problem bei diesem Heizsystem ist, dass über
80 Prozent der eingesetzten Energie verloren geht, bevor
es überhaupt warm wird. Wir haben die Mieter, vor
allen Dingen im Ruhrgebiet, über mehrere Jahre geschont
und aus sozialen Gründen nicht so stark belastet wie andere Haushalte.
({16})
Aber das muss jetzt ein Ende haben. Wir bieten allen
Wohnungsbaugesellschaften und Vermietern an, dieses
Heizungssystem mit unserer Hilfe und einem eigenen
Programm innerhalb der nächsten sechs Jahre durch moderne Heizungssysteme zu ersetzen. Das ist sozialpolitisch und ökologisch vernünftig.
({17})
Insofern ist die Zielgenauigkeit der ökologischen Steuerreform deutlich verbessert.
Ich komme zurück zum Zusammenhang zwischen
Rente und Ökosteuer. Ohne die ökologische Steuerreform hätten wir - das ist hier bereits vorgetragen worden - schon im Jahr 2000 deutlich höhere Rentenversicherungsbeiträge gehabt, nämlich um 1 Prozentpunkt. Im
Jahr 2002 hätten sie um 1,5 Prozentpunkte höher gelegen
und im Jahr 2003 lägen sie statt bei 19,5 bei 21,2 Prozent.
Es ist nicht so, dass sich der Bund selber etwas in die
Tasche stecken würde. Der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung macht inzwischen über ein Drittel der gesamten Rentenfinanzierung aus. Davon werden im Jahre
2003 etwa 25 Prozent aus den Einnahmen der Ökosteuer
aufgebracht. Wer davon redet, dass - mit Ausnahme der
ökologischen Investitionsmaßnahmen, die ich genannt
habe - irgendwo irgendetwas verschmiert werde, der sagt
nicht die Wahrheit.
({18})
Wir haben einen vernünftigen Finanzierungsmix aus
allgemeinen Steuern, Ökosteuer und aus Beiträgen hinbekommen, was gerade in dieser schwierigen Zeit Generationengerechtigkeit vermittelt. Dass wir noch einen
Feinschliff brauchen, ist keine Frage. Aber wer das als ungerecht bezeichnet, der ist nicht von dieser Welt.
Vielen Dank.
({19})
Nun erteile ich dem Kollegen Stefan Müller das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen,
ich möchte Ihnen zunächst einmal ein Lob aussprechen:
({0})
Im Erfinden von besonders wohlklingenden Bezeichnungen für Ihre Gesetze sind Sie bislang wirklich unübertroffen.
({1})
Wir beraten heute das Gesetz zur Fortentwicklung der
ökologischen Steuerreform. Mit dieser Bezeichnung verschleiern Sie genau das, um was es eigentlich geht, nämlich um die Einführung einer weiteren Stufe der Ökosteuer.
({2})
Damit brechen Sie Ihre im Wahlkampf landauf, landab abgegebenen Versprechen, bei der Ökosteuer bleibe es bei
der bereits beschlossenen Erhöhung zum 1. Januar 2003
und sonst nichts. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie also erneut Wortbruch begangen. Bei
Ihnen gilt eben nicht das gesprochene, sondern das gebrochene Wort.
({3})
Man fragt sich schon: Sind Sie sich der Konsequenzen
Ihres Handelns überhaupt bewusst? Beim Abbau der
Steuererleichterungen für die Unternehmen des produzierenden Gewerbes werden sich die Energiepreise für die
betroffenen Unternehmen drastisch erhöhen. Die Erhöhung der Steuersätze von 20 auf 60 Prozent und die
Einführung eines Selbstbehaltes von 5 Prozent werden die
Industrie voraussichtlich mit 400 Millionen Euro zusätzlich belasten. Für besonders energieintensive Branchen
wie die Chemiebranche könnte das existenzbedrohend
sein.
({4})
Die Folgen dieser Mehrbelastungen liegen auf der
Hand. Bei den betroffenen Unternehmen wird es zu weiteren Rationalisierungen und zum Abbau von Arbeitsplätzen kommen.
({5})
Die mittelständische Wirtschaft wird davon besonders betroffen sein. Die Anhebung des Steuersatzes für Erdgas
trifft gerade die Unternehmen, die in den letzten Jahren
Reinhard Schultz ({6})
Stefan Müller ({7})
verstärkt auf Erdgas umgestellt haben. Dabei handelt es
sich genau um die Unternehmen, denen Sie immer wieder
gepredigt haben, auf umweltfreundliches Erdgas umzusteigen.
({8})
Es macht wirklich keinen Sinn, die Energie höher zu belasten, die die wenigsten Emissionen hervorruft.
Diese Steuererhöhung ist auch deswegen problematisch, weil es europaweit nach wie vor keine Harmonisierung gibt. Länder wie Belgien, Frankreich, Spanien und
Irland erheben nun einmal keine Erdgassteuer. Sie verschlechtern damit wieder einmal die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen.
({9})
Es gibt keinen klimapolitischen Grund, die Ökosteuer
für die Industrie zu erhöhen. Die Ziele der Klimavorsorgevereinbarungen werden von den betroffenen Branchen
erfüllt. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Unternehmen ihrer umweltpolitischen Verantwortung sehr wohl
bewusst sind. Ihnen geht es lediglich darum, bei den Menschen in diesem Land abzukassieren. Diese Steuererhöhung ist rein fiskalisch begründet,
({10})
weil Sie hinten und vorne nicht mit dem Geld auskommen.
Die von Ihnen im Alleingang durchgesetzte Ökosteuer
hat keine wirtschaftliche und ökologische Berechtigung
mehr. Ihr Ziel, die Lohnnebenkosten damit zu senken, haben Sie nicht erreicht. Sie haben eben verkündet, dass der
Rentenversicherungsbeitrag auf 19,5 Prozent erhöht werden soll. Wenn man die Zuschüsse aus der Ökosteuer, die
in die Rentenversicherung fließen, abziehen würde, dann
läge der Rentenversicherungsbeitrag bei 21,8 Prozent.
({11})
Geben Sie endlich zu, dass Sie mit Ihrer Rentenpolitik gescheitert sind, und nehmen Sie endlich überfällige Strukturreformen in Angriff!
({12})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verteuern sich in
einer konjunkturell ohnehin schon sehr schwierigen Wirtschaftslage sowohl der Faktor Arbeit als auch der Faktor
Energie für die Unternehmen im Vergleich zum vergangenen Jahr insgesamt um das Dreifache.
Sie gefährden damit den Wirtschaftsstandort
Deutschland, und das, obwohl in Ihrem Koalitionsvertrag steht - ich zitiere -:
Unser Land braucht eine Offensive für Wachstum
und Beschäftigung. Mehr Wohlstand für alle ist nur
durch nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichbar.
Da sind wir wieder bei dem Lob: Sie haben Recht. Nur,
wie Sie mit einer solch wirtschaftsfeindlichen Politik
neue Arbeitsplätze schaffen wollen, das bleibt Ihr Geheimnis. Wie heißt es schon so treffend bei Hamlet: „Es
ist schon Wahnsinn, aber es hat doch Methode.“
({13})
Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Müller, bitte hören Sie mir einmal kurz zu.
Während Sie sprachen, habe ich mich daran erinnert,
dass Ihre Fraktion zusammen mit Herrn Stoiber im
Wahlkampf über Nacht versucht hat - wir waren damals
mit dem Hochwasser konfrontiert -, zu den größten
Ökologen zu mutieren, und Herr Stoiber hier von diesem
Pult aus sagte: Wir brauchen eine ökologische Steuerreform,
({0})
um den Klimaschutzzielen näher zu kommen. Daran
möchte ich Sie erinnern.
({1})
Herr Kollege Müller, Sie sagen, die ökologische Steuerreform, unsere Energiepolitik, sei eine Politik zur Verhinderung der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Wo sind
denn Arbeitsplätze entstanden? - Mittlerweile sind es
bereits über 100 000 allein im Bereich der erneuerbaren
Energien.
({2})
Was ist denn der Exportschlager?
({3})
Das sind die erneuerbaren Energien bzw. Energiesparmaßnahmen. Hier liegen wir in Deutschland im internationalen Vergleich vorne. So viel ökonomischen Sachverstand darf man wohl erwarten, auch wenn Sie mit
populistischen Sprüchen an dieses Pult hier treten.
({4})
Noch eine Bemerkung. Kein Land der EU kann vergleichbar hohe Klimaschutzleistungen vorweisen wie
wir hier in Deutschland. Herr Schultz hat darauf hingewiesen: Mit Einsparungen in einer Größenordnung von
mehr als 200 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten hat
Deutschland mehr Treibhausgase reduziert als die EU
insgesamt.
({5})
- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in den letzten
vier Jahren haben wir die CO2-Einsparungen von unter 16
auf über 19 Prozentpunkte im Vergleich zu 1990 steigern
können.
({6})
- Ich darf Sie daran erinnern, dass Frau Merkel, immerhin einmal Umweltministerin dieses Landes, eine große
Vorkämpferin der Ökosteuer war. In dieser Debatte heute
haben Sie ganz andere Sprüche gemacht.
({7})
Was wird mit dem hier vorgelegten Gesetz verfolgt? Es
verfolgt das Ziel, die Lenkungswirkungen zu verbessern.
({8})
- Verehrte Kollegen, hören Sie einmal zu! - Sie haben das
produzierende Gewerbe angesprochen. Im Wahlkampf
haben Sie landauf, landab erzählt, Subventionen abbauen
zu wollen. Es könne nicht sein, dass die deutsche Wirtschaft mit solch hohen Subventionen zugeschüttet werde.
Denn letzlich sei dies - aufgrund der zur Finanzierung der
Subventionen notwendigen Steuern - eher eine Belastung
für die deutsche Wirtschaft.
Jetzt bauen wir bei den energieintensiven Betrieben nur
rund 10 Prozent der Subventionen ab, die bisher in einer
Größenordnung von 4 Milliarden Euro gewährt werden.
Nun sagen Sie: Das führt zu Pleiten und zu Mindereinnahmen von 400 Millionen Euro. - Sie sollten sich einmal entscheiden, welche Linie Sie tatsächlich vertreten wollen.
({9})
Zu den kleinen und mittleren Unternehmen. Wir haben strikt darauf geachtet - Sie sollten einmal die Kirche
im Dorf lassen -, dass kleine Unternehmen über die Beibehaltung des Sockelbetrages keine Mehrbelastung erfahren. Wir wollen für das produzierende Gewerbe insgesamt
auch weiterhin die Vorleistungen der deutschen Industrie
im Rahmen der Klimaschutzvereinbarungen steuerlich
anerkennen. Das tun wir mit dem vorliegenden Gesetz.
({10})
Bei den Heizstoffen führen wir eine im Hinblick auf
den Energiegehalt systematischere Besteuerung ein, um
keine Verzerrungen entstehen zu lassen. Wir führen eine
im Vergleich zum leichten Heizöl um rund 5 Prozent niedrigere Steueranpassung für Erdgas durch. Damit werden
wir den Umweltvorteil von Erdgas auch weiterhin honorieren.
({11})
- Lesen Sie das Gesetz wirklich einmal durch. Dazu haben Sie nichts gesagt.
Damit ist insgesamt der Anreiz, in Einsparmaßnahmen
und effiziente Kraftwärmekopplungsanlagen zu investieren, deutlich erhöht. Wir fördern die Einsparmaßnahmen
darüber hinaus mit zusätzlichen 150 Millionen Euro jährlich für ein energetisches Gebäudesanierungsprogramm.
Damit können die Leute die Ökosteuer wegsparen.
({12})
- Es wäre schön gewesen, wenn Sie auch nur einen einzigen Vorschlag gemacht hätten, wie man tatsächlich dem
Kioto-Ziel nahe kommt. Das tun Sie nicht.
({13})
Was machen Sie? Sie, die CDU/CSU und die FDP, sind
die größten Keynesianer seit Bestehen der Bundesrepublik. Sie geben nämlich ständig unzählige Milliarden aus.
Deshalb können Sie gar nicht in die politische Verantwortung genommen werden. Jede Steuersubvention, die wir
abbauen, beklagen Sie - da bricht immer das Land zusammen. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie
viele Hunderte von Milliarden Sie im Wahlkampf in Aussicht gestellt haben.
Die Leute in unserem Land wissen, dass wir nachhaltig wirtschaften müssen. Dies betrifft die Finanzpolitik,
die Steuerpolitik und natürlich auch die Umweltpolitik.
Das machen wir mit diesem Gesetz, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({14})
Zu den Nachtspeicherheizungen: Wir bieten Besitzern
alter Nachtspeicherheizungen zusätzliche 10 Millionen Euro jährlich an, mit denen sie die Umstellung auf
umweltfreundliche Systeme finanzieren können. Das ist
ein Anreiz, den wir jedem geben.
Letzte Bemerkung: Als Bonbon für die Nutzung umweltfreundlicher Erdgasautos haben wir jetzt die Verlängerung der bisher nur bis 2009 gültigen Steuerermäßigung
bis 2020 vorgesehen. Damit zahlen Sie als Nutzer eines
Erdgasautos nur rund die Hälfte des normalen Spritpreises.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, genau das ist
die Antwort auf die Herausforderungen aufgrund der klimapolitisch bedingten Katastrophen; das sagt Ihnen doch
jeder. Jedes Jahr nehmen Anzahl und Ausmaß der Katastrophen zu; das ist auch beim Hochwasser der Fall. Was
sagen Sie? Sie sagen, das seien alles nur Steuererhöhungen. Entscheidend ist aber die Lenkungswirkung, wie
Sie gehört haben. Zudem geben wir - gerade auch durch
Steuerermäßigungen zugunsten der Umwelt - nach wie
vor den allergrößten Teil zurück und bieten dadurch Anreize, tatsächlich ökologisch zu wirtschaften. Die Menschen in diesem Lande haben das honoriert und werden
das auch weiter honorieren.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Norbert
Schindler für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin Wolf, hoffentlich werden, nachdem Sie
jetzt in die Umschulung gekommen sind, Ihre nächsten
vier Jahre in der Lehre im Umweltressort besser als Ihre
vier Jahre bei Herrn Minister Müller im Wirtschaftsressort.
Herr Minister Eichel, zu den Aussagen von Frau
Merkel bezüglich des Kioto-Protokolls, die Sie zu Beginn
Ihrer Rede zitiert haben: Ja, diese Ziele hat Frau Merkel
vorgegeben. Es ist treffend gesagt worden, was Herr Kollege Seiffert Ihnen vorgehalten hat. Das Schlimme aber
ist: Mit all den Zitaten im Vorwahlkampf, beginnend ab
April/Mai, haben Sie doch in der Konsequenz nicht nur
das Volk belogen. Sie haben damit auch einen ganz enormen Vertrauensverlust in der Wahrnehmung von politischen Aussagen nach draußen bewirkt.
({0})
Es sind schlimme Zeichen, die da in der politischen Auseinandersetzung gegeben wurden. Die Wahrnehmung
draußen trifft uns alle, ob in der Koalition oder in der Opposition. Deswegen bitte ich auch, in so einem Punkt in
Zukunft wirklich verantwortlich mit Aussagen umzugehen, damit die Glaubwürdigkeit in der Politik wieder den
Stellenwert bekommt, der uns zu Recht zusteht, den Sie
aber in verantwortungsloser Weise geschliffen haben, angefangen bei Kanzler Schröder über führende Leute in
seinem Kabinett bis hin zum Bereich der Wahlkampfauseinandersetzungen.
({1})
Was wir heute beginnen, ist der nächste Tanz auf dem
Vulkan für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Wenn man den Koalitionsvertrag in Zahlen einmal nachrechnet, stellt man fest, dass das, was bis 2006 beschlossen ist, Erhöhungen von rund 65 bis 67 Milliarden Euro
ergibt. Was wir heute diskutieren, hat Auswirkungen auf
die Mieterhöhungen im kommenden Jahr. Herr Däke
rechnet mit Durchschnittserhöhungen von 170 bis
180 Euro pro Monat für die Steuerzahler im Durchschnittshaushalt.
Ich will das im Einzelnen nicht nachvollziehen, aber die
Gesamtbelastung für den Wirtschaftsstandort Deutschland
im internationalen europäischen Vergleich lässt sich mit
folgendem Bild ausdrücken: Man legt einem Patienten,
der eine Lungenentzündung hat, eine zusätzliche Infektion ins Krankenbett. Meine Damen und Herren, das hält
Deutschlands Wirtschaft im europäischen Vergleich nicht
aus.
({2})
- Sie können von Panikmache reden, Frau Kollegin, aber
was ist denn mit der Steuerreform 2000 passiert? Die
größte Steuerreform sollte es sein. Was hat Herr Riester
hier getönt, was er mit der größten Rentenreform alles auf
den Weg gebracht hat. Ihr habt jetzt den eigenen Mist geerbt. Es sind eure eigenen Beschlüsse, die im Sommer des
Jahres 2000 so hochgelobt wurden. Ein Desaster ungewöhnlichsten Ausmaßes zeigen alle relevanten Zahlen zu
unserer Wirtschaft und zu den Steuereinnahmen.
Ich habe schon von Vertrauensverlust gesprochen. Was
wir jetzt beschließen, sind die ersten Schritte dahin, nämlich 2 Milliarden Euro Mehrbelastung im privaten und
2 Milliarden Mehrbelastung im wirtschaftlichen Bereich.
Wir sagten nicht umsonst schon vor einem guten Jahr: Wir
rauchen jetzt für die Sicherheit und wir tanken für die
Rente. - Dies alles findet statt - trotz aller Aussagen, die
in der Vergangenheit gemacht wurden.
({3})
Ich befürchte, dass nach dem 2. oder 3. Februar die
Kiste der Pandora ganz aufgemacht wird.
({4})
Wenn die Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen
gelaufen sind, reden wir hier über die Erhöhung der Erbschaftsteuer, über die Einführung der Vermögensteuer
und - das ist gestern schon einmal angeklungen - über die
Erhöhung der Mehrwertsteuer. Man will diesen wichtigen
Tag natürlich genauso abwarten, wie man dies mit dem
großen Wahltag im Jahr 2002 gemacht hat.
Was das, was in der Vergangenheit so viel gelobt worden ist, für uns bedeutet, auch in der strukturellen Entwicklung, sehen wir erst heute. Das geht bis hin zum
Kleingewerbe und zur Landwirtschaft. Wenn es heißt,
dass es die Landwirtschaft nur in Maßen trifft, dann
muss ich erwidern - Sie wissen es doch auch, Herr Kollege Schultz -: Ein Unterglas-Gartenbaubetrieb wird
durch diese Beschlüsse mit 15 000 Euro neu belastet und
da reden Sie vom Wirtschaftsstandort im Vergleich zu
Holland! Sie kommen doch aus der Region. Sie müssten
es eigentlich wissen.
({5})
Dem Durchschnittsbetrieb, der heute schon eine Belastung von 3 500 Euro hat, werden noch einmal 400 bis
500 Euro draufgesattelt. Aber gerade die Bauern haben
bei den Lohnnebenkosten - da verkündet ihr ja immer
eine Entlastung; dabei muss man aber fragen: Was habt
ihr da alles versprochen? - keine Entlastung.
({6})
Sie haben bei der Ökosteuer - um noch einmal auf den
Punkt zu kommen - eine gute Idee steuerfiskalisch missbraucht, weil Sie nicht den Mut hatten, in den Strukturfragen, etwa bei der Rente, die Wahrheit zu sagen und das
Problem so anzupacken, wie es dringend notwendig wäre.
Diese Flickschusterei ist Gift für Deutschland. Die Aussagen, die Sie im letzten halben Jahr gemacht haben,
führen dazu, dass das Vertrauen in die Politik schwindet.
Ich prophezeie Ihnen: Sie werden dafür bitter, bitter abgestraft.
Vielen Dank.
({7})
- Ich kann Ihnen dazu nur Folgendes sagen: In der „Berliner Zeitung“ gab es ein schönes Witzbild mit einer Kuh
und da hieß es: Sie soll nicht mehr fressen, sondern mehr
Milch geben. - Dabei ging es um die deutsche Wirtschaft.
Sehr treffend!
({8})
Das Wort hat der Kollege Michael Müller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Mitglied des Club of Rome, Frederic Vester, hat Ihre Politik,
wie ich finde, völlig richtig gekennzeichnet. Er hat gesagt:
Die Kampagne gegen die Ökosteuer, an deren Spitze
sich Ministerpräsident Edmund Stoiber gesetzt hat,
zeigt überdeutlich, worum es ihm geht, nicht um die
notwendigen Weichenstellungen, die uns und kommenden Generationen eine lebenswerte Welt garantieren. Es geht ihm ausschließlich um ein parteipolitisches Kalkül.
({0})
Frederic Vester sagt weiter:
Dabei schreckt er nicht einmal davor zurück, die
Fakten bewusst zu entstellen.
Auch das ist richtig.
Wenden wir uns doch noch einmal dem Sinn der ökologischen Steuerreform zu! Übrigens waren wir da schon
sehr viel weiter. Ich erinnere nur daran, dass der erste Regierungsbeschluss zu einer ökologischen Steuerreform
vom Kabinett Kohl gefasst worden ist. Das war im Jahre
1990. Es ging um die Einführung einer Restverschmutzungsabgabe zum Klimaschutz, die Sie dann allerdings
nicht umgesetzt haben, weil Sie nie den Mut dazu gehabt
haben. Sie haben auch die ganze Zeit danach nichts anderes getan, als eine Doppelstrategie zu verfolgen. Sie haben die ökologische Steuerreform angekündigt, aber immer dann, wenn es Ernst wurde, haben Sie gekniffen. Das
war die Wirklichkeit der 90er-Jahre.
({1})
Was also ist der Sinn der ökologischen Steuerreform? Wir sind am Beginn eines ganz neuen und sehr
schwierigen Weges. Sie sagen immer, wir müssten der Bevölkerung die Wahrheit sagen. Wenn wir es tun, dann kritisieren Sie das auch. Wir sind aber in einer Situation, in
der wir mit dem heutigen Verbrauch an Umwelt nicht weitermachen dürfen. Bei der ökologischen Steuerreform
geht es darum, Arbeit zu entlasten und gleichzeitig die
Energieproduktivität und die Ressourcenproduktivität zu
stärken.
({2})
- Sie sollten ganz ruhig sein! Sie tun so, als ob Sie mit Ihrer eigenen Vergangenheit überhaupt nichts zu tun hätten.
Ich möchte deshalb zum Beispiel auf Herrn Rexrodt
zurückkommen. Er hat in einem Papier, das er vorgelegt
hat, für einen nationalen Alleingang bei der Ökosteuer
plädiert, übrigens völlig zu Recht.
({3})
Das Papier der CDU/CSU enthält genau das gleiche Konzept, nämlich Entlastungen bei den Lohnnebenkosten.
Auch Ihr Wahlprogramm von 1998, meine Damen und
Herren von der FDP, enthält eine solche Forderung.
({4})
- Nein, in Ihrem Wahlprogramm war von Energiebesteuerung und von der Einführung einer Ökosteuer die
Rede.
Ich kann ja verstehen, dass Sie das alles heute nicht
mehr wahrhaben wollen; denn Sie reden den Menschen
nach dem Mund, statt die Wahrheit zu sagen.
({5})
Die Wahrheit ist, dass unser heutiges Wirtschaftsmodell
die Natur zerstört und deshalb nicht fortgesetzt werden
darf. Das ist doch die Wahrheit! Die ökologische Steuerreform ist doch kein Selbstzweck.
({6})
Frederic Vester hat Recht: Das, was Sie betreiben, ist verantwortungslos.
In der Tat hat die Ökosteuer seit 1999 Erfolge gehabt.
Das zeigen alle Untersuchungen.
({7})
- Auch bei der Rente hat die Ökosteuer Erfolge zu verzeichnen. Immerhin ist der Beitragssatz von 20,3 Prozentpunkten im Jahr 1998 auf 19,1 Prozentpunkte in 2002
gesunken.
({8})
Das wissen Sie ganz genau. Tun Sie doch nicht so, als ob
das nicht wahr wäre.
Ich möchte jetzt die wichtigsten Erfolge der Ökosteuer nennen.
Michael Müller ({9})
Erstens. In den letzten beiden Jahren ist der Kraftstoffverbrauch zum ersten Mal seit Ende der 70er-Jahre gesunken.
({10})
Zweitens. Der Heizölverbrauch stagniert. Auch das ist
ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Sonst gab es
immer nur Zuwächse.
Drittens. Untersuchungen belegen, dass rund 60 000
zusätzliche Arbeitsplätze durch die Ökosteuer geschaffen
und circa 90 000 gesichert worden sind. Sie müssen die
Fakten auch einmal zur Kenntnis nehmen.
Nach den Untersuchungen des Bundesumweltamtes
sind die Kohlendioxidemissionen um rund 8 Millionen
Tonnen durch die Ökosteuer reduziert worden. Zum ersten Mal gab es in den letzten Jahren in unserem Land eine
starke Steigerung der Energieproduktivität. Sie hat sich
fast verdoppelt, wenn man den Zuwachs der letzten vier
Jahre berücksichtigt. Diese Erfolge kann man nur wegdiskutieren, wenn man sie aus parteipolitischen Gründen
nicht zur Kenntnis nehmen will oder sich nicht mit den
Fakten beschäftigt.
({11})
Wie war es bei Ihnen? Am Anfang haben Sie - das kann
man Ihnen auch nicht ersparen - gesagt: Eine ökologische
Steuerreform wird es mit uns nicht geben. - Wie haben Sie
gegen diese Steuerreform gewettert! Aber je näher der
Wahltermin vom 22. September rückte, desto öfter haben
die Zeitungen - völlig zu Recht - getitelt: Einknicken von
Herrn Stoiber bei der Ökosteuer - Rolle rückwärts -.
Letztendlich haben Sie eine Schadstoffabgabe vorgeschlagen. Als ob das keine Ökosteuer wäre! Welche Doppelstrategie betreiben Sie eigentlich? Das, was Sie machen, kann man in keiner Weise akzeptieren.
({12})
Sie haben behauptet, dass unsere Ökosteuer ungerecht
sei, weil sie die Großen schone. Was enthielt Ihr Vorschlag einer Schadstoffabgabe? Er enthielt - darauf hat
vorhin jemand hingewiesen - viele Ausnahmen für die
Industrie. Das ist auch vernünftig. Heute behaupten Sie,
wir trieben den Wirtschaftsstandort Deutschland in die
Krise. Nein, Sie sind in Ihrer Argumentation unlogisch
und unsauber. Das ist das eigentliche Problem.
({13})
Wir werden es auf keinen Fall so machen, wie Sie es
zwischen 1989 und 1994 gemacht haben, als Sie die Mineralölsteuer um 51 Pfennig erhöht haben und alle daraus
resultierenden Mehreinnahmen in die Kassen gesteckt haben, um Haushaltslöcher zu stopfen. So sah Ihre Realität
aus. Wir dagegen leisten einen Beitrag, indem wir das
Aufkommen zurückgeben.
({14})
- Sie haben stets leichtfertige Versprechungen gemacht,
die Sie nie erfüllen konnten.
({15})
Wir machen eine andere Politik. Wir wollen - das ist
völlig richtig - weg von der einseitigen Ausrichtung auf
die Arbeitsproduktivität, das heißt von der Übernahme der
Arbeit durch Technik, hin zu einer höheren Energie- und
Ressourcenproduktivität. Das ist überall in Europa,
nur nicht bei der Opposition, als das moderne wirtschaftspolitische Konzept anerkannt. Ich habe aber den
Eindruck, das wird die Opposition nie lernen.
Meine Damen und Herren, man kann Ihnen jetzt lange
vorhalten, was Sie selbst zu diesem Thema gesagt haben.
So wurde beispielsweise im Konzept 2000 der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter anderem mit Hinweis auf die großen Vorteile, die man bei der Katalysatortechnik erreicht hat, bewusst für eine nationale Vorreiterrolle bei der Ökosteuer plädiert. Das wurde von Herrn
Repnik unterschrieben.
Ein anderes Beispiel: Herr Merz führte am 10. November 1998 aus, durch die Ökosteuer sollten Steuereinnahmen erzielt werden, um auf der anderen Seite Sozialabgaben zu reduzieren; über ein solch sinnvolles Konzept
kann man reden.
({16})
Tatsache ist: Sie haben immer nur folgenlos geredet.
Das ist der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns,
denn wir handeln. Wir haben nämlich eine Verantwortung
für die Zukunft, die wir auch wahrnehmen.
Vielen Dank.
({17})
Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Michael
Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie gestatten mir, dass ich Herrn Bundesumweltminister Trittin vom 29. Oktober zitiere.
Die einseitige Erhöhung der Erdgassteuer, insbesondere im Verhältnis zum Steuersatz des leichten Heizöls, widerspricht der ökologischen Vernunft.
({0})
Ihr Bundesumweltminister hat Ihren Gesetzentwurf gemeint, dem er damit den Stempel „ökologisch unvernünftig“ aufdrückt.
({1})
Des Weiteren möchte ich Sie darauf hinweisen, dass
Ihr Bundesumweltminister, gestellt vom Bündnis 90/Die
Grünen, befürchtet, dass die Konzeption dieses Gesetz468
entwurfs, über den wir debattieren, die klimaschutzpolitische Glaubwürdigkeit des Instrumentenverbundes mit
der freiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie gefährdet. Das heißt, Sie stellen mit diesem Gesetzentwurf
massiv infrage, ob die Wirtschaft in Deutschland noch zur
freiwilligen Selbstverpflichtung steht. Der Umweltminister in Ihrem Kabinett hat Zweifel daran.
Sie sind heute meilenweit davon entfernt, eine 25-Prozent-CO2-Minderung bis zum Jahre 2005 zu erreichen.
({2})
Vor diesem Hintergrund gefährden Sie die freiwillige
Selbstverpflichtung. Das, was Sie hier tun, ist ökologisch
kontraproduktiv und klimafeindlich, Herr Kollege Müller.
Sie sollten also nicht versuchen, uns Ratschläge zu geben.
Sie sagen, Sie machten Energie teurer und Arbeit billiger. Obwohl es vorhin schon einmal angesprochen wurde,
will ich es nochmals auf den Punkt bringen: Das, was Sie
ab 1. Januar 2003 durch die Ökosteuer einnehmen, entspricht 2,3 Prozentpunkten in der Rentenversicherung.
Sie werden eine Anhebung auf 19,5 Prozent zum 1. Januar
beschließen. Das ergäbe einen Beitragssatz von 21,8 Prozent. 1998 lag der Rentenversicherungsbeitrag bei
20,3 Prozent. Das heißt, Sie liegen weit höher als damals
und sind mit Ihrer Rentenreform gescheitert. Sie haben
mit diesem Ansatz in der Rentenpolitik versagt.
({3})
Wenn Sie nicht zu einer Systemreform in der Rente
kommen, werden Sie weiter in die Irre gehen. Die Altersstruktur unserer Bevölkerung muss sich endlich in der
Rentenformel widerspiegeln. Dafür haben wir übrigens
gesorgt.
({4})
Sie haben den Leuten in Ihrer Koalitionsvereinbarung
vorgegaukelt, dass der Betrieb von Nachtspeicherheizungen nicht besteuert wird. Sie haben in der 14. Wahlperiode in der Drucksache 14/40 dargestellt, dass
Nachtspeicherheizungen überdurchschnittlich häufig von
unteren Einkommensschichten genutzt werden und gerade deshalb eine steuerliche Ermäßigung gerechtfertigt
sei.
Genau diese unteren Einkommensschichten, die Sie in
Ihrer Drucksache vor vier Jahren hervorgehoben und über
die Sie gesagt haben, ihre Belastung sei sozial unverantwortlich, belasten Sie jetzt. Das ist sozial unverantwortlich, und zwar nicht deshalb, weil wir es sagen, sondern
aufgrund Ihrer eigenen Argumentation. Lassen Sie doch
die Finger davon und machen Sie keine sozialen Schweinereien!
({5})
Natürlich ist es berechtigt, nach Herrn Stoiber auch
Frau Merkel nach unserem Konzept zu fragen, Herr
Müller. Ich sage Ihnen dazu: Wir haben ein Konzept, das
an dieser Stelle konsistent ist. Wir haben immer gesagt:
Die ökologische Steuerreform muss EU-konform sein.
({6})
Sie muss im Gleichklang mit der Europäischen Union erfolgen. Wir haben immer gesagt: Sie muss wettbewerbskonform und aufkommensneutral sein.
Sie machen sie weder EU-konform noch aufkommensneutral, noch wettbewerbskonform. Alle Bedingungen
sind verletzt. Deshalb sagen wir auch Nein zu dieser Ökosteuer. Wir sagen aber nicht Nein zu ökologischen Maßnahmen im Steuerrecht, wenn sie den genannten Anforderungen genügen würden.
({7})
Dann halten Sie uns die Erhöhung der Mineralölsteuer von Mitte der 90er-Jahre vor. Deren Aufkommen
haben wir natürlich zu einem Teil zur Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs eingesetzt.
({8})
Diese Mittel fließen im Rahmen der Bahnreform. Wenn
Sie der Meinung sind, dass wir den öffentlichen Personennahverkehr nicht aus dem Mineralölsteueraufkommen
finanzieren sollten, dann beantragen Sie, dass die Mineralölsteuer gesenkt und die Finanzierung des ÖPNV
zurückgenommen wird. Bringen Sie, meine Damen und
Herren von Bündnis 90/Die Grünen, einen Antrag ein, der
vorsieht: Finanzierung des ÖPNV absenken. Das müssten
Sie ehrlicherweise tun, wenn Sie uns den Punkt Mineralölsteuererhöhung vorhalten.
({9})
- Sind Sie für den ÖPNV oder gegen den ÖPNV? Beantworten Sie doch einfach diese Frage!
Ich will Ihnen vorhalten, was Sie in dieser Frage für die
Wirtschaft tun: Es ist keineswegs so, dass Sie in diesem
Land mehr Arbeitsplätze schaffen. Vielmehr belasten Sie
das produzierende Gewerbe, Sie belasten die Landwirtschaft und Sie belasten die Forstwirtschaft. Das ist schädlich für den Wirtschaftsstandort Deutschland, es ist schädlich für das Wachstum und es ist schädlich für
Arbeitsplätze. Wenn Sie endlich eine wachstums- und arbeitsplatzfreundliche Finanzpolitik machen würden, dann
bräuchten Sie sich auch um die Haushaltskonsolidierung
keine Sorgen zu machen.
({10})
1 Prozent mehr Wachstum und Sie haben die gesamten
Haushaltsprobleme in diesem Land gelöst. Deshalb tun
Sie etwas dafür, dass wir Arbeitsplätze und Wachstum bekommen. Tun Sie nicht ständig etwas dafür, dass Firmen
und Unternehmen und somit Arbeitsplätze aus Deutschland abwandern.
({11})
Der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, ist ein Wortbruch.
Denn der Bundeskanzler hat gesagt: Es gibt nach der fünften Stufe der Ökosteuer keine weitere Stufe. - Das hier ist
die sechste. Von dem, was Sie jetzt in Bezug auf
Nachtspeicherheizungen und Heizöl planen, war vor der
Wahl nicht die Rede. Alles, was hier begangen worden ist,
ist Wortbruch. Diesen Wortbruch werden wir und auch die
Öffentlichkeit Ihnen nicht durchgehen lassen, selbst wenn
Sie versuchen, diesen Gesetzentwurf bei Nacht und Nebel
und in kurzer Zeit durch die Beratungen zu pauken.
Viel Freude bei der Beratung dieses für dieses Land
und seine Menschen sehr unangenehmen und sehr feindlichen Gesetzentwurfes.
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/21 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Den neu gewählten Kolleginnen und Kollegen im
Hause empfehle ich, keine voreiligen Schlüsse hinsichtlich der üblichen Dauer von Plenartagen zu ziehen. Das
gilt besonders für Donnerstage.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. November 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.