Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Hans Georg Wagner feiert heute seinen
65. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses
und wünsche alles Gute.
({0})
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Punkt I - fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2004 ({1})
- Drucksachen 15/1500, 15/1670 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses ({2}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007
- Drucksachen 15/1501, 15/1670, 15/1924 Ich rufe dazu Punkt I. 8 auf:
Einzelplan 04
Bundeskanzler und Bundeskanzleramt
- Drucksachen 15/1904, 15/1921 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Gerhard Rübenkönig
Alexander Bonde
Dr. Günter Rexrodt
Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. Außerdem ist ein
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP angekündigt, über den am Freitag nach der Schlussabstimmung
abgestimmt werden soll.
Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die
Aussprache über den Einzelplan 04 namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die grausamen Bombenanschläge auf jüdische
Synagogen und britische Einrichtungen in Istanbul
haben die Geißel des Terrors brutal in Erinnerung gerufen. Unsere Anteilnahme gilt den Opfern dieser Anschläge und ihren Familien. Wir stehen angesichts der
feigen und hinterhältigen Anschläge fest an der Seite unserer Freunde und sollten uns grundsätzlich von voreiligen Schlussfolgerungen zurückhalten.
({0})
- Ich bedanke mich für den Beifall von allen Seiten des
Hauses. Das, was ich gesagt habe, gilt selbstverständlich
auch für alle Seiten.
Ich meine, dass die freien Völker mit Einigkeit,
Standfestigkeit und notfalls auch mit militärischen Mitteln für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eintreten müssen, um den Terrorismus zu bekämpfen.
Meine Fraktion hat nie einen Zweifel an der Entschlossenheit gelassen, alle Machtmittel des Staates zum
Schutz seiner Bürger einzusetzen. Die Soldaten unserer
Bundeswehr leisten ausgezeichnete Arbeit in Afghanistan, Bosnien, Mazedonien, im Kosovo und an vielen anderen Stellen in der Welt. Unsere Soldaten werden bei
uns immer Rückhalt für ihre schwere Arbeit finden. Das
ist die Politik der CDU/CSU.
Redetext
Wir haben uns unserer Verantwortung als Opposition
immer gestellt. Wir haben allen Einsätzen zugestimmt,
die die Sicherheit unseres Landes erfordert hat, obwohl
wir manchmal zu spät, halb oder nicht richtig informiert
worden sind. Ich meine, dass wir auch in Zukunft unsere
Sicherheitsdienste stärken müssen. Das gilt insbesondere
für die Nachrichtendienste, die wir oft vor ungerechtfertigten Angriffen von Rot-Grün in Schutz nehmen
mussten.
({1})
- Aber sicher! Ich kann gerne aufzählen, was Sie und
Ihre Vorgänger alles gemacht haben. Teilweise sind hier
ja Damen und Herren anwesend, die die Entwicklung
der Bundesrepublik Deutschland nicht so genau kennen.
({2})
An dieser Stelle sei auch der Hinweis erlaubt, dass
man sehr genau darüber nachdenken sollte, ob man ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit den Bundesnachrichtendienst mit einem überflüssigen Umzug befasst;
denn er hat eigentlich etwas ganz anderes zu tun.
({3})
Ich meine auch, dass die Zusammenarbeit mit unseren
türkischen Freunden in Sicherheitsfragen vertieft werden
muss. Die Türkei leistet in der NATO einen herausragenden Beitrag zu unserer Sicherheit.
In New York, Djerba, Bali, Bagdad, Riad und vielen
anderen Orten auf dem Globus hat der Terror blutige
Spuren hinterlassen. Unter den Opfern sind Menschen
aller Nationen, auch Deutsche. Terroristen töten ohne
jegliche Logik. Richtig ist: Deutschland und die
Europäische Union sind vom al-Qaida-Terror bisher verschont geblieben; aber nur ein Narr glaubt, das müsse
automatisch für alle Zeiten so bleiben.
Stefan Kornelius schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“:
Wer Terrorismus und EU-Mitgliedschaft der Türkei
mutwillig vermischt, läuft in die Populismus-Falle.
({4})
- Ich meine durchaus auch den Herrn Schily.
({5})
- Sie müssen die Äußerungen beider Seiten berücksichtigen. - Die Solidarität im Kampf gegen den Terror und
die künftigen Grenzen der Europäischen Union haben
überhaupt nichts miteinander zu tun.
({6})
Damit auch das ganz klar ist - an unserer grundsätzlichen Position will ich hier keinen Zweifel lassen -: Eine
Vollmitgliedschaft der Türkei mit voller Freizügigkeit
überfordert die Integrationskraft der Europäischen
Union und insbesondere Deutschlands.
Wir sollten diese Fragen vorurteilsfrei
({7})
und vor allen Dingen unaufgeregt diskutieren. Dazu lade
ich Sie ein.
({8})
Dazu wird es auch im nächsten Jahr sehr viel Gelegenheit geben. Wir müssen solche Fragen losgelöst von so
furchtbaren Bildern wie denen aus Istanbul diskutieren.
({9})
Ich bin der Meinung, dass wir uns auf dem richtigen
Weg, der Europa in die Zukunft führt, grundsätzlich
nicht beirren lassen dürfen. Wir werden selbstverständlich auch die Zukunftsfragen Europas im nächsten Jahr
diskutieren. Das sind wir den Wählerinnen und Wählern,
insbesondere vor einer Wahl zum Europäischen Parlament, schuldig. Wer die Zukunft Europas sichern will,
der muss die Menschen auf dem Weg mitnehmen und
darf sie nicht überfordern. Wir wollen und brauchen ein
wirtschaftlich starkes Europa, dessen Stimme in der Welt
Gewicht hat.
Dieses Europa kann aber nicht ohne ein starkes
Deutschland in seiner Mitte auskommen.
({10})
Vor allen Dingen brauchen wir ein wirtschaftlich starkes
Deutschland. Die rot-grüne Politik hat Deutschland und
damit Europa nachhaltig geschwächt. Herr Bundeskanzler, sehen Sie sich heute einmal das verheerende Echo in
allen führenden Wirtschaftszeitungen - ich brauche sie
nicht aufzuzählen - an! Allein die Überschriften sind für
Sie ein Desaster und zeigen, wie falsch der Weg ist, die
Stabilität unserer Gemeinschaftswährung einfach so aufs
Spiel zu setzen, wie es Herr Eichel getan hat.
({11})
Es ist eine Tragödie - auf Deutsch: ein Trauerspiel -,
dass Deutschland nicht mehr der Anker der Stabilität in
Europa ist, sondern heute als Haushaltssünder auf der
Anklagebank sitzen muss.
({12})
Deutschland wird im kommenden Jahr zum dritten Mal
in Folge den europäischen Stabilitätspakt verletzen.
Wider besseres Wissen hat Hans Eichel immer wieder
bewusst - ich drücke es vorsichtig aus - geschönte Zahlen nach Europa gemeldet. Das ist eine Schande für unser Land, weil gerade Deutschland immer der Stabilitätsanker gewesen ist.
({13})
Deutschland war immer ein Land, das anderen Ländern
ein gutes Beispiel gegeben hat, wenn es um Stabilität
und Solidität ging.
Das Aufgeben der Stabilitätskultur der Gemeinschaftswährung ist eine Verhöhnung des Erbes der Deutschen Mark. Es ist ein ungeheurer Vertrauensbruch auch
gegenüber allen Befürwortern der damals schwierigen
Entscheidung. Ich weiß noch, wie schwierig es war, der
europäischen Währungsunion zuzustimmen, insbesondere weil man eine Währung wie die Deutsche Mark,
nicht wie die Lira, in der Hand hatte.
({14})
- Herr Poß, ich würde gern mehr Zwischenrufe aufgreifen; aber es besteht immer die Schwierigkeit: Der Fernsehzuschauer hört nicht, was Sie rufen, grölen oder was
auch immer.
({15})
- Ich wiederhole das: Es war schwierig für die CSU. Es war für uns natürlich nicht leicht, weil wir sehr viele
Menschen vertreten, die gespart haben, die vorgesorgt
haben, die das getan haben, was heute endlich gefordert
wird, nämlich private Lebens- und Rentenversicherungen abgeschlossen haben. Die fragen sich natürlich:
Was wird aus dem Geld? Wird es von der Inflation aufgefressen?
({16})
- Herr Präsident, die Zwischenrufe von der Regierungsbank gehen schon wieder los.
({17})
Herr Bundesaußenminister,
({18})
gehen Sie auf Ihren Abgeordnetenplatz, auf den Sie gehören. Von dort aus können Sie rufen, was Sie wollen.
({19})
Ich meine jedenfalls, dass wir das Stabilitätserbe von
Helmut Kohl und Theo Waigel nicht verspielen dürfen.
Diejenigen, die eine solche Politik betreiben, höhlen das
Vertragswerk von Maastricht vorsätzlich aus. Die große
Gefahr ist auch, dass die Zusagen, die Sie gegeben haben, Herr Eichel, nicht mehr ernst genommen werden.
Ich würde an Ihrer Stelle alles tun, um nicht als Totengräber des Stabilitätspaktes in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einzugehen.
({20})
Wer mutwillig Fundamente zerstört, der bringt ein
Haus in Einsturzgefahr. Es ist sehr bezeichnend, dass
Herr Trichet den Vorstand der Europäischen Zentralbank sofort zu einer Sondersitzung einberufen musste,
um die neue Lage zu diskutieren.
Jetzt möchte ich doch noch einmal kurz auf den europäischen Verfassungsvertrag zu sprechen kommen, den
wir hier schon in verschiedenen Facetten diskutiert haben; es gibt aber auch Punkte, die hier noch nicht genannt worden sind, in denen er nach meiner Auffassung
sehr ergänzungsbedürftig ist. Dabei geht es vor allem um
die Gewährleistung der Stabilität unserer Währung. Auf
die Dauer kann die Europäische Zentralbank die Stabilität des Euro nur garantieren, wenn sie von den Ländern
der Eurozone durch eine solide Haushaltspolitik unterstützt wird.
Sie, Herr Eichel, behaupten, mit dem Verzicht auf
weitere Konsolidierungsmaßnahmen trage Deutschland
zur Stärkung der Konjunktur und zum Aufschwung in
der Europäischen Union bei. Diese Behauptung ist leider
nicht richtig. Bei einem Defizit des Bundeshaushalts
von, wie wir gestern gehört haben, 43,4 Milliarden Euro
im laufenden Jahr und von geplanten 30 Milliarden Euro
im kommenden Jahr - auch diese Zahlen werden zu
Recht bestritten - wäre es absurd, von restriktiver Finanzpolitik zu sprechen. Es ist nicht so, dass alle Genossen das nicht verstehen, Herr Eichel. Es gibt durchaus
hessische Genossen, die das verstehen. Herr Welteke
- ich glaube, er war bei Ihnen sogar Finanzminister - hat
zu Recht betont: Konsolidierung und Wachstum stehen
sich nicht im Weg. Im Gegenteil - das beweist uns das
europäische Beispiel -: Die Länder der Eurozone, die
rechtzeitig ihre haushaltspolitischen Aufgaben gemacht
haben, stehen heute wirtschaftlich besser da als Deutschland.
({21})
Wir können uns nicht mit der Münchhausen-Methode
aus dem Sumpf ziehen. Es geht nicht, mit immer neuen
Schulden alte Schulden zu bekämpfen und zu erklären,
dass man zur Konsolidierung zurück will. Ich zitiere
Professor Wiegard, den Vorsitzenden des Sachverständigenrats, der von der Bundesregierung berufen worden
ist:
Das Einzige, was eine höhere Nettokreditaufnahme
erreichen kann, ist ein leichter, kurzfristiger Impuls
für die Konjunktur. Die langfristigen Wirkungen für
das Wachstum sind dagegen negativ.
Gegenwärtig profitiert der Eurokurs von einem
schwachen Dollar. Der schwache Dollar hat vielfältige
Ursachen. Aber das mit der Schwäche kann sich morgen
schon wieder ändern. Uns drohen dann Inflationsgefahren und zunächst vor allem steigende Zinsen. Bei einem
Schuldenstand der öffentlichen Haushalte von
1 300 Milliarden Euro bedeutet jeder Prozentpunkt Zinserhöhung eine zusätzliche Haushaltsbelastung von
13 Milliarden Euro. Für diese Summe - nur, um das einmal vor Augen zu führen - könnte man 600 000 Mittelklassewagen oder 50 000 Einfamilienhäuser kaufen.
Letztendlich bedeutet das ja immer auch eine Wanderung der Kaufkraft hin zu den Kapitalbesitzern, egal ob
sie im In- oder Ausland sind. Deswegen ist Konsolidierungspolitik auch soziale Politik.
({22})
Ich meine, dass die bewusste Verletzung des Stabilitätspaktes erheblichen politischen Zündstoff in sich
birgt: Die kleineren Euroländer fühlen sich über den
Tisch gezogen.
({23})
Ihre eigenen Sparanstrengungen - diese fallen ja keinem
Land leicht - werden damit ein Stück weit konterkariert.
Die Beitrittsländer werden über kurz oder lang aus dem
deutschen Vorgehen einen Persilschein für eine eigene
Schuldenpolitik ableiten.
Als die EU im Vorfeld des Irakkonfliktes - wir erinnern uns gut - vor dem Auseinanderbrechen stand, war
der Euro das letzte Bindemittel, das die Europäische
Union noch zusammengehalten hat. Nun legen Sie die
Axt an die Wurzeln des Euro an. Dafür werden wir über
kurz oder lang eine teure Zeche bezahlen müssen.
({24})
Kollege Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kuhn?
Gibt es den Herrn Kuhn denn hier? - Ah ja, da ist er.
Ich habe das jetzt nicht vermutet, weil sich die Grünen
eigentlich nie regen.
Herr Kollege Glos, ich habe folgende Frage, nachdem
({0})
- Herr Kauder! - wir Ihnen jetzt schon eine ganze Weile
zugehört haben und von Ihnen hören mussten, dass die
Politik der Bundesregierung in Bezug auf den Stabilitätspakt nicht seriös sei: Wie erklären Sie es sich nun,
dass Sie im Haushaltsausschuss keinen einzigen Antrag
bezüglich Deckungsmöglichkeiten, um den Haushalt
auszugleichen, gestellt und keinen einzigen Vorschlag
gemacht haben, wie 6 Milliarden Euro zusätzlich bewältigt werden sollen? Jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, unsere Politik sei unseriös. Meine Frage an Sie: Ist
es nicht eher Maulheldentum, wenn man so wie Sie die
Klappe aufreißt, aber keinen einzigen substanziellen Finanzierungsvorschlag bringt?
({1})
Herr Kuhn, Ihre erste Feststellung, dass Sie mir schon
15 Minuten zuhören, begrüße ich nachdrücklich. Das hat
es das letzte Mal nicht gegeben;
({0})
das ist irgendwie neu. Sonst wurde nämlich nur gestört.
Nun zu der Frage, wie wir uns bei den Haushaltsberatungen verhalten haben. Ich war beinahe zehn Jahre im
Haushaltsausschuss. Da hatte ich meine politischen
Lehr- und Wanderjahre. Man konnte immer nur einen seriös vorgelegten Haushalt beraten, also einen, bei dem
die Grundlagen gestimmt haben.
({1})
Schon die Grundannahmen dieses Haushaltes, den man
dem Haushaltsausschuss und dem Parlament zumutet,
stimmen nicht. Vor allen Dingen stimmen auch die Einzelposten nicht.
({2})
Es wurden sehr viele Dinge angesetzt, über die die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien überhaupt
nicht selbst verfügen können. Hierfür muss erst einmal
eine Mehrheit gefunden bzw. das Ergebnis des Vermittlungsausschusses abgewartet werden.
({3})
Was macht es dann also für einen Sinn, Anträge bezüglich kleinerer Posten zu stellen? Das sollten Sie wissen.
({4})
Ich komme zurück zu Europa: Schon jetzt beklagen
sich viele kleine EU-Staaten über das rücksichtslose Dominanzstreben der Achse Berlin-Paris. Wie man sich gegen die Kommission durchgesetzt hat, die Hüterin der
Verträge ist, war schlimm. Das wird eine verheerende
Wirkung auf Europa haben. Wer das nicht glaubt, hätte
sich gestern einmal das Gesicht von Solbes ansehen sollen. Europa kann nur gedeihen - da bin ich mir ganz sicher; denn auch das ist etwas, was ich von Helmut Kohl
gelernt habe -,
({5})
wenn es von Ausgleich und Kompromiss geprägt ist.
Wer glaubt, zwei bis drei führende Staaten könnten andere zu Statisten degradieren, der zerstört Europa und
wird Schiffbruch erleiden.
({6})
Ich sehe Mängel - damit komme ich zurück zu meinen Forderungen in Bezug auf den Verfassungsvertrag auch bei der Stabilitätspolitik. Preisstabilität wird nicht
mehr als Ziel der Europäischen Union genannt. Die Europäische Zentralbank wird zu einem x-beliebigen Organ herabgestuft. Der Konvent hat ja die Anregungen
der Europäischen Zentralbank nicht gewürdigt, indem er
sie einfach nicht aufgenommen hat. Das bleibt eine Tatsache.
Der verfehlte Kompromiss zum Stabilitätspakt erschwert die Zustimmung zum EU-Verfassungsvertrag,
die zu erzielen eh noch schwierig genug wird. Auch darauf möchte ich Sie in aller Ruhe aufmerksam machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche
Aussprache wie heute ist natürlich auch eine Generalaussprache über die Politik des Bundeskanzlers und seiner Regierung. Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder,
die Menschen in Deutschland haben wenig Anlass, Ihnen und Ihrer Regierung zu vertrauen, genauso wenig
wie die Partner in Europa.
({7})
Der so genannte Lügenausschuss hat die Fakten dokumentiert.
({8})
- Bitte hören Sie es sich doch in Ruhe an! Ich weiß: Es
ist für Sie schwer zu ertragen; aber das sind doch die Ergebnisse Ihrer Politik.
Vor allen Dingen, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen Parlamentarier: Sie haben das alles zugedeckt
({9})
und sind bereit, Regierungsfehlhandeln weiterhin zuzudecken. Das ist eigentlich nicht die Rolle eines selbstbewussten Parlaments und selbstbewusster Parlamentarier.
({10})
Bundesminister Eichel hat bis zur Wahl 2002 die desolate Situation des Haushalts anders dargestellt, als sie
tatsächlich war.
({11})
Er hat falsche Zahlen bezüglich der Einhaltung des
Maastricht-Kriteriums gemeldet. Ulla Schmidt hat vor
dem Wahltag behauptet, sie erwarte für 2002 ein ausgeglichenes Ergebnis der gesetzlichen Krankenversicherung und für 2003 stabile Beiträge.
Richtig ist - das hat der Ausschuss erwiesen -: Die
Experten der Ministerien haben ihren Chefs die Fakten
präsentiert. Die Chefs haben dann die Öffentlichkeit bewusst getäuscht. Deswegen ist diese Stunde hier - die
Diskussion über den Haushalt 2003 - auch die Stunde
der Wahrheit für Ihre Politik.
({12})
Ein Sprichwort besagt, Herr Müntefering: Lügen haben
kurze Beine.
Fünf Jahre nach dem Regierungsantritt hat die Wirklichkeit Rot-Grün tatsächlich eingeholt und die von Ihnen verursachte Vertrauenskrise in Deutschland hat sich
voll entfaltet.
({13})
1998 sind Sie angetreten und haben gegen unsere
Rentenreform Stimmung gemacht. Inzwischen haben
Sie eingesehen, dass Ihr Weg falsch war. 1998 sind Sie
angetreten und haben gegen die Selbstbeteiligung bei
Arzneimitteln Stimmung gemacht. Inzwischen ist diese
mit unserer Hilfe wieder eingeführt worden. 1998 haben
Sie die 630-DM-Jobs als verwerflich bezeichnet und abgeschafft. Jetzt lassen Sie sich dafür loben, dass die 400Euro-Jobs, die auf unser Drängen eingeführt wurden,
Wirkung am Arbeitsmarkt entfalten.
Ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik hat sich in einem
großen Kreis gedreht. Das waren fünf verlorene Jahre
für Deutschland. Herr Bundeskanzler, durch Ihr Learning by Doing sind Sie sehr teuer!
({14})
Lernen im Amt - für diejenigen, die das auf Deutsch hören wollen - ist eigentlich ein Luxus, den sich unser
Land nicht leisten kann. Es wächst auch der Zweifel, ob
Ihr Lernerfolg wirklich so nachhaltig ist. Ich will jetzt
nicht alle Fehler aufzählen; aber ein paar besonders einprägsame werden doch erlaubt sein, auch um zu zeigen,
dass Sie wenig dazugelernt haben:
Die unendliche Geschichte vom Dosenpfand, das
zum Doofenpfand wird, ist ein ganz besonderes Trauerspiel.
({15})
Dabei gehen Zigtausende von Arbeitsplätzen verloren.
Das Mautdebakel ist ein weiteres Arbeitsplatz-Vernichtungsprogramm. Toll Collect könnte ein Stück aus
dem Tollhaus sein: 2,8 Milliarden Euro werden bald für
Bauinvestitionen fehlen. Ausländische LKWs fahren gebührenfrei in immer größerer Anzahl auf deutschen Straßen und Autobahnen. Herr Minister Stolpe, Sie sind daran nur zum Teil schuldig. Sie haben sich bereit erklärt,
ein Erbe anzutreten, ohne dass Sie danach gefragt haben,
was alles mit diesem Erbe verbunden ist. Es ist ein verheerendes Erbe. Herr Bodewig hat das wohl alles eingebrockt. Er ist zum Dank auf dem SPD-Parteitag auch
noch in den Vorstand gewählt worden, während andere,
die sich redlich bemüht haben, wie Herr Clement, abgestraft wurden. Es ist immer ganz interessant, was den
Genossinnen und Genossen gefällt und was ihnen weniger gefällt.
({16})
Die Grünen, die einmal das Fliegen für verwerflich
gehalten haben, ordern Flugzeuge und beordern sie über
den halben Südatlantik und wieder zurück. Die Kosten
zahlen sie nicht aus eigener Tasche, sondern die soll
munter der Steuerzahler zahlen, genauso wie dieses Tortenessen mit Champagner und anderen edlen Getränken,
das 32 000 Euro gekostet hat,
({17})
mit dem man feierte, dass man in Stade wieder soundso
viel tausend Arbeitsplätzen den Garaus gemacht hat. Das
alles ist doch ein Stück bezeichnend für Ihre widersprüchliche Politik. So kann ein Land nicht vorankommen.
({18})
Ich bin gespannt, wie lange Sie den „Sonnenkönig
von Nürnberg“ noch im Amt behalten. Das wird ja eingehend untersucht; erste Opfer hat die Geschichte schon
gefordert. Ich meine, Herr Bundeskanzler, wenn Sie
glaubwürdig bleiben wollen - nur deswegen sage ich das
überhaupt -, dann muss auch das Handeln Ihrer Mannschaft glaubwürdiger sein. Die Menschen auf einen Weg
des Sparens mitzunehmen, während man sich gleichzeitig solche Dinge leistet, das wird Ihnen nicht gelingen.
({19})
Herr Bundeskanzler, die Menschen in Deutschland
haben genug von Ausflüchten und Schönfärberei. Sie
wollen eine Politik, die dieses Land wieder voranbringt.
Darum geht es doch und daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten.
({20})
Der Weg zu einer besseren Politik beginnt mit einer
konkreten Analyse. Man muss den Menschen die Wahrheit sagen und ihnen Klarheit geben, ohne Augenzwinkern.
({21})
Nur dann bekommen wir Vertrauen.
Wissen Sie, was das beste Konjunkturprogramm
wäre? Das beste Konjunkturprogramm hätten wir, wenn
die Sparquote, die jetzt bei 10,6 Prozent liegt, nicht weiter ansteigen würde. Wenn man 3 Prozent davon in den
Konsum geben würde, wären das circa 50 Milliarden.
({22})
Ein staatliches Programm in dieser Größenordnung
könnten Sie nie auflegen. Dann ginge es auch wieder ein
Stück aufwärts. Es ist ja ganz schlimm im Inlandskreislauf. Laufen Sie einmal durch die deutschen Städte.
Schauen Sie sich einmal an, bei wie vielen Bürogebäuden steht „zu vermieten“, wie viele Läden leer stehen
usw. Und wir sehen all dem Treiben irgendwo tatenlos
zu.
({23})
Die öffentlichen Schulden - ich wiederhole die Zahl;
ich habe sie vorhin in anderem Zusammenhang schon
genannt - betragen inzwischen 1 300 Milliarden Euro.
Das sind 62 Prozent des Bruttosozialproduktes und wir
haben immer noch eine sehr steil steigende Tendenz. Der
Bund braucht jeden sechsten Euro im Haushalt für die
Bedienung der Schulden.
({24})
Das ist ein Teufelskreis.
Die Kosten des sozialen Netzes sind mit rund
670 Milliarden Euro genau dreimal so hoch wie vor
20 Jahren. Dem steht eine stagnierende Wirtschaft mit
einer bedrohlichen Massenarbeitslosigkeit gegenüber.
Das sind die Fakten in unserem Land. Nichts lässt in absehbarer Zeit die Wachstumsraten erwarten, die erforderlich wären, um die Haushalte zu konsolidieren und
ins Gleichgewicht zu bringen.
Aber anstatt den Menschen reinen Wein einzuschenken, wird wieder Gesundbeterei betrieben. Schon morgen soll es, wenn man Sie hört, zu einem Konjunkturaufschwung kommen. Da ist die Rede von der Wende auf
dem Arbeitsmarkt, da werden Reformen gepriesen, deren überwiegender Teil noch gar keine Gesetzeskraft hat.
({25})
Die Frühindikatoren deuten zwar auf einen leichten Aufschwung hin; aber die harten Fakten sehen anders aus.
Lesen Sie einmal die Überschrift im heutigen „Handelsblatt“. Wenn Sie aufstehen und bereit sind, die Balkenüberschrift auf der ersten Seite laut zu verlesen, Herr
Kollege, kann das meinetwegen von meiner Redezeit abgehen.
({26})
Von einer echten Wende sind wir meilenweit entfernt.
Creditreform prognostiziert eine wachsende Pleitewelle
mit über 43 000 Insolvenzen. Die Zahl der Erwerbstätigen war im dritten Quartal um 480 000 geringer als im
letzten Jahr.
({27})
Das heißt, wir verlieren in jedem Monat 40 000 bis
50 000 Arbeitsplätze in Deutschland und diese schreckliche Tendenz geht weiter. Niemand stemmt sich ernsthaft dagegen. Wir verbringen die Zeit damit, über Kinkerlitzchen zu diskutieren, Herr Bundeskanzler.
({28})
- Entschuldigung, aber Sie dürfen doch nicht Ursache
und Wirkung verwechseln. Hören Sie doch auf, Kinkerlitzchen zu produzieren, dann müssen wir nicht darüber
reden!
({29})
Für 2004 wird ein Wachstum von 1,7 Prozent prognostiziert. Allein 0,6 Prozent resultieren schon daraus,
dass wir im nächsten Jahr vier oder fünf Feiertage weniger haben.
Clement sagte zu Recht: Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit setzt keine Volkswirtschaft so viel Geld
ein wie wir und keine ist so erfolglos wie wir. Weil
Clement die Wahrheit sagt, hat er auf dem SPD-Parteitag
nur 56 Prozent bei seiner Wahl bekommen.
Ohne die starken Zuwächse beim Export wäre unsere
Wirtschaft noch sehr viel schlechter dran und die Zahlen,
die ich präsentiert habe, sähen noch übler aus. Ich wiederhole: Es gibt eine ungeheure Verunsicherung bei den
Investoren und den Verbrauchern in Deutschland.
({30})
- Herr Poß, niemand schürt sie.
({31})
Wenn Sie den Rentnern willkürlich, wie ein Blitz aus
heiterem Himmel, ohne Vorwarnung erstmals die Rente
kürzen,
({32})
dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn selbst diejenigen Rentner, die noch konsumieren können, Angst bekommen und ihr Geld festhalten, statt es auszugeben.
Herr Bundeskanzler, ich kann nur sagen: Haben Sie
den Mut zur Wahrheit! Der Haushalt 2004 zeigt diesen
Mut zur Wahrheit nicht. Die entscheidenden Eckpunkte
dieses Haushalts werden erst durch den Vermittlungsausschuss festgelegt. Das ist eine Missachtung parlamentarischer Spielregeln und beantwortet auch die Frage von
Herrn Kuhn.
({33})
Der öffentliche Gesamthaushalt weist ein Defizit von
90 Milliarden Euro auf. Damit beansprucht die öffentliche Hand rund 60 Prozent der privaten Geldvermögensbildung. Wenn die private Wirtschaft, was wir alle hoffen,
investiert, dann tritt sie zusätzlich als Kreditnachfrager
auf den Kapitalmärkten auf. Wenn sich gleichzeitig die
öffentliche Hand diese Defizite leistet, dann führt das automatisch zu einem Zinsanstieg, weil dann der Kampf
ums knappe Kapital zwischen privater Wirtschaft und öffentlicher Hand ausgetragen wird.
Deutschlands Defizit in Höhe von 4,3 Prozent überschreitet den Maastricht-Wert um fast 50 Prozent. Die
Steuerpolitik ist desolat. Die Menschen werden verunsichert. Nur um auf dem Parteitag Mehrheiten zu
bekommen, werden neue Dinge erfunden wie Arbeitsplatzabgabe, also eine Lehrlingssteuer, und werden Forderungen nach der Erhöhung der Erbschaftsteuer und
nach der Wiedereinführung der Vermögensteuer erhoben. Ich meine, all das ist ein Kapitalvertreibungsprogramm. Wer heute Kapital aus Deutschland vertreibt, der
vertreibt die Arbeit gleich mit. Das ist doch der Punkt.
({34})
Ich bin im Gegenteil der Meinung: Von der Erbschaftsteuer müsste man Betriebsvermögen, wenn es
sich um gebundenes Vermögen handelt, freistellen,
({35})
um die Personenfirmen nicht zu zwingen, an Konzerne
zu verkaufen. Sobald Konzerne das Know-how und die
Marktzugangskanäle in der Hand haben, erfolgt eine
Verlagerung der Arbeitsplätze aus Deutschland.
Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Parteitagsrede
unter die Überschrift „Mut zur Wahrheit“ und „Wille
zum Wandel“ gestellt. Der SPD fehlt es an allem: an
Mut, Wille, Wahrheit und Wandel.
({36})
Das Echo war einmütig: „Parteitag missraten“, notierte
die „Berliner Zeitung“. „Der Kanzler kann das Gesamtergebnis getrost als Niederlage werten“, bilanzierte die
„Frankfurter Rundschau“. „Nichts als altbekannte Rezepte“, analysierte die „Financial Times Deutschland“.
Es handelt sich um Zeitungen, die nicht verdächtig sind,
aufseiten der Opposition zu stehen.
({37})
Wenn drei Jahre vor der nächsten Wahl die große Regierungspartei sich selbst nichts mehr zutraut und wenn
von ihr keine Aufbruchstimmung ausgeht, dann ist das
ein schlechtes Zeichen für die Zukunft Deutschlands.
({38})
Der SPD - das mag für viele vielleicht tröstlich sein geht es mit ihrem Vorsitzenden nicht besser als Deutschland mit diesem Bundeskanzler. Er verspielt Vorhandenes. Schauen Sie sich einmal Ihre Mitgliederentwicklung an! Schauen Sie sich einmal an, in welchem
Zustand Ihre Partei ist! Man hat den Bundeskanzler zwar
mit 80 Prozent als Vorsitzenden wiedergewählt. Aber
das liegt nur daran, dass es gegenwärtig - Herr
Müntefering, Sie sind noch nicht so weit - keinen Ersatz
für ihn gibt. Das Ergebnis seines Generalsekretärs, hinter
den er sich gestellt hat - es waren schon Stimmzettel mit
dem Namen desjenigen gedruckt, der ihn ersetzen sollte,
sodass der Bundeskanzler mit Brachialgewalt einschreiten musste -, spricht Bände
({39})
und zeigt den ganzen elenden Zustand, in dem sich unser
Land befindet.
({40})
- Sie haben noch die Chance, im Vermittlungsausschuss auf unsere Vorschläge einzugehen. Wir bleiben
vor allen Dingen dabei: Erst muss der Arbeitsmarkt in
Ordnung gebracht werden. Erst müssen betriebliche
Bündnisse für Arbeit und Beschäftigungsverhältnisse
möglich sein, die nicht sofort zu einer Dauerbeschäftigung führen. Ganz zuletzt können wir dann vielleicht
über die Steuer sprechen.
({41})
Aber die Voraussetzungen, die Eichel gestern in Brüssel
in dieser Hinsicht geschaffen hat, sind nicht dazu angetan, die Finanzierung der Steuerreform einfach vorzuziehen und die Steuerreform dadurch früher in Kraft setzen
zu lassen.
Ich meine, wenn wir die anderen Dinge nicht in Ordnung bringen, dann würden wir uns so töricht verhalten
wie jemand, der sich an das Steuer eines Autos setzt,
dessen Bremsen total blockiert sind, und ständig Gas
gibt. Dann drehen nämlich nur die Räder durch. Das
Ganze bringt dann nichts.
({42})
Herr Bundeskanzler, Sie wissen - Einsicht kommt
den Menschen oft sehr spät -,
({43})
dass unser Land weiter wäre, wenn die Ministerpräsidenten Schröder, Eichel, Lafontaine und wie sie alle hießen, nicht zwischen 1994 und 1998 im Bundesrat alles
blockiert hätten, was auf den Weg gebracht worden ist.
({44})
Wir werden diesen Weg nicht gehen; da bin ich mir
ziemlich sicher.
Lassen Sie mich ein Allerletztes sagen.
({45})
- Ich weiß, dass Sie sich darüber freuen, dass ich bald
zum Ende komme. Das kann ich gut verstehen; denn Sie
wollen das alles nicht hören. Sie verdrängen das alles
immer wieder.
({46})
Herr Bundeskanzler, Sie haben auf dem Parteitag
wörtlich gesagt, dass Sie all Ihre Kraft nutzen werden,
um Ihre Gegner zu besiegen. Sie haben gesagt, das sei
Ihre Aufgabe. Ich meine, genau das, die Gegner zu besiegen, ist nicht die Pflicht der Politik. Die Pflicht der
Politik ist vielmehr, das Beste für Deutschland zu tun.
Daran werden wir arbeiten.
Herzlichen Dank.
({47})
Ich erteile Bundeskanzler Gerhard Schröder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Glos, ich will ausnahmsweise mit einem
ausdrücklichen Lob beginnen. Ich fand es gut und richtig, dass Sie sich von dem unseligen Gerede des Herrn
Bosbach distanziert haben.
({0})
Denn der hergestellte Zusammenhang zwischen den terroristischen Angriffen in Istanbul auf der einen Seite
({1})
und dem Versuch auf der anderen Seite, damit Politik, ja
sogar Außenpolitik zu betreiben, war menschlich unanständig und politisch hochgradig gefährlich.
({2})
Deshalb ist es gut, dass das vom Tisch ist.
Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Fangen Sie nicht hintenherum erneut an, dieses Thema zu
instrumentalisieren!
({3})
Denn Sie sollten wissen, dass der Türkei seit 40 Jahren
gesagt wird: Ihr könnt Mitglied der Europäischen Union
werden, wenn ihr die Voraussetzungen erfüllt. - Ob die
Türkei diese Voraussetzungen erfüllt, wird Ende 2004 zu
entscheiden sein. Der Zeitplan wird - ich betone das ausdrücklich - in keine Richtung hin verändert werden. Die
Bedingungen werden nicht verändert werden, weil sie
auf dem Gipfel in Kopenhagen und an anderer Stelle
festgelegt worden sind. - Das ist das eine.
Die andere und politisch für uns ungeheuer interessante Frage ist - darüber sollten wir diskutieren, wenn es
um diese Frage geht -, ob es nicht im Sicherheitsinteresse Deutschlands und im Sicherheitsinteresse Europas
liegt, dass das Experiment in der Türkei gelingt, eine
Verbindung zwischen der islamischen Religion auf der
einen und freiheitlichen Wertvorstellungen auf der anderen Seite herzustellen.
({4})
Stellen Sie sich einmal vor, welch ungeheurer Sicherheitszuwachs für Europa und auch für Deutschland darin
liegen könnte. Deshalb haben wir jedes Interesse daran,
dass die Maßnahmen, die die Türkei ernsthaft vor hat,
auch wirklich gelingen. Das müssen wir im eigenen nationalen Interesse unterstützen. Das dürfen wir nicht diskreditieren.
({5})
Sie haben über Europa und in diesem Zusammenhang
über das deutsch-französische Verhältnis gesprochen.
In Ihrer Rede waren Töne enthalten, über die man wirklich ernsthaft reden muss, gerade auch deshalb, weil ich
davon ausgehe, dass es in diesem Hause ein gemeinsames Interesse gibt, das deutsch-französische Verhältnis
als Motor der europäischen Integration so eng wie irgend
möglich zu halten.
Ich erinnere an Debatten hier in diesem Hohen Hause,
in denen mir vorgeworfen worden ist, ich täte zu wenig
für dieses enge deutsch-französische Verhältnis.
({6})
Was jetzt? Was ist wirklich Ihre Position? Ist es nun richtig, diese Beziehung aus historischen, aber keineswegs
nur aus historischen, sondern vor allen Dingen aus gegenwärtigen und zukünftigen Motiven heraus so eng wie
möglich zu gestalten und zu halten, oder ist das nicht
richtig? Kommen Sie doch nicht ständig damit, dass das
deutsch-französische Verhältnis, wenn es so eng sei, andere, etwa die kleineren Mitgliedstaaten, gar bedrohe.
({7})
- Nein, es ist nicht so.
({8})
- Sie haben ja wenig Ahnung von solchen Fragen, Herr
Michelbach. Das verstehe ich auch.
({9})
Wer Erfahrung etwa in europäischen Räten gesammelt hat - ich könnte genügend Beispiele dafür nennen -, der hat immer wieder festgestellt, dass es gerade
die kleineren Mitgliedsländer sind, die dann, wenn eine
Einigung schwierig ist oder schwierig aussieht, sagen:
Franzosen und Deutsche, nun legt etwas auf den Tisch,
damit wir eine Orientierung haben.
Es gibt auch die andere Seite - das gebe ich zu -,
nämlich dass das Gefühl entsteht, dass eine Einigung
zwischen uns vielleicht zu viel der Einigung an anderen
vorbei ist.
({10})
Aber gerade Deutschland und Frankreich wissen - und
verhalten sich in den Räten, in denen Politik gemacht
wird, auch so -,
({11})
dass die deutsch-französische Beziehung so eng wie
möglich sein muss, aber nicht exklusiv sein darf. Das ist
die richtige und vernünftige Formel. Sie dient den beiden Ländern und sie dient Europa.
({12})
Weil Sie, Herr Glos, mit der Außenpolitik begonnen
haben und ich ernsthaft darauf eingehen möchte, noch
ein paar Bemerkungen zu dem, was jetzt in Europa vor
uns liegt.
Der erste Punkt: Wir befinden uns am Vorabend der
Regierungskonferenz und ich denke, wir sind uns in
dem Willen einig, dass diese Regierungskonferenz im
Dezember erfolgreich abgeschlossen werden muss. Ich
hoffe und erwarte im Übrigen auch, dass die italienische
Präsidentschaft zu zentralen Fragen Vorschläge vorlegt,
die kompromissfähig sind. Deutschland ist daran interessiert.
Es muss aber auch klar sein: Wir verstehen den
Wunsch vieler, insbesondere der kleineren und der neuen
Mitgliedstaaten, in Brüssel präsent zu sein. Aber die
Kommission, die Sie zu Recht Hüterin der Verträge genannt haben, muss arbeitsfähig bleiben. Auch dieser Gesichtspunkt muss in einem Kompromiss zum Ausdruck
kommen. Sie muss arbeitsfähig bleiben, damit Europa
politisch wirklich aktionsfähig bleibt. Das ist nicht allein
Sache der Kommission, aber auch. Ob das mit 25 oder
gar 31 Kommissaren gelingt, darüber könnten wir eine
sehr rationale Debatte führen. Es wird jedenfalls schwierig sein, bei dieser Größenordnung ein effizientes Arbeiten zu gewährleisten.
Der zweite Punkt betrifft die Stimmengewichtung.
Ich denke, dass wir sehen müssen, dass das Prinzip „ein
Staat, eine Stimme“ zu den Selbstverständlichkeiten der
europäischen Einigung gehört. In dem Kompromiss
muss aber auch klar werden, dass man nicht so vorgehen
kann, 82 Millionen Deutschen 29 Stimmen zu geben und
etwa 80 Millionen Polen und Spaniern - so viele sind es
zusammengenommen - 54 Stimmen. Das steht in keinem Verhältnis zueinander und ist nicht dem Grundsatz
zuträglich, dass alle Bürgerinnen und Bürgern Europas
gleich viel zählen. Deswegen erwarte ich auch in diesem
Anliegen von denjenigen Kompromissbereitschaft, die
es angeht.
({13})
Im Zusammenhang mit der Debatte, welche innenpolitischen Themen uns beschäftigen - darauf komme
ich gleich zu sprechen -, möchte ich noch Folgendes
erwähnen: Die Kommission hatte ursprünglich angekündigt, die finanzielle Vorausschau noch im November und Dezember vorlegen zu wollen. Diesen Termin
hat man mit Rücksicht auf die Regierungskonferenz auf
Januar nächsten Jahres verschoben; das verstehe ich.
Nach dem, was man so hört, scheint es Wille der Kommission und bedauerlicherweise auch einer Haushaltskommissarin zu sein, die so genannte Eigenmittelobergrenze auszuschöpfen. Das würde für Deutschland
jährlich 7 Milliarden Euro netto mehr bedeuten. Ich
hoffe, dass wir uns alle miteinander einig sind, dass das
nicht angehen kann.
({14})
Man darf, Herr Glos, allerdings erwarten, dass die
Kriterien, die die Kommission an andere anlegt, auch für
die Kommission selbst gelten.
({15})
Diese Erwartung ist nicht ganz unzulässig. Wir werden
über die Frage der Eigenmittel der Kommission hier wie
auch mit der Kommission selbst also noch interessante
Debatten zu führen haben.
Man kann übrigens doch nun wirklich nicht so tun, als
sei die Kommission in allem, was sie macht, sakrosankt.
({16})
Bei der eigentlichen Auseinandersetzung über die Haushalts- und Finanzpolitik, die wir auch hier zu führen haben, muss die Frage geklärt werden, ob das, was die
Kommission vorgeschlagen hat, ökonomisch vernünftig
ist oder nicht. Darüber muss man in diesem Land doch
zumindest reden können und darf nicht sofort den Einwand zu hören bekommen, darüber dürfe man nicht
sprechen.
({17})
Es darf nicht Mode werden, wie gelegentlich berichtet
wird, dass die Vorschläge der Kommission so akzeptiert
werden müssten, also ganz nach dem Motto: Friss,
Vogel, oder stirb. Denn man muss sich nur einmal vor
Augen führen, was das auch für andere Bereiche bedeuten würde.
Mir ist vorgeworfen worden, ich hätte zu wenig gegen
die unsinnigen Vorschläge zur Chemierichtlinie getan,
die auf dem Tisch liegen. Diese Vorschläge kamen von
der Kommission. Wir haben sie verändert, allerdings
noch nicht weit genug. Deswegen werden wir weiter
streiten müssen. In dieser Frage gibt es also einen Streit
zwischen der Kommission und uns, bei dem es uns darum geht, deutsche Interessen und vor allem auch die Interessen der Industrie in Deutschland zu vertreten.
({18})
Wir haben auch über die Übernahmerichtlinie diskutiert und sie dabei Schritt für Schritt verändert. Es war
eine harte Auseinandersetzung mit der Kommission,
aber wir haben diese Richtlinie nun doch so gestaltet,
dass sie für Deutschland erträglich ist.
({19})
Allerdings wurde uns wieder vorgeworfen, wir würden
den liberalen Vorstellungen von Herrn Bolkestein widersprechen, was auf gar keinen Fall gehe.
Auch das VW-Gesetz ist ein wunderbares Beispiel.
Wir sind von der jetzigen niedersächsischen Landesregierung aufgefordert worden, der Kommission bei der
Veränderung des VW-Gesetzes unbedingt in die Arme
zu fallen. Dazu musste ich nicht aufgefordert werden;
denn ich war immer der Meinung, dass das Gesetz in
Ordnung ist. Es ist übrigens sehr interessant: Es war der
niedersächsische Wirtschaftsminister, der hier Eiertänze
aufgeführt und gesagt hat, im Sinne des deutschen Liberalismus müsse das VW-Gesetz abgeschafft werden.
Jetzt verkündet er aber, eine Abschaffung bedeute das
Ende des Unternehmens.
({20})
Das ist wirklich eine Wandlung vom Saulus zum Paulus.
Diese Beispiele erwähne ich nur, um deutlich zu machen, dass eine Auseinandersetzung mit der Kommission über Sachfragen nicht sakrosankt sein darf.
({21})
Damit bin ich bei dem Punkt, um den es hier schwerpunktmäßig geht und gehen sollte: Wie sieht die Situation aus, in der wir uns gegenwärtig befinden? Ich
stimme Ihnen durchaus zu, dass es in Deutschland noch
immer Besorgnis erregende Anzeichen gibt, was die
ökonomische Entwicklung angeht. Das ist keine Frage.
Es wäre doch falsch, etwas anderes zu sagen. Die Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch. Sie liegt zwar nicht in der
Größenordnung, die einige - aus welchen Gründen auch
immer - prognostiziert haben, aber sie ist viel zu hoch.
Es gibt zu wenige Erwerbstätige - gar keine Frage. Daneben gibt es nicht genügend Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Wir streiten doch gar nicht darüber, dass das
keine guten Anzeichen sind.
Auf der anderen Seite ist Deutschland Exportweltmeister. In den letzten fünf Jahren ist der Anteil am
Weltmarkthandel real, sowohl in Dollarpreisen, als auch
bereinigt um die Dollar-Euro-Relation, von 9 auf
10,5 Prozent gestiegen. Ich behaupte nicht, dass das
durch die Politik der Bundesregierung verursacht worden ist. Sie können aber auch nicht behaupten, dass das
keine erzielten Ergebnisse wären. Ich denke, deswegen
stellt sich die Lage etwas differenzierter dar, als Sie sie
mit Ihrer ausschließlichen Schwarzmalerei zeichnen.
({22})
Meine Damen und Herren, im letzten Quartal gab es
zwar noch nicht zureichendes Wachstum, aber es gab
Wachstum. Das wird sich in diesem Quartal fortsetzen.
Die Industrieproduktion zieht an und die Ausgaben für
Ausrüstungsinvestitionen erhöhen sich. Warum erwähne
ich das und sage ich, dass es ein differenziertes Bild der
wirtschaftlichen Situation in Deutschland zu zeichnen
gibt? Ich erwähne das doch aus einem einzigen Grund:
Ich möchte, dass wir miteinander dafür sorgen, dass die
positiven Aspekte der ökonomischen Entwicklung gestützt und die negativen überwunden werden. Das ist
doch die Aufgabe, die wir gemeinsam haben.
({23})
Unter dem Gesichtspunkt, die positiven Anzeichen
der augenblicklichen Lage zu stützen, zu entwickeln und
weiterzutreiben und die negativen zu minimieren, haben
wir zu bewerten, was getan werden muss. Man kann ja
darüber streiten. Wir sollten aber vielleicht einig darin
werden, dass das der Maßstab ist, an dem Ihre und unsere Vorschläge gemessen werden müssen. Stützen wir
die Zeichen für den Aufschwung in Deutschland und minimieren wir die negativen Anzeichen oder tun wir es
umgekehrt? Das ist der Maßstab.
Wenn wir darüber einig sind, dann müssen wir jetzt
darüber reden, was im Zusammenhang mit dem Haushalt, seinen Begleitgesetzen und der Agenda 2010 ins
Werk gesetzt worden ist. Wenn wir die positiven Anzeichen in Deutschland und damit auch in Europa - der Anteil Deutschlands an der europäischen Wirtschaft beträgt
30 Prozent - stützen wollen, dann brauchen wir einen
Dreiklang in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir
müssen die Konsolidierung weitertreiben - gar keine
Frage.
({24})
Wir müssen zugleich die Wachstumsimpulse stützen, die
sich aus dem Wirtschaftskreislauf ergeben. Schließlich
brauchen wir Ressourcen für zukünftige Aufgaben. Das
sind unsere drei Ziele.
({25})
Ich will nun erläutern, warum ich der Auffassung bin,
dass wir diesen drei Zielen mit der Politik, die wir betreiben, im Inneren, aber auch in der europäischen Politik
nahe kommen. Was heißt das? Wir brechen die Konsolidierung doch nicht ab.
({26})
- Nein. Wieso? Mit den Haushaltsbegleitgesetzen und
dem Haushalt wird das strukturelle Defizit in 2004 um
0,6 Prozent zurückgeführt; das ist auch von der Kommission unbestritten.
({27})
In 2005 wird das strukturelle Defizit um 0,5 Prozent zurückgeführt.
({28})
Die Kommission - und offenbar auch Sie - sagt jetzt,
dass das nicht reicht, wir müssten mehr tun. Man muss
sich doch fragen, ob die Position der Kommission - und
auch Ihre - richtig ist. Wir brauchen ja nicht nur das
Weiterführen der Konsolidierung, sondern wir brauchen
auch das Stimulieren von Wachstum, um die positiven
Anzeichen zu befördern.
({29})
Was bedeutet in der jetzigen Situation das Stimulieren
von Wachstum? Wir hätten die Forderungen der Kommission locker erfüllen können, wenn wir darauf verzichtet hätten, die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vorzuziehen.
({30})
Der Streit geht jetzt allein um die Frage - ich bin sehr
gespannt, was Sie darauf antworten werden -: Durften
wir um den Preis des Nichtvorziehens der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 die Forderungen der Kommission erfüllen oder durften wir das nicht? Das ist die entscheidende Frage.
Wir haben gesagt: Wenn wir Wachstumsimpulse, die
es in unserer Volkswirtschaft gibt, verstärken wollen,
wenn wir die Aufschwungtendenzen, die in unserer
Volkswirtschaft deutlich werden, stützen wollen, um die
negativen Tendenzen zu minimieren, dann müssen wir
ran und sagen: Wir ziehen die dritte Stufe der Steuerreform von 2005 auf 2004 vor. Das ist der Zusammenhang.
({31})
Wer mit der Kommission marschieren will - das können Sie gerne tun -, der muss sich klarmachen: Entweder er will die dritte Steuerreformstufe nicht vorziehen;
dann soll er das öffentlich sagen. Oder er muss konkret
einen Vorschlag machen, wie man das Vorziehen der
Steuerreformstufe von 2005 auf 2004 anders finanzieren
kann, als wir es im Haushalt und mit den Haushaltsbegleitgesetzen vorgeschlagen haben. Alles andere ist eine
Debatte um Kinkerlitzchen, keine seriöse ökonomische
Diskussion.
({32})
Wir haben uns in der jetzigen Situation entschieden:
Um die positiven Anzeichen zu unterstützen, ziehen wir
die dritte Steuerreformstufe vor und erreichen damit im
nächsten Jahr ein erhöhtes Wachstum und als Folge von
mehr Wachstum mehr Arbeitsplätze.
({33})
Das ist der Zusammenhang.
Ich habe gesagt: Die Konsolidierung darf nicht aufgegeben werden. Aber in einer konjunkturellen Situation
wie dieser darf man doch wohl darüber diskutieren und
entsprechende Entscheidungen treffen, weil die Balance
zwischen Konsolidierung auf der einen Seite und Stimulierung von Wachstum auf der anderen Seite in konjunkturschwächeren Zeiten anders gefunden werden muss als
in konjunkturstärkeren Zeiten. Das führt dazu, dass man
den Stabilitäts- und Wachstumspakt - er heißt schließlich nicht nur Stabilitätspakt ({34})
in diesen Zeiten anders interpretieren muss, als es die
Mehrheit der Kommission getan hat. Um diesen Punkt
geht es.
({35})
Übrigens bin nicht ich es gewesen, der den Stabilitätspakt so interpretiert, wie Sie es tun wollen, und ihn
dumm genannt hat. Das war doch Ihr Parteifreund und
Präsident der Europäischen Kommission, Herr Prodi. Ich
halte den Pakt nicht für dumm. Ich halte ihn für interpretationsnötig, aber auch -fähig. Deswegen haben wir uns
entschieden, eine vernünftige Balance zwischen der
Weiterführung der Konsolidierung und dem Setzen von
Wachstumsimpulsen herzustellen. Ich sage ausdrücklich:
Ich bin dem Finanzminister sehr dankbar, dass er eine
ökonomisch vernünftige Lösung durchgesetzt hat.
({36})
Um auch etwas zu den Vorwürfen zu sagen: Die Einwände, die immer gegen unsere Konsolidierungspolitik
erhoben wurden, sollten Sie nicht zu lautstark verkünden. Die gesamte ökonomische Debatte, die von denen
angeregt wurde, die Einwände erhoben haben - egal ob
Niederländer oder Skandinavier -, ist eine Debatte über
Unterlassungen in den 90er-Jahren. Ich will mich damit
gar nicht lange aufhalten. Aber es gab Gründe dafür,
dass die Maßnahmen zur Konsolidierung, die zum Beispiel die Schweden und andere kleinere Staaten in den
90er-Jahren vorgenommen haben, in Deutschland in den
90er-Jahren nicht durchgeführt worden sind. Damals regierten nicht wir. Auch das muss man einmal sehen.
({37})
Natürlich ist es schwieriger, in einer konjunkturell
schlechteren Phase das nachzuholen, was in den guten
Zeiten versäumt worden ist. Der Ehrlichkeit halber muss
man sagen, dass dies von Ihnen und nicht von uns versäumt worden ist.
({38})
Die Konsolidierung wird in der Größenordnung weitergeführt, die in jenem Rat vereinbart worden ist, der
darüber nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu entscheiden hat. Dort ist definitiv gesagt
worden: Wir sind zu der Anstrengung bereit, das Defizit
in den beiden folgenden Jahren um 0,6 bzw. 0,5 Prozent
zu senken.
Das zeigt doch, dass Deutschland die Konsolidierung
nicht aufgegeben hat, aber im Interesse nicht nur der
deutschen, sondern auch der europäischen Volkswirtschaft darauf bestehen muss, dass Wachstum nicht hintenangestellt wird; denn wir brauchen es.
Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang
gehört zum Dritten, dass Konsolidierung auch die Durchsetzung struktureller Reformen in den Systemen der sozialen Sicherung bedeutet. Sie, Herr Glos, haben Recht,
wenn Sie darauf hinweisen, dass etliches davon noch
nicht durchgesetzt ist. Dann müssen wir einmal ganz
ernsthaft darüber reden, wie es nun weitergehen soll.
Wenn Sie auf der einen Seite sagen, die Sparquote
sei zu hoch, Sie sähen eine Menge davon lieber im Konsum, dann gebe ich Ihnen völlig Recht. Das ist auch
meine Position. Aber warum ist sie denn so hoch?
({39})
- Wir sollten nun nicht alles beweinen. Es gibt Länder,
die gerne eine solche Sparquote hätten. Auch das muss
man sehen. Sie ist so hoch, dass mehr in den Konsum
gehen könnte. Aber wir sollten an diesem Punkt keine
amerikanischen Verhältnisse bekommen; auch in dieser
Frage sind wir uns vielleicht einig.
({40})
Aber warum ist die Sparquote so hoch? Sie sagen:
Das liegt an der Regierung ({41})
weil alles an der Regierung liegt. Demnächst werden Sie
sagen, auch das Wetter liege an der Regierung.
({42})
- Im Moment ginge es ja sogar.
Aber die Sparquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch,
weil wir mit dem, was wir jetzt im Vermittlungsausschuss miteinander hinbekommen müssen, nicht zu
Stuhle gekommen sind. Aber das liegt nicht an der Bundesregierung.
({43})
- Nein, das liegt nicht an der Koalition.
({44})
Es kommt auf die Gesetze an, die die Agenda 2010 umsetzen sollen.
Übrigens: Wenn Sie einmal im Ausland sein sollten,
dann werden Sie merken, welche positive Einschätzung
Deutschlands sich mit der Agenda 2010 verbindet ohne Ausnahme: ob in Amerika, ob in Europa oder in
Asien.
({45})
Deshalb sage ich: Wir müssen auch im Vermittlungsausschuss dazu kommen, dass die Agenda-Gesetze
durchgesetzt werden. Ich weiß natürlich, dass das nur im
Kompromisswege möglich ist. Ich bin zu Kompromissen auch durchaus bereit. Aber sie müssen sachgerecht
sein. Es muss klar sein: Vermittelt werden kann im Vermittlungsausschuss über die vorliegenden Gesetze. Das
ist eine ganze Menge. Wenn wir dort zu Kompromissen
kommen - wir sind durchaus dazu bereit -, dann haben
wir Verantwortung für unser Land wahrgenommen.
Meine Damen und Herren, Sie sagen: Wir wollen einen großzügigen Subventionsabbau.
({46})
- Dazu komme ich gleich. - Zum Beispiel bei der
Eigenheimzulage wird es ernst.
({47})
Da wissen Sie nicht einmal, ob Sie das für richtig halten
dürfen, was Koch und Steinbrück vorgeschlagen haben.
({48})
Das sind 4 Prozent Reduzierung jedes Jahr. Danach wäre
sie in 25 Jahren weg. Kommen Sie zu Stuhle und sagen
Sie: Damit sind Fehlallokationen verbunden; das ändern
wir. - Wir können gerne über die Größenordnung streiten, aber sie muss substanziell sein.
({49})
Ein Zweites. Man kann über die Frage, wie man mit
der Pendlerpauschale umgeht, diskutieren. Das ist auch
bei uns geschehen. Aber Subventionsabbau zu fordern
und die Pendlerpauschale davon auszuschließen ist keine
Politik.
({50})
So geht es weiter. Es gibt bisher keinen einzigen substanziellen Vorschlag. Das müssen Sie ändern.
({51})
Wir sind zum Kompromiss bereit. Aber das geht nur,
wenn auch Sie einmal etwas sagen und nicht immer nur
ablehnen.
Zur Kohle. Gucken Sie sich einmal an, was da gemacht worden ist! Gucken Sie sich einmal an, welcher
Abbau bis 2012 wirklich vorgesehen ist! Wir fördern
zurzeit - das muss man den Menschen einmal erklären jedes Jahr 28 Millionen Tonnen Steinkohle. Das tun
36 000 Bergleute.
({52})
- Bei den Grünen in NRW war das ganz einfach. In der
Regierung haben sie gesagt: Wir wollen bis zum Jahre
2012 auf 18 Millionen Tonnen herunter. Ich habe selber
mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmen und mit
den betroffenen Landesregierungen verhandelt und gesagt: Lasst uns einen ernsthaften Versuch machen, beim
Subventionsabbau ein Stück weiter zu gehen. Übrigens
betrifft das nicht nur die nordrhein-westfälische Landesregierung, sondern auch die Landesregierung im Saarland, wie Sie vielleicht wissen. Das wird bedeuten, dass
wir im Jahr 2012, unterstellt, die Kommission wird dies
akzeptieren, noch 16 Millionen Tonnen fördern.
({53})
- Bleiben Sie doch einen Moment ernsthaft. Hier geht es
um Lebensschicksale von Menschen.
({54})
Das werden noch 20 000 Beschäftigte tun.
({55})
Wir reduzieren also die Förderung auf 16 Millionen Tonnen und die Zahl der Beschäftigten um mindestens
16 000 in dieser Zeit. Wir tun es - ich finde, wenn wir
die Arbeitslosigkeit nicht weiter ansteigen lassen wollen,
müssen wir es tun - mutmaßlich, wenn alles gut geht,
ohne betriebsbedingte Kündigungen. Wir schaffen den
Abbau von Subventionen in einem Maße, das, wie ich
finde, sozial vertretbar ist. Das ist der Zusammenhang,
über den geredet werden muss.
({56})
Die Maßnahmen muten den betroffenen Bergleuten in
Nordrhein-Westfalen und im Saarland, den Landesregierungen und den Unternehmen einiges zu. Es ist ein vernünftiger Kompromiss, der gefunden worden ist. Sie
sollten aufhören, ihn zu diskreditieren. Das zu den Kohlesubventionen.
({57})
Es geht nicht um Jubel, sondern um vernünftige Entscheidungen. Diese Entscheidung entspricht dem, was
ich Ihnen eben gesagt habe. Sie werden sehen, dass diese
Entscheidung auch getroffen wird. Seien Sie da mal
ganz ruhig. Sie können dem gerne zustimmen, weil es im
Sinne deutscher Politik vernünftig ist, anstatt nur schadenfroh auf den einen oder anderen zu schauen.
({58})
Ich bleibe bei der Agenda 2010. Ich hoffe, es wird deutlich, dass wir die Agenda 2010 auch aus dem dritten
Grund brauchen, den ich genannt habe. Mit dem Setzen
von Wachstumsimpulsen, ohne die Konsolidierung
aufzugeben, und mit den Strukturreformen, die sich mit
dem Begriff der Agenda 2010 verbinden, bringen wir
nicht nur die Systeme der sozialen Sicherung in Ordnung; nein, wir schaffen mit diesem Prozess auch etwas
anderes: Wir machen Ressourcen für die wesentlichen
Zukunftsaufgaben frei.
Diese wesentlichen Zukunftsaufgaben lassen sich in
drei Bereichen beschreiben. Erstens. Wir machen Ressourcen für Investitionen in Bildung und Ausbildung
frei. Lassen Sie uns einen Moment über Ausbildung reden. Wir alle sind der Auffassung, dass das duale System zu den Glücksfällen in Deutschland gehört hat und
weiter gehören kann, wenn es funktioniert.
({59})
Es funktioniert aber dann und nur dann, wenn nicht nur
einzelne Unternehmen, sondern alle Unternehmen begreifen, dass es staatsbürgerliche Pflicht ist, Ausbildungsplätze in den Betrieben bereitzustellen.
({60})
Ich denke, es ist auch klar geworden, dass sowohl der
Wirtschaftsminister als auch ich, übrigens auch die SPDFraktion, den festen Willen haben, solange es eben geht,
auf Freiwilligkeit und tarifvertragliche Regelungen, die
es in Branchen gibt, zu setzen. Aber wir können die jungen Leute nicht im Stich lassen, wenn alles versagt, was
es an freiwilligen Möglichkeiten gibt. Diejenigen, die
die Pflicht haben, Ausbildungsplätze bereitzustellen, haben es doch in der Hand, diese Pflicht zu erfüllen. Ich
bitte darum, dass sie erfüllt wird.
({61})
Niemand will leichtfertig Druck ausüben. Jeder setzt auf
Freiwilligkeit.
Wir müssen also in Bildung und Ausbildung, in Forschung und Entwicklung investieren. In diesem Zusammenhang will ich etwas zu einer Äußerung des Bundesrechnungshofs sagen, die ich heute gelesen habe. Er
sagte: Ihr müsst sehen - das ist ja keine neue Erfahrung -, ob ihr die Mittel effizienter einsetzen könnt. Diesen Hinweis nehme ich gerne entgegen. Über diese
Frage wird mit dem Bundesrechnungshof zu diskutieren
sein. Denn wir haben doch alle ein Interesse daran, dass
die von uns eingesetzten und aufgestockten Forschungsmittel möglichst effizient verwendet werden.
({62})
Wenn die Kritik berechtigt ist, dann müssen die Kritikpunkte abgestellt werden. Das ist doch keine Frage. Insofern weiß ich nicht, warum man sich darüber aufregt.
Drittens müssen wir zusätzliche Mittel für die Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten einsetzen. Ich
weiß, dass dafür nicht in erster Linie der Bund zuständig
ist. Aber ich denke, wir bringen aus guten Gründen beträchtliche Mittel für diesen Bereich zugunsten der
Kommunen und Länder auf; denn wir wollen, dass auf
diese Weise die Ganztagsbetreuung ausgebaut wird, um
beim Zugang zu den Bildungsinstitutionen in unserem
Land den Kindern unabhängig vom Einkommen der Eltern Gerechtigkeit zu bieten. Wir wollen damit aber auch
erreichen, dass Frauen besser als in der Vergangenheit
und in der Gegenwart Familie und Beruf miteinander
vereinbaren können. Das ist ein wichtiger Aspekt.
({63})
Kurzum: Ich glaube, es ist deutlich geworden,
({64})
dass wir hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung in
Deutschland an einer Weggabelung stehen.
({65})
Wenn die Reformgesetze zur Agenda 2010 - von mir aus
in Form eines Kompromisses - beschlossen werden und
die nächste Stufe der Steuerreform vorgezogen wird,
dann können wir den Weg wählen, der in Deutschland zu
einem Aufschwung führt. Die Anzeichen sprechen dafür.
({66})
Eine Blockadehaltung - von der Sie Gott sei Dank
nicht gesprochen haben, Herr Glos - oder die Vermischung mit unsachlichen Gesichtspunkten könnte zu einem Weg führen, der einen negativen Trend bewirkt.
Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Ich bin angesichts
Ihrer Mehrheit im Bundesrat fest davon überzeugt, dass
es eine gemeinsame Verantwortung gibt, den positiven
Weg zu gehen.
({67})
Ich will das folgendermaßen beschreiben, Frau
Merkel. Sie haben angekündigt, dass Sie eine Patriotismusdebatte führen wollen. Ich finde, Sie sollten eines
bedenken: Sie haben die Chance, zu beweisen, dass Sie
keine Debatte führen müssen, sondern dass Sie Patrioten
sind.
({68})
Patrioten sind Sie nämlich durch Ihr Handeln dann und
nur dann, wenn Sie dabei mithelfen, dass der Weg für
den Aufschwung in Deutschland frei wird. Das ist die
gemeinsame Verantwortung, die wir haben. Das ist die
Erwartung unseres Volkes. Die müssen wir erfüllen.
({69})
Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDPFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie sind jetzt fünf Jahre im
Amt.
({0})
Das Ergebnis Ihrer fünfjährigen Amtszeit ist in den vergangenen Wochen schlaglichtartig veröffentlicht worden: die höchste Arbeitslosigkeit, die höchste Neuverschuldung und die schlimmste Pleitewelle seit Gründung
der Republik. Wir haben zurzeit ein Nullwachstum.
Beim Wachstum innerhalb Europas stehen wir auf dem
letzten Platz. Erstmalig seit Gründung der Republik gibt
es eine reale Rentenkürzung. Jetzt haben Sie mit Ihrer
Politik auch noch den Stabilitätspakt faktisch gekündigt.
Wenn das, was Sie hier eben erzählt haben, alles zur
Lage der Nation war, dann leiden Sie unter einem für unser Land nicht erträglichen Realitätsverlust.
({1})
Sie appellieren an das patriotische Bewusstsein der
Opposition. Das ist ein gefälliger Appell. Ich stelle Ihnen, Herr Bundeskanzler, nur zwei Fragen: Wo war denn
Ihr persönlicher Patriotismus als Kanzlerkandidat der
SPD und als niedersächsischer Ministerpräsident, als Sie
zusammen mit Oskar Lafontaine das niedrigere, einfachere und gerechtere Steuersystem blockiert haben?
({2})
Wo war der Patriotismus von Gerhard Schröder, als Sie
einen schäbigen Rentenwahlkampf geführt haben, um an
die Macht zu kommen? Mittlerweile haben Sie Ihren
Fehler eingestehen müssen.
({3})
Herr Bundeskanzler, Sie haben hier in einem Nebensatz, auf die Sparquote bezogen, eine bemerkenswerte
Erklärung abgegeben; das war eine wirklich freudsche
Leistung. Sie haben gesagt, Sie wollten keine amerikanischen Verhältnisse. Dies ist besonders an dem Tag ein
spannender Satz, an dem in den USA ein Wirtschaftswachstum von 8,2 Prozent festgestellt worden ist, während Sie bei null sind.
({4})
In Wahrheit sehnen Sie sich doch die amerikanischen
Verhältnisse beim Wirtschaftswachstum herbei. Die Politik, zu der Sie in Deutschland nicht bereit sind, weil Sie
immer noch auf die Neidgesellschaft anstatt auf die
marktwirtschaftliche Erneuerung setzen,
({5})
wollen Sie im Windschatten eines amerikanischen Wirtschaftswachstums auch in Deutschland durchbringen.
Sie sind der Profiteur der notwendigen Strukturmaßnahmen in den Vereinigten Staaten von Amerika und hoffen
darauf, dass die amerikanische Wachstumslokomotive
Sie und den kaputten Wagen dieser Regierung ein Stückchen mitzieht. Das ist die wahre Lage in diesem Lande,
meine sehr geehrten Damen und Herren.
Nach fünf Jahren Rot-Grün muss man bedauerlicherweise feststellen: Mit dieser Regierung und mit Ihrer Politik führen Sie unser Land in die wirtschaftliche Katastrophe. Dies ist viel zu ernst, um darüber hier mit einer
L’art-pour-l'art-Rede hinwegzugehen.
({6})
Sehr bemerkenswert sind übrigens auch Ihre Vergleiche hinsichtlich dessen, was uns Politikerinnen und Politiker in den letzten 24 Stunden in diesem Haus und in
ganz Europa beschäftigt hat. Sie bringen hier allen Ernstes die massive Vertragsverletzung, also die Grundlage
unseres Euros, mit der Chemikalienrichtlinie in einen
Zusammenhang. Sie erklären, wenn Kritik an dem angebracht werde, was von Brüssel im Hinblick auf das VWGesetz gefordert wird, dann dürften Sie da auch widersprechen. Die Opposition ist selbstverständlich bereit,
mit Ihnen über manches, was Brüssel vorlegt, kritisch
und gelegentlich auch in Gegnerschaft zu Brüssel zu reden. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied, ob Sie sich
über die Vorlage einer Richtlinie mit Brüssel auseinander
setzen oder ob Sie die Grundlage des Euros in Frage
stellen.
({7})
Wer das in einem Atemzug nennt, hat meiner Ansicht
nach die Dimension der Entscheidung nicht erkannt.
Herr Kollege Glos hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass die kleinen Länder die Sorge haben, von den großen
Ländern dominiert zu werden. Sie sagen, das sei alles
Unfug. Die Achse Paris-Berlin, die übrigens europapolitisch äußerst gefährlich ist,
({8})
in Gegnerschaft zu den kleinen Staaten in Europa aufzubauen
({9})
wird unter dem Strich die Europäischen Union nicht voranbringen, sondern eher auseinander dividieren. Auch
diese Folge Ihrer Politik ist zu bedenken.
Der Finanzminister der Niederlande, Gerrit Zalm,
sagte dazu, der Pakt funktioniere nicht, und fügte - auf
die europäische Diskussion bezogen - wörtlich hinzu:
Viele Staaten wollen ihr Schicksal nicht in die
Hände der großen Staaten legen.
Das ist der Preis für Ihre Politik. Damit werden wir uns
noch lange beschäftigen müssen. Herr Eichel, Ihre Politik in Brüssel hat Ihnen vielleicht ein bisschen Luft in
der innerdeutschen Diskussion beschert. Aber Sie haben
die Axt an die Wurzel der europäischen Einigung gelegt.
Wer nämlich die Idee der Stabilität der europäischen
Währung infrage stellt, der stellt in Wahrheit die Idee der
Europäischen Union infrage; denn er riskiert, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zu verlieren.
({10})
Das ist unverantwortlich und unhistorisch. Wenn schon
die Regierung des Landes, das die Stabilitätskriterien erfunden und durchgesetzt hat - die Sozialdemokraten haben damals Herrn Waigel und dem Kollegen Rexrodt
vorgehalten, alles müsse noch viel strenger sein, damit
die Stabilität garantiert werden könne -, die Stabilitätskriterien infrage stellt, dann ist das eine Einladung an die
Regierungen aller anderen Länder Europas, es ihr gleich
zu tun. Dem jetzigen Präzedenzfall werden viele andere
folgen. Wie wollen Sie den osteuropäischen Beitrittsländern erklären, dass sie die Verträge betreffend die Beitrittsbedingungen einhalten müssen, wenn Sie selbst zu
den Vertragsbrechern zählen?
({11})
Das Bemerkenswerte ist, wie Sie über die Probleme
hinweggehen. Das überrascht selbst mich nach einigen
Jahren Parlamentsmitgliedschaft. Angesichts der Lustlosigkeit, mit der Sie in der Generaldebatte das Wort ergriffen haben,
({12})
hat man ein wenig den Eindruck, dass Sie nach der Devise handeln: Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt es sich
gänzlich ungeniert!
({13})
Es ist interessant, zu beobachten, wie die Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Koalition darauf reagieren. Herr Kuhn stellt die Frage, wo denn unsere konkreten Vorschläge seien.
({14})
Die Fraktion der Freien Demokraten hat über
200 Anträge auf konkrete Einsparungen im Haushaltsausschuss eingebracht. Sie haben aber über 200-mal roboterhaft die Hand gehoben, um das niederzustimmen,
was unser Land im Hinblick auf eine echte Sparpolitik
voranbringen könnte. Werfen Sie jedenfalls der liberalen
Fraktion nicht vor, sie habe keine konkreten Gegenvorschläge gemacht, die auf Heller und Pfennig, auf Cent
und Euro durchgerechnet worden seien. Wir haben vorgearbeitet. In Wahrheit wollen Sie unsere Vorschläge
nicht annehmen, weil Sie die Kraft zum Sparen längst
verloren haben.
({15})
Was ist denn aus Ihrer Politik, die auf der Agenda
2010 basiert, geworden? Daraus ist ein weich gekochtes
Reformprogramm geworden, das den Namen nicht mehr
verdient.
Kollege Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hajduk?
Bitte, gern.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben uns auf die vielen Anträge hingewiesen, die Ihre Fraktion im Haushaltsausschuss eingebracht hat, und haben uns vorgeworfen, dass uns die Kraft zum Sparen fehle. Ist Ihnen
bekannt, dass Ihre Fraktion Ausgabenkürzungen vorgeschlagen hat, um an anderer Stelle Ausgabenerhöhungen
vornehmen zu können, dass Sie also nichts zusätzlich
einsparen wollten und dass die Koalition über einige Anträge der FDP-Fraktion, die mit Augenmaß formuliert
waren, beraten und sie auch angenommen hat? Stimmen
Sie vor diesem Hintergrund mit mir überein, dass der
gestrige Geschäftsordnungsantrag der FDP, die Haushaltsberatungen auszusetzen, ziemlicher Humbug war?
({0})
Frau Kollegin, bleiben Sie noch einen Augenblick
stehen! Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort. Ich
habe noch nicht einmal angefangen.
Mir ist vor allen Dingen eines bekannt - es handelt
sich um eine präzise Zahl -: Sie sind sage und schreibe
drei von über 200 konkreten Einsparvorschlägen der
FDP gefolgt. Das ist doch die Krux. Die Finanzpolitik
eines Finanzministers und einer rot-grünen Bundesregierung, die Deutschland allen Ernstes erklären wollen, es
gebe keine Luft mehr für Einsparungen, obwohl sie
gleichzeitig Beifall klatschen, wenn der Bundeskanzler
16 Milliarden Euro Steinkohlesubventionen zusagt, hat
etwas mit der Verlängerung von Vergangenheit, aber
nichts mit Zukunftsorientierung zu tun.
({0})
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Dass Sie bei der Forschung kürzen und bei der Steinkohle munter weiter bis ins Jahr 2012 subventionieren
wollen, das ist übrigens auch ein bildungs- und forschungspolitischer Skandal.
({1})
Ich wundere mich, dass Sie als Parlamentarier das alles
schlucken. Was ist aus Ihnen geworden? Der Etat von
Frau Bulmahn wird um 27 Millionen Euro gekürzt.
Gleichzeitig steigen die Ausgaben dieser Bundesregierung für die Öffentlichkeitsarbeit um 21,5 Millionen
Euro. Herr Finanzminister, Sie sollten Ihren Ministern
etwas weniger Geld für die Propaganda und etwas mehr
Geld für die Forschung, die Bildung und die Ausbildung
der jungen Generation in die Hand geben. Davon hätte
Deutschland mehr als von dieser versteckten parteipolitischen Werbung, die Sie betreiben.
({2})
Wir reden in diesem Lande nicht über das, worüber
wir reden müssten. Wir müssten zum Beispiel darüber
reden, wie wir das verkrustete Flächentarifvertragsrecht aufbrechen können.
({3})
Doch dazu kommt es nicht. Helmut Schmidt und übrigens auch manche anderen Sozialdemokraten haben entsprechende Erkenntnisse.
({4})
Sie haben längst erkannt, dass das Flächentarifvertragskartell in Wahrheit eine Belastung für den Mittelstand ist
und damit den Arbeitsplätzen und den ArbeitsplatzchanDr. Guido Westerwelle
cen in Deutschland sehr stark schadet. Warum wehren
Sie sich dagegen, dass das gilt, worauf sich 75 Prozent
der Beschäftigten eines Betriebes mit ihrer Unternehmensführung nach einer geheimen Abstimmung verständigt haben? Warum haben Sie nicht den Mut, die Funktionäre der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände
zu entmachten und etwas mehr Verantwortung in die Betriebe zurückzugeben?
({5})
Die Antwort ist ganz einfach: 75 Prozent der Abgeordneten der SPD stammen aus den Gewerkschaften.
({6})
Das ist das eigentliche Problem in diesem Lande. Wir
werden eben nicht mehr repräsentativ regiert.
({7})
Sie hätten Vorschläge zum Kündigungsschutz machen müssen. Ich kann mich sehr genau an das erinnern,
was der Bundeswirtschaftsminister Clement dazu gesagt
hat. Es wurde alles einkassiert. Über den Schwellenwert
wird nicht mehr gesprochen. Man begreift beispielsweise
nicht, dass aus Überstunden, also aus latenten Beschäftigungsverhältnissen, konkrete Arbeitsplätze geschaffen
werden müssen. Zu solchen Arbeitsplätzen kommt es
allerdings nur dann, wenn ein Unternehmer nach Nachfragespitzen die Beschäftigtenzahl bei schlechterer
Auftragslage zurückführen kann. Ein Schwellenwert von
20 im Kündigungsschutzgesetz wäre richtig. Freigestellte
Betriebsräte sollte es nur in Unternehmen mit mehr als
500 Beschäftigten geben.
Sie sprechen über den Wirtschaftsaufschwung in den
USA und in anderen Ländern Europas. Dabei vergessen
Sie, dass man dort vor allen Dingen Reformen auf dem
Arbeitsmarkt durchgesetzt hat. Deswegen werden wir
von der Opposition darauf achten und darauf dringen,
dass die notwendige solide Finanzierung einer Steuersenkung mit echten Strukturmaßnahmen am Arbeitsmarkt gekoppelt wird, weil nur so neue Arbeitsplätze
entstehen können.
({8})
Sie haben keinen Ton zu den Zumutbarkeitskriterien gesagt, obwohl gerade Änderungen auf diesem Gebiet beschlossen worden sind. Millionen Menschen in
Deutschland werden untertariflich bezahlt. Dank Ihrer
Politik ist es für einen langjährigen Sozialhilfeempfänger unzumutbar, eine untertariflich bezahlte Arbeit anzunehmen. Wer redet, wenn es um Zumutbarkeit geht, eigentlich einmal über die Steuern und Abgaben eines
Familienvaters, der hart arbeiten muss?
Jede legale Arbeit ist grundsätzlich besser als der
langjährige Bezug von Sozialhilfe. Das müsste Ihre Politik sein, Herr Bundeskanzler. Dafür hätten Sie auch eine
Mehrheit in diesem Hause.
({9})
Niemand in der Öffentlichkeit soll den Eindruck bekommen, als wäre das System von Bundesrat und Bundestag das Problem. Sie haben im Bundestag und auch
im Bundesrat eine riesige Mehrheit für mehr Marktwirtschaft. Sie wollen sie nicht gebrauchen,
({10})
weil Sie lieber auf sechs linke Abweichler von Grünen
und SPD hören, weil Sie Sorge haben, dass Ihnen ansonsten mangels eigener Mehrheit der Stuhl weggezogen
wird und sich Herr Müntefering vielleicht auf Ihre Nachfolge freut. Das ist der eigentliche Punkt, den wir auf
dem SPD-Parteitag mit Spannung verfolgen konnten.
Auf dem SPD-Parteitag wurde die Agenda 2010, die
man hoffnungsvoll begonnen hatte, wenn auch nur als
Reförmchen, zu Grabe getragen.
({11})
Sie haben auf diesem Parteitag den Klassenkampf, die
Neidgesellschaft vorgezogen. Das ist die neue Politik
der alten SPD.
({12})
Reden wir doch konkret über das, was Sie beschlossen haben und was Sie am kommenden Wochenende beschließen werden! Sie haben eine Ausbildungsplatzabgabe beschlossen.
({13})
- Sie haben uns auf dem Bundesparteitag der SPD sogar
konkret gesagt, wer die Mittel aus der Erhebung der
Ausbildungsplatzabgabe verwalten soll.
({14})
In Nr. 3 Ihres Beschlusses steht: unter Mitwirkung der
Sozialpartner. Genau so habe ich mir das neue marktwirtschaftliche Deutschland vorgestellt:
({15})
Bei den Betrieben, die zum Beispiel gar keinen Lehrling
finden, kassiert man auch noch die Ausbildungsplatzabgabe, führt sie anschließend einem Fonds zu, der dann
wieder von Ihren Gewerkschaftsvertretern verwaltet
wird. Ich sage Ihnen nur eines: Die Bundesanstalt für
Arbeit müsste Ihnen doch Warnung genug sein, nämlich
dahin gehend, dass solche Systeme der Funktionäre von
Anfang an zum Scheitern verurteilt sind.
({16})
Sie wollen also die Betriebe weiter belasten. Das wird
nur dazu führen, dass man sich freikauft. Die, die ausbilden können und es „unanständigerweise“ nicht tun, werden sich freikaufen, und denen, die ausbilden möchten,
es aber dann doch nicht tun, weil sie die Sorge haben, im
nächsten Jahr von der Pleitewelle erfasst zu werden,
drücken Sie gewissermaßen als letzten Akt vor dem
Sargnagel auch noch die Ausbildungsplatzabgabe in die
betriebswirtschaftliche Kalkulation hinein.
({17})
So entsteht kein einziger Ausbildungsplatz. So wird es
nur zu weniger Ausbildungsplätzen und zu mehr Bürokratie kommen! Deshalb kann ich nur hoffen, dass das,
was Sie auf dem SPD-Parteitag beschlossen haben, der
Befriedigung Ihrer Partei diente, aber niemals offizielle
Politik dieses Hauses wird. Alles andere wäre traurig.
({18})
Sie haben beschlossen, die Erbschaftsteuer zu erhöhen. Herr Trittin, Ihr Bundesumweltminister, dem Sie
eben mit einer berühmten „Basta“-Erklärung ratzfatz
klar gemacht haben, dass sein Genöle über die Steinkohlesubventionierung aufzuhören hat - wir werden sehen:
das wird aufhören; wir werden hier namentlich über die
Steinkohlesubventionierung abstimmen; Deutschland
wird sehen: es gibt keinen einzigen Gerechten in Sodom;
so wird das hier ablaufen -,
({19})
fordert ja nicht nur eine Neuregelung und Erhöhung der
Erbschaftsteuer, sondern auch - so ist in der „Welt“ von
heute zu lesen - die Einführung einer Vermögensteuer.
Das ist Ihr Programm. Es ist gut, dass unser Land das erfährt.
Was heißt denn Erhöhung der Erbschaftsteuer? Das
heißt in Wahrheit, dass den Menschen, die für ihr eigenes Alter vorgesorgt haben und die sich darüber freuen,
dass es in dem Fall, dass sie es nicht selbst aufbrauchen
können, den eigenen Kindern und Enkelkindern besser
geht,
({20})
durch die Erbschaftsteuer noch eine Strafe auferlegt
wird.
({21})
Alles, was man am Ende eines Lebens vererbt, ist im
Laufe dieses Lebens bereits x-mal versteuert worden.
Das ist Neidpolitik und nicht Anerkennungskultur.
({22})
Warum begreifen wir nicht endlich, dass es etwas
Schönes für unser Land ist, wenn Menschen etwas
schaffen, dass wir das anerkennen sollten und darauf
nicht immer mit solchem Neid zu reagieren haben?
({23})
Bürgerversicherung, das ist Ihre Politik.
({24})
Bei allem Respekt: Ich wäre wirklich dankbar, Herr
Präsident, wenn hier die Regeln eingehalten würden. An
dem Punkt muss ich Herrn Kollegen Glos Recht geben.
Wenn sich die Damen und Herren von der Regierungsbank auf ihre Abgeordnetenplätze setzen, können sie so
viel dazwischenrufen wie ihre Kolleginnen und Kollegen, aber wenn sie hinter uns sitzen, haben sie sich anzuhören, was die Opposition auf den Bundeskanzler antwortet, wie es guter parlamentarischer Brauch ist.
({25})
Wir müssen Sie auch ertragen und das ist schlimmer für
Deutschland.
({26})
Ich möchte gerne noch auf einen Punkt eingehen,
nämlich auf Ihr politisches Vorhaben einer Bürgerversicherung. Das ist nichts anderes als die Fortsetzung einer
gescheiterten Politik.
({27})
Sie sind der Überzeugung, meine sehr geehrten Damen
und Herren, dass mit der Einführung einer Bürgerversicherung auch das Prinzip der Zwangsmitgliedschaft in
Kassen weiter ausgedehnt wird. Das legen Sie doch vor.
({28})
Anstatt dafür zu sorgen, dass aus der gesetzlichen Versicherungspflicht endlich eine Pflicht zur Versicherung
wird, wo der einzelne Arbeitnehmer von echter Vertragsfreiheit profitieren und auswählen kann,
({29})
wollen Sie dafür sorgen, dass das Prinzip monopolartiger Kassenstrukturen noch weiter ausgedehnt wird. Das
ist ein ganz großer Fehler. Wir brauchen vielmehr Versicherungswahlfreiheit und keine neue Zwangskasse à la
DDR.
({30})
Deshalb bitte ich Sie: Verabschieden Sie sich von Ihrem
Vorschlag einer solchen Bürgerversicherung. Das würde
dieses Gesundheitssystem belasten und uns nicht nach
vorne bringen.
({31})
Ich möchte zum Schluss noch einige unserer Argumente zur auswärtigen Politik - darüber wird ja anschließend auch noch im Rahmen der Debatte über den
Haushalt des Auswärtigen Amtes gesprochen - ebenfalls
ganz ruhig und sachlich vortragen.
({32})
- Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer merken es
zwar nicht, aber das Problem ist, dass man als Redner
dann, wenn die Geräuschkulisse der RegierungsfraktioDr. Guido Westerwelle
nen extrem hoch ist, automatisch auch ein wenig lauter
wird. Aber zur politischen Kultur braucht man an dieser
Stelle nicht mehr viel zu sagen.
({33})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Rede auch
eine bemerkenswerte Einfügung zur Europapolitik gemacht. Sie haben am Anfang Ihrer Rede Herrn Glos dafür gewürdigt, dass er sich von den Äußerungen des Kollegen Bosbach distanziert hat.
({34})
Dabei haben Sie aber verschwiegen, dass von Regierungsseite, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, genau dasselbe gesagt worden ist.
({35})
Als Liberaler sage ich hingegen: Wir Liberale sind der
Überzeugung, dass die furchtbaren Terroranschläge in
der Türkei weder ein Grund sein dürfen, die Türkei in
die Europäische Union aufzunehmen, noch können sie
ein ausreichender Grund dafür sein, die Türkei von der
Europäischen Union auszuschließen. Was zählt, sind objektive Kriterien. Die müssen erfüllt sein. Davon ist die
Türkei noch ein riesiges Stück Weg entfernt.
({36})
Sie, Herr Bundeskanzler, werden also mit Sicherheit in
die Geschichte eingehen - davon kann man ausgehen -,
und zwar als jemand, der es geschafft hat, Deutschland
international in der Tat zum Schlusslicht zu machen. Das
ist das Ergebnis von fünf Jahren Rot-Grün.
({37})
Dass Sie so wenig die geschichtlichen Zusammenhänge
kennen, dass Sie noch nicht einmal vor der Infragestellung des Euro und des Währungsvertrages, also Fundamenten unseres Europas, Halt machen, ist außerordentlich gefährlich.
({38})
Sie haben damals den Euro als kränkelnde Frühgeburt
bezeichnet. Sie machen nun eine solche Politik, als wollten Sie im Nachhinein dafür sorgen, dass Sie Recht behalten.
({39})
Das steht einem deutschen Bundeskanzler und einer
Bundesregierung nicht gut zu Gesicht. Besinnen Sie sich
auf Ihre Verantwortung für Deutschland! Besinnen Sie
sich darauf, welche Rolle Sie als Bundeskanzler in der
Europäischen Union haben. Dann bekommen Sie auch
die Unterstützung dieses Hauses. Aber für Ihre Schulden-, Bürokratie- und Steuererhöhungspolitik bekommen Sie die Stimmen der Opposition in diesem Hause
ganz gewiss nicht.
Vielen Dank.
({40})
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, es ist doch wohl eine Selbstverständlichkeit und wird niemanden in diesem Hause ernsthaft
überraschen, dass die Grünen Arbeit und Beschäftigung
lieber mit Klimaschutz und erneuerbaren Energien
schaffen als mit Steinkohle.
({0})
Auf der anderen Seite wird es wohl auch niemanden
überraschen, dass unser roter Koalitionspartner in der
Frage, wie schnell Arbeitsplätze in der Steinkohleförderung abgebaut werden sollen, etwas mehr auf eine
Sowohl-als-auch-Strategie setzt als wir Grüne. Natürlich
sind das Themen, über die wir reden müssen. Aber dass
ausgerechnet die FDP bei diesem Thema derart die
Backen aufbläst, erklärt sich angesichts Ihrer Politik in
der Vergangenheit nicht von alleine.
({1})
Sie haben in diesem Land doch sogar einmal den Wirtschaftsminister gestellt - im Gegensatz zu den Grünen.
Als Herr Rexrodt Wirtschaftsminister in diesem Lande
war,
({2})
haben Sie die Steinkohle jährlich mit umgerechnet
5 Milliarden Euro gefördert. Heute sind wir bei 2,1 Milliarden Euro. Das ist doch ein Unterschied.
Heute geht die Debatte darum, wie wir den Abbau finanzieren und wann wir wie schnell bei unter 2 Milliarden Euro landen. Sie haben sich in Ihrer Zeit, als Sie
Verantwortung in diesem Lande getragen haben, bei der
Steinkohle keinesfalls mit Ruhm bekleckert.
({3})
Das wundert mich auch gar nicht. Denn immer dann,
wenn es schwierig wird, verdrücken Sie sich doch in die
Büsche.
({4})
Das haben wir doch gerade dieses Jahr wieder erlebt.
Natürlich ist es nicht einfach, von 36 000 Arbeitsplätzen auf 20 000 herunterzugehen. Das ist für die Menschen nicht einfach. Wenn Sie dagegen Entscheidungen
zu treffen haben, die schwierig werden - wie bei der
Gesundheitsreform und bei der Handwerksordnung -,
machen Sie Ihre typische Klientelpolitik.
({5})
Herr Westerwelle, bei der Klientelpolitik, die Sie bei
der Gesundheitsreform machen - Sie halten die Hand
immer nur über Ihre Schützlinge, die „Leistungserbringer“ -, wundert es mich gar nicht, dass Sie auch gegenüber der Bürgerversicherung skeptisch sind.
({6})
Ihr Modell läuft doch darauf hinaus, im Gesundheitssystem, das solidarisch finanziert wird, zu verhindern, dass
die Effizienzreserven gehoben werden. Auf der anderen
Seite wollen Sie sich als Besserverdienender aus genau
diesem System verabschieden. So stellen wir uns Solidarität in der Tat nicht vor.
({7})
Da wir gerade bei der Energiepolitik waren, ein Wort
zu Ihnen, Herr Glos: Bei Ihnen in Bayern scheint es irgendwie nicht angekommen zu sein, dass die große
Mehrheit der Menschen in Norddeutschland - und nicht
nur in Norddeutschland - heilfroh ist, dass der Altreaktor in Stade endlich vom Netz geht.
({8})
Das müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen! Wenn Sie
sich hier hinstellen und diesem Altreaktor in Stade hinterherweinen, dann bestätigen Sie die Menschen doch
nur in ihrer Überzeugung, dass es ein Heil für dieses
Land ist, dass Sie Ihre Atompolitik nicht mehr fortsetzen
können.
({9})
Die Altlasten, die Sie uns mit Ihrer Politik aufgebürdet
haben, werden noch Generationen beschäftigen. Aber
dass Sie sich hier hinstellen und dem Reaktor in Stade
hinterherweinen, das geht an den Realitäten in diesem
Lande ziemlich weit vorbei.
({10})
Herr Glos, ich will Ihnen noch etwas sagen. Der
Kanzler hat sich Ihnen gegenüber ja freundlicherweise
sehr pädagogisch verhalten nach dem Motto: Lernerfolge unterstützen. Ich muss sagen: Zu der Art und
Weise, wie sich Ihr CDU/CSU-Vize, Herr Bosbach, zu
den Terroranschlägen in der Türkei geäußert hat - das
ist ein ernstes Thema - haben Sie sich einen weißen Fuß
machen wollen. Aber mir hat Ihre Erklärung zu diesem
Punkt nicht gereicht. Das will ich Ihnen ganz deutlich
sagen.
({11})
Auch Frau Merkel hat am Wochenende ihr Talent bewiesen, Appelle an die falsche Adresse zu richten. Frau
Merkel, Sie haben mit Blick auf den CSU-Vize Seehofer
gesagt: „Solidarität ist nicht nur ein Wort, jeder von uns
muss sie leben.“ Dieses Wort hätten Sie einmal an die
Adresse von Herrn Bosbach richten müssen. Herr
Bosbach hat in einer wirklich unverschämten Art und
Weise die Terrorangriffe für eine Angstkampagne instrumentalisiert,
({12})
als doch die Menschen in der Türkei Anspruch auf Solidarität und Mitgefühl hatten.
({13})
Die Menschen in der Türkei sind doch gerade wegen ihrer Westorientierung, wegen ihrer europäischen Orientierung Opfer eines Terrorangriffs geworden. Deswegen
bleibt es dabei: Wir werden Kontinuität in der europäischen Türkeipolitik bewahren. Und das heißt, es gelten
die Kopenhagener Kriterien und sonst nichts.
({14})
Ich nehme die Äußerung von Herrn Bosbach auch
deswegen besonders ernst,
({15})
weil deutlich zu erkennen war, dass diese wirklich
schlimmen Äußerungen letztlich ein Reflex auf Ihre innerparteilichen Probleme waren. Es hat sich doch gezeigt,
({16})
dass Sie Ihre Probleme mit dem Fall Hohmann keinesfalls gelöst haben, sondern dass sich in Ihrer Partei am
Fall Hohmann Gräben aufgetan haben.
({17})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ein Nein zum Antisemitismus ist das Mindeste, was ich von Ihnen erwarte. Aber
das reicht nicht. Zum Nein gegen Antisemitismus gehört
auch ein Nein gegen Fremdenfeindlichkeit und Angstkampagnen.
({18})
Frau Merkel, Sie haben im Zusammenhang mit Ihren
innerparteilichen Problemen jetzt eine Patriotismusdebatte verlangt.
({19})
Ich behaupte, die Bürgerinnen und Bürger in diesem
Land - erst recht gilt dies für Rot-Grün - brauchen von
Ihrer Seite keinerlei Nachhilfeunterricht, wenn es um die
Wertschätzung dieses Landes geht. Vor nur wenigen Monaten standen Sie vor der Nagelprobe, wie Sie es denn
mit der Wertschätzung dieses Landes halten, als es nämlich um die Frage ging, ob Deutschland in einen Krieg
im Irak hineingezogen wird. Damals haben Sie diese Nagelprobe auf Wertschätzung dieses Landes nicht genutzt,
sondern verloren.
({20})
Meine Damen und Herren, auch noch ein Wort zum
Stabilitätspakt. Zwei Drittel der Mitgliedstaaten, Herr
Westerwelle, und auch die große Mehrheit der kleinen
Mitgliedstaaten des Ecofin haben eine sehr eindeutige
Entscheidung zugunsten Deutschlands getroffen. Sie haben das vor allen Dingen deshalb getan, weil unsere europäischen Nachbarländer die Anstrengungen, die wir
mit den Strukturreformen vornehmen, hochgradig respektieren. Und sie haben es getan, weil sie aus eigenem
Interesse die Konjunkturkomponente des Stabilitätspaktes tatsächlich höher gewichten
({21})
und nicht Ihre Hoffnung bedienen, dass in einer Zeit, in
der sich die Bundesregierung darum bemüht, eine vernünftige Konjunkturpolitik und eine vernünftige Konsolidierungspolitik zusammenzubringen, diese Bemühungen dadurch kaputtgemacht werden, dass ihr noch
einmal 6 Milliarden Sparauflage aufgedrückt werden.
Das wäre auch nicht im Interesse unserer europäischen
Nachbarn gewesen, weil die darauf hoffen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland vorangeht; denn
das bringt auch sie voran. Sie hingegen hoffen darauf,
dass es mit diesem Land abwärts geht, weil Sie hoffen,
dass es dann auch mit der Regierung abwärts geht.
({22})
Diese Rechnung wird nicht aufgehen.
({23})
Wir haben in diesem Jahr unsere Aufgaben erfüllt.
Das war, weiß Gott, nicht immer leicht. Aber man darf
jetzt, wo man diese Aufgaben hinter sich gebracht hat
({24})
und im Bundesrat im Vermittlungsverfahren steht, auch
einmal fragen: Was hat eigentlich in dieser Zeit die Opposition betrieben? Was Sie betrieben haben, haben wir
gestern gesehen. Im Bundestag setzen Sie beim Haushalt
auf Arbeitsverweigerung und Obstruktion, im Bundesrat
setzen Sie auf Bremsen und Blockieren und ansonsten
streiten Sie sich intern über Ihre eigenen untauglichen
Konzepte. Das ist auch für eine Oppositionspartei in diesen schwierigen Zeiten zu wenig. Das sage ich Ihnen
ganz deutlich.
({25})
Das ist einfach zu wenig. Vor allen Dingen nimmt Ihnen
niemand in diesem Lande Ihre Krokodilstränen in Bezug
auf die Finanzpolitik der Bundesregierung ab.
Sie haben uns in Bezug auf eine seriöse Subventionsabbaupolitik ein Jahr lang nur Zeit gekostet und aufgehalten. Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz hatten
Sie die erste Chance, mit einem Paket Subventionsabbau
und Einsparungen in der Größenordnung von 15,6 Milliarden zu erreichen. Wegen Ihrer Blockadepolitik sind
am Ende nur 2,4 Milliarden herausgekommen und Sie
haben sich selber noch wie die Helden gefeiert, obwohl
die von Ihnen regierten Länder mit ihren eigenen Haushalten längst mit dem Rücken an der Wand standen.
({26})
Dann hatten Sie in der Sommerpause eigentlich genügend Zeit, sich zu sortieren. Jeder hat gedacht: Nach Ihrer
Niederlage bei den Bundestagswahlen kommen Sie nun
- auch aus eigenem Interesse - langsam zur Vernunft. Sie
bekommen jetzt eine zweite Chance; denn Sie können mit
uns über das Regierungspaket, mit dem 30 Milliarden
Euro in drei Jahren eingespart werden sollen, verhandeln. Aber da sitzen wir nun und warten auf Sie. Erst
mussten wir auf Sie wegen der Bayernwahl warten. Nun
warten wir, weil es einen CDU-Parteitag gibt. So sieht es
aus.
({27})
Wir werden wahrscheinlich bis nach Nikolaus auf Sie
warten müssen, weil Frau Merkel, Herr Merz, Herr
Stoiber, Herr Althaus und Herr Koch erst einmal in ihren
Stiefeln nachschauen müssen, ob sie da eine gemeinsame Strategie finden können.
({28})
Auch wenn Herr Merz uns jeden Tag von neuem die
hohe Kunst des empörten Augenaufschlags vorführt:
Dass Sie hier ständig Konsolidierung und Einsparungen
fordern, aber im Bundesrat dasselbe verhindern, nimmt
Ihnen in diesem Land niemand mehr als seriöse Politik
ab. Das ist klar.
({29})
Was Ihnen ebenfalls niemand mehr als seriöse Politik
in diesem Lande abnimmt, ist die Art und Weise, wie Sie
mit dem Thema steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger durch das Vorziehen der dritten Stufe der
Steuerreform umgehen. Über dieses Thema müssen wir
reden. Ich fand es interessant, wie schnell Herr Merz die
Kurve gekriegt und erkannt hat, dass die Entlastung der
Bürgerinnen und Bürger mit Ecofin nichts zu tun hat.
Das zeigt vielleicht seinen wiederkehrenden Realitätssinn, was zu begrüßen wäre. Aber dass Sie dieses Thema
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in politische
Geiselhaft für Ihre ideologischen Scharmützel bei der
Tarifautonomie und beim Kündigungsschutz nehmen
wollen, hat auch nichts mit seriöser Politik zu tun. Das
wird man Ihnen nicht durchgehen lassen.
({30})
Werfen wir einmal einen Blick auf die Konzepte der
Opposition.
({31})
Mit Ihrer Kritik an der Politik der Regierung liegen Sie
meistens daneben. Aber Sie liegen manchmal richtig,
wenn es um die Kritik an Ihren eigenen Konzepten geht.
Dass Sie an diesen Konzepten kein gutes Haar lassen, ist
für uns nachvollziehbar. Herr Seehofer hat einfach
Recht, wenn er feststellt, dass das Kopfpauschalenmodell der Herzog-Kommission unsozial ist,
({32})
da erstens der Hausmeister für seine Gesundheit das
Gleiche bezahlen soll wie sein Chef und da zweitens der
soziale Ausgleich mit ungedeckten Steuerschecks finanziert werden soll. Das muss man einmal feststellen.
({33})
Frau Merkel, Sie beklagen, dass die CSU beansprucht, sozusagen das soziale Gewissen der Union zu
sein. Sie wollen es nicht zulassen, dass für Sie nur die
marktwirtschaftliche Komponente übrig bleibt. Vielleicht liegt diese Aufteilung einfach daran, dass Sie versuchen, mit Konzepten hausieren zu gehen, bei denen jeder auf den ersten Blick merkt, dass Ihre Version, Ihre
Vision von einer sozialen Marktwirtschaft wie ein gerupftes Huhn aussieht. Das will natürlich keiner.
({34})
Wenn sich dann noch Herr Laurenz Meyer
({35})
in dieses Getöse einmischt und sagt, Herr Seehofer sei
unerträglich,
({36})
dann hat der interne Streit der Schwestern auf der nach
oben offenen Eskalationsskala den Wert des Falles
Hohmann erreicht. Herr Laurenz Meyer, ich muss Ihnen
ganz ehrlich sagen: Ich wäre an Ihrer Stelle sehr vorsichtig, den Eindruck zu vermitteln, als sei das Aussprechen
der Wahrheit in Deutschland schon so schlimm wie Antisemitismus.
({37})
Das zeigt, welche Eskalationsstufe Sie bei Ihrem Streit
erreicht haben.
Ihr interner Streit um das Herzog-Konzept zur Gesundheitsreform wird nicht beigelegt, sondern er verschärft sich noch, wenn Herr Merz sich einmischt. Wie
sollen eigentlich die Steuererleichterungen für die Besserverdienenden aus dem Merz-Konzept dazu beitragen,
den sozialen Ausgleich für die Schwächeren, der im
Herzog-Konzept vorgesehen ist, zu finanzieren? Die Erklärung würden wir gerne einmal hören.
({38})
Wir leben ja in einer Zeit, in der Wunder sehr beliebt
sind. Wir hatten das Wunder von Bern und das Wunder
von Lengede. Vielleicht erleben wir ja jetzt einmal ein
Wunder aus dem Sauerland. Aber auf eine Erklärung
warten wir bis heute.
({39})
- Wir haben einen Helden aus dem Sauerland. Aber Sie
sind uns das Wunder aus dem Sauerland noch schuldig.
So sieht es aus.
({40})
Sie sollten sich nicht darüber wundern, dass nicht alle
Menschen in diesem Lande glauben, die Konzepte, die
Sie vorlegen, seien besonders vertrauenserweckend.
({41})
Denn Ihre Konzepte können im Grunde nur dann funktionieren, wenn man vorher sämtliche Grundrechenarten
außer Kraft gesetzt hat. So sieht es doch bei Ihrem Kopfpauschalenmodell und der Merz-Reform aus.
({42})
Lassen Sie uns noch einen Blick auf den Schwesternstreit im Bereich der Rente werfen.
({43})
- In der Tat, Herr Kauder: Oje! - Eines muss man Ihnen
dabei allerdings lassen: CDU und CSU leisten zumindest
einen kleinen Beitrag dazu, das Familienbild in Deutschland zu modernisieren. Was Sie nämlich hier als politische Szenen einer Ehe vorlegen, stellt wirklich - so
muss man feststellen - jeden Ingmar-Bergman-Film in
den Schatten.
({44})
Die CDU-Frauen, besonders Frau Böhmer, haben erstens Recht, wenn sie sagen, der CSU-Vorschlag, der in
der Rentenversicherung Strafbeiträge für Kinderlose
vorsieht, spalte die Gesellschaft. Das ist richtig. Zweitens haben die CDU-Frauen richtig festgestellt, ein Familienausgleich sei nur über das Steuersystem, an dem
sich auch Beamte und Selbstständige beteiligten, gerecht
und nicht über die Rente.
Jetzt stellt sich aber noch ein ganz anderes Problem
- Sie beanspruchen ja, Familienpolitik zu machen -:
Man kann im internationalen Vergleich feststellen, dass
Transferleistungen an Familien - so gerecht sie auch
sein mögen, wenn sie über das Steuersystem erfolgen keinen Einfluss darauf haben, ob sich Frauen für ein
Kind entscheiden. Denn was ist heutzutage das Hauptproblem der jungen Frauen? Das Hauptproblem ist,
({45})
dass sie nicht wissen, wie sie Kinder und Beruf unter
einen Hut bringen sollen.
({46})
Wir haben die Leistungen für Familien seit 1998, seit
dem Ende Ihrer Regierungszeit, um 48 Prozent gesteigert. In Deutschland ist aber der Teil des Familienlastenausgleichs, der über Geldleistungen erfolgt, mit
71 Prozent sehr hoch, während der Teil, der in Dienstleistungen, also in die Kinderbetreuung und Ähnliches,
fließt, mit 29 Prozent sehr gering ist.
({47})
In den skandinavischen Ländern und in Frankreich ist
es umgekehrt. Da wird sehr viel mehr Aufwand dafür betrieben, dass Frauen Familie und Beruf zusammenbringen können, und sehr viel weniger für den direkten
Transfer getan. Das Ergebnis in Bezug auf die Familienpolitik und die Chancen für Frauen, Kinder und Beruf zusammenzuführen, ist dort offensichtlich deutlich besser.
Ihre Familienpolitik funktioniert nach dem Schema:
Wenn eine Tür, auf der „Drücken“ steht, nicht dadurch
aufgeht, dass ich an ihr ziehe, dann ziehe ich noch härter.
So geht die Tür zu einer besseren Familienpolitik eben
nicht auf. Das ist Ihr Problem.
Frau Merkel, die Frauen in diesem Lande haben nach
der letzten Wahl von Ihnen mehr erwartet. Sie als Vorsitzende der CDU sind offensichtlich eine Frau, die es sich
nicht gerade zur Lebensaufgabe gemacht hat, den Männern den Rücken freizuhalten.
({48})
Frau Merkel, Sie sind ja schon froh - das wissen wir -,
wenn Ihnen die Männer nicht in den Rücken fallen.
({49})
Trotzdem haben die Frauen nach der letzten Bundestagswahl von Ihnen erwartet, dass die Hauptungerechtigkeit in der Familienpolitik von Ihnen einmal beim Namen genannt würde. Die Hauptungerechtigkeit in der
Familienpolitik ist, dass es bis zum heutigen Tage für
Frauen keine Wahlfreiheit dahin gehend gibt, ob sie zu
Hause bleiben wollen oder ob sie Kinder und Beruf
verbinden wollen. Wenn man einen Blick auf die beschämende Versorgungssituation bei den Ganztags- und Kinderbetreuungsplätzen in den westdeutschen Flächenländern wirft, dann sieht man, dass die Bundesregierung
richtigerweise einen Schwerpunkt bei der Kinderbetreuung und der Einrichtung von Ganztagsschulen gesetzt
hat und dass das der wichtigste Beitrag für mehr Gerechtigkeit in der Familienpolitik ist, den man heute überhaupt leisten kann. Da steht eine Klärung in Ihren eigenen Reihen noch aus.
({50})
In Bezug auf das Steuerkonzept von Herrn Merz, zu
dem Sie selber sagen, dass daran vieles unausgegoren
ist, stelle ich fest: Wir haben seit 1998 eine Entlastung
der Bürgerinnen und Bürger sowie der Betriebe in einer
Größenordnung von 52 Milliarden Euro geleistet. Allein
die zweite und die dritte Stufe der Steuerreform bringen
22 Milliarden Euro. Angesichts dessen soll man jetzt
nicht so tun, als handele es sich dabei um eine kleine und
unbedeutende Fingerübung.
({51})
Diese Regierung ist sehr dafür, über weitere Vereinfachungen des Steuersystems zu reden. Wir sind sehr
dafür, einen Beitrag für mehr Steuergerechtigkeit in
Deutschland zu leisten. Ich sage aber auch eines ganz
deutlich: Wenn wir es mit den Prioritäten bei Bildung,
Forschung und Entwicklung sowie einer modernen Infrastrukturpolitik ernst meinen, gibt es keinen Spielraum
mehr für zusätzliche Nettoentlastungen in den nächsten
Jahren. Das muss ganz deutlich gesagt werden, weil Sie
hier den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen
streuen.
({52})
Frau Merkel, der Bundeskanzler hat Sie darauf angesprochen: Sie haben jetzt eine einmalige Chance, Ihre
Wertschätzung für dieses Land zum Ausdruck zu bringen, und zwar durch die Taten, die vor Weihnachten anstehen.
({53})
Unterstützen Sie uns endlich dabei, die notwendigen
Strukturreformen, den Subventionsabbau, die Entlastung
der Bürgerinnen und Bürger und die bessere Finanzausstattung der Kommunen in diesem Lande voranzubringen. Wir sind dabei. Wir haben unseren Beitrag geleistet.
Jetzt sind Sie gefragt. Nutzen Sie endlich diese Chance,
dann nehmen wir Ihnen die Wertschätzung für dieses
Land vielleicht ab.
({54})
Das Wort hat nun die Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Bundeskanzler, lassen Sie mich vorweg die folgende Bemerkung machen. Sie haben scheinbar generös zu den
Äußerungen von Michael Glos gesagt, Sie seien ausgesprochen erfreut, dass hier bestimmte Klarstellungen in
Bezug auf einen Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaft der Türkei in der EU und den schrecklichen
Terroranschlägen erfolgt sind. Sie haben dann das, was
Sie immer machen, wieder getan: Sie haben nämlich
scheinheilig Ihr Einverständnis erklärt und hintenrum
sofort wieder nachgekartet.
({0})
Herr Bundeskanzler, das kann nicht der Ton sein, in dem
ein Regierungschef hier in diesem Hause argumentiert.
({1})
Ich sage deshalb noch einmal ganz deutlich: Es gibt
keinen einzigen Kollegen in unserer Fraktion, auch nicht
Wolfgang Bosbach, der einen inneren Zusammenhang
zwischen einer Nichtmitgliedschaft der Türkei und den
extremistischen Anschlägen dort hergestellt hat. Das ist
wahr. Das hat der Kollege Bosbach deutlich gemacht.
({2})
Es gibt keinen Grund, dies zu sagen, genau so, wie es
aus meiner Sicht auch keinen Grund gibt, zu sagen - wie
es Mitglieder Ihrer Regierung gemacht haben -,
({3})
die Anschläge seien nun ein Grund dafür, die Türkei
schneller aufzunehmen. Ich bitte Sie wirklich: Nehmen
Sie die Realität so, wie sie ist.
({4})
Sonst kommen wir in diesem Lande nicht weiter.
Zu Ihrer Rede, Herr Bundeskanzler,
({5})
sage ich: Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. In Ihrer 34-minütigen Rede hier vor dem deutschen
Parlament haben Sie von der Realität des Jahres 2003
verdammt wenig durchblicken lassen.
({6})
Das erinnert mich an das, was Ihr Möchtegerngeneralsekretär Gabriel zu dem SPD-Parteitag gesagt hat.
({7})
Er hat nämlich gesagt: Das ist hier eine gespenstische
Veranstaltung. - Genau daran fühle ich mich erinnert,
Herr Bundeskanzler.
({8})
Eine Verklärung der Realitäten hilft uns im Jahr 2003
in Deutschland mit Sicherheit nicht weiter. Sie und Ihre
gesamte Regierungsmannschaft neigen aber zur Verklärung. Einer Ihrer Erfolgsminister, der Verkehrsminister
Stolpe, hat Sie, Herr Bundeskanzler, neulich sogar einen
Helden genannt, weil Sie über Probleme nicht nur sprechen, sondern diese auch anpacken.
({9})
Scott Fitzgerald hat einmal gesagt: „Wer mir einen Helden zeigt, dem zeige ich eine Tragödie.“ Herr Bundeskanzler, was Sie machen, ist eine Tragödie für dieses
Land. Fünf Jahre lang gab es eine Tragödie für Deutschland.
({10})
Herr Bundeskanzler, Sie sollen auf dem SPD-Parteitag angeblichen Intriganten in Ihrer eigenen Partei zugerufen haben: Ich mache euch fertig!
({11})
Dieser Ausspruch macht in den deutschen Zeitungen die
Runde. Heute steht in der „Berliner Zeitung“, die nicht
als Hauspostille der Opposition gilt:
Gebe Gott, dass die Deutschen diese … wütend dahingesagte Sentenz des Kanzlers nicht eines Tages
als viel weiter reichendes Orakel entschlüsseln
müssen.
({12})
Dieser Satz macht sehr schön das Thema deutlich, über
das wir zu sprechen haben. Wir stehen am Scheideweg
und müssen zusehen, wie wir nach vorne kommen; auch
ich bin dieser Meinung.
({13})
Vor diesem Hintergrund muss ich mich aber fragen,
wie Sie mit diesem europäischen Pakt, der die Worte
Stabilität und Wachstum im Titel trägt,
({14})
umgehen. Wir sind uns doch einig, dass Europa unsere
Zukunft ist.
({15})
Sie, Herr Bundeskanzler, haben in den letzten Tagen
aber nichts anderes gemacht - Ihr Finanzminister hat das
ausgeführt -, als sich ganz systematisch am Erbe der
Deutschen Mark zu versündigen.
({16})
Diese Problematik haben Sie heute darauf reduziert, dass
man sich mit der Kommission doch auch einmal streiten
dürfe. Natürlich kann man sich mit der Kommission
streiten. Es gibt viele Bereiche, über die man sehr unterschiedlicher Meinung sein kann. Sie haben die Chemierichtlinie genannt, ich kann zum Beispiel noch die UVPRichtlinie und die FFH-Richtlinie hinzufügen; das ist gar
kein Problem. Es gab schon immer Fragen, bei denen
wir unterschiedlicher Meinung waren, und es wird sie
immer geben.
({17})
Hier geht es um etwas ganz anderes: Ein großer Teil des
Erfolges dieses Landes gründet sich auf den Erfolg einer
stabilen D-Mark. Dieses Land hat aus guten Gründen die
Debatte über einen Stabilitäts- und Wachstumspakt angeregt und ihn in Geltung gebracht. Ich frage mich: Warum fängt ausgerechnet dieses Land an, sich zu zoffen,
droht der Kommission und setzt sich einfach über die
Vereinbarungen hinweg, nur weil die Realitäten in diesem Land nicht zu den Kriterien passen, die den Pakt eigentlich ausmachen? Darüber streiten wir.
({18})
Herr Eichel, Sie haben es sehr trickreich angestellt:
Sie haben das Verfahren über die Sanktionen außer
Kraft gesetzt und haben stattdessen Versprechungen abgegeben. Dabei haben Sie aber gleich die Hintertür offen
gelassen und haben die Versprechungen so formuliert,
dass sie an Wachstumsraten gebunden sind.
({19})
Das fesselt die Kommission. Denn wenn das Wachstum
nicht eintritt, sind Sie frei, das Sanktionsverfahren ist unterbrochen und die Leier geht von vorne los.
Herr Bundeskanzler, wir kommen nun zu einem wirklich spannenden Thema. Was bedeutet Patriotismus?
Bedeutet Patriotismus, wie ein Karnickel auf die
Schlange zu starren, ob irgendwo auf der Welt Wachstum
entsteht, wovon wir vielleicht Brosamen abbekommen
könnten? Oder bedeutet Patriotismus vielmehr, daran zu
glauben, dass wir aus eigener Kraft Wachstum generieren können, indem wir die richtige Politik machen.
({20})
Sie haben doch davon gesprochen, dass der Anteil
Deutschlands am Wachstumspotenzial in Europa 30 Prozent ausmacht. Deshalb ist es doch unsere nationale
Pflicht, im Sinne der europäischen Erfolgsgeschichte unseren Beitrag dazu zu leisten.
({21})
- Herr Poß, deswegen müssen wir nicht zustimmen. Das
war wieder eine Ihrer genialen Bemerkungen. Wir müssen uns stattdessen darüber verständigen, was die aussichtsreichsten Schritte sind, um genau das zu erreichen.
({22})
Es ist doch ganz unbestritten, dass das jetzt für das
nächste Jahr prognostizierte Wirtschaftswachstum das
schlechteste und wankendste ist, welches es nach einem
Abschwung in einer Aufschwungphase jemals gegeben
hat. Hinzu kommt - das können Sie doch gar nicht abstreiten -, dass ein Drittel dieses mageren Wachstums
auch noch auf die günstige Konstellation der Feiertage
zurückzuführen ist.
({23})
Deshalb war es doch richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister auf dem SPD-Parteitag gesagt hat,
({24})
dass es nichts gibt, was darauf hinweist, dass der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland aus eigener
Kraft erreicht wird. Das war eine Aussage von Herrn
Clement. Der Dank für diese Ehrlichkeit auf dem SPDParteitag war ein wundervolles Wahlergebnis von
56 Prozent.
({25})
Das ist Ihre Haltung zu den Realitäten in Deutschland,
meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie.
({26})
Wir alle freuen uns darüber, dass wenigstens durch den
Export ein vernünftiger Beitrag zum Wirtschaftswachstum geleistet werden kann. Dennoch empfehle ich wieder, das, was der Sachverständigenrat dazu gesagt hat,
einmal zu lesen. Der Export steigt weltweit um 7,4 Prozent, während der Export bei uns um 4,8 Prozent steigt.
({27})
Das heißt, selbst in dem erfolgreichsten Bereich, den wir
aufweisen können, fallen unsere Anteile am Weltmarkt
zurück. Das genau ist das Problem. Wir müssen wieder
ein größeres Stück Kuchen vom Wachstum der Welt abbekommen. Ansonsten kommen wir in diesem Lande
nicht voran.
({28})
Herr Bundeskanzler, Sie haben über Schicksale im
Kohlebergbau gesprochen. Ich nehme das so hin. Sie
reduzieren dort, jawohl. Ich hätte aber erwartet, dass Sie
darauf hinweisen, dass wir unter erheblichen Widerständen mit dieser Reduktion begonnen haben.
({29})
Man kann fragen, wo die einzelnen Mitglieder der jetzigen Regierung damals waren.
({30})
Wir hatten alle Mühe, überhaupt in das deutsche Parlament in Bonn hineinzukommen. Aber sei’s drum, Sie haben diesen Weg fortgesetzt. Wir sagen, Sie setzen ihn
nicht konsequent genug fort. Hier könnte mehr getan
werden.
({31})
Sie sprachen dann von 16 000 Arbeitsschicksalen von
2007 bis 2012. Hätten Sie doch einmal ein Wort darüber
verloren, wie viele Arbeitsplätze im letzten Jahr verloren gegangen sind! Im letzten Jahr gab es unter Ihrer
Regierung 600 000 weniger Beschäftigte. Das ist die
Wahrheit.
({32})
Nur damit Sie es nicht selbst ausrechnen müssen: Das
sind nicht 16 000 in fünf Jahren, sondern 50 000 pro
Monat. Das ist Deutschland im Jahre 2003.
Daraus resultieren natürlich unsere Probleme. Deshalb stellt sich die Frage, was man tun muss und mit
welcher Kraft man es tun muss.
({33})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in dieser Woche ein sehr
aufschlussreiches „Spiegel“-Interview gegeben.
({34})
Auf die Frage, ob Sie die Agenda 2010 nicht auf dem
Höhepunkt des Aufschwungs hätten durchsetzen müssen, haben Sie gesagt:
Objektiv hätte man es da machen müssen. Aber
durchsetzbar in einer pluralen Gesellschaft sind solche Eingriffe erst mit der Erfahrung, dass es um den
Wohlstand geht.
Herr Bundeskanzler, was heißt das denn?
({35})
Das heißt doch nichts anderes, als dass für Sie und Ihre
Partei das Land erst einmal richtig am Boden liegen
muss,
({36})
damit Sie überhaupt erst einmal anfangen, ansatzweise
das Richtige zu tun.
({37})
Genau das ist der Grund, warum Deutschland gegenüber
anderen Ländern schlechter dasteht. Regierungen anderer Länder handeln vorausschauend und lösen ein Problem schon, bevor es in voller Schärfe auch dem Letzten
im Lande klar geworden ist. Diese Länder sind erfolgreich. Wir sind es nicht, weil Sie mit dieser Truppe nicht
zu Potte kommen. Das ist der Grund!
({38})
Es ist vollkommen klar, dass in einer Phase der Veränderung - wir befinden uns in einer Zeit der Veränderung, darüber brauchen wir gar nicht zu reden - das Vertrauen der Menschen nötig ist.
({39})
Woher soll denn bitte schön dieses Vertrauen kommen?
Der Finanzminister stellt kurz vor Jahresschluss einen
Nachtragshaushalt vor - über die Rolle des Parlaments
als eine Art Notariat wollen wir gar nicht reden - und erklärt der staunenden Bevölkerung, dass er statt 19 Milliarden Euro neue Schulden nicht 1, 2, 10 oder 20 Milliarden Euro mehr, sondern 43 Milliarden Euro neue
Schulden macht.
({40})
Das müssen Sie sich zu diesem Zeitpunkt einmal vorstellen: Die Leute, die das hören, müssen immer neue Kürzungen hinnehmen. Sie bekommen kein Weihnachtsund kein Urlaubsgeld mehr. Gleichzeitig sehen sie, wie
der Finanzminister - völlig unprognostizierbar wie beim
Lottospiel - wie Zieten aus dem Busch der deutschen
Öffentlichkeit einen Nachtragshaushalt präsentiert.
({41})
Wie wollen Sie auf diese Weise Vertrauen gewinnen?
Das ist so, als wenn Sie bei einer Bank einen Kredit aufnehmen und diesen plötzlich um 130 Prozent überziehen. Jeder in diesem Lande ginge Pleite und könnte nicht
mehr mitmachen. Das ist so, als wenn eine Hausfrau einen Etat von 1 900 Euro hat und plötzlich 4 300 Euro
ausgibt. Das kann keiner machen; nur Sie, Herr Eichel,
tun es. Dafür bekommen Sie für Ihre Politik kein Vertrauen in diesem Lande.
({42})
Ich könnte Ihren Streit mit der Kommission noch
nachvollziehen, wenn die konjunkturbereinigten Daten in Deutschland anders aussähen.
({43})
Aber, Herr Bundeskanzler - Sie werden das sicherlich
beim Sachverständigenrat nachgelesen haben -: Auch
die konjunkturbereinigten Daten des Defizits zeigen,
dass das Defizit von 1999 von minus 1,5 Prozent bis
zum Jahre 2003 auf minus 3,5 Prozent beständig angestiegen ist.
({44})
Das, was Sie uns immer weismachen wollen, dass das alles nur ein Konjunktureffekt ist, stimmt eben nicht.
({45})
Ich sage Ihnen: Das beunruhigt die Kommission mit
Recht. Gerade konjunkturbereinigt müssen die Zahlen
besser werden.
({46})
Nun komme ich zu den Steuern. Die Steuern sind mit
Sicherheit genau das Gebiet, an dem sich zeigt, inwieweit der Bürger seine Regierung versteht.
({47})
Dass wir das Steuervergünstigungsabbaugesetz verhindert haben, um die Leute nicht noch mehr zu belasten,
war richtig.
({48})
Dass Sie auf Ihrem Parteitag eine Erbschaftsteuererhöhung beschlossen haben, ist Gift für Deutschland. Das ist
unsere Überzeugung.
({49})
Herr Gabriel hat auf dem SPD-Parteitag vergeblich versucht, wieder eine Erhebung der Vermögensteuer zu erreichen. Das hat heute früh der Grünenpolitiker Trittin
nachgeholt und eine Erhöhung der Vermögensteuer um
1 Prozent gefordert. Auch das halten wir in dieser Zeit
für Gift für dieses Land.
({50})
Sie werden uns nicht davon abhalten können, dass wir
diese Ansicht auch im Vermittlungsausschuss weiter vertreten. So, wie Sie Ihre Meinung sagen, sagen auch wir
unsere Meinung.
({51})
Wir halten auch die Mindestbesteuerung für falsch.
({52})
Wenn Sie uns schon nicht glauben, dann lassen Sie
uns doch bei den Sachverständigen nachlesen, die Sie
sich ausgesucht haben.
({53})
Was sagt der Sachverständigenrat dazu? Ich zitiere:
Es ist vor allem kein konsistentes Leitbild erkennbar, an dem sich die Steuergesetzgebung ausrichtet.
({54})
Dieses steuerpolitische Chaos verstärkt … die Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Einkommensentwicklung und Ertragserwartungen und ist Gift
für einen robusten Aufschwung aus eigener Kraft.
({55})
Die Wirtschaftsinstitute nennen das in ihrem Herbstgutachten zusammenfassend: „Finanzpolitik auf Zuruf“. So
entsteht kein Vertrauen in den Aufschwung. Deshalb
verlangen wir von Ihnen, dass Sie es anders machen,
Herr Bundeskanzler. Das ist unser Ziel.
({56})
Herr Eichel hat gestern dankenswerterweise ({57})
- das müssen Sie an dieser Stelle auch sagen, Herr Poß,
weil Sie so viel Unsinn zur merzschen Steuerreform gesagt haben, dass man es nicht fassen kann ({58})
einen relativ abgewogenen Satz zu den Vorschlägen von
Friedrich Merz gesagt. Er hat allerdings einen Fehler gemacht: Herr Eichel möchte nämlich einen großen Teil
der Steuersubventionen und der Steuervergünstigungen
jetzt verbraten, weil er einen nicht konsolidierbaren
Haushalt hat.
({59})
Damit entzieht er Deutschland jedes Fundament für eine
vernünftige und transparente Steuerreform.
({60})
Herr Bundeskanzler, aus diesem Grunde streichen wir
nicht beliebig und wahllos alle Steuervergünstigungen.
({61})
- Für diejenigen, die es bisher noch nicht verstanden haben, Frau Sager, sage ich noch einmal: Koch/Steinbrück
wird von uns allen akzeptiert,
({62})
das ist keine Frage, das wissen Sie auch aus dem Vermittlungsausschuss. Erzählen Sie hier keinen Stuss!
({63})
Es muss aber noch etwas übrig bleiben, sonst gibt es
keine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, um
wirklich das zu machen, was die Menschen im Land
wollen. Die Menschen wollen ein durchschaubares Steuersystem, denn die Frage lautet: Verstehe ich meinen
Staat, geht es in meinem Staat gerecht zu? Ja oder nein?
({64})
Dafür werden wir mit aller Kraft eintreten.
({65})
Herr Bundeskanzler, Sie werden uns eines Tages dankbar sein, dass wir uns durchgesetzt haben.
({66})
Nun kommen wir zu dem von Ihnen kreiierten Gedanken, wir müssten die letzte Stufe der Steuerreform
vorziehen.
({67})
Sie werden uns sicherlich Recht geben: Es ist durch die
Eskapaden der letzten Tage in Brüssel bestimmt nicht
einfacher geworden. Dennoch hat all das, was wir gesagt
haben, immer noch Bestand.
({68})
Wir wollen nicht 90 Prozent auf Pump. Falls wir die Finanzierung der ungefähr 75 Prozent, die wir anvisiert haben, erreichen
({69})
und Sie dazu einen anständigen Vorschlag machen,
({70})
dann hätten Sie, Herr Bundeskanzler, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Damit hätten wir nämlich die Auflagen von Brüssel erfüllt und gleichzeitig
eine solide Finanzierung der Steuerreform zuwege gebracht. Das wäre doch etwas, womit wir uns in Europa
sehen lassen können.
({71})
Herr Bundeskanzler, wir sind uns doch sicherlich einig: Obwohl die Wirtschaftssachverständigen ganz unterschiedliche Meinungen dazu haben, erhoffen Sie sich
vom Vorziehen der Steuerreform einen Impuls für den
Aufschwung und die Nachfrage.
({72})
Sie, Herr Bundeskanzler, sagen heute, unsachgemäße
Zusammenhänge zwischen Nachfrageimpuls und anderem dürfen nicht hergestellt werden.
({73})
Ich erinnere Sie daher an Ihre Worte vom 14. März:
Beides bedingt einander: Ohne Strukturreformen
verpufft jeder Nachfrageimpuls.
({74})
Wir sagen nichts anderes.
Ich habe heute Morgen zugehört, als Herr Schmidt im
Frühstücksfernsehen gesagt hat, es gäbe keinen Zusammenhang und es würde ganz harte Verhandlungen geben.
Dazu sage ich Ihnen, wir werden dann auch nicht hinterm
Berg halten; denn wir haben Ihnen schon so vieles durchgebracht, wovon Sie jetzt profitieren, ich nenne nur die
Minijobs. Wenn Sie nicht mit dieser Art von Debatte aufhören, wie Herr Schmidt sie heute Morgen wieder geführt
hat und wie auch Sie sie haben anklingen lassen, werden
wir ganz deutlich machen, wer in diesem Land blockiert.
({75})
Ihre Blockaden sind ideologisch motiviert und Sie wollen bestimmte Dinge nicht durchgehen lassen. Das schadet dem Land. Das werden wir weiterhin beim Namen
nennen.
({76})
Wer Wachstum will, muss mit Investitionen anfangen.
Die Investitionsquote liegt unter 10 Prozent. Wir sind
uns sicherlich einig, dass das alles andere als ein Ruhmesblatt ist.
({77})
Sie haben mit Ach und Krach wenigstens bei den Großforschungseinrichtungen bis zum jetzigen Zeitpunkt das
gehalten, was Sie voriges Jahr versprochen hatten. Aber
schon wieder läuft Frau Schmidt mit dem Geldbeutel herum und will Mittel aus dem Forschungsministerium haben. Auch da wird schon wieder gekürzt. Es gibt keine
Planungssicherheit für die innovativen Unternehmen in
diesem Lande.
({78})
Über die Steinkohle wollen wir nicht sprechen, über
die Maut spricht ganz Deutschland. Sie ist sicherlich
nicht zum Wohle dieses Landes. Die Vignette abgeschafft, die Maut nicht eingeführt, Straßenbauprojekte
stehen still, und dann sagen Sie, Sie wollten etwas für
Arbeitsplätze machen. Uns gehen im nächsten Jahr Milliarden und Abermilliarden verloren, die für Investitionen, auch für neuartige Investitionen, nicht zur Verfügung stehen. Das ist die Realität der Arbeit Ihres
Verkehrsministers.
({79})
Es hilft auch nichts, dass Sie Heftchen in der Art einer
roten Mao-Bibel mit der Überschrift „Deutschland bewegt sich“ herausgeben,
({80})
weil ganz Deutschland sieht, dass nicht nur die Verkehrspolitik stecken geblieben ist, sondern vieles andere
auch. Was ist denn mit der grünen Gentechnologie, einer erwiesenermaßen forschungsfreundlichen, entwicklungsfähigen Branche? Herr Bundeskanzler, ich unterstütze Sie bei allem,
({81})
was noch auf uns zukommen wird, auch wenn Sie mit
der Kommission im Clinch liegen. Sie sind aber vor allem im Clinch mit dem Umweltminister über die Allokationspläne bezüglich der CO2-Emissionen in
Deutschland. Das wird, wenn wir es nicht richtig machen, der Supergau für die Entwicklung Europas und
insbesondere Deutschlands, was die energieintensive Industrie anbelangt.
({82})
Ich fordere Sie angesichts des guten Verhältnisses, das
Sie zu Russland haben, klar auf, der russischen Regierung zu sagen, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie die
amerikanische Linie verfolgt und sich um die Beschlüsse
von Kioto nicht mehr kümmert.
({83})
Das Kioto-Protokoll ist wirkungslos, wenn Russland
und die Vereinigten Staaten von Amerika es nicht umsetzen und Europa für das Jahr 2012 für die Branche XY
heute schon die Allokationspläne für die CO2-Emissionen macht. Dann können Sie sich das Lissabon-Ziel,
({84})
Europa zum dynamischsten Kontinent in den nächsten
zehn Jahren zu machen, hinter den Spiegel stecken. Darüber lacht die Welt und wir sind die Benachteiligten.
Das ist die Wahrheit und darüber müssen wir sprechen.
({85})
Jetzt komme ich zu den Befreiungsschlägen auf dem
Arbeitsmarkt. Wenn Herr Clement auf der Regierungsbank sitzt, mag man über die Ausbildungsplatzabgabe
gar nicht sprechen, weil sie ihn so traurig stimmt. Aber
wir können es ihm nicht ganz ersparen. Glauben Sie eigentlich, dass Herr Solbes und Herr Prodi, wenn sie sich
den Reformkatalog der Bundesregierung ansehen und
als letzten Höhepunkt auf die Ausbildungsplatzabgabe
stoßen, davon überzeugt sind, dass Deutschland auf dem
richtigen Weg ist? Die fassen sich an den Kopf und fragen, was den Deutschen noch alles einfällt. Das ist doch
der Grund, weshalb die so misstrauisch gegenüber uns
geworden sind. Da unterstützen wir die Kommission. Da
hat sie eins zu eins Recht.
({86})
Wenn sich Herr Solbes, Herr Bolkestein und Herr
Monti in den Katalog vertiefen und sich ansehen, welche
revolutionären Veränderungen uns beim Kündigungsschutz ins Haus stehen, dann glauben sie zuerst einmal,
dass der Sprachendienst der Kommission falsch übersetzt hat. Sie werden denken, der Sprachendienst sei
schuld! Jetzt hat man statt fünf nur noch fünf befristete
Arbeitnehmer und der Kündigungsschutz in Deutschland
bleibt ansonsten, wie er ist. Glauben Sie, dass irgendjemand außerhalb des Willy-Brandt-Hauses und außer den
Mitgliedern der SPD glaubt, dass dies eine Strukturreform für Deutschland ist? Ich glaube das jedenfalls
nicht
({87})
und meine Fraktion auch nicht.
({88})
Neulich auf der Betriebsrätekonferenz - auch ich
hatte die Ehre, daran teilzunehmen - war Herrn
Müntefering die Erleichterung darüber anzumerken,
dass er nach zwei schwierigen Gewerkschaftstagen von
IG Metall und Verdi den Genossinnen und Genossen und
den Betriebsrätinnen und Betriebsräten verkünden
konnte: Mit uns wird die Tarifautonomie nicht angerührt; darauf könnt ihr euch verlassen!
({89})
Das ist prima. Ich weise aber darauf hin, dass so die
Strukturreformen in Deutschland nicht durchgesetzt
werden. Das ist unsere Meinung.
({90})
Herr Bundeskanzler, auch in diesem Zusammenhang
empfehle ich Ihnen, Ihre Rede vom 14. März nachzulesen. In dieser Rede hörte sich das nämlich alles anders
an. Entweder es gibt eine wirklich griffige Vereinbarung
zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften oder, wenn
das nicht der Fall ist, Sie müssen jetzt handeln. Angeblich steht ja die Stunde der Entscheidung an. Wie lange
sollen wir eigentlich noch darauf warten? Herr Solbes,
Herr Prodi und die europäischen Staats- und Regierungschefs wollen jedenfalls nicht länger warten.
({91})
Entweder Sie setzen das um, was Sie angedeutet haben,
({92})
oder wir schaffen eine gesetzliche Regelung - wir haben
einen entsprechenden Gesetzentwurf eingebracht -, von
der wir erwarten, dass sie zu einer substanziellen Veränderung des deutschen Arbeitsrechts führt, die wir für
richtig und notwendig halten.
({93})
Herr Bundeskanzler, wir erwarten auch eine praktikable und vernünftige Regelung zur Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Uns sind die Probleme insbesondere in den neuen Bundesländern bekannt. Wir werden eine realistische Verhandlungslinie
einschlagen. Aber Sie können nicht ernsthaft erwarten,
dass wir hinsichtlich der Zumutbarkeit zulassen, dass die
untertariflich bezahlte Beschäftigung, die heute für einen
Arbeitslosengeldempfänger üblich ist, für die Empfänger des Arbeitslosengelds II plötzlich nicht mehr gelten
darf, nur weil einige von Ihnen noch alten Ideologien anhängen. Es ist völlig undenkbar, dass wir das mittragen.
Das muss in diesem Hause auch deutlich gemacht werden.
({94})
Gestern wurde über die Strukturreformen in den
Sozialsystemen gesprochen. Wir haben mit Ihnen zusammen kurzfristig ein Reformpaket verabschiedet, weil
wir uns der Verantwortung stellen und mitmachen.
({95})
Herr Eichel hat gestern wieder darüber geschimpft, welche Partikularinteressen wir seiner Ansicht nach vertreten. Ich kann zwar aus Ihrer Warte heraus verstehen,
dass Sie den Fremdbesitz von Apotheken ermöglichen
wollen. Das ist Ihr gutes Recht. Wir wollen das aber
nicht. Deshalb haben wir uns auf einen vernünftigen
Kompromiss geeinigt.
Ein Blick zurück zum Ausgangspunkt der Vorstellungen der Bundesregierung zeigt, dass die Gesundheitsreform zu einer Staatsmedizin mit einem staatlichen Qualitätsinstitut und der Vormacht der Kassen führen sollte,
statt einen Wettbewerb zwischen Anbietern und Kassen
herzustellen.
({96})
Tun Sie jetzt bitte nicht so, als seien Sie Strukturreformer par excellence!
Wenn es um die nächsten 20 bis 30 Jahre geht, gibt es
auch zwischen der CDU und der CSU kontroverse Diskussionen über die Zukunft der Sozialsysteme. Aber Ihre
Beschlüsse zur Bürgerversicherung auf dem SPD-Parteitag sind das Allerletzte.
({97})
Es gibt dazu weder ein klares Konzept, noch enthalten
sie irgendetwas, was Deutschland nach vorne bringt.
({98})
Uns allen in diesem Hause empfehle ich, die Stellungnahme des Sachverständigenrates zu berücksichtigen,
derzufolge die Bürgerversicherung zu Einbußen von
3 Prozent in der wirtschaftlichen Dynamik führen
würde, während das Prämienmodell zu einem 3-prozentigen Zuwachs führen würde.
({99})
Nach Ansicht des Sachverständigenrats bedeutet das je
nachdem entweder 1 Million Arbeitsplätze weniger, weil
durch die Einführung einer Bürgerversicherung die
Lohnnebenkosten steigen, oder 1 Million Arbeitsplätze
mehr, weil durch die Gesundheitsprämie die Lohnnebenkosten sinken und eine Entkoppelung stattfindet.
({100})
Ich meine, jeder in diesem Hause hat die Pflicht, solche Empfehlungen des Sachverständigenrates zumindest
zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen, ob sie uns
nicht nach vorne bringen.
({101})
Meine Damen und Herren, Deutschland braucht Veränderungen.
({102})
Wir haben dazu ganz klare Vorschläge gemacht.
({103})
Als Herr Westerwelle erst ein kleines Päckchen bei sich
trug, was ich mit Blick auf die FDP anerkenne, habe ich
gesagt: Um nicht Bestimmungen zu verletzen, die regeln, welches Gewicht Frauen tragen dürfen, kann ich
unseren Sack nicht mit nach vorne schleppen. Wir haben
vieles eingebracht
({104})
und wir haben klare Maximen,
({105})
die im Übrigen mit den Überschriften des Bundeskanzlers völlig übereinstimmen.
({106})
Deutschland braucht Wachstum,
({107})
Deutschland braucht wieder mehr Beschäftigte und
Deutschland braucht Vertrauen in die Politik.
({108})
All dies bekommt Deutschland nicht mit dieser Bundesregierung.
Deshalb werden wir der Verantwortung, die wir im
Bundesrat haben, Schritt für Schritt auf der Grundlage
unserer Überzeugungen und auf der Basis der Bereitschaft zum Kompromiss gerecht werden. Aber eines,
Herr Bundeskanzler, können Sie uns nicht absprechen:
Es gibt keine Pflicht zum Kompromiss, wenn bei ihm
die Vorteile nicht die Nachteile überwiegen. Nach dieser
Maxime werden wir handeln.
({109})
Herr Bundeskanzler, wenn wir so handeln, dann tun
wir - davon bin ich hundertprozentig überzeugt - ein gutes Werk für Deutschland, auch wenn wir wissen, dass
wir ein besseres für Deutschland tun könnten, wenn wir
regierten.
Herzlichen Dank.
({110})
Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Franz
Müntefering, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen, die diese Haushaltsdebatte verfolgen, die wir hier im Bundestag führen, werden sich fragen, ob das, was hier stattfindet, nicht sehr gefährlich ist.
({0})
Hier fliegen Katastrophen, Sargnägel, Tragödien, Verfassungsbrüche, Charakterlosigkeiten und brutale Mehrheitsentscheidungen durch die Luft; das alles sind Begriffe, die von Ihnen seit gestern hier vorgetragen
worden sind.
({1})
Im Verlauf der Debatte wird wahrscheinlich noch hinzukommen, dass Sie eine Hungersnot und die Pest für unser Land ausrufen. Die Menschen draußen werden sich
fragen, was das für eine Opposition ist.
({2})
An dieser Stelle muss man feststellen, dass Ihnen Augenmaß und Verantwortung für eine Politik im Interesse
unseres Landes fehlen.
({3})
Herr Glos hat heute Morgen gesagt, es gehe darum,
das Beste für Deutschland zu tun.
({4})
Herr Merz lädt aber zugleich die Kommission in Brüssel
ein, in Sachen Defizitverfahren Klage gegen Deutschland zu erheben. So viel, verehrte Frau Merkel, zum
Thema Patriotismus!
({5})
Ihr Stellvertreter Merz lädt die Europäische Kommission
dazu ein, Klage gegen Deutschland zu erheben.
({6})
Wir wissen, dass wir in Europa Rechte und Pflichten
haben. Wir stehen zu den Pflichten.
({7})
Wir wissen, dass Deutschland Wachstumsmotor in Europa sein muss. Wenn wir das erreichen wollen, müssen
wir auf einem schmalen Grat gehen, das heißt, wir müssen so weit wie möglich konsolidieren, aber auch dafür
sorgen, dass der Wachstumspfad nicht zerstört wird.
({8})
Herr Merz, wer in dieser Situation die Kommission in
Brüssel aufruft, gegen sein eigenes Land
({9})
zu klagen, der wird der Aufgabe, in seinem Land Politik
zu machen, nicht gerecht und der ist nichts anderes als
feige.
({10})
In der heutigen Debatte sind aber nicht nur die Begriffe gefallen, die ich eben aufgezählt habe. Für diese
Debatte ist ebenfalls typisch, dass Sie sich, Frau Merkel,
schönreden
({11})
- ich kann auch charmant sein - und die Dinge so verdrehen, dass sie weit an der Wahrheit vorbeigehen. Es ist
immer gut, wenn man auf das hört, was zu Hause gesagt
wird. Meine Frau hat folgende stehende Redewendung,
die ich Ihnen vortragen möchte: So die Dinge zu verdrehen und falsch darzustellen, wie die in der Opposition
das können, das lernst du nie! - Das gebe ich Ihnen
gerne zu.
({12})
Ich möchte Ihnen das an dem Thema Arbeitsplätze
deutlich machen. Frau Merkel hat gesagt, die Zahl der
Arbeitslosen sei jetzt um etwa 600 000 höher als im
Jahre 1998. Das stimmt.
({13})
- Nein, nicht der Beschäftigten. - Aber, Frau Merkel,
seit 1998 sind geburtenstarke Jahrgänge in den Arbeitsmarkt gekommen. Das kann man an den Zahlen nachvollziehen. Der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen
ist deutlich höher geworden.
({14})
Es gibt heute 128 000 ABM- und SAM-Stellen weniger
als damals. Außerdem ist die Bilanz bei der Zuwanderung positiv. Wenn man alles addiert, dann stellt man
fest, dass im ersten Halbjahr 2003 die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland um
750 000 höher war als im Jahre 1998. Das ist die ganze
Wahrheit.
({15})
Ich möchte sie Ihnen zur Kenntnis geben, weil die Art
und Weise, wie Sie dieses Land schlechtreden, nicht gut
ist und an der Wahrheit weit vorbeigeht. Wir müssen den
Menschen in diesem Land klar machen, dass sich alle
anstrengen müssen, dass sie sich aber nicht Bange machen lassen müssen. Wer den Menschen Angst macht
und ihnen einredet, Deutschland sei schwach und habe
nicht die Kraft, nach vorne zu gehen, der versündigt sich
an diesem Land. Genau das machen Sie und das werfe
ich Ihnen vor.
({16})
Ich möchte Ihnen, Herr Westerwelle, der Sie mit erhabenem Pathos und großer Lautstärke geredet haben und
der Sie den Liberalismus in Deutschland immer für sich
in Anspruch nehmen, Folgendes sagen: Die deutsche
Sozialdemokratie, die über 140 Jahre alt ist, hat in ihrer
Geschichte große liberale Frauen und Männer in ihren
Reihen gehabt. Ich nenne als Beispiele nur Carlo
Schmid, Willy Brandt, Johannes Rau und Helmut
Schmidt. Vor diesem Hintergrund klang Ihre Rede ungefähr genauso, als ob Daniel Küblböck „Großer Gott, wir
loben dich“ gesungen hätte.
({17})
Der harte Kern des Liberalismus bedeutet, dass sich
Menschen auf gleicher Augenhöhe begegnen. Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich das ansprechen, was sich
auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland tut und noch tun
muss. Wir werden den Menschen viel zumuten müssen.
Das tun wir auch. Wir sind der Meinung, dass jede Arbeit,
die es in Deutschland gibt, von den Menschen getan werden muss, die legal in Deutschland sind. Dazu stehen wir
({18})
und das machen wir auch.
({19})
Das eine oder andere Detail wird gleich noch zu besprechen sein.
Es gibt allerdings eines, worauf wir nicht verzichten
werden - das sage ich Herrn Westerwelle und auch allen
anderen in diesem Lande -: Wir werden darauf achten,
dass weiterhin auf gleicher Augenhöhe verhandelt wird.
Die Wirtschaft ist letztendlich für die Menschen da nicht umgekehrt.
({20})
Deshalb müssen alle, die sich in diesem Lande mit diesem Thema beschäftigen, wissen, wo die Grenze ist.
Die Tarifautonomie ist die verfassungsmäßig geklärte
und garantierte Zuständigkeit der Tarifparteien. Sie müssen sich selbst Regeln geben und Verträge schließen, die
regeln, wie sie damit umgehen.
({21})
Die Tarifhoheit steht nicht zur Disposition. Sie bedeutet
auch, dass die Tarifparteien unter sich klären, unter welchen Bedingungen sie vom vereinbarten Flächentarif
abweichen. Es passiert in Deutschland jeden Tag Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Male, dass Betriebsräte bzw. Personalräte bereit sind, zusammen mit den
Chefs ihrer Unternehmen, mit den Gewerkschaften und
mit den Arbeitgeberverbänden vom Flächentarifvertrag
abzuweichen. Das muss auch so sein. Das bestreiten wir
nicht. Ich wiederhole: Zur Tarifhoheit gehört auch die
Hoheit der beiden Tarifparteien über die Schaffung von
Regeln, die vom Flächentarifvertrag abweichen. Das
wollen wir und so wird es auch praktiziert.
({22})
Herr Westerwelle, zum Liberalismus gehören soziale
Gerechtigkeit und Solidarität.
({23})
- Ich will es Ihnen nur noch einmal sagen, weil Sie offensichtlich glauben, Sie hätten in diesem Bereich den
Alleinvertretungsanspruch. Auch wir nehmen in Anspruch, den Liberalismus zu vertreten.
({24})
- Ein interessanter Zwischenruf. - Eine Gesellschaft
kann nie auf soziale Gerechtigkeit und Solidarität verzichten.
({25})
Bei all dem, was wir jetzt hier zu diskutieren haben,
auch bei dem, was wir den Menschen zumuten, muss immer klar sein: Diese Messlatten gelten auch für uns; das,
was ich beschrieben habe, sind die Ziele unserer Politik.
Deswegen sage ich Ihnen: Liberalismus ist mit Solidarität in der Gesellschaft sehr wohl zu vereinbaren. Ich
glaube, dass starke Individuen eher als schwache zu Solidarität fähig sind.
({26})
Wir dürfen Ihnen dieses Feld nicht überlassen. Sie sollten schon gar nicht die Chance haben, sich als diejenigen
darzustellen, die in diesem Land für Liberalismus und
Freiheit in ganz besonderer Weise zuständig sind.
({27})
Das Jahr 2004 wird ein anstrengendes, aber auch ein
gutes Jahr für Deutschland sein. Wir haben ein Wachstum von 1,5 Prozent - vielleicht etwas mehr - zu erwarten. Das bedeutet einen Zuwachs von 30 Milliarden bis
40 Milliarden Euro. Wir sind Exportweltmeister. Die
Preise sind stabil. Die Städte und Gemeinden werden im
nächsten Jahr mehr in ihrer Kasse haben und werden
wieder investieren können. Sie werden somit den kleinen und mittleren Unternehmen und dem Handwerk vor
Ort die nötigen Aufträge erteilen können.
({28})
Dies wird umso mehr der Fall sein, wenn das Vorziehen
der Steuerreform gelingt;
({29})
denn 7 Milliarden Euro von der Entlastung in Höhe von
22 Milliarden Euro kommen den kleinen und mittleren
Betrieben, den Personengesellschaften - sie müssen Einkommensteuer zahlen und würden somit entlastet - zugute. Diese Unternehmen würden das zusätzliche Geld
ganz bestimmt vernünftig investieren.
Es wird im nächsten Jahr wieder mehr Studentinnen
und Studenten in den Naturwissenschaften und in den
Ingenieurfächern geben. In diesem Bereich hat unser Reden, Tun und Werben der letzten Jahre schon gewirkt.
({30})
Es gibt in diesen Fächern bei den Studentenzahlen eine
große Delle, die wir auszugleichen haben. Dabei sind
wir auf einem guten Weg.
Die neue Handwerksordnung wird es im nächsten
Jahr zum ersten Mal ermöglichen, dass sich erfahrene
Gesellen selbstständig machen und Unternehmen gründen können. Wir werden im nächsten Jahr die vernünftige Energiepolitik - dazu waren Sie nie fähig - fortsetzen.
({31})
Wir werden einen vernünftigen Energiemix in Deutschland auch für die Zukunft sichern. Die Energiepolitik
wird eines der Felder sein, die uns im Lande, aber auch
weltweit in unseren Exportmöglichkeiten stärken. Dabei
spielen neue Energien eine Rolle, aber dabei spielen
auch die traditionellen Energien eine große Rolle.
Weil heute Morgen schon einiges über die Kohle gesagt worden ist, will ich als einer, dessen Zuhause nicht
weit weg von den Standorten ist, auch etwas dazu sagen.
Es scheint in Deutschland zum Teil den Irrglauben zu
geben, dass Menschen, die sich bei der Arbeit dreckig
machen, Menschen von gestern oder vorgestern sind.
({32})
In unseren Industriebetrieben, im produzierendem Bereich gibt es noch Menschen, die sich bei der Arbeit dreckig machen müssen, die mit höchster Qualität, mit
höchst modernen Maschinen und unter höchst modernen
Bedingungen arbeiten. Das ist auch im Kohlebergbau so.
({33})
Wir wissen, dass der Energiebedarf der wachsenden
Menschheit in den kommenden Jahren und Jahrhunderten in hohem Maße mit Kohle, Öl und Gas gedeckt wird.
Wir sind als Deutsche gut beraten, wenn wir mit leistungsfähigen und umweltfreundlichen Kraftwerken
der Welt helfen, dieses System im Griff zu behalten.
Wenn die wachsende Zahl der Menschen auf dieser Welt
mit der Energie so umgeht, wie wir in den Industrieländern es in den letzten zwei, drei Jahrhunderten getan haben, dann ist der Stern bald am Ende. Deshalb macht es
großen Sinn, im eigenen Land noch den Energieträger
Kohle zu haben. Das führt nämlich dazu, dass wir nicht
nur neue Technologien beim Abbau im Berg, sondern
auch Kraftwerke haben, in denen Kohle umweltfreundlich verbrannt werden kann und die dazu beitragen, dass
das auch weltweit so geschieht. Das ist eine große Aufgabe, die wir alle miteinander haben.
({34})
Wir werden im nächsten Jahr, im Jahr 2004, die Bundesanstalt für Arbeit zu einer Vermittlungsagentur weiterentwickeln. Es ist im Moment Mode geworden, sich
den Mund darüber zu zerreißen und so zu tun, als ob die
Bundesanstalt ein großes Schlachtschiff wäre, das man
überhaupt nicht lenken und leiten könnte.
({35})
Wir werden noch große Anstrengungen unternehmen,
um die Bundesanstalt für Arbeit zu modernisieren, um
sie auf ihre neue Aufgabe einzustellen. Aber dass sie sie
erfüllen kann und auch erfüllen muss, steht fest. Deshalb
werden wir diese Umwandlung der Bundesanstalt für
Arbeit im nächsten Jahr auf der Basis von Hartz III gestalten.
Wir werden im nächsten Jahr die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger dichter als bisher am Arbeitsmarkt
haben. Es sind etwa 1 Million erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger, die beim Arbeitsamt bei der Vermittlung in
den Arbeitsmarkt bisher wenig Unterstützung hatten.
Das wollen wir verbessern. Das wollen wir intensivieren.
Das schaffen wir mit dem Gesetz, das jetzt in der Beratung im Bundesrat ist.
Wir werden im nächsten Jahr, im Jahr 2004, den
Kampf gegen die Schwarzarbeit und die illegale Beschäftigung noch verstärken. 7 000 Menschen insgesamt, überwiegend vom Zoll, werden in diesem Bereich
tätig sein und dazu beitragen, dass in Deutschland endgültig klar wird: Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind keine Kavaliersdelikte.
({36})
Leute, die etwas davon verstehen, sagen uns, dass etwa
18 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts im Bereich
der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung erwirtschaftet werden. Wenn das stimmt, sind das 300 bis
400 Milliarden Euro, Tendenz steigend. Der ehrliche
Unternehmer, der seine 20 Leute ordentlich versichert,
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge abführt, wird bei
seinen Angeboten von den ganz Großen unterlaufen, die
mit Subsubunternehmen arbeiten. Das darf nicht sein.
Wir können es nicht dabei belassen, dass der ehrliche
Arbeitnehmer und der ehrliche Arbeitgeber die Dummen
sind und sich die anderen ins Fäustchen lachen. Da werden wir im nächsten Jahr mit aller Energie noch einmal
nachstoßen.
({37})
Wir werden im nächsten Jahr die ersten Schritte tun,
um die großen gesellschaftlichen Innovationen, um die es
geht, einen entscheidenden Schritt voranzubringen. Ich
nenne zunächst die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir haben auf Bundesebene entschieden, dass wir in
dieser Legislaturperiode den Städten und Gemeinden auf
verschiedenen Wegen 8,5 Milliarden Euro zur Verfügung
stellen, damit sie das Angebot für die unter Dreijährigen
und für die Grundschüler verbessern. Dabei geht es um
eine große gesellschaftliche Innovation, die das ganze
Jahrzehnt in Anspruch nehmen wird. Wir wollen, dass die
Erwerbsquote der Frauen nicht bei 60 Prozent im Westen
bzw. 55 Prozent im Osten hängen bleibt. Wir brauchen die
Intelligenz und die Fähigkeiten dieser Frauengeneration.
Wir wollen sie in der Erwerbstätigkeit genutzt wissen.
Wir wollen den Kindern bessere Chancen geben.
({38})
Diese 8,5 Milliarden Euro geben wir als Bund übrigens völlig freiwillig. Wenn wir sie nicht geben würden,
würde uns niemand einen Vorwurf daraus machen können. Sie wären wahrscheinlich überhaupt nicht auf den
Gedanken gekommen.
({39})
Wir könnten diese 8,5 Milliarden Euro im nächsten
Jahr natürlich auch in die Rentenversicherung stecken.
Dann müssten wir vieles nicht tun, was manchen wehtut.
Da sind wir an einem Punkt, über den man offen sprechen muss. Gegenwartsinteressen haben immer eine
stärkere Lobby als Zukunftsinteressen.
({40})
Aber Zukunft ist bald Gegenwart. Wir müssen den Mut
haben - wir in dieser Koalition haben ihn -, denen, die
älter sind, zu sagen: Diese 8,5 Milliarden Euro geben wir
euren Enkelkindern, damit die eine ehrliche Chance haben, damit es für die nachkommenden Generationen
Chancengerechtigkeit gibt.
({41})
Unter dem Gesichtspunkt, wie man was am besten
verkauft, wäre ein anderer Weg einfacher für uns. Wir
sind alle lange genug dabei, um das zu wissen. Wir verfolgen weder an dieser Stelle noch an anderen Stellen die
einfachste Linie.
({42})
Trotzdem ist es nötig, dass wir begreifen, dass hier eine
gesellschaftliche Innovation läuft, die über das ganze
Jahrzehnt gehen wird. So etwas haben Sie in der damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition über die ganzen 16 Jahre
nicht zustande gebracht.
({43})
Wir werden Innovationen in der Gesellschaft voranbringen, indem wir Ältere nicht beiseite schieben, sondern ihnen im Berufsleben und auf dem Arbeitsmarkt
Chancen geben. Dazu müssen wir einige Dinge umsetzen, die uns wehtun und über die wir uns mit den Gewerkschaften und auch untereinander streiten. So wollen
wir zum Beispiel, dass das Arbeitslosengeld für Ältere
nicht mehr so lange gezahlt wird, wie das bisher der Fall
ist. Einfacher wäre es, wir würden das nicht tun, aber wir
machen es trotzdem, weil es richtig ist und wir erreichen
wollen, dass in dieser Gesellschaft in den nächsten Jahren Schritt für Schritt - hierzu wird es vernünftige Übergangsfristen geben - die 55- und 60-Jährigen nicht mehr
nach Hause geschickt und zur Seite geschoben werden,
sondern weiterhin am Arbeitsprozess teilnehmen können
und Möglichkeiten erhalten, sich weiterzuqualifizieren
und weiterzubilden. Das muss wieder gelernt und dafür
muss Verständnis geweckt werden. Das ist das Ziel unserer Politik.
({44})
Ich sehe Handbewegungen, die man so interpretieren
könnte, dass auch Sie das für richtig halten. Machen Sie
dann doch dabei mit! Alle Gesetze, die jetzt im Bundesrat liegen, laufen auf diese gesellschaftlichen Innovationen hinaus, die ich gerade beschreibe. Lassen Sie sich
nicht durch Details irritieren, die mehr oder weniger populär sind, sondern denken Sie an das, was im Großen in
die Wege geleitet wird!
Die dritte große gesellschaftliche Innovation ist, dass
wir dafür sorgen wollen, dass junge Menschen, wenn sie
aus der Schule kommen, nicht arbeitslos werden.
({45})
Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir eine zunehmende Zahl von jungen Menschen haben, die, wenn
sie aus der Schule kommen, keine Ausbildung erhalten,
keinen Arbeitsplatz finden und auch keine Hochschulbildung erfahren.
Für die Schulen und für die Hochschulen ist der Staat
zuständig, für die duale Ausbildung sind die Unternehmer zuständig. Wir müssen also erreichen, dass in den
nächsten drei bis vier Jahren diese jungen Menschen, solange ihre Zahl noch so hoch ist, eine Chance bekommen, wenn sie ihre Schulausbildung beenden. Nachdem
wir den jungen Menschen in unserem Land gesagt haben: Jetzt lerne, pauke und strenge dich an!, ist es für sie
eine verheerende Botschaft, wenn wir ihnen nach dem
Verlassen der Schule sagen müssen: Es hat leider für
dich nicht gereicht. Setz dich in die Ecke, bezieh Stütze
und halte den Mund; du wirst nicht gebraucht! - Deshalb
werden wir hier etwas tun.
({46})
Uns wäre es das Liebste, wenn die Ausbildungsumlage nie zum Tragen kommt. Das ist überhaupt nicht unser Ziel. Dass Sie sich darüber den Mund zerreißen, entspricht Ihrem Verhalten, das ich vorhin mit „an der
Wahrheit vorbeireden“ umschrieben habe. Sie wissen
genau, wie das ist: In diesem Jahr fehlen für etwa 6 bis
7 Prozent der Schulabgänger Ausbildungsplätze. Ich
frage mich, warum eine Wirtschaft, in der 70 Prozent der
Unternehmen nicht ausbilden, nicht in der Lage sein
sollte, für diese 25 000 bis 30 000 jungen Menschen
- ich unterstelle einmal einen Bedarf von 500 000 Ausbildungsplätzen - Ausbildungsplätze zur Verfügung zu
stellen. Das muss doch möglich sein.
({47})
Sie wissen doch so gut wie wir: Der gute Ruf von
„Made in Germany“ beruht auf der qualifizierten Ausbildung, die die Menschen bei uns im Lande erfahren
haben. Die Unternehmen sind gut beraten, wenn sie
junge Menschen erreichen, aufnehmen, ausbilden und
qualifizieren; denn in fünf bis sechs Jahren wird die Zahl
der jungen Menschen, die die Schule verlassen, sehr viel
niedriger sein als heute. Wenn es uns gelingt - da sind
wir ja auf gutem Weg -, eine immer größere Zahl aus
den jeweiligen Jahrgängen zu einem Hochschulstudium
zu bewegen - der Anteil stieg inzwischen von 28,5 auf
35 Prozent der Schulabgänger eines Jahrgangs, eine
stolze Zahl -,
({48})
und wir die 40-Prozent-Marke erreichen, die wir uns
vorgenommen haben, wird die Zahl und die Qualität derer, die sich nach der Schule für die duale Ausbildung
entscheiden, noch viel geringer sein als heute.
Ein Unternehmer darf doch nicht nur darüber nachdenken, welche neuen Maschinen er sich in drei oder
vier Jahren kauft, sondern er muss auch darüber nachdenken, wie er rechtzeitig Menschen qualifiziert, indem
er ihnen eine Chance auf Ausbildung gibt. Wir erwarten
deshalb, dass das auch passiert.
({49})
Eine weitere große gesellschaftliche Herausforderung
und Innovation ist es, alle Arbeit, die in Deutschland anfällt, mit den Menschen zu tun, die legalerweise in
Deutschland sind.
Bei der Qualifikationsskala haben wir sowohl oben als
auch unten ein Problem. Das Problem am oberen Ende
ist, dass es für bestimmte Berufe nicht genügend Absolventen gibt: Uns fehlen Ingenieure und andere Fachkräfte im naturwissenschaftlichen Bereich. Das wird besser; aber noch immer ist die Zahl derer, die in Rente
gehen, in diesem Bereich höher als die Zahl derer, die
zurzeit von den Hochschulen kommen. Es ist ein Verhältnis von fünf zu sieben; das Delta wird immer größer.
Deshalb muss an dieser Stelle nachgearbeitet werden.
Vielerorts fehlen uns hoch qualifizierte Mathematiker.
({50})
Natürlich brauchen wir auch in diesem Bereich Menschen, die aus aller Welt zu uns kommen.
Aber auch am unteren Ende der Qualifikationsskala,
bei den einfachen Arbeiten, haben wir ein Problem, dem
Sie ausweichen und immer ausgewichen sind, an das wir
uns aber heranwagen. Auch das ist nicht leicht. Da
kommt man nämlich zu der Frage der Zumutbarkeit.
Wir legen in unseren Gesetzen fest: Die Zumutbarkeit
wird gegeben sein und sie wird in Zukunft anders als
bisher realisiert.
Was Sie unterstellen, stimmt nicht: Es wird nicht so
sein, dass jemand, der arbeitslos ist, sich aussuchen
kann, welche Arbeit er annimmt. Zumutbarkeit, wie wir
sie in unserem Gesetz definieren, beinhaltet sehr wohl,
dass ihm eine Arbeit zugewiesen werden kann, etwa eine
Arbeit in einem anderen Beruf, die schlechter bezahlt ist
als eine Arbeit in seinem ursprünglichen Beruf. Aber er
wird nicht Dumpinglöhnen ausgesetzt sein, sondern den
Lohn bekommen, der örtlich tariflich vereinbart ist. So
haben wir die Zumutbarkeit definiert.
({51})
Wenn Sie über dieses Thema reden, habe ich den Eindruck, dass Sie gar nicht genau wissen, was eigentlich in
den Gesetzen steht. Sie sollten das einmal lesen, statt
sich in Vorurteilen zu verlieren.
({52})
Fortschritt ist eine schwierige Angelegenheit.
({53})
Das haben wir in der Geschichte unserer Partei und der
Geschichte dieses Landes gelernt. Wir wollen Fortschritt; das ist klar. Aber wir wissen, dass es schwierig
ist. Wir wissen, dass man auch bestimmte Bedingungen
zu erfüllen hat, um den Fortschritt möglich zu machen.
Eine entscheidende Bedingung für den Fortschritt ist ein
Haushalt für das Jahr 2004, der die Balance zwischen
Konsolidierung, Strukturreformen und Wachstumsimpulsen hält. Auch dazu sind schon manche Zahlen genannt worden; deshalb nur noch die folgende, um es
auch von dieser Seite einmal zu beleuchten: Die Nettokreditaufnahme im Jahre 2004 wird 15,1 Milliarden
Euro niedriger sein als in diesem Jahr. Auch so kann
man das sehen.
({54})
Die Investitionen werden im nächsten Jahr mit
24,6 Milliarden Euro fast so hoch sein wie in diesem
Jahr.
({55})
Der Subventionsabbau wird uns in den nächsten Tagen
und Wochen hoffentlich gelingen. Was Sie dazu erzählen, sollte inzwischen eigentlich Thema in allen Schulen
in Deutschland sein:
({56})
Erstens weniger Schulden machen als bisher, zweitens
Subventionen abbauen - aber bitte nicht konkret -, drittens gegen die Defizitkriterien in Brüssel nicht verstoßen - wie das gleichzeitig gehen soll, soll mir mal einer
zeigen.
({57})
Deshalb noch einmal die dringende Empfehlung, in
Sachen Subventionsabbau jetzt konkret zu werden. Wie
ist das denn mit der Eigenheimzulage und der Pendlerpauschale?
({58})
Glauben Sie, das sei für uns in der öffentlichen Debatte
und in den Versammlungen einfach? Das machen wir
doch nicht, weil wir unsere Wählerinnen und Wähler bedienen wollten! Sie und viele andere sagen uns: Runter
mit den Subventionen! Da frage ich Herrn Merz - er
schaut lieber zur Seite -,
({59})
wie der Subventionsabbau aus seiner Sicht erfolgen soll,
wie er das, was er sich zu propagieren vorgenommen hat
und jeden Tag in der Presse niederschreiben lässt, realisieren will, wie er mit den Subventionen in Deutschland
umgehen will.
({60})
Reden Sie doch einfach mal ganz ehrlich darüber! Beschreiben Sie nicht nur die Schokoladenseite, indem Sie
davon sprechen, dass nach Ihren Vorstellungen fast
keine Steuern mehr gezahlt werden müssen, sondern sagen Sie auch, was alles wegfällt. Wenn wir uns darüber,
was wegfallen soll, einig sind, sind wir schon ein ganzes
Stück weiter.
({61})
Nun zu den Wachstumsimpulsen für das nächste Jahr:
Durch das Vorziehen der Steuerreform sollen für 2004
und 2005 insgesamt 21,8 Milliarden Euro frei werden.
Der Grundfreibetrag, also der Betrag, bis zu dem man
gar keine Steuern zahlt, wird mit 7 664 Euro höher sein
als jemals zuvor in Deutschland.
({62})
Der Eingangssteuersatz wird mit 15 Prozent niedriger
sein als jemals zuvor. Auch der Spitzensteuersatz wird
mit 42 Prozent niedriger sein als jemals zuvor.
({63})
Eine Familie mit zwei Kindern wird 37 650 Euro verdienen können, bevor sie überhaupt Steuern zahlt. Das sind
im Monat 3 135 Euro - um es noch einmal in D-Mark zu
sagen: 6 000 und ein bisschen -, ehe überhaupt Steuern
gezahlt werden.
({64})
7,9 Millionen, das sind 27 Prozent der Steuerpflichtigen,
werden keine Steuern mehr zahlen.
({65})
- Keine Einkommensteuer, okay. - Alles das ist möglich, wenn Sie zustimmen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Nun noch zu den Kommunen,
({66})
aus denen uns viele ehrenwerte christdemokratische und
christsoziale Oberbürgermeister und Bürgermeister anschreiben und darum bitten: Nun helft doch, dass das zustande kommt! Das, was ihr vorgeschlagen habt, ist ganz
vernünftig. Macht das doch bitte!
({67})
- Weil die erstaunte Zwischenfrage kommt, frage ich:
Soll ich Ihnen Frau Roth vom Deutschen Städtetag zitieren? Oder wen soll ich Ihnen jetzt eigentlich nennen?
Die Vertreter der Kommunen sagen uns: Wir haben uns
das alles noch schöner vorgestellt, aber bitte macht doch
wenigstens das! Sorgt doch dafür, dass wir Städte und
Gemeinden ab Januar nächsten Jahres mehr Geld in unserer Kasse haben! - Die Kommunen hätten nämlich im
nächsten Jahr allein auf diesem Weg 2,5 Milliarden Euro
mehr in der Kasse. Das wissen die Kommunen. Sie brauchen das Geld dringend. Sie hätten übrigens schon viel
mehr, wenn Sie nicht beim Steuervergünstigungsabbaugesetz verhindert hätten, dass 6 Milliarden in die Kassen
der Städte und Gemeinden kommen.
({68})
Frau Merkel, schreiben Sie einmal einen ehrlichen
Brief - nicht einen, mit dem man sich schönredet und
schön macht ({69})
an Ihre Fraktionen im lokalen Bereich und teilen Sie denen mit, wie sich diese Steuerreform tatsächlich für die
Städte und Gemeinden auswirkt, wie die Gewerbesteuerreform und die Gemeindewirtschaftsteuerreform dazu
beitragen, dass die Kommunen mehr in der Kasse haben
werden. Sie werden weitere 1,9 Milliarden haben, wenn
wir bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe dafür sorgen, dass Städte und Gemeinde eine
entsprechende Entlastung bekommen. Es geht um
4,4 Milliarden im nächsten Jahr und 5 Milliarden im
Jahr 2005. Das ist schon eine ganze Menge. Das ist vor
allen Dingen Geld, mit dem Arbeit geschaffen werden
kann bei den Handwerkern, bei den kleinen und mittleren Unternehmen.
Für Fortschritt und ein gutes Jahr 2004 sind Impulse
bei Innovationen und bei Wachstum erforderlich. Wir
wissen, dass wir auf einem langen Weg sind, aber wir
haben schon eine ganze Menge in Bewegung gesetzt.
Eine Erhöhung bei den Investitionen von 7,3 Milliarden
1998 auf 9,1 Milliarden im Jahre 2003 ist ein Plus von
25 Prozent. Dafür erfahren wir wenig Dankbarkeit in der
öffentlichen Debatte, aber diese Investitionen in die Zukunft sind außerordentlich wichtig.
Inzwischen gibt es eine Reihe von positiven Reaktionen und Entwicklungen. In der Lasertechnologie haben
wir mittlerweile einen Weltmarktanteil von 40 Prozent;
mehr als 50 000 Arbeitsplätze wurden geschaffen. Für
das IT-Forschungsprogramm 2006 haben wir 3 Milliarden zur Verfügung gestellt. Unter dem Dach der Fraunhofer-Gesellschaft ist die größte einschlägige Forschungseinrichtung in Europa entstanden. Im Bereich
der Nanotechnologie ist Deutschland auf Platz zwei hinter den USA.
Das ist noch nicht die Lösung und wir müssen weitergehen. Aber auch an der Stelle gilt: Uns ist bewusst, dass
wir einen Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in
Bildung, in Qualifizierung, in Forschung und in Technologie investieren müssen. Ob das angenehm ist, ist eine
andere Frage. Ob wir dafür im Augenblick Pluspunkte
bei den Umfragen bekommen, ist ebenfalls eine andere
Frage. Wir machen Politik für die Zukunftsfähigkeit
unseres Landes. Wir müssen investieren in die Zukunft
dieses Landes und das tun wir.
({70})
Ich finde, dass unsere Partei mehr Mut zeigt als Sie,
Frau Merkel. Das wird sich schließlich herausstellen und
es wird anerkannt werden, wenn man diese Jahre beurteilen wird.
({71})
Sie machen schöne Überschriften, aber da, wo es konkret wird, laufen Sie vor den Realitäten weg. Sie weigern
sich, mit zu entscheiden, wenn es darum geht, zum Beispiel Subventionen zu streichen - das ist nicht populär oder wenn es darum geht, an anderer Stelle Geld zur Verfügung zu stellen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Wir haben den Anteil der Studienanfänger von
27,7 auf 35,1 Prozent erhöht.
({72})
Der Anteil der BAföG-Empfänger ist von 33,5 auf
47 Prozent gestiegen. In diesem Jahr werden für BAföG
61 Millionen Euro mehr ausgegeben. Das ist eine Erfolgsgeschichte des BAföGs.
({73})
Inzwischen bekommen 87 800 junge Menschen
Meister-BAföG. Das sind 56 Prozent mehr als im Jahr
2001. - Ich habe Verständnis dafür, dass Sie sich untereinander austauschen müssen. Deshalb wiederhole ich
diese Zahl; denn ich nehme an, dass Sie sich besonders
für die Frage interessieren, wie die Situation bei der Meisterausbildung im Handwerk ist: Seit wir regieren, haben
56 Prozent mehr junge Menschen das Meister-BAföG in
Anspruch genommen. Das ist die Politik von Rot-Grün.
({74})
Zum Fortschritt, den wir brauchen, gehört auch, dass
wir etwas für die Familien und für die Kinder tun. Wir
müssen dafür sorgen, dass sie bei dem, was in diesem
Lande geschieht, gut wegkommen.
({75})
Ich will in diesem Zusammenhang auf einen Nebenaspekt eingehen, der nicht zwingend in eine solche Debatte
gehört. Die Bundesregierung hat vorgestern bekannt gegeben, dass Sie etwas gegen die Versuchung von Kindern und jungen Menschen unternehmen will, auf leichte
Weise alkoholische Getränke im Übermaß zu genießen.
({76})
Das ist zwar möglicherweise ein Thema, das eher am
Rande steht. Trotzdem sollten wir es sehr ernst nehmen.
Es gehört nämlich auch zur Verantwortung der Politik,
der Eltern und der Großeltern, sich darüber Gedanken zu
machen, welche Gefahren unseren Kindern und jungen
Menschen drohen können. Deshalb sage ich in Richtung
Bundesregierung ausdrücklich: Danke schön. Wir werden dieses Vorhaben tatkräftig unterstützen. Wir wollen,
dass die Alcopops deutlich verteuert werden, damit die
Kinder davor geschützt werden.
({77})
Es geht nicht immer nur um große Gesetzesvorhaben,
sondern es kommt auch darauf an, dass man weiß, worum es geht, und dass man entsprechende Maßnahmen
ergreift.
({78})
Das Jahr 2004 wird ein Jahr Europas sein.
({79})
Darüber ist heute schon viel gesprochen worden. Denn
es wird das Jahr sein, in dem Europa größer wird und in
dem die Organisation seiner Mitgliedsländer neu justiert
wird. Die Entscheidung, die wir jetzt treffen, ist wichtig
und wird für lange Zeit tragen. Wir alle miteinander
müssen dafür werben, dass dieses Europa im Verständnis
der Menschen die Bedeutung bekommt, die ihm zusteht.
Seit 58,5 Jahren gibt es Frieden in Europa. Wir Älteren müssen den Jüngeren noch öfter sagen, dass dies
keine Selbstverständlichkeit ist. Seit Jahrhunderten hat
Europa zum ersten Mal wieder Frieden über einen so
langen Zeitraum. Das ist die Voraussetzung dafür, dass
wir ein Wohlstandsland sind und auf Dauer bleiben werden. Kein Land allein - nicht Deutschland und auch
nicht andere Länder - wird Wohlstand und soziale Gerechtigkeit innerhalb seiner Grenzen garantieren können,
wenn sich nicht dieses Europa zu einer Wohlstandsregion entwickelt, die das Miteinander organisiert.
Darum geht es auch in dem Streit, den es gestern in
Brüssel gegeben hat. Dabei hat Hans Eichel die Interessen unseres Landes mit Unterstützung der großen Mehrheit der anderen EU-Länder wahrgenommen.
({80})
Europa kann keine Veranstaltung sein, in der man der
Kommission oder anderen nach dem Mund redet. Es gehört zur Demokratie dazu, dass man seine Interessen einbringt und sie verdeutlicht. Man muss darum streiten
und dann vernünftige Kompromisse finden. Wir haben
diese Kompromisse gemacht. Wir haben die Empfehlungen der Kommission aufgenommen und sie in unserer
Agenda 2010 umgesetzt. Noch im Mai dieses Jahres hat
die Europäische Kommission festgestellt, dass wir unsere Sache gut machen. Nun gibt es in dieser Frage einen
Sinneswandel. Woher der kommt, mag man in Brüssel
beurteilen.
({81})
Wir stellen jedenfalls fest, dass dieses Europa eine
ganz wichtige politische Rolle für das nächste Jahr und
für die kommenden Jahre für die Bundesrepublik
Deutschland spielen wird. Was Rechte und Pflichten angeht, müssen wir unseren Teil dazu beitragen, dass es
eine Erfolgsstory wird. Es ist die größte historische Entwicklung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gewesen, dass dieses Europa zusammengefunden hat. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, dass
das auch in Zukunft so bleibt.
({82})
Ich will ein Allerletztes ansprechen. Wir haben eine
Kommission eingesetzt, die ein Konzept für eine Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung erarbeiten
wird.
({83})
Die Veränderung, um die es dabei geht, wird nicht so
schnell möglich sein, dass das noch für unsere jetzigen
Beratungen von Bedeutung wäre. Trotzdem fragt man
sich, ob wir alle miteinander eigentlich gut beraten sind,
wenn wir so tun, als ob die Regeln, nach denen wir in
Deutschland Demokratie organisieren, noch zeitgemäß
wären. Unser Grundgesetz ist zwar eine Erfolgsstory,
aber es hat inzwischen viele Verkrustungen gegeben.
Wir müssen dringend daran arbeiten, wie die Gesetzgebungskompetenz und die Zuständigkeit der Länder und
des Bundes besser, vernünftiger, offener und transparenter organisiert werden. Wir müssen darüber sprechen,
wie Bund und Länder miteinander in Europa und weltweit nationale Interessen wahrnehmen können.
Darüber wird es, wie ich hoffe, im nächsten Jahr eine
ganz spannende Debatte geben. Manche warnen und sagen, es sei nicht möglich, etwas zu bewegen. Ich sage:
Es muss möglich sein. Wir müssen im Jahre 2004 in
Deutschland hinbekommen, die Demokratie zeitgemäß
und neu zu organisieren, indem wir an all dem, was sich
bewährt hat, festhalten und auch dafür sorgen, dass sich
Bund und Länder nicht gegenseitig blockieren. Das ist
die Herausforderung, vor der wir stehen. Zur Erneuerung
und zum Zusammenhalt in diesem Lande gehört auch
diese Aufgabe.
Deshalb abschließend: Das Jahr 2004 wird anstrengend sein. Aber ich sage voraus: Es wird ein gutes Jahr
für unser Land, für Deutschland sein können. Dazu wollen wir unseren ehrlichen und guten Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({84})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für
die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Müntefering, der Fraktionsvorsitzende der
SPD, hat versucht, eine Zukunftsperspektive darzustellen. Dazu ist zu sagen: Sie sind seit fünf Jahren an der
Macht; Sie hätten längst damit beginnen können.
({0})
Wer die Gegenwart nicht in den Griff bekommt, kann
auch die Zukunft nicht gestalten.
Herr Kollege Müntefering, angesichts Ihrer Äußerungen über Kollegen in diesem Hause bin ich daran erinnert, wie sich Dieter Bohlen mit seinem langjährigen
früheren Partner Thomas Anders auseinander setzt. Das
ist in etwa das gleiche Niveau und gehört nicht in den
Bundestag.
({1})
Der Herr Bundeskanzler hat vorhin in seiner Rede
von den Wachstumsperspektiven gesprochen. Natürlich
brauchen wir Wachstumsperspektiven und Wachstumsimpulse. Aber dies ist eben nicht so einfach herzustellen,
wie er das glaubt. Es geht nicht nur um das Vorziehen
der dritten Stufe der Steuerreform, sondern auch um das
Vertrauen der Bürger in die Stabilität der Finanzpolitik
insgesamt.
({2})
Es geht darum, dass wir uns mit den Millionen von Arbeitslosen solidarisch erweisen und ihnen Chancen eröffnen, damit sie wieder in den Arbeitsmarkt zurückkehren können. Liberalität und Solidarität heißt für eine
moderne liberale Partei, Herr Müntefering, dass wir uns
um die Arbeitslosen kümmern und ihnen wieder Arbeitschancen eröffnen und uns nicht darauf konzentrieren,
den bürokratischen Umverteilungsstaat weiter zu stabilisieren, was nur den Funktionären nützt.
({3})
Weil es dabei auch um das Vermittlungsverfahren
geht, sagen wir Ihnen: Wir blockieren überhaupt nicht.
Wir wollen konstruktiv daran mitarbeiten, dass das Vorziehen der Steuerreform möglich gemacht wird. Aber
wir müssen das an zwei wesentliche Bedingungen knüpfen:
Erstens. Ein Vorziehen muss damit verbunden sein,
dass die Konsolidierungsanstrengungen der öffentlichen
Haushalte parallel dazu vorangebracht werden.
({4})
Das heißt, wir müssen die Subventionsausgaben entsprechend einschränken. Wir müssen die öffentlichen Haushalte gleichzeitig konsolidieren. Denn nur dann ist das
Vertrauen der enttäuschten Bürger zurückzugewinnen.
({5})
Zweitens. Wir wollen durch Liberalisierungen auf
dem Arbeitsmarkt wieder Arbeitschancen für Arbeitslose schaffen. Wir müssen die Einstellungshemmnisse
konsequent beiseite räumen. Dabei geht es nicht nur darum, die Mindestlohnregelung, die in Ihrer Fraktion zum
Schluss durchgesetzt worden ist, beiseite zu räumen.
Vielmehr geht es auch darum, das Kündigungsschutzrecht zu liberalisieren und insbesondere Bündnisse für
Arbeit im Betrieb zu ermöglichen. Das muss notwendigerweise gesetzlich geregelt werden.
({6})
Das Arbeitskartell von Arbeitgeberverbänden und
Gewerkschaften muss durchbrochen werden. Das hat
uns lange genug gelähmt und dafür gesorgt, dass wir so
viele Arbeitslose haben. Nur wenn beide Bedingungen
zusammen erfüllt werden, können wir dem Vorziehen
der Steuerreformstufe zustimmen. Darum geht es in
Wirklichkeit bei den Verhandlungen.
Schließlich noch eine Bemerkung zu der Pressereaktion heute und zu dem, was Sie gestern in Brüssel ausgeheckt haben. Wenn man sich die Presselandschaft von
links nach rechts anschaut, stellt man fest, dass alle sagen: Das ist eine einzige Katastrophe.
({7})
Das ist auch richtig so, denn die Bundesregierung hat
nicht die Interessen der Deutschen vertreten. Herr Eichel
hat sein persönliches Interesse vertreten, um noch ein
paar Wochen länger Finanzminister bleiben zu können.
({8})
- Er will sich das nicht anhören. Er erspart sich das.
Aber er hat die Interessen der Deutschen verraten.
Viele haben Bedenken gehabt, als es darum ging, den
Euro einzuführen.
({9})
Gerade auch diejenigen, die ökonomischen Sachverstand besitzen, haben gesagt: Wir stimmen unter der Voraussetzung zu, dass die Einführung mit dem Stabilitätspakt,
({10})
also mit einer stabilen europäischen Währungspolitik,
verbunden wird. Diese fühlen sich jetzt zu Recht betrogen, weil genau dieser Stabilitätspakt von Herrn Eichel
und vom Bundeskanzler, der dafür verantwortlich ist,
aufgekündigt worden ist. Ich kann nur sagen: Ich fühle
mich persönlich betrogen, denn auch ich habe damals
nur unter diesen Bedingungen zugestimmt. So geht es
vielen hier; übrigens nicht nur auf der rechten Seite des
Hauses, sondern auch bei Ihnen.
({11})
Ich erinnere mich an die Reden von damals sehr genau.
Auch von Ihrer Seite ist Wert auf den Stabilitätspakt gelegt worden. Es ist eher noch gesagt worden, die Bedingungen seien zu lasch und nicht strikt genug.
Es war wirklich ein fundamentaler Fehler, der in Bezug auf Europa auf Dauer Irritationen auslösen wird. Es
werden noch viele Regierungen daran zu arbeiten haben,
das wieder gutzumachen. Das allein müsste ein Grund
für Sie sein, darüber nachzudenken, ob Sie unter diesen
Voraussetzungen das Amt und die Regierung weiter tragen können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Hoyer gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Ich fände es angemessen, dass bei
dieser Debatte der Bundesminister der Finanzen anwesend ist, zumindest einer der Parlamentarischen Staatssekretäre. Was hier stattfindet, ist eine Missachtung des
Parlaments.
({0})
Das, Herr Kollege, war allerdings eine Anmerkung
und kein Antrag zur Geschäftsordnung. Ich vermute,
dass der Kollege Küster nun ebenfalls eine Anmerkung
machen möchte. - Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte ebenfalls eine Anmerkung
machen. Wir sitzen hier seit 9 Uhr und debattieren.
({0})
- Sie haben Recht. Sie haben zwischendurch kurze Pausen zur Befriedigung körperlicher Bedürfnisse gehabt.
Gestatten Sie es auch, dass sich einige unserer Minister
kurz die Zeit nehmen,
({1})
diese persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen? Ich garantiere Ihnen, dass sich die Regierungsbank sofort wieder in der gehörigen Zahl füllen wird.
({2})
Nach den beiden Wortmeldungen gehe ich davon aus,
dass wir in Kürze wieder mit der Anwesenheit des Finanzministers in dieser Debatte rechnen können. Ich
glaube, nun können wir die Debatte fortsetzen.
({0})
Herr Kollege Hoyer, können wir so verfahren?
Ich schlage vor, dass wir die Debatte so lange unterbrechen. Es sind genau zwei Bundesminister auf der Regierungsbank. Ich finde das völlig unangemessen.
({0})
Ich habe jetzt mehrere Vorschläge, aber bislang keinen förmlichen Antrag gehört.
({0})
Ich gehe davon aus, dass wir so verfahren können, wie
das Präsidium vorschlägt; in der gemeinsamen Erwartung, dass die Debatte in Anwesenheit des Finanzministers fortgesetzt werden kann.
Ich erteile nun der Kollegin Antje Hermenau für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({1})
- Herr Kollege Gerhardt, ich bin sehr zuversichtlich,
dass es so erfolgen wird, wie wir das gemeinsam erwarten.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht könnten Sie mir zuhören, solange der
Bundesfinanzminister nicht anwesend ist. Immerhin diskutieren wir über dieselbe Sache.
({0})
Ein Satz zur FDP, bevor ich mich den schwierigen
Problemen zuwende. Herr Solms, Sie haben, da in der
Zwischenzeit eine kurze Geschäftsordnungsdebatte stattgefunden hat, etwas Abstand zu Ihrer Rede gewinnen
können. Die FDP hat in den 70er-Jahren in der sozialliberalen Koalition mitregiert.
({1})
- Ich muss Sie doch sehr bitten! Herr Präsident, könnten
Sie den Tumult beenden?
({2})
- Ich finde es unglaublich, dass Sie nicht in der Lage
sind, ein paar Minuten klugen Ausführungen zuzuhören,
sondern stattdessen einen Tumult ausbrechen lassen.
({3})
Herr Solms, Sie sind erst 1980 in den Deutschen Bundestag gewählt worden, haben aber schon in den 70er-Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Frau Funcke
an der Meinungsbildung der FDP Anteil gehabt. Die „Financial Times“ und die Europäische Kommission haben
zwei Ursachen für das Desaster der öffentlichen Finanzen in Deutschland ausgemacht: Die eine Ursache ist die
Aufbauleistung in Ostdeutschland, die zweite Ursache
ist der Beginn des Aufbaus eines Sozialstaats durch die
sozialliberale Koalition der 70er-Jahre. Dieser Kurs
wurde in den 80er-Jahren von der konservativ-liberalen
Koalition fortgesetzt. Nun ist in der Geschichtsschreibung wenig über den konkreten Anteil des jungen FDPAbgeordneten Solms zu finden, der nach zwei Jahren im
Bundestag 1982 am Umschwung vielleicht beteiligt war,
als aus der vorher sozialliberalen FDP ein neoliberaler
Verein wurde.
({4})
Damals hätten Sie die Möglichkeit gehabt, diese Entwicklung zu verhindern, die zu einer wesentlichen Ursache für die Finanzprobleme der öffentlichen Hand in
Deutschland geworden ist. Das haben Sie 30 Jahre lang
unterlassen.
({5})
Hans Eichel hat am Montag den Gang nach Canossa
angetreten - er ist doch nicht freudvoll nach Brüssel gefahren - und hat einen Offenbarungseid geleistet. Diesen
Offenbarungseid hat er im Prinzip stellvertretend für die
gesamte deutsche Politik geleistet, indem er zugegeben
hat, dass wir es nicht geschafft haben - damit meine ich
alle Parteien, die seit Jahren mitentscheiden -, im wirtschaftlichen Bereich rechtzeitig Anschluss an die EU zu
finden.
Man kann sich ewig mit diesem Thema gegenseitig
unterhalten. Herr Glos kann sich auch weiterhin mit einer
nationalen Trauerminute an der Verhöhnung des Erbes
der Deutschen Mark ergötzen. Aber das zeigt, dass Sie
nicht gesamteuropäisch denken. Sie denken provinziell.
({6})
Der Euro ist inzwischen so stark geworden, dass es
richtig wehtut. Das hat Herr Rogowski, der Präsident des
Bundesverbands der Deutschen Industrie, der um die
Exportquote fürchtet, noch in der letzten Woche deutlich
gemacht. Das Stabilitätskriterium hat durchaus Wirkung
gezeigt; es hat nämlich zumindest zu dem Versuch einer
Selbstbeschneidung geführt, den sogar die Schlusslichter
Frankreich und Deutschland unternommen haben. Diese
beiden Länder haben als größte Volkswirtschaften aber
auch größere Probleme zu lösen. Außerdem gibt es in
den anderen Ländern keinen Bundesrat, so wie in
Deutschland. Durch die Verhandlungen mit dem Bundesrat müssen wir auch noch hindurch.
({7})
Es besteht ein geringes Risiko bei der Zinsentwicklung, das eventuell eintreten kann, wenn die Zinsen
durch die Entscheidung der EZB etwas ansteigen. Das
halte ich aber nicht für so dramatisch, weil eine solche
Anhebung immer parallel zur Konjunkturerholung geschieht. Das ist also kein spezielles Problem bei uns.
Wenn wir uns in Deutschland aus der Zinseszinsfalle herausarbeiten wollen, dann geht das nur, indem wir
schnell eine Konjunkturerholung in Deutschland herbeiführen, die uns wieder an den Durchschnitt der Konjunkturdaten in Europa heranführt. Jeder andere Weg wird
die Probleme bei uns nur verschärfen.
So hat auch Jean-Claude Juncker argumentiert, als er
die Entscheidung von Montag und Dienstag verteidigt
hat. Er hat gesagt, es gehe darum, Deutschland die Möglichkeit zu geben, den wirtschaftlichen Anschluss an den
Durchschnitt der EU schnellstmöglich wieder zu finden.
Deswegen war diese Entscheidung richtig.
Der Ecofin-Rat hat unseren Plänen eine Chance gegeben. Wir haben heute von Frau Merkel und anderen, die
seit gestern wieder stärker von Kooperation sprechen,
gehört, dass sie den Reformen - ich denke an die Strukturreformen und den Subventionsabbau - eine Chance
geben wollen. Damit sind wir bei den Themen, über die
im Vermittlungsverfahren noch zu diskutieren sein wird.
Es ist ganz normal, dass diese zum Teil übergreifenden
Entscheidungen nicht alleine im Bundeshaushalt getroffen werden können. Deswegen soll man den Bundeshaushalt auch nicht für eine Bibel erklären. Er ist nur
eines der Steuerinstrumente, das wir zur Verfügung haben. Für bestimmte Entscheidungen, die das Leben in
Deutschland über Jahre hinweg betreffen werden, muss
es eine breite Mehrheit geben. Diese Entscheidungen
müssen langfristig angelegt sein und müssen Vertrauen
schaffen. Sie müssen substanziell sein.
Damit bin ich bei den Vorschlägen, die in der Diskussion sind. Ich mache es einmal an der Steuerreform fest.
Wir haben kurzfristige Ziele zu erreichen. Das habe ich
gerade beschrieben, als ich sagte, es komme darauf an,
dass Deutschland in Kürze wieder Konjunkturdaten hat,
die uns in Europa den Anschluss wiederfinden lassen.
Daneben haben wir langfristige Entscheidungen zu treffen, durch die wir in Deutschland ein qualitatives
Wachstum erreichen müssen, das über Jahre trägt. Denen, die sagen, das Vorziehen der Steuerreform werde
nur kurzfristig etwas bewirken, gebe ich durchaus Recht.
Aber auch das ist nötig.
Heute ist die gemeinsame Position der Union deutlich
geworden, dass nur 25 Prozent der Mindereinnahmen,
die aus dem Vorziehen der Steuerreform resultieren, über
neue Schulden getragen werden sollen. Frau Merkel hat
hier nichts anderes zu tun, als uns zu sagen, die Koalition solle mal vorlegen. Wir haben ganz viele Vorschläge
für Einsparmöglichkeiten gemacht. Erste Ergebnisse aus
dem Vermittlungsausschuss liegen nun vor. Sie sind dort
mit der Handbremse gefahren und haben all diese Vorschläge abgelehnt.
Es ist eigentlich eher eine Tat der Verzweiflung, dass wir
Sie ermutigen, selbst zu sagen, wo Sie die restlichen 75 Prozent einsparen wollen. Denn es ist ja nicht mehr auszuhalten:
Wenn wir Ihnen Vorschläge zum Subventionsabbau machen, dann ziehen Sie nicht mit. Wenn wir Ihnen Vorschläge zu Strukturreformen machen, dann mosern Sie
herum.
({8})
Wenn Sie also der Meinung sind, Sie könnten stärker
einsparen - dieser Meinung sind Sie ja, sonst hätten Sie
nicht gesagt, man könne noch 6 Milliarden Euro mehr
einsparen, wie Herr Solbes das wollte -, dann machen
Sie konkrete Vorschläge. Denn wir sind langsam von
Verzweiflung geplagt:
({9})
Was geht Ihnen eigentlich im Kopf herum, dass Sie all
unsere Vorschläge immer nur ablehnen und meinen, das
sei bereits Politik? Ich wünsche mir sehr, dass wir langfristig vernünftige Entscheidungen mit einer großen und
breiten Mehrheit in Deutschland hinbekommen.
Im Vermittlungsverfahren wird es vielleicht eine Fußnote betreffend die weitere Entwicklung des Steuersystems in Deutschland geben müssen; denn das würde eine
gewisse Berechenbarkeit herstellen, sodass dafür gesorgt
würde, dass im nächsten Jahr Investitionen getätigt werden und nicht nur die Kaufkraft gestärkt wird. Ich halte
das für ein wesentliches Moment. Wenn man das will,
dann muss man sich über eine Fußnote verständigen, in
der steht, wie es im Jahre 2005 weitergehen soll.
Ich bin sehr für Steuervereinfachungen und weiß die
Mehrheit der Rot-Grünen hinter mir; das sehen viele bei
uns so. Wir haben ja auch entsprechende Vorschläge vorgelegt. Aber auch hier haben Sie wieder gekniffen. Wir
haben zum Beispiel vorgeschlagen, die Eigenheimzulage
zu streichen. Das wäre eine große Vereinfachung.
({10})
Natürlich würde es auch gut funktionieren, die Pendlerpauschale herunterzusetzen. Man darf nicht überall nur
ein bisschen wegnehmen, sondern man muss einige
Dinge auch mutig streichen. Herr Merz hat das mit seinem Diskussionsvorschlag ja vorgestellt. Ob er eine
Mehrheit findet, weiß niemand so richtig. Natürlich wird
das harte Entscheidungen erfordern.
Wir alle haben noch ein wenig im Ohr, wie Ulla
Schmidt und Horst Seehofer im Sommer am frühen
Morgen etwas erschöpft von einer so „schönen Nacht“
wie lange nicht mehr sprachen.
({11})
Das Ergebnis dieser einen Nacht reicht aber natürlich
nicht. Uns allen ist bewusst, dass zum Beispiel die Entscheidungen im Gesundheitswesen offensichtlich nicht
so lange tragen, wie es nötig wäre. Das heißt, wir werden
wieder über das Rentensystem, die Steuerreform und das
Gesundheitswesen reden.
Entweder machen Sie endlich mit oder es verstreicht
weiterhin wertvolle Zeit, in der Deutschland die Chance,
die der Ecofin uns allen eingeräumt hat, nicht nutzen
kann.
({12})
Ich erteile dem Kollegen Steffen Kampeter, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu Anfang meines Redebeitrages stelle ich fest,
dass in den vergangenen zehn Minuten vielleicht fünf
oder sechs Sozialdemokraten anwesend waren, während
wir hier über die Zukunftsfragen der deutschen Politik
entscheiden.
({0})
Ich muss sagen: Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir
der Öffentlichkeit das Bild vermitteln, dass uns das nicht
interessiert. Selbst die FDP als kleine Fraktion war stärker vertreten als die Sozialdemokraten, die offenkundig
kein Interesse mehr an den Zukunftsfragen dieses Landes haben.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege
Müntefering hat in seiner langen Rede einen ganz interessanten Satz in Bezug auf die Gesetzgebungsvorhaben gebracht - auch wenn er ihn wahrscheinlich mehr für die Öffentlichkeit und weniger für das Parlament gesagt hat -:
„Lassen Sie sich nicht durch die Details irritieren!“ Wenn
ich in der Situation des Fraktionsvorsitzenden der SPD
nach dem Bundesparteitag wäre - alles ist etwas in Unruhe, es gibt Auflösungserscheinungen und zentrale Personen der Regierung sind beschädigt -,
({2})
dann würde auch für mich diese Aufforderung wirklich
Sinn machen.
Mit dem präsentierten Haushalt werden die Verfassung und völkerrechtlich verbindliche europäische Verträge von Rot-Grün vorsätzlich gebrochen. Aber wir sollen uns durch die Details ja nicht irritieren lassen.
({3})
Es ist ein Verstoß gegen Haushaltsklarheit und -wahrheit. Auch hier stören offenkundig die Details. Der
Haushalt ist eine finanzpolitische Missgeburt, die auch
für das Jahr 2004 eine Explosion der Schulden erwarten
lässt. Der Haushalt ist eher ein Signal von sozialdemokratischer Misswirtschaft anstatt von leistungsfähiger
sozialer Marktwirtschaft, wie wir sie brauchten.
({4})
Der Kollege Müntefering war der Auffassung, alle
Probleme seien völlig unvorhersehbar auf diese Regierung zugekommen. Wir vertreten eine fundamental andere Auffassung: Die Lage ist hausgemacht. Sie war
ebenso vorhersehbar wie abwendbar. Der erste Punkt,
der hier anzuführen ist: Diese Regierung ist im Augenblick die Wachstumsbremse unserer Volkswirtschaft.
Hatte sie am Anfang ihrer Amtszeit noch respektable
Wachstumsraten von der Vorgängerregierung übernommen, gilt unsere Volkswirtschaft derzeit als Wachstumsbremse in Europa. Anders ausgedrückt: Die anderen
Länder wachsen im gleichen weltwirtschaftlichen Umfeld stärker als wir. Das ist eindeutig eine hausgemachte
Entwicklung.
Ein weiterer Punkt, der auf die hausgemachte Krise in
Deutschland hinweist, ist, dass in den vergangenen Jahren eine Reihe von Ausgabensteigerungen vorgenommen worden sind, die in der Sache begründet scheinen,
aber ohne eine solide Finanzierung zur Haushaltslast
werden. Ich nenne die Verbesserung beim Wohngeld,
beim BAföG, beim Erziehungsgeld, beim Kindergeld
und bei der Kinderbetreuung.
Diese Regierung hat kraft ihrer eigenen Mehrheit
- gegen unseren Widerstand - dafür Sorge getragen, dass
der Zuschuss zur Rentenversicherung seit Regierungsübernahme um 50 Prozent auf 77,3 Milliarden Euro angestiegen ist.
Man mag dies machen, aber wenn man für diese Vorhaben keine solide Gegenfinanzierung vorschlägt und
keine Basis über Steuereinnahmen oder Wirtschaftswachstum hat, darf man sich heute nicht beklagen, dass
man in finanziellen Nöten steckt. Die Finanzkrise, über
die wir heute diskutieren, dieser drohende Staatsbankrott
ist im Wesentlichen hausgemacht.
({5})
Ein weiterer Hinweis auf den hausgemachten Staatsbankrott ist im Zusammenhang mit der Reform der Unternehmensteuer zu geben. Diese Bundesregierung hat kraft eigener
Mehrheit und eigenen politischen Willens im Jahre 2000 die
Körperschaftsteuer nachhaltig ruiniert. Innerhalb von zwölf
Monaten sind die Körperschaftsteuereinnahmen in der
Bundesrepublik zusammengebrochen. Betrugen sie anfangs noch rund 23 Milliarden Euro, so waren im darauf
folgenden Jahr 400 Millionen Euro an die Unternehmen
zurückzuzahlen.
Wir haben vor den Auswirkungen dieser Unternehmensteuerreform gewarnt. Sie verschenken durch diese
Reform jedes Jahr Mittel in der Höhe des Verteidigungshaushaltes. Um es anders auszudrücken: Sie hätten drei
Jahre lang den Bildungs- und Forschungshaushalt allein
dadurch finanzieren können, wenn Sie bei der Körperschaftsteuerreform solide und entsprechend unseren Vorschlägen gearbeitet hätten. Sie können uns nicht vorwerfen, wir hätten keine Vorschläge gemacht. Wir haben Sie
eindeutig vor einem solchen Ausfall gewarnt. Diese
Haushaltskrise, dieser drohende Staatsbankrott ist eindeutig hausgemacht.
({6})
Apropos verschenken: Wir klagen seit einigen Jahren
den sich ausweitenden Umsatzsteuerbetrug an. Der
Rechnungshof hat vor wenigen Monaten nochmals festgestellt, dass durch Tatenlosigkeit der Verantwortlichen
im Finanzministerium dem deutschen Fiskus zweistellige Milliardenbeträge, also mehr als 10 Milliarden Euro,
Jahr für Jahr durch Umsatzsteuerbetrug verloren gehen.
Sie verschenken Milliardenbeträge und eine Änderung
ist nicht in Sicht. Dieser Staatsbankrott ist von dieser
Bundesregierung hausgemacht.
({7})
Ich will an dieser Stelle auch an die Einsichten sozialdemokratischer Finanzpolitiker aus der Vergangenheit
hinweisen. Helmut Schmidt hat, anders als Gerhard
Schröder und Hans Eichel, Anfang der 80er-Jahre die
Notwendigkeit umfassender Konsolidierung gesehen.
Unter Konsolidierung verstehe ich nicht Steuererhöhungen, sondern Ausgabeneinsparung. Wenn Herr
Müntefering seiner Frau vorschlägt - gestatten Sie mir
dieses Beispiel - „Nun konsolidieren wir mal unseren
Haushalt!“ und gleichzeitig zusätzliche Schulden macht,
dann wird Frau Müntefering zu Recht sagen: „Sparen,
mein lieber Franz, heißt, weniger auszugeben!“ An dieser Form der Konsolidierung mangelt es in diesem Land.
({8})
Nun kamen zwar die Konsolidierungsmaßnahmen der
Regierung Schmidt zu spät. Es hat nichts geholfen, der
Koalitionspartner ist damals geflüchtet. Meine Vorrednerin, die Kollegin Hermenau aus Sachsen, hat sich entschlossen, den Bundestag zu verlassen und in die sächsische Landespolitik zu gehen. Auch in dieser Koalition
gibt es also schon Absetzungsbewegungen derjenigen,
die glauben, etwas von Finanzen zu verstehen.
Helmut Schmidt hatte Ausgabensenkungen für ein
Jahr in einer Größenordnung - übertragen auf die heutige Situation - von etwa 13 Milliarden Euro beschlossen, für vier Jahre sind das Einsparungen von mehr als
45 Milliarden Euro. Diese Regierung ist nicht in der
Lage, 6 Milliarden Euro innerhalb eines Jahres einzusparen, sondern bricht vorsätzlich den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Wer konsolidieren und einsparen will, wer weniger
Ausgaben will, der kann das auch durchsetzen. Diese
Regierung möchte gar nicht konsolidieren, sie möchte
ausschließlich Steuern erheben und ihre ideologischen
Spielwiesen weiter finanzieren. Der Haushaltsbankrott
ist hausgemacht.
({9})
Es sind das politische Versagen und die finanzpolitische Ignoranz, die unser Land in diese Situation geführt
haben. Unser Land braucht daher dringend einen Politikwechsel. Vorerst aber muss festgestellt werden, dass sich
die Gestaltungsfähigkeit dieser Regierung in faulen
Kompromissen erschöpft, denen nur eines gemein ist:
Sie sind teuer für unsere Bürger und sie schaden unserem Land.
Eines muss deutlich sein: Es ist weder die Flut noch
der internationale Terrorismus, es ist nicht die Globalisierung und auch nicht die Opposition, es sind nicht der
heiße Sommer oder die bösen Medien, die diese Lage
herbeigeführt haben, es ist nahezu ausschließlich die rotgrüne Bundesregierung dafür verantwortlich. Deswegen
mahnen wir einen Politikwechsel für unser Land an.
({10})
Dieser Politikwechsel muss vor allen Dingen auf dem
Arbeitsmarkt stattfinden; dazu ist heute schon das
Richtige gesagt worden. Er muss in einen Umbau des
Sozialstaates mit mehr Eigenverantwortung münden; anders ist unser Sozialstaat nicht mehr zukunftssicher. Wir
müssen den wirtschaftlich Handelnden mehr Freiräume
gewähren, anstatt sie mit Strafsteuern, wenn sie nicht
ausbilden, zu verärgern. Nur so werden die Unternehmen ihrer Verantwortung im Hinblick auf die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen nachkommen.
Wenn der Kollege Müntefering hier sagt, er habe dafür gesorgt, dass die Ausgaben für das Meister-BAföG
gestiegen sind, und dabei verschweigt, dass durch die
Abschaffung der Handwerksordnung gleichzeitig die
Ausbildungsgrundlage vieler Handwerksbetriebe zerschlagen wurde, dann zeigt das, wie wenig die Sozialdemokraten von den Zusammenhängen wirtschaftlichen
Handelns in diesem Land verstehen.
({11})
Wir müssen die umfassende Vertrauenskrise in unserem Land bekämpfen. Klartext statt unerfüllbarer Versprechungen - das muss die Handlungsmaxime nicht nur
in der Finanz- und Haushaltspolitik, sondern auch in der
Gesellschaftspolitik sein. Aus diesem Grunde hätten wir
die Aussetzung der Haushaltsberatungen bis zum Abschluss der Beratungen des Vermittlungsausschusses für
richtig gehalten. Jetzt müssen die Länder dafür Sorge
tragen, dass das Finanzchaos nicht eintritt und Deutschland vor den falschen Beschlüssen, die Rot-Grün kraft
ihrer eigenen Mehrheit durch das deutsche Parlament
tricksen will, geschützt wird.
({12})
Wir unterstützen alle Maßnahmen der Regierung, die
geeignet sind, die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Stabilität unserer Währung wiederherzustellen. Dazu bedarf
es vor allen Dingen der Aufnahme der Preisstabilität als
wesentliches Ziel in die EU-Verfassung. Wir fordern die
Bundesregierung auf, statt den Verfassungsbruch und die
Nichteinhaltung der Kriterien von Maastricht fortzusetzen, relativ rasch auf die EU-Kommmission zuzugehen
und zu einvernehmlichen Lösungen in der europäischen
Finanzpolitik zu kommen.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Allein
mit der Bekämpfung des kriminellen Umsatzsteuerbetrugs wäre der Stabilitätspakt wieder ins Lot zu bringen.
Man muss es nur wollen. Diese Regierung will nicht, sie
will das Land in den Dreck fahren, weil ihr Kompass
und Orientierung fehlen, die entsprechenden Dinge anzugehen.
({13})
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
({0})
Dieser Haushalt ist zum Schaden für Deutschland.
Wir werden als Opposition alles Erdenkliche tun, um
Schaden von unserem Land abzuwenden. Daher lehnen
wir diesen Haushalt ab.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Merkel für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der
Schwarzmalerei von Herrn Kampeter kommt jetzt etwas
Erfreulicheres, nämlich der Bereich Kultur. Sie, Herr
Kampeter, haben hier angekündigt, dass Sie mitmachen
wollen. Sie haben die Gelegenheit gehabt - dazu komme
ich später -, aber Sie haben gekniffen. Bei den Ausschussberatungen hätten Sie mitarbeiten können.
Ich finde, dass sich der Haushalt für den Kulturbereich, der beim Bundeskanzleramt angesiedelt ist, auch
im Jahr 2004 sehen lassen kann. Der Haushalt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien,
Frau Dr. Weiss, ist im Vergleich zum letzten Etat erneut
gestiegen, und zwar auf insgesamt über 900 Millionen
Euro. Einige Schwerpunkte dieses Haushalts, die die rotgrüne Koalition setzt, möchte ich besonders hervorhe^
ben, weil sie belegen, dass Kultur für uns Priorität hat.
Das heißt jedoch nicht, dass alles so bleibt, wie es ist.
Auch hier sind Reformen und Innovationen gefragt.
Erstens. Die Mittel für die Bundeskulturstiftung sind
um 12,8 Millionen Euro auf insgesamt 40,79 Millionen
Euro aufgestockt worden.
({0})
Das ist die letzte Stufe der jährlichen Erhöhung. Wir haben damit die größte Kulturstiftung in Europa.
Zweitens. Der Titel „Investitionen für nationale Kultureinrichtungen in Ostdeutschland“ wurde der Koalitionsvereinbarung entsprechend mit 6,1 Millionen Euro
ausgestattet.
({1})
Hier schaffen wir eine neue Struktur und können weit
mehr leisten als die reinen Erste-Hilfe-Maßnahmen, die
mit dem Programm „Dach und Fach“ möglich waren. So
wird dieses Programm kompensiert. Die Erfahrungen
von „Dach und Fach“ werden aufgegriffen und ergänzt.
Drittens. Das Programm „Kultur in den neuen Ländern“ läuft aus. Das bedauere ich. Sichergestellt ist jedoch, dass bereits begonnene Projekte fortgeführt werden können. So kann der Übergang gesichert werden, bis
der Solidarpakt II im Jahr 2005 auch für den Kulturbereich greift. Außerdem steht mit der bereits erwähnten
Bundeskulturstiftung ein neues kulturpolitisches Instrument für Projekte aus allen Bundesländern bereit.
Viertens. Wie immer werden auch kleine Projekte gefördert. So gibt es zum Beispiel 500 000 Euro mehr bei
der Projektförderung „Leuchttürme Ost“, sodass die
Kulturstiftung Dessau-Wörlitz jetzt in der Lage ist, die
historisch wertvollen Gebäude und Parkanlagen nach
historischem Vorbild wieder herzustellen und zu erhalten
und den Auftrag des Weltkulturerbes einzulösen.
Als ein Beispiel des Strukturwandels, den wir unterstützen und fördern, möchte ich Berlin herausgreifen. Im
Rahmen des neuen Hauptstadtkulturvertrages fördert
der Bund nun die gesamte Akademie der Künste; bisher
förderte er nur das Archiv. Der Gesamtanteil der Beauftragten für Kultur und Medien beträgt nun 18,2 Millionen Euro.
Auch bei der Stiftung Deutsche Kinemathek und dem
Hamburger Bahnhof übernimmt der Bund künftig den
Zuschussanteil Berlins. Insgesamt stellt der Bund dafür
23,9 Millionen Euro zur Verfügung. Vertraglich soll und
wird geregelt werden, dass diese Entlastung des Berliner
Haushalts dazu dient, die drei Berliner Opern zu erhalten. Die Errichtung einer Stiftung Berliner Opernhäuser
mit dem einmaligen Bundeszuschuss von bis zu 3 Millionen Euro bietet eine große Chance. Denn nur durch diese
neue Struktur ist der Erhalt der drei Berliner Opernhäuser möglich. Nicht nur als Berliner Bundestagsabgeordnete, sondern auch als Haushaltspolitikerin für den Kulturbereich danke ich Frau Dr. Weiss für ihr Engagement,
eine neue Struktur in Berlin zu unterstützen.
({2})
Mit dem großen Einsatz, den sie geleistet hat, hat sie vieles vorangebracht und die Berliner Kulturpolitik unterstützt. Ich hoffe sehr, dass die Erfahrung beispielhaft für
die deutsche Theaterlandschaft genutzt werden kann.
Denn das ist ein Impuls, der gesetzt werden soll, um beispielhaft eine Strukturänderung in anderen Bundesländern zu initiieren.
Ich spreche von Kultur und möchte jetzt den Kulturbegriff etwas weiter fassen und ihn um die Streitkultur
und die Kultur des Umgangs miteinander ergänzen.
Die Politik, die wir machen, beschränkt sich nicht auf
das, was sich in diesem Raum abspielt. Die Streitkultur
und die Kultur des Umgangs zwischen Regierungsfraktionen und Opposition spiegeln sich - das sage ich insbesondere für die Zuschauer an den Fernsehschirmen und
die Besucher hier im Saal - in den Berichterstattergesprächen, in der Ausschussarbeit und nicht zuletzt in den
Plenarsitzungen wider. Ich bin der Überzeugung, dass
wir mit unserer Diskussionskultur dafür sorgen müssen,
unsere politische Arbeit verständlich, manchmal emotional und manchmal sehr leidenschaftlich darzustellen bei allen politischen Unterschieden. Im Grunde genommen haben wir alle es in der Hand, wie wir für den Parlamentarismus werben.
Die Berichterstattergespräche, in denen unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit den Ministerien, dem
Rechnungshof und anderen die Etatberatungen vorbereitet werden, sind in gewohnt sachlicher Atmosphäre verlaufen. Das haben übrigens alle Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss bestätigt. Was dann in den
Sitzungen des Haushaltsausschusses stattfand, habe ich
allerdings während meiner gesamten politischen Arbeit
noch nicht erlebt.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU, Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, wieso
Sie eigentlich dabei waren.
({4})
Sie haben 283 Seiten Papier verbraucht, um 283 Anträge
auf Beratung einzelner Titel vorzulegen. In jedem Antrag wurde großspurig Erörterungsbedarf festgestellt.
Dieser Stapel Papier ist an alle Mitglieder des Haushaltsausschusses verteilt worden. Wie sich später herausstellen sollte, war das nur eine Verschwendung von Papier
und der Arbeitszeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
({5})
- Schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Kampeter! Es ist
unglaublich, was Sie uns vorgelegt haben. Wir haben gedacht „Jetzt geht es los, jetzt wollen Sie beraten“, aber
danach kam nichts mehr.
({6})
Frau Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kampeter?
Nein, ich komme gleich zum Schluss.
Sie haben Ihre Rolle als Opposition nicht genutzt,
Herr Kampeter. Sie haben in diesem Jahr die Beratungen
über die einzelnen Etats im Haushaltsausschuss schlicht
verweigert.
Im Grunde genommen haben wir alle es in der Hand,
wie wir für den Parlamentarismus werben. Sie von der
CDU/CSU haben Ihre Chance vertan.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Steffen Kampeter das Wort
zu einer Kurzintervention.
Die Kollegin Merkel hat den falschen Eindruck erweckt, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
nicht an den Haushaltsberatungen beteiligt hat.
({0})
Dies muss richtig gestellt werden.
Wir haben in den Beratungen des Haushaltsausschusses selbstverständlich alle Titel intensiv geprüft,
({1})
aber feststellen müssen: Es ist zu erwarten, dass keiner
der wesentlichen Einnahmetitel über die nächsten
Wochen hinaus Bestand haben wird. Denn am 19. Dezember werden hier im Deutschen Bundestag wahrscheinlich Änderungen am Etat in einem Umfang von
20 bis 30 Milliarden Euro vorgenommen werden müssen.
Wir haben deshalb die politische Entscheidung getroffen, diesen Etat nicht als Beschlussgrundlage zu akzeptieren. Das ist etwas völlig anderes als die Form der
Arbeitsverweigerung, die die Kollegin Merkel dargestellt hat. Es ist vielmehr die politische Entscheidung,
deutlich zu machen, dass der Etat, den Sie von der rotgrünen Koalition zu verantworten haben, eine Halbwertszeit von wenigen Wochen haben wird, bevor er
durch Beschlüsse, die Sie ebenfalls zu verantworten haben, in einer Größenordnung von mehr als 10 Prozent
verändert werden muss.
Insofern sind alle Bekenntnisse, die Sie heute zu einzelnen Haushaltstiteln ablegen, Makulatur. Sie stehen
unter dem Vorbehalt der im Vermittlungsausschuss erzielten Ergebnisse. Das wollten wir mit unserem Verhalten deutlich machen.
({2})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Merkel.
Herr Kampeter, Sie haben einen Zickzackkurs gefahren. Sie wussten nicht, was Sie wollen. Wenn Sie sagen,
Sie seien als Parlamentarier nicht dazu in der Lage, diesen Haushalt zu beraten, weil Sie nicht wüssten, welche
Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt werden,
dann nehmen Sie Ihre Aufgabe schlicht nicht wahr.
({0})
Wenn Sie eigentlich Erörterungsbedarf sehen, dann aber
zu der politischen Entscheidung kommen, doch nichts zu
erörtern, sondern lieber alles dem Bundesrat zu übertragen, dann nehmen Sie Ihre Aufgabe als Parlamentarier
nicht wahr.
({1})
Das werfe ich Ihnen vor. Sie werden dafür bezahlt und
dazu sitzen wir hier stundenlang zusammen. Aber Sie
sind dieser Aufgabe nicht nachgekommen. Das ist Ihre
Entscheidung gewesen. Ich halte sie für schlecht; sie ist
im Hinblick auf den Parlamentarismus ein absolut
schlechter Stil.
({2})
Nun hat die Abgeordnete Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
gestern erleben wir hier eine mächtige Debatte über den
EU-Stabilitätspakt, die ihresgleichen sucht. Insbesondere die CDU/CSU übertrifft sich mit Kassandrarufen
und beschwört geradezu das Ende des Abendlandes.
Vielleicht glauben die Redner der CDU/CSU ja wirklich,
was sie hier fundamentalistisch vor sich herbeten. Es
klingt gefährlich, aber klug ist das alles nicht.
({0})
Der Stabilitätspakt war schon umstritten, als Sie ihn zu
Waigels Zeiten einführen halfen. Er ist seither nicht besser geworden. Deshalb ist es allerhöchste Zeit, über neue
Regeln nachzudenken,
({1})
anstatt an alten Fehlern festzukleben.
Wesentlich ist in der heutigen Debatte aber etwas anderes: Rot-Grün und Schwarz-Gelb, die Regierung und
die Opposition zur Rechten, führen die EU als Kronzeugen für ihre eigenen Sozialabbaupläne ins Feld und versuchen, ihre politische Verantwortung an die EU abzuschieben: SPD und Grüne entschuldigend, schließlich
habe man ja schon gestrichen, was zu streichen sei, die
CDU/CSU eher drängend, schließlich könne man noch
viel mehr als bislang streichen. Diesen Hang zur verantwortungslosen Tat aber lässt Ihnen die PDS im Bundestag nicht durchgehen.
({2})
Sie beklagen, die Verschuldung sei zu groß, weil die
Ausgaben zu hoch seien. Wir fragen aber: Warum reden
Sie nicht auch über die Einnahmen? Warum verzichten
Sie auch in diesem Bundeshaushalt auf zig Milliarden?
Warum machen Sie andererseits Milliardengeschenke an
Unternehmen, die selbst keine Steuern zahlen, sondern
diese abzocken? Das ist Ihre Politik und die können Sie
keinem EU-Pakt anlasten, genauso wenig wie die Folgen: Denn heraus kommt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden. Diesen
Kurs lehnen wir ab; wir wollen dessen Umkehr.
({3})
Deshalb fordert die PDS eine Vermögensteuer. Deshalb wollen wir eine Wertschöpfungsabgabe. Deshalb
fordern wir eine Ausbildungsumlage. Deshalb wollen
wir parasitäres Kapital besteuern.
({4})
Wir fordern eine Rentenversicherung von allen für alle.
Wir wollen Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität
erneuern. Das heißt, die PDS fordert wirkliche Reformen. Das ist der Unterschied. Deshalb haben wir eine
„Agenda sozial“ als Alternative vorgeschlagen.
Nun diskutieren wir über den Haushalt 2004 sowie
darüber, was ihn trägt. Es gibt eine simple Lebensweisheit, die besagt: Was auf drei stabilen Beinen steht, das
steht gut. Sie kennen das von Tischen und Stühlen. Also
haben wir uns gefragt, welches die drei Säulen sind, auf
denen Rot-Grün und dieser Haushaltsplan fußen.
Die erste Säule heißt Agenda 2010. Sie zieht sich
quer durch den Haushalt: Ob Arbeitsmarkt, Gesundheitspolitik oder neue Bundesländer, überall geht es um
die Agenda 2010. Nur, sie hat einen Kardinalfehler: Sie
stabilisiert nicht. Im Gegenteil, die Agenda 2010 gibt das
Solidarprinzip preis, sie gefährdet den Sozialstaat und
damit auch einen Gründungsgrundsatz der Bundesrepublik. Millionen spüren es jetzt schon, allemal Arbeitslose, Kranke und Alte. Die Folgen betreffen aber auch
alle, die arbeitslos, krank und alt werden könnten. Deshalb lautet unser erster Befund: Die erste Säule trägt
nicht, sie ist morsch.
Die zweite Säule heißt Außenpolitik. Seitdem RotGrün regiert, haben wir hier im Bundestag insgesamt
29-mal über Militäreinsätze der Bundeswehr geredet;
25-mal wurde sie ins Ausland in Marsch gesetzt. Dem
stehen sieben grundsätzliche Debatten über weltweite
Entwicklungspolitik oder zivile Konfliktlösungen gegenüber. Dieses Missverhältnis durchzieht auch den
Haushaltsplan 2004. Deshalb sind Sie gestern zu Recht
von den UN-Organisationen kritisiert worden. Auch die
zweite Säule weist also eine gefährliche Schieflage auf.
Nun zur dritten Säule, zu der Akzeptanz: Umfragen
belegen, dass zwei Drittel aller Deutschen die Agenda
2010 und drei Viertel die zunehmende Militarisierung
der Außenpolitik ablehnen. Ich komme aus einem Land,
in dem die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die damals vorherrschende Politik nicht mehr verstehen, tragen und stützen wollte. Diesen Staat gibt es heute nicht
mehr. Damit möchte ich nur sagen: Auch die dritte
Stütze trägt nicht. Rot-Grün fußt also auf drei maroden
Säulen. Fatal ist allerdings, dass die Angebote der CDU/
CSU noch fauler sind. Sie werden auch nicht besser,
wenn Sie ständig mit einer Blockade im Bundesrat drohen.
({5})
Einmal im Jahr widmet sich der Bundestag explizit der
Lage in den neuen Bundesländern. Das ist doppelt bemerkenswert: zum einen weil die neuen Bundesländer - zu
Recht - noch immer eine Sonderdebatte wert sind und
zum anderen weil sie - zu Unrecht - ansonsten fast immer ausgeblendet werden. Leider trifft das auch auf die
heutige Debatte und den Haushalt zu, über den heute beraten und abgestimmt wird. Er ist ungeeignet, um die
Lage im Osten zu verbessern. Die Zahlen sprechen dagegen, ebenso wie die Politik, die dahinter steckt. Die
Hartz-Konzepte greifen nicht. Im Gegenteil: Sie werden den Mittelstand schwächen sowie die Arbeitslosigkeit und die Armut im Osten vergrößern. Die Ost-WestAngleichung stagniert seit fünf Jahren. Das belegen alle
Analysen. Zugleich werden aber die Fördermittel für die
neuen Bundesländer gekappt und die Arbeitsämter kastriert. Die Kultur wird weiter verarmen.
({6})
Kurzum: Die Hoffnung schwindet und die Jugend flieht
aus dem Osten. Die neuen Bundesländer werden als
Stiefkind des Schicksals behandelt. Das ist ein weiterer
Grund, warum die PDS im Bundestag den Haushalt ablehnt.
({7})
Jüngst gab es ein Treffen der Arbeits- und der Sozialminister der Länder. Dabei ging es auch um die Frage,
wie die neuen Bundesländer vor extremen Negativwirkungen der Bundespolitik zu schützen seien. Heraus
kam: Die unionsregierten Länder, auch Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, lehnten alles ab, was helfen
könnte. So ist das, wenn Parteidisziplin mehr zählt als
politische Vernunft und Weitsicht.
({8})
Fazit zum Osten: Bundeskanzler Kohl wollte die
neuen Bundesländer gewinnen. Er hat gelogen und das
war schlimm. Aber Bundeskanzler Schröder gibt die
neuen Bundesländer verloren. Er schreibt sie ab und das
ist noch viel schlimmer.
({9})
- Herr Kollege, ich nehme den Vorwurf der Lüge nicht
zurück. Wer hat denn die blühenden Landschaften versprochen und wo finden Sie welche?
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad
Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Müntefering ist leider schon weg, nachdem
er die Regierungsbank leer geredet hat.
({0})
Ich sage trotzdem an seine Adresse: Hören Sie endlich auf,
einen solchen Unsinn über die Gemeindefinanzreform zu
erzählen! Wenn ich mir die Auswirkungen aller Ihrer diesbezüglichen Gesetzentwürfe anschaue, dann stelle ich fest,
dass die Gemeinden nicht mehr, sondern 2,2 Milliarden
Euro weniger erhalten werden. Das ist ein tödlicher Fehler.
Wenn man unserem Sofortprogramm, das wir im Bundesrat verabschiedet haben, gefolgt wäre, dann wäre die
Gewerbesteuerumlage auf ihr früheres Niveau zurückgeführt worden, wodurch die Gemeinden bereits 2003 um
2,1 Milliarden Euro entlastet worden wären. Außerdem
wäre im nächsten Jahr der Anteil der Gemeinden am
Umsatzsteueraufkommen erhöht worden. Das wäre
wirksam gewesen.
({1})
Herr Kollege Poß, Sie haben immer wieder behauptet,
wir hätten uns nicht an den Haushaltsberatungen beteiligt. Das ist doch Unsinn. Sie haben aus den Haushaltsberatungen 2003 nichts gelernt. Als Ihnen der Kollege
Austermann bei der Verabschiedung des Haushalts im
März dieses Jahres vorgerechnet hat, welche Risiken in
ihm stecken, haben Sie ihn abqualifiziert. Gestern mussten Sie den Offenbarungseid leisten und einen Nachtragshaushalt verabschieden, der exakt die von uns prognostizierten Werte enthält. Genauso machen Sie es jetzt
wieder. Der Haushalt enthält Risiken in Höhe von über
20 Milliarden Euro und ist eigentlich nicht beratungsfähig. Beratungsfähigkeit setzt eine ordnungsgemäße
Grundlage voraus. Für eine solche Grundlage ist niemand anders als die Regierung verantwortlich. Murks
bleibt Murks; da helfen auch keine Anträge.
({2})
Was die Entwicklung am Arbeitsmarkt angeht, gibt es
eine aussagekräftige Zahl: die geleisteten Arbeitsstunden. Als Sie 1998 an die Regierung kamen, gab es dank
unserer Politik einen Aufschwung. Ich erinnere daran,
dass der Kanzler einmal in Anlehnung an jemand anders
behauptete, dieser Aufschwung sei auf seine Kanzlerkandidatur zurückzuführen. Mit Ihrer Politik haben Sie
diesen Aufschwung abgewürgt; nur deswegen ist die
Lage in Deutschland so schlecht.
Sie haben die kühne Behauptung aufgestellt, dieser
Haushalt sei die Lösung aller Probleme. Ein Beispiel dafür, dass das falsch ist, sind die Platzhaltergeschäfte: Sie
verkaufen der KfW Aktien; damit sie sie bezahlen kann,
geben Sie ihr ein Darlehen. Im Privatleben spricht man
in so einem Fall von Wechselreiterei. Mit solider Haushaltspolitik hat das überhaupt nichts zu tun.
({3})
Um 11 Millionen Euro zusätzliche Verkaufserlöse zu erzielen, wollen Sie die Vermögensverwaltung des Finanzministeriums in eine öffentlich-rechtliche Anstalt umwandeln. Die für die Umstellung erforderlichen
Investitionen betragen 10 Millionen Euro. Was ist das
für eine Geschäftspraxis? Weil Sie dem Ergebnis Ihrer
Bemühungen selbst nicht trauen, räumen Sie im Bundeshaushalt gleichzeitig die Möglichkeit ein, der neuen
Anstalt ein Betriebsmitteldarlehen in Höhe von 200 Millionen Euro zu gewähren. Die Rechtsform der Bundesanstalt für Arbeit versuchen Sie gerade zu ändern.
Was soll dieser ganze Unsinn? Reicht Ihnen das Desaster mit der Steuerverschwendungsmaschine GEBB
nicht? Ich kann Ihnen sagen, worum es eigentlich geht:
Statt eines verantwortlichen Abteilungsleiters soll es drei
Vorstandsmitglieder geben. Das bedeutet drei gut bezahlte Posten für Genossen. So haben Sie es immer gehandhabt.
({4})
Sie wollen die letzte Stufe der Steuerreform vorziehen. Um das zu tun, haben Sie zwei Gelegenheiten verpasst: Wenn Sie bei der Finanzierung des Wiederaufbaus
nach den Flutschäden unseren Vorschlägen gefolgt wären, wäre das In-Kraft-Treten dieser Stufe der Steuerreform nicht verschoben worden. Wenn es der Bundesrat
1998 nicht verhindert hätte - die damaligen Ministerpräsidenten Eichel und Schröder befinden sich heute in verantwortlichen Positionen der Bundesregierung -, dann
wären der Eingangssteuersatz und der Spitzensteuersatz
heute schon längst niedriger.
({5})
Was ist das für ein Umgang mit Steuermitteln?
Der Bundesfinanzminister müsste mit seinem Etat
Vorbild für die anderen Ministerien sein. Was macht
man? Die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit seines
Ministeriums werden - angeblich zur Bekämpfung der
Schwarzarbeit - verdoppelt. Das ist gar nicht notwendig,
weil sich jeder des Problems der Schwarzarbeit bewusst
ist. Es geht um nichts anderes als um Regierungspropaganda.
Wir haben den größten Beitrag zum Wachstum und zur
Bekämpfung der Schwarzarbeit geleistet. Der „Schwarzarbeitsforscher“ Schneider hat gesagt, die Neuregelung der
Minijobs hat Schwarzarbeit in einem Umfang von 10 Milliarden Euro verhindert. Bei einer Staatsquote von
50 Prozent bedeutet das, dass 5 Milliarden Euro in die
öffentlichen Kassen gespült wurden. Sie haben die alte
Regelung gegen unseren Rat abgeschafft, wir haben eine
Neuregelung durchgedrückt. Also haben wir für den ArJochen-Konrad Fromme
beitsmarkt am Ende mehr getan, als Ihnen jemals eingefallen ist. Das ist doch die Wahrheit.
({6})
Sie wollen für diesen Bereich 2 000 Stellen zusätzlich.
Kümmern Sie sich erst einmal um die vorhandenen
Möglichkeiten! Wenn Sie das tun, dann brauchen wir
keine weiteren Staatsbediensteten.
Sie reden immer über das Subventionsabbaugesetz.
Ich kann Ihnen nur sagen: Für uns von der Opposition
war es eine Pflicht, dieses Gesetz abzulehnen; denn die
Sachverständigen haben uns gesagt: Die Verabschiedung
dieses Gesetzes hätte 0,5 Prozent weniger Wachstum bedeutet, also weniger Beschäftigung, weniger Steuereinnahmen, geringere Einnahmen der Sozialkassen und
mehr Soziallasten. Sie werden uns eines Tages noch dafür dankbar sein, dass wir dies verhindert haben; denn
das war für den Arbeitsmarkt wirksam. Alle Ihre Vorschläge sind Luftschlösser.
Jetzt wollen Sie möglicherweise den „Chefkreateur“
Ihrer Vorstellungen, Herrn Hartz, zum Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit machen. Herausgekommen ist bei der Umsetzung der Vorschläge der
Hartz-Kommission bis jetzt überhaupt nichts.
({7})
- Das ist richtig: Für so wenig Geld wird der gar nicht
tätig. Aber vielleicht verdoppelt man sein Gehalt - so hat
man es bei Herrn Gerster gemacht -, dann wird er dort
tätig und es kommt ein bisschen mehr heraus.
Ich verstehe überhaupt nicht, dass sich Herr
Müntefering gegen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wehrt. Eben hat er erklärt, es sei gängige Praxis,
dass sich Betriebsinhaber, Betriebsräte und Belegschaft
über Abweichungen vom Tarifvertrag einigen. Wenn
das so ist, dann begreife ich nicht, warum man keine entsprechenden rechtlichen Regelungen schaffen soll. Im
Augenblick handelt es sich bei solchen Einigungen um
einen Rechtsverstoß nach dem anderen. Angesichts dessen verstehe ich überhaupt nicht, warum Sie zu solchen
Maßnahmen nicht fähig sind.
Was müssen wir anders machen? Eines ist doch klar
geworden: Wenn es zu mehr Wachstum kommt, weil es
weniger arbeitsfreie Feiertage gibt oder weil mehr Feiertage auf einen Sonntag fallen, dann könnte es doch auch
gut sein, pro Woche eine Stunde mehr zu arbeiten. Das
ist kein Verlust an Lebensqualität.
({8})
Das macht aber zusammen eine Woche Arbeit aus und
das bringt noch mal so viel wie die Feiertage. Das sind
ganz konkrete Vorschläge, die nicht einmal etwas kosten. Die Belegschaften sind eher bereit, eine Stunde
mehr zu arbeiten, glaube ich, als in der Zukunft mehr
Sozialabgaben zu zahlen.
({9})
Das sind die Dinge, die wir brauchen.
Der Kollege Schöler hat uns gesagt: Machen Sie nur
so weiter! - Darauf kann ich nur erwidern: Natürlich
werden wir so weitermachen. Wir werden unsere Pflichten im Bundesrat und auch hier im Parlament erfüllen
und werden das tun, was für die Bevölkerung richtig ist.
({10})
- Wie im Haushaltsausschuss. Es war aber nicht so, dass
kein Erörterungsbedarf bestand, sondern es ging darum,
eine richtige Beratungsgrundlage zu haben.
({11})
Sie sind mit einem verunfallten Schrottauto als Vorlage
angekommen und haben von der Opposition erwartet,
dass sie daraus ein fabrikneues Fahrzeug fertigt. So geht
es nicht! Sie sind in der Pflicht, eine Vorlage einzubringen, die tragfähig ist. Der Bundestag kann diese dann
unter politischen Gesichtspunkten verändern. Aber der
Bundestag ist keine Reparaturanstalt für den Murks und
den Schrott, den Sie vorgelegt haben.
({12})
- Ich verstehe Ihre Unruhe. Sie hören die Wahrheit nun
mal nicht so gern.
({13})
Was ich Ihnen jetzt sage, hören Sie vielleicht lieber:
Wir liegen absolut richtig. Das erfahren wir jede Woche
aus den Umfragen. Warum haben denn die Menschen
das Vertrauen zu Ihnen verloren und Vertrauen zu uns
gewonnen? Was ist der Unterschied zwischen Herrn
Westerwelle und Herrn Schröder? Ich sage Ihnen: Der
Schröder schafft die 18.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Gerhard
Rübenkönig, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fromme,
Herr Müntefering ist wieder hier; aber Sie haben Ihre
Ausführungen ja an das Haus gerichtet.
Zur Gemeindefinanzreform sei zu Beginn Folgendes noch einmal klargestellt: Wenn Sie ihr im Bundesrat
zustimmen, werden alle Städte und Gemeinden in
Deutschland damit einverstanden sein, insbesondere Ihre
Parteikollegin Roth aus Frankfurt.
({0})
- Herr Kampeter, Sie haben sich schon gestern durch
zahlreiche Zwischenrufe ausgezeichnet.
({1})
Ich will Sie damit heute nicht aufwerten. Das hat nämlich zu der positiven Entscheidung, die wir in diesem
Hause dringend brauchen, nicht beigetragen.
Die deutsche Wirtschaft nimmt wieder Fahrt auf. Das
sage ich ganz bewusst am Anfang meiner Ausführungen,
weil Sie in Ihren Redebeiträgen gestern und heute genau
das Gegenteil dargestellt und versucht haben, alles
schlecht zu reden.
({2})
Nach drei bitteren Jahren mit sehr geringen Wachstumsraten haben wir die Talsohle durchschritten. Diese Einschätzung wird vom Sachverständigenrat zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Wirtschaftsforschungsinstituten geteilt. Die wichtigen Indikatoren Ifo-Geschäftsklima-Index, GfK-Konsumklima
und auch die Auftragseingänge in der Industrie untermauern diesen Trend.
({3})
Das kommende Jahr könnte ein Wachstum zwischen
1,5 und 2 Prozent bringen.
({4})
Das hängt jedoch wesentlich davon ab, ob die Reformvorhaben, die wir auf den Weg gebracht haben, im Vermittlungsausschuss im Kern unverwässert beschlossen
werden.
Eines steht fest: Mit der Agenda 2010 tragen die
Bundesregierung und die sie tragende Koalition maßgeblich dazu bei, den wirtschaftlichen Aufschwung zu
befördern.
({5})
Die Agenda 2010 bedeutet: Reformstau beenden, Strukturreformen anpacken.
({6})
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben mit der Agenda 2010 Strukturreformen in Angriff
genommen, um den Reformstau in Deutschland endgültig aufzulösen. Die Reformen werden in vielen Bereichen der Gesellschaft nachhaltig zu Veränderungen führen. Wir haben es auch gestern gehört: Nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Europa finden sie große
Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Am wichtigsten ist dabei der Arbeitsmarkt. Im
nächsten Jahr werden wir den flexibelsten Arbeitsmarkt
seit über 20 Jahren in Deutschland haben. Die Wirtschaftsexperten sagen uns, dass wir mit unseren Reformen die Schwelle, bei der Wachstum mehr Beschäftigung auslöst, von annähernd 2 Prozent auf rund
1,5 Prozent senken. Mit anderen Worten
({7})
- da sollten Sie einmal zuhören, Herr Kampeter - bedeutet das, dass wir in Zukunft etwas weniger Wachstum
brauchen,
({8})
um die Arbeitslosigkeit komplett abbauen zu können.
Das ist der richtige Weg für mehr Teilhabe am Arbeitsleben.
Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, ganz
ohne Wachstum - das wissen wir alle - geht es nicht.
({9})
Deshalb zielen wir mit unseren Maßnahmen auf Konsolidierung und Wachstum.
({10})
- Hören Sie gut zu: Wir zielen mit unseren Maßnahmen
auf Konsolidierung und Wachstum.
({11})
Wir werden den Konsolidierungskurs durch konsequenten Subventionsabbau verstärken. Allein die im Entwurf des Bundeshaushalts 2004 vorgesehenen Maßnahmen - das hätten Sie im Haushaltsausschuss alles
mitbekommen, wenn Sie mitberaten hätten ({12})
werden den Bund bis zum Jahre 2010 um über
50 Milliarden Euro entlasten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist eine gute
Basis, um den sich abzeichnenden Aufschwung durch
Steuersenkungen entscheidend zu stärken. Deshalb haben wir beschlossen, die ohnehin für 2005 im Gesetzblatt stehende dritte Stufe der Steuerreform auf 2004
vorzuziehen. Der Eingangsteuersatz sinkt auf ein historisch niedriges Niveau von 15 Prozent. Das ist eine Zahl,
die Sie bitte auch einmal zur Kenntnis nehmen sollten.
({13})
Die zu zahlende Einkommensteuer reduziert sich
durchschnittlich um 10 Prozent. Dies führt zur stärksten
Entlastung des Mittelstandes in der bundesdeutschen
Geschichte. Meine Damen und Herren, dem sollten Sie,
wo Sie doch immer davon reden, dass wir den Mittelstand entsprechend entlasten müssten, doch zustimmen
können; denn wir nehmen eine starke Entlastung vor.
({14})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn
ich Ihre vielen Reden zu diesem Thema Revue passieren
lasse, kann ich es kaum glauben, dass Sie gegen Steuersenkungen für den Mittelstand sind.
({15})
Wir sind jedenfalls dafür.
({16})
- So ist es, Herr Poß.
Wir geben das richtige Signal. Es ist auch richtig, wie
wir es machen; denn es macht keinen Sinn, einerseits
den Bürgerinnen und Bürgern durch die Steuersenkung
finanzielle Spielräume zu eröffnen und andererseits
durch weitere und noch schmerzhaftere Kürzungen die
positiven Effekte auf das Konsumverhalten zu konterkarieren. Linke Tasche, rechte Tasche - das kann nicht
funktionieren.
({17})
Richtig ist jetzt eine Finanzierung der Steuersenkungen durch eine höhere Nettokreditaufnahme, verbunden mit der klaren Absicht, die Konsolidierung mit dem
neuen Wirtschaftsaufschwung zum Erfolg zu bringen,
damit die Maastricht-Kriterien - das sage ich an dieser
Stelle ganz deutlich - 2005 eingehalten werden können.
({18})
Im Übrigen bin ich im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, zutiefst davon
überzeugt, dass der Weg, den die EU-Finanzminister mit
ihren gestrigen Beschlüssen eingeschlagen haben, richtig ist und unsere Sparanstrengungen unterstützt. Somit
wird der zu erwartende Aufschwung nicht durch die von
Ihnen geforderten Strafzahlungen abgewürgt werden.
Ich empfehle Ihnen: Hören Sie endlich mit der ewigen
Schwarzmalerei auf! Der Euro hat sich als stabile und
krisenfeste Währung erwiesen. Das wird auch Ihr ewiges
Genörgel und Schlechtreden nicht ändern.
({19})
An den für die Bürgerinnen und Bürger schmerzhaften Reformen, die mit der Agenda 2010 auf den Weg gebracht werden, wird deutlich, dass wir im Einklang mit
den Forderungen der Europäischen Kommission die Arbeits- und Gütermärkte, die sozialen Sicherungssysteme,
die Steuer- und Abgabensysteme mittelfristig wesentlich
verändern. Dadurch sorgen wir für mehr Wachstum, für
stabilere Staatsfinanzen und für mehr Beschäftigung in
Deutschland. Dies ist die Linie, die die Bundesregierung
- im Übrigen auch gegenüber der Europäischen Kommission - vertreten hat.
Meine Damen und Herren, durch die Umsetzung der
Agenda 2010 kann das Jahr 2003 in die Geschichte eingehen, und zwar als das Jahr, in dem es Politik und Gesellschaft gelungen ist, sich ein Stück weit vom Besitzstands- und Anspruchsdenken zu lösen und sich auf
wirklich Wichtiges zu konzentrieren. Ich glaube, wir
können in einigen Jahren im Rückblick feststellen, dass
die Agenda 2010 Schluss gemacht hat mit dem jahrelangen Verdrängen und Aussitzen, das Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit praktiziert haben und das uns in Deutschland in Stagnation und Selbstlähmung geführt hat.
({20})
Wenn ich mir so manche Äußerungen von Unionspolitikern ansehe, zum Beispiel die des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber in seiner Regierungserklärung am
6. November dieses Jahres, in der er ausführt - gleich
werden Sie Beifall klatschen -, die Bundesrepublik
Deutschland befinde sich in der tiefsten Krise seit ihrem
Bestehen, Deutschland sei Wachstumsschlusslicht, es
steige ab, dann frage ich mich, ob Sie überhaupt in der
Lage sind, zu erkennen, welche ausgezeichneten Chancen dieses Land hat. Ich bin davon überzeugt, dass sich
Deutschland mit Macht aus der Krise befreien und sich
wieder positiv im internationalen Wettbewerb positionieren wird.
Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen,
hören Sie endlich auf, die Leistung, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Lande vollbringen, schlechtzureden! Wir können stolz sein auf das, was
wir in diesem Jahr vollbringen. Deutschland bewegt
sich; das ist feststellbar. Die Bundesregierung und die sie
tragende Koalition unternehmen die richtigen Schritte
hierzu. Wir sind in der Lage, die Probleme anzupacken
und Lösungen aufzuzeigen, und die wirtschaftliche Entwicklung gibt uns Recht. Damit stellen wir uns auch unserer europäischen Verantwortung als wirtschaftlicher
Motor der Eurozone. Wir werden weiter für langfristige
Strukturreformen und für kurzfristig spürbare Impulse
durch Steuerentlastungen kämpfen, weil dieses Land
mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze braucht.
({21})
Nun ist es an Ihnen, meine Damen und Herren von
der Opposition, in Ihrer Verantwortung in den Ländern
den Kurs für Strukturreformen, Subventionsabbau und
Steuersenkungen und damit mehr Wirtschaftswachstum
und Steuerung des Sozialstaates in seiner Grundidee mitzutragen. Die Menschen in unserem Land werden es
nicht hinnehmen, wenn Sie das Interesse Ihrer Partei vor
das Interesse des Landes stellen. Machen Sie Schluss mit
Ihrer Blockadepolitik und sorgen Sie im Vermittlungsausschuss dafür, dass unsere Bürgerinnen und Bürger ab
dem 1. Januar 2004 mehr Geld in der Tasche haben!
Ich danke Ihnen.
({22})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Bernhard Kaster, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den aktuellen Ereignissen in Brüssel muss
hier eines deutlich festgestellt werden: Die Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Finanzminister haben in
den letzten Jahren Bund, Länder und Kommunen in die
größte Haushaltskrise geführt. Das hat in diesen Tagen
jetzt auch eine europäische Dimension erreicht.
({0})
Den Stabilitätspakt unserer gemeinsamen Währung,
für den gerade wir in Deutschland in den 90er-Jahren so
gekämpft haben, de facto aussetzen zu müssen - ein größeres Armutszeugnis für die eigene Finanzpolitik kann
sich ein deutscher Finanzminister gar nicht ausstellen.
Wie Theo Waigel gestern zu Recht festgestellt hat, ist
das, was sich hier abgespielt hat, eine Schande für
Deutschland.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist deshalb kein Wunder, dass neben der gescheiterten Politik auch die vollkommen überzogene Öffentlichkeitsarbeit immer mehr
in die Kritik der Medien gerät. Gute Arbeit verkauft sich
von selbst; Ihre schlechte Arbeit müssen Sie mit teuren
Werbemillionen als gut verkaufen.
Ich habe hier eine Broschüre, aus der ich jetzt zitiere:
Diese Broschüre informiert Sie, welche Reformen
vorgesehen sind.
Die Betonung liegt auf „vorgesehen sind“. So das Vorwort unseres Bundeskanzlers in dieser kleinen Broschüre.
Ähnlich könnte es - sinngemäß - im Vorwort des
Haushaltes 2004 lauten: Dieser Haushalt informiert Sie
über das, was wir uns wünschen. - Das ist alles schon
schlimm genug; aber mit der Realität hat dieser Haushalt
nichts zu tun.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, professionelle
Werbung soll in der Öffentlichkeit das alles wieder ausbügeln. Schlechte Arbeit gut verkaufen - das macht auf
der Bundesebene langsam Schule, wie wir in den letzten
Tagen eben auch aus Nürnberg umfangreich erfahren haben.
({2})
1,3 Millionen Euro für Medienberatung und nahezu eine
Verdoppelung der Ausgaben für die Öffentlichkeitsarbeit, um die Bundesanstalt für Arbeit und Florian
Gerster ins rechte Licht zu rücken - darüber empört man
sich in Deutschland zu Recht.
({3})
Florian Gerster, vom Bundeskanzler persönlich in
dieses Amt gebracht, hat hier sehr schnell von seinem
Förderer gelernt. Inhalte ersetzen wir durch PR-Arbeit
- Herr Gerster, schnell gelernt vom Bundeskanzler. Informationspflichten ersetzen wir durch Imagewerbung gut gelernt von der Bundesregierung. Werbeagenturen
übernehmen komplett die Arbeit - das Vorbild Bundespresseamt lässt grüßen.
({4})
Werbeaufträge ohne Ausschreibung, das Stichwort ist
gefallen - für Haushaltsausschuss und Rechnungsprüfungsausschuss ist das keine neue Idee von Herrn
Gerster; man kennt das bereits von der Bundesregierung.
Leistungen kürzen und senken, den Öffentlichkeitsetat
massiv erhöhen - der rot-grüne Bundeshaushalt ist für
Florian Gerster hier das Lehrbuch.
({5})
Meine Damen und Herren, die Verpackung kommt
vor dem Inhalt. Das ist die besondere Form der Richtlinienkompetenz unseres Bundeskanzlers.
Wir haben ja in diesem Jahr schon sehr viel erlebt.
Eine Kampagne jagt die andere:
({6})
„Erfolg braucht alle“, „Teamarbeit für Deutschland“,
„Deutschland bewegt sich“, „Zeit für mehr“ - man kann
es unendlich fortsetzen,
({7})
alles frei nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert,
handle frei und ungeniert.
({8})
So ist im schlimmsten Schuldenhaushalt nicht Sparen
angesagt, nein, jetzt will man es in Sachen Öffentlichkeitsarbeit so richtig wissen. Öffentlichkeitsmittel des
Bundespresseamtes: ein Plus von 10,4 Prozent.
({9})
Mittel für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesfinanzministeriums: ein Plus von 120,5 Prozent.
({10})
Mittel für Öffentlichkeitsarbeit aller Bundesministerien
einschließlich Bundespresseamt: ein Plus von 21 Prozent. Mittel für Öffentlichkeitsarbeit im Gesamtetat:
zwischenzeitlich über 97 Millionen Euro.
Aber damit nicht genug. Zusätzlich erfolgt eine Veranschlagung so genannter Fachinformationen in einer
Größenordnung von fast 70 Millionen Euro,
({11})
allein im Etat für das Haus Trittin 6,8 Millionen Euro.
({12})
Aber auch damit nicht genug. In mehreren Zuschussprogrammen - für Fachleute: das ist die Hauptgruppe 6 sind weitere PR-Millionen enthalten. Beispiel: Bundesprogramm Ökolandbau.
({13})
Hierhinter verbirgt sich beispielsweise „Kater Krümels
Bauernhof“. Es werden 1,7 Millionen Euro für ein Kindergesellschaftsspiel ausgegeben. Jegliches Fingerspitzengefühl geht hier verloren.
({14})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch im Hause
von Herrn Minister Stolpe finden sich zweimal
2 Millionen Euro Werbemittel in den Zuschussprogrammen Niedrighausenergie und Wohnraummodernisierung.
In Zeiten von Rekordschulden, Bruch des Eurostabilitätspaktes, Leistungskürzungen und Subventionsabbau
sind diese dreisten Werbemillionen einfach ein Skandal.
({15})
Für die Koordinierungsstelle der Öffentlichkeitsarbeit
der Bundesregierung, das Presse- und Informationsamt,
empfinden wir zwischenzeitlich Mitleid, weil man dort
vor Hilflosigkeit und Panik bereits den dritten Rahmenvertrag für PR-Arbeit mit Werbeagenturen ausgeschrieben hat.
({16})
Alle Rahmenverträge werden gleichzeitig in Kraft treten.
Die Verpackung kommt vor dem Inhalt. Sie haben
dieses Prinzip inzwischen sogar in den Zeitabläufen verankert. Ich will ein paar Beispiele nennen.
Erstes Beispiel. Am 11. Juli 2003 gab es den Kampagnenauftakt für die Gesundheitsreform. Am 21. August,
also mehr als einen Monat später, haben sich die Verhandlungspartner der Konsensrunde auf die Eckpunkte
der Gesundheitsreform verständigt. Die Kampagne startete aber, wie gesagt, bereits am 11. Juli.
Zweites Beispiel. Am 22. August, also wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl, gab es den Start
der Kampagne für die Agenda 2010 „Deutschland bewegt sich“.
({17})
Zu diesem Zeitpunkt lagen uns die entsprechenden Gesetzentwürfe noch nicht vor. Erst am 9. und 11. September erfolgte die erste Lesung der zentralen Punkte der so
genannten Agenda 2010.
Für das Kanzleramt rollt derzeit das 16 Tonnen
schwere Adlerauge,
({18})
ein rollendes Fernsehstudio, durch unser Land. An
18 Stationen werden Bürger in Fernsehinterviews nach
ihren Visionen für 2010 gefragt. Die ersten beiden Filmclips können Sie sich bereits im Internet anschauen. Das
ist sehr zu empfehlen. Siehe da, im ersten Filmbeitrag erscheint unter anderem der „Bürger Hans Eichel“. Ich zitiere ihn: „Meine Vision für 2010: Wir haben einen
Haushaltsüberschuss, wir haben begonnen, unsere
Schulden zurückzuzahlen.“
({19})
Was sagen uns diese Bilder? Damit sind zwei Botschaften verbunden. Erstens. Hans Eichel spricht als
Normalbürger zu uns, nicht als Minister. Das ist ein beruhigendes Bild.
({20})
Zweitens. Wir haben 2010 einen Haushaltsüberschuss.
Folglich gilt: Die rot-grüne Bundesregierung ist seit Jahren nicht mehr im Amt.
({21})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Abschluss sagen: Diese Form der Agenda 2010
würde uns sehr gefallen.
Vielen Dank.
({22})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04
in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den
Änderungsantrag auf Drucksache 15/2070? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von Gesine Lötzsch und
Petra Pau bei Zustimmung aller Fraktionen abgelehnt.
Wir stimmen nun über den Einzelplan 04 in der Ausschussfassung ab. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Dann warten wir noch
darauf. - Ich glaube, jetzt hat jedes Mitglied seine
Stimme abgegeben.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 - Bundeskanzler und Bundeskanzleramt - in der Ausschussfassung auf
Drucksachen 15/1904 und 15/1921 bekannt. Abgegebene Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 298, mit Nein
haben gestimmt 282.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 580;
davon
ja: 298
nein: 282
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({8})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({9})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gisela Hilbrecht
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Frank Hofmann ({12})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({13})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({14})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({15})
Christian Müller ({16})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({17})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({18})
Michael Roth ({19})
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({20})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({21})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({22})
Ulla Schmidt ({23})
Dagmar Schmidt ({24})
Wilhelm Schmidt ({25})
Heinz Schmitt ({26})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Brigitte Schulte ({27})
Reinhard Schultz
({28})
Swen Schulz ({29})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({30})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({31})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Matthias Weisheit
Prof. Gert Weisskirchen
({32})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({33})
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({34})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
({35})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({36})
Volker Beck ({37})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({38})
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Renate Künast
Undine Kurth ({39})
Markus Kurth
Dr. Reinhard Loske
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({40})
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({41})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({42})
Werner Schulz ({43})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({44})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({45})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Prof. Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Prof. Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({46})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({47})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({48})
({49})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Anke Eymer ({50})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({51})
Dirk Fischer ({52})
Axel E. Fischer ({53})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({54})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Prof. Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Siegfried Kauder ({55})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({56})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({57})
Dr. Karl A. Lamers
({58})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({59})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({60})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Stephan Mayer ({61})
Conny Mayer ({62})
Dr. Martin Mayer
({63})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({64})
Doris Meyer ({65})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({66})
Bernward Müller ({67})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({68})
Michaela Noll
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({69})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Prof. Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({70})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({71})
Hartmut Schauerte
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({72})
Andreas Schmidt ({73})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Lena Strothmann
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({74})
Gerald Weiß ({75})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({76})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Daniel Bahr ({77})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Horst Friedrich ({78})
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({79})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann
({80})
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({81})
Eberhard Otto ({82})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Prof. Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslose Abgeordnete
Martin Hohmann
Petra Pau
Der Einzelplan 04 ist damit in der Ausschussfassung
angenommen.
({83})
Ich rufe Tagesordnungspunkt I. 9 auf:
Einzelplan 05
Auswärtiges Amt
- Drucksachen 15/1905, 15/1921 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Hermenau
Herbert Frankenhauser
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.
({84})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! In dem Haushalt, soweit er mit den Realitäten
überhaupt etwas zu tun hat - das ist bei diesem Haushalt
ein wenig zweifelhaft -, drückt sich ein Stück weit die
Prioritätensetzung eines Landes aus. In einer Zeit, in der
wir mit vielfältigen Bedrohungen und Risiken konfrontiert sind, besteht, so denke ich, auf allen Seiten des Hauses Einigkeit darüber, dass die Bereiche Außenpolitik,
Verteidigungspolitik und Politik für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einem Gesamtzusammenhang zu sehen
sind und angesichts der Interessen unseres Landes Priorität beim staatlichen Handeln genießen müssen.
Vor diesem Hintergrund habe ich ausrechnen lassen,
welchen Anteil die drei Haushalte für Auswärtiges, Verteidigung und wirtschaftliche Zusammenarbeit zusammengenommen am Gesamthaushalt haben: 1989 betrug
der Anteil am Gesamthaushalt noch über 21 Prozent, im
Haushaltsentwurf für 2004 sind es dagegen nur noch
11,67 Prozent. In diesem Verhältnis drückt sich meines
Erachtens aus, dass die äußeren Interessen und die Verantwortung unseres Landes für Äußeres vernachlässigt
werden. Ich glaube, dass es langfristig ein schwerer Fehler ist, wenn wir die äußeren Interessen unseres Landes
zu gering bewerten.
Es drückt sich in diesem Haushalt aber noch ein zweiter Sachverhalt aus, der nach meiner Überzeugung mit
dem eben genannten zusammenhängt: Außenpolitik hat
im Verständnis dieser Bundesregierung im Wesentlichen
nur noch die Funktion von innenpolitischen, parteipolitischen und wahltaktischen Manövern und nichts anderem.
({0})
Dazu passt, dass bei der außenpolitischen Führung
unseres Landes kaum noch eine kontinuierliche, gestaltende Linie einer professionellen Außenpolitik des Außenministeriums zu erkennen ist.
({1})
Das konnte man im vergangenen Jahr bei der Debatte
über den deutschen Weg gut sehen: Ein Außenminister
hätte einen Kanzler daran hindern müssen, mit solch törichten und schädlichen Begriffen zu arbeiten. Unbeschadet aller Auseinandersetzungen im Einzelnen hat
der Außenminister ein dramatisches Zerwürfnis in der
atlantischen Gemeinschaft und im deutsch-amerikanischen Verhältnis in Kauf genommen. In dieser Zeit
schien es, als sei er fast abgetaucht.
({2})
Es tut mir Leid: Das war in der schwierigen Situation
der Fall, als sich unsere östlichen Nachbarn, die ab dem
nächsten Jahr Mitgliedsländer in der Europäischen
Union sein werden, durch die deutsch-französische Politik bevormundet und weggestoßen gefühlt haben. Man
hätte sich eigentlich gewünscht, dass der Außenminister
dafür sorgt, dass das deutsch-polnische Verhältnis, das
etwas so Kostbares geworden ist, nicht derart mit Füßen
getreten wird.
({3})
Weil von den Grünen gerade ein Zwischenruf kam,
will ich sagen: Ich bin schon ein paar Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses und ich habe frühere außenpolitische
Debatten gut in Erinnerung. Als Sie in der Opposition
waren, haben Menschenrechte bei Ihnen gelegentlich
noch eine gewisse Beachtung gefunden.
({4})
Ich habe die blamable Art gesehen, mit der die Bundesregierung in der vergangenen Woche in der Aktuellen
Stunde auf unsere Hinweise, dass Russland unserer
freundschaftlichen, aber fürsorglichen Aufmerksamkeit
bedarf, weggetaucht ist. Dazu muss ich sagen: Auch hier
fehlt mir jegliche außenpolitische Verantwortung der
Bundesregierung.
({5})
Man muss sich in diesen Tagen anschauen, in welcher
Weise das deutsch-französische Verhältnis, das etwas
ganz Wichtiges und Wertvolles ist, inzwischen aus der
Balance geraten ist. Das hat schon heute Vormittag zu
Recht eine große Rolle gespielt. Man muss im deutschfranzösischen Verhältnis darauf achten, dass ein Beitrag
dazu geleistet wird, Europa stärker zu einigen. Das war
immer die Verpflichtung einer engen deutsch-französischen Freundschaft und Zusammenarbeit. Genau dagegen ist in den letzten Monaten fundamental verstoßen
worden. Das wird am Ende das deutsch-französische
Verhältnis selbst beschädigen.
({6})
Der Bundeskanzler hat heute Morgen in seiner Rede
gesagt, das deutsch-französische Verhältnis müsse so
eng wie möglich sein, es dürfe aber niemals exklusiv
sein. Beim Brüsseler Pralinengipfel war es aber exklusiv: Ich denke an die Art, wie unsere Nachbarn, insbesondere Polen, behandelt worden sind und wie der Stabilitätspakt durch die Bundesregierung und durch
Frankreich in diesen Tagen zuschanden geritten worden
ist. Hier war die Zusammenarbeit zwischen Frankreich
und Deutschland kein Beitrag für Europa; denn dadurch
wird die europäische Einigung zerstört. Das darf nicht
die Funktion der deutsch-französischen Zusammenarbeit
sein.
({7})
Man muss darauf achten, dass niemand die Sorge haben muss, dass die privilegierte Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland gegen andere gerichtet ist. Genau diese Sorge war aber bei der Präsentation
der Vorschläge zur gemeinsamen Agrarpolitik und auch
bei der Präsentation der Vorschläge des Bundeskanzlers
und des französischen Präsidenten für den Europäischen
Konvent durchaus real vorhanden und berechtigt. Es
wurde immer mit der Attitüde verbunden: Hier habt ihr
es und jetzt habt ihr es anzunehmen.
({8})
Sie brauchen sich jetzt nicht zu wundern, dass Sie in
der Endphase der Regierungskonferenz den sich verhärtenden Widerstand insbesondere der kleineren Mitgliedsländer gegen die Ergebnisse des Konvents spüren.
Das ist genau durch die nicht balanciert vorgehende
deutsch-französische Zusammenarbeit verursacht worden. Im Interesse Deutschlands, Frankreichs und Europas muss dies korrigiert werden. Die deutsch-französische Zusammenarbeit muss Europa voranbringen, sie
darf Europa nicht spalten. Das ist der Unterschied, auf
den es entscheidend ankommt.
({9})
Etwas anderes will ich in diesem Zusammenhang
auch sagen: In einer Welt, in der die Risiken wenig teilbar geworden und die Bedrohungen umfassend und
schwer kalkulierbar sind,
({10})
ist es entscheidend, dass wir in funktionierende europäische Strukturen und in die atlantische Partnerschaft fest
eingebunden sind, dass wir überall in der Welt verlässliche Partner haben und dass wir selbst auch verlässliche
Partner sind. Deswegen muss die europäische Einigung
gelingen.
Ich fürchte, sie befindet sich eher in einer kritischen
Phase. Ich glaube, wir müssen darauf achten, dass es
nicht nur beim Konvent gelingt, die Zustimmung der
Menschen zum europäischen Einigungswerk zu gewinnen und zu erhalten, sondern dass wir auch im Zuge der
Erweiterung darauf achten, dass die Menschen das Gefühl behalten, dass diese europäische Einigung ihre eigene Sache und im Interesse ihres Landes ist. Im Übrigen müssen wir auch darauf achten, dass sich die
Menschen das notwendige Zugehörigkeitsgefühl zum
europäischen Einigungswerk bewahren.
Deswegen: Es ist doch wirklich ganz unbestritten,
dass wir alle ein gemeinsames Interesse an einer positiven Entwicklung in der Türkei haben, dass wir uns
wünschen und durch möglichst enge partnerschaftliche
Beziehungen mit der Türkei alles daran setzen, dass sie
ein dem Westen zugewandtes und eng mit Europa und
dem Westen verbundenes Land bleibt und sich weiterentwickelt, und dass wir die Türkei auf jede uns mögliche Weise unterstützen. Aber die Frage, ob das Ziel einer
politischen Union der Europäischen Union wirklich die
Grenzen des europäischen Kontinents überschreiten
kann, ohne dabei Schaden zu nehmen, muss anhand der
Interessen und aus dem Selbstverständnis der Europäischen Union diskutiert und beantwortet werden. Alles
andere wird das europäische Einigungswerk eher gefährden.
({11})
Es ist wahr: Die europäischen Gemeinschaften haben
der Türkei seit 40 Jahren die Beitrittsperspektive angeboten. Davon kann man sich nicht einseitig verabschieden. Das haben wir immer gesagt.
({12})
Man kann keine Zusage einseitig aufkündigen, weil Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit von entscheidender
Bedeutung ist.
Ich finde - das war der Inhalt des Antrages der CDU/
CSU-Fraktion vor dem Gipfel von Kopenhagen, darauf
möchte ich zurückkommen -, wenn wir Ende nächsten
Jahres oder wann auch immer in Gespräche und Verhandlungen mit der Türkei über die weitere Gestaltung
des Verhältnisses zwischen Europäischer Union und
Türkei eintreten, dann sollten wir der Türkei vorschlagen, ob es nicht neben der Mitgliedschaft die Form einer
privilegierten Partnerschaft oder eines engen Nachbarschaftsverhältnisses geben kann, über das wir miteinander reden können. Das Ergebnis dieser Verhandlungen
dürfen wir nicht vorher einseitig festlegen. Vielmehr
müssen wir bereit sein, Argumente auszutauschen.
Ich vermute, dass es am Ende auch im Interesse der
Türkei in ihrer Funktion als Brückenland zwischen Europa und dem asiatischen Kontinent sein wird, zu einer
engen, vertraglich vereinbarten Form der Zusammenarbeit und Zugehörigkeit zur Europäischen Union, aber
nicht zu einer vollen Mitgliedschaft mit jenem beträchtlichen Souveränitätsverzicht zu kommen, der mit einer
vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union nun
einmal verbunden ist. Wenn wir der Türkei zusichern,
dass wir uns an das gemachte Angebot halten, wir aber
ebenso über Alternativen reden möchten, dann müssen
wir von der Türkei erwarten können - das können wir
auch erwarten -, dass sie mit uns Argumente austauscht
und dass wir gemeinsam darüber reden, was die bessere
Form der Zusammenarbeit ist.
({13})
- Ich sage, was wir für die bessere Lösung halten. Ich
bin bereit, mit Ihnen und mit der Türkei darüber zu reden
und Argumente auszutauschen. Das ist der bessere Weg.
Wir sollten nicht unterschätzen, wie groß die Gefahren
sind, dass das europäische Einigungswerk substanziell
Schaden erleiden könnte. Wir haben heute darüber diskutiert - das muss ich jetzt nicht fortsetzen -, aber ich
muss darauf hinweisen, dass ein schwerer Schaden
droht.
Ich weiß noch genau, welch schwere Entscheidung es
war, die Europäische Währungsunion - übrigens in einem Wahljahr - durchzusetzen. Ich will nicht länger Salz
in die Wunden reiben, aber viele sind bei dieser Entscheidung zusammengezuckt. Sie waren der Ansicht,
dass die Menschen in Deutschland diese Entscheidung
nicht akzeptieren würden und dass es bei einem Referendum Schwierigkeiten gegeben hätte, eine Mehrheit dafür
zu finden. Jedenfalls wäre viel Überzeugungsarbeit nötig
gewesen. Bedingung aber war, dass die europäische
Währung so stabil bleibt, wie es die D-Mark gewesen ist.
({14})
Gegen diese Bedingung ist verstoßen worden. Damit untergraben wir das Vertrauen in die europäische Einigung.
({15})
Ich möchte dafür werben, dass wir das europäische
Einigungswerk nicht gefährden. Eine Überdehnung Europas genauso wie eine Untergrabung der Stabilität der
europäischen Währung gefährdet die europäische Einigung. Weil wir ein starkes Europa wollen und brauchen,
dürfen wir nicht so leichtfertig solche Risiken eingehen.
Das ist unverantwortlich.
({16})
Meine nächste Bemerkung: In den kommenden Jahren wird nach meiner Überzeugung die Außen- und Sicherheitspolitik in der europäischen Dimension eine entscheidende Bedeutung haben. Ich begrüße sehr das von
Solana vorgelegte Papier für eine europäische Sicherheitsstrategie.
({17})
Ich wünsche, plädiere und werbe dafür, dass dieses Papier nicht weiter verwässert, sondern auf dem Europäischen Rat in Rom angenommen wird; denn es ist ein guter und hoffnungsvoller Ansatz.
Es hat sich gezeigt, dass der Beitrag Europas in der
Irakfrage, in der Europa gespalten war, marginalisiert gewesen ist. In der schwierigen Iranfrage, in der es gelungen
ist, Europa zu einer gemeinsamen Haltung zu einen,
konnte auch in Übereinstimmung mit den Vereinigten
Staaten von Amerika ein besseres Ergebnis - bis hin zu
der jüngsten Entscheidung der IAEO - erreicht werden.
({18})
Das zeigt, wenn wir in Europa ein gemeinsames politisches Ziel haben und gemeinsame Antworten finden,
können wir einen wesentlichen Beitrag für eine stabilere
Welt leisten. Das ist die europäische Verantwortung. Dafür müssen wir arbeiten.
({19})
Das heißt aber auch: Es muss klar sein, dass man Europa nicht als Gegengewicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika oder als Alternative zum atlantischen
Bündnis einen kann. Das ist der Fehler, der in der Irakkrise begangen worden ist, er wird jetzt korrigiert. Wir
müssen ihn auch unseren französischen Freunden klar
machen. Mir wäre es lieber, Frankreich würde eher früher als später in die militärische Integration des Atlantischen Bündnisses zurückkehren. Das ist der bessere Weg
zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik.
({20})
Deswegen sind wir auch gegen jeden Ansatz in Richtung auf ein eigenes Hauptquartier für die europäische
Verteidigungskomponente. Das muss unter Nutzung der
NATO-Strukturen geleistet werden. Jeder Schritt in die
falsche Richtung ist ein Schritt zu viel, schürt nur Missverständnisse und schwächt die europäische Handlungsfähigkeit. Ich sage noch einmal: Wer Europa gegen die
USA einen will, wird Europa nur spalten. Das haben wir
bereits erlebt, wir wollen diesen Fehler nicht fortsetzen.
Wir schulden es unseren französischen Freunden, das
klar auszusprechen.
({21})
- Die Bundesregierung, ebenso die britische Regierung
wie viele andere auch. Nicht nur die deutsche Regierung
macht Fehler, aber wir müssen uns im Deutschen Bundestag in erster Linie mit den Fehlern der Bundesregierung beschäftigen. Wir könnten uns auch mit der Regierung von Sri Lanka beschäftigen, aber wir sind nun
einmal die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.
({22})
Ich werbe dafür, es ganz klar zu sagen: Europäische
Einigung ist in der Außen- und Sicherheitspolitik ein
Beitrag zur Stärkung atlantischer Solidarität, weil wir
nur gemeinsam unserer Verantwortung gerecht werden
können. Wir werden uns einen größeren Beitrag im Nahostkonflikt leisten müssen. Wenn die Zeitungsberichte
zutreffen, steht auch im Strategiepapier von Javier
Solana, dass Europa eine besondere Verantwortung für
den Nahostkonflikt zukommt. Das wird von Europa größere Beiträge verlangen.
An dieser Stelle möchte ich allerdings bemerken: Wir
sollten dem israelischen Premierminister in aller Freundschaft sagen, dass nicht jede Kritik an der konkreten israelischen Politik ein Ausdruck von Antisemitismus in
Europa ist. Wenn er an diesem Gedanken festhält, erweist er der Sache keinen guten, sondern einen Bärendienst. Das weisen wir zurück.
({23})
Frau Kollegin Roth, da ich Sie gerade sehe, möchte
ich Sie bitten, in der Debatte um die Türkei verbal ein
wenig abzurüsten.
({24})
- Ja, gerade ich sage es, denn ich habe das Zitat vorliegen.
({25})
- Der Kollege Bosbach hat die Frage, ob es einen solchen Zusammenhang gibt, mit Nein beantwortet. Genau
das sagen wir alle. Die Entscheidung über die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union hat mit der
Frage, ob man vom Terrorismus bedroht und betroffen
ist, überhaupt nichts zu tun. Diese Tatsache wird weder
zur Beschleunigung noch zur Verlangsamung des Beitrittsverfahrens führen.
({26})
- Frau Kollegin Roth, Sie haben vor einigen Wochen der
CSU vorgeworfen, sie führe mit ihren Bedenken gegen
eine volle Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen
Union einen rassistischen Wahlkampf. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Nehmen Sie das zurück und rüsten Sie
verbal ab! Sie tun dem inneren Frieden und der Integration unserer türkischen Mitbürger keinen Gefallen, sondern gefährden sie nur.
({27})
- Ich habe es da.
({28})
- Einverstanden. Wenn Sie es zurücknehmen, ist es ja
gut.
({29})
Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns eines Verbalradikalismus in so sensiblen Fragen enthalten. Da macht jeder einmal einen Fehler, das kommt vor. Aber dann muss
man ihn auch zurücknehmen.
Ich würde gerne noch eine Bemerkung zu der Bedrohung der Menschen in unserem Land durch den Terrorismus machen. Wir brauchen eine umfassende Politik;
diese wird sich nicht nur auf militärische Mittel stützen
können. Mit militärischer Überlegenheit allein ist eine
stabile Weltordnung nicht zu errichten und zu erhalten;
das wissen wir alle. Wir sollten aber trotz aller Bedrohungen in anderen Teilen der Erde nicht aus den Augen
verlieren, dass wir vom internationalen Terrorismus in
unserem eigenen Land genauso bedroht sind. Deswegen
hat die Bundeswehrstrukturreform einen dramatischen Mangel. Sie gibt nämlich überhaupt keine Antwort auf die Frage, wie es eigentlich mit den Aufgaben
und der Verantwortung der Bundeswehr steht, die Sicherheit der Menschen in Deutschland nicht nur am Hindukusch zu verteidigen - was richtig und notwendig ist
und was ich ausdrücklich unterstütze -, sondern auch im
eigenen Land. Wir haben auch eine Verantwortung für
die Vorsorge für Bedrohungen und Risiken, die sich in
unserem eigenen Lande ereignen können. Das kann
heute oder morgen passieren. Ich hoffe, dass es nicht so
kommt, aber wir müssen dafür Vorsorge treffen.
Das heißt auch, dass wir über die Frage der Zusammenarbeit zwischen den Kräften für äußere und innere
Sicherheit vertiefter nachdenken müssen. Ich lese inzwischen, dass der Bundesinnenminister eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit den Länderinnenministern eingesetzt hat - wenn die Zeitungsberichte zutreffen -, in
der man miteinander über eine stärkere Zusammenarbeit
zwischen der Bundeswehr und den Kräften für innere Sicherheit zur Abwehr von Bedrohungen im eigenen
Lande sprechen will. Ich kann das nur begrüßen und unterstützen. Dann müssen aber auch bei der Bundeswehrstrukturreform entsprechende Konsequenzen gezogen
werden. Ich füge hinzu: Sie werden sich nicht davor drücken können, wenn wir auf diese Frage und die Frage
der Parlamentsbeteiligung bei integrierten Einsätzen,
etwa der NATO-Response-Force, vernünftige Antworten
geben wollen, entsprechende Ergänzungen unseres
Grundgesetzes in die Überlegungen einzubeziehen.
Dass Sie jetzt bei der Frage der Abwehr von Gefahren
aus der Luft mit einfachgesetzlichen Regelungen unter
Inkaufnahme großer verfassungsrechtlicher Risiken Lösungen suchen wollen, zeigt, dass Sie nicht die Kraft zu
verantwortlichem Handeln haben.
({30})
Das ist der eigentliche Punkt. Wir müssen im Interesse
unseres Landes, seiner Zukunftsfähigkeit und der Sicherheit seiner Bürger die Kraft haben, die notwendigen
Prioritäten in der Haushaltspolitik und in den rechtlichen
Regelungen zu setzen. Wir müssen die Kraft haben, den
Menschen zu erklären, was notwendig ist, damit wir
auch in Zukunft in Frieden und Sicherheit leben können.
Wir müssen dazu bereit sein, einen größeren Beitrag zu
europäischer und atlantischer Verlässlichkeit und Partnerschaft zu leisten.
Vielen Dank.
({31})
Nächster Redner ist der Kollege Gernot Erler, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir uns in der Welt umschauen, dann sehen wir im
Irak die Bilder des Krieges mit Bomben und Raketen
und täglichen Opfern, verbunden mit menschlichen Tragödien, dann sehen wir dasselbe im Nahen Osten, für
den wir einen guten, alternativlosen Friedensplan haben,
an den sich aber keiner hält, was Opfer und menschliche
Tragödien zur Folge hat. Das gilt für Afghanistan, wo
die Kämpfe wieder stärker werden und wir täglich Opfer
und menschliche Tragödien haben. Das gilt für Tschetschenien und es gilt für viele andere Plätze auf der Welt.
In diesem Kontext ist es regelrecht ein Lichtblick,
dass bei dem Wechsel der Macht in der ersten Generation in Georgien zum Glück - das will ich ausdrücklich
begrüßen - bisher ein Blutvergießen vermieden werden
konnte.
({0})
Dazu haben einige beigetragen, der Präsident
Schewardnadse, dem wir viel zu verdanken haben und
der sich im richtigen Moment zurückgezogen hat, auch
die Oppositionsführer, die trotz hohen Engagements ein
Gefühl der Verantwortung behalten haben, und auch der
russische Außenminister, der im richtigen Moment vermittelt hat, wofür wir ihm hier im Deutschen Bundestag
Respekt zollen.
({1})
Trotzdem bleibt auch eine internationale Verantwortung für die ungelösten regionalen Konflikte in Georgien.
Aber all das wird von der Serie von Akten des internationalen Terrorismus überschattet, die einen grauenvollen Höhepunkt in Istanbul gefunden hat. Sie ist ein
Beweis für die Menschenverachtung, aber auch für die
Handlungsfähigkeit des global agierenden Terrorismus.
Das zeigt übrigens die Unkalkulierbarkeit des Risikos.
In Wirklichkeit ist Istanbul ein potenzielles Überall.
({2})
In dieser Situation zeigt die Bundesregierung durch
die Fortsetzung unseres Engagements auf dem Balkan,
durch den verstärkten Einsatz in Afghanistan, durch die
Initiative, an der sie sich wegen des gefährlichen Atomprogramms im Iran beteiligt hat, und auch durch die regelrecht demonstrative Unterstützung unseres Partners
Türkei nach den Anschlägen in Istanbul Einsatz und Verantwortung. Ich möchte dem Außenminister ausdrücklich dafür danken, dass er richtig gehandelt hat, indem er
sofort in die Türkei gereist ist, um diese Unterstützung
zu beweisen.
({3})
Damit kommen wir zu der Frage, ob das gleiche Verantwortungsbewusstsein auch bei der Opposition zu beobachten ist.
({4})
Daran sind - auch in der Öffentlichkeit - Zweifel angebracht. Was die Kolleginnen und Kollegen von der FDP
angeht, kann nach wie vor niemand verstehen, warum
sie in der eben von mir angesprochenen Situation die
Fortsetzung des Kampfes gegen den Terrorismus in Afghanistan und unsere Beteiligung daran wie auch die Erweiterung des Einsatzes - damit die Übergangsregierung
Karzai endlich über Kabul hinausgehen kann - abgelehnt haben. Sie führen damit Ihre internationale Politik
in die Isolation. Man kann nur froh darüber sein, dass Ihnen auf diesem Weg niemand folgt.
({5})
Aber auch und gerade nach der Rede des Kollegen
Schäuble, in der er die Fakten zum großen Teil auf den
Kopf gestellt hat, kann ich das notwendige Engagement
und Verantwortungsbewusstsein bei der Opposition
nicht feststellen. Die Türkeipolitik der CDU/CSU ist und
bleibt von A bis Z unverantwortlich,
({6})
und zwar aus drei Hauptgründen.
Erstens. Sie führen die deutsche Öffentlichkeit bewusst in die Irre, Herr Schäuble, wenn Sie so tun, als
würde im Jahr 2004 über den Beitritt der Türkei entschieden. Sie wissen sehr genau, dass es nur um eine
Entscheidung geht, die im Dezember vergangenen Jahres hinsichtlich der Frage anstand, ob die Türkei schon
reif für Beitrittsverhandlungen ist. Zu dem Status als
Beitrittskandidat hat es in Europa bereits eine Reihe von
Entscheidungen gegeben, an denen auch Sie mitgewirkt
haben. Sie waren immer dafür. Das haben Sie auch zugegeben; insofern steht das nicht infrage.
Die Wahrheit ist, dass die Verhandlungen mit der Türkei auch nicht schneller verlaufen werden als mit den anderen Beitrittsstaaten. Das heißt, in Wirklichkeit wird
über die Bewertung des Verhandlungsprozesses erst im
Jahr 2015 entschieden. Was Sie immer wieder vortragen,
ist eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit.
({7})
Zweitens. Es ist schon ein starkes Stück, Herr
Schäuble, wenn Sie von einer Instrumentalisierung dieses Politikbereichs sprechen.
({8})
Der Fall Bosbach hat deutlich gezeigt - ({9})
- Doch, das ist ein Fall Bosbach. Er ist ein Beweis dafür,
dass Sie sich in dieser Frage für den denkbar rücksichtslosesten Populismus entschieden haben.
({10})
Was den Versuch angeht, terroristische Akte und damit
die Angst der Menschen politisch zu instrumentalisieren,
haben Sie ein Erklärungsproblem, nicht wir.
({11})
Ihre halbherzigen Bemühungen um Schadensbegrenzung, deren Zeuge wir erneut geworden sind, reichen dabei nicht aus.Was für ein Unterschied: Der Außenminister fährt in die Türkei, um sichtbar und fühlbar
Solidarität zu zeigen, während Sie Ihre Instrumente für
den Europawahlkampf schmieden. Das ist schäbig. Dazu
stehe ich, solange Sie das nicht eindeutig zurücknehmen.
({12})
Schließlich fehlt Ihnen jede Einsicht in die Bedeutung
des Reformprozesses in der Türkei für die gesamte
Weltpolitik, den wir sehr sorgfältig und aufmerksam beobachten. Es ist nämlich in der Tat von weltpolitischem
Interesse, ob dieser Reformprozess weitergeht. Wir - damit meine ich nicht etwa nur uns Deutsche, sondern die
gesamte Weltgemeinschaft - sind daran interessiert, dass
es eine große islamische Gesellschaft gibt, die den Weg
der Demokratie und der Beachtung der Menschenrechte
und Minderheitenrechte erfolgreich beschreitet. Dies ist
im Interesse von uns allen, weil es die bessere Antwort
auf die Herausforderung des „Kampfes der Zivilisationen“, den Osama Bin Laden und seine Anhänger uns
aufzudrücken versuchen, ist als alle anderen denkbaren
Antworten.
({13})
Eine solche islamische Gesellschaft ist die beste Antwort
auf die terroristische Herausforderung in der internationalen Politik.
Sie werden mit Ihrem kollektiven Verdummungsprozess, bei dem so getan wird, als gehe es um etwas anderes, keinen Erfolg haben. Wir werden Sie bei diesem
Thema stellen. Es geht nicht um einen EU-Beitritt der
Türkei heute, morgen oder im Dezember 2004, sondern
darum, ob Verhandlungen, die viele Jahre dauern werden,
aufgenommen werden oder nicht. Letztlich geht es jedoch darum, was Verantwortung in der Nach-SeptemberWelt bedeutet. Dazu sind Sie Ihre Antworten schuldig geblieben. Wir werden dafür sorgen, dass die Debatte wirklich um den Punkt geführt wird, um den es geht: um die
Frage der Verantwortung in der Nach-September-Welt,
nicht aber um die Frage irgendeines Beitrittsdatums. Sie
werden es nicht erreichen, dass die Leute Ihnen bei Ihrem
Versuch hinterherlaufen, hier ein völlig anderes Thema,
das nicht ansteht, in die Welt zu setzen. Ich hoffe, dass
wir auf diese Weise dafür sorgen können, dass Sie es als
zu riskant ansehen, die Frage des Türkeibeitritts zu einer
billigen Münze im bevorstehenden Europawahlkampf zu
machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Gerhardt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass es
auf der Welt eine ganz neue Unübersichtlichkeit mit regionalen Konflikt- und Krisenherden, mit großen Problem bei Säkularisierungsschritten und mit Gesellschaften gibt, die sich geradezu in freiem Fall befinden,
erleben wir, seitdem die alte bipolare Welt vor Jahren zu
Ende gegangen ist. Aber es wurde noch keine konsistente, die Probleme wirklich durchdringende deutsche
und europäische außenpolitische Antwort gefunden. Die
Stecknadel Kunduz, politisch vielleicht begründet, ist
angesichts der Herausforderungen in dem großen Land
Afghanistan doch eigentlich eine Pseudolösung.
({0})
Deutschland macht kein europäisch abgestimmtes Angebot.
({1})
- Sie fragen die Amerikaner sonst ja nicht, Herr Erler.
({2})
- Ich frage sie gern mit Ihnen zusammen.
Hier geht es mir aber darum, ob es eine deutsche Antwort sein muss, warum das nicht europäisch abgestimmt
wurde und wo die anderen Nationen, die eine solche Position vertreten, in Afghanistan sind.
({3})
Wir brauchen ein nahezu flächendeckendes Konzert, das
es aber nicht gibt, weil es nicht abgestimmt worden ist.
Dies bringt mich zur Frage nach den europäischen
Antworten. Wir haben den Irakkonflikt mit seinen politischen Kollateralschäden erlebt, die im transatlantischen Dialog auf internationalen Konferenzen mühselig
Schritt für Schritt beseitigt werden. Wo ist denn jetzt die
vor allem mit den neu hinzukommenden ost- und mitteleuropäischen Reformstaaten abgestimmte europäische
Antwort darauf, wie es im Irak weitergehen soll? Bleibt
dies den Tandemgesprächen zwischen Deutschland und
Frankreich vorbehalten? Welchen der kleineren Staaten
hat der deutsche Außenminister gefragt, wie man aus der
Situation herauskommen kann, mit wem wird kommuniziert? Gibt es außerhalb des dynamischen Tandems
Deutschland/Frankreich dazu einen neuen Ansatz?
Wenn nicht, müsste er jetzt gesucht werden.
Herr Erler, nun zur Türkeifrage: Sie mögen noch
eine Weile auf der Äußerung des Kollegen Bosbach herumreiten. Die Kollegin Merkel hat dies heute Morgen
eindrucksvoll klargestellt. Zum parlamentarischen Stil
gehört es, dass man eine solche Antwort dann auch respektiert.
({4})
Ich hole dann aber auch Äußerungen wieder in die Debatte, die aus Ihrem politischen Feld kamen und den Eindruck erweckten, je eher man die Türkei in die Europäische Union aufnehme, desto größer sei der
Sicherheitsexport.
({5})
Nein, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist
nicht die einzige Möglichkeit, jemandem Sicherheit zu
geben. Die Antwort auf die Frage, wie man jemandem
Sicherheit gibt, kann sich auch in anderen Vertragsverhältnissen ausdrücken.
({6})
Im Übrigen ist es legitim - ich lasse das nicht der Political Correctness unterwerfen -, in weiteren Gesprächen mit der Türkei zu eruieren, ob die Verhandlungen
in einer Vollmitgliedschaft enden müssen oder ob es
noch einen anderen Status geben kann. Auch das ist
nicht festgelegt und wird nach dem Vorliegen des Fortschrittsberichts erörtert werden. Wenn Sie mir nicht
glauben und emotionale Beweggründe vorwerfen, dann
möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der ehemalige
Bundeskanzler Helmut Schmidt, der genauso wie
Helmut Kohl und wir in wechselnden Koalitionen diesen
Weg seit der Assoziierung von 1963 gegangen ist, seine
Antwort auf die Frage, ob er eine Überdehnung der EU
durch eine Vollmitgliedschaft der Türkei sieht, viel härter formuliert. Das darf man doch noch ausdrücken.
({7})
Die Europäische Union steht zuerst einmal vor der
gewaltigen Herausforderung, zu verhindern, dass der
Verfassungsentwurf auf der kommenden Regierungskonferenz aufgedröselt wird. Sie muss außerdem die von
uns gewünschte Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Reformstaaten verkraften. Das ist nicht zu unterschätzen. Die Europäische Union muss in der Außenund Sicherheitspolitik erst noch eine Stimme finden. Sie
muss erst wieder ökonomische Kraft entwickeln, über
die Deutschland gegenwärtig nicht verfügt. Danach kann
sie sich den Nachbarstaaten zuwenden, denen sie - wie
im Falle der Türkei - Zusagen gemacht hat. Sie sollte
klugerweise auch darüber nachdenken, welche Antworten sie den Mittelmeeranrainerstaaten gibt, die sich im
Barcelona-Prozess befinden. Welche Antwort sollen wir
denn der Ukraine geben? Wir alle hoffen doch, dass sich
Weißrussland von dem jetzigen Regime befreien kann.
Aber welche Antwort sollen wir dann geben? Heißt die
Antwort immer nur Mitgliedschaft oder kann es nicht
auch privilegierte Nachbarschaftsverträge geben, was auf
einen Stabilitätsexport durch engere Zusammenarbeit
hinauslaufen würde? Ich möchte darauf nur hinweisen,
ohne unsere türkischen Kollegen verärgern zu wollen,
die der Meinung sind, dass es nicht fair sei, wenn sich
Deutschland von seiner traditionellen Türkeipolitik verabschiede. Das ist zwar nicht unsere Absicht. Aber wir
haben auch Verantwortung zu tragen, wenn wir sehen,
dass die Europäische Union an die Grenzen ihrer Fähigkeiten gelangt.
Die Europäische Union ist keine NATO, kein schlichtes geostrategisches Bündnis für Sicherheit, sondern eine
engere Wertegemeinschaft, die auch historisch gewachsene kulturelle Bezüge hat.
({8})
Das darf man nicht außer Acht lassen. Wir sollten der
Türkei deshalb sagen, dass wir Deutsche ganz unaufgeregt den Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission prüfen und dann über die weiteren Schritte in den
Verhandlungen mit der Türkei entscheiden werden. Das
wird vor Ende des nächsten Jahres nicht der Fall sein.
Ich möchte noch auf einen weiteren Gesichtspunkt eingehen, den bereits Wolfgang Schäuble klar angesprochen
hat. Ich kann noch nicht erkennen, wie die Differenzen
zwischen Europa und Amerika, die im Zuge der Irakkrise entstanden sind - es ist durchaus legitim, wenn
beide Seiten unterschiedliche Standpunkte einnehmen -,
beigelegt werden können und Einvernehmen erzielt werden kann. Ich kann die Haltung der Europäischen Union
im Hinblick auf das weitere Vorgehen im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen noch nicht mit Händen greifen.
Entscheidend ist dabei, wie die militärische Lage im Irak
aussieht und wie Nation Building - es müssen neue Legitimationsgrundlagen geschaffen werden - betrieben
werden soll. Darüber wird vielleicht zwischen Deutschland und Frankreich und auch in Begegnungen mit amerikanischen Regierungsvertretern gesprochen. Aber wir
legen ausdrücklich Wert darauf, dass alles im Rahmen
eines europäischen Prozesses abgestimmt wird. Dieser
ist nicht abgeschlossen.
({9})
Angesichts der internationalen Unübersichtlichkeit
und der Reparaturbedürftigkeit der Beziehungen zwischen Europa und Amerika muss sich das dynamische
deutsch-französische Tandem neu sortieren. Als Allererstes müssen wir dafür sorgen, dass auf europäischer
Ebene besser abgestimmt wird, als das in den vergangenen beiden Jahren der Fall gewesen ist. Wenn wir das
nicht tun, werden andere die Koalitionen in Europa bestimmen. Es war aber immer eine der herausragenden
Aufgaben der deutschen Außenpolitik, an der Seite
Frankreichs zu bleiben und gleichzeitig darauf zu achten, dass sich keine europäische Supermacht mit antiamerikanischen Zügen entwickelt, dass also bei anderen
Staaten nicht die Alarmglocken läuten. Das war die
große Führungskunst von Kohl und Hans-Dietrich
Genscher. Sie ist zwar verloren gegangen, muss aber
wiedergewonnen werden.
({10})
Deutsch-französisches Tandem bedeutet, dass man die
transatlantische Partnerschaft nutzt, und nicht, dass man
sie gefährdet oder beschädigt.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ludger Volmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die grauenhaften Anschläge in Istanbul haben
uns schmerzlich ins Bewusstsein gerufen, dass der internationale Terrorismus noch längst nicht überwunden
ist, sondern dass seine Bekämpfung weiterhin der größten Anstrengung der internationalen Staatengemeinschaft bedarf.
In diesem Zusammenhang frage ich: Wer hat welche
Vorentscheidungen getroffen? Zu welchen Ergebnissen
haben diese Entscheidungen geführt? Die Opposition
fragt völlig zu Recht: Was sind die Konsequenzen des
Handelns der Bundesregierung? Ich möchte aber folgende Gegenfrage stellen: Was sind die Konsequenzen
des Handelns der Opposition? Ich beziehe mich auf diejenigen Bereiche, in denen zumindest Handlungsansätze
zu erkennen sind.
Heute sehen wir das Desaster im Irak. Wir sehen,
dass der Irak, der früher mit dem internationalen Terrorismus nichts zu tun hatte, heute ein Hort ist, in dem sich
Terroristen sammeln. Sie sickern in dieser Region ein
und destabilisieren sie.
Wer war eigentlich gegen die Intervention im Irak?
Wer hat sie damals befürwortet? Denken wir ein Jahr zurück! Damals wurde eine Debatte über die Konsequenzen unseres Handelns geführt. Damals waren wir, die
Bundesregierung und die Koalition, gegen diesen Irakkrieg, weil wir befürchten mussten, dass dadurch der internationale Terrorismus angeheizt wird.
({0})
Ich will gar nicht rechthaberisch sein; aber Herr
Schäuble meint die Bundesregierung wieder kritisieren
zu müssen.
Erinnern wir uns daran, wie sich führende Politiker
der CDU/CSU verhalten haben: Angela Merkel hat damals den Canossagang nach Washington gemacht und
Präsident Bush die deutsche Kooperationsbereitschaft in
einer Unterwerfungsgeste offeriert.
({1})
Herr Pflüger, Sie suchen noch heute ex post Begründungen dafür, dass der Irakkrieg notwendig gewesen sei.
Herr Schäuble hat mitten im heftigsten Getümmel eine
Debatte darüber begonnen, ob Präventivschläge notwendig seien. Er formulierte das natürlich als Frage, nach
dem Motto: Man wird doch noch fragen dürfen. Dahinter verbarg sich aber eine bestimmte Position. Auch
heute haben Sie, Herr Schäuble, gesagt, die Bundesregierung hätte sich damals, vor dem Krieg, mit den Amerikanern einigen sollen. Ihre Handlungsgrundlage - sie
schwingt bei Ihnen immer mit, auch wenn Sie sie nicht
laut aussprechen - war immer: Man soll sich mit den
Amerikanern auf einen Pro-Kriegs-Kurs einigen. Deswegen sage ich: Die CDU/CSU-Fraktion ist für das
grauenhafte Desaster im Irak mitverantwortlich.
({2})
Betrachten wir Ihre Politik gegenüber einzelnen europäischen Freunden und Nachbarn: Sie kritisieren die Tatsache,
dass die deutsch-französische Freundschaft - kurz nachdem wir das 40-jährige Jubiläum des Élysée-Vertrages in
Paris, in Versailles, gemeinsam gefeiert haben - auch
von der deutschen Bundesregierung mit Substanz gefüllt
worden ist. Diese Substanz ergab sich zunächst einmal
aus der gemeinsamen Ablehnung des Irakkrieges. Daraus hat sich eine enge und immer intensiver werdende
Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskanzler und dem
französischen Präsidenten ergeben.
Ich werde ein Gefühl nicht los: Bei Ihnen herrschen
schlicht Neid und Ärger darüber, dass diese Bundesregierung - nicht Sie - in der Lage war, das deutsch-französische Verhältnis mit Substanz zu füllen.
({3})
Ich begrüße es, dass Chirac heute ein engeres Verhältnis
zu Gerhard Schröder als zu Angela Merkel hat.
({4})
Wir werden die deutsch-französische Freundschaft
weiterhin pflegen, auch wenn einige aus der CDU/CSU
sie als Achse - dieser Begriff ist hier denunzierend gemeint - beschreiben.
Über die Brüskierung der Türkei durch die CDU/
CSU ist viel ausgeführt worden. Ich werde auch hier den
Eindruck nicht los, dass die Entgleisung von Herrn
Bosbach vielleicht nicht so ganz zufällig war.
({5})
Ich will gar nicht sagen, dass es ganz gezielt gesetzt war,
aber es drückt einen gewissen gedanklichen Hintergrund
in der CDU/CSU aus. Sie will die Türkei als islamisch
orientierte Gesellschaft partout nicht in der Europäischen Union haben, weil sie immer noch der Auffassung
ist, die EU sei eine Religionsgemeinschaft und nicht eine
Wertegemeinschaft. Dies ist eine Haltung, die wir ganz
rigoros ablehnen.
({6})
Es ist auch gar nicht nötig, heute darüber zu spekulieren, ob die Türkei jemals Vollmitglied werden kann oder
ob man noch zweite und dritte Optionen braucht. Das
Prozedere ist völlig eindeutig. Die Türkei wird sich wie
jeder andere Staat dem Monitoringprozess, dem Screeningprozess stellen müssen. Sie wird Kriterien erfüllen
müssen. Sie wird über viele Körbe verhandeln müssen.
Sie wird den europäischen Acquis übernehmen müssen.
Das heißt im Endeffekt: Eine Türkei, die der Europäischen Union beitritt, wird eine völlig andere Türkei sein
als die, die wir heute vorfinden. Deshalb ist es völlig
müßig, hier über die EU-Fähigkeit der heutigen Türkei
zu räsonieren.
({7})
- Herr Frankenhauser, ich rede darüber, um deutlich zu
machen, inwieweit Sie und Ihre Fraktion europäische
Partner und Freunde brüskieren.
({8})
Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, nämlich
der Brüskierung unserer polnischen Nachbarn. Wir
sehen mit einiger Verwunderung, manchmal auch mit
einem gewissen zweifelnden Interesse, wie unsere polnischen Freunde im Kontext der europäischen Verfassungsdiskussion versuchen, ihre nationalen Interessen
besonders stark zur Geltung zu bringen. Wir haben mit
der gleichen gewissen Verwunderung zur Kenntnis genommen, wie sich unsere polnischen Nachbarn in der
Frage des Irakkriegs demonstrativ auf die Seite Amerikas gestellt haben. Das mag viele Ursachen haben. Eine
Ursache liegt auch in einem bundesdeutschen Element,
das hier bis jetzt überhaupt noch nicht zur Debatte gekommen ist, weil es wegen seiner offensichtlichen Peinlichkeit von der CDU/CSU gern verschwiegen wird.
({9})
Stellen Sie sich einmal auf den Standpunkt der polnischen Politik, versetzen Sie sich in die Situation Warschaus und hören sich an, was die deutschen Vertriebenenverbände Ihnen zu sagen haben!
({10})
Hören Sie Frau Steinbach zu!
({11})
Wer Frau Steinbach und die Vertriebenenverbände hört,
der muss einfach das Gefühl bekommen, dass bei den
deutschen Vertriebenenverbänden ein längst überwunden geglaubter Revanchismus wieder Einzug hält.
({12})
Wenn nun entsprechende juristische Klagen in Polen
eingehen, dann wird diese Auffassung von polnischer
Seite durchaus unterstützt und verifiziert.
Es sind die Polen, die uns darauf aufmerksam gemacht haben, dass Frau Steinbach selbst gar keine Vertriebene ist. Frau Steinbach kommt gar nicht aus einer
Vertriebenenfamilie. Die Familie hat überhaupt kein Eigentum, keinen Besitz im Osten gehabt. Sie kommt aus
Hessen. Der Vater von Frau Steinbach war ein Wehrmachtsoffizier, der im Osten stationiert wurde. Nach
dem Ende des Krieges wurde die Familie völlig zu Recht
wieder nach Hessen zurückgeschickt. Wo ist da ein Vertriebenenschicksal?
Wenn nun ein Abkömmling einer deutschen Wehrmachtsoffiziersfamilie aus den Reihen der CDU/CSU
({13})
solche Positionen gegenüber Polen formuliert, dann
wundert es mich überhaupt nicht, dass in Polen der
Drang entsteht, in einer Art nationalen Selbstbehauptung
Dinge zu formulieren, die sich nicht unbedingt im Vernunftrahmen der gemeinsamen europäischen Politik bewegen.
({14})
Der Bundeskanzler hat heute Morgen eine Adresse an
die polnische Seite formuliert, nämlich sich konstruktiv
auf den Verfassungsprozess einzulassen und bei der Abstimmung die Formulierung eigener Interessen nicht zu
weit zu treiben. Parallel dazu sollten wir im Deutschen
Bundestag ganz klar machen, dass in der deutschen Außenpolitik überzogener Nationalismus und Revanchismus für alle Zeit keinen Platz mehr haben werden.
({15})
Lassen Sie mich zu einem letzten Punkt kommen, zu
einem eher erfreulichen Ergebnis, nämlich dem Papier,
das Javier Solana vorgestellt hat. Ich finde es gut, Herr
Schäuble, dass Sie es begrüßen. Die Europäer haben damit die Umrisse einer gemeinsamen Strategie. Wir von
Rot-Grün finden daran besonders gut, dass sich fast alle
Positionen der rot-grünen Außenpolitik, wie sie im Koalitionsvertrag formuliert sind, dort wiederfinden, insbesondere die Position zur zivilen Konfliktbearbeitung und
zur Krisenprävention durch zivile Mittel. Wir sind geradezu stolz darauf, dass es unter deutscher EU-Präsidentschaft gelungen ist, einen Sondergipfel der Europäischen
Union zum Thema Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung zu veranstalten. Wir freuen uns, dass
Herr Solana diese Elemente aufgenommen hat und in
diesem Sinne gute innovative Ansätze der rot-grünen
Außenpolitik nun auch zum Acquis der Europäischen
Gemeinschaft gehören werden.
Ich danke Ihnen.
({16})
Herr Kollege Austermann, Sie haben in dieser Debatte mehrere Male den Kollegen Volmer als Hetzer bezeichnet.
({0})
Ich bitte Sie, dieses zurückzunehmen und sich beim Kollegen Volmer zu entschuldigen.
({1})
Sie wissen, dass es sich hierbei um einen unparlamentarischen Ausdruck handelt. Ich bitte Sie also noch einmal
herzlichst, sich dafür zu entschuldigen.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Pflüger.
Ich möchte gerne auf das eingehen, was der Kollege
Volmer eben zu unserer Kollegin Steinbach im Zusammenhang mit der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen gesagt hat. Ich glaube, es ist in hohem Maße
unfair gewesen, was Sie eben getan haben, Herr Kollege.
({0})
Die Kollegin Steinbach bemüht sich nämlich darum
- das können Sie all ihren Äußerungen entnehmen und
auch auf der Homepage dieses Zentrums gegen Vertreibungen nachlesen -, einen Weg zu finden, wie wir des
ungeheuren Leids, das Vertreibungen hervorgerufen haben, gedenken können, ohne die Verbrechen der Nationalsozialisten und den Angriffskrieg Hitlers damit zu relativieren. Sie will ausdrücklich keine andere Nation an
den Pranger stellen; sie betreibt ausdrücklich keinen Revanchismus. Im Übrigen betreibt Peter Glotz mit ihr
dieses Zentrum gegen Vertreibungen. Jemand wie Herr
Schily hat es unterstützt; jemand wie Ralph Giordano
unterstützt es ebenfalls.
Ein solches Bemühen - lassen Sie es mich so sagen aus Gründen der politischen Instrumentalisierung in eine
bestimmte Ecke zu rücken und zu versuchen, Frau
Steinbach zu unterstellen, dass sie mit dem Gedenken an
das Leid von Millionen von Flüchtlingen, dessen Ursache in der Tat nicht in dem Ereignis am 8. Mai 1945, sondern in erster Linie in dem am 30. Januar 1933 zu suchen
ist, die Verbrechen der Nationalsozialisten relativieren
will, ist wirklich unerträglich. Das tut keiner bei uns.
Wir wollen aber in der Tat - das ist auch gutes Recht
eines solchen Zentrums gegen Vertreibungen - nach all
dem Leid, das Deutsche über die Welt gebracht haben,
auch an das Leid denken, das im eigenen Land den eigenen deutschen Bürgern damals angetan worden ist. Das
ist etwas sehr Legitimes. Wir sollten deshalb die Debatte
darüber versachlichen.
Ich hoffe sehr, dass Sie und Ihre Koalitionskollegen,
wenn Sie in Polen sind, nicht dort vorhandene Ängste
schüren, sondern die Polen beruhigen und ihnen sagen:
Keiner in der Bundesrepublik will Nachkriegsgrenzen
infrage stellen und keiner, auch nicht Frau Steinbach und
der BdV, will das Leid der einen Seite gegen das Leid
der anderen Seite aufrechnen. In diesem europäischen
Sinne ist ein Zentrum gegen Vertreibungen zu begrüßen
und kann dazu beitragen, ein Bewusstsein dafür zu
schaffen, dass Vertreibungen und ähnlich schreckliche
Dinge in Zukunft in Europa nicht mehr möglich sind.
({1})
Herr Kollege Volmer, Sie können antworten.
Herr Kollege Pflüger, jetzt haben Sie Frau Steinbach
gegen Angriffe verteidigt, die ich gar nicht gegen sie erhoben habe.
({0})
Ich greife niemanden an, wenn er darüber reflektiert,
dass auch Deutsche sehr unter dem Zweiten Weltkrieg
und dem Faschismus sowie unter Vertreibung gelitten
haben. Ich kritisiere aber die Art und Weise, wie Frau
Steinbach dies tut: in der Tonlage zwar scheinbar äußerst
verbindlich und meistens lächelnd, in der Sache aber so,
dass in Polen genau der Effekt eintritt, den ich gerade
beschrieben habe. In Polen fühlt man sich dadurch nun
einmal brüskiert.
Da Sie von Sensibilität und Tonlage sprechen und in
diesem Sinne der Bundesregierung Vorwürfe machen,
möchte ich auf der gleichen Ebene, mit dem gleichen
Maßstab diese zurückgeben und sagen: Es ist die Tonlage, mit der einige aus Ihren Reihen bestimmte, durchaus schwierige Fragen, die man auch einer Reflexion unterziehen muss, öffentlich thematisieren. Ich habe eher
den Eindruck, dass Frau Steinbach und andere das
Thema innenpolitisch instrumentalisieren, wie es die
CSU im Bayernwahlkampf schon gemacht hat und wie
es - dies befürchten wir - Kräfte von Ihnen auch im Europawahlkampf machen werden.
({1})
Vor ungefähr drei Jahren haben wir, bezogen auf die
Vertriebenenverbände, eine Debatte geführt. Da schienen sich die Dinge konstruktiv zu wenden. Die Vertriebenenverbände schienen sich mehr und mehr als Gruppierungen begriffen zu haben, die kulturelle Brücken
zwischen dem heutigen Deutschland und unseren Nachbarn Tschechien und Polen schlagen können.
Seit einiger Zeit sind jedoch Tonlagen in die Debatte
gekommen, die diesen eigentlich erreichten Stand der
Diskussion meines Erachtens revidieren.
({2})
Dieser Rückfall in bestimmte Tonlagen und bestimmte
Ansprüche hat in Polen zu massiven Irritationen geführt.
Jeder in Polen sagt uns unter der Hand: Dies ist mit ein
Grund dafür, dass sich Polen in Europa und bei den Verhandlungen um das polnische Stimmengewicht so stark
macht und immer wieder deutlich macht, dass die Amerikaner seine Hauptverbündeten sind, weil die Polen
eben - vor dem Hintergrund der bekannten Historie befürchten, dass aus ihren westlichen Nachbarregionen
Dinge kommen, die für sie gefährlich werden.
Es ist nicht meine Aufgabe, in Polen zu beschwichtigen: Das meint Frau Steinbach alles gar nicht so dramatisch.
({3})
Es ist Ihre Aufgabe, es ist die Aufgabe Ihrer Fraktion
und Ihrer Partei, den Polen deutlich zu machen, dass es
um kulturelle Zusammenarbeit geht, nicht aber darum,
irgendwelche historischen Relationen zu retuschieren
oder revanchistische Ansprüche zu formulieren.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Herr Kollege Austermann, es gibt keine Zwischenfrage auf eine Kurzintervention und es gibt auch keine
Kurzintervention auf eine Kurzintervention.
({1})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Volmer, wenn Sie sich über Tonlagen beschweren, wie sie in Kreisen der CDU/CSU und
beim BdV vorkommen, dann beachten Sie bitte auch
einmal Ihre eigene Tonlage.
({0})
Wie Sie zum Schluss geredet haben, das war eine
sachliche Form der Auseinandersetzung, wie ich sie mir
vorstellen kann. Aber wie Sie sonst aufgetreten sind und
was Sie wörtlich gesagt haben - Sie haben dem BdV und
Teilen der CDU/CSU revanchistische Tendenzen unterstellt -, das ist eine Instrumentalisierung dieses sensiblen
Themas, und zwar für Ihre Interessen. Das ist im Hinblick auf die Außenpolitik inakzeptabel und schadet zum
Schluss allen.
({1})
In dieser Woche beraten wir einen Bundeshaushalt für
das nächste Jahr, der schon vor seiner Verabschiedung in
wesentlichen Teilen Makulatur ist.
({2})
Am Montag dieser Woche ist der Stabilitätspakt im Ecofin-Rat faktisch aufgelöst worden, und zwar von einer
unheiligen Allianz, wie sie viele kleine Mitgliedsländer
der Europäischen Union immer wieder befürchtet haben:
dass die Großen im Ernstfall ihre Eigeninteressen brutal
durchsetzen.
Herr Fischer, ich frage mich, wie Sie am Wochenende
bei dem Konklave Ihren Kollegen aus Polen - das ist
nämlich, was die Polen belastet -, aus Dänemark, aus
Portugal und Irland und anderen erklären wollen, dass es
in Zukunft nicht der Normalfall sein wird, dass die Großen bei Mehrheitsentscheidungen, wenn es kritisch wird,
ihre Interessen gegen die Kleinen durchsetzen und nicht
an einem Interessenausgleich interessiert sind. Ich frage
mich, wie Sie das den Kollegen erklären wollen und sie
trotz ihrer Bedenken dazu bringen wollen, der doppelten
Mehrheit - die wir wollen - zuzustimmen. Das werden
sie kaum tun, schon gar nicht nach dem, was am Montag
passiert ist.
Eine Tatsache ist, dass sich Europa - gerade mit Blick
auf das Konklave der Regierungskonferenz am Wochenende - in einer entscheidende Phase seiner Entwicklung
befindet. Der Verfassungsvertrag für die Europäische
Union soll die Europäische Union zukunftsfähig machen. Das europäische Regelwerk soll transparenter werden. Die europäischen Bürger müssen verstehen, was in
Brüssel passiert, sonst werden sie es auf Dauer nicht akzeptieren.
Das europäische Regelwerk soll demokratischer werden.
In Zukunft muss das Europäische Parlament Hauptträger
der europäischen Gesetzgebung sein. Die Verfahrensweisen
des Europarechts müssen effizienter werden. Jeder von uns
weiß, dass schon jetzt mit 15 Mitgliedern die Möglichkeit
schneller Umsetzung von Beschlüssen nicht mehr ausreichend gegeben ist; mit 25 und später 27 Mitgliedern wird
es gar nicht mehr funktionieren.
Diesen Auftrag sehen wir alle und die Notwendigkeit
kennen wir alle. Mit diesem Auftrag ist der Verfassungskonvent vor über einem Jahr ausgestattet worden. Ich
möchte an dieser Stelle sagen: Diese Konventsmethode,
für die sich der Bundestag schon sehr frühzeitig eingesetzt hat, hat sich eindeutig als zukunftsweisend erwiesen. Der Verfassungskonvent hat einen akzeptablen Verfassungsvorschlag gemacht. Trotz aller Zweifel und trotz
kritischer Phasen während der Arbeit des Konvents ist
dieser Vorschlag für einen Verfassungsvertrag insgesamt
ein gelungener Kompromiss. Er beinhaltet auch einen
ausreichenden Interessenausgleich zwischen großen und
kleinen, zwischen nördlichen und südlichen Ländern
und ihm wurde von allen Regierungsvertretern, auch von
den Vertretern der Beitrittsländer, zugestimmt.
Obwohl im Entwurf auch aus deutscher Sicht einzelne
kritische Punkte enthalten sind, ist dieser Verfassungsvertrag akzeptabel und ratifizierbar. Aber Licht und Schatten
liegen dicht beieinander. Erinnern wir uns: Die Konventsmethode wurde entworfen und ist entstanden, weil die Regierungskonferenzen, gerade in Amsterdam und erst recht
in Nizza, gezeigt haben, dass sie nicht in der Lage sind,
ausreichende Reformen für Europa zu beschließen. In den
Geheimverhandlungen bei den Regierungskonferenzen
haben nationale Interessen den absoluten Vorrang und es
werden Regelungen beschlossen, die zum Schluss kein
Mensch mehr versteht und die im Wesentlichen auch
nicht praktikabel sind. Um dies aufzulösen, ist der Verfassungskonvent gegründet worden, und er hat seinen
Vorschlag gemacht.
Als ob es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die
Regierungskonferenzen nicht in der Lage sind, die Reformschritte in Europa voranzutreiben, liefert die jetzt
tagende Regierungskonferenz zum Verfassungsvertrag
den letzten Beleg. Dabei sind zwei Beobachtungen bemerkenswert: Bei der öffentlichen Beratung des Konvents mit allen Regierungsvertretern ist der Entwurf
akzeptiert worden. Zum Teil dieselben Regierungen fordern jetzt in der Regierungskonferenz fundamentale Änderungen des Verfassungsvertragsentwurfes. Offensichtlich ist man hinter verschlossenen Türen mutiger als in
öffentlichen Beratungen, wo dann wieder das Eigeninteresse vor dem Allgemeininteresse regiert.
Noch eines ist bemerkenswert an der bisherigen Arbeit der Regierungskonferenz. Nahezu jede der bisher
diskutierten Veränderungen am Vertragsentwurf bedeutet einen deutlichen Rückschritt gegenüber dem Entwurf. Teilweise wird über Vorschläge diskutiert, die die
Europäische Union auf den Nizza-Status zurückkatapultieren würden. Während der europäische Konvent von
dem Geist getragen wurde, Europa gemeinsam voranzubringen, regieren in der Regierungskonferenz Einzelinteressen, ist der Geist, Europa gemeinsam voranzubringen, nur mangelhaft oder gar nicht vertreten.
Es ist, als würde man zwei Bilder nebeneinander stellen, die nie deutlicher waren als jetzt: auf der einen Seite
das zukunftsfähige Europa mit dem Verfassungskonvent,
der seinen Vorschlag machen konnte, und auf der anderen
Seite das mangelhafte Europa in Form der Regierungskonferenz, die dabei ist, wichtige Teile dieses Entwurfes
zu zerreden.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es
deshalb für ganz besonders wichtig, dass die Verhandlungen zu dem Verfassungsentwurf noch in diesem Jahr
abgeschlossen werden. Nur so kann ein ausreichender
Druck auf die Regierungen erhalten bleiben, den Verfassungsvertrag zeitnah zum Konventsentwurf zu beschließen.
Weiterhin ist wichtig: Es darf keine Veränderung der
Schlüsselelemente dieses Verfassungsentwurfs geben.
Dazu will ich kurz noch einige mir wichtig erscheinende
Punkte nennen.
Erstens der Legislativrat. Sie wissen, dass der Verfassungskonvent vorgeschlagen hat - das halte ich für einen ganz entscheidenden Punkt in Bezug auf Transparenz und Demokratie -, dass in Zukunft der Europäische
Rat öffentlich, also wie ein Parlament, tagen muss, wenn
er gesetzgeberisch tätig wird. So können die Bürger die
getroffenen Entscheidungen nachvollziehen. Diese
Klausel ist bemerkenswerterweise schon bei der ersten
Sitzung der Regierungskonferenz faktisch gestrichen
worden. Es gab zwar Widerstand von Portugal und
Deutschland. Nach meiner Einschätzung war aber der
Widerstand von Deutschland zu zaghaft. Von deutscher
Seite hätte viel deutlicher gemacht werden müssen, dass
die öffentliche Tagung des Legislativrates für Deutschland ein ganz entscheidender Punkt ist.
({4})
Wie soll denn Europa von den Bürgern in Zukunft getragen und ertragen werden, wenn die wichtigsten Beschlüsse weiterhin hinter verschlossenen Türen gefasst
werden?
Zweitens das Budgetrecht des Europäischen Parlaments.
({5})
An diesem Punkt ist der Konventsentwurf nach meiner
Überzeugung eh schon schwach genug. Richtigerweise
soll das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht bei den Jahreshaushalten bekommen. Nach meiner
Einschätzung ist das zwar mangelhaft, aber gerade noch
akzeptabel. Es hat aber nur ein Zustimmungsrecht bei
den viel entscheidenderen Beratungen über die mittelfristigen Finanzplanungen.
Wenn es jetzt dazu kommt, dass dieses relativ schwache Budgetrecht des Europäischen Parlaments durch die
Regierungskonferenz weiter ausgehöhlt wird, dann wird
der Vertrag insgesamt - das will ich in aller Deutlichkeit
sagen - für das Europäische Parlament inakzeptabel. Ich
füge hinzu: Ich kann mir nicht vorstellen - das liegt an
der europapolitischen Tradition dieses Hauses -, dass
der Bundestag einen Vertrag gegen den ausdrücklichen
Willen des Europäischen Parlaments ratifiziert. Deshalb
darf in diesem Punkt auf keinen Fall der Verfassungsentwurf verändert oder verwässert werden.
({6})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, an diesem
Wochenende beginnt das Konklave. Ich halte es für
wichtig, dass man dort vorankommt und dass das Zeitfenster nicht aufgemacht wird. Die CDU/CSU unterstützt die Bundesregierung bei der Erreichung ihres
Ziels, den Verfassungsvertrag nahe am Konventsentwurf
ohne fundamentale Änderungen zu verabschieden. Entscheidend ist aber, Herr Fischer, dass die Bundesregierung nicht nur das Richtige will, sondern auch das Richtige durchsetzt. Da erwarte ich nachhaltigeren und
klareren Einsatz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Austermann das Wort für die
Möglichkeit einer Entschuldigung.
({0})
Frau Präsidentin, Sie haben mich gebeten, mich beim
Kollegen Volmer zu entschuldigen.
Vorausgegangen waren mehrere Zurufe von der linken Seite des Hauses - und zwar von der Kollegin Roth,
die inzwischen nicht mehr anwesend ist - an die Adresse
des Kollegen Glos, er sei ein Hetzer und Rassist. Aus
dieser Ecke konnte man weitere ähnliche Vokabeln hören.
Ich habe diesen Ausdruck gegenüber dem Kollegen
Volmer benutzt, weil ich den Eindruck hatte, dass sein
Hinweis, der Vater der Kollegin, die er angesprochen
hat, sei ein Wehrmachtsoffizier gewesen, einen ganz bestimmten Gedanken insinuieren sollte.
({0})
- Was sollte sonst der Hinweis? - Wenn man auf diese
Weise versucht, eine Verknüpfung zwischen dem Beruf
des Vaters und der Aktivität der Tochter herzustellen,
dann erinnert das an Sippenhaft.
({1})
Ich bitte um Verständnis, dass ich mich aufgrund dieser Situation beim Kollegen Volmer so lange nicht entschuldige, solange er den Vergleich nicht zurücknimmt.
({2})
Das Wort hat der Kollege Lothar Mark, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns in den
Haushaltsberatungen zum Einzelplan 05, also zum Einzelplan des Auswärtigen Amtes, befinden.
({0})
Weder Kollege Stübgen noch Kollege Dr. Schäuble haben diese Tatsache ausreichend berücksichtigt.
({1})
Die Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten
Jahren international erheblich an Gewicht gewonnen.
Mit unseren Freunden und Partnern sehen auch wir uns
seit längerem vor neue Herausforderungen gestellt: bei
der Konfliktprävention und Krisenbewältigung, bei der
Vertiefung und Erweiterung der EU, bei der Stärkung
der Vereinten Nationen, bei der Bekämpfung des Terrorismus, aber auch auf vielen anderen Feldern. Darin sehen wir im Bereich unserer Außenpolitik einen wichtigen Teil unserer Aufgaben bei der Zukunftsgestaltung.
Diese Entwicklung stellt neue Anforderungen an den
auswärtigen Dienst: weltweite Präsenz und schnelle Reaktionsfähigkeit in Krisensituationen. Gleichzeitig tritt
die klassische Diplomatie angesichts weltweiter Vernetzung mehr und mehr in den Hintergrund. Neue Instrumente der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Interessenvertretung wie die Public Diplomacy gewinnen an Bedeutung. Die Geiselnahmen der letzten Monate und Jahre haben schlaglichtartig deutlich gemacht,
welche Anforderungen mittlerweile an den auswärtigen
Dienst durch die Betreuung von deutschen Touristen,
Wirtschaftstouristen, NGOs und anderen deutschen Organisationen gestellt werden.
Die Aufwertung der Konfliktbewältigung und der
Krisenprävention ist ein Eckstein der Außenpolitik der
Bundesregierung und der Regierungskoalition.
({2})
Deshalb soll dieser Bereich nach dem Willen der rotgrünen Haushälter im Jahr 2004 mit zusätzlich insgesamt 897 000 Euro ausgestattet werden. Davon fließen
300 000 Euro in die Programmarbeit von zehn neuen
deutschen Kulturzentren in Mittel- und Osteuropa.
({3})
Im Rahmen des angestrebten Ausbaus der kulturpolitischen Präsenz in der Region bilden diese eine innovative, kostengünstige und deshalb effektive Ergänzung an
den Orten, wo Goethe-Institute weder erhalten noch eröffnet werden können. Dieses Beispiel einer Public Private Partnership wird dankenswerterweise gemeinsam
mit der Robert-Bosch-Stiftung realisiert.
({4})
Im weiteren Sinne gehören dazu auch die begonnenen
Maßnahmen der Deutschen Welle in Afghanistan. In
den Jahren 2002 und 2003 wurden im Rahmen des Antiterrorprogramms Gelder bereitgestellt. Die Deutsche
Welle musste aber auch aus dem eigenen Budget zusätzliche Mittel erwirtschaften. Es zeichnet sich ab, dass
auch im Jahre 2004 für das Afghanistanprogramm Mehrkosten in beträchtlicher Höhe anfallen werden. Diese
müssen mit Unterstützung des Bundes aufgefangen bzw.
abgemildert werden. In Mazedonien und im Kosovo hat
die Deutsche Welle gezeigt, dass sie einen gewichtigen
Beitrag zur Demokratisierung und Friedenskonsolidierung in der Region leisten kann.
({5})
In Afghanistan hat sie als internationale Agentur die
Aufgabe, den Aufbau des afghanischen Fernsehens zu
sichern und durch die Ausstrahlung von Sendungen in
Dari und Paschtu die Etablierung demokratischer Strukturen zu unterstützen.
({6})
Hinzu kommt, dass der Bundeswehreinsatz in Kunduz
erhebliche Erweiterungen des Programms mit sich
bringt. In einem Land mit mehr als 60 Prozent Analphabeten haben Radio und Fernsehen für die Vorbereitung
der Verfassungsdiskussion und demokratischer Wahlen
verstärkte Bedeutung. Wir haben deshalb für das Afghanistanprogramm der Deutschen Welle beim Kapitel
„Programmarbeit“ in einem neuen Untertitel den Ansatz
um 600 000 Euro erhöht. Den Titel „Humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland außerhalb der Entwicklungshilfe“ haben wir auf 41 Millionen Euro erhöht und den
Titel „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe“ mit
18,5 Millionen Euro auf hohem Niveau gehalten.
({7})
Ein Fortschritt dabei ist, dass beide Positionen bis zu einem Betrag von 2 Millionen Euro jetzt gegenseitig deckungsfähig sind, um bei der Verwendung der Gelder
eine größere Flexibilität zu erreichen.
Beim humanitären Minenräumen gehört Deutschland zu den am stärksten engagierten Ländern. Diese
Aufgabe darf weltweit nicht vernachlässigt werden. In
82 Ländern sind zwischen 60 Millionen und 100 Millionen Minen verlegt worden. Jährlich sterben 15 000 bis
20 000 Menschen durch Minenexplosionen. Trotz der
Ottawa-Konvention von 1997 werden weiter Antipersonenminen verlegt.
Die neuerliche Kritik des Bundesrechnungshofes am
Handling des Minenräumens muss vom Auswärtigen
Amt aufgegriffen werden. Das Problem sollte baldigst
im vorgeschlagenen Sinne gelöst werden, wenngleich
nur noch ein kleiner Rest der ursprünglichen Kritik geblieben ist.
Die überzeugende und engagierte Vorstellung des Einzelplans Bildung und Forschung gestern Abend durch
den Kollegen Carsten Schneider wird durch den Mitteleinsatz im Bereich der auswärtigen Bildungs- und
Kulturpolitik noch komplettiert. Der Etat für Studienprogramme und Wissenschaftsbeziehungen wurde auf
dem Niveau des Haushaltsansatzes 2003 gehalten. Auf
diesen Teil der Projektförderung entfallen 132,4 Millionen Euro. Damit kommt der von der Bundesregierung
bereits für den Haushalt 2002 zum Ausdruck gebrachte
Wille, den Wissenschaftsstandort Deutschland nachhaltig zu stärken, erneut zum Tragen.
Der DAAD erhält von diesen Mitteln etwa 56 Millionen Euro, die Humboldt-Stiftung etwa 21 Millionen
Euro, die politischen Stiftungen etwa 7 Millionen Euro.
Dem Wissenschaftsaustausch fließen fast 40 Millionen
Euro zu. Der Etat für das Auslandsschulwesen erfährt
ebenfalls keine Kürzung und ist mit 179,9 Millionen
Euro ein besonderer Beweis für unser Bildungsengagement. Innerhalb dieser Titelgruppe 02 sind alle Positionen
gegenseitig deckungsfähig. Dies gilt auch für die Titelgruppe 03, Baufonds und Schulen. Hier wurde zudem
eine Etaterhöhung von 19,2 Millionen Euro auf 20,5 Millionen Euro vorgenommen. Damit erhält das Auswärtige
Amt in diesem Bereich eine hohe Flexibilisierung und
kann die Mittel effizient einsetzen.
Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist sehr
vielfältig gefächert. Meine Kollegin Monika Griefahn
wird noch näher darauf eingehen.
Die institutionelle Förderung der allgemeinen Auslandskulturarbeit ist mit über 148 Millionen Euro auf hohem Niveau etatisiert. Wir müssen meines Erachtens
auch in Zukunft darauf achten, dass im gesamten Bereich der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik nicht
gekürzt wird, da dieser Sektor zu den rentierlichen Investitionen gehört und Zukunftssicherung für unser Land
und unseren Wohlstand darstellt.
({8})
Die ausgezeichnete Arbeit des Deutschen Archäologischen Instituts erkennen wir mit einem Aufsatz von
850 000 Euro gegenüber dem Regierungsentwurf an.
Um den hohen Rang des Instituts im internationalen Vergleich zu sichern, wurden zusätzliche Gelder für Wissenschaft, Forschung und Veröffentlichungen bereitgestellt.
In ähnlicher Weise muss auch mit den Titeln „Deutsche Sprache im Ausland“ und „Internationale Aktivitäten gesellschaftlicher Gruppen“ verfahren werden. Zu
dem Letzteren will ich insbesondere das segensreiche
soziale Engagement der Kirchen im Ausland hervorheben.
In diesem Zusammenhang ist auch die Erhöhung der
Mittel für die Förderung der internationalen Sportbeziehungen um 325 000 Euro zu sehen. Wir wollen damit
mehr Werbung für die Fußballweltmeisterschaft 2006 in
Deutschland und für die Olympiabewerbung Leipzigs
2012 ermöglichen.
({9})
Obwohl an anderer Stelle etatisiert, zähle ich hierzu auch
die wertvolle Arbeit der politischen Stiftungen im Ausland,
die dafür 10,5 Millionen Euro erhalten. Sie stehen für die
Wertevermittlung unserer politischen Kultur, für Demokratisierung, Menschenrechte, politische Bildung, Dezentralisierungsfragen, Strukturaufbau und vieles andere
mehr.
Ich habe die wichtigsten Erhöhungen bei den Etatpositionen des auswärtigen Haushalts erwähnt und auf besondere Schwerpunkte unserer politischen Arbeit hingewiesen. Den Erhöhungen stehen nach unserem
Haushaltsverständnis natürlich Kürzungen innerhalb des
Auswärtigen Amtes gegenüber. Es handelt sich also um
Umschichtungen. Reduktionen wurden unter anderem
bei den Titeln „Öffentlichkeitsarbeit“, „Beiträge an Organisationen und Einrichtungen im internationalen
Bereich“ und „Deutscher Beitrag zur Beseitigung von
Massenvernichtungswaffen“ vorgenommen, wo diese
verantwortbar erschienen.
Um den vielfältigen Herausforderungen in der Außenpolitik gerecht zu werden, hat das Auswärtige Amt
längst tief greifende und umfassende Reformen eingeleitet. Als Haushälter begrüße ich die Energie hinsichtlich der Durchführung von Reformen und wünsche mir
unter anderem weitere Fortschritte bei der Kosten-Leistungs-Rechnung, der Flexibilisierung, der Budgetierung
und dem Lean/Management.
Vor dem Hintergrund der weiterhin angespannten
Haushaltslage bedeutet effizientes Management, dass
man sämtliche Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpft,
um mit weniger Ressourcen mehr leisten zu können.
Dies ist meiner Ansicht nach nur möglich, wenn wir das
Mikromanagement im kameralen Haushaltsrecht allmählich überwinden und so verfahren, wie es in den
meisten Kommunen, in vielen Bundesländern und vielen
Partnerländern üblich ist, nämlich auch beim Bund neue
betriebswirtschaftliche Steuerungsinstrumente nicht nur
punktuell auszuprobieren, sondern sie als System zu begreifen, einzuführen und zu nutzen.
({10})
Das Auswärtige Amt ist da auf einem guten Weg und
wird diesen fortsetzen.
Dennoch müssen wir auch erkennen, dass die Grenze
der finanziellen und personellen Belastbarkeit im
Auswärtigen Amt am Horizont bereits zu sehen ist. Wegen der qualitativen und quantitativen Aufgabenmehrung benötigt das Auswärtige Amt auf Dauer, wie bereits
erwähnt, moderne strukturelle Anpassungen und eine
ausreichende finanzielle Ausstattung, die wir mit unserem Konsolidierungskurs zusätzlich sichern wollen. Die
Reformpakete der Bundesregierung werden nicht nur
Wachstum nachhaltig ankurbeln; sie rechtfertigen auch
unseren Optimismus, damit die psychologischen Sperren
in vielen Köpfen überwunden werden und die Schwarzmalerei der Medien widerlegt wird.
({11})
Nur mit Optimismus und klaren Vorgaben kann man etwas bewegen. Dafür stehen wir und unterstützen die Politik der Bundesregierung und des Außenministers.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Dr. Schäuble
hat in seinem Vortrag behauptet, dass die deutsche Außenpolitik keine Prioritäten aufzuweisen habe und die
äußeren Interessen vernachlässige. Das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen! Ich wiederhole:
Sie haben in den Haushaltsberatungen in diesem Bereich
nicht einen einzigen Antrag eingebracht, in dem Sie hätten deutlich machen können, wo Sie neue Akzente setzen wollen.
({12})
Wenn Sie kritisieren, dann müssen Sie auch sagen, an
welcher Stelle Sie etwas verändern wollen und an welcher nicht.
Außerdem haben Sie gesagt, Deutschland sei als Partner nicht mehr so verlässlich wie zu Ihrer Regierungszeit. Wir sind heute sehr verlässlich. Allerdings gehören
wir nicht zur Koalition der Willigen und nicht zu den
Abnickern, sondern treten selbstbewusst auf und verhalten uns wie Partner auf gleicher Augenhöhe.
({13})
Wir setzen uns für Multilateralismus, die Präferenz der
Vereinten Nationen und eine Aufwertung des Weltsicherheitsrates ein. Deswegen muss ich dem, was Sie gesagt haben, widersprechen.
Abschließend möchte ich an alle Berichterstatter für
den Haushalt des Auswärtigen Amtes ein herzliches
Dankeschön richten. Während der Beratungen im Ausschuss und bei den Berichterstattergesprächen herrschten ein sehr gutes Klima und große Offenheit. Dem Auswärtigen Amt möchte ich eine vorzügliche und
konstruktive Zusammenarbeit bescheinigen. Auch dafür
bedanke ich mich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Stinner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erstmals in ihrer Geschichte berät und beschließt die Europäische Union in diesen Tagen eine
gemeinsame europäische Sicherheitsstrategie. Dies ist
ohne jeden Zweifel ein sehr notwendiger und wichtiger
Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Hätten wir doch schon vor zwei
Jahren eine solche Strategie gehabt, wie viel Ärger,
Streit und Missmut hätten wir uns in Europa dadurch ersparen können.
({0})
In dem Solana-Papier steht viel Wichtiges und Richtiges; das unterstützen wir voll. Genauso wichtig ist aber,
was nicht darin steht. Die Rolle der NATO wird in diesem Papier nämlich überhaupt nicht näher beschrieben.
Das ist wichtig für uns. Die NATO wird nur viermal erwähnt, davon zweimal eher beiläufig.
Nach unserem gemeinsamen Verständnis war die
NATO bisher der gemeinsame Rahmen unserer Sicherheitspolitik und die Basis für unsere Sicherheit. Gerade
wir in Deutschland wissen doch besser als viele andere
in Europa und in der Welt, welche Bedeutung die NATO
für unsere Sicherheit und unsere Existenz in Deutschland gehabt hat. Wir wissen auch, dass wir Europäer
ohne NATO militärisch nicht leistungsfähig sind. Ohne
die NATO können wir unsere eigene Sicherheit nicht gewährleisten, geschweige denn die neuen Herausforderungen bewältigen.
Wenn wir dieses Papier, in dem es nur eine minimale
Beschreibung der Rolle der NATO gibt, also ernst nehmen
würden, dann würde das wirklich einen erheblichen Paradigmenwechsel der bisherigen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bedeuten. Das wäre ein erheblicher Bedeutungsverlust für die NATO und das könnte der Anfang
vom Ende der NATO sein. „NATO first“ - das wurde in
den letzten Monaten in Deutschland durchaus wieder gesagt - würde dann jedenfalls nicht mehr gelten. Die
NATO wäre dann eher ein Hilfsaggregat für die deutsche
und europäische Sicherheitspolitik.
Darüber hinaus gibt es zwischen dieser europäischen
Sicherheitsdoktrin und der amerikanischen National Security Strategy erhebliche Unterschiede.
({1})
Diese betreffen erstens die Gewichtung der militärischen
und nichtmilitärischen Prävention und zweitens die Notwendigkeit und den Umfang eines multilateralen Vorgehens. Sie sagen: „Gott sei Dank“. Das ist völlig richtig.
Ich sage nur - deshalb komme ich auf die NATO -: Diese
bestehenden Unterschiede - Sie sagen, dass sie Gott sei
Dank bestehen - innerhalb unseres Bündnisses müssen
auf jeden Fall, bevor zum Beispiel wir die NATO Response Force erstmals einsetzen, im Rahmen des Bündnisses besprochen und diskutiert werden. Wir müssen
eine Kompatibilität im Bündnis schaffen. Dafür muss
die NATO auch in Zukunft der Rahmen sein.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, falls Sie diese Bedenken teilen, dann müssen Sie
die Rolle der NATO näher erläutern und klären. Falls Sie
diese Bedenken nicht teilen, dann müssen Sie uns, dem
Deutschen Bundestag, und auch der Bevölkerung erläutern, mit welcher Organisation Sie in Zukunft die Sicherheit für Deutschland herstellen wollen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union
verfolgen mit ihrer Außenpolitik im Wesentlichen folgende fünf Schwerpunkte:
Der erste ist die europäische Einigung, bei der wir uns
in einem entscheidenden Abschnitt befinden.
Der zweite ist die Erneuerung des transatlantischen
Bündnisses mit einem zusammenwachsenden Europa,
das sich in einem sehr dynamischen Einigungsprozess
befindet.
Der dritte ist der Kampf gegen den internationalen
Terrorismus.
Der vierte Schwerpunkt ist ebenfalls sehr wichtig und
auch darauf bezogen, nämlich die Reform der Vereinten
Nationen. Es geht dabei um die Entwicklung einer wirklich auf gemeinsame Grundsätze im internationalen
Recht, auf die Gleichheit aller beteiligten Staaten und
Völker und auf Kooperation gründenden multilateralen
Weltordnung, die einen effektiven Multilateralismus bedeutet, aufgrund dessen man in der Lage ist, zu handeln
und durchzugreifen, wo es notwendig ist, und durch den
im 21. Jahrhundert die Teilhabe möglichst vieler Menschen an den Segnungen des Fortschritts, der sozialen
Gerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und der Menschenrechte ermöglicht wird. Dies alles heißt für uns schließlich fünftens positive Globalisierung.
({0})
Lassen Sie mich die einzelnen Punkte kurz durchgehen. Im europäischen Einigungsprozess stehen wir
jetzt vor entscheidenden Schritten, vor allem vor dem,
die Ergebnisse des Konvents, die europäische Verfassung, in Form einer Regierungskonferenz festzuschreiben. Wenn man einmal die rhetorischen Differenzen
weglässt, gibt es da eigentlich ein hohes Maß an Übereinstimmung. Das zeigt gerade auch die Kooperation
zwischen Bundes- und Ländervertretern in der Regierungskonferenz und im Konvent. Insofern begreife ich
die Beiträge sowohl im Ausschuss als auch hier eher als
Unterstützung unserer gemeinsamen Position. Wie ich
sehe, gibt es nur geringe Nuancierungen. Ich möchte das
nicht weiter vertiefen. Wir werden alles versuchen, um
auf der Grundlage und bei weitgehender Erhaltung des
existierenden Verfassungsentwurfs einen Erfolg zu erreichen.
({1})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch zwei
Punkte ansprechen. Der erste Punkt ist das deutsch-polnische Verhältnis. Ich bedaure es zutiefst, dass es im
deutsch-polnischen Verhältnis zu einer belastenden Diskussion aus der Vergangenheit gekommen ist. Ich sage
Ihnen ganz offen: Ich habe den Schaden, der dabei in Polen angerichtet wurde, unterschätzt. Zu Recht wurde gesagt, wir sollten auch die Position der Union verteidigen.
Sie können davon ausgehen, dass ich das tue, weil ich um
die Bedeutung der Integrationsleistung für viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene der beiden großen Volksparteien - nicht nur der einen, sondern auch der anderen
Partei, aber eben gerade auch der Union - in der Vergangenheit weiß. Ich weiß, wie schwierig das in Ihren Reihen war; dafür habe ich Verständnis. Es nutzt ja nichts,
sich die politischen Kräfte so zu wünschen, wie man sie
selbst gerne hätte, wenn die Realität eine andere ist.
Beim deutsch-polnischen Grenzvertrag, der die Voraussetzung für die deutsche Einheit war, gab es solche
Schwierigkeiten. Kollege Schäuble, Sie wissen nur zu
gut, dass die deutsche Einheit nicht zustande gekommen
wäre, wenn der Vertrag nicht geschlossen worden wäre;
denn das wäre eine klare Absage an den Einheitsprozess
gewesen. Damit fängt das Problem an. Ich denke an Frau
Steinbachs Wirkung in Polen. Mit Polen meine ich nicht
die nationalistischen Kräfte, die es auch dort gibt, sondern vielmehr die Garanten und Sachwalter der deutschpolnischen Aussöhnung.
Ich erinnere an so herausragende Persönlichkeiten
wie den früheren Außenminister Bartoszewski oder den
früheren Außenminister Geremek. Auch andere hochrangige Persönlichkeiten haben die deutsche Besatzung
noch selbst erlebt und erinnern sich an die Tragödien
und die grausamen Verbrechen, die unser Land nach
1939 in Polen verursacht hat und die wir historisch zu
verantworten haben. Dass sich diese Menschen, auch
solche, die über viele Jahrzehnte hinweg der Christdemokratie nahe standen, heute fragen, ob sie gescheitert
sind, muss uns und vor allen Dingen Sie alarmieren.
({2})
Ich appelliere an die Union, zu begreifen, dass mit der
Art und Weise, wie hier diskutiert wird, ein riesiger
Schaden entsteht, der die Zukunft belastet. Dies darf gerade vor dem Hintergrund der großartigen europapolitischen Tradition nicht sein, die die Union ohne jeden
Zweifel hat. Wir vergeben uns überhaupt nichts, daran
zu erinnern.
Der zweite Punkt ist die Türkei. Beim Kollegen
Schäuble muss man immer ganz sorgfältig zuhören,
denn bevor er Außenpolitiker ist, ist er Jurist. Ich habe
ihm also sehr sorgfältig zugehört. Sie wollen, dass wir
mit der Türkei darüber reden, ob sie nicht damit zufrieden ist, auf der Grundlage einer neuen Nachbarschaftsbeziehung auf die Mitgliedschaft in der Europäischen
Union zu verzichten. Selbst wenn wir das tun, wage ich
die Prophezeiung: Die Türkei wird darauf bestehen, alle
Beitrittsbedingungen, die Kopenhagener Kriterien, die
wirtschaftlichen Voraussetzungen, die Bedingungen zum
Schutz der Menschenrechte und die Reform der Institutionen, zu erfüllen. Die Regierung Erdogan, die zu Beginn
mit viel Skepsis betrachtet wurde, hat in den vergangenen anderthalb Jahren mehr Reformen erreicht, als in
den vergangenen Jahrzehnten eingeführt worden waren.
Das muss man anerkennen, auch wenn noch viel zu tun
bleibt.
({3})
Ich frage Sie: Was ist die Konsequenz, wenn unsere
türkischen Freunde zu Recht auf den Beitritt pochen? Sie
haben darauf hingewiesen - ich habe Ihnen gut zugehört -, dass man Zusagen nicht einseitig kündigen kann.
Ob wir diese Zusage heute noch geben würden, ist eine
ganz andere Frage. Aber die Dinge sind, wie sie sind.
Als Konsequenz Ihrer Position, Kollege Schäuble, müssten Sie, wenn die Türkei eine neue NachbarschaftsbezieBundesminister Joseph Fischer
hung unterhalb der Mitgliedschaft ablehnt - sie wird sie
ablehnen, sie wird jede Anstrengung unternehmen, um
den Weg nach Europa als Vollmitglied zu gehen -, sagen: Auch wenn es mir nicht gefällt, muss ich der Aufnahme der Türkei, wenn alle Bedingungen erfüllt sind,
zustimmen.
({4})
Ich appelliere an Sie, diese Diskussion, bei der sich
viele türkischstämmige Mitbürgerinnen und Mitbürger,
die Deutsche geworden sind, ausgegrenzt fühlen, so
nicht zu führen. Die Rechnung wird nicht aufgehen.
Das können Sie auch am Beispiel von Herrn Bosbach
sehen. Ich glaube, der eigentliche Grund war ein anderer: Er hat daneben gegriffen,
({5})
und das sollte er richtig stellen. Angesichts der furchtbaren Terrorattentate darf man nicht die Verbindung herstellen, dass man dann, wenn man die Türkei nach Europa holt, auch den Terror nach Europa bringt.
({6})
Ich unterstelle ihm nichts Falsches, aber ich glaube
- hier ist der Zusammenhang mit Polen -, Sie haben
schlicht und einfach ein Problem mit Ihrem rechten Flügel. An den Reaktionen auf die Hohmann-Rede wurde
spürbar, das das Problem zunimmt. Herr Bosbach gehört
keineswegs zum rechten Flügel, aber er hat bei dem Versuch, zu integrieren, daneben gegriffen. Wenn das der
Maßstab für den Europawahlkampf wird, werden wir
eine weitere Beschädigung unserer außenpolitischen Interessen erleben.
({7})
Mein zweiter Punkt ist die Erneuerung des transatlantischen Bündnisses. In diesem Punkt sind wir näher
beieinander, als manche kontroverse Debatte vermuten
lässt. Es ist doch völlig klar, dass die transatlantischen
Beziehungen für beide Seiten, für Europa und für die
USA und Kanada, unverzichtbar sind. Sie sind ein Eckpfeiler für Frieden und Stabilität im 21. Jahrhundert, und
zwar regional, aber auch global. Niemand wird darauf
verzichten können.
Es wäre ein Widersinn und müsste direkt zum Scheitern führen, wollte man die europäische Einigung gegen
die USA vorantreiben. Die Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika, die Entscheidung, nach 1945 in Westeuropa politisch und militärisch präsent zu bleiben, ist
die erste historische Grundsatzentscheidung. Die Entscheidung von Schuman und Monnet - zwei großen
französischen Staatsmännern -, auf Integration zu setzen, war die zweite Grundsatzentscheidung. Beide
Grundsätze werden fortgelten, weil sich die Bedingungen nicht verändert haben.
({8})
Die Struktur hat sich aber verändert. Die erweiterte
NATO kennt mit Island und Norwegen nur noch zwei
Nicht-EU-Mitglieder und nur sechs Länder der erweiterten Union der 25 sind nicht im Bündnis. Alle anderen
sind entweder Mitglied oder haben Kandidatenstatus.
Wir befinden uns doch alle nicht im Zustand der Schizophrenie, dass wir einerseits in der NATO, andererseits in
der EU sind und plötzlich jeweils gegen die eigenen Interessen vorgehen. Ich glaube, wir denken bezüglich des
Verhältnisses der NATO zur EU noch nicht konsequent
genug.
Ich bin der Meinung, dass der europäische Integrationsprozess durch das Schließen der Defizite in der Willensbildung, bei den Institutionen und den militärischen Fähigkeiten, zu einem europäischen Pfeiler führen wird.
Auf der anderen Seite gibt es einen nordamerikanischen
Pfeiler und die neue NATO wird die Brücke zwischen
diesen beiden Pfeilern sein. Wenn man das so sieht, wird
man die Konsequenz ziehen müssen, dass nicht Konfrontation, sondern Kooperation und Ergänzung, eines
Tages vielleicht sogar Verflechtung die Zukunft bestimmen werden.
({9})
Mein dritter Punkt ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Auch in diesem Zusammenhang
ist die Kooperation über den Atlantik hinweg von entscheidender Bedeutung. Herr Kollege Schäuble, Sie haben da einen falschen Eindruck erweckt. Bei dem, was
wir jetzt leider erleben müssen, hätte ich mir geradezu
gewünscht, ein Schwarzmaler gewesen zu sein. Wir
müssen den Frieden gemeinsam gewinnen, selbst unter
schwierigsten Bedingungen. Aber ich bitte Sie, Herr
Schäuble, vergessen Sie nicht Ihre damalige Position
- ich möchte nicht zurückblicken - und unterstellen Sie
der Bundesregierung nicht, wir hätten irgendeinen Nachholbedarf. Es wird doch jetzt offensichtlich, dass wir aus
sehr guten Gründen davor gewarnt haben, in den Irak zu
gehen.
({10})
Sie meinen, in der Iranfrage seien die Europäer doch
einig gewesen. Ich freue mich, dass heute eine einstimmige Entscheidung im Board of Governors der Internationalen Atomenergie-Agentur möglich war. Jetzt aber zu
sagen, wenn wir in der Irakfrage ebenso einig gewesen
wären, hätten wir auch Einfluss gehabt, ist zu einfach.
Schauen Sie sich die Geschichte der Entscheidung Washingtons für den Irakkrieg an. Sie kennen sie. Wenn wir
überhaupt einen Einfluss gehabt hätten, dann nur, wenn
die Europäer in der Skepsis einig gewesen wären.
({11})
Wenn Sie das so meinen, dann wäre das allerdings meines Erachtens eine erhebliche Änderung Ihrer Position.
Ich würde das begrüßen.
({12})
Ich füge hinzu: Überschätzen wir uns nicht. Die Europäische Union war nicht für Krieg und Frieden gebaut. Wir
waren für eine Herausforderung wie den 11. September
noch nicht gebaut. Das müssen wir feststellen. Die Konsequenz daraus ist, dass wir mit dem strategischen Dokument von Solana daraus lernen. Die Bundesregierung
hat das Ihre dazu beigetragen, dass das auf den Weg gebracht und die Idee entwickelt wurde. Das ist ein ganz
wichtiger Gesichtspunkt.
Ich komme zum letzten Punkt. Der Kampf gegen den
internationalen Terrorismus wird nur zu gewinnen sein,
wenn man auf der einen Seite die militärische, geheimpolizeiliche und polizeiliche Dimension sieht - das ist
vielleicht ein Siebtel des Ganzen -, auf der anderen Seite
aber auch weiß, dass die positive Globalisierung zu
sechs Siebteln dafür verantwortlich sein wird, dass dem
Terrorismus der Boden entzogen wird. Die Hälfte der
Bevölkerung in der arabischen Welt ist unter 18 Jahre
alt. Wenn sich dort erst einmal eine Kultur der Selbstmordattentate durchgesetzt hat - sie ist im Begriff zu
entstehen -, dann werden wir die Büchse der Pandora
auf Jahre oder vielleicht noch länger nicht wieder zubekommen. Entscheidend für die Bekämpfung des Terrorismus wird sein, ob die jungen Menschen in der arabisch-islamischen Welt die Perspektive haben, an der
Globalisierung und am Fortschritt selbstbestimmt, gründend auf ihren kulturellen Traditionen, teilnehmen zu
können, oder ob sie die Globalisierung als Hegemonieund Unterdrückungsprojekt des Westens begreifen. Letzteres zu verhindern ist unsere entscheidende Aufgabe.
In diesem Zusammenhang gewinnt die Reform der
Vereinten Nationen eine eminente Bedeutung. Ich wage
die Prophezeiung, dass aus dieser Krise ein neu erstarkter Multilateralismus entstehen wird, der allerdings effektiver sein muss als derjenige vor der Irakkrise.
Das ist die Politik, die diese Bundesregierung voranzubringen versucht. In diesem Zusammenhang zu sagen,
Deutschlands Gewicht und Relevanz hätten abgenommen, ist schlichtweg unsinnig. Das Gegenteil ist der Fall.
({13})
Ich weiß, meine Damen und Herren von der Union, dass
Sie das gar nicht so anders sehen. Ich weiß, dass es eigentlich einen breiten Konsens hier im Hause gibt.
Lassen Sie mich kurz noch ein Letztes anführen. Ich
möchte mich bedanken, dass Kollege Mark ausführlich
auf die Haushaltssituation eingegangen ist. Die Haushaltslage ist schwierig. Das wissen wir. Es wird jetzt darauf ankommen, dass wir wieder Aufwuchs haben. Mit
„wir“ meine ich nicht nur den Minister und die Leitung
des Hauses, sondern die über 8 000 Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter aller Besoldungsgruppen im In- und
Ausland. Wir leisten heute wesentlich mehr - das Gewicht unseres Landes hat wesentlich zugenommen - mit
weniger Sachmitteln und weniger Personal.
Ich wünsche mir, dass wir dann, wenn es wieder Zuwächse gibt, wenn die Steuereinnahmen wieder fließen
und die konjunkturellen Signale positiv sind, die Unterstützung des Hauses für den notwendigen Aufwuchs bekommen. Denn wir werden auf Dauer nicht hinbekommen, dass wir mit weniger Mitteln und Personal mehr
leisten.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herbert
Frankenhauser.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, dass der Herr Minister zum Schluss seiner Ausführungen noch zwei Sätze zum Haushalt gefunden hat, was
doch zumindest den Anschein erweckt, dass wir uns in
der angekündigten Haushaltsdebatte befinden. Ich bitte
um Nachsicht, wenn ein weiterer Haushälter die traute
Runde stört und das wesentliche Problem aufgreift.
Kollege Mark hat aus mir unerfindlichen Gründen
Reformenergie entdeckt. Die wäre allerdings ausgesprochen notwendig, Herr Minister. Sie haben das Problem
erfreulicherweise selbst angesprochen. Was seit vielen
Jahren den Haushalt des Auswärtigen Amtes kennzeichnet, ist ein grundlegender Konstruktionsfehler. Er besteht darin, dass Sie bei einer ständig sinkenden Mittelund Personalausstattung immer mehr Aufgaben übernehmen müssen und wollen. Das erinnert mich an den
Versuch, eine hundert Mann starke Reisegruppe in einem Smart unterzubringen. Das kann auf die Dauer nicht
gutgehen.
Ich wünsche Ihnen etwas mehr Energie, auch bei
Nichtaufwüchsen beim Herrn Bundesfinanzminister die
notwendige Mittelausstattung einzufordern; auf ein
mögliches Gegengeschäft komme ich noch zurück. Soweit ich mich zurückerinnern kann, ist es das erste Mal,
dass sich der Personalrat des Auswärtigen Amtes wie
folgt geäußert hat:
Neuen Aufgaben und Herausforderungen stehen
eine immer geringer werdende Personaldecke und
immer knapper werdende Mittel gegenüber. Dies
wird dazu führen, dass der Auswärtige Dienst seine
Funktion im Dienste der Bürgerinnen und Bürger
dieses Landes, aber auch im Dienste einer zivilen
und gerechten Welt nicht mehr in vollem Umfange
ausfüllen kann. Zentrale Politikbereiche bleiben
personell unterbesetzt. Die notwendigen Mittel, um
außenpolitisch nicht nur zu reagieren, sondern auch
zu gestalten, sind nicht mehr vorhanden.
Ich meine, dies macht deutlich, dass in der Bundesregierung ein Umdenken bezüglich der Personal- und Mittelausstattung erforderlich ist.
({0})
Es ist erschütternd, dass die Koalition seit gestern immer wieder Krokodilstränen vergießt und beklagt, wir
würden keine Anträge stellen. Sie meint, das sei ungeheuer schlimm, weil andernfalls die HaushaltsberatunHerbert Frankenhauser
gen eine andere Richtung genommen hätten. Ich bitte jemanden aus der Koalition, der sich besonders gut
erinnert, mir zu verraten, welcher Sachantrag der Opposition jemals die Zustimmung der Koalition gefunden hat.
Ich kann Ihnen ein schönes Beispiel dafür nennen. Wir
hatten im Frühjahr, als es im Zusammenhang mit dem
sich abzeichnenden Irakkrieg um die humanitäre Hilfe
ging, einen Antrag mit der Forderung vorgelegt, 13 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Das hat die Koalition mit der Begründung abgelehnt, dieser Betrag reiche
bei weitem nicht aus; notwendig seien vielmehr 40 Millionen Euro. Ein entsprechender Beschluss konnte aber
nicht gefasst werden; dies sollte zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Dieser Zeitpunkt ist bis heute
nicht eingetreten. Bereitgestellt wurden maximal 15 Millionen Euro. Wir haben also durchaus richtig gelegen,
aber die Koalition wollte unserer Forderung nicht zustimmen. Darum sind die Krokodilstränen, die darüber
vergossen werden, dass wir während der Haushaltsberatungen keine Anträge gestellt hätten, der Gipfel der Heuchelei.
({1})
Herr Außenminister, für Ihre künftigen Gespräche mit
dem Herrn Bundesfinanzminister verweise ich auf den
schönen Titel „Zuschüsse zu Vorhaben zur Förderung
des europäischen Gedankens“, der am Montag und
Dienstag wichtig gewesen wäre.
({2})
Vielleicht können Sie diesen Titel mit berücksichtigen.
Es muss schließlich nicht alles in der Imagepflege landen.
Sie haben heute darauf hingewiesen, dass ich im
Haushaltsausschuss Gelegenheit gehabt hätte, über den
ISAF-Einsatz in Afghanistan zu diskutieren. Ich habe
mich wenig begeistert über den Einsatz der zwei
Schweizer Offiziere geäußert. Das nehme ich ausdrücklich zurück. Ich begrüße diesen Einsatz, aber es bleibt
bei der Kritik, dass er auf europäischer Ebene nicht abgestimmt ist. Denn es hat sich - das hat Ihr Haus bestätigt - herausgestellt, dass es im europäischen Verbund
immer noch darum geht, drei Hubschrauber zur Verfügung zu stellen. Vielleicht gelingt es Ihnen mit einem besonderen Einsatz, dies zu erreichen.
Ich appelliere aber noch einmal sehr energisch an Sie,
vor allen Dingen im Interesse der sehr engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswärtigen Amt eine
wirklich notwendige Kehrtwendung herbeizuführen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
letzten Stunden haben wir bereits die Konflikte im Hinblick auf die Türkei, Polen, Afghanistan und den Irak erörtert. Dabei wurde deutlich, dass die Außenpolitik und
insbesondere der Teil, den Kollege Genscher immer als
die dritte Säule der Außenpolitik bezeichnet hat, nämlich
die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
({0})
- aber auch Herr Genscher -, vor Aufgaben stehen, die - dies
wird durch die jüngsten terroristischen Anschläge in der
Türkei noch verstärkt - zu Herausforderungen werden.
Auch hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir die
Brücke zwischen Europa und der Türkei als einem islamisch geprägten Land stabilisieren. Dabei haben gerade
die Programme, die in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in den Jahren seit dem 11. September 2001
aufgelegt worden sind, eine ganz wesentliche Bedeutung.
Die deutsche Außenpolitik setzt auf die Zivilisierung
der internationalen Beziehungen: auf Regelwerke für
politisches Handeln sowie Wege zur Demokratie und zu
weniger militärischen Auseinandersetzungen. Herr Kollege Fischer hat es eben angeführt: In den arabischen
und asiatischen Staaten sind 50 Prozent der Bevölkerung
unter 18 Jahren und 70 Prozent der Bevölkerung unter
30 Jahren. Genau diese Menschen müssen wir erreichen,
denn sie werden die künftigen Eliten darstellen und die
Politik machen. Das ist mit Ausbildung, mit Kultur, mit
Begegnungen und Treffen möglich, also mit Maßnahmen, die über die reine politisch-diplomatische Ebene
hinausgehen. Dafür müssen wir Energie und Geld aufbringen.
Bei allen Problemen, die es in Afghanistan gibt, sehe
ich in der dortigen Arbeit ein gutes Beispiel: Auf der einen Seite setzen wir Soldaten ein, auf der anderen Seite
bilden wir Polizisten aus, die für unmittelbare Sicherheit
sorgen. Nach den Petersberger Beschlüssen engagieren
wir uns aber vor allem im Kultur- und Bildungsbereich.
Ich empfand es als sehr bewegend, die Eröffnung des
Goethe-Instituts und der Amani-Oberrealschule im September in Kabul besuchen zu können. Die deutsche Unterstützung beim Aufbau weiterer Schulen sowie vieler
Projekte für Frauen und Kinder hat dazu geführt, dass
die Bundesrepublik in Afghanistan einen hervorragenden Ruf genießt. Auch die Arbeit der Soldaten vor Ort
ist auf Bildung und Kultur ausgerichtet; mit Radiosendern und Zeitungen informieren sie die Bevölkerung
konkret über den jetzt anstehenden Verfassungsprozess.
Hier ist unser Geld richtig gut angelegt. Dies müssen wir
weiterführen.
({1})
Das Interesse an Deutsch als Fremdsprache ist nicht
nur in Afghanistan, sondern auch in vielen Ländern Osteuropas, in Lateinamerika und selbst in Indien so groß,
dass die Nachfrage zum Teil nicht befriedigt werden
kann. In Afghanistan sind jetzt Deutschkurse angelaufen, an denen bereits 60 Schüler - Mitarbeiter aus dem
Außenministerium und Journalisten - teilnehmen; auch
ist dort ein Deutschkurs für Polizisten geplant. Daran ist
zu erkennen, dass Deutsch keine aussterbende Sprache
ist, sondern ein wichtiges Mittel für die Anbindung an
Deutschland, an unsere Kultur, aber auch an unser Demokratieverständnis sowie an unser Verständnis von
Menschenrechten darstellt.
({2})
Überall herrscht allerdings Mangel an Lehrkräften.
Daher brauchen wir eine Lehrerausbildung vor Ort.
Wir brauchen Lehrer für die Goethe-Institute und die anderen Kulturinstitute in den Ländern, in denen eine entsprechende Nachfrage vorhanden ist. Dies ist eine aktive
Entwicklung von Zivilgesellschaft. Das kann man zum
Beispiel am deutschen Sprachinstitut in Teheran ganz
deutlich sehen: In diesem Institut gibt es eine ganz eigene Kultur, es ist ein Ort der Begegnung, aus dem heraus sich Demokratie und ein neues Miteinander entwickeln können.
Auch die Nachfrage nach dem Studienort Deutschland
wächst. Die jungen Menschen erkennen, welche Alternativen wir zu den USA und Großbritannien bieten. Herr
Mark hat schon darauf aufmerksam gemacht, dass wir
einen großen Teil der Mittel für Studienprogramme ausgeben. 556 Millionen Euro - das ist ein Viertel des
Haushalts des Auswärtigen Amts - sind für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik veranschlagt. Jeweils
ein Viertel davon sind für Goethe-Institute, für Wissenschafts- und Bildungsprogramme und für den DAAD reserviert. Dort wird eine wirklich wichtige Arbeit geleistet; denn die Kulturkontakte bieten eine Möglichkeit,
unterhalb der diplomatischen Ebene und überall dort, wo
Kontakte schwierig sind, Menschen zu erreichen. Das ist
gerade in den Ländern, zum Beispiel im Iran oder auf
Kuba, wichtig, mit deren Regierungen wir überhaupt
nicht einverstanden sind.
({3})
In diesen Ländern müssen wir die Kulturarbeit als wesentliche Grundlage des Dialogs begreifen, die den dort
lebenden Menschen Kontakte zu anderen Menschen und
Zugang zu anderen Informationen ermöglicht. Kollege
Mark hat bereits das Programm der „Deutschen Welle“
in Afghanistan erwähnt. Auch die Ausbildung von Journalisten und Technikern gehört zu diesem Programm.
Ich bin sehr froh, dass zusätzliche Gelder für dieses Programm eingestellt werden konnten, nachdem es zuerst
auf null zurückgefahren worden war.
({4})
Große Sorgen bereitet mir das sehr positiv angelaufene
Programm „Europäischer Dialog mit dem Islam“, aufgrund dessen 27 junge Islamwissenschaftler, die Crème
de la Crème aus Deutschland, eingestellt worden sind.
Das Geld und die Stellen sind zwar weiterhin vorhanden.
Aber die momentanen Stelleninhaber müssen ihre Stellen Mitte nächsten Jahres aufgeben, weil ihre Zeitverträge auslaufen. Wir sollten uns bemühen, das Knowhow, das wir hier bekommen haben - es handelt sich
quasi um ein Frühwarnsystem, das in die entsprechenden
Länder hineinreicht -, zu erhalten, und Möglichkeiten
finden, diese jungen Menschen, die die Besten sind, die
auf dem Markt zu haben waren, in Deutschland zu halten. Darüber sollten wir uns noch einmal Gedanken machen.
({5})
Ein weiterer wesentlicher Bereich sind unsere Auslandsschulen. Es gibt 70 000 Schüler in 117 Auslandsschulen,
die ein Ort der Begegnung geworden sind. Die Mittel für
die Auslandsschulen sind im letzten Jahr um 5 Millionen
Euro gesteigert worden und haben sich nun bei 180 Millionen verstetigt. Das halte ich für notwendig. Ich habe
bei einem Besuch in Südafrika gesehen, dass unsere
Auslandsschulen wirklich etwas für die Integration sozial schwacher Schüler und für die Anbindung an
Deutschland leisten. Ich glaube, dass wir solche Projekte
und Modellversuche weiterführen sollten und dass wir
deren Wert gar nicht hoch genug einschätzen können;
denn dadurch werden in den entsprechenden Ländern die
Grundlagen für Demokratie und Menschenrechte geschaffen. Die Menschen, die an solchen Projekten und
Modellversuchen teilnehmen, erleben eine andere Diskussionskultur und haben gleichzeitig eine Anbindung
nicht nur an Großbritannien und die USA, sondern auch
an Deutschland. Sie sind damit für uns Multiplikatoren
und Botschafter in ihren Ländern. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.
({6})
Herr Mark hat bereits erwähnt, dass wir ebenfalls - Gott
sei Dank - die Mittel für den Baufonds erhöhen konnten.
Eine wesentliche Aufgabe, die aus diesem Fonds finanziert
wird, ist die Arbeit in Osteuropa. Wir haben - das finde ich
sehr wichtig - intensiv darüber nachgedacht, wie wir Europäer im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gemeinsam auftreten können. Ein wesentliches
Projekt ist das deutsch-französische Kulturinstitut in
Moskau. Das ist das richtige Signal, um zu zeigen, dass wir
etwas gemeinsam machen. Das wird nicht nur an Lesesälen
in verschiedenen osteuropäischen Ländern, sondern auch an
solchen Instituten deutlich. Wir Deutsche sollten ruhig an unserer Kultur, unserer Sprache und unseren Programmen festhalten. Wenn wir Europäer aber noch stärker gemeinsam auftreten, dann können wir sicherlich dazu beitragen, dass die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich
eine Politik der Prävention, der Konfliktvermeidung sowie des Dialogs und der Annäherung ist. Wir haben bereits gezeigt, dass wir das können. Deutschland und
Frankreich haben schließlich über Jahrhunderte Krieg
gegeneinander geführt und haben jetzt gemeinsame Institute und arbeiten politisch eng zusammen. Das ist ein
schönes Beispiel, das zum Nachahmen reizt.
({7})
Wie der Kollege Fischer wünsche auch ich mir, dass
es uns im nächsten Jahr gelingen wird, den HaushaltsanMonika Griefahn
satz zu verstetigen - Kultur- und Bildungsarbeit ist im
Vergleich zu militärischen Einsätzen preiswert -,
({8})
und dass das ganze Haus in diesem Sinne verstärkt tätig
wird.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Gesine
Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Noch nie war die deutsche Außenpolitik nach dem
Zweiten Weltkrieg so militärisch wie unter der rot-grünen Bundesregierung. Die Abstimmungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr im Bundestag sind zu einer fast alltäglichen Routine geworden. Die Ausgaben
für internationale Einsätze der Bundeswehr steigen jedes
Jahr: Wurden im Jahr 1998 noch 182 Millionen Euro ausgegeben, so waren es im Jahre 2002 bereits über 1,5 Milliarden Euro. Das ist eine Steigerung fast um den Faktor
zehn in fünf Jahren. Solche Wachstumsraten finden Sie
in keinem anderen Bereich.
Sie müssen sich schon fragen lassen, was diese kostspieligen militärischen Einsätze außenpolitisch tatsächlich bewirkt haben.
({0})
Nehmen wir den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.
Das Ziel war doch, in „uneingeschränkter Solidarität“ - so
hieß es damals - mit der Bush-Regierung einen Schlag gegen den internationalen Terrorismus durchzuführen.
Wir wissen, dass es in dieser Welt noch nie so viel Terrorismus gab wie heute und dass jeden Tag neue Opfer hinzukommen. Die Bush-Regierung ist mit ihrem Krieg gegen den Terrorismus gescheitert. Man kann Terror nicht
mit Terror bekämpfen. Man kann den Kampf gegen den
Terror gewinnen, den Krieg gegen den Terror nicht.
({1})
Ich möchte ein Wort zum Irakkrieg sagen. Wir haben
die Bundesregierung darin unterstützt, diesen Krieg abzulehnen. Sie hatte auch die Unterstützung der Mehrheit
der Bevölkerung auf ihrer Seite. Aber es darf nicht verschwiegen werden, dass die Regierung diesen Krieg logistisch unterstützt hat, indem den Vereinigten Staaten
von Amerika Militärbasen sowie Krankenhäuser zur
Verfügung gestellt und Überflugrechte gewährt wurden.
Wir müssen uns jetzt gegen eine neue Logik des Wettrüstens wehren. Es ist aus der Sicht der PDS der falsche
Weg, die Europäische Union militärisch aufzurüsten,
wie es der Verfassungsentwurf vorsieht.
({2})
Wir wollen in kein Wettrüsten gegen die USA und auch
in kein Wettrüsten mit den Terroristen einsteigen. Das ist
der falsche Weg. Dieser Weg kann nur scheitern.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der
Vereinten Nationen hat in Berlin ihren Jahresbericht vorgelegt. Diese Organisation spricht von einem „Rückschlag beim Kampf gegen den Hunger“. Der größte prozentuale Anstieg der Hungernden ist in Nordafrika und
im Nahen Osten zu verzeichnen; an erster Stelle steht dabei der Irak.
Uns allen sollte klar sein, dass wir die sozialen Wurzeln des Hungerns beseitigen müssen, wenn wir langfristig etwas gegen die sozialen Wurzeln des Terrorismus
tun wollen. Dieses Problem können weder die Bundeswehr noch die Entwicklungshilfeministerin lösen. Wir
brauchen endlich einen Durchbruch bei den Verhandlungen um eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Dort
liegt aus unserer Sicht der Schlüssel zur Lösung dieses
Problems.
({3})
Dazu müsste die deutsche Außenpolitik einen wichtigen
Beitrag leisten.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Es ist sehr erfreulich,
dass die Bundesregierung das Verhältnis zu Frankreich
in den letzten Jahren verbessert und enger gestaltet hat.
Unter Freunden sollte es jetzt doch eine Aufgabe sein,
über die Agrarsubventionen zu sprechen und den Entwicklungsländern den Zugang zum europäischen Markt
zu erleichtern. Damit könnte man ihnen die Möglichkeit
geben, ihre Probleme aus eigener Kraft zumindest ein
Stück weit zu lösen.
Wir, die Abgeordneten der PDS, werden dem Haushalt des Bundesaußenministers nicht zustimmen. Uns ist
die Außenpolitik der Bundesregierung zu militärisch und
zu protektionistisch; deshalb lehnen wir sie ab.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Rose.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unser Kollege Frankenhauser hat die Einbettung der deutschen Außenpolitik in den Haushalt vorhin
eindrucksvoll dargelegt. Dabei hat er so manche Ankündigung des Bundesaußenministers als Bestandteil einer
regelrechten Ankündigungspolitik entlarvt. Der Außenminister hat zur Beschreibung seiner Politik zwar schöne
Formulierungen gewählt; in der Praxis sieht aber vieles
anders aus.
Ich möchte jetzt noch einige außenpolitische Grundlinien der CSU darstellen. Unter ihren Vorsitzenden
Franz Josef Strauß, Theo Waigel und Edmund Stoiber
hat die CSU stets wesentliche Beiträge dazu geleistet,
Deutschland in Frieden und Freiheit und als geachtetes
Mitglied der Völkergemeinschaft blühen zu lassen.
({0})
Frieden und Freiheit gehörten für uns immer untrennbar zusammen. Wir haben diese Freiheit auch stets für
alle Deutschen angestrebt und deshalb keinen faulen
Frieden nach dem Motto „Lieber rot als tot“ akzeptiert.
Mit der Wiedervereinigung ist diese Freiheit in Frieden
erreicht worden. Heute gilt es mehr, den Frieden zu sichern, weil die Freiheit ungefährdet zu sein scheint, zumindest vom politischen System im eigenen Land her.
Aber lässt uns der zunehmende Terrorismus in der Welt
noch genügend Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen? Lässt er uns in Frieden? Auf welches Ziel führt uns
die heutige deutsche Außenpolitik wirklich hin?
Ich greife nochmals das Thema Türkei auf. Auch in
der CSU gibt es viele, die enge und freundschaftliche
Kontakte zu türkischen Entscheidungsträgern hier in
Deutschland oder dort in der Türkei pflegen. Das gilt seit
Jahrzehnten auch für mich. Die Türkei wird gern als unser NATO-Partner gesehen. Der Satz, den man immer
wieder hört, nämlich: „Die Türkei gehört zu Europa“,
ist, wenn man ihn richtig interpretiert, natürlich diskussionsfähig.
Die Probleme einer schnellen oder späteren Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union müssen jedoch rechtzeitig und deutlich angesprochen werden. Es muss auch eine offene Diskussion möglich sein.
Es darf nicht ein Schubladendenken geben: hier der Türkenfreund und da der Türkenhasser. Es darf natürlich
auch keine Aussage geben wie die vom Bundeskanzler
heute und von verschiedenen anderen. Da ging es um einen Rundumschlag gegen einen Kollegen von uns,
Herrn Bosbach. Das braucht es nicht. Herr Bosbach hat
nur auf andere reagiert. Das wird instrumentalisiert. Ich
finde das nicht gut.
({1})
Ich möchte zwei Tatsachen nennen, freimütig und
freundlich:
Erstens. Auf den Landkarten der Europäischen Union
in Brüssel gilt die Türkei bereits als mögliches Mitglied.
Wenn die Türkei wie alle anderen Beitrittskandidaten die
Kopenhagener Kriterien erfüllt - ich kann auch sagen:
erfüllen sollte -, wird es schwer sein, direkte Beitrittsverhandlungen zu torpedieren.
Zweitens. Nicht bloß in Deutschland, sondern auch in
anderen EU-Staaten, besonders in den nächstes Jahr zur
EU kommenden Ländern Mittel- und Osteuropas, gibt es
massive Vorbehalte gegen eine türkische Mitgliedschaft
in der vorwiegend christlich geprägten abendländischen
Gemeinschaft.
Wenn man diese Tatsachen anspricht, ist man nicht
charakterlos. Die CSU ist dafür bekannt, dass sie die
Sorgen der Bürger im eigenen Land aufnimmt. Ängste
hat man eben auch bei einem EU-Beitritt der Türkei. Wir
Politiker müssen mit den Sorgen und Ängsten der Menschen verantwortungsvoll umgehen und dürfen nicht demagogisch sein. Das gilt für alle Seiten des Hauses.
({2})
In diesen Zusammenhang gehört bekanntlich auch
das Thema EU-Erweiterung. Wir freuen uns auf die im
Mai nächsten Jahres hinzukommenden Staaten, besser
gesagt: Menschen. Die Bayerische Staatsregierung, viele
Abgeordnete oder auch Kommunalpolitiker, Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler pflegen seit Jahren
freundschaftliche Kontakte mit ihnen. Wir sind ja ein
Land an der Grenze und wir haben viel über die Grenze
hinweg getan. Wir haben auch schon Ja gesagt, als andere in diesem Hohen Haus noch von einer Umzingelung Russlands faselten und manches von dem, was mit
„Öffnung nach Osten“ bezeichnet wurde, abgelehnt haben.
Wir kennen die Stärken, aber auch die Schwächen der
Beitrittsstaaten. Dazu gehört die künftige EU-Außengrenze. Ich fordere von der Bundesregierung die Mithilfe beim Aufbau modernster Grenzkontrollinstrumente.
({3})
Bei einem Besuch kürzlich an der slowakisch-ukrainischen Grenze mussten mein Kollege Bartholomäus Kalb
und ich beispielsweise feststellen, dass über eine lange
grüne Grenze ganze Völkerschaften aus dem Nahen und
Mittleren Osten, sogar aus China, einsickern und dass
Menschenhandel, Drogen- und Waffengeschäfte die OstWest-Route beherrschen. Es wäre fatal und unanständig,
die Slowakei und andere Staaten mit ihren für Europa
übernommenen Pflichten allein zu lassen.
({4})
Das Thema EU-Erweiterung muss den Blick auch auf
das Zusammenwachsen des bisherigen Europas lenken. Wir haben im Süden Deutschlands die Möglichkeit,
jahrhundertealte Beziehungen über die Alpen hinweg zu
intensivieren. Es werden enge Kontakte in den Regionen
angestrebt, die uns auch wirtschaftlich gut tun. Gastarbeiter haben bei uns etwas aufgebaut, sind mit dem Kapital nach Italien zurückgegangen und jetzt kann manches wieder zu uns zurückkommen. Ähnliches gilt
sicherlich für den Westen und Norden Deutschlands und
später auch für den Osten. Ich sage das alles bewusst;
denn wir Deutsche sollten nicht ständig nur an den
Kongo oder den Hindukusch denken, wenn es um eine
gute Zukunft für unsere Heimat geht. Es kann ja auch
einmal die Zeit kommen, da das immer größer gewordene Europa an den Rändern auseinander bricht. Dann
ist es gut, wenn der Kern auf guten Fundamenten steht
und eng zusammenarbeitet.
({5})
Meine Damen und Herren, die Weltpolitik bleibt uns
natürlich auch nicht erspart. Für die CSU gilt, dass die
Sicherheit im Inneren wie im Internationalen unser Markenzeichen ist. Diese Sicherheit wurde stets durch die
NATO gewährleistet. Deshalb sind immer wieder aufflackernde antiamerikanische Reden scharf zu kritisieren.
Freundschaft braucht zwar Kritikfähigkeit, aber nicht
boshaftes Beschimpfen.
Ich hoffe, dass der Bundeskanzler und Sie, Herr Bundesaußenminister, nicht bloß deshalb nach Washington
und New York fahren, um an der Heimatfront gut dazustehen, sondern, um unserer Sicherheitspartnerschaft aus
tiefster Überzeugung zu dienen. Wenn man weiß, wo
man hingehört, kann man auch problemlos mit anderen
Regionen gute Beziehungen knüpfen. Von einer „Schaukelpolitik“ - wie im Frühjahr dieses Jahres - muss man
dann nicht mehr reden.
Dem Ziel „Frieden und Freiheit“ dienen selbstverständlich nicht bloß NATO und EU, sondern auch eine
starke UNO. Deshalb bin ich dafür, dass wir die Rolle
der UNO und ihrer Sonderorganisationen immer wieder
stützen, aber auch kritisch hinterfragen. Wir sind einer
der größten Beitragszahler; wir sind allerdings in den
letzten Jahren - das ist wieder ein Beispiel für die Ankündigungspolitik, die ich vorhin kritisiert habe - in der
Rangliste der Beitragszahler stark zurückgefallen. Wir
stehen nicht mehr überall an erster, zweiter oder dritter
Stelle. Bei der UNDP stehen wir beispielsweise an
zwölfter Stelle. Zwischen den großen Sprüchen, die Sie
früher als Opposition gemacht haben, und den heutigen
Taten klafft leider auch hier der rot-grüne Unterschied.
Weil dies so ist, kann ich der Koalition auch nicht
eine Aussage zur auswärtigen Kulturpolitik ersparen.
Sie, Frau Kollegin Griefahn, haben geschildert, wie
großartig sie sei. Ich erinnere mich noch, wie sie in den
80er-Jahren aussah und welche Vorwürfe damals von Ihrer Seite kamen. Wenn ich die Ausgabenhöhe aus den
80er-Jahren mit den Zahlen von heute vergleiche, muss
ich feststellen, dass es hier einen gewaltigen Rückgang
gegeben hat. Man kann nicht von einer besonderen Leistung sprechen, wenn Sie hier berichten, dass Sie irgendwo ein Goethe-Institut eröffnet haben, oder davon
reden, was Sie alles tun. Die auswärtige Kulturpolitik hat
unter dieser Bundesregierung keinen Sprung nach vorne
gemacht. Gegenüber früheren Zeiten ist hier eindeutig
von einem Rückschritt zu sprechen.
({6})
Herr Bundesaußenminister, was Sie außenpolitisch tun,
ist häufig genug genau das Gegenteil von dem, was Sie
früher gefordert haben. Ihre Außenpolitik ist nur noch
Flickwerk.
Als Fazit der deutschen Außenpolitik lassen Sie mich
festhalten: großmäulig einen Sitz im UN-Sicherheitsrat
fordern, ihn jedoch nie erhalten; kleinlaut und geprügelt
aus Brüssel zurückkommen. Rot-Grün führt Deutschland leider in eine ungewisse Zukunft.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin
Hermenau das Wort.
Die Zukunft ist ungewiss - Herr Kollege Rose, Sie
haben in Ihrer Rede im Zusammenhang mit der Pflege
gutnachbarlicher Beziehungen darauf hingewiesen, dass
Sie die Ängste der Bevölkerung in Bezug auf die Türkei
ernst nehmen, und auch die osteuropäischen Länder
erwähnt. Das ärgert mich. Ich lebe in Sachsen in der
Nähe von zwei osteuropäischen Staaten, die im nächsten
Jahr Mitglied der Europäischen Union werden. Ich
kenne die Probleme, die wir in Sachsen alleine schon mit
Tschechien und Polen - ich rede noch gar nicht von der
Türkei - haben; darüber haben wir schon häufig debattiert.
Ich finde es nicht gut, wenn Sie die provinziellen und
piefigen Tendenzen in den osteuropäischen Gemütern
noch verstärken, indem Sie Verständnis dafür aufbringen, sondern würde mir wünschen, dass wir uns alle miteinander darum bemühten, dass die osteuropäischen
Länder etwas weltoffener werden. Das geht nur über Ermutigung, nicht durch Bestätigung der Ängstlichkeit.
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, den Sie hier völlig
ignoriert haben.
({0})
Es geht darum, dass die Westeuropäer die ermutigenden
Erfahrungen, die sie in den letzten Jahrzehnten gesammelt haben, auf die neu hinzukommenden Mitgliedstaaten aus Osteuropa übertragen, damit wir alle lernen,
weltoffener miteinander umzugehen.
Die Frage, ob die Türkei ein natürlicher Partner in der
Europäischen Union ist oder nicht, würde dann auch
nicht mehr so aufgebauscht, wie es leider immer wieder
geschieht. Dieses Anliegen ist mir wichtig; deshalb habe
ich mich zu Wort gemeldet.
({1})
Wollen Sie antworten? Sie müssen aber nicht.
({0})
Der Beitrag der Kollegin Hermenau rührt wahrscheinlich daher, dass sie verärgert war, dass sie von der
Rednerliste gestrichen wurde.
({0})
Jetzt hat sie sich mühsam etwas zusammengereimt und
versucht, mich mit Aussagen anzugreifen, die ich gar
nicht gemacht habe.
Erstens habe ich nicht von osteuropäischen Ländern,
sondern von mittel- und osteuropäischen Ländern gesprochen. Es braucht sich also niemand ausgeschlossen
fühlen, der unmittelbar in Mitteleuropa lebt.
({1})
- Ja, ich höre immer wieder den Vorwurf, dass man die
Leute falsch einteile.
Zweitens habe ich nicht davon gesprochen, dass irgendetwas Provinzielles aufgegriffen wird. Es ist in großen
Volksparteien wie bei uns üblich, alle Strömungen anzuhören und aufzunehmen. Man soll sie aber nicht demagogisch auswerten. Das habe ich wörtlich gesagt. Da würde
ich Sie bitten, Frau Kollegin Hermenau - wir verstehen
uns ja auch sonst gut -, dass Sie nicht aus Verärgerung
über Ihren Außenminister mich zum Prellbock machen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt Bodewig.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte im Sinne guter Debattenkultur kurz auf den
Kollegen Rose eingehen. Ich habe sehr genau gehört,
was Frau Hermenau hier angesprochen hat.
Sie haben gesagt: Politik muss Ängste aufnehmen.
Die Konsequenz daraus lautet aber, dass Politik Ängste
nicht verstärken oder - im Falle Bosbach - sogar Ängste
erzeugen darf.
({0})
Ich glaube, das ist der qualitative Unterschied und auch
das ist ein Teil von politischer Kultur.
Ich will noch auf etwas anderes eingehen, was Sie angesprochen haben. Sie haben gesagt, man solle nicht nur
an den Kongo denken. Das ist ein schönes Klischee.
Aber was machen Sie? Sie denken zurzeit noch nicht
einmal daran, dass Deutschland auch eigene Interessen
im europäischen Konzert hat. Ich habe heute Morgen
den Ministerpräsidenten von Hessen im „Morgenmagazin“ des ZDF gesehen, wo er an einer neuen Dolchstoßlegende gebastelt hat: Wir würden den Wachstums- und
Stabilitätspakt heruntermeucheln. Manch einer Ihrer
Redner hat in den vergangenen Debatten an dieser Legende mitgestrickt. Ich glaube erstens, dass das durchsichtig ist, und zweitens, dass Sie ein sehr kurzes Gedächtnis haben.
({1})
Denken Sie einmal an die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion! Denken Sie darüber nach,
dass wir 1997 in Deutschland einen Referenzwert hatten,
der weit über der zulässigen Verschuldung lag. Damals,
1998, haben Sie gesagt: Das spielt alles keine Rolle, wir
treten trotzdem in die Wirtschafts- und Währungsunion
ein. Ich fand auch, dass das richtig war. Denn diese
Währung ist stabil. Sie ist in keiner Weise in Gefahr, weder jetzt noch damals. Also: Messen Sie sich an Ihrem
eigenen Verhalten, bevor Sie andere kritisieren.
({2})
Ich finde es genauso wichtig, dass Sie sich einmal die
Situation in der Europäischen Union anschauen. Man
kann dem Euro vieles vorwerfen, aber eines nicht, nämlich dass er zu schwach sei. Im Gegenteil, die Währungsrelationen machen sehr deutlich, dass die Exportnation
Nummer eins in Europa, nämlich Deutschland, mit diesem starken Euro konfrontiert wird und sich trotzdem
behauptet. Es kann also nicht so sein, wie Sie es in den
Debatten immer beschrieben haben.
Deswegen begrüße ich die Entscheidung der Finanzminister vom Montagabend in Brüssel. Die Finanzminister haben sehr deutlich gemacht, dass es nicht nur um einen Stabilitäts-, sondern auch um einen Wachstumspakt
geht. Es geht also darum, dass Sparauflagen für Deutschland in einer Größenordnung von 4 bis 5 Milliarden Euro
zum jetzigen Zeitpunkt dazu führen würden, dass die gesamteuropäische Konjunktur beeinträchtigt würde. Das
heißt, die Finanzminister, die zusammen mit Deutschland gestimmt haben, haben es auch in ihrem eigenen
ökonomischen Interesse getan. Man sollte dies begreifen, wenn man über Ökonomie spricht.
({3})
Lassen Sie mich sehr deutlich machen: Wir haben
eine Verantwortung für diesen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Er wird in Deutschland nicht infrage gestellt;
im Gegenteil. Aber er ist kein Strafkatalog, sondern ein
flexibler ökonomischer Handlungsrahmen. Genau so ist
er konzipiert worden, nämlich um für unsere starke
Währung zu werben. Übertriebene Härte oder ultraorthodoxe Anwendung werden genau das Gegenteil eines
Stabilitäts- und Wachstumspaktes erreichen. Sie würden
nämlich die aktuelle Aufwärtsentwicklung beschädigen.
Hier liegt auch eine Verantwortung der Kommission, die
man genauso klar beschreiben sollte.
Willy Brandt hat einmal gesagt: Mit den Europaverhandlungen verhält es sich wie mit dem Liebesspiel der
Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt
viel Staub auf und es dauert sehr lange, bis etwas dabei
herauskommt.
So ist das zurzeit. Da werden auf europäischer Ebene
Beschlüsse gefasst - sie kommen mittlerweile schneller
zustande, als Willy Brandt es damals noch gesehen hat -,
aber auch Sie als Union wirbeln eine Menge Staub auf.
Ich erinnere nur an die lachhafte Veranstaltung, die Sie
am Montag abgezogen haben. Das ging aus wie das
Hornberger Schießen. Als Herr Merz dann vor die
Presse ging, konnte er gar nichts anderes sagen, als dass
diese Regierung Stabilität und Wachstum im Einklang
und als gewährleistet sieht.
Ich glaube, auch das ist richtig.
({4})
Hier den großen Zampano zu machen ist nicht ausreichend. Es geht um Ihre eigene Verantwortung. Sie haben
eine ganze Reihe von wichtigen Entscheidungen blockiert. Deshalb werden Sie sich im Vermittlungsausschuss bewegen müssen, wenn Sie selber glaubwürdig
sein wollen, denn wir haben nicht lange Zeit. Die Situation in Deutschland macht Reformen wirklich notwenKurt Bodewig
dig. Wir haben jetzt zu handeln und das ist auch Ihre
Verantwortung. Wenn Sie auf Blockadekurs bleiben,
dann werden Sie die wirtschaftlichen Bedingungen in
Deutschland nachhaltig beeinträchtigen.
Ich will in dieser Debatte jetzt noch etwas sagen: So
wie ich die Vertreter der Union im Europaausschuss
kenne, haben sie immer nur die Haltung, dass sie die
Kommission mit dem Generalverdacht von Kompetenzüberschreitung überziehen. Sie sagen immer: Alles, was
die Kommission will, führt dazu, dass Europa zu stark
wird und zu wenig im eigenen Interesse in dem nationalen souveränen Parlament geschieht. Ich erinnere an Ihren Antrag zur Regierungskonferenz und zitiere daraus:
Es muss verhindert werden, dass es zu einer zentralen Steuerung der Wirtschaftspolitik kommt.
Jetzt aber wollen Sie die Finanzsouveränität Deutschlands an die Kommission abtreten. Ein solches Verhalten
ist doch hirnrissig, ebenso die Kritik, die Sie in den letzten Tagen hier geäußert haben.
({5})
Sie müssen sich an dem messen lassen, was Sie wollen. Dazu sage ich: Es gibt ein klares Bekenntnis zu diesem Pakt, aber es gibt eine Absage an billige parteipolitische Polemik.
({6})
- Das kennen Sie doch. Sie können Staub aufwirbeln,
können aber keine Politik daraus machen. - Deswegen
muss man einen klaren Kurs haben. Diese Regierung hat
einen klaren Kurs und wir werden ihn weiter halten.
({7})
Packen Sie sich an Ihre eigene Nase. 55 Prozent des
Defizits sind in den Ländern entstanden. Herr Koch, der
sich heute Morgen so lautstark geäußert hat, hat seit
zwei Jahren einen im Vollzug verfassungswidrigen
Haushalt vorgelegt. Die Verschuldung steigt explosionsartig, er hat die höchste Steigerung der Verschuldung
von allen deutschen Bundesländern. Wenn das der Maßstab ist, dann gnade uns Gott, wenn ein solcher Mann
wie Herr Koch die Währungsstabilität in Deutschland
garantieren müsste.
({8})
Deshalb sage ich Ihnen sehr deutlich: Es gibt überhaupt keinen Grund, die Stabilität des Euro in den Grund
zu reden. Im Gegenteil, wir alle sollten dazu beitragen,
dass ein solch starker Wirtschaftsstandort, wie wir ihn
haben, weiter gestärkt und nicht durch unsinnige Debatten geschwächt wird.
Wir alle haben eine Verantwortung. Das gilt für die
Regierung, das gilt für die die Regierung tragenden Koalitionsfraktionen, das gilt aber auch für das Verhalten der
Union und der FDP im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss. Ich sage Ihnen: Sie werden sich bewegen
müssen, wenn Sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen
wollen, dass Sie die Aufwärtsentwicklung in Deutschland blockieren. In diesem Sinne kann ich Ihnen nur sagen: Wir messen Sie an Ihrer Verantwortung, aber nehmen Sie sie auch wahr.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Eymer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen! Wir reden über den Haushalt und damit reden wir auch über Investitionen in der Außenpolitik. Dabei ist es notwendig,
ein solides Konzept zu haben, damit Investitionen nicht
effektlos verhallen.
({0})
Eine Region, die in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden darf, ist Afrika. Erinnern wir uns: Der
größte Teil der deutschen Hilfe wird in Afrika in den
Ländern südlich der Sahara investiert. Eine klare Zielsetzung, frei von Ideologie, ist in der Afrikapolitik von RotGrün aber nicht zu erkennen.
({1})
Dem deutschen Engagement in Afrika muss ein solides politisches Konzept zugrunde gelegt werden. Bis
heute fehlt eine realistische Einschätzung. Wie sind die
afrikanischen Eigeninteressen? Welche afrikanischen
Projekte zur Verbesserung der Situation gibt es und welche gilt es zu unterstützen? Daran muss sich die Interessen- und Zielsetzung der deutschen Politik orientieren.
Und sie muss eingebettet sein in eine multilaterale europäische Afrikapolitik unter Ausschluss neokolonialer Eigeninteressen.
Das Interesse der rot-grünen Regierung an aktueller
Afrikapolitik scheint eher ein Annex zum deutsch-französischen Sonderweg der jüngsten Vergangenheit gewesen zu sein.
({2})
Ihre Kritik an unilateralen Aktionen einiger europäischer Nachbarn in Afrika war in der Vergangenheit sehr
verhalten. Von einer etablierten und einer soliden deutschen Afrikapolitik sind wir noch sehr weit entfernt.
({3})
Gerade die letzten Afrikainitiativen von Rot-Grün
orientieren sich eher an politischen Doktrinen, aber nicht
an konkret umsetzbarer Politik. Ich beziehe mich hier
ausdrücklich auf den Antrag zur Unterstützung von
Landreformen in Afrika. Wir können Afrika doch nicht
allgemein über einen Kamm scheren.
({4})
Anke Eymer ({5})
Ich möchte meine Bemerkung über Ihren Antrag zum
Anlass nehmen, um im Guten zu unterstellen, dass Sie
durchaus nach einem grundlegenden Konzept für deutsche Afrikapolitik suchen. Sogar Fachleute aus Ihren
Reihen stellen mittlerweile fest, dass die relativ hohen
Summen deutscher Investitionen ohne nennenswerte
nachhaltige Effekte bleiben. Das hätte schon längst zu
einer engagierten Neukonzeptionierung führen müssen.
Dabei geht es nicht nur um den Nutzen für Afrika, sondern auch um die eingesetzten Gelder.
Die momentane Afrikapolitik von Rot-Grün gleicht
aber mehr einem Reagieren auf einzelne Problemstellungen als der Umsetzung eines nachhaltigen Konzeptes.
Wir brauchen dringend eine inhaltliche wie auch eine
strukturelle und funktionale Neubesinnung in der deutschen Afrikapolitik.
Die zögerliche Lustlosigkeit, mit der der Außenminister afrikanische Themen bisher angepackt hat, ist dabei
nicht förderlich.
({6})
Seine bisher dritte Reise nach Afrika vor knapp einem
Monat umschiffte wortwörtlich und im übertragenen
Sinn die eigentlichen Krisen. Notwendig gewesen wären
klare Aussagen über die deutschen Interessen und Zielsetzungen und nicht eine allgemeine Rede über gute Zusammenarbeit.
Ich frage mich auch, inwieweit auf höchster Ebene im
Auswärtigen Amt die Interessen Afrikas effektiv wahrgenommen werden. War es bisher eigentlich möglich,
den Vertretern aller Staaten Afrikas in Berlin zu begegnen? Zum so genannten Dialog auf Augenhöhe gehört
eben auch das. Es ist kontraproduktiv, zu viel auf der reinen Arbeitsebene zu belassen.
Auch die strukturbedingten Reibungspunkte sind offensichtlich. Es gibt zum Beispiel die unklare Verteilung
und teilweise auch Doppelung von Aufgaben und Kompetenzen zwischen dem BMZ und dem Auswärtigen
Amt.
({7})
Die Kompetenzverteilung und die Arbeitsstrukturen
müssen stärker gebündelt werden. Auch inhaltlich liegen
die Schwerpunktthemen einer nachhaltigen Afrikapolitik
auf der Hand. Diese sind: erstens die notwendige Stärkung und Unterstützung bestehender freiheitlich-demokratischer Staaten, zweitens die Eindämmung von regionalen Kriegshandlungen, drittens der Kampf gegen die
fortschreitende Aids-Epidemie und viertens die existenzielle Bedrohung durch Verarmung.
({8})
Zusätzlich fordere ich Sie auf, von Allgemeinaussagen endlich abzurücken und sich auf regionale Problemfelder zu konzentrieren. Ihre deutsche Afrikapolitik leidet unter einer überzogenen Zielsetzung.
({9})
Die Messlatte ist zu hoch; die zu geringen Erfolge frustrieren und lähmen. Diese deutliche Differenz zwischen
Anspruch und Wirklichkeit schadet der Glaubwürdigkeit
der deutschen Politik.
({10})
Dabei bietet gerade die deutsche Position im europäischen Vergleich eine gute Handlungsbasis. Wir sind nur
im geringen Maße durch eine hegemoniale Vergangenheit belastet. Effektive Afrikapolitik ist eine Chance, die
noch nicht ausreichend genutzt wurde. Für eine effektive
und sinnvolle Zusammenarbeit werden Sie bei der Opposition ein offenes Ohr finden.
({11})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 05
- Auswärtiges Amt - in der Ausschussfassung. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Einzelplan 05 ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt I. 10 auf:
Einzelplan 14
Bundesministerium der Verteidigung
- Drucksachen 15/1912, 15/1921 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Bartholomäus Kalb
Alexander Bonde
Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Dietrich Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
wichtigste Aufgabe des Staates ist es, seine Bürger zu
schützen. Dafür ist ein finanzieller Rahmen, der verlässlich ist, Voraussetzung. Wir alle haben die Worte im Ohr:
Es wurde davon gesprochen, dass der Plafond des Verteidigungsetats in einer Größenordnung von 24,4 Milliarden Euro gewährleistet sei. Inzwischen stellen wir
fest, dass auch die nachfolgende Versprechung, dieser
Etat werde bis zum Jahr 2007 weiter erhöht, heute offensichtlich nichts mehr gilt. Denn die Fakten zeigen uns,
dass schon der Etatansatz um 130 Millionen Euro niedriger war als der Betrag, der versprochen worden ist. Um
weitere 180 Millionen Euro wurde darüber hinaus gekürzt. Schließlich wurde eine globale Minderausgabe
von einer viertel Milliarde Euro über den Verteidigungsetat gestülpt. Wenn man das Ganze zusammenrechnet, stellt man fest, dass im Etat etwa 560 bzw.
570 Millionen Euro fehlen. Das hat natürlich eine Bedeutung für das, was die Bundeswehr macht und was sie
tun kann.
Der Generalinspekteur hat deshalb nicht ganz zu Unrecht festgestellt, dass das, was im nächsten Personalabbauprogramm vorgesehen ist, dadurch praktisch schon
erledigt ist. Denn die Mittel, die er in diesem Zusammenhang für die Modernisierung der Bundeswehr einsparen wollte, sind schon jetzt aufgebraucht. Die Vorgabe lautete, die Zahl der Soldaten um 30 000 und die
der zivilen Mitarbeiter um 35 000 innerhalb weniger
Jahre abzubauen. Die durch diese Kürzung bezweckte
Einsparung sollte mehr Spielraum für die Modernisierung der Truppe ermöglichen. Dieser ist jetzt weg.
Herr Minister, wir erwarten deshalb heute eine klare
Aussage darüber, ob es bei der Zielzahl von 250 000 Soldaten bleibt oder ob eine weitere Kürzung um 10 000 vorgesehen ist. Die Entscheidung über die Aufteilung der
Kopfzahlen auf die Teilstreitkräfte ist zunächst einmal
verschoben worden. Der nächste Termin, an dem man
sich darüber unterhält, wird im Dezember sein. Ich
glaube, die Soldaten, die zivilen Mitarbeiter, aber auch
die Familien der Soldaten und die Standortgemeinden
erwarten von Ihnen dazu eine klare Aussage.
({0})
Dabei sollte man sich vor Augen führen, dass die 20
Standortschließungen aus der Rühe-Zeit noch nicht verarbeitet worden sind. Weitere 40 gab es in der
Scharping-Zeit; die Älteren werden sich noch an ihn erinnern.
({1})
Weitere 100 bis 130 schlagen Sie im nächsten Jahr vor.
Das heißt, wir erwarten in nächster Zeit einen regelrechten Standortkahlschlag, der durch die Pläne des Bundesverteidigungsministers, von einer Armee, die vorrangig
Aufgaben der Landes- und der Bündnisverteidigung
übernimmt, wegzukommen und sich einer Interventionsarmee zuzuwenden, gefördert wird.
Herr Bundesverteidigungsminister, ich fordere, dass
wir hier im Bundestag über das Thema, wie die Bundeswehr der Zukunft aussehen soll, in einer großen Debatte
diskutieren. Denn es kann nicht angehen, dass, wenn die
grundsätzliche Struktur der Armee verändert wird, allein
Verwaltungsentscheidungen getroffen werden. Das geht
weit über die organisatorische Zuständigkeit eines Ministers in seinem Hause hinaus.
({2})
Wenn man zu neuen Strukturen kommen will, dann
muss man der Truppe auch die Mittel zur Verfügung
stellen, die einen optimalen Schutz der Soldaten in internationalen Einsätzen gewährleisten. Ich nutze gerne
diese Gelegenheit, den Soldaten für ihre Tätigkeit an
vielen Stellen der Welt, aber auch im Inland herzlich zu
danken. Mit dem, was sie leisten, erweisen sie ihrem Vaterland einen wichtigen Dienst.
({3})
Aber das setzt auch voraus, dass wir die Soldaten optimal schützen: durch entsprechende Fahrzeuge und die
Ausstattung am Mann. Dies wird nicht getan. Die Ausstattung mit geschützten Fahrzeugen, mit dem Dingo 2,
dem Multi A 3 und dem Duro, ein verbesserter Schutz
der Soldaten und die Grundausstattung des „Infanteristen der Zukunft“ werden nach Aussage des Heeresamtes
von vor wenigen Tagen auf das Jahr 2009 - vielleicht sogar auf das Jahr 2010 und folgende - verschoben.
({4})
Die Bundeswehr - das ist das eigentliche Problem,
Herr Kollege Mark - hat nicht das Beste, was die deutsche Industrie zu bieten hat, und sie bekommt es auch
auf absehbare Zeit nicht. Das ist für die Soldaten, die geschützt werden sollen, beklagenswert und es ist wirtschaftspolitisch falsch. Denn all das, was dort entwickelt
wird, ist auch technologisch von großem Interesse, und
zwar nicht nur für das Inland, sondern auch für den Export.
So gesehen könnte man sagen: Der Minister tritt dynamisch auf der Stelle, aber entschieden wird eigentlich
nicht. Das ist geschickt und macht einen guten Eindruck.
Man hat auch Ruhe in der Truppe. Es entsteht das Bild,
dass reformiert würde. Aber in der Tat werden Lösungen
auf die Zukunft verlagert. Wie oft wurde - allein in diesem Jahr - eine Veränderung bezüglich der zahlenmäßigen, personellen und strukturellen Ausstattung der Bundeswehr vorgenommen?
Meine Damen und Herren, der Verteidigungsetat
steckt in der Zange der großen Beschaffungsvorhaben.
Ich habe erhebliche Zweifel, ob es in dieser Situation
wirklich Sinn macht, für das kommende Jahr beim Eurofighter 250 Millionen Euro mehr zu investieren. Leider
war es bei dem Termin, der mit dem Ministerium vereinbart worden ist, nicht möglich, sicherzustellen, dass dieses Flugzeug auch seine Flugfähigkeiten demonstrieren
kann. Ich warte immer noch darauf. Ich glaube nach wie
vor an die deutsche Technologie.
({5})
Aber ich sage: Wir müssen das Ganze in eine bestimmte
Relation zueinander setzen. Ist es wirklich sinnvoll, das
Schwergewicht der Investitionen bei der Luftwaffe vorzusehen, wenn die Zukunft nach den eigenen Vorstellungen, auch für internationale Einsätze, im Wesentlichen
vom Heer gestaltet werden soll, wenn also das Heer die
Hauptlast trägt?
({6})
Im Zusammenhang mit der Bewaffnung möchte ich
einen zweiten Punkt ansprechen. Dabei handelt es sich
um eine Sorge, die die Menschen in den letzten Wochen
zunehmend erfüllt. Die tatsächliche Bedrohung der
freiheitlich-demokratischen Welt geht vor allen Dingen
vom internationalen Terrorismus aus, den man auf
vielen Wegen bekämpfen kann. Ich habe bereits angesprochen, was unsere Soldaten hierbei tun und welchen
Beitrag sie in der internationalen Wertegemeinschaft tatsächlich leisten.
Aber man muss auch einen anderen Teil ansprechen:
die intelligente Verteidigung und das Aufspüren von verdeckten Waffen. Bei der Terrorismusbekämpfung geht es
nicht allein nach dem Motto „Groß, laut, fliegt weit“;
vielmehr wird man darauf achten müssen, wo Vor-OrtSensorik eingesetzt werden kann und wo intelligente
Mittel mithilfe von Forschung und Technologie gewonnen werden können. Wo liegen die Anstrengungen des
BMVg im Bereich der Biosensorik bezüglich Angriffen
im Inland? Die Mittel für Forschung und Entwicklung
liegen auf dem Niveau des Jahres 1984.
Im Rahmen der Haushaltsberatungen wurde nun ein
bisschen umverteilt. Ich danke den Kolleginnen und
Kollegen der Koalition, dass sie insbesondere die Bedeutung der Marine bei der Weiterentwicklung von
Schiffen der Zukunft wie der Nachfolge der „Fregatte
125“ gestärkt und dort einen Akzent gesetzt haben. Das
war aber nur möglich, indem Mittel von einem Posten
auf einen anderen Posten verlagert wurden. Unter dem
Strich heißt das nicht, dass mehr Geld für Forschung und
Technologie dort bereitsteht, wo wir es dringend brauchen, um dem Schutzbedürfnis der Menschen in absehbarer Zeit gerecht zu werden.
({7})
Es besteht weiterhin die Aufgabe, wirtschaftliche Potenziale zu nutzen. Vor einiger Zeit sind ja ein Modernisierungsboard, ein Kompetenzzentrum und vieles andere
eingerichtet worden, wodurch künftige Aufgaben offensichtlich besser gelöst werden sollen. Wenn aber Geld
„verbrannt“ wird, sagen wir Halt. Das passiert an vielen
Stellen, auch im Verteidigungsministerium. Gleiches gilt
für sinnlose Ausgaben bei der GEBB. Ich könnte jetzt
ausführlich aus dem Brief des ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden Werner zitieren, was ich aber aus Zeitgründen nicht tun möchte.
({8})
- Er ist an Sie persönlich gerichtet? Er ist auch an eine
ganze Reihe anderer Personen gerichtet, zum Beispiel an
Staatssekretär Eickenboom, Staatssekretär Biederbick,
Staatssekretär Overhaus, der ja überall dabei ist, wo
Schaden angerichtet wird, Generalinspekteur Schneiderhan und Herrn Heinzmann. Es gibt also eine Fülle von
Personen, die diesen Brief haben. Ich würde kein Geheimnis daraus machen - ({9})
Herr Minister, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie
nicht in Privatgespräche mit dem Redner eintreten dürfen?
Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man sich auf
dieser Ebene so unterhält.
({0})
Aber damit untergraben Sie Parlamentsrechte. Es geht
darum, dass die Regierung nicht von der Regierungsbank aus Redner kritisieren darf.
Das ist besonders empörend, wenn diese Zeit von
meiner Redezeit abgezogen wird.
({0})
Ich wollte nur sagen, dass Herr Werner ganz offensichtlich auf Defizite in der bisherigen Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium und der GEBB hingewiesen hat.
Das beschreibt er sehr deutlich. Offensichtlich wird auch
dadurch Geld „verbrannt“, indem man versucht, anspruchsvolle Aufgaben zu lösen, die man nicht besser lösen kann.
Der Gedanke der Public-Private-Partnership, also beispielsweise der Zusammenarbeit von Wirtschaft und
Bundeswehr, ist durchaus sinnvoll. Aber man darf das
nicht so dilettantisch angehen wie der Verwalter des
größten Weinkellers in Deutschland, Herr Horsmann bei
der GEBB. Wir müssen vielmehr deutlich machen, dass
die Wirtschaft bei den Aufgaben hinzugezogen werden
muss, die sie besser erledigen kann.
Einige Beispiele: Wer sich mit dem Flottenmanagement beschäftigt hat, musste feststellen, dass Sie aus der
ursprünglich olivgrünen Truppe eine bunte Bundeswehr
gemacht haben. Die Autos zum Beispiel kommen aus
dem Inland und dem Ausland, jedes sieht anders aus.
Hinsichtlich der Frage, ob die Truppe die Fahrzeuge bekommt, die sie angefordert hat, müssen Sie sich nur einmal bei den Fuhrparkzentren in Bonn oder in KölnWahn erkundigen. Dort wird man Ihnen die entsprechende Antwort geben.
Beim Bekleidungszentrum funktioniert das genauso
wenig. Es soll etwas Geld eingenommen haben, was damit zusammenhängt, dass man die alten Kleiderlager geräumt und die Kleider verkauft hat.
Was ist aus dem Liegenschaftsmanagement oder dem
so großartigen Projekt „Herkules“ geworden? Sämtliche
Bereiche der Technologie-, Informations- und Kommunikationstechnologie der Bundeswehr sollten der Privatwirtschaft übertragen werden. 70 kritische Fragen, die
der Rechnungshof leider stellen musste, sind bis heute
nicht erschöpfend beantwortet.
Wenn man nun von dem Vorhaben Abstand nehmen
will, soll das Bieterkonsortium angeblich Regressforderungen in Höhe von 500 Millionen Euro stellen, ohne
dass es irgendetwas erbracht hat. Es wurde nur viel Geld
ausgegeben. Es werden neue Gesellschaften gegründet,
bei denen viele ehemalige Mitarbeiter der Verwaltung eiDietrich Austermann
nen hoch dotierten Posten finden. Das scheint mir ein
wichtiger Punkt zu sein.
Zum Thema Public-Private-Partnership nenne ich als
weiteres Beispiel das GÜZ, das Gefechtsübungszentrum,
das in der Altmark eingerichtet worden ist. Die Idee
dazu stammt noch aus unserer Regierungszeit. Dort wird
hervorragende Arbeit geleistet, um Soldaten auf internationale Einsätze vorzubereiten. Es gab allerdings auch
hier Probleme mit der Ausschreibung. Ein Unternehmen
hat zu hoch gepokert, eines hat sich wohl übernommen.
Wir haben gedacht, der Auftrag könnte an ein neues Unternehmen vergeben werden. Aber sind Sie wirklich sicher, dass am 7. Januar 2004 die weitere Ausbildung für
Soldaten gewährleistet werden kann, die zum Einsatz
nach Kunduz geschickt werden? - Nein, das können Sie
nicht.
In allen Bereichen, in denen eine Zusammenarbeit
von Bundeswehr und Wirtschaft angestrebt wurde, funktioniert es nicht. Ich brauche nur das Thema Privatisierung der Flugbereitschaft zu erwähnen. Ich gehe davon
aus, dass die Vorschriften schon alleine deshalb nicht geändert werden, weil insbesondere die Minister von den
Grünen das dringende Bedürfnis haben, möglichst
schnell in alle Teile der Welt zu kommen, was der Steuerzahler dann bezahlt.
({1})
1999 haben Sie mit großem Brimborium die öffentlich-private Partnerschaft angekündigt. Der Bundeskanzler kam selbst, auch waren hochrangige Vertreter
der Industrie anwesend. Alle haben angekündigt, jetzt
beginne die gemeinsame Zukunft. Daraus ist wenig geworden. Es wurde nur Geld verschwendet. Herr Struck,
Sie haben in so manchem Bereich tüchtig angefangen,
aufzuräumen. Schreiten Sie auch hier ein. Das hat sich
nicht bewährt.
Ich komme zu meiner abschließenden Bewertung:
Defizite in den Bereichen Führungsfähigkeit, Nachrichtengewinnung und Aufklärung, Mobilität, Wirksamkeit
im Einsatz, Unterstützung, Durchhaltefähigkeit, Überlebensfähigkeit sowie Transport und Schutz bleiben bestehen. Diese Defizite sind zu beseitigen. Das muss unsere
gemeinsame Aufgabe sein.
Da diese Defizite aber nicht beseitigt worden sind und
viele falsche Ansätze verfolgt wurden, wird es Sie nicht
wundern, dass wir die Ausgestaltung der finanziellen
Basis der Bundeswehr, so wie sie im Moment besteht,
nicht mittragen können. Deshalb werden wir diesem
Verteidigungsetat nicht zustimmen.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Elke Leonhard.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich von dieser Stelle des Hohen Hauses zunächst unseren Dank an unsere Soldaten aussprechen. Die Arbeit der Bundeswehr genießt nicht nur im
Parlament und in der Bevölkerung hohes Ansehen; der
Einsatz für Menschen findet, wie wir immer wieder hören, auch internationale Würdigung.
({0})
Ob im Kosovo, in Bosnien, Mazedonien oder Afghanistan, unsere Soldaten sind gegenwärtig die besten Botschafter.
Sie erfüllen ihre Aufträge mit einem hohen Maß an
Professionalität und Effizienz und der für den Einsatz
unerlässlichen Disziplin und Sensibilität. Dafür nochmals unseren aufrichtigen Dank! Ob wir, wie das an dieser Stelle oft getan wurde, weiterhin über die Sinnhaftigkeit der Auslandseinsätze philosophieren sollten, ist eine
andere Frage.
Wer vor Ort war, wird die Realität nicht mehr ausklammern können, er wird sie immer vor Augen haben.
Lassen Sie mich stellvertretend für alle genannten Länder Afghanistan ansprechen. Terror, Krieg und Besatzung haben tiefe Spuren im Bewusstsein der Afghanen
hinterlassen. Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind daher
wichtige Komponenten des Normalisierungsprozesses.
Deutschland hat mit dem ISAF-Mandat Verantwortung für die Einhaltung des Petersberger Abkommens
übernommen. Wenn wir wirklich die Einsetzung einer
durch Verfassung und freie Wahlen legitimierten demokratischen Regierung im Jahre 2004 erreichen wollen,
dann muss der Auftrag noch weiter in die Provinzen hinaus ausgeweitet werden. Die Bundesrepublik hat sich
dieser Herausforderung mit Kunduz bereits gestellt. Im
Gegensatz zu den US-Teams mit ihrer starken militärischen Außenrepräsentanz liegt unser Schwerpunkt im
Aufbau der Infrastruktur mit zivilen Helfern. Der von
humanitären Hilfsorganisationen oft geforderte Verzicht
auf militärischen Schutz wäre allerdings illusorisch und,
so füge ich hinzu, außerdem gefährlich. Das beweisen
die Ereignisse in Kabul.
Ich war im Frühjahr mehrere Tage dort und möchte an
dieser Stelle betonen: Die Wiederaufnahme des zivilen
Luftverkehrs - es waren zwar nur wenige Tage, aber es
geht weiter -, die medizinische Hilfe deutscher Feldund Stabsärzte für die afghanische Bevölkerung - wer
die langen Schlangen sieht, die täglich vor den medizinischen Einrichtungen stehen, der kann nicht genug
Achtung vor den dortigen medizinischen Leistungen haben -, der Beginn unternehmerischer Aktivitäten - auch
dies ist eine Realität - und nicht zuletzt der Wiederaufbau von Schulen - die Kollegin Griefahn hat bereits über
die Amani-Schule und andere Projekte berichtet - wären
ohne die Arbeit der Bundeswehr undenkbar.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Erfolge dürfen wir auf keinen Fall kleinreden.
Mein nächster und damit zweiter Dank gilt der Bundesregierung.
({2})
Die Bundesregierung hat ihre Verantwortung international wahrgenommen. Deutschland ist ein verlässlicher
Partner. NATO, EU und Vereinte Nationen sind Bestimmungsgrößen deutscher Sicherheitspolitik. Deutschlands
Beitrag zum gesamten Aufgabenspektrum dieser Organisationen ist notwendig. Das sicherheitspolitische Gewicht
Deutschlands wird auch an den Beiträgen der Streitkräfte
gemessen. Unsere Streitkräfte sind modern, lernfähig und
auf allen Ebenen fähig zur Zusammenarbeit.
Die Bundeswehr ist im Umbruch. Der Bundesminister hat mit seinen Entscheidungen vom 21. Mai und vom
1. Oktober dieses Jahres Schritte hin zur Weiterentwicklung der Bundeswehr angeordnet. Die Vorgaben
erfordern eine bundeswehrweite Konzentration auf die
vor dem Hintergrund der neuen Aufgaben unbedingt
notwendigen Fähigkeiten und absehbare strukturelle
Eingriffe mit Folgen für das Fähigkeitsprofil.
An dieser Stelle möchte ich den Inspekteuren Feldt,
Gudera und Back sowie auch vielen anderen aus dem
Sanitätsbereich für intensive Gespräche und die Zusammenarbeit danken. Die Entscheidungen des Ministers
bilden zusammen mit den Ergebnissen der Kommission
und den bereits im Prozess befindlichen Reformschritten
ein Kontinuum auf dem Weg, Auftrag, Aufgaben und
Ressourcen wieder in Einklang zu bringen.
Die Berichterstatter des Verteidigungshaushaltes begleiten diesen Prozess mit Verantwortung und keineswegs nur - das sage ich für alle - mit dem Rotstift. Ich
bedanke mich an dieser Stelle für die Zusammenarbeit.
Es ist uns immerhin, wenn auch nur marginal, gelungen,
einige Akzente zu setzen, die vorher im Regierungsentwurf so nicht erkennbar waren.
Uns allen ist die Bedeutung der Bundeswehr für unser
Land und die internationale Community bewusst. Aber
auch das ist Realität: Der Verteidigungshaushalt ist eingebunden in den Entwurf des Bundeshaushalts 2004, der
geprägt ist von den anhaltenden konjunkturellen Verwerfungen mit ihren unmittelbaren Auswirkungen auf den
Haushalt. Ich erspare mir nähere Einzelheiten; denn das
Phänomen ist schon mehrere Tage in Streitgesprächen
diskutiert worden.
In der Sitzung des Haushaltsausschusses am
13. November 2003, der so genannten Bereinigungssitzung, haben die Mitglieder der Regierungskoalition mit
substanziellen Beschlussempfehlungen auf Vorschlag
der Berichterstatter für die heutige abschließende Lesung im Deutschen Bundestag in dem vorgelegten Regierungsentwurf deutliche politische Schwerpunkte gesetzt. Ob bei Eurofighter oder Herkules, ob im Bereich
von Forschung und Entwicklung oder Personal - wir haben Korrekturen vorgenommen, die einerseits den Prozess nicht behindern oder gar, was auch hätte vorkommen können, verlangsamen, aber andererseits die
Kontrolle ganz und gar in unseren Händen belassen.
Die Gesamtausgaben des Verteidigungshaushaltes 2004 betragen 24,2 Milliarden Euro. Damit verbleibt
es bei der mit dem Bundesfinanzminister in den Ressortvereinbarungen abgesprochenen Verstetigung des Verteidigungshaushaltes unter Berücksichtigung der ab
2002 bereitgestellten Zusatzmittel des Antiterrorpaktes.
Von den Rahmenbedingungen des Bundeshaushalts ist
auch der Verteidigungshaushalt betroffen. Die
Bundeswehr leistet auch 2004 wieder Beiträge zur
notwendigen Konsolidierung des Bundeshaushalts:
94 Millionen Euro durch Reduzierung der im Einzelplan 14 verbleibenden Einnahmen aus der Veräußerung
von Wehrmaterial; 151,5 Millionen Euro, die als globale
Minderausgabe im Einzelplan 14 zur Haushaltskonsolidierung im Haushaltsvollzug 2004 erwirtschaftet werden
müssen, also als Fortschreibung der Einsparzusage von
2003; und 248,2 Millionen Euro als Anteil des Einzelplanes 14 an der globalen Minderausgabe im Einzelplan 60
zur Finanzierung der Rentenversicherung, die ebenfalls
im Haushaltsvollzug 2004 im Einzelplan 14 erwirtschaftet werden müssen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit sinkt - das
hat der Kollege Austermann mit anderen Worten gesagt ({3})
das verfügbare Volumen des Einzelplanes 14 auf rund
23,8 Milliarden Euro. Aber das Haus hat es mit intelligenten Strategien geschafft, dass es zu keinen substanziellen Einschnitten kam.
({4})
- Da würde ich gar nicht lachen. Hätten Sie beispielsweise dem Steuervergünstigungsabbaugesetz im Frühjahr zugestimmt, dann hätte es einer GMA in dieser Größenordnung nicht bedurft. Hier muss ich einmal
unvornehm werden.
({5})
Daraus sind auch die einsatzbedingten Zusatzaufgaben aufgrund des erweiterten ISAF-Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan im Jahr 2004 zu finanzieren.
Für den Einzelplan 14 konnte dennoch im Ergebnis
ein Haushalt erreicht werden, der in einem für den Gesamthaushalt schwierigen Umfeld die weitere Umsetzung der Bundeswehrreform ermöglicht. Die Bundeswehr befindet sich im Prozess der Modernisierung der
Ausrüstung. Sie steigert die Attraktivität des Dienstes
in den Streitkräften und finanziert die erheblich ausgeweiteten internationalen Einsätze der Bundeswehr.
Innerhalb des Verteidigungshaushaltes sind als wesentliche Eckpunkte berücksichtigt: eine angemessene
finanzielle Vorsorge in Höhe von 1 092 Millionen Euro
für die Fortführung der laufenden internationalen Einsätze; ein Aufwuchs bei den Zeit- und Berufssoldaten
einschließlich der beschlossenen AttraktivitätsmaßnahDr. Elke Leonhard
men; der sozialverträgliche Abbau von Zivilpersonal,
der dazu beiträgt, dass die Personalausgaben mittelfristig
bei rund 51 Prozent der Verteidigungsausgaben eingefroren werden können; ausreichende Mittel für den Ausbildungs- und Übungsbetrieb der Streitkräfte - wir haben vom GÜZ gesprochen; ich hoffe, dass wir im
Dezember eine wirklich gute Vorlage bekommen, sonst
wird es in diesem Bereich noch einmal Änderungen geben müssen -; die Finanzierung der laufenden Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben, insbesondere der
Großvorhaben Eurofighter 2000, NH 90 und UH Tiger,
sowie notwendige Verpflichtungsermächtigungen für
neue Vorhaben.
Die eingangs angesprochenen, durch den Ausschuss
gesetzten Schwerpunkte finden sich in folgenden Bereichen: Der Ansatz für die Beschaffung des Eurofighters
2000 wurde um 50 Millionen Euro erhöht, und zwar verbunden mit der Möglichkeit, den Ansatz im Haushaltsvollzug um weitere 200 Millionen Euro zu verstärken.
Damit wird der termingerechte Programmverlauf unterstützt und der Programmverlauf der Folgejahre finanziell
entlastet.
Mit den hier ausgebrachten qualifizierten Sperren
macht der Haushaltsausschuss deutlich, dass die parlamentarische Wachsamkeit hinsichtlich der Kostenentwicklung nicht nachlässt. Durch eine spürbare Ansatzverstärkung in Höhe von 19 Millionen Euro zur
Verbesserung der Finanzierung des Forschungs- und
Technologiekonzeptes des Bundesministeriums der Verteidigung wird die Zukunftsfähigkeit - ich betone: die
Zukunftsfähigkeit! - der Ausrüstung der Streitkräfte,
insbesondere mit Blick auf die Schließung erkannter Fähigkeitslücken für die künftig im Vordergrund stehenden
Einsätze im Rahmen der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, stärker finanziell abgesichert.
Durch eine qualifizierte Sperre der Ausgaben für externe Beratung im Bereich der Informationstechnologie
wollen wir sicherstellen, dass das Ministerium verstärkt
auf die eigene Kompetenz zurückgreift, um vor allem
- das scheint mir ganz wesentlich - die Führung bei dem
Milliardenprojekt Herkules zu behalten.
Zu den weiteren Ausgabenbereichen des Verteidigungshaushaltes ist zu bemerken: Die Betriebsausgaben
sind, wenn auch nur marginal, rückläufig und die Personalausgaben werden unter der vorgegebenen Obergrenze
festgehalten.
Im Personalhaushalt ist es gelungen, im Rahmen der
parlamentarischen Beratungen weitere Verbesserungen
zugunsten der Soldaten der unteren Dienstgradgruppen
wie auch der Beamten des mittleren Dienstes zu erreichen. Sie ermöglichen bei Umsetzung der Beschlussempfehlung ab In-Kraft-Treten des Haushaltes bei den
Soldaten die Beförderungen von 690 Mannschaftsdienstgraden und weit über 6 600 Unteroffizieren.
({6})
Bei den Beamten des mittleren Dienstes der Bundeswehrverwaltung wurden die im Regierungsentwurf enthaltenen 205 Beförderungsmöglichkeiten um weitere 75
aufgestockt, wodurch unzumutbare Beförderungswartezeiten auf ein sozial verträgliches Maß zurückgeführt
werden können. Hierfür danke ich insbesondere meinen
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Der Haushalt
2004 leitet über zu den Zielen der von Bundesminister
Struck erlassenen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“. Auftrag, Fähigkeiten, Ausrüstung und die der
Bundeswehr zur Verfügung stehenden Mittel sind in ein
ausgewogenes Verhältnis mit der Bundeswehrplanung
zu bringen. Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr
werden mit dem Ziel überprüft, die Planung von Betrieb
und Investitionen einer realistischen Finanzentwicklung
anzupassen.
Mit den heutigen, an teilweise überholten Aufgaben
ausgerichteten Strukturen und dem - dringend modernisierungsbedürftigen - Zustand von Material und Ausrüstung - hier ist keiner blind, das sehen wir alle - können
die Anforderungen der Einsätze auf Dauer nicht erfüllt
werden. Das habe ich in einem sehr umfangreichen Bericht dargestellt. Ziel ist es, die Finanzierungsspielräume
zu erhöhen.
Lassen Sie mich abschließend an das Hohe Haus appellieren, endlich wieder gemeinsam die anstehenden
Probleme anzupacken und die Soldaten nicht durch taktische Manöver zu irritieren. Ich sagte schon zu Beginn:
Unsere Soldaten sind die besten Botschafter und sie verdienen, dass wir alles, aber auch alles tun, um unserer
Fürsorgepflicht gerecht zu werden.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Helga Daub.
Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Debatten und Entscheidungen der letzten Wochen haben wieder einmal gezeigt, wie komplex das Einsatzspektrum der Bundeswehr ist. Kunduz, Enduring
Freedom, Kosovo usw. sind Beispiele für die Belastung
unserer Soldaten, ob im Auslandseinsatz oder hier in
Deutschland. Der Bundeswehr gebührt unser Respekt
und unser Dank, den ich hiermit für die FDP-Fraktion
aussprechen möchte.
({0})
Herr Minister, Sie haben in der ersten Beratung des
Haushalts im September selbst Ihre missliche Lage beschrieben. Auch Sie hätten gerne mehr Geld, aber die Finanzsituation sei nun einmal so, wie sie ist. Schön und
gut - oder nicht schön und gut. Also müssen wir mit den
wenigen Mitteln so effektiv wie möglich umgehen.
Seit 1999 stehen Auftrag und Mittel der Bundeswehr
nicht mehr im Einklang.
({1})
Im internationalen Vergleich schneiden wir schlecht ab.
Während andere Staaten bis zu 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für ihren Verteidigungshaushalt bereitstellen, erreicht der deutsche Etat gerade einmal
1,3 Prozent. Insofern habe ich manchmal den Eindruck,
dass die verschiedenen Seiten dieses Hauses über unterschiedliche Haushalte sprechen.
({2})
- Danke, Herr Nolting. - Im Mai haben Sie, Herr Minister, in Ihren „Verteidigungspolitischen Richtlinien“
selbst darauf hingewiesen, dass die strukturelle Neuausrichtung und die materielle Modernisierung aufgrund der
Finanzmittel noch nicht im Einklang sind. Daraus resultiert Ihr Plan, innerhalb des Verteidigungshaushalts Umschichtungen zugunsten der investiven Aufgaben vorzunehmen.
Wie ernüchternd die Wirklichkeit doch ist! Diese
Wirklichkeit ist alleine von der zunehmend konfus handelnden rot-grünen Bundesregierung zu verantworten
und zwingt Sie, noch weiter in Ihrem Haushalt zu strecken und zu streichen, um wenigstens die allernötigsten
Investitionen tätigen zu können.
Laut einem Versprechen des Kanzlers und des Finanzministers waren Sie aber, im Gegensatz zu anderen
Ressortchefs dieser Regierung, in der vergleichsweise
komfortablen Lage, Einsparungen wenigstens in Ihrem
Haushalt verwenden zu können. Ich sage bewusst „waren“, denn jetzt gibt es wegen der erneuten, gravierenden
Verschlechterung der Haushaltslage für alle Ressorts
Globalkürzungen. Das heißt, der Verteidigungshaushalt
sinkt nicht nur real wie in den vergangenen Jahren, er
sinkt jetzt auch nominal, und zwar insgesamt, mit dieser
Globalkürzung, um stolze 500 Millionen Euro.
Mir kommt das Ganze vor wie die Geschichte vom
Hasen und Igel. Bei allen Einsparungsanstrengungen,
die Sie, Herr Minister, unternehmen, ist von anderer
Seite schon längst jemand da, der das Geld verfrühstückt
hat. So können wir nicht mehr erkennen - ganz im Gegensatz zu Ihren Plänen -, dass im Haushalt zugunsten
von Investitionen umgeschichtet wurde.
Ich finde es wirklich bedauerlich, dass Sie Vorschläge
machen, die unsere Unterstützung finden würden, diese
dann aber nicht umsetzen können.
({3})
Der Minister wollte eine Investitionsquote von
27 Prozent. Das steht so in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“, aber es ist nichts umgesetzt worden.
Im Gegenteil, im Etat sinken diese Investitionen um weitere 2,3 Prozent.
Ich möchte eine Frage in den Raum stellen. Mit dem
richtigen Argument der knappen Finanzmittel haben Sie
die ursprünglich übersteigerte Beschaffungszahl der
A400M reduziert. Die 73 Transportflugzeuge waren
ganz offensichtlich eine Maximalforderung, sozusagen
die 120-Prozent-Lösung für einen Streitkräfteumfang
von 290 000 Mann. Sind dann aber nicht jetzt auch die
60 A400M eine 120-Prozent-Lösung für einen Streitkräfteumfang von demnächst 250 000 Soldaten? Reicht
nicht eine 100-Prozent-Lösung aus, zumal bei schlechter
Kassenlage?
Wie verzweifelt unterfinanziert der Verteidigungshaushalt ist, mag das Beispiel des Seeaufklärers
Bréguet Atlantique darstellen. Diese völlig veraltete
Maschine muss mehr am Boden gewartet werden, als
dass sie in die Luft aufsteigen kann. Nun gibt es doch
tatsächlich ein Schnäppchenangebot aus den Niederlanden. Die wollen sich nämlich aus der maritimen Aufklärung zurückziehen und ihre Orion-Maschinen verkaufen.
Sechs Maschinen könnten wir gut gebrauchen. Sie kosten 300 Millionen Euro, die Mittel dafür sind aber im
Haushalt nicht bereitgestellt. Deutschland kann sich dieses Schnäppchen offenbar nicht leisten.
Auf der einen Seite sparen wir, auf der anderen Seite
machen wir Geschenke. Der Verkauf von Leopard-IIPanzern inklusive Wartungsvertrag - für einen Appel
und ein Ei - und der MiG-29 an Polen hat politischen
Wert und ist von großer Symbolkraft für die Zusammenarbeit mit den zukünftigen NATO-Partnern. Nur: Großzügigkeit muss man sich auch leisten können. Für uns
trifft das offenbar nicht mehr zu.
({4})
Kommen wir zur wehrtechnischen Industrie. Die
Beschaffungspolitik der Regierung für die Bundeswehr
lässt nicht gerade Hoffnung aufkeimen. Wenn es so weitergeht, wird es bald immer weniger wehrtechnische Industrie in Deutschland geben. Wir müssen zusehen: bei
der Abwanderung unseres Know-hows und bei wirtschaftlich begründeten Verkäufen an ausländische
Investoren. Die einzige Antwort der Regierung darauf
ist: „Ach, da machen wir ein Gesetz!“ Als Schlagzeile
klingt das auch gut. Aber die Sachlage ist nicht ganz so
einfach. In einer globalisierten Welt löst Protektionismus
das Problem nicht. Wenn Sie die wehrtechnische Industrie am Standort Deutschland halten wollen, dann müssen Sie ihr auch Aufträge erteilen.
({5})
Ich komme zurück zur Bundeswehr. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen eine gute Ausbildung und
eine gute Ausrüstung.
({6})
- Das kommt erschwerend hinzu. - Das ist aber immer
weniger gewährleistet. Es ist der immer noch hohen Motivation der Soldaten und Soldatinnen zu verdanken,
dass die Bundeswehr ihre Aufträge erfüllt. Aber wie soll
sich das in den nächsten Jahren aufrechterhalten lassen?
Schon beim Einsatz in Kunduz sollte auf Mittel aus anderen Ressorts zurückgegriffen werden. Wir können
doch nicht für die Zukunft über Verteidigungseinsätze
auf Pump diskutieren, weil der Verteidigungsetat neue
Einsätze nicht mehr schultern kann.
Die Finanzsituation unseres Landes ist angespannt.
Das sehen wir ein. Aber umso dringlicher ist es, Herr
Minister, dass Sie sich an die Strukturen wagen und mutiger an die Umgestaltung der Bundeswehr herangehen.
Sie bewegen sich schon in die richtige Richtung, aber
noch viel zu langsam und in punkto Wehrpflicht mut-,
saft- und kraftlos. Damit werden Sie scheitern.
Ich scheue mich fast, die Aussagen des Verteidigungsministers zu wiederholen, der seiner Angst Ausdruck verlieh, ohne Wehrpflicht würden deutsche Soldaten zu Söldnern. Herr Minister, das ist nicht nur für die
Berufs- und Zeitsoldaten beleidigend.
({7})
Ihre Worte vor der Führungsakademie der Bundeswehr
in Hamburg beschwören bei vielen das Bild von Berufsarmeen herauf, denen Soldaten mit angeblich niedrigen
Intelligenzquotienten angehören, die im Grunde genommen nichts anderes als drogensüchtige Killermaschinen
sind.
({8})
Genau diese Worte habe ich kürzlich in einem Gespräch
mit einem Journalisten gehört, Herr Arnold. Diesem Eindruck muss entgegengewirkt werden.
({9})
Zurück zur Wehrpflicht: Sie halten an ihr fest, obwohl
der Grundwehrdienst in den vergangenen Jahren immer
weiter verkürzt wurde. Die Ausbildung wird in immer
weniger Monate gepresst und dadurch wird sie sicher
nicht besser. Sie, Herr Dr. Struck, schlagen allen Ernstes
auch noch vor, Wehrpflichtige freiwillig in Auslandseinsätze zu entsenden. So stelle ich mir verantwortungsvolles Handeln der Bundeswehr wahrlich nicht vor.
({10})
Es wird immer wieder behauptet, dass eine Berufsarmee zu teuer sei. Das kann ich so nicht stehen lassen.
Man muss doch einmal über das Heute hinausblicken
und verantwortlich berechnen, wie sich die Kosten für
Ausbildung, Ausrüstung, Unterbringung etc. entwickeln
würden. Das muss mit Weitblick und Sorgfalt geschehen, weil wir - das unterstelle ich jedem in diesem
Hause - eine gut ausgerüstete Bundeswehr wollen, die
sich den neuen Aufgaben gewachsen zeigt.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Bonde.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundeswehr leistet einen wichtigen Beitrag zur verantwortlichen und vorausschauenden internationalen Sicherheitspolitik dieser Regierung. Unser Handeln erfolgt
mit Augenmaß, gemeinsam mit unseren europäischen
Partnern und eingebunden in internationale Bündnisse,
deren Bedeutung in Zukunft noch weiter zunehmen
wird.
Das Einsatzspektrum im Ausland - so vielfältig es in
der Gesamtheit sein mag - dient einem Zweck: der Krisenprävention und -nachsorge sowie der Stabilisierung
von regionalen Konfliktherden. Unsere diplomatischen,
außenpolitischen und entwicklungspolitischen Anstrengungen werden so sinnvoll ergänzt. Zudem freut es mich
- ich tauche einmal in die kleinen Details des Einzelplans ein -, dass auch der Verteidigungseinzelplan im
Jahre 2004 einen bescheidenen Beitrag zur Friedensforschung leisten wird. Damit macht er deutlich, wie intensiv die Verzahnung und wie groß die Bedeutung gerade der zivilen Konfliktprävention sind.
({0})
Die Transformation der Bundeswehr ist auf dem Weg.
Mit dem vorgelegten Haushalt sind die Streitkräfte bei
aller Knappheit der Mittel in der Lage, auf dem bisher
beschrittenen Weg von der nationalen Verteidigungsarmee hin zur einsatzfähigen Armee fortzuschreiten. Im
Jahre 2004 werden 24,212 Milliarden Euro zur Verfügung stehen; ich gebe zu, dass dies geringfügig weniger
als in diesem Jahr ist. Sicherlich hätte der Verteidigungsminister gern einen größeren Plafond erhalten. Angesichts der dringenden Konsolidierungsnotwendigkeiten
und der wirtschaftlichen Situation ist aber - hier ist die
Bundeswehr in guter Gesellschaft - nicht mehr Geld
vorhanden. Natürlich muss sich auch das Verteidigungsministerium im Rahmen der globalen Minderausgabe am
Schließen der aus der Rentenversicherung stammenden
Haushaltslücke beteiligen.
Minister Struck gebührt auch an dieser Stelle Lob.
Bei ihm gab es - im Gegensatz zur Opposition - zu keiner Zeit die Tendenz, die Augen vor der Realität zu verschließen und kurz vor Weihnachten mit glänzenden Augen eine Wunschliste vorzulegen, auch wenn ein solcher
Versuch aufgrund der zeitlichen Nähe der Bundeswehrreformplanung nahe gelegen hätte.
({1})
Ziel aller Beteiligten muss es auch über diesen Haushalt hinaus sein, die Betriebskosten der Bundeswehr zu
senken, um Spielräume für Investitionen zu eröffnen.
Dass der Weg dahin steinig ist, merken wir; aber die
Weichen sind gestellt. Da der Plafond für die nächsten
Jahre feststeht, die Investitionen aber steigen sollen,
müssen die Betriebs- und Personalkosten sinken. Erkennbar ist, dass wir die Reformschraube an dieser
Stelle noch ein Stückchen weiter drehen müssen.
({2})
Bei der Verplanung der gesteigerten Investitionsmittel
war die Bundeswehr bekanntermaßen immer recht fleißig. Bis 2008 stehen die Kosten für anlaufende Beschaffungsvorhaben in einem sehr ambitionierten Verhältnis
zum bisherigen Etat. Daher war uns Haushältern klar,
dass es höchste Zeit war, die Bestellungen dem Etat
anzupassen. Vor allem das fliegende Gerät schlägt in den
nächsten Jahren eine große Bresche in die Beschaffungstitel. Umso wichtiger ist es, deren Kostenentwicklung
genau im Auge zu behalten und von prestigeträchtigen
Großprojekten, die es in Zukunft nicht mehr geben kann,
Abschied zu nehmen. Stattdessen werden die unspektakulären, aber dringend notwendigen Projekte des Heeres
an Bedeutung gewinnen.
Herr Kollege Austermann, Sie haben den Eurofighter angesprochen. Auch an dieser Stelle hinterließen Sie
uns ein Erbe, das wir leider nicht ausschlagen konnten.
In der Tat, der Eurofighter benötigt in diesem Jahr möglicherweise bis zu 250 Millionen Euro mehr. Dem tragen
wir Rechnung, indem wir 50 Millionen Euro im Baransatz und 200 Millionen Euro an Verstärkungsmitteln eingeplant haben, um die rechtlichen Verpflichtungen, die
die heutige Opposition zu ihrer Regierungszeit eingegangen ist, einlösen zu können. Sie wissen, dass wir
diese Mittel gesperrt haben. Wir werden sie nur dann
auszahlen, wenn man uns im Haushaltsausschuss nachweist, dass die Auszahlung durch das Erreichen der Meilensteine wirklich notwendig ist. Der Eurofighter
krankte in der Vergangenheit nämlich nicht an zu viel,
sondern eher an zu wenig parlamentarischer Kontrolle.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Pläne von
Bundesminister Struck für die Zukunft der Bundeswehr
weisen in die richtige Richtung: Verkleinerung der Bundeswehr, Reduzierung der Truppenstärke, vor allem der
Zahl der Wehrpflichtigen, und eine betriebswirtschaftliche Analyse der vorhandenen Truppenstandorte. Das
ist Voraussetzung für eine wirtschaftlichere Nutzung der
vorhandenen Ressourcen. Vor allen Dingen bei den
Standorten lässt sich auch weiterhin noch viel Geld einsparen.
({3})
Bisherige Stationierungskonzepte waren oft von Parteipolitik, Kommunalpolitik und Wirtschaftspolitik geprägt. So mancher Wahlkreisproporz hat Samthandschuhe beim Anpacken der Problematik erfordert.
Vor diesem Hintergrund ziehe ich folgende Bilanz:
Angesichts der neuen sicherheitspolitischen Anforderungen muss über die Frage der Präsenz der Truppe in der
Fläche neu diskutiert werden. Sie, Herr Minister, haben
die Unterstützung meiner Fraktion, wenn es um die Restrukturierung bzw. die Reduzierung der Gesamtzahl der
Standorte geht.
Die vorgeschlagene Reform im Personalbereich ist
mutig und geht in die richtige Richtung. Es wird Sie,
Herr Minister, allerdings nicht verwundern, dass meine
Fraktion aus vielerlei Gründen davon ausgeht, dass am
Ende der Reform eine Freiwilligenarmee mit einer
Stärke von maximal 200 000 bis 220 000 Soldaten stehen wird und dass der jetzige Reformansatz mit dem Ziel
der Reduzierung des Umfangs der Streitkräfte auf
250 000 Soldaten und 30 000 bis 50 000 Wehrpflichtige
nur ein Schritt in die Richtung ist, die wir uns wünschen
und die auch Sie sich sicherlich wünschen.
({4})
- Angesichts dessen, was ich gerade gesagt habe, können Sie sich Ihre Zwischenfrage sparen.
Zum Schluss möchte ich den Soldatinnen und Soldaten für ihre Arbeit danken. Wir wissen, dass wir ihnen
mit der Bundeswehrreform viel zumuten, und zwar auch
im persönlichen Bereich. Wir können ihnen diese Reform nicht ersparen. Denn für die Bundeswehrreform
gilt das Gleiche wie für eine Igelhochzeit: schmerzhaft,
aber dringend notwendig.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es sei mir erlaubt, dass ich mich zu Beginn meiner Rede beim ganzen Hause und insbesondere bei den
vielen Kolleginnen und Kollegen bedanke, die mich in
den letzten Monaten begleitet haben. Es ist gut, zu merken, dass wir nicht nur streiten - das ist in einer Haushaltsdebatte sicherlich notwendig -, sondern auch
menschliche Wärme geben können. Diese habe ich gespürt. Herzlichen Dank dafür!
({0})
Nicht nur wegen der letzten schrecklichen Terrorakte
in der Türkei ist es an der Zeit, dass wir uns mehr als bisher mit den Gefahren für unser Land und die Menschen
sowie den Herausforderungen und den notwendigen Antworten darauf in öffentlicher Debatte auseinander setzen.
Schade, dass die Runde derjenigen, die über den
Einzelplan 14 beraten, relativ klein ist. Alle, auch diejenigen draußen im Lande, sollten wissen, dass es angesichts der Bedrohung notwendig ist, dass wir uns versichern, dass wir die Aufgaben, die wir als Verantwortliche
in diesem Staat haben - sei es als Regierungsmitglied
oder als Parlamentarier -, im Sinne unserer Bürger wirklich wahrnehmen. Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger
dürfen das erwarten. Viele sind verunsichert, fühlen sich
allein gelassen und wissen nicht, wohin das alles führt
und ob das, was geschieht, richtig ist.
Im Hinblick auf die Rolle der Streitkräfte kann man
bei Graf Baudissin Folgendes nachlesen:
Armeen taugen nur etwas, wenn sie die Struktur der
Nation widerspiegeln und wenn sie vom gleichen
Geist beseelt sind, der diese Nation trägt.
Leider ist bei vielen in unserem Land in Vergessenheit geraten, dass Stabilität und Frieden sowie Verlässlichkeit der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen, also der außen- und sicherheitspolitischen
Strukturen unserer Nation, einen langen Atem erfordern.
Nur demjenigen, auf den man sich in schwieriger Zeit
verlassen kann, wird geholfen. Nur wer in der Lage ist,
Christian Schmidt ({1})
zu helfen, wird ernst genommen. Deswegen berührt die
Bundeswehrreform - das ist bereits mehrfach apostrophiert worden - unsere Interessen tiefer, als das möglicherweise im Finanzministerium gesehen wird.
Notwendig ist eine Reform, bei der die Bundeswehr
als Instrument der Krisenintervention und der Krisenprävention außerhalb unseres Landes und des Bevölkerungsschutzes vor asymmetrischen Bedrohungen innerhalb
unseres Landes verstanden wird. „Gesamtverteidigungskonzept“ hat Minister Struck dies in seinen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ genannt. Es bleibt abzuwarten, ob es auch zu einer entsprechenden Umsetzung
kommen wird.
Notwendig ist eine Bundeswehr, die aufgrund ihrer
Stärke und Ausrüstung in der Lage ist, sich an größeren
Aktionen und längerfristigen Engagements zu beteiligen, ohne dass sie dabei die Heimatverteidigung - in einem modernen Sinne - vernachlässigt. Ich glaube nicht,
dass dies mit 230 000 bis 240 000 Soldaten erreicht werden kann. Ich nenne diese Zahlen, weil ich im Geiste
schon einmal berechnet habe, wie viele von den 250 000
Soldaten nach dieser oder jener Streckung eigentlich übrig bleiben. Herr Bonde, ich rede gar nicht erst von der
Zahl von 200 000 Soldaten, mit der Sie uns hier schockiert haben. Es mag bezweifelt werden, ob diese Zahl
erreichbar ist. Wir sollten darüber streiten, und zwar in
einer qualifizierten Debatte. Ich halte es für ausgeschlossen, dass eine moderne Heimatverteidigung ohne
Wehrpflichtige und Reservisten organisiert werden kann.
({2})
Ich lade dazu ein, dieses Thema wirklich zu diskutieren. Dafür mag die Haushaltsdebatte allein nicht ausreichen; aber es ist unsere Pflicht und Aufgabe, diese Fragen in den nächsten Monaten und Jahren zu
beantworten, bevor es für Lösungen zu spät ist und wir
gefragt werden: Was habt ihr denn getan? Hättet ihr
nicht etwas tun müssen?
({3})
Ein Weißbuch der Bundesregierung ist übrigens schon
deswegen dringend notwendig, damit die gesamte Bundesregierung gezwungen wird, eine nachprüfbare Position zu den Problemen der äußeren Sicherheit zu beziehen. Es steht mir nicht an, zu sagen: Möglicherweise
würde das ab und an auch die Situation des Bundesverteidigungsministers erleichtern und dafür sorgen, dass er in
gewissen Fragen mit seiner Position nicht alleine steht.
Nicht allein die Bundeswehr macht Außenpolitik; sie ist
ein Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik. Deswegen kann nicht allein der Verteidigungsminister Position beziehen, sondern es bedarf auch anderer, die am
gleichen Strang ziehen.
Die Regierung muss dem Volk sagen, dass eine Armee letztendlich in der Lage sein muss, Gewalt anzuwenden. Dafür braucht sie - nicht nur - eine entsprechende Ausrüstung. Sie muss ihm auch sagen, dass eine
neue Notwendigkeit zur Verteidigung gerade im Hinblick auf den internationalen Terrorismus besteht und
dass man diesem Anspruch nur mit großen Anstrengungen gerecht werden kann.
Das Parlament muss an der Beantwortung der konzeptionellen Fragen beteiligt werden. Dies ist meiner
Meinung nach sogar wichtiger als die Abstimmung über
die Frage - sie steht am Ende einer Entwicklung -, ob
sich die Bundeswehr an einem Einsatz - die Vorgaben
dafür kann das Parlament eigentlich nicht mehr beeinflussen - beteiligen soll.
Gegenwärtig können wir nur am Ende des Entscheidungsprozesses über Art und Umfang von Auslandseinsätzen der Bundeswehr abstimmen. Wir haben uns bisher immer entschieden, diese Einsätze mitzutragen. Wir
konnten bisher aber nicht darüber entscheiden, in welche
Richtung sich die Aufgaben und Strukturen sowie der
Umfang von Personal und Material der Streitkräfte zukünftig weiterentwickeln sollen.
Es wäre auf der einen Seite wünschenswert, wenn wir
über diese Fragen im Parlament diskutierten. Auf der anderen Seite wäre es wünschenswert, dass wir uns hinsichtlich der Entscheidungen über konkrete Einsätze auf
ein neues Parlamentsbeteiligungsgesetz verständigen.
Erste Gespräche fanden bereits statt und weitere werden
in dieser Woche stattfinden. Ich begrüße das. Es handelt
sich hierbei um eine Aufgabe, die sich das Parlament
selbst stellen muss und auch lösen sollte.
Dabei sollten unsere Rechte als Parlamentarier in Bezug auf den Einsatz bewaffneter Streitkräfte und die - so
formuliert es das Bundesverfassungsgericht - ungeschmälerte außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung neu austariert werden. Ich sage das als ein
Parlamentarier, der in dieser Funktion auch für den gesamtstaatlichen Bereich Mitverantwortung trägt. Aufgrund dieser Mitverantwortung müssen die Beratungen
über eine mögliche Beteiligung an internationalen
Streitkräften möglichst zu einem solchen Zeitpunkt
stattfinden, zu dem wir noch wirklich Einfluss nehmen
können. Mir ist es fast lieber, dass wir mit entscheiden
können, wie die Soldaten, die sich an einem Einsatz beteiligen, ausgestattet werden und welche Unterstützung
und Möglichkeiten sie - beispielsweise im Bereich
Kommunikation - erhalten, als dass wir am Schluss nur
die Hand heben. Das ist die Aufgabe für die nächste Zeit.
Mir liegt am Herzen, dass wir uns über die Frage der
Gesamtverteidigung verständigen. Ich möchte unterstreichen, dass ich diesbezüglich manches Interessante
gelesen habe. Frau Kollegin Daub, ich unterstütze das,
was Sie dazu gesagt haben. Wir müssen den Stellenwert
der Bundeswehr und der Sicherheitspolitik gemeinsam
verbessern, und zwar nicht weil wir Militaristen sind
- ganz und gar nicht -, sondern weil wir wissen, dass es
für die Verteidigung und für den Schutz unserer Bevölkerung und unserer Bündnispartner vor Gefahren notwendig ist, Entscheidungen zu treffen, die wehtun und
viel kosten, deren langfristige Wirkung aber wichtig ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden in dieser Woche nicht nur über den Haushalt,
sondern wir reden auch über die Modernisierung unseres
Landes in einem ganzheitlichen Sinne: von der Sozialüber die Steuerpolitik bis hin zur Transformation der
Bundeswehr.
Die Reform der Streitkräfte ist schon sehr weit gediehen, weil an der Spitze des Verteidigungsministeriums richtig und entschlossen entschieden wird und - ich
sage das sehr deutlich - weil es der Union bei diesem
Reformvorhaben nicht gelingt, über den Bundesrat Sand
ins Getriebe zu streuen. Aus diesen zwei Gründen kommen wir in diesem Bereich in der Tat voran.
Auch zu diesem Bereich haben Sie keine eigene Meinung. Sie wissen nur, was Sie nicht wollen. Wenn ich
mir Ihre Papiere anschaue, dann stelle ich fest, dass die
CSU am liebsten an einer Streitmacht mit
330 000 Soldaten festhalten würde, während die CDU
sagt, dass es auch ein bisschen weniger sein darf. Sie äußern sich nicht dazu, wie die neuen Aufgaben im neuen
Spektrum gewichtet werden müssen. Herr Austermann
hat es noch einmal bestätigt, indem er die Frage der
Standorte in den Mittelpunkt gestellt hat und nicht die
Frage, was die Bundeswehr in Zukunft zur Gewährleistung der Sicherheit des Landes tatsächlich können muss.
Am wahrscheinlichsten sind heute und auch in Zukunft Einsätze der Bundeswehr zur Krisenbewältigung
und Konfliktverhütung. Herr Austermann, es geht bei
dieser Transformation überhaupt nicht darum, eine Interventionsarmee zu schaffen; es geht darum, ein wichtiges
Segment bei den Streitkräften zu haben, das auch für robuste Einsätze geeignet ist. Das wichtige Profil, dass die
Streitkräfte auch im friedensbewahrenden und stabilisierenden Bereich tätig sein können, wird diese Koalition
nicht aufgeben. Das wird parallel dazu gestärkt.
Das werden wir nur können - das sage ich ganz deutlich, auch zu Ihnen, Herr Bonde -, wenn wir mit den
Streitkräften auch im Hinblick auf die Personenzahl verantwortlich umgehen.
({0})
Es geht eben nicht mit 200 000 Soldaten. Wenn wir die
Aufgaben im Innern einbeziehen, sind schon eher
250 000 Soldaten notwendig, wie auch der Minister entschieden hat.
Wir müssen bei der Bundeswehr deutlich umsteuern.
Klar ist dabei auch: In den letzten vier Jahren, seit Beginn der Reform hat sich eine Menge verändert. Es gibt
Dinge, die wir damals nicht gekannt haben: die asymmetrische Bedrohung, eine lange Durchhaltefähigkeit bei
der Krisenbewältigung. All das haben wir uns vor vier
Jahren noch nicht so vorgestellt. Der europäische Integrationsprozess bei den Streitkräften und konzeptionelle
Überlegungen der NATO müssen neu bewertet werden.
Die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ vom Mai
dieses Jahres sind für die Planungsarbeit die richtige
Vorgabe. Sie werden in Zukunft die Fähigkeit und die
Struktur der Bundeswehr tatsächlich bestimmen.
Selbstverständlich - das ist ganz klar - kann nicht alles in diesem Haushalt abgebildet werden. Der Haushalt
hat aber eine Brückenfunktion zur Transformation. Der
Haushalt ermöglicht einen seriös finanzierten Einstieg in
die Umsetzung konzeptioneller Ziele und dient der Vorbereitung weiterer Reformschritte. Er setzt auch klare
Prioritäten. Natürlich ist dabei das finanziell Machbare
das Maß der Dinge.
Klar ist auch: Auf solide Ausbildung und auf Schutz
im Einsatz legen wir Wert. Es fehlt dort an nichts. Das
ist für die Soldatinnen und Soldaten sicherlich das Allerwichtigste.
Wir legen auch Wert darauf, den Soldatenberuf durch
ein ganzes Bündel von Maßnahmen attraktiv zu halten.
Hierdurch wurde im personellen Bereich, aber auch in
anderen Bereichen eine ganze Menge erreicht. Ich
möchte unserer Haushälterin, Frau Dr. Leonhard, ausdrücklich für ihren Einsatz für die Streitkräfte, für die
Menschen bei der Bundeswehr recht herzlich danken.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Austermann?
Gern.
Herr Kollege, Sie haben darauf hingewiesen, dass die
Bundeswehr für internationale Einsätze ausgerüstet ist
und dass es da an nichts fehlt. Wie vereinbart sich das
mit der Aussage der Staatsministerin im Auswärtigen
Amt, Kerstin Müller, in einem Schreiben von vor wenigen Tagen an den Kollegen Frankenhauser - es geht um
den Kunduz-Einsatz -, die lautet: „Darüber hinaus wirbt
die Bundesregierung, gemeinsam mit den USA, bei Partnerländern für die Bereitstellung benötigter militärischer
Ausrüstung.“?
Ich kenne dieses Schreiben nicht. Deshalb können Sie
mich damit auch nicht konfrontieren. Ich weiß aber eines
- Sie wissen es auch -: Alles, was die Soldaten und die
militärische Führung für Kabul und für den Balkan an
Mitteln für Geräte von uns erwartet haben, haben Sie
und wir im Haushaltsausschuss gemeinsam genehmigt.
({0})
Ich verlasse mich auf die Kompetenz des Generalinspekteurs und seiner Generäle, wenn es darum geht, zu formulieren, was sie brauchen.
Ich habe überhaupt keinen Anlass, hier anderen Leuten zu vertrauen. Ich vertraue der militärischen Führung.
Das, was sie für notwendig gehalten hat, hat sie auch erhalten: Fahrzeuge, solide Bauten und - das ist uns ganz
wichtig - eine gute Vorsorge im Sanitätsbereich und vieles andere mehr. Es wurde in den letzten Jahren gerade
in die technischen Fähigkeiten investiert, die für die Einsätze notwendig sind.
({1})
Schön, dass Sie fragen, Herr Kollege Austermann.
Herr Kollege Arnold, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Austermann zu?
Ja, gerne.
In dem besagten Schreiben ist auch die Bemerkung
enthalten, dass davon ausgegangen wird, dass die für den
ISAF-Einsatz noch bestehenden Ausrüstungslücken - darunter auch Hubschrauber - befriedigend geschlossen
werden. Das heißt, auch hier besteht insofern ein ungelöstes Problem, als offensichtlich der Generalinspekteur
doch nicht, wie Sie ja gesagt haben, alles erhalten hat,
was er möchte. Liegt das möglicherweise daran, um mit
einer Frage zu enden, dass das Geld im Verteidigungsetat nicht ausreicht, um die nötigen Lücken bei den Gerätschaften, die für Schutz und Versorgung notwendig
sind, zu füllen?
({0})
Offensichtlich ist Ihnen entgangen, Herr Austermann,
obwohl Sie Haushälter sind,
({0})
dass gerade bei den großen und schweren Transporthubschraubern in den nächsten Monaten die Triebwerke komplett erneuert werden; es geht um 48 neue
Aggregate. Der Hubschrauber wird dann wieder auf einem Stand sein, bei dem er gut in großer Höhe fliegen
kann. Offensichtlich ist Ihnen entgangen, dass sich der
Hubschrauber „Tiger“ im Zulauf befindet und ein leichterer Transporthubschrauber in den nächsten Jahren als
Zulauf geplant ist. Gerade an diesen Beispielen sehen
Sie, dass wir die bestehenden Lücken ziemlich zielstrebig, aber natürlich unter Setzung der notwendigen Prioritäten schließen werden.
({1})
Eines ist aber auch klar: Den ganzen Investitionsstau
können wir nicht mit dem Haushalt eines Jahres beseitigen. Im Übrigen wissen Sie so gut wie ich: Unsere Industrie wäre, selbst wenn wir das Geld hätten, gar nicht
in der Lage, innerhalb von wenigen Monaten die notwendigen Fluggeräte zu liefern. Auch dafür bedarf es
einfach Zeit.
Ihre Krokodilstränen in dem Bereich - ich greife einmal das Beispiel Eurofighter auf - haben mich wirklich
geärgert.
({2})
Sie haben uns mit dem Eurofighter ein Fluggerät auf den
Hof gestellt, das überhaupt nicht ausreichend ausgestattet ist, weil Sie alles getan haben, um die Kosten schönzurechnen. Wir müssen jetzt mühsam die notwendige
Technik nachrüsten und für die notwendige Bewaffnung
sorgen - das haben wir getan.
({3})
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
machen einen ganz entscheidenden Fehler: Sie glauben
immer, mehr Geld wäre allein ein Indikator für mehr Sicherheit in unserer Gesellschaft.
({4})
Wir müssen wirklich noch einmal darüber nachdenken,
ob die Wahrung der Sicherheit allein über den Verteidigungsetat definiert werden kann. Angesichts der heutigen gesellschaftlichen Probleme halte ich diesen Ansatz
für falsch.
({5})
Es ist doch ganz klar: Sicherheit und Stabilität hängen in Deutschland, in Europa und auch in den Teilen
der Welt, in denen wir Verantwortung tragen, in ganz hohem Maße davon ab, ob es gelingt, sozial ausgeglichene
Verhältnisse zu schaffen und für wirtschaftliche Kraft zu
sorgen. Wer glaubt, er könne unter dem Strich etwas Gutes erreichen, wenn er Investitionen in soziale Sicherungssysteme und solche für das Militär gegeneinander
ausspielt, der irrt sich. Er wird im Übrigen auch keine
Verbesserung der Situation der Soldaten erreichen. Die
Soldaten wissen sehr wohl, wo sie in unserem Gemeinwesen stehen und dass selbstverständlich auch der Verteidigungsetat seinen Beitrag zur Konsolidierung der
Staatsfinanzen zu leisten hat.
({6})
Es ist wirklich sehr billig und sehr einfach, immer
mehr Geld zu fordern. Wir gehen den Weg der Reduzierung der Betriebskosten und des sozialverträglichen Personalabbaus über eine lange Zeitschiene, also nicht mit
der Rasenmähermethode. Dies wird neue Spielräume für
Investitionen eröffnen. Eine wichtige Säule bei der
Schaffung dieser Spielräume, Herr Austermann, ist es in
der Tat, die Verzahnung der Fähigkeiten der Wirtschaft
mit denen der Soldaten zu verbessern. Ich gebe ja zu,
dass wir uns das leichter vorgestellt haben. Das liegt
auch an den Gesetzen. Vielleicht sollten wir, statt darüber zu jammern, miteinander darüber nachdenken, wie
die Gesetze vom Parlament verändert werden können,
wenn sie mehr hemmen als helfen; denn diese sind ja
nicht vom Himmel gefallen.
Es hat aber auch etwas mit Köpfen zu tun, nämlich
mit den Frauen und Männern auch in der Wehrverwaltung, die glauben, sie müssten Barrieren aufbauen, um
ihren Gemüsegarten und ihre Interessen möglichst zu
wahren.
Jetzt kommt das eigentlich Problematische, Herr
Austermann. Mein Eindruck ist - ich habe die Entwicklung
der GEBB in den letzten Jahren sehr genau verfolgt -, dass
Sie und Teile Ihrer Fraktion mit dem Beharren im Ministerium in der Frage „Wie blockieren wir diesen Fortschritt?“ über Bande spielen. Sie sind Partner dieser Blockierer. Das ist nicht in Ordnung.
({7})
Wir wollen diesen Prozess weiterführen, weil die
Streitkräfte ihn brauchen. Wir tun dies nicht nur, um
Geld einzusparen; es hat auch etwas mit der Qualität der
Arbeit zu tun.
Als ich eben hierher gelaufen bin, stand ein großes
Auto des Flottenmanagements vor der Tür. Sie haben
uns Fahrzeuge überlassen, deren LKWs ein Durchschnittsalter von 16 Jahren hatten. Der Wagen der Soldaten, der heute vor der Reichstagstüre steht, ist nagelneu.
Diese Kooperation mit der Wirtschaft in diesem Bereich ist ein Erfolgsmodell.
({8})
Ich denke, wir sollten im Bereich der Streitkräfte eines, was Sie hier die ganze Woche bei den anderen Haushaltstiteln praktiziert haben, nicht tun, nämlich dieses
Land und seine Fähigkeiten strukturell in Gänze schlechtreden. Wir werden den Weg der Modernisierung der
Bundeswehr weitergehen. Wir wissen: Die Truppe ist
gut ausgebildet. Sie ist gut motiviert. Was gibt es für einen besseren Beweis als die Anerkennung unserer Partnerländer? Wo immer deutsche Soldaten im Einsatz sind,
hören wir: Sie leisten hervorragende Arbeit. Deshalb
kann es nicht sein, dass die Bundeswehr so schlecht dran
ist, wie die Opposition uns hier einzureden versucht.
Nein, sie ist gut dran und sie wird noch besser werden,
wenn wir die Reform entschlossen weitertreiben.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Siebert, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Arnold, Sie sind mir im Verteidigungsausschuss bisher eigentlich als ein sachlicher und kompetenter Kollege aufgefallen.
({0})
Aber was Sie heute hier vorgetragen haben, ist nichts anderes als der Versuch, etwas schönzureden.
({1})
Wenn Sie darstellen, dass es unseren Soldaten bei ihren
internationalen Einsätzen im Moment im Grunde genommen an nichts fehle, dann ist das in der Tat nichts
anderes als schönreden; ich komme in meiner Rede darauf zurück.
In Ihrer Haushaltsrede vom 10. September 2003 sprachen Sie, Herr Minister Struck, von einem Etat-Ansatz
von 24,4 Milliarden Euro. Ihre Worte waren:
Dass das praktisch weniger bedeutet als im Vorjahr,
muss mir niemand erzählen. Das hängt mit der Erhöhung der Besoldung und dem Anstieg der Preise
zusammen.
Dies bezeichnen Sie als den Beitrag des Bundesverteidigungsministeriums zur Konsolidierung des Gesamthaushaltes. Sie wiesen stolz auf eine Verstetigung hin. Auch
heute sprachen Sie wieder von 24,4 Milliarden Euro im
Jahre 2003, 24,4 Milliarden Euro sollten es 2004 sein,
ebenfalls 24,4 Milliarden Euro im Jahre 2005.
Die Worte hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!
Ihr persönliches Ansehen, Herr Struck, ist zwar im Gegensatz zu dem Ihres Vorgängers Scharping deutlich höher - sowohl hier im Bundestag als auch in der Truppe -;
das hängt sicherlich mit Ihrer Art, persönlichen Umgang
zu pflegen, zusammen.
Aber die zählbaren Ergebnisse sind noch magerer:
Heute wollen Sie einen Einzelplan 14 beschließen lassen, in dem nur noch 23,8 Milliarden Euro vorgesehen
sind. Über eine halbe Milliarde Euro weniger - ist das
Ihre Interpretation von Verstetigung? Diese Reduzierung
bedeutet jedenfalls zusätzliche drastische Einschnitte für
die Bundeswehr. Mit diesem - jetzt auch nominal - sinkenden Etat wird die Unterfinanzierung der Bundeswehr weiter verschärft. Zur Auftragserfüllung, zur
Wahrnehmung unserer internationalen Verpflichtungen
im Rahmen der NATO und der EU-Eingreiftruppe sowie
zur Modernisierung und Rationalisierung der Bundeswehr ist aber eine substanzielle Steigerung des Verteidigungsetats dringend notwendig.
Nichts kann die von Rot-Grün erzeugte desolate Finanzlage im Einzelplan 14 besser beschreiben als die
Worte eines führenden Generals:
Die erhofften Einsparungen der erst kürzlich beschlossenen Reduzierung auf 250 000 Mann sind
inzwischen einer globalen Minderausgabe zum Opfer gefallen.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Wird die Reduzierung auf 200 000 bis 220 000 Soldaten, die der Kollege
Bonde eben vorgetragen hat, genau diese Lücke wieder
auffüllen? Wird das die Frage sein, mit der wir uns in
den nächsten Monaten auseinander zu setzen haben? Wir
werden es sehen.
In dieser misslichen Ausgangslage haben Sie sich zu
einem radikalen Umbau unserer Streitkräfte entschlossen, Herr Minister: weg von der Landesverteidigung hin
zu einer flexiblen Bundeswehr, die weltweit einsetzbar
sein soll. Allerdings stellt Rot-Grün immer weniger Mittel zur Verfügung, einerseits für die Reformen, andererseits für die zusätzlichen Einsätze, und erzeugt damit einen enormen Druck auf die Streitkräfte, ja auf jeden
einzelnen Soldaten. Gleichzeitig bauen Sie Personal ab,
stellen nur noch begrenzte Mittel für die Materialbeschaffung und für Forschung und Entwicklung zur Verfügung und nehmen die Mittel für Materialerhaltung und
Betriebskosten zurück. Und trotzdem erhöhen Sie kontinuierlich die Aufgaben, insbesondere durch die zahlreichen Einsätze im Ausland.
In der Hauptsache ist es dem besonderen Engagement
unserer Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, dass sie
den Aufgaben, die sie im Rahmen internationaler Friedenssicherung zunehmend übernehmen müssen, gerecht werden können. Dafür gebührt allen besonderer
Dank. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben durch ihr
persönliches Verhalten im Einsatzland auch das Ansehen
der Deutschen insgesamt erhöht. Auch dafür gilt ihnen
unserer besonderer Dank.
({2})
Es ist und bleibt aber die Pflicht von uns allen, insbesondere der Bundesregierung, für eine optimale Ausstattung
der Truppe im Einsatz Sorge zu tragen. Ich will nicht
verhehlen, dass diese Bundesregierung dieser Pflicht
nicht ausreichend nachkommt. Kaum haben Sie sich zur
Reform der Reform entschlossen, kommt Ihr Finanzminister und nimmt Ihnen den gewonnenen finanziellen
Spielraum wieder ab. Sie müssen Einsparungen durchführen, die für die Truppe kaum noch verkraftbar sind,
und die finanzielle Luft, die Sie atmen, lässt Sie zum
Asthmatiker werden. Es wird gestreckt, es wird geschoben, es wird gestrichen.
Wie hat mir vor kurzem einer Ihrer Generäle gesagt?
„Das nennt man eine Armee kaputtsparen.“ Recht hat er,
denn Ihre Politik stellt die Bundeswehr infrage, stellt die
Wehrpflicht infrage und stellt die persönliche Leistungsfähigkeit eines jeden einzelnen Soldaten der Streitkräfte
infrage.
({3})
Viele Waffensysteme, Panzer, Flugzeuge und Schiffe
der Bundeswehr sind mehr als 20 Jahre alt.
({4})
So sind beim Heer beispielsweise mehr als zwei Drittel
der gepanzerten Fahrzeuge älter als 30 Jahre.
({5})
- Vieles hätten Sie in den letzten fünf Jahren anpacken
können. Wir haben in den letzten Jahren viele Anträge
gestellt, die Sie alle pauschal abgelehnt haben.
Nicht nur für dieses Material ist Ersatz zu beschaffen. Der Mannschaftstransporter BOXER, der Hubschrauber TIGER, U-Boote, der Hubschrauber NH-90,
der Schützenpanzer Puma, der A400M, aber auch Material wie zum Beispiel Funkgeräte, Führungs- und Einsatzsysteme, Computertechnik und vieles mehr müssen
neu beschafft werden.
Die verteidigungsinvestiven Ausgaben belaufen sich
auf 24,6 Prozent des Gesamtetats. Für den Kern, nämlich
die militärischen Beschaffungen, stehen inzwischen weniger als 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese knapp
4 Milliarden Euro sind jedoch durch bereits abgeschlossene Verträge weitgehend gebunden, sodass kein Raum
mehr bleibt, um neue Projekte anzustoßen.
({6})
Als Beispiel sei hier der eben schon diskutierte Transporthubschrauber CH-53 zu nennen, der in der Tat nachgerüstet werden muss. Aber warum ist er denn jetzt in
der Nachrüstung? Weil Sie nichts getan haben und erst
nach dem Absturz des Hubschraubers in Kabul auf unsere Anträge und Forderungen entsprechend reagiert haben.
Kommen wir auf einen Bereich zu sprechen, der mir
ganz besonders am Herzen liegt. Das ist der Schutz der
Soldaten. Der Überlebensfähigkeit und dem Schutz unserer Soldaten im Einsatz muss die höchste Bedeutung
zukommen. Da gibt es keine Kompromisse. Der bestmögliche Schutz ist das, was wir für unsere Soldaten im
Einsatz tun können und tun müssen. An dieser Stelle zu
sparen ist unverantwortlich.
Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, dass jeder
Soldat über eine bestmögliche persönliche Ausstattung
verfügt, die ihn weitestgehend vor den auftretenden Gefahren schützen kann. Dabei müssen wir aber auch immer bedenken, dass es einen hundertprozentigen Schutz
natürlich nicht geben kann. Deshalb sind für den persönlichen Schutz der Soldaten die Projekte „Soldat im Einsatz“ und „Infanterist der Zukunft“ zu beschleunigen,
wo immer es nur geht.
({7})
Die Finanzierung einzelner Systeme fällt zwar unter den
einsatzbedingten Sofortbedarf; aber in wesentlichen
Teilen steht die Verwirklichung der Projekte leider erst
gegen Ende dieses Jahrzehnts an.
Die im Einsatz gemachten Erfahrungen zeigen, wie
wichtig es ist, den Soldaten für den Transport von Menschen und Gütern geschützte Fahrzeuge bereitzustellen. Auch hier möchte ich auf den Terroranschlag auf
den Bus, der von Kabul zum Flugplatz fuhr, hinweisen.
Von besonderer Bedeutung sind dabei der Schutz vor
Minen, ein Rundumschutz gegen Splitter und ein Schutz
gegen den Beschuss mit Handwaffen. Der neue Schützenpanzer Puma und das gepanzerte Transportkraftfahrzeug GTK Boxer würden diese Schutzanforderungen erfüllen. Aber, Herr Arnold, wie das halt so ist: Es dauert
noch Jahre - das haben Sie selbst vorhin formuliert -, bis
dies Realität geworden ist.
Herr Minister, uns ist allen klar, dass wir uns in einer
allgemein sehr schwierigen, ja krisenhaften Finanzlage
befinden, die diese Regierung verursacht hat.
({8})
Uns ist auch klar, dass der Verteidigungsetat seinen Beitrag zur Konsolidierung der Staatsfinanzen beisteuern
muss. Allerdings müssen die Kürzungen verantwortbar
sein und es muss wieder eine Perspektive für den Verteidigungsetat geben. Mit dem von Ihnen, Herr Minister, zu
vertretenden Haushaltsentwurf ist die Bundeswehr nicht
zukunftsfähig.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In diesem Jahr gibt die Bundesrepublik Deutschland für
Auslandseinsätze der Bundeswehr 1,4 Milliarden Euro
aus. Das sind teure, aber dringend notwendige Investitionen in direkte Gewaltverhütung. Sie nutzen unmittelbar
auch europäischer und deutscher Sicherheit.
Zugleich können wir aber immer wieder feststellen,
dass im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen bestimmte Bedenken, die weit verbreitet sind, geäußert
werden. Erstens. Es wird gesehen, dass es relativ wenig
Mühe macht, einen Auslandseinsatz zu beschließen.
Aber sie alle scheinen endlos zu dauern. Zweitens. Es
gibt die Behauptung - sie wurde auch von dem Kollegen
Siebert aufgenommen -, der Bundeswehr würden immer
mehr Einsätze und immer mehr Aufgaben aufgebürdet.
({0})
Wie sieht die Realität aus? Ich will jetzt nur auf die
so genannten älteren Einsatzgebiete schauen. In Mazedonien hat die Bundeswehr im Rahmen der NATO vor
etwas mehr als zwei Jahren einen Einsatz begonnen, der
damals ziemlich umstritten war. Dieser Einsatz wird im
Dezember aufhören und in eine Polizeimission überführt werden. 1996 gab es in Bosnien-Herzegowina
60 000 NATO-Soldaten. In diesem Jahr sind es nur
noch 12 000 Soldaten und im nächsten Jahr soll die
Zahl der Soldaten auf 7 000 gesenkt werden. Vor einem Jahr standen im Kosovo noch 29 000 KFOR-Soldaten, darunter waren ungefähr 6 000 Soldaten der Bundeswehr. In diesen Monaten sind es noch
17 500 Soldaten, darunter 3 600 Soldaten der Bundeswehr. Es gibt also eine enorme Reduzierung der Zahl
der Soldaten bei Auslandseinsätzen.
Aber gerade angesichts der Situation im Kosovo muss
deutlich werden, dass hier im kommenden Jahr eine weitere Reduzierung wahrscheinlich nicht zu verantworten
ist, weil sich die politische Grundstimmung in dieser Region deutlich zuspitzt.
Zusammengefasst zu diesen kurzen Angaben: Je
rechtzeitiger eine stabilisierende Politik und Stabilisierungsoperationen eingeleitet werden, desto kürzer kann
ein solcher Einsatz sein. Die Stabilisierungseinsätze der
Bundeswehr sind im internationalen Vergleich besonders
verlässlich und besonders wirksam. Nach der Schwarzmalerei aus den Reihen der Opposition kann ich schließlich nur betonen: Für diese Auslandseinsätze stehen
zweifelsfrei genügend Mittel zur Verfügung. Das war
immer so und das bleibt so.
({1})
Im vorliegenden Haushalt ist die Relation zwischen
Betriebsausgaben und Investitionen weiterhin unbefriedigend. Im Unterschied zu früheren Jahren werden allerdings nun große Schritte gemacht, um die Aufgaben, die
Strukturen, die Ausrüstung und die Mittel der Bundeswehr in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Mit seiner Weisung vom 1. Oktober dieses Jahres hat Minister
Struck die überfällige Transformation der Bundeswehr
angestoßen: die Differenzierung nach Eingreif- und Stabilisierungskräften, die nach den Erfahrungen mit Auslandseinsätzen sehr sinnvoll zu sein scheint, die uneingeschränkte Überprüfung der Beschaffungsvorhaben und
die Ausrichtung des Stationierungskonzepts allein an militärischen und betriebswirtschaftlichen Kriterien. Ausdrücklich richtig ist die Stärkung der Freiwilligkeit im neuen Reservistenkonzept. Die kommende Auswahlwehrpflicht
verstehen wir eindeutig als Vorstufe zu einer Freiwilligenarmee, mit der Personal und Ressourcen viel effizienter eingesetzt werden könnten, als dies heute der Fall ist.
({2})
Gegen diese Reformschritte artikulieren sich in den
Teilstreitkräften und auch an den Standorten Partikularinteressen; das ist verständlich und legitim. Aber solche
Partikularinteressen dürfen die notwendige Transformation der Bundeswehr nicht blockieren. Dass dies nicht
passiert, dafür tragen wir alle, die wir in einem erheblichen Maße auch Wahlkreisabgeordnete sind, ein großes
Stück an Mitverantwortung.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Hans Raidel, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 10. September hatten wir hier den Haushaltsetat in erster Lesung zu beraten. Wir haben ihn damals
abgelehnt, weil er verfassungswidrig war. Heute beraten
wir wieder einen Etat. Wir lehnen ihn wieder ab, weil er
wieder keine ausreichende Finanzierungsgrundlage für
die Bundeswehr enthält. Im Gegenteil: Der Etat wird
von Eichel geplündert und auf 23,8 Milliarden Euro abgesenkt.
({0})
Trotz aller Beteuerungen und Versprechungen: Der Bundeskanzler und der Finanzminister haben wieder nicht
Wort gehalten und Sie, Herr Minister Struck, ausgetrickst; so empfinde zumindest ich das.
Angesichts der Sicherheitslage und den damit verbundenen Herausforderungen und Belastungen der Bundeswehr ist dieser Etat eigentlich eine reine Provokation. Er
ist ein rein betriebswirtschaftlicher Abwicklungsplan
ohne Perspektiven für die Zukunft. Angestrebte Rationalisierungsgewinne treten erst gar nicht ein oder werden
durch Tarifsteigerungen und Besoldungserhöhungen
aufgezehrt. Die beabsichtigte Erhöhung der Investitionsquote findet nicht statt. Steigende Kosten für Auslandseinsätze beweisen dies augenfällig.
Angesichts der Herausforderungen im Hinblick auf
unsere Sicherheit und angesichts unserer Verpflichtungen in der EU, in der NATO, in der WEU, in der OSZE
und in der UNO ist dieser Etat ein Dokument der Unzulänglichkeit.
Die wichtigsten Beweise dafür sind die mittelfristige
Finanzplanung und die Ausrüstungsplanung. Für dringende Beschaffungsvorhaben, insbesondere beim Heer,
bei der Marine, für die Aufklärung, die Luftverteidigung
sowie für IT-Fähigkeit, ist keinerlei ausreichende Finanzvorsorge getroffen. Die Ausrüstungsplanung glänzt
mehr durch leere Stellen als durch schwarze Zahlen für
dringend benötigte Modernisierungsprojekte.
Die Realität ist traurig. Sonst könnte man ja sarkastisch formulieren: Der Mut zur Lücke prägt die Zukunft
der Bundeswehr. Strecken, Schieben und Streichen bleiben das Hauptthema. Die mittelfristige Finanzplanung
ist eigentlich ein jämmerliches Zeugnis für Stillstand
und Rückschritt. Ich meine, wer bei der Sicherheit spart,
begibt sich auf einen gefährlichen Holzweg.
({1})
Quo vadis, Bundeswehr? Der Verteidigungsminister
will aus der Not eine Tugend machen. Er zieht die Notbremse. Die Reform der Reform wird als Befreiungsschlag angekündigt. Ohne die notwendige Sicherheitsanalyse, ohne Beachtung der deutschen internationalen
Verpflichtungen und ohne Vorlage einer zukünftigen
Konzeption der Bundeswehr durch den Generalinspekteur wird der Streitkräfteumfang willkürlich auf 250 000
festgesetzt. Er folgt damit ausschließlich dem Finanzdiktat des Finanzministers. Billigend wird dabei die Gefährdung der Wehrpflicht in Kauf genommen; denn die Abschmelzung des Personals erfolgt fast ausschließlich
zulasten der Wehrdienstplätze.
Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten müsste eher
auf 200 000 aufwachsen, um die Nachhaltigkeit und
Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr nicht zu gefährden.
Die dringend notwendige weitere Verbesserung der Attraktivität als Voraussetzung für eine gute Personalgewinnung droht auf der Strecke zu bleiben. Mit diesem
Vorgehen provozieren Sie, Herr Minister, neue Spekulationen über Standortschließungen. Über 100 Standorte
stehen auf der Kippe. Das Wort vom Kahlschlag macht
die Runde. Die Bundeswehr verschwindet weiter aus der
Fläche und wird bürgerferner. Innerhalb von fünf Jahren
hätte Rot-Grün damit ein Drittel aller Standorte aufgelöst. Eines ist offensichtlich: Bei dieser Behandlung leidet der Patient Bundeswehr an galoppierender Schwindsucht. Wirtschaftlichkeit muss dort ihre Grenze haben,
wo, entsprechend der Gesamtschau, der Auftrag gefährdet ist oder nicht mehr in der nötigen Qualität erfüllt
werden kann.
Das Dilemma setzt sich bei der wehrtechnischen
Industrie fort. Fehlende Forschungs-, Entwicklungsund Beschaffungsmittel beschleunigen den Ausverkauf
dieser für unser Land und seine Innovationsfähigkeit so
wichtigen Hightechbranche. Wer die Branche nicht
durch Aufträge werthaltig und fit macht, darf sich über
den Niedergang nicht wundern. Der enge Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik ist
doch offenkundig. Wer nicht bereit ist, einen angemessenen Beitrag zur Sicherheit Europas und damit zur eigenen Sicherheit zu leisten, steigt in die zweite Liga ab.
({2})
Frankreich und Großbritannien machen uns vor, wie
man oben bleibt.
Meine Damen und Herren, der Struktur- und Aufgabenwandel der Bundeswehr muss in ein außen- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept eingebunden sein.
Auslandseinsätze setzen Begründungen, Konzepte und
Ressourcen voraus. Da die Grenzen zwischen innerer
und äußerer Sicherheit ihre Konturen verlieren, brauchen wir ein System integrierter Sicherheit, in dem sich
die Kräfte für innere und äußere Sicherheit wirksam ergänzen.
Damit die Bundeswehr dazu fähig ist, brauchen wir
eine Neustrukturierung der Bundeswehr, ein langfristig
tragfähiges Finanzkonzept und eine Finanzbasis, die den
Aufbau einer modernen einsatz- und bündnisfähigen
Armee erlaubt. Ohne hinreichende Finanzausstattung
werden Absichtserklärungen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zum Aufbau einer europäischen Verteidigung und zur Stärkung der NATO immer nur Worthülsen
bleiben. Die Reform unserer Streitkräfte darf nicht nach
Sparvorgaben des Bundesfinanzministers, sondern sie
muss nach sicherheitspolitischen Notwendigkeiten gestaltet werden.
({3})
Nach meiner Auffassung sollten für eine moderne Bundeswehr ein Aufgaben- und Organisationsgesetz sowie
ein Besoldungsgesetz geschaffen werden. Das jetzige
Entsendegesetz kann meiner Meinung nach nur ein erster Schritt sein. Kurzfristig wäre vielleicht auch ein Programmgesetz hilfreich.
Die Schaffung von Sicherheit nach innen und außen
müssen wir als gesamtgesellschaftliche Aufgabe ansehen. Nur so kann Akzeptanz in der Bevölkerung sichergestellt werden. Diese gewaltige Aufgabe erfordert eine
Strategie für die Verteidigung insgesamt. Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik braucht mehr denn je Visionen, denen dann Taten folgen müssen. Wir können uns
es nicht leisten, wie es derzeit geschieht, eine Auszeit zu
nehmen. Deswegen lautet meine Bitte, Herr Minister
- das bieten wir Ihnen von CDU/CSU an -, gemeinsam
ein wirklich tragfähiges Sicherheitskonzept zu erarbeiten. Voraussetzung dafür muss aber sein, dass diese Regierung bereit ist, die Ressourcen, sprich: das Geld, zur
Verfügung zu stellen.
({4})
Trotz aller Gegensätze in den Ansichten möchte ich
an dieser Stelle Dank sagen: Ich danke unserer Bundeswehr und unseren Soldaten. Ich erkenne aber auch das
Bemühen des Hauses an, obwohl es in vielen Bereichen
absolute Unzulänglichkeiten aufweist.
Damit Sie sehen, wie ernst ich das meine, habe ich für
Sie, Herr Minister, ein Kochbuch aus meiner schwäbischen Heimat mitgebracht, das den Titel trägt: „Guet ond
Gsond“. Ich hoffe, dass Sie auch für die Bundeswehr die
richtigen Rezepte finden werden.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Erlauben Sie mir, dass ich zunächst ein Wort an
den Kollegen Christian Schmidt richte. Ich freue mich
sehr, dass Sie nach dieser schwierigen Zeit wieder unter
uns sind. Der Beitrag, den Sie geleistet haben und der
eher nicht in eine traditionelle Haushaltsdebatte passte,
in der es scharf gegeneinander geht, war für mich eine
Hilfe. Sie haben angeregt, dass wir einmal grundsätzlich
über die Aufgaben der Bundeswehr und über die Sicherheitspolitik unseres Landes, und zwar eingebettet in die
Sicherheitspolitiken der anderen europäischen Länder,
diskutieren sollten. Diese Anregungen greife ich gerne
auf. Auch Dietrich Austermann hat das angesprochen.
In dieser Zeit wird viel über die Auslandseinsätze
der Bundeswehr diskutiert und vielfach festgestellt, dass
sie dadurch stark gefordert ist. Angesichts dessen müssten wir intern und in diesem Parlament auch einmal sehr
intensiv über den Sinn der Auslandseinsätze nachdenken
und darüber, unter welchen Bedingungen wir noch weitere Auslandseinsätze annehmen können oder ab wann
das nicht mehr geht. Ganz intensiv müssen wir auch darüber sprechen, wie die Bundeswehr in zwei Jahren, in
fünf Jahren oder in zehn Jahren aussehen soll.
Die Vorhaben, die ich auf den Weg gebracht habe, beziehen sich auf das Jahr 2010. Schließlich wäre es viel
zu kurzfristig, nur mit Blick auf das nächste Haushaltsjahr zu planen. Dass man im Jahr 2010 mit 250 000 Soldaten auskommen wird, ist meine feste Überzeugung.
Diesen Vorschlag habe ich übernommen. Ich wehre
mich gegen die Unterstellung, die von Herrn Kollegen
Austermann und anderen Rednern in dieser Debatte zu
hören war, diese Zahl stimme nicht, sie werde noch niedriger sein. Unser Ziel ist eine Bundeswehr mit einem
Umfang von 250 000 Soldaten. Dieses Ziel werden wir
bis zum Jahr 2010 verwirklichen.
({0})
Wir werden diese Bundeswehr natürlich entsprechend
den neuen Aufgaben ausstatten. Die Opposition hat
heute aufgezählt, was alles fehlt, und hat uns vorgeworfen, dass viel zu wenig Geld eingeplant sei; vielleicht
hätte ich das auch getan, wenn ich Oppositionspolitiker
wäre. Aber egal wie oft Sie das wiederholen, mehr Geld
gibt es trotzdem nicht. Das wissen Sie ganz genau. Vor
diesem Hintergrund passen aber zwei Forderungen nicht
zusammen. Dann passt es nicht zusammen, uns zu sagen, wir müssten im Einzelplan 14, im Einzelplan 5 oder
anderswo mehr etatisieren, während Sie gleichzeitig zusätzlich 6 Milliarden Euro im nächsten Haushaltsjahr
einsparen wollen. Das passt nun ganz und gar nicht.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Nolting?
Nein, ich bin gerade im Fluss. Sie sind später dran,
Herr Nolting. - In unserem Haushalt zusätzlich
6 Milliarden Euro zu sparen würde natürlich an die Substanz gehen.
Ich will Ihnen etwas sagen - Hans Raidel hat es auch
angesprochen -: In der ersten Lesung des Haushalts in
diesem Haus habe ich davon gesprochen, dass unser
Haushalt durch die Preissteigerungsrate sowie durch die
Entwicklung der Löhne und Gehälter faktisch reduziert
ist. Zu diesem Zeitpunkt war über eine globale Minderausgabe noch nicht entschieden. Ich will Ihnen nicht verschweigen: Ich stehe in der Solidarität und Loyalität des
Kabinetts. Wenn es erforderlich ist, dass in jedem Haushalt ein Beitrag erbracht wird, um die RentenversicheBundesminister Dr. Peter Struck
rungsbeiträge stabil zu halten, dann will und werde ich
mich nicht ausschließen - so bitter das für unseren Haushalt auch ist.
Ich will zu einigen Anmerkungen der Opposition etwas sagen, wobei ich der Meinung bin, dass Sie mich eigentlich ordentlich behandelt haben. Ich bin von Ihnen
sogar - völlig zu Recht - gelobt worden.
({0})
Ich will jetzt aber doch noch einige kritische Anmerkungen aufgreifen.
Dietrich Austermann hat davon gesprochen, wir befänden uns in der Zange der Beschaffungsmaßnahmen.
Das will ich nicht bestreiten. Ich darf aber mit aller
Freundlichkeit darauf hinweisen, dass wir Beschaffungsmaßnahmen übernommen haben, die Sie uns eingebrockt haben. Sie haben einen Eurofighter auf den Weg
gebracht, der ein reines Segelflugzeug ohne Bewaffnung
und dergleichen mehr gewesen wäre.
({1})
Ich muss jetzt für die Bewaffnung sorgen. Sie wissen das
ja.
Daneben geht es um den Schutz der Soldatinnen und
Soldaten im Ausland. Ich versichere Ihnen: Wir tun alles
Menschenmögliche, um die persönliche Sicherheit der
Soldatinnen und Soldaten im Ausland zu gewährleisten.
Zu Recht hat der Kollege Siebert aber auf eines hingewiesen: Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz,
({2})
da können Sie noch so dicke Panzerfahrzeuge und noch
so dick gepanzerte Hubschrauber oder was auch immer
nehmen. Ich mache mi,r immer Sorgen, wenn es solche
Situationen wie zurzeit in Afghanistan gibt, wo man ganz
gewiss nicht von Stabilität, sondern immer nur von relativer Stabilität sprechen kann. Seien Sie sich aber sicher:
Das, was nach unserem menschlichen Ermessen erforderlich ist, wird den Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung gestellt. Hier gibt es überhaupt keine Abstriche.
({3})
Herr Austermann hat das Betreiben des Gefechtsübungszentrums angesprochen. Ich weise darauf hin,
dass der Haushaltsausschuss das Bundesministerium der
Verteidigung verpflichtet hat, diese Leistung auszuschreiben; das ist erfolgt. Es gab eine Ausschreibung und
es hat nicht dasjenige Unternehmen gewonnen, das das
Gefechtsübungszentrum bisher betrieben hat. Wir haben
dem preiswerteren und wirtschaftlich günstigeren Unternehmen das Angebot erteilt. Was soll ich denn anderes
tun? Da ich 14 Millionen Euro sparen kann, erwarten Sie
von mir doch zu Recht, dass ich dies tue. Nur weil der
alte Anbieter überall bei Ihnen antichambriert hat - das
weiß ich doch -, kann ich ihn doch nicht nehmen.
({4})
- So, wie Sie die Briefe kennen, die ich erhalte, weiß
auch ich ganz genau, wer bei wem war und wer bei Ihnen sitzt. Glauben Sie mir, ich weiß das.
({5})
Sie sollten jetzt nicht schlecht über das schwierige Projekt Herkules reden, das auf einem guten Weg ist. In diesen Tagen finden die letzten Besprechungen statt. Ich
möchte der Kollegin Leonhard und auch Alexander
Bonde Recht geben: Es ist richtig - ich würde das auch
nicht anders machen -, dass sich der Haushaltsausschuss
die Einflussnahme auf die Entwicklung dieses Projektes
über das Instrument der Sperre vorbehält. Es ist ein großes
Projekt, das viele Milliarden Euro kostet, und es ist ein
gutes Projekt. Wir müssen modernisieren; denn wir wollen mit unseren Partnernationen kompatibel werden. Es
ist, dessen können Sie sicher sein, auf einem guten Wege.
Herr Minister, ist die Zeit für die Zwischenfrage des
Kollegen Nolting jetzt reif?
({0})
Ich habe ihn ganz vergessen. Ja, bitte.
Herr Minister, können Sie uns sagen, woher Sie wissen, wer wann mit wem wo spricht?
War das die Frage?
({0})
Ich kann Ihnen das mitteilen, weil diejenigen, die bei Ihnen antichambrieren, auch bei uns antichambrieren und
sagen, wo sie schon gewesen sind. So einfach ist das.
({1})
Zusatzfrage?
Ich komme jetzt auf die Frage zurück, die ich eingangs stellen wollte. Herr Minister, Sie sprechen von
250 000 Soldaten und Soldatinnen. Ihr Koalitionspartner
hat heute erklärt, Sie träten für 200 000 bis
220 000 Soldaten ein. Wie können Sie diese beiden Aussagen in Einklang bringen?
Sie geben mir die Gelegenheit, auf dieses Thema
noch einmal einzugehen. Ich wäre aber sowieso darauf
zu sprechen gekommen. Das dauert jetzt ein bisschen
länger, Sie müssen nicht warten, Herr Nolting.
({0})
Ich halte es nach wie vor für falsch - das will ich noch
einmal betonen -, zu sagen: Eine Berufsarmee von
200 000 Soldatinnen und Soldaten gewährleistet unsere
Sicherheit und lässt uns unsere Auslandsverpflichtungen
erfüllen. Das wird nicht möglich sein.
({1})
Ich halte es auch aus anderen Gründen für richtig, an der
Wehrpflicht festzuhalten. Ich weiß, dass andere eine andere Auffassung haben. Das muss dann geklärt werden.
Auf dem Parteitag meiner Partei in der letzten Woche ist
darüber debattiert worden. Wir werden im nächsten Jahr
dazu eine Konferenz veranstalten. Dann wird die SPD
dazu ihre Meinung im Jahre 2005 zu bilden haben. Das
entspricht auch der Koalitionsvereinbarung, dass wir
darüber entscheiden müssen. Meine persönliche Meinung ist klar. Ich bin dankbar, dass es auch in der CDU/
CSU Stimmen für die Beibehaltung der Wehrpflicht gibt.
Sie aber hatten nach der Größenordnung gefragt. Mit
200 000 Soldatinnen und Soldaten können nicht die Aufgaben erfüllt werden, die erfüllt werden müssen. Wenn
sich ein bestimmtes Kontingent im Ausland befindet,
dann muss sich das Nachfolgekontingent in der Reserve
bereithalten. Dann muss das Kontingent, das gerade im
Ausland gewesen war, in Aus- und Fortbildungen geschickt werden. Das passt nicht zusammen. Aber das
können wir in aller Ruhe diskutieren. Ich habe keine
Angst vor der Debatte, Sie sicher auch nicht. Dann wird
man darüber entscheiden können.
Ich möchte die Zahl von 250 000 im Zusammenhang
mit dem Stichwort „Standortkahlschlag“ aufgreifen. Was
verlangen Sie eigentlich von mir? Damit meine ich auch
Sie, Frau Daub. Sie verlangen von mir, dass ich Aufträge
an die wehrtechnische Industrie vergebe, damit sie
nicht kaputtgeht. Das tue ich auch. Aber ich gebe der
wehrtechnischen Industrie keine Aufträge für Material,
das ich nicht brauche. Das mache ich nicht.
({2})
Dann hätte ich Sie oder den Bundesrechnungshof mit der
Frage auf dem Hals: Wofür hat der Minister das in Auftrag gegeben?
Was verlangen Sie noch von mir? Sie verlangen von
mir, dass ich Standorte aufrechterhalte. Wenn die Zahl
von 285 000 geplanten Soldaten auf 250 000 Soldaten
reduziert wird, wenn wir die Zahl von 85 000 bis
90 000 Zivilbeschäftigten auf nur noch 75 000 senken,
dann sagt einem der gesunde Menschenverstand, dass
man nicht mehr so viele Standorte wie vorher braucht.
({3})
- Man muss ihn haben, da gebe ich Ihnen Recht. Vielen
Dank, Herr Mark, für den Zwischenruf.
({4})
Wenn Sie wollen, dass ich keine Standorte mehr auflöse,
({5})
dann müssen Sie mir das Geld geben, um die unsinnigen
Standorte aufrechtzuerhalten. Da aber keine Regierung,
weder die von uns geführte noch eine irgendwann von
Ihnen geführte Regierung, unsinnige Standorte aufrechterhalten würde, muss man anders vorgehen. Man muss
wissen - das tun wir -, dass die Beschäftigten im zivilen
Bereich der Bundeswehr - Rainer Arnold hat darauf hingewiesen - unter die Regelungen des Tarifvertrages fallen. Sie werden keine betriebsbedingten Kündigungen
erleben. Das ist für die Zivilbeschäftigten in der Bundeswehr wichtig.
({6})
Den Rückbau der Anzahl der Soldatinnen und Soldaten bis zum Jahr 2010 auf 250 000
({7})
erreichen wir. Der Generalinspekteur wird mir die neue
Konzeption der Bundeswehr vorlegen. Dazu gehört auch
die Material- und Ausrüstungsplanung. Jedes Beschaffungsprojekt - das habe ich immer wieder gesagt, ich
wiederhole es -, das noch nicht rechtlich oder faktisch
gebunden ist, steht auf der Prüfliste.
Manche werden sich wundern, was auf einmal nicht
mehr realisiert werden kann. Wir müssen mit den Gegebenheiten zurecht kommen. Sie können aber davon ausgehen, dass die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr
von 250 000 Soldatinnen und Soldaten hervorragend erledigt werden. Dessen bin ich mir ganz sicher.
Zum Schluss meiner Rede bedanke ich mich bei den
Berichterstattern, weil ich weiß, dass der Einzelplan 14
ein schwieriger Haushalt ist. Ich bedanke mich bei allen,
die daran mitgewirkt haben: Elke Leonhard, Dietrich
Austermann, Alex Bonde, Jürgen Koppelin.
({8})
- Herr Koppelin, Sie haben Recht. Ich greife das auf:
Herr Austermann hat nicht mitgewirkt, das stimmt. Er ist
aber Hauptberichterstatter.
Ich bedanke mich bei den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses für die sehr gute, kollegiale Zusammenarbeit. Unabhängig von politischen Differenzen, die
in manchen Fragen bestehen, kann man feststellen, dass
die Arbeit der Bundeswehr von den Fraktionen im Parlament breit getragen wird. Ich nehme an, dass die Arbeit
der Bundesregierung - mit einigen leichten Einschränkungen - auch breit getragen wird. Dafür bedanke ich
mich herzlich.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14
- Bundesministerium der Verteidigung - in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor,
über den wir zuerst abstimmen.
({0})
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
15/2073? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 14 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 14
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.11 auf:
Einzelplan 23
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
- Drucksache 15/1917 und 15/1921 Berichterstattung
Abgeordnete Brigitte Schulte ({1})
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin.
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor, über den wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Nachdem die Kolleginnen
und Kollegen, die nicht zuhören wollen, den Plenarsaal
verlassen haben und die anderen ihre Plätze eingenommen haben, würde ich gerne das Wort erteilen. - Das gilt
besonders für die CDU/CSU, weil ihr Redner beginnt.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jochen Borchert,
CDU/CSU-Fraktion
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Haushalt, den wir seit gestern beraten, ist das Ergebnis einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dieser Haushalt hat natürlich Auswirkungen auf alle Einzelpläne.
({0})
Gerade der Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit wird dabei zum Steinbruch einer
desolaten Finanzpolitik.
({1})
Dies zeigte schon der Entwurf der Bundesregierung.
Durch die Beratungen im Haushaltsausschuss ist das
noch verschlimmert worden. Während ich in der ersten
Lesung noch festgestellt habe, der Haushaltsentwurf für
das Jahr 2004 für die Entwicklungspolitik sei ein Etat
der Stagnation, muss ich heute leider feststellen: Das Ergebnis ist ein Etat der Resignation. Mit diesem Etat kann
die Bundesregierung den Herausforderungen der Entwicklungspolitik nicht gerecht werden.
Die Aufgaben in der Entwicklungspolitik sind nicht
kleiner, sondern größer geworden. Die Instrumente der
Entwicklungspolitik brauchen wir heute dringender denn
je, und zwar als Instrumente der Krisenbewältigung und
vor allem der Krisenprävention.
({2})
Entwicklungspolitik muss dazu beitragen, dass Krisen
erst gar nicht entstehen. Mit unserer Hilfe können wir den
Menschen in den Entwicklungsländern eine Perspektive
verschaffen und damit auch dem Terrorismus den Nährboden entziehen. Dies, Frau Ministerin, erfordert aber
mehr und nicht weniger Geld. Sie aber kürzen die Mittel
für die Entwicklungspolitik. Sie sparen damit zulasten
der Armen, aber auch zulasten unserer Sicherheit.
({3})
Frau Ministerin, bei der ersten Lesung des Haushaltes
des Jahres 1999, also des ersten Etats, für den Sie verantwortlich waren, haben Sie erklärt: Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushalt haben wir den Abwärtstrend des
Entwicklungshaushalts gestoppt und die Grundlage für
eine Aufwärtsentwicklung geschaffen.
({4})
Was aber ist aus dieser vollmundigen Ankündigung geworden? Auf die Aufwärtsentwicklung warten die Entwicklungsländer noch immer. Statt aufwärts geht es Jahr
für Jahr abwärts.
({5})
Der Regierungsentwurf 2004 wies für den Einzelplan 23
ein Volumen von 3,8 Milliarden Euro aus. Bei den Beratungen im Haushaltsausschuss hat die Koalition innerhalb des Etats 16,3 Millionen Euro umgeschichtet, ohne
das Volumen zu verändern. Durch Wechselkursänderungen und Veränderungen beim Urlaubsgeld sinkt der Etat
auf 3,783 Milliarden Euro.
({6})
Dies ist an sich schon keine überzeugende Summe für
die Anforderungen, die an die Entwicklungspolitik gestellt werden. Aber diese Summe ist auch noch geschönt,
denn diese 3,783 Milliarden Euro stehen für entwicklungspolitische Maßnahmen nicht zur Verfügung.
Aus Ihrem Etat müssen Sie noch 10 Millionen Euro
für den Einsatz der Bundeswehr in Kunduz aufbringen.
Als der Einsatz beschlossen wurde, gingen Sie, Frau Ministerin, noch davon aus, dass dafür zusätzliche Mittel
zur Verfügung gestellt würden. Jetzt müssen Sie den
Einsatz aus Ihrem Haushalt finanzieren.
({7})
Noch weitere Mittel werden Ihrer Gestaltungsmöglichkeit entzogen. 80 Millionen Euro aus Ihrem Etat stehen
dem Außenminister zur Verfügung. Ein Teil davon wird
ebenfalls für den Einsatz in Kunduz eingesetzt. Weiter
müssen Sie 39 Millionen Euro globale Minderausgabe
erwirtschaften.
({8})
Dies bedeutet eine weitere erhebliche Kürzung Ihres
Einzelplans. Damit stehen Ihnen für Aufgaben der Entwicklungspolitik im nächsten Jahr 3,655 Milliarden
Euro zur Verfügung. Das ist deutlich weniger als in diesem Jahr. Frau Ministerin, es geht abwärts statt aufwärts.
Neben all den Menschen, die auf unsere Entwicklungshilfe hoffen, sind Sie, Frau Ministerin, die Verliererin einer unsoliden Haushaltspolitik.
({9})
Sie haben 1999 die Trendwende in der Entwicklungspolitik angekündigt. Ich will das hier gerne aufgreifen und
den Haushalt 2004 mit dem Haushalt 1998, dem letzten
Haushalt der Regierung Helmut Kohl, vergleichen.
Im Haushaltsjahr 1998 wurden 4,05 Milliarden Euro
für die Entwicklungspolitik ausgegeben.
({10})
Das sind fast 400 Millionen Euro mehr, als der Etat für
das Jahr 2004 vorsieht. Das sind im nächsten Jahr
10 Prozent weniger, als im Jahr 1998 zur Verfügung
standen, und von da ab sollte es doch aufwärts gehen.
Frau Ministerin, welche Loblieder würden Sie wohl singen, wenn Ihnen der Etat von 1998, wenn Ihnen also
rund 400 Millionen Euro mehr zur Verfügung stehen
würden?
({11})
Zumindest die Entwicklungsländer würden sich darüber
freuen.
({12})
Übrigens würden sich nicht nur die Entwicklungsländer,
sondern auch die Deutschen darüber freuen.
Der Bedeutungsverlust der Entwicklungspolitik in der
Politik der Bundesregierung ist aber noch dramatischer,
als diese Zahlen deutlich machen. Diese Koalition gibt
Jahr für Jahr einen immer geringeren Anteil des Bundeshaushaltes für die Entwicklungspolitik aus. 1998 betrug der Anteil des Einzelplans 23 am Bundeshaushalt
rund 1,7 Prozent. In diesem Jahr sind es noch 1,42 Prozent.
Was bedeutet dies für die Entwicklungspolitik? Frau
Ministerin, wenn Sie den Anteil, den der Einzelplan 23
1998 am Bundeshaushalt hatte, stabil gehalten hätten
und er heute noch bei 1,7 Prozent liegen würde, dann
stünden Ihnen im nächsten Jahr rund 720 Millionen Euro
mehr zur Verfügung. Diese 720 Millionen Euro fehlen
Ihnen, sie fehlen der Entwicklungspolitik und sie fehlen
den Ländern, die auf unsere Hilfe angewiesen sind.
({13})
Das zeigt: Trotz vieler Sprüche und großer Ankündigungen hat die Entwicklungshilfe in dieser Koalition
keinen hohen Stellenwert. Der Einzelplan 23 wird mehr
und mehr zur Manövriermasse der Finanzpolitik.
Meine Damen und Herren, wenn Sie den Anteil der
entwicklungspolitischen Ausgaben stabil auf einem Niveau von 1,7 Prozent des Bundeshaushalts gehalten hätten, dann könnten Sie heute Entwicklungspolitik wirksam gestalten. Der Jahr für Jahr sinkende Anteil des
Haushalts für wirtschaftliche Zusammenarbeit am Gesamthaushalt zeigt: Sie, Frau Ministerin, haben sich als
Anwältin der Entwicklungspolitik im Kabinett und in
der Koalition nicht durchsetzen können.
({14})
Ernüchternd ist nicht nur der Rückgang der Mittel
für die Entwicklungshilfe, sondern auch deren Aufteilung im Einzelplan 23. Im Haushalt 2004 steigen die
Mittel für die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit um rund 65 Millionen Euro, während die Mittel für
die bilaterale Zusammenarbeit weiter abgesenkt werden.
Unsere Befürchtung ist, dass sich diese Entwicklung im
Haushaltsvollzug noch weiter verschärfen wird. Denn
Sie müssen noch eine globale Minderausgabe in Höhe
von 39 Millionen Euro erwirtschaften.
({15})
Ich befürchte, diese Kürzung wird überwiegend zulasten der bilateralen Zusammenarbeit erfolgen. Damit wird diese weiter ausgetrocknet und die Einsparungen gehen zulasten jener Bereiche, die das klare Profil
der deutschen Entwicklungshilfe geprägt haben.
In der technischen Zusammenarbeit müssen von
dem Etatansatz 80 Millionen Euro für das Auswärtige
Amt abgezogen werden. Weitere Kürzungen im Haushaltsvollzug zeichnen sich ab. Die GTZ, über die die
technische Zusammenarbeit abgewickelt wird, genießt
international ein hohes Ansehen. Aufgrund ihrer erfolgreichen Arbeit gelingt es der GTZ, in steigendem Umfang Aufträge von internationalen Organisationen zu erhalten. In Deutschland selbst aber wird die GTZ durch
Mittelkürzungen geschwächt und damit die national wie
international erfolgreiche Arbeit infrage gestellt.
In der bilateralen finanziellen Zusammenarbeit
wird der Ansatz um 17,5 Millionen Euro abgesenkt. Der
Baransatz reicht dann gerade noch aus, um bestehende
Rechtsverpflichtungen erfüllen zu können.
Neue Zusagen sind nicht möglich. Die Kürzung
schränkt den Handlungsspielraum der KfW erheblich
ein. In entwicklungspolitischer Hinsicht bedeutet diese
Kürzung, dass Sie die Ziele der Armutsbekämpfung des
Aktionsprogramms 2015 nicht erreichen werden und
dass Sie die Steigerung der ODA-Quote auf 0,33 Prozent
bis zum Jahr 2006 mit diesem Haushalt aufgegeben haben. Entwicklungspolitisch ist es aber dringend erforderlich, durch einen verstärkten Mitteleinsatz die bisherige
Verbundfinanzierung weiter auszubauen und über eine
integrierte Verbundfinanzierung maßgeschneiderte Finanzlösungen anzubieten.
Die Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe
- einer der zentralen Ansätze zur Hilfe in Krisensituationen und zur Stärkung der Selbsthilfekräfte - ist schon in
den vergangenen Jahren erheblich gekürzt worden. Im
Haushalt 2004 beträgt der Ansatz 71,5 Millionen Euro.
Das sind zwei Drittel des Ansatzes aus dem Jahre 2002.
Im Jahr 2004 müssen aus diesem Titel
10 Millionen Euro für den Einsatz der Bundeswehr in
Kunduz bereitgestellt werden. Für alle anderen dringend notwendigen Maßnahmen der Nothilfe steht mit
61,5 Millionen Euro nur noch die Hälfte des Ansatzes
zur Verfügung, über den Sie noch 2002 verfügen konnten.
Während die Koalition heute diese Kürzungen beschließen wird, weist die FAO darauf hin, dass die Zahl
der Hungernden weltweit dramatisch zunimmt und
dass nicht weniger Hilfe, sondern mehr Hilfe notwendig
ist. Sie aber kürzen in einem Bereich, zu dessen Aufgaben es gehört, den Hunger in der Welt zu bekämpfen.
Betroffen von der zu geringen Mittelausstattung und der
Verlagerung der Mittel in multilaterale Bereiche ist auch
die entwicklungspolitische Arbeit der Wirtschaft, Kirchen und Stiftungen.
Mit diesem Haushalt hat die Bundesregierung ihre eigenen entwicklungspolitischen Ziele verfehlt oder
- wenn man den Haushalt ernst nimmt - aufgegeben.
Anders lässt sich der Kahlschlag in der deutschen Entwicklungspolitik nicht mehr erklären.
({16})
So kann auch die selbst gesteckte Richtmarke einer
ODA-Quote von 0,33 Prozent bis zum Jahre 2006 selbst
über einen weiteren Schuldenerlass nicht mehr erreicht
werden. Die Mittel der Armutsbekämpfung werden nicht
aufgestockt, sondern eingeschränkt. Der Entwicklungspolitik als Instrument der Krisenbewältigung und -prävention werden die dafür erforderlichen Mittel entzogen.
Dieser Haushalt ist das Dokument des Scheiterns der
rot-grünen Entwicklungspolitik. Wir lehnen diesen Haushalt ab.
Vielen Dank.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Schulte,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Borchert, ich schätze Sie ja außerordentlich. Aber dass Sie nun fast gebetsmühlenhaft das
wiederholen, was Sie am 19. März 2003, also ziemlich
genau vor acht Monaten, anlässlich der Verabschiedung
des Bundeshaushalts für das Jahr 2003 hier gesagt haben, erstaunt mich nun mächtig.
({0})
- Darauf kommen wir ja gleich noch.
({1})
Beim Entwicklungshaushalt waren wir uns damals
und sind wir uns auch heute wieder über Parteigrenzen
hinweg einig,
({2})
dass wir für die umfangreicheren internationalen Aufgaben eigentlich mehr Geld benötigen. Das galt für die
Vergangenheit, gilt für die Gegenwart und wird auch für
die Zukunft gelten.
({3})
- Warten Sie einmal ab.
Ein paar Fakten müssen wir allerdings einfach zur Kenntnis nehmen; daran ändert auch Geschrei nichts. Erstens haben wir heute ein erheblich höheres Haushaltsdefizit, als
wir alle vor acht Monaten geplant hatten.
({4})
Zweitens müssen wir schmerzhafte Strukturmaßnahmen
durchführen, was dazu führt, dass sich alle Leute mit Innenpolitik befassen, obwohl es vieles andere gibt, was
ganz dringlich ist: Erstens ist der Terrorismus heute
größer und gefährlicher, als er es noch vor acht Monaten
war.
({5})
Zweitens mag der Irak militärisch besiegt sein, Frieden
und Demokratie sind dort wie in der gesamten Region
noch lange nicht erreicht.
Es stimmt, Herr Kollege Borchert, dass die Welternährungsorganisation gestern mitgeteilt hat, dass inzwischen 842 Millionen Menschen als unterernährt gelten.
({6})
Übrigens ist jeder zweite Palästinenser - das sollte Sie auch
bewegen - von internationalen Lebensmittellieferungen
abhängig, um überhaupt überleben zu können. Dass dies
Brigitte Schulte ({7})
nicht die Bereitschaft zum friedlichen Zusammenleben
fördert, können wir uns alle vorstellen.
Ebenfalls gestern hat die UN anlässlich des bevorstehenden Welt-Aids-Tages am 1. Dezember veröffentlicht,
dass in diesem Jahr, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, weltweit 3 Millionen Menschen an Aids gestorben
({8})
und 40 Millionen Menschen infiziert worden sind.
({9})
Darunter sind wenigstens 2,5 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Seien Sie doch froh, Herr Kampeter, dass es Ihren
Kindern nicht so geht.
({10})
Der UN-Generalsekretär Kofi Annan appellierte in dieser Woche an die internationale Gemeinschaft, die Nothilfe
für 45 Millionen Menschen in 21 Krisengebieten auch im
Jahr 2004 sicherzustellen. Ihm haben sich 136 humanitäre
Organisationen mit dem Aufruf „Hört unsere Stimmen“
angeschlossen. Sie hoffen, dass die Bewohner der Industriestaaten, von denen jeder 2,60 Euro aufbringen
müsste, die 3 Milliarden Dollar für 1 086 Projekte in den
Krisengebieten finanzieren werden.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun komme ich zu
uns: Wo bleibt unser Verantwortungsbewusstsein,
({12})
dass wir nicht nur über unsere eigenen Probleme reden?
Ist es nicht in unserem Interesse, dass nicht nur wir, sondern auch andere gut leben können?
({13})
- Halt doch endlich mal die Klappe!
({14})
Das kommt mir in der gesamten Haushaltsdebatte zu
kurz.
({15})
- Du hast doch selbst Kinder. Du müsstest doch eigentlich dafür Verständnis haben.
Die Staatsverschuldung - in der aktuellen Haushaltsdebatte ist mir das bisher zu kurz gekommen; obwohl ich zwei Tage aufmerksam zugehört habe, habe ich
aus Ihrem Munde nichts dazu gehört - geht nicht nur auf
Kosten künftiger Generationen in Deutschland, sondern
betrifft bereits heute die armen Länder. Das gilt für das
Handeln sowohl der vorangegangenen Regierungen als
auch - leider - unserer eigenen Regierung. Ich bin also
ganz ehrlich. Aber es nutzt nichts, wenn Sie nur darauf
hinweisen und nur einen Zeitraum von zehn Jahren betrachten.
({16})
Wir müssen für den Außen-, den Verteidigungs- und den
Entwicklungshaushalt dringend mehr Personal- und Finanzressourcen zur Verfügung stellen. Aber vorher müssten
wir uns darauf verständigen, woher wir das Geld dafür nehmen, um nicht neue Schulden zu machen. Das wäre angemessen. Michael Gorbatschow hat 1989 den klugen Satz
gesagt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Mich
beschleicht angesichts der Zunahme der internationalen
Kriminalität und des internationalen Terrorismus - beides hängt übrigens zusammen - das Gefühl, dass wir alle
nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa nicht
genügend vorausschauend handeln.
Afrika liegt nur wenige Kilometer von uns entfernt. In Europa leben 727 Millionen Einwohner, während es in Afrika
- hier hat es uns deutlich überholt - 862 Millionen Menschen
sind. Davon ist die Hälfte jünger als 25 Jahre. Die frühere
DDR hatte enge Beziehungen zu Mosambik. Dieses Land
wurde nicht etwa ausgebeutet. Man hat vielmehr versucht, diesem Land unter anderem durch Bildungstransfer zu helfen. Die Bevölkerung der neuen Bundesländer
einschließlich Berlins beträgt rund 17 Millionen Einwohner. Nicht sehr viel mehr hat Mosambik. Die Arbeitslosigkeit liegt dort aber bei 50 Prozent, während sie
hier maximal 17 Prozent beträgt. Die Lebenserwartung
liegt dort bei 39,8 Jahren. Bei uns ist sie fast doppelt so
hoch. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt dort bei 220 Dollar pro Jahr und in Ostdeutschland bei circa 20 000 Dollar.
({17})
- Ich dachte, dass wir in einer Haushaltsdebatte auch
einmal darüber nachdenken sollten, was auf uns zukommen wird.
({18})
- Auf diese komme ich noch zu sprechen. Für diese sind
auch Sie verantwortlich; denn Sie haben in den Jahren,
in denen Sie regiert haben, zum Beispiel den Aufbau von
Schulen alles andere als vorangetrieben.
({19})
In Mosambik können heute 60 Prozent der Menschen
nicht lesen und schreiben. Nur 12 000 junge Leute können dort studieren. Vor diesem Hintergrund sollten Sie
einmal an die Diskussion denken, die wir in Deutschland
insbesondere über die Probleme Berlins führen. Aber
noch schlimmer ist, dass in Mosambik 15 Prozent der
Brigitte Schulte ({20})
Bevölkerung mit Aids infiziert sind. 1 Million Menschen
sind Aids-Waisen. Malaria, Tuberkulose, Meningitis,
Hepatitis und andere Krankheiten gefährden die Bevölkerung zusätzlich.
Nun komme ich auf den Antrag der FDP zu sprechen.
Daran, ob wir alle Probleme, die ich aufgezählt habe, lösen können, indem wir neue Programme und Fonds auflegen, habe ich meine Zweifel. In dieser Beziehung habe
ich in diesem Jahr eine Menge gelernt. Ich bin nicht der
Meinung, dass es im Moment sinnvoll ist, den Beitrag
zum globalen Fonds aufzustocken.
({21})
Wir sollten vielmehr die bereits bestehenden bilateralen
und multilateralen Programme sinnvoll koordinieren.
Obwohl Sie dafür 16 Jahre Zeit gehabt haben, haben Sie
nichts getan.
({22})
Das, was wir in unseren Regierungsjahren getan haben,
ist vergleichsweise erheblich mehr.
({23})
- Wir sind ja dabei.
({24})
Wir tun inzwischen mehr für die Qualifizierung der
Menschen und investieren mehr in Bildung, Wirtschaft
und Gesundheit. Daran halten wir fest.
({25})
- Das, was Sie gerade dazwischengerufen haben, stimmt
nicht. Wir haben sogar etwas mehr getan.
({26})
Es ist ganz wichtig - diese Bitte richte ich an unsere
eigene Regierung -, dass alle zuständigen Ministerien
ihre Aufgaben stärker koordinieren.
({27})
Es kann nicht sein, dass drei Ministerien in derselben
Angelegenheit drei verschiedene Vorstellungen haben.
Das darf nicht so weitergehen.
({28})
Diese Entwicklung hat in Ihrer Regierungszeit begonnen. Sie wissen, dass Verwaltungsapparate verändert
werden müssen.
Es geht nicht an, dass neue Aufgaben, die sich angesichts immer neuer Krisen ergeben, mit dem gleichen
Personal oder gar mit weniger Personal bewältigt werden müssen.
({29})
Dieser Hinweis bezieht sich sowohl auf das Entwicklungshilfeministerium als auch auf das Auswärtige Amt
als auch auf das Finanzministerium, in dem man sich mit
internationalen Aufgaben umfangreich beschäftigt.
Ich will ausdrücklich sagen: Frau Ministerin, mit dem
Geld wird eine gute Arbeit geleistet. Nach einem Jahr bin ich
heute nicht der Überzeugung, dass es in erster Linie auf das
Geld ankommt. Wir müssen für eine bessere Koordinierung
sorgen. Wir können in Deutschland eines vorweisen, was alle
anderen nicht vorweisen können - Herr Kollege Borchert, da
sind wir uns wieder einig -: Die Mitarbeiter in den Organisationen sind hervorragend; sie sind hoch motiviert, egal
ob sie in einer kirchlichen, humanitären Organisation,
bei Stiftungen oder der GTZ arbeiten. Wir haben gemeinsam ganz besonders viel für den Deutschen Akademischen Austauschdienst und für die Humboldt-Stiftung
getan. Frau Ministerin, wir werden Sie dabei unterstützen, diese internationalen Aufgaben fortzuführen.
Wir gehen davon aus, dass die Opposition mit uns die
Haushaltssanierung vorantreibt. In diesem Sinne habe
ich den Kollegen Borchert verstanden, der keine Erhöhungen beantragt hat. Er war lediglich wie wir der Meinung, dass man eigentlich mehr tun müsste. Man sollte
hier nicht herumschreien, wenn man selbst keinen Beitrag leistet.
({30})
Ich möchte mit einem klugen Wort des Philosophen
Carl Friedrich von Weizsäcker schließen:
Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur dann weiterleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so
bleibt, sondern werden wird, wie sie sein soll.
({31})
Daran arbeiten wir.
Ich danke Ihnen.
({32})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Löning,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Schulte, Sie fordern zu Recht eine bessere
Koordination. Das ist tatsächlich ein Problem in der
Zusammenarbeit zwischen den Ministerien, speziell
zwischen BMZ und AA. Folgen Sie doch unserem
Antrag und tragen Sie dazu bei, dass diese beiden Ministerien fusionieren! Wenn das geschieht, dann können
diese Angelegenheiten in einem Haus vernünftig geregelt werden, dann ist dieses Problem schon einmal gelöst
und dann steht mehr Geld für die eigentliche Arbeit zur
Verfügung.
({0})
Vor einem Jahr habe ich der Ministerin von dieser
Stelle aus vorgeworfen, vor allem viel gute Werbung und
wenig gute Politik zu machen.
({1})
Ich habe mir meine Rede, die ich vor einem Jahr gehalten habe, einmal angeschaut.
({2})
Ich habe mir die Frage gestellt: Hast du damals Recht
gehabt? Ich muss sagen: Alles, was ich damals gesagt
habe, hat sich bestätigt.
({3})
Die Ministerin gibt sich sehr viel Mühe, um eine gute
Pressearbeit zu machen. Auf diesem Gebiet hat sie unzweifelhaft ein großes Talent; das muss man ihr zugestehen.
({4})
Sie gibt sich allerdings wenig Mühe, eine gute Politik zu
machen.
({5})
Lassen Sie mich das an ein paar Beispielen zeigen.
({6})
Im Zusammenhang mit der Baumwollinitiative fuhr
die Ministerin am Vortag der dortigen WTO-Verhandlungen nach Cancun. Sie hatte kein Verhandlungsmandat. Aber sie veranstaltete mit den Vertretern der afrikanischen Länder eine Pressekonferenz. Dem, was sie in
der Sache sagte, stimme ich völlig zu; aber sie trug nach
ihrer Rückkehr nichts zur Umsetzung bei,
({7})
weil sie nur den Presseerfolg kassieren wollte.
({8})
Ähnlich ist es mit der Grundbildung. Da der Bundeskanzler dies zugesagt hatte, habe ich vor einem Jahr
angemahnt, dass die Mittel für die Grundbildung verdoppelt werden. Weder im letzten noch in diesem Haushalt ist in dieser Hinsicht etwas passiert. Wir von der
FDP haben beantragt, die Mittel für die Grundbildung zu
erhöhen. Dieser Antrag wurde mit Ihrer Mehrheit abgelehnt.
({9})
- Herr Ströbele, Sie haben das abgelehnt. - Es ist doch
immer dasselbe Strickmuster:
({10})
Auf einem großen internationalen Gipfel verkündet der
Kanzler etwas vollmundig und am Ende passiert nichts.
({11})
- Natürlich ist das so! - Auch hier wieder: gute Presse
erreicht, wenig gute Politik durchgesetzt.
Lassen Sie mich jetzt etwas zum Thema Aids sagen,
Frau Schulte. Das ist ein sehr ernstes Thema. Die Länder
im südlichen Afrika gehen daran zugrunde. Es gibt dort
keine Lehrer mehr. Es gibt dort viele Waisen. Sie kennen
die Situation. Sie haben sie eindringlich geschildert. Ich
sage Ihnen ganz ehrlich: Ich verstehe die Bundesregierung an dieser Stelle nicht. Die Bundesregierung hat den
globalen Fonds mit gegründet. Das ist kein neuer Fonds.
Dabei geht es um ein sehr gut funktionierendes internationales Gremium. Der Vorsitzende war bei uns im Ausschuss und hat alles sehr überzeugend dargestellt. Dort
wird eine sehr gute Arbeit geleistet.
Schon die diesem Fonds aus dem Bundeshaushalt zugesagten Mittel wären nicht geflossen, wenn wir als FDP
hier im Sommer nicht nachgefragt hätten.
({12})
Jetzt haben Sie mit Ihrer Mehrheit wieder abgelehnt, die
Mittel für den globalen Fonds zu erhöhen. Sie müssen
aber erhöht werden und das wissen Sie genau; Sie haben
es hier deutlich dargestellt.
({13})
Lassen Sie mich noch ein paar Punkte zum Thema
WTO, Freihandel und Oppositionsreden erwähnen.
Auch Sie haben gerade eine wunderbare Oppositionsrede gehalten. Das kennen wir auch von der Frau Ministerin. Sie sagt immer sehr überzeugend, was wir in Europa alles machen müssen, dass wir die Grenzen für die
Produkte der Dritten Welt öffnen müssen, dass wir unsere Agrarsubventionen senken müssen. Wir sind da völlig d'accord, wir sind da völlig einer Meinung. Natürlich
ist es die Entwicklungschance für die Länder der Dritten
Welt, wenn sie ihre Produkte hier verkaufen können. Der
Unterschied zwischen uns und Ihnen, Frau Ministerin,
ist: Sie sitzen in der Regierung. Sie können handeln und
Sie sollten handeln. Sie sollten sich eben nicht nur hier
hinstellen oder sich an die Presse wenden und sagen, wir
machen etwas, alles ist ganz furchtbar, wir Europäer
müssen etwas tun. Sie sollten also nicht so tun, als wären
Sie eine Oppositionspolitikerin.
({14})
- Sie sind es nicht. Thematisieren Sie das im Kabinett!
Sorgen Sie dafür, dass die Kollegen in Brüssel so verhandeln, dass unsere Exportsubventionen sinken und die
Länder der Dritten Welt die Chance haben, ihre Produkte
hier zu verkaufen!
({15})
In der Summe sind wir uns in der Entwicklungspolitik
im Ziel der Armutsbekämpfung natürlich einig. Nur
ein Leben ohne Armut kann ein Leben in Würde sein.
Das muss das Ziel jeglicher Entwicklungspolitik sein.
Das ist in diesem Hause, glaube ich, auch völlig unstreitig.
Wir fordern Sie als Bundesregierung und natürlich
speziell Sie, Frau Ministerin, auf: Betreiben Sie weniger
Ankündigungspolitik und richten Sie Ihre Politik stärker
auf das aus, was wir wirklich brauchen. Wir brauchen einen Erfolg der Doha-Runde. Wir brauchen einen Erfolg
in der WTO. Ich warte darauf, dass die Bundesregierung
da tätig wird. Ich warte darauf, dass sie unseren französischen Freunden an der Stelle endlich auf die Füße tritt
und sagt: Freunde, bewegt euch! Es kann nicht sein, dass
sich die Bundesregierung von den Franzosen in dieser
Art und Weise erpressen lässt.
Wir müssen vorwärts gehen. Wir müssen der Marktwirtschaft und dem Freihandel zum Durchbruch verhelfen. Das sind zusammen mit der Rechtsstaatlichkeit die
Mittel, um die Menschen aus der Armut zu führen. Alle
Hilfsprogramme nützen nichts, wenn wir den Menschen
nicht die Möglichkeit geben, ihre Armut aus eigener
Kraft zu überwinden. Dazu gehört, dass wir marktwirtschaftliche Strukturen ermöglichen, unterstützen und unsere Märkte öffnen. Da helfen Oppositionsreden von der
Regierungsbank wenig.
({16})
Ich fordere Sie an dieser Stelle also noch einmal auf:
Gehen Sie diese positiven Schritte hin zu einer Öffnung
der Märkte! Dafür haben Sie jederzeit die Unterstützung
der FDP. Hören Sie auf, eine Pressepolitik zu betreiben!
Fangen Sie endlich an, eine solide inhaltliche Politik zu
betreiben! Dafür haben Sie unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In einer Haushaltsdebatte ist es der Job der Opposition,
den Finger in die Wunde zu legen, auf die Lücken hinzuweisen und gerade dann, wenn es um Entwicklungszusammenarbeit, um die Überwindung von Hunger, Armut
und Elend geht, deutlich zu machen, dass mehr getan
werden muss, dass die bereitgestellten Mittel nicht ausreichen. Der Job der Regierungsparteien ist es dann, das
Gegenteil zu behaupten und die Dinge manchmal auch
schönzureden.
Ich möchte dieses Muster heute bewusst durchbrechen. Auch wenn ich bei weitem nicht alles teile, was
meine Vorredner gesagt haben, auch wenn ich davor
warne, hier Horrorszenarios zu entwickeln und die
Dinge schwärzer als schwarz zu malen, muss ich sagen:
In Teilbereichen rennen Sie mit Ihrer Kritik auch bei mir
offene Türen ein. Deswegen wird es zum Teil jetzt auch
wieder eine Oppositionsrede.
Bevor ich auf die positiven Seiten des Einzelplans 23
zu sprechen komme, möchte ich in aller Offenheit sagen,
was mich in den letzten Wochen enttäuscht hat. Stichwort globale Minderausgabe: Nach wie vor bekennen
wir uns und bekennen sich auch alle in der Bundesregierung zu dem Ziel, bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit und für humanitäre Hilfe zur Verfügung zu
stellen. Aber um das zu erreichen, wäre es nötig gewesen, diese Bereiche von Kürzungen im Rahmen der globalen Minderausgabe auszunehmen. Dass dies nicht geschehen ist, bedauere ich. Dies führt dazu, dass wir hier
jetzt nicht ein kleines bescheidenes Wachstum verkünden können, sondern bestenfalls eine Stabilisierung. Die
Tatsache, dass andere Ressorts von der globalen Minderausgabe stärker betroffen sind, empfinde ich dabei nur
als schwachen Trost. Ich will in aller Deutlichkeit sagen:
Weitere Kürzungen verträgt dieser Bereich auf keinen
Fall.
Enttäuscht bin ich auch davon, dass es im Rahmen der
Kunduz-Mission nicht, wie zunächst geplant, zusätzliches Geld, Fresh Money, auch für den zivilen Bereich
gegeben hat, sondern dass umgeschichtet werden
musste. Dieses Geld fehlt dann natürlich an anderer
Stelle.
({0})
Die dritte Hiobsbotschaft kam Montag aus Brüssel.
Sosehr ich die Unterstützung der Europäischen Union
beim Aufbau der afrikanischen Friedenstruppe begrüße, so falsch halte ich es, hierfür 250 Millionen Euro
aus dem Europäischen Entwicklungsfonds zu nehmen.
({1})
- Jetzt klatschen Sie. Bei der letzten Debatte hat die
CDU/CSU dieses Vorgehen für richtig gehalten. In diesem Punkt folge ich eher der FDP, die fordert, dass das
Geld des Europäischen Entwicklungsfonds für die
Hungerbekämpfung und die Überwindung von Aids zur
Verfügung gestellt werden sollte und nicht für Militärhilfe,
({2})
auch wenn diese Militärhilfe für Afrika begrüßenswert
und richtig ist. Immerhin ist es bei den Verhandlungen in
Brüssel wenigstens noch gelungen, die Zusage zu erhalten, dass in einem Jahr erneut überprüft wird, ob diese
Zweckentfremdung - das sage ich jetzt ganz bewusst der Gelder des Europäischen Entwicklungsfonds gestoppt werden kann und ob zusätzliche Mittel für diese
neue Aufgabe bereitgestellt werden können.
Zu dem Europäischen Entwicklungsfonds möchte ich
noch eine Anmerkung machen: Bei den Haushaltsdebatten werden ja häufig multilaterale und bilaterale Arbeit gegenübergestellt. Meiner Meinung nach kann man
hier keine Gegensätze mehr konstruieren; wir müssen
diese beiden Bereiche vielmehr viel stärker miteinander
verzahnen, um sie effektiver zu gestalten. Deshalb freue
ich mich, dass sich der AWZ vorgenommen hat, dieses
Thema bei der nächsten Ausschusssitzung zu behandeln
und nach Brüssel zu fahren. Zugleich soll auch von den
Haushältern und Haushälterinnen das Thema Personalentwicklungsplanung angegangen werden, damit mehr
Deutsche bei UN-Organisationen mitarbeiten und unsere
Interessen besser zum Tragen kommen.
Ich habe drei Enttäuschungen benannt. Nun könnte
die Opposition schadenfroh sein und uns grünen und
auch roten Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitikern vorwerfen, dass wir uns innerhalb unserer Fraktionen nicht durchsetzen können. Ich wage allerdings die Prognose, dass die werten Kolleginnen und
Kollegen, die für die CDU/CSU und die FDP im Entwicklungsausschuss sitzen, unter einer schwarz-gelben
Bundesregierung keineswegs kleinere, sondern eher
noch größere Probleme hätten.
({3})
In den Reden Ihrer Haushalts- und Finanzexperten
und auch der Fraktionsvorsitzenden gestern und heute
wurden viele Schwerpunkte genannt, zum Beispiel Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland,
Förderung von Forschung und Bildung. Aber die Entwicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfe
wurden dabei von Ihren Vorderen nicht ein einziges Mal
erwähnt. Stattdessen wird über die ehrgeizigsten Steuersenkungskonzepte diskutiert, die ja die Einnahmenseite
noch weiter verschlechtern. Dass Merz und Brüderle im
Sommer den Schuldenerlass attackiert haben, macht
deutlich, dass dieses Thema in Ihren Fraktionen auch
nicht sehr hoch angesiedelt ist, Sie dabei also wahrscheinlich noch viel größere Schwierigkeiten hätten.
Ich will weiterhin darauf hinweisen, dass auch die
Länder zu der Entwicklungszusammenarbeit beitragen;
auch sie haben die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit gekürzt: so Bayern um 50 Prozent
({4})
und Baden-Württemberg um 20 Prozent. Auch das
macht sich bei der ODA-Quote negativ bemerkbar.
Diese Kritik soll allerdings nicht meine Kritik am eigenen Lager relativieren. Wir stehen gemeinsam vor der
großen Herausforderung, innerhalb unserer Fraktionen,
Parteien und Landesverbände auf die Bedeutung der
Entwicklungszusammenarbeit für den Frieden und die
Bewahrung der Schöpfung hinzuweisen und dort für
mehr Akzeptanz zu werben. Ich bitte, dass sich da jeder
an die eigene Nase fasst.
({5})
Da sich immer mehr der Ungeist verbreitet, wir könnten uns in Zeiten knapper werdender Finanzmittel keine
„Almosen“ mehr leisten, bin ich froh, dass im
Einzelplan 23 der Ansatz für die entwicklungspolitische
Bildungsarbeit deutlich erhöht wurde; denn Bildungsund Aufklärungsarbeit sind bitter nötig. Machen Sie einmal die Probe aufs Exempel und fragen Sie den Mann
oder die Frau auf der Straße, was sie glauben, in welche
Richtung die Finanzströme fließen. Sie werden feststellen, dass die große Mehrheit glaubt, wir würden riesige
Summen in die Dritte Welt buttern. Wer weiß schon,
dass es im letzten Jahr den bislang höchsten Nettofinanztransfer in umgekehrter Richtung, nämlich vom
Süden in den Norden, gegeben hat? Konkret: Die Entwicklungsländer haben - hauptsächlich im Rahmen des
Schuldendienstes - 190 Milliarden Dollar mehr in die
reichen Industrieländer überwiesen, als sie von dort bekommen haben.
({6})
Das sind Zahlen, die Kofi Annan im September dieses
Jahres bekannt gegeben hat.
Diese Zahlen machen deutlich, dass es bei der Überwindung von Hunger und Armut nicht allein um Entwicklungshilfe - ich gebrauche jetzt einmal diesen alten
Begriff - geht, sondern auch darum, dass wir uns der
Entschuldungsfrage ganz neu stellen müssen, weil dort
noch größere Anstrengungen erforderlich sind, die weit
über die HIPC-Initiative hinausgehen.
Zu den positiven Seiten des vorgelegten Haushalts gehört, dass die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen,
der Kirchen und der politischen Stiftungen stärker gewürdigt und unterstützt wird. Sie sind eingebunden in
die Gesellschaften der Partnerländer und tragen dort
auch zum Aufbau und zur Stärkung der Demokratie bei.
Sie leisten eine wichtige, emanzipatorische Entwicklungsarbeit und setzen sich sowohl in ihren Partnerländern als auch auf internationaler Ebene für mehr Gerechtigkeit, für gerechtere Strukturen ein.
Konkrete Entwicklungszusammenarbeit und der Einsatz für gerechtere Strukturen in der Weltwirtschaft müssen Hand in Hand gehen. Sie sind erklärtermaßen Querschnittsaufgabe dieser Bundesregierung. Deshalb ist es
wichtig, nicht nur auf den Einzelplan 23 zu blicken, sondern auch auf die entwicklungspolitischen Instrumentarien des Auswärtigen Amtes, des Agrarministeriums
- im Bereich der FAO - und auch der anderen Häuser.
({7})
- Auch des Umweltministeriums; danke schön. - Diese
Kohärenz ist sicherlich noch ausbaufähig - das sage ich
besonders mit Blick auf das Wirtschaftsministerium und
die Verhandlungsführung innerhalb der WTO -, aber es
bleibt festzuhalten, dass Armutsbekämpfung, dass die
Verwirklichung der Millenniumsziele nicht in nur einem
Ressort angesiedelt, sondern eine Querschnittsaufgabe
der gesamten Bundesregierung ist.
Es ist gut, dass wir - sowohl die Oppositionspolitiker
als auch die Politiker der Koalitionsfraktionen - die
Bundesregierung immer wieder daran erinnern, die Millenniumsziele im Auge zu behalten und den Worten Taten folgen zu lassen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Vorhin ist zu der Rede von Herrn Löning eine Kurzintervention der Kollegin Karin Kortmann angemeldet
worden, die ich leider übersehen habe. Ich gebe ihr jetzt
das Wort zur Kurzintervention.
({0})
Danke, Frau Präsidentin.
Wir wünschen uns in der Tat mehr Geld, Herr
Kampeter, aber das wird nicht durch Zwischenrufe erreicht, sondern nur durch kontinuierliche gute Arbeit, die
Sie nicht geleistet haben.
({0})
- Ich möchte jetzt gerne auf Herrn Löning eingehen und
nicht auf Sie.
Herr Löning, man könnte spaßeshalber sagen: The
same procedure as every half year, weil Sie jedes halbe
Jahr den Antrag stellen, das BMZ aufzulösen. Jetzt haben Sie ihn modifiziert.
({1})
- Sind Sie dran oder ich? Gutes Benehmen zeichnet sich
dadurch aus, dass man auch einmal den Mund hält und
zuhört.
({2})
Sie haben jetzt eine modifizierte Fassung vorgelegt,
nach der Sie nun eine Fusion von Auswärtigem Amt
und BMZ für besser halten. Angesichts unserer Zusammenarbeit im Ausschuss unterstelle ich Ihnen, Herr
Löning, und Ihnen, Herr Heinrich, dass Sie zu einer stärkeren Profilierung der Entwicklungszusammenarbeit
kommen wollen, dass das, was Deutschland beispielhaft
anbietet, auf die Europäische Union in ihrem neuen Zuschnitt übertragen werden kann. Ich frage mich allerdings, ob Sie mit diesem Antrag nicht erreichen, dass wir
zu einem Profilverlust beitragen, dass nämlich die Entwicklungszusammenarbeit nur noch unter Diplomatie
und Außenpolitik wahrgenommen wird. Die verschiedenen spezifischen Instrumente, die wir dort anbieten, die
Vertretungsbereiche, die wir eigenständig über das BMZ
wahrnehmen, gingen damit verloren. Ich bitte Sie sehr
herzlich, noch einmal darüber nachzudenken, ob das der
richtige Ansatz ist.
Der zweite Punkt ist richtig. Wir brauchen mehr Kohärenz. Das kommt in Ihrem Antragstext ja auch vor. Es
geht aber nicht nur um die Außenpolitik und die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Entwicklungszusammenarbeit. Wenn Sie der heutigen Debatte insgesamt
zugehört hätten, wüssten Sie, dass es auch um die sicherheitspolitische Verschränkung gehen muss. Deshalb gibt
es unter dieser Bundesregierung zwei besondere Merkmale, auf die ich hinweisen will
({3})
und bei denen dieses Kohärenzgebot eingehalten wurde.
Das ist deutlich vorgetragen worden. Es wird einmal im
gemeinsamen Afghanistan-Konzept deutlich, wo Innen-,
Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungshilfeministerium darlegen, wie die verschiedenen Instrumente, die
verschiedenen Sichtweisen und die unterschiedlichen
Aufgabenkataloge miteinander verschränkt werden können. Und Sie können beim Aktionsprogramm 2015
nachlesen, wie wichtig es ist, dass diese Kohärenz in die
Praxis umgesetzt wird.
Sollten Sie allerdings meinen, dass eine Fusion ein
Kostenfaktor ist, würde ich Ihnen eine Fusion mit der
Union vorschlagen. Das würde den Bundestag kostenmäßig erheblich entlasten.
({4})
Das wäre durchaus ein interessanter Vorschlag, über den
wir am Freitag abstimmen könnten.
({5})
Herr Kollege Kampeter, ich kläre Sie gern auf. Die
Kurzintervention dauert drei Minuten und die Kollegin
Kortmann hat die drei Minuten nicht überzogen.
({0})
Herr Kollege Löning, Sie können jetzt antworten.
Frau Kollegin, vielen Dank, dass Sie mir Gelegenheit
geben, unseren Antrag noch einmal darzustellen.
Sie haben das sehr richtig ausgeführt. Es geht natürlich um Kohärenz in der Politik und wir sind eben im
Gegensatz zu Ihnen, die Sie meinen, es reiche schon, ein
vernünftiges Konzept zu haben, der Meinung, dass es
vernünftig ist, auch die Verwaltungsstrukturen ineinander zu führen und miteinander arbeiten zu lassen. Wir
meinen, dass es eben vernünftiger ist, das kohärent innerhalb eines Hauses zu machen, anstatt es in einem zusätzlichen bürokratischen Schritt zwischen zwei Häusern
zu koordinieren.
Wir sind auch der Meinung - das steht auch ausdrücklich in unserem Antrag -, dass es der deutschen Außenpolitik gut anstünde, wenn sich das entwicklungspolitische Know-how, das im BMZ ja ohne Zweifel
vorhanden ist, auch in der deutschen Außenpolitik deutlich niederschlüge. Es ist nicht Inhalt unseres Antrages
- wie Sie hier vorgetragen haben - dass wir irgendwelche Instrumente der Entwicklungspolitik abschaffen
wollen. Im Gegenteil, wir wollen es zusammenführen,
weil wir denken: Nur zusammen macht es Sinn. Nur zusammen kann es eine kohärente Außen-, Sicherheitsund Entwicklungspolitik geben, wobei ich nicht möchte,
dass das Verteidigungsministerium auch noch integriert
wird. Das wäre zu viel des Guten.
Ein Blick in die Historie zeigt: Das Entwicklungshilfeministerium wurde unter einer bestimmten politischen
Konstellation Anfang der 60er-Jahre aus dem Auswärtigen Amt ausgegliedert. Das war damals sinnvoll. Es ist
aber jetzt nicht mehr sinnvoll. Das ist 40 Jahre her und in
den 40 Jahren ist viel passiert, ist viel Wasser den Rhein
herunter geflossen. Jetzt kann das Entwicklungshilfeministerium wieder ins Auswärtige Amt. Das würde aus
unserer Sicht sehr viel Sinn machen.
Wir werden uns über das Thema sicher noch häufiger
unterhalten, außer Sie kommen zur Vernunft und unterstützen das Anliegen endlich einmal.
({0})
Herr Kollege Kampeter, ich möchte noch einmal auf
Ihren Zwischenruf eingehen. Ich glaube, Sie gingen zu
weit, als Sie dem Präsidium, besonders der Präsidentin,
Manipulation der Zeit vorwarfen. Ich denke, Sie sollten
darüber nachdenken und sich dafür entschuldigen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist wahr: Die Entwicklungspolitik steht vor
neuen Herausforderungen und vor einem neuen Stellenwert. Denn eine ungeahnte Dimension des Terrorismus
auf der einen Seite und die fortschreitende Globalisierung auf der anderen Seite, die vor allem den hochproduktiv und modern wirtschaftenden Ländern und Unternehmen nützt, zwingt die Entwicklungspolitik,
international mehr Erfolg im Kampf um wirtschaftliche
und politische Entwicklung für andere Regionen und
Hunderte Millionen von Menschen zu haben, die bisher
keinen Ausweg aus Armut, Gewalt und Umweltzerstörung sehen. Das heißt, dass die strategische Bedeutung
der Entwicklungspolitik erheblich gestiegen ist. Aber im
krassen Gegensatz dazu und entgegen allen großen Versprechungen ist die Bedeutung der Entwicklungspolitik
für die rot-grüne Regierungskoalition gesunken.
Frau Schulte, Sie haben mit Grabesstimme analysiert,
dass der Zustand der Welt nicht besonders gut ist. Da
gebe ich Ihnen Recht. Aber Sie haben so gut wie überhaupt nichts zu den Konsequenzen gesagt, die Sie ziehen
müssen und welche sich davon im Haushalt niederschlagen. Ihr Haushalt ist angesichts der Probleme ein Dokument der Hoffnungslosigkeit.
({0})
Es ist schon angesprochen worden: Noch nie war der
Anteil des Entwicklungsetats am Gesamthaushalt des
Bundes unter Rot-Grün so niedrig wie jetzt.
Ein kraftvoller und erfolgreicher entwicklungspolitischer Ansatz benötigt drei Pfeiler: erstens eine ausreichende Mittelausstattung, zweitens eine überzeugende
Konzeption und drittens eine effiziente Umsetzung.
Aber in allen drei Punkten verdient die Regierungspolitik die Note mangelhaft.
({1})
Erstens die Mittelausstattung. Herr Borchert hat es
schon gesagt: Die miserable rot-grüne Wirtschafts- und
Finanzpolitik ruiniert in der Tat nicht nur Deutschland,
sie ruiniert auch den Entwicklungshaushalt. Frau Ministerin, Sie haben in den letzten Jahren zu keinem Zeitpunkt Ihre Wahlkampf- oder Koalitionsversprechen eingelöst, den Entwicklungshaushalt deutlich zu erhöhen.
Passiert ist in der Tat das Gegenteil: Da wurde in den
letzten Jahren gekürzt. Auch diesmal wurde durch die
rot-grüne Mehrheit im Haushaltsausschuss weiter gestrichen, sodass der Haushaltsansatz 2004 nominal um fast
10 Prozent unter dem Iststand des Jahres 1998 liegt. Das
ist die Umsetzung Ihres Versprechens.
({2})
Herr Erler, de facto ist der deutschen Entwicklungszusammenarbeit unter Rot-Grün ein halber BMZ-Jahreshaushalt genommen worden.
({3})
- Herr Erler, ich verstehe Ihren Einwand nicht. Unsere
Änderungsanträge,
({4})
die wir im Ausschuss eingebracht haben, können Sie jederzeit nachlesen. Darin geht es um eine Erhöhung der
Mittel für die EZ, für die TZ sowie für die Kirchen und
den Stiftungsdienst. Diese Forderungen wurden aber alle
von Ihren Kollegen abgelehnt.
({5})
Natürlich begrüßen wir, dass beispielsweise in der beruflichen Aus- und Fortbildung und beim Senior Expert
Service draufgesattelt wurde; es war ja auch unsere Forderung. Aber die entscheidenden Weichen und Signale
zeigen erneut nach unten. Ich sage in aller Deutlichkeit:
Wir wollen nicht, dass die deutsche Entwicklungspolitik
genauso wortbrüchig in der Welt dasteht wie Eichels
Haushaltspolitik nach dem Debakel gestern in Brüssel.
({6})
Herr Kollege Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Schulte?
Ja.
Herr Kollege Ruck, wenn Sie zugehört und mein Zitat
von von Weizsäcker richtig verstanden hätten, dann wären Sie zu der Schlussfolgerung gekommen, dass ich gar
nicht pessimistisch bin.
Ich muss sagen, dass Ihre Kollegen im Haushaltsausschuss nicht einen einzigen Antrag auf Erhöhung von
Mitteln gestellt haben. Sie haben auch überhaupt nichts
dazu gesagt, woher wir das Geld nehmen sollten. Aber
wir sind uns in dem Punkt einig - das finde ich an Ihnen
sympathisch -, dass wir natürlich mehr Geld brauchen.
Allerdings liegt die Arbeit der nächsten Jahre in erster
Linie nicht darin, mehr Geld zur Verfügung stellen zu
können. Sie liegt vielmehr darin, Leute zu qualifizieren.
Entsprechende Maßnahmen haben wir auf den Weg gebracht und nicht Ihre Kollegen. Würden Sie das bitte zur
Kenntnis nehmen?
({0})
Frau Schulte, ich möchte erstens feststellen, dass Sie
in Ihrer Haushaltsrede genauso nebulös gesprochen haben, wie die Ministerin meistens spricht; denn sie will
einer Aussage darüber ausweichen, welche Maßnahmen
angesichts dieser Misere konkret erforderlich sind und
was das kostet. Das habe ich kritisiert.
Zweitens möchte ich auf eine ganze Reihe von Anträgen hinweisen, die auch Sie kennen - deswegen verstehe
ich Ihren Einwand nicht ganz - und die alle - mit einigen wenigen Ausnahmen - von Ihren Kollegen im Entwicklungsausschuss abgeschmettert wurden. Da ging es
um die Erhöhung von VEs und von Barmittelansätzen.
Die sind alle mit den Stimmen Ihrer Kollegen den Bach
runtergegangen. Das Kasperletheater, dass wir das
Ganze noch einmal dem Haus vorlegen, können Sie von
uns wirklich nicht verlangen.
({0})
Frau Schulte, eines ist doch klar - das haben auch Sie
angesprochen -: Keiner in diesem Haus kann ernsthaft
glauben, dass wir bis 2006 die ODA-Quote von
0,33 Prozent erreichen. Das können auch Sie nicht glauben. Von uns glaubt dies keiner mehr. Wenn wir davon
ausgehen würden, würden wir wie Eichel in der Haushaltspolitik wortbrüchig. Genau das wollen wir in der
Entwicklungspolitik nicht.
({1})
Natürlich haben Sie Recht - Frau Kortmann hat schon
darauf hingewiesen -, wenn Sie sagen, Geld sei nicht alles, auch die Qualität müsse stimmen. Auch ich sage:
Geld ist nicht alles. Aber ohne Geld und mit diesem
Haushalt sind Sie nicht handlungsfähig. Deswegen müssen wir darauf dringen, dass wieder mehr Geld in die
Entwicklungspolitik fließt.
Beim Thema Qualität stellt sich die Frage, ob Sie
eine überzeugende Konzeption haben; das ist das zweite
Stichwort. Die Antwort lautet: Nein. Ihre Konzepte sind
nebulös und Ihre Schwerpunkte angreifbar.
({2})
Das gilt auch für Ihren zentralen Begriff der Armutsbekämpfung. Natürlich ist auch für uns die Bekämpfung der Armut ein entscheidender Punkt. Aber die Ministerin hat es bis heute nicht geschafft, den seit drei
Jahren zugesagten Umsetzungsplan ihres Hauses zur Armutsbekämpfung vorzulegen. Die entscheidende Frage
ist doch nicht, ob man Armutsbekämpfung will. Die entscheidende Frage ist vielmehr, welche Strategien für die
Bekämpfung der weltweiten Armut erfolgversprechend
sind und welche Strategien es gibt, damit die Ministerin
ihre Kolleginnen und Kollegen im Kabinett überzeugen
kann. Niemand im Kabinett ist bisher von den 2015-Zielen überzeugt.
Die Haushaltsrealität sieht doch inzwischen ganz anders aus. Bildung zum Beispiel ist ein entscheidender
Pfeiler der Armutsbekämpfung. Kinder ohne Bildung
werden besonders häufig Opfer von Ausbeutung und Armut. Gerade dieser Sektor erlebt seit 1998 einen beispiellosen Niedergang. Damals waren noch 146 Millionen Euro in der Pipeline. Heute sind es gerade einmal
gut die Hälfte, rund 82 Millionen Euro. Das ist in der
Praxis das Gegenteil von Armutsbekämpfung.
({3})
Angesichts der wachsenden Zahl hungernder Menschen kritisieren in diesen Tagen die Deutsche Welthungerhilfe und Terre des hommes - auch das wurde schon
angesprochen - völlig zu Recht den in der Bundesregierung bestehenden Widerspruch zwischen Rhetorik und
Handeln. Dieselbe Lücke zwischen Rhetorik und Wirklichkeit klafft im Umwelt- und Ressourcenschutz. Obwohl die Probleme wachsen, sind von den bilateralen
Mitteln für die Finanzielle und Technische Zusammenarbeit in Höhe von 420 Millionen Euro in 1998 im Jahr
2004 gerade einmal 280 Millionen Euro übrig geblieben.
Auch das ist das Gegenteil von Armutsbekämpfung, von
Nachhaltigkeit und von Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen. Herr Hoppe, das ist auch eine
Ohrfeige für die Grünen; darüber sind wir uns, glaube
ich, einig.
Die Ministerin ist stolz auf die neue Linie der so genannten Ownership: Die Empfängerländer sollen sich
ihre Kooperationsschwerpunkte gefälligst selbst aussuchen dürfen. Das Ergebnis ist aber offensichtlich kontraproduktiv. Zielgruppe ist nach unseren Vorstellungen die
breite Masse der Bevölkerung in den Entwicklungsländern, deren Interessen nicht immer - so sage ich einmal
ganz vorsichtig - haargenau von den mit uns verhandelnden Eliten repräsentiert werden. Entwicklungspolitik bedeutet für uns auch die Veränderung von Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern. Das heißt, es
sollte ein ernsthafter Politdialog erfolgen, eine Zweibahnstraße sein, wobei auch wir unsere Wertvorstellungen durchsetzen sollen und dürfen.
Aus diesem Grund sind wir gegen den konzeptionellen Hang zu Multilateralismus. Unsere Durchführungsorganisationen, unsere Kirchen und unsere Stiftungen
leisten eine hervorragende und international anerkannte
Arbeit. Dieses Label deutscher Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiger Faktor unserer Außenpolitik und
ein Faktor in Sachen deutscher Eigenwerbung und stellt
eine kritische Masse dar, mit der wir Rahmenbedingungen verändern können. Für uns ist es eine falsche Politik,
wenn auf dem Rücken der bilateralen Zusammenarbeit
immer mehr Geld an internationale Organisationen vergeben wird, auf die wir keinen Einfluss haben oder die
Dinge tun, die unsere eigenen Organisationen besser
können.
Schließlich glauben wir auch, dass Ihre Fokussierung
auf das BMZ als internationales Katastrophen- und Armutsministerium gefährlich eng ist und dass wir damit
Verbündete sowie Akzeptanz verlieren. Aus diesem
Grund sind wir strikt dagegen, die Zusammenarbeit mit
den so genannten Schwellenländern wie Malaysia, Chile
oder Argentinien auslaufen zu lassen. Denn gerade die
wirtschaftliche, wissenschaftliche und ökologische Zusammenarbeit mit diesen Ländern ist in unserem ureigenen Interesse. Deswegen müssen sie auch weiter Partner
unserer EZ bleiben.
({4})
Ansonsten, Frau Ministerin, ist ihre Länderauswahl
weder eine Konzentration noch ist in ihr irgendein nachvollziehbares, rationales Kriterienraster zu erkennen.
Wir stellen eines immer wieder fest: Wenn es darum
geht, rasch und massiv auf aktuelle Ereignisse zu reagieren - sei es im Kongo, im Irak oder in Kunduz -, sind
Sie nicht mehr handlungsfähig. An dieser Konzeption
kann etwas nicht stimmen.
({5})
Nun komme ich zum dritten Stichwort, der effizienten Umsetzung. Man kann ja auch fehlerhafte Konzepte
noch einigermaßen gut umsetzen, aber auch dies geschieht in der Bundesregierung nicht. Was wir immer zu
Recht gefordert haben, ist eine deutsche Politik zur Entwicklung aus einem Guss. Ich möchte ausdrücklich anerkennen, dass unsere Durchführungsorganisationen, allen voran die GTZ und die KfW, mit dem Ziel einer
Effizienzsteigerung große Erfolge durch eine bessere
Vernetzung und Zusammenarbeit erzielt haben.
Sie dagegen, Frau Ministerin, waren in der Erledigung Ihrer Hausaufgaben weniger erfolgreich. Ihre Außenstruktur in der Entwicklungszusammenarbeit ist nach
wie vor zu schwerfällig, Ihre Umstrukturierung im eigenen Haus ein Schuss nach hinten, die knappen Personalund Finanzressourcen sind auf zu viele Töpfe aufgesplittert und die optimale Arbeitsverteilung zwischen BMZ,
NGOs und internationalen Organisationen bleibt ein
Wunschtraum.
Eine stärkere Beteiligung der Entwicklungsländer
am Welthandel ist in der Tat auch unser Ziel. Aber auch
ich muss sagen, dass ich es für den Ausdruck einer großen Doppelmoral halte,
({6})
wenn Sie in Cancun und danach mit großem Wehklagen
die ungerechte Behandlung der Entwicklungsländer betrauern, aber einige Monate zuvor unkommentiert zulassen, dass Schröder und Chirac die EU-Agrarpolitik auf
weitere Jahre fest zementieren. Auch das ist keine effiziente Umsetzung einer wichtigen Aufgabe.
({7})
Das Gleiche gilt für das Zusammenspiel von Außen-,
Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Wir haben das
am Beispiel Kunduz gesehen. Es steht zwar wunderbar
auf dem Papier, wie gut die vier Ressorts zusammenarbeiten, aber in Wirklichkeit weiß jeder, dass sie streiten
wie Hund und Katz. Wir haben in diesem Zusammenhang darüber diskutiert, wie gefährlich es sein kann,
wenn ein militärischer Einsatz nicht rasch und lückenlos
in ein effizientes Aufbauprogramm mündet.
Auch haben wir darüber diskutiert, dass all unsere
entwicklungspolitischen Bemühungen und Hilfsgelder
umsonst sind, wenn es keine außenpolitische Rückendeckung gibt. Dies ist die schlimmste, nämlich die politische Ineffizienz. Deswegen empfinden wir es als großen
Mangel, Herr Erler, dass es nach wie vor kein schlüssiges Afrika-Konzept, kein schlüssiges LateinamerikaKonzept und auch kein schlüssiges Asien-Konzept gibt,
das entschlossen umgesetzt wird.
({8})
Wie grotesk die Ergebnisse einer solchen Politik der
Konzeptionslosigkeit ist, sehen wir im Kongo. Der
Kongo, der wirklich um sein Überleben und seinen Wiederaufbau kämpft, ist weder Partnerland noch Schwerpunktland. Aber die Länder Ruanda und Uganda, die die
Drahtzieher des Bürgerkrieges sind, sind Schwerpunktländer.
Herr Kollege, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Darlegung der Verhältnisse in Afrika im
Einzelnen in Ihrer Redezeit wohl nicht mehr möglich
ist?
({0})
Herr Präsident, wie ich sehe, haben Sie hinter mir
heimlich gewechselt. Ich sehe, dass Sie nicht die Frau
Präsidentin sind.
({0})
Ich setze zur Landung an. Sie haben unsere richtige
Konzeption vor einigen Wochen abgelehnt. Diese Konzeption ist logisch und wird wieder auf Sie zurückkommen. Ihr Haushalt jedoch ist ein Haushalt der falschen
Signale und der Widersprüche. Er führt - genau wie der
Antrag der FDP zur Zusammenlegung von AA und
BMZ - in die verkehrte Richtung.
({1})
Wir brauchen eine starke Entwicklungspolitik. Nur so
können wir die globalen Herausforderungen in der Zukunft bewältigen und dabei gleichzeitig auch unsere eigenen vitalen Interessen einfließen lassen.
Ich danke Ihnen; auch Ihnen, Herr Präsident.
({2})
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau
Wieczorek-Zeul.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich die Rede von Herrn Borchert verfolgt habe, habe ich
bei mir gedacht, welch ein absurdes, falsches und völlig
verzerrtes Bild er von Entwicklungszusammenarbeit
zeichnet. Das war wirklich unglaublich.
({0})
Sie müssten es eigentlich doch besser wissen, schließlich
waren Sie einige Jahre lang Landwirtschaftsminister in
früheren Regierungen. Damals waren Sie für eine verfehlte Agrarpolitik verantwortlich. Das muss an dieser
Stelle einmal deutlich gesagt werden.
({1})
Das Center for Global Development in Washington
- dieses Institut hat in diesen Fragen vielleicht etwas
mehr Überblick als Sie - hat die Bundesrepublik
Deutschland und damit uns als Bundesregierung in seinem Development-Friendliness-Index auf Platz 1 der
G 7-Länder gesetzt. Wir stehen also an der Spitze der
G 7-Staaten bezüglich der Entwicklungsfreundlichkeit
unserer Gesamtpolitik. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
({2})
Das einzige Kriterium für die Bewertung von Entwicklungszusammenarbeit ist die so genannte ODAQuote; ODA steht für Official Development Assistance.
({3})
Diese Quote beschreibt das Verhältnis der Ausgaben für
Entwicklungszusammenarbeit zum Bruttosozialprodukt.
({4})
Ausweislich dem, was Nichtregierungsorganisationen
heute vorgelegt haben, betrug die ODA-Quote im
Jahr 1990, die die Regierung Kohl aus der Zeit davor
übernommen hatte, 0,41 Prozent des Bruttosozialprodukts. Am Ende der Regierungszeit Kohl lag diese
Quote nur noch bei 0,26 Prozent des Bruttosozialprodukts. Daran haben Sie mitgewirkt! Sie haben die Entwicklungszusammenarbeit als Steinbruch benutzt!
({5})
Wir dagegen haben den Versuch unternommen, unter
den erschwerten Bedingungen der Haushaltskonsolidierung Fortschritte zu erzielen. Die ODA-Quote liegt mittlerweile bei 0,27 Prozent des Bruttosozialprodukts. In
der mittelfristigen Finanzplanung ist eine Erhöhung unseres Etats von 8,5 Prozent vorgesehen. Diese Erhöhung
werden wir durchsetzen und so unser Ziel einer Quote
von 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts bis zum
Jahr 2006 erreichen. Da können Sie sich sicher sein.
({6})
Angesichts dessen, dass Sie die EU-Kommission aufgefordert haben, uns noch weitere Kürzungsvorschläge
zu machen, frage ich mich allerdings, an welchen Stellen
noch eingespart werden soll. Das passt hinten und vorne
nicht zusammen.
({7})
- Im Moment beantworte ich keine Zwischenfragen,
Herr Präsident. - Wir werden in diesem Haushalt in den
Jahren bis 2006, auch wenn die Konjunktur anziehen
wird, nicht nachträglich sparen können. Das muss klar
sein. Sonst würde das Ziel von 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts nicht erreicht. Das ist eine eindeutige Ansage mit Blick auf die Haushalte der künftigen Jahre.
({8})
Was haben wir erreicht? Sie vermitteln hier nur Zerrbilder. Die Menschen in den Entwicklungsländern wissen es besser: Wir haben einen Schuldenerlass durchgeführt, von dem 26 Entwicklungsländer profitieren. Diese
Länder haben die Ausgaben für den sozialen Bereich in
der Zeit von 1999 bis 2003 von 5,8 Milliarden Dollar auf
9,3 Milliarden Dollar erhöht. Diese Mittel stehen für Bildung und Gesundheit zur Verfügung.
({9})
Dadurch wird vielen Menschen geholfen. Reden Sie das
aus parteipolitischen Gründen bitte nicht schlecht! Das
halte ich für unverantwortlich.
({10})
Jetzt will ich auch noch etwas zum Thema Multilateralismus sagen. Ich nenne das Stichwort Grundbildung.
Schauen Sie sich doch die Fakten an! Das Land Mosambik hat durch den Schuldenerlass die Chance nutzen
können, die Zahl der Schüler von 1999 - damals gingen
dort 2 Millionen Kinder zur Schule - bis 2003 um
1 Million zu erhöhen. Das ist ein Ergebnis unserer Anstrengungen. Ich bin stolz darauf, dass diese Kinder aufgrund dieser Anstrengungen eine gute Zukunft haben.
({11})
Herr Löning hat gesagt, dass die Ministerin beim
Thema Baumwolle nur große Reden hält.
({12})
Jetzt will ich Ihnen mal etwas sagen: Ich war in Cancun
und habe mich an die Spitze der Bewegung der westafrikanischen Länder gesetzt, weil die perversen Subventionen im Agrarbereich - der Baumwolle - durch die USA
und partiell auch durch die EU zulasten der Menschen in
diesen Ländern geht. Deshalb stehe ich an ihrer Seite.
({13})
Ich habe gesagt, die EU müsse jetzt ihre Hausaufgaben
machen. Ich verweise darauf, dass der zuständige Kommissar Lamy heute in seinem Vorschlag für die Belebung
der Doha-Runde unsere Kritik aufgreift und die Forderung aufnimmt, den Punkt Baumwolle in diese Verhandlungen einzubeziehen. Das ist doch ein riesiger Fortschritt. Das hätte es doch nicht gegeben, wenn ich meine
Linie in dieser Frage nicht hartnäckig vertreten hätte.
({14})
Was noch wichtiger ist: Er sagt, dass die internen
Subventionen gesenkt werden müssen. Das sind bisher
700 Millionen Euro. Ich weiß nicht, ob er sie vollständig
reduzieren will. Wir aber sagen: Diese müssen vollständig reduziert werden. Es kann nicht sein, dass die Armut
in den Entwicklungsländern durch die Export- und
Agrarsubventionen im Baumwollbereich verschärft
wird. Wir müssen dazu beitragen, dass sie gerechtere
Handelsbeziehungen vorfinden. Hier muss die Europäische Union vorangehen.
({15})
Jetzt sage ich noch einmal etwas zu den Kollegen, die
anscheinend an Amnesie leiden oder vielleicht einfach
nicht mehr wissen, was frühere Regierungen getan haben.
({16})
Als ich Ministerin wurde, standen im Entwicklungshaushalt höchstens 19 Millionen DM für die Aidsbekämpfung zur Verfügung. Heute befinden sich in dem Haushalt, den Sie verabschieden werden, mindestens
300 Millionen Euro für die bilaterale und multilaterale
Aidsbekämpfung. Das haben wir verwirklicht. Wir lassen uns von Ihnen keine Ratschläge geben. Wer eine so
verfehlte Politik betrieben hat, der muss auch mal Kritik
ertragen können.
({17})
Im Übrigen stocken wir die Mittel für den globalen
Aidsfonds in diesem Haushalt um 38 Millionen Euro
auf. Bis zum Jahr 2007 werden es jährlich jeweils
72 Millionen Euro sein. Ich bin dafür, diesen Fonds zu
unterstützen und zu nutzen; denn die Lage ist einfach
dramatisch. In einem Bericht hat UNICEF heute folgende Zahl veröffentlicht: Man muss damit rechnen,
dass es demnächst 20 Millionen Waisen im südlichen
Afrika gibt, deren Eltern an Aids gestorben sind.
An dieser Debatte stört mich - das muss ich sagen -,
dass Sie nicht nur alles klein klein, sondern sogar Pepita
reden, statt dass wir uns gemeinsam überlegen, was vorangebracht werden kann. Sie machen hier das Kleinste
vom Kleinkarierten. Das ist ja wirklich unerträglich.
({18})
Ich komme zum Thema Bildung.
({19})
Deutschland gehört zu den wichtigsten sechs Geberländern weltweit, die zusammen mehr als zwei Drittel der
weltweiten Fördergelder für Bildung zur Verfügung stellen. Das geht aus einer Information der UNESCO hervor. Das müssen Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen und Sie sollten nicht immer nur Ihre ideologischen
Positionen vertreten.
({20})
Frau Ministerin, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Löning?
({0})
Gerne. Aber die Zeit muss abgezogen werden.
Diese Zeit wird selbstverständlich nicht abgezogen,
sondern der Rede hinzugefügt.
({0})
Gibt es sonst noch einen Zuschlag, Herr Präsident?
Frau Ministerin, können Sie sich daran erinnern, dass
der Bundeskanzler im letzten Jahr auf dem G 8-Afrikagipfel in Kanada zugesagt hat, die Mittel für die Grundbildung zu verdoppeln? Ich sage gar nicht, dass nichts
getan wird. Aber es gibt eine Zusage des Bundeskanzlers
an dieser Stelle.
Wir haben letztes Jahr nachgefragt, wo diese Verdoppelung stattfindet. Sie fand nicht statt. Wir haben dieses
Jahr dazu eine Kleine Anfrage gestellt. Als Antwort
wurde in Ihrem Haus unglaublich geeiert. Es gibt keine
klare Antwort. Sagen Sie uns, wo die Verdoppelung der
Mittel ist, die der Bundeskanzler zugesagt hat. Das
würde mich schon sehr interessieren.
Zunächst einmal muss ich Ihren Vorwurf zurückweisen: Bei uns im Haus eiert niemand. Das muss ich einfach klarstellen.
({0})
Zweitens. Wir haben zugesagt: Wir werden über einen
Zeitraum von fünf Jahren den Bereich der Grundbildung
auf 120 Millionen Euro aufstocken.
({1})
- Sie haben einfach ein verengtes Denken. Das Problem
ist der Schuldenerlass. Das habe ich Ihnen doch am Beispiel der Kinder, von denen jetzt 1 Million mehr in die
Schule gehen, deutlich gemacht. Dies trägt zusätzlich
zur bilateralen Zusammenarbeit dazu bei, dass im Bereich Bildung endlich Fortschritte erzielt werden. Das
müssen Sie doch verstehen. Kein Wunder, dass Sie das
nicht verstehen. Sie haben nie einen multilateralen
Schuldenerlass gemacht.
({2})
Ein paar Bemerkungen zur Terrorismusbekämpfung: Es ist in der Debatte schon mehrfach angesprochen worden, dass der Terrorismus zunimmt. Das bestätigen uns die bedrückenden Nachrichten der letzten
Wochen und Tage. Wir versuchen mit all unseren Möglichkeiten dazu beizutragen, dass Gewalt und Terrorismus der Nährboden entzogen wird. Das bedeutet Bekämpfung ungelöster Regionalkonflikte, globale
Kooperation, Dialog sowie Multilateralismus statt Unilateralismus. Wir müssen die ungerechte und obszöne
Kluft zwischen Arm und Reich beseitigen und Schritte
zu einer gerechteren Weltordnung unternehmen.
James Wolfensohn, der am Montag 70 Jahre alt
wird, möchte ich an dieser Stelle ein Dankeschön für
sein Engagement als Präsident der Weltbank übermitteln. Ich möchte ihn hier zitieren:
Aber man kann nicht Stabilität schaffen, ohne das
Problem der Armut anzupacken. Meiner Meinung
nach stimmt die Balance nicht. Wenn es
5 Milliarden Menschen gibt, die insgesamt über
20 Prozent des Gesamteinkommens verfügen, und
1 Milliarde Menschen, die 80 Prozent besitzen, haben Sie Instabilität.
Das ist die Grundfrage.
Ich will stichwortartig aufzählen, was wir global anpacken müssen. Wir dürfen uns nicht auf den bilateralen
Gärtchenblick beschränken.
({3})
Erstens. Wir müssen die Diskussion über die Frage führen, wie in der Welt globale öffentliche Güter wie Frieden, Aidsbekämpfung und gerechte Handelsbeziehungen finanziert werden. Dazu haben wir in der
internationalen Gemeinschaft eine Arbeitsgruppe mit
Herrn Zedillo an der Spitze, dem früheren mexikanischen Präsidenten, eingesetzt, der hierzu konkrete Vorschläge machen wird.
Zweitens. Für neue Aufgaben auf internationaler
Ebene braucht man neue Finanzmittel. Das gilt auch für
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Stichwort Solana und die entsprechenden Texte.
Drittens. Es muss endlich - Herr Löning, darin sind
wir uns vielleicht näher als in anderen Punkten - ein Ende
mit den Agrarexportsubventionen haben. Folgendes ist
nicht hinnehmbar: Mit rund 300 Milliarden US-Dollar
schützen die Industrieländer ihre Agrarmärkte für einen
geringen Teil der Bevölkerung, der davon noch nicht einmal unmittelbar profitiert. Das müssen wir ändern.
({4})
Die knappen Mittel dieser Welt dürfen nicht für Krieg
verschwendet werden. Allein der Aufenthalt der US-Soldaten im Irak kostet jeden Monat 4 Milliarden US-Dollar. Aufs Jahr hochgerechnet entspricht das dem Betrag,
den die internationale Gemeinschaft insgesamt jährlich
für Entwicklungszusammenarbeit ausgibt. Das ist einfach nicht hinnehmbar.
({5})
Ich glaube - der eine oder andere mag sagen, das sei
zu weit gedacht -, dass wir vor der folgenden Situation
stehen: Der UN-Sicherheitsrat mit all seinen Problemen
ist zwar zu reformieren; aber wenigstens haben wir ihn
zur Abstimmung in sicherheitspolitischen Fragen. Im
Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik haben wir
aber noch nicht einmal das. Hier stehen den multinationalen Unternehmen und den internationalen Finanz- und
Güterströmen nur nationale Regierungen und auf einzelne Fachfragen - Finanzen, Handel, Umwelt - spezialisierte internationale Organisationen gegenüber.
Ich plädiere dafür, dass wir das, was Jacques Delors
immer gefordert hat, international erreichen: Wir brauchen einen UN-Sicherheitsrat für wirtschaftliche und soziale Fragen, in dem alle Regionen der Welt von hochrangigen Repräsentanten vertreten werden und in dem
diese Fragen kohärent koordiniert werden. Es ist völlig
unvorstellbar, dass solche Fragen im 21. Jahrhundert
dem Selbstlauf überlassen bleiben. Wir brauchen Kohärenz und Koordinierung.
In diesem Sinne bitte ich Sie: Lassen Sie uns die Probleme gemeinsam anpacken. Sie sind so schwerwiegend,
dass wir in dieser Frage auf keinen Akteur verzichten
können, noch nicht einmal auf die Opposition, auch
wenn sie heute nur wenig hilfreiche Initiativen in die
Diskussion eingebracht hat.
({6})
Ich danke Ihnen sehr.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Borchert
das Wort.
Frau Ministerin, da Sie eine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, greife ich zu dem Instrument der Kurzintervention.
Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte ideologische
Positionen vorgetragen. Ich habe aber keine ideologischen Positionen, sondern Haushaltszahlen vorgetragen.
Aus Ihrer Sicht wird es nun vielleicht noch einmal
kleinkariert: Ich stelle fest, dass Sie nicht widersprochen
haben, dass der Etat 2004 im Vergleich zum Etat 1998
um 320 Millionen Euro niedriger ist und dass der Anteil
des Etats des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt von
1,7 Prozent auf 1,42 Prozent gesunken ist.
Sie kommen mit dem Totschlagargument, dass die
Kommission weitere Einsparungen in Höhe von
6 Milliarden Euro fordere. Wenn der Etat des Einzelplans 23 heute einen Umfang von 1,7 Prozent des Gesamthaushalts hätte, dann wäre der Gesamthaushalt über
20 Milliarden niedriger, als er es jetzt ist. Das heißt, die
Einsparauflagen der Kommission wären weit überschritten. Das mag für Sie wieder kleinkariert sein; das sind
aber die nackten Haushaltszahlen.
Ich stelle noch einmal fest: Die Entwicklungspolitik
hat bei dieser Regierung keinen Stellenwert mehr. Sie
haben sich weder im Kabinett noch in den Beratungen
der Koalition mit Ihren entwicklungspolitischen Vorstellungen durchgesetzt. Reden über Konzepte, das Beklagen der Situation an den internationalen Agrarmärkten
und Problembeschreibungen helfen nicht, wenn Sie
nicht in der Lage sind, im Kabinett und in der Koalition
die notwendige Mittelausstattung durchzusetzen.
Vielen Dank.
({0})
Zur Erwiderung Frau Wieczorek-Zeul.
Ich wiederhole - manchmal braucht es eben ein bisschen länger - an dieser Stelle:
({0})
Die einzige international vergleichbare Maßzahl für die
Entwicklungszusammenarbeit ist der Anteil am Bruttosozialprodukt. Wenn Ihre Regierung den entsprechenden
Anteil am Bruttosozialprodukt, den sie von der Vorgängerregierung Helmut Schmidt übernommen hat, nicht
heruntergefahren hätte, läge der Anteil schon längst bei
0,7 Prozent.
({1})
Zu Beginn der Regierungszeit von Helmut Kohl - also
am Ende der Regierungszeit von Helmut Schmidt - lag
der Anteil bei 0,48 Prozent. Wenn diese Entwicklung
fortgesetzt worden wäre, hätten wir heute den Anteil von
0,7 Prozent erreicht.
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Der Anteil des Etats
am Gesamthaushalt sagt nur bedingt etwas über die Official Development Assistance aus. Es gibt nur eine Vergleichszahl und sonst nichts. Versuchen Sie nicht, sich
auf die Art und Weise herauszureden. Das wäre wirklich
unangemessen und würde Ihre eigene Verantwortung unnötig verringern.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den
Einzelplan 23 - Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung - in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist der
Einzelplan 23 mit der Mehrheit der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt I. 6 auf:
Einzelplan 17
Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend
- Drucksachen 15/1915, 15/1921 Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Antje Hermenau
Es liegen zwei Änderungsanträge der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Ministerin Schmidt! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles konnte man in den letzten
Wochen zur Familienpolitik hören und lesen. Vieles von
dem, was auf Parteitagen unter Jubel beschlossen wird,
hat aber leider mit den Wahrheiten des Einzelplans 17
nichts zu tun.
({0})
Halbwahrheiten oder unterlassene Wahrheiten gilt es
heute anhand des Einzelplans 17 aufzuklären.
Unbestreitbar wahr sind die Fakten des Haushaltsplans. Nach einem Volumen von 5,5 Milliarden Euro im
Jahr 2001 ist der Einzelplan 17 auf 4,8 Milliarden Euro
im Jahr 2004 geschrumpft. Dazu gehört auch, dass
18 Millionen Euro im Einzelplan 60 als globale Minderausgabe ausgewiesen sind. Dieser Betrag ist ebenfalls im
Etat des Familienministeriums einzusparen. Gleichzeitig
beinhaltet der Einzelplan den Kinderzuschlag in Höhe
von 124 Millionen Euro, der aber in Höhe von zwei Dritteln durch Kürzungen bei Familien in der Sozialhilfe
wieder neutralisiert wird. Ich komme später darauf zurück.
Die Formulierung im SPD-Parteitagsbeschluss vom
vergangenen Wochenende
Die Regierungsarbeit 2002 bis 2006 zählt ungeachtet der Erfordernisse der Haushaltskonsolidierung
Ausgaben für Familien zu den zukunftssichernden
Ausgaben mit Priorität, die auf hohem Niveau erhalten oder sogar verstärkt werden sollen.
findet jedenfalls im Einzelplan 17 keine Rechtfertigung.
({1})
Wenige Beispiele dazu. Zunächst das Erziehungsgeld.
Mit dem Beschluss, das Erziehungsgeld zu reduzieren,
wird diese Aussage sogar Lügen gestraft. Von Familienministerin Schmidt wird immer der Eindruck erweckt,
als seien von dieser Reduzierung nur gut verdienende
Familien betroffen. Diese Behauptung ist schlicht unwahr,
({2})
wie auch die Expertenanhörung zum Haushaltsbegleitgesetz beweist.
Wahr ist, dass sich gerade in den niedrigen Einkommensgruppen die so genannte Glättung um 10 Euro monatlich nach unten und die Reduzierung der Ausgabenpauschale um 3 Prozent ganz erheblich auswirken.
({3})
Wahr ist auch, dass wir zwar über 11 Millionen Euro jedes Jahr für die Verwirklichung der Gleichstellung von
Frau und Mann in der Gesellschaft ausgeben, mit der
Senkung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld
Frauen aber ohne zu zucken auf das Einkommen ihres
Mannes verweisen. 85 Prozent der Erziehungsgeldempfängerinnen sind nämlich nicht selbst berufstätig. In allen Sozialsystemen arbeiten wir an eigenen Ansprüchen
für Frauen, an gleicher Entlohnung für gleiche Arbeit
und an gleichen Zugangschancen. Nur bei der Erziehung
der Kinder heißt es wieder: Du hast doch einen Mann,
der verdient.
Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die zu Recht
fordern, dass Erziehungsleistungen von der Gesellschaft
anerkannt werden müssten. Schade, dass Sie, Frau Ministerin, Ihrem Berater Professor Rürup zwar immer
dann folgen, wenn er fordert, Frauen sollten nach der
Geburt ihrer Kinder aus Gründen des Wirtschaftswachstums und wegen der sonst durch sie verursachten Kosten
möglichst schnell wieder arbeiten. Wenn er aber in einem von Ihrem Haus bezahlten Gutachten rät, durch
Einführung eines Elterngeldes die Motivation, Kinder zu
bekommen, zu steigern, reagieren Sie mit dem Argument der Unfinanzierbarkeit.
Wenn auch die Gründe, die Professor Rürup für die
Einführung eines Elterngeldes anführt, nicht mit denen
für die Einführung eines Familiengeldes identisch sind,
so geht er hinsichtlich der Höhe weit über unsere Forderungen hinaus. Nach seinen Vorstellungen sollen zwölf
Monate lang 67 Prozent des letzten Nettolohns als Erziehungsgeld gezahlt werden. Zur Wahrheit gehört auch,
offen anzusprechen, dass eine solche Forderung nicht in
einem Schritt finanzierbar ist. Das haben wir bei unserem Familiengeld auch zugegeben.
Sie, Frau Ministerin, verfolgen aber eine völlig andere Richtung. Für Sie liegt die Zukunft in der Fremdbetreuung, und zwar in einem möglichst jungen Kindesalter. Die Behauptung, allein durch die Verbesserung der
Betreuungssituation würden mehr Kinder geboren, wird
durch das umfassende Ganztagsangebot und die trotzdem schlechten Geburtenzahlen in den neuen Ländern
Lügen gestraft.
({4})
In Erfurt gibt es eine bezahlbare Rundumbetreuung für
Kinder einschließlich eines Kinderhotels, aber die Geburtenzahlen sind trotzdem schlecht. Die Verbesserung
der Ganztagsbetreuung ist zwar notwendig
({5})
- darin gebe ich Ihnen Recht -, aber sie ist kein Allheilmittel. Stellen Sie nicht ständig die Familien ins Abseits,
die ihre Kinder eine Zeit lang selbst betreuen wollen!
({6})
Ich nenne ein zweites Beispiel für den Unterschied
zwischen Aussage und Wahrheit. Die Einführung des
Kinderzuschlags wird immer wieder als wichtiger
Schritt zu einer gezielten Bekämpfung von Kinderarmut
präsentiert.
({7})
Es soll verhindert werden, dass Familien allein wegen
ihrer Kinder auf Sozialhilfe bzw. später auf das
Arbeitslosengeld II angewiesen sind.
({8})
Damit würden rund 150 000 Kinder und deren Familien
aus dem Empfängerkreis des Arbeitslosengeldes II herausfallen, wird behauptet.
({9})
So viel zur politischen Aussage. Wahr ist daran, dass die
Familien aufgrund des Kinderzuschlags künftig nicht
mehr in der Statistik der Sozialhilfe oder des
Arbeitslosengeldes II aufgeführt werden. Ist das aber
eine gezielte Bekämpfung der Kinderarmut?
Die Wahrheit zu dieser Aussage ist den Erläuterungen
des Gesetzentwurfs zu Hartz IV zu entnehmen:
Die Einführung des Kinderzuschlages führt dazu,
dass geringere Leistungen in der Grundsicherung
für Arbeitssuchende erforderlich sind.
({10})
Nur etwa ein Drittel der Kosten sind echte Mehrkosten,
- und damit auch echte Leistungen für Familien! die anderen zwei Drittel werden durch entsprechend geringere Ausgaben bei der Grundsicherung
kompensiert.
({11})
Ich glaube, den Familien ist es völlig egal, wie die
Förderung bezeichnet wird. Tatsächlich bekommen aber
nur die wenigsten dadurch mehr Geld.
({12})
- Dafür bekommen sie eine geringere Grundsicherung.
Das ist insofern egal.
({13})
Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die
Familienpolitik auch im übrigen Haushalt verankert ist das ist auch die Wahrheit, so beispielsweise im Einkommensteuerrecht.
({14})
Ich werde im weiteren Verlauf versuchen, Sie auf den
Weg der Wahrheit zu führen. Sie können dann darauf reagieren.
Ein Blick in das Steuerrecht zeigt, dass die Situation
für Familien auch in diesem Bereich nicht besser ist. Damit komme ich zum dritten Beispiel, der Eigenheimzulage: Noch in der letzten Ausgabe der Zeitschrift „mobil“ der Deutschen Bahn AG haben Sie, Frau Schmidt,
stolz verkündet, dass die Eigenheimzulage für Familien
mit Kindern beibehalten wird. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Zeitschrift sah die Wahrheit schon ganz
anders aus.
({15})
Auf die Ausgabe der Zeitschrift, in der Sie darstellen,
warum es wenige Wochen später doch richtig sein soll,
den Familien die Eigenheimzulage wegzunehmen,
werde ich wohl lange warten müssen.
({16})
Das vierte Beispiel: der Haushaltsfreibetrag. Sie
verkaufen die Einführung des Freibetrags in Höhe von
1 300 Euro als Kompensation für wirklich Alleinerziehende für wirklich den Wegfall des Haushaltsfreibetrags
2004 durch das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform.
({17})
Die Formulierung ist sehr präzise gewählt und damit
auch nicht zu beanstanden.
Wirklich wahr ist aber, dass Sie durch die Beschränkung der Berechtigung auf Alleinlebende allein 2004
440 Millionen Euro einsparen und dass der ursprüngliche Haushaltsfreibetrag, der durch Ihre Regierung abgeschmolzen wurde, 2 340 Euro betragen hat.
({18})
- Warum das Verfassungsgericht bei dem neuen Freibetrag anders entscheiden sollte als bei dem alten, ist völlig
unklar. Außerdem hat das Verfassungsgericht nicht entschieden, dass Haushaltsfreibeträge für Alleinerziehende
abzuschaffen sind, sondern, dass es eine Gleichbehandlung von Alleinerziehenden und verheirateten Paaren geben soll.
({19})
Offensichtlich scheint der Freibetrag auch in Ihrem
Programm ein Weg zu sein, Familien zu unterstützen.
Der Familienleistungsausgleich ist doch ein deutlicher
Schritt in diese Richtung. Aber der angekündigte Freibetrag fängt noch nicht einmal die Hälfte der abgeschafften
Vergünstigungen auf.
Dass Sie Gegner der Freibeträge sind, haben Sie auch
2001 bewiesen. Sie mögen vielleicht vergessen haben,
dass Sie zusätzlich zum Haushaltsfreibetrag auch die
Ausbildungsfreibeträge um die Hälfte gekürzt haben.
Die Eltern von in der Ausbildung befindlichen Kindern
merken das aber jedes Jahr aufs Neue an ihrem
Lohnstreifen.
Fünftes Beispiel ist die Verbesserung der Betreuungsmöglichkeiten von Kleinstkindern, das 1,5-MilliardenEuro-Krippenprogramm. Schon seit einiger Zeit spricht
niemand mehr von einer Bereitstellung dieser Summe im
Jahre 2004.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Das mache ich.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin, bevor Sie hier weiter an
der Legendenbildung arbeiten: Sollten Sie bei der Gesetzgebung der letzten Jahre
({0})
im Bereich des Familienleistungsausgleichs übersehen
haben, dass der Haushaltsfreibetrag keineswegs ersatzlos gestrichen oder abgeschmolzen worden ist, sondern
auf ausdrückliche Empfehlung in der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts in einen Freibetrag zur Betreuung, Erziehung und Ausbildung umgewandelt
worden ist, der im Übrigen unabhängig von der Art der
Betreuungsleistung der Eltern gewährt wird, was gleichzeitig Ihre Behauptung von vorhin entkräftet, die SPD
bzw. die Familienministerin würde von Eltern erbrachte
Betreuungsleistungen nicht wertschätzen? Ich bitte Sie,
die Behauptung, der Haushaltsfreibetrag sei ersatzlos gestrichen worden, in Zukunft zu unterlassen.
({1})
Sie sagen das nur, weil er kein eigenständiger Freibetrag
mehr ist, sondern im Rahmen des Familienleistungsausgleichs in den gemeinsamen Freibetrag eingebaut worden ist.
({2})
Liebe Kollegin, Sie können ganz sicher sein, dass ich
als Steuerberaterin sehr wohl weiß, welche Freibeträge
im Jahre 2001 abgeschafft und welche eingeführt worden sind. Sie können auch sicher sein, dass sich bei der
überwiegenden Zahl der Mandanten, die auszubildende
Kinder hatten, der neue Freibetrag schlechter ausgewirkt
hat. Der Freibetrag für unter 18-Jährige ist komplett gestrichen worden und der Betreuungsfreibetrag fängt dies
nicht annähernd auf.
({0})
Aber wir können nach meiner Rede gerne weiter über
dieses Thema sprechen; ich kann Ihnen Zahlen dazu vorlegen.
({1})
Ich fahre nun in meiner Rede fort. Schon seit einiger
Zeit spricht niemand mehr von der Bereitstellung der
Gelder aus dem 1,5-Milliarden-Krippenprogramm im
Jahre 2004. Im roten Parteibuch „Agenda 2010“, das übrigens vom Steuerzahler bezahlt wurde, heißt es:
Der Bund wird den Kommunen ab 2005 jährlich
1,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, um die
Betreuung für Kinder unter drei Jahren auszubauen.
Diese Aussage ist schlichtweg nicht wahr. Der Bund
stellt ausweislich des Haushalts keinen einzigen Euro
zur Verfügung. Die Summe - Frau Ministerin, in Ihren
Reden erwähnen Sie es immer korrekt -, die nur einen
kleinen Teil der tatsächlichen Kosten ausmacht, soll aus
der Gemeindewirtschaftsteuer erbracht werden,
({2})
was eine ganz klare Steuererhöhung darstellt, und aus
der Reduzierung der Leistungen für Arbeitslosengeldempfänger erwirtschaftet werden. Offensichtlich sind
Sie noch nicht auf dem aktuellen Stand Ihres Regierungsprogramms; genau dies steht dort wörtlich, beide
Varianten sollen die Kinderkrippen finanzieren.
({3})
Hinsichtlich der privaten Möglichkeiten der Kinderbetreuung loben Sie sich im Parteitagsbeschluss ungefähr wie folgt: Wir haben die geringfügige Beschäftigung modernisiert und damit Unterstützung bei der
Kinderbetreuung erleichtert. Wahr ist jedoch, dass Sie
jahrelang die hauswirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnisse verurteilt haben.
({4})
Genauso wahr ist es, dass Sie bei der Neuregelung der
Minijobs die Regelung der Kinderbetreuung in der ersten Beratungsrunde schlichtweg vergessen haben. Das
mussten wir erst einbringen, damit es zu dieser Begünstigung noch kam.
({5})
Leider geht dieses Ein-bisschen-die-Wahrheit-Sagen
auch beim Haushaltsverfahren weiter, liebe Kolleginnen
und Kollegen der SPD- und Grünen-Fraktion. Gern gebe
ich zu, dass ich Sie im letzten Jahr bewundert habe, als
Sie sich in den Haushaltsberatungen die Mühe gemacht
haben, die globale Minderausgabe in allen Haushalten
aufzulösen. Sie haben in Einzelanträgen heruntergebrochen, was nach Ihrer Auffassung politisch passieren
muss. In diesem Jahr werden Sie zwar nicht müde, uns
wegen unseres Verhaltens zu kritisieren - darauf komme
ich später zurück -; aber Ihre Anträge sind auch nicht gerade zukunftsweisend. Ich muss keine Hellseherin sein,
um vorherzusagen, dass in Ihren gleich folgenden Reden
die gesamte globale Minderausgabe in Höhe von fast
23 Millionen Euro, die immer noch im Einzelplan 17 zu
erbringen ist, keinen Raum einnehmen wird. Ganz im
Gegenteil, Sie haben sogar geschätzte Einnahmepositionen noch erweitert, um Ihre Anträge zu finanzieren. Dies
erschwert es natürlich dem Ministerium, diese 23 Millionen Euro zusätzlich einzusparen.
Auch werden Sie bestimmt darauf hinweisen, dass
durch Ihren Antrag die Mittel im Kinder- und Jugendplan um 4,5 Millionen Euro aufgestockt wurden. Das ist
wahr. Aber zeitgleich haben Sie Mittel für die Integration junger Zuwanderer und Zuwandererinnen um dieselbe Summe gekürzt.
({6})
Da die Zweckbestimmung im KJP für diese
4,5 Millionen Euro „Zuwendungen für junge Menschen
mit Migrationshintergrund“ lautet, geht dieser Antrag
für die jungen Menschen tatsächlich bestenfalls plus/minus null aus,
({7})
obwohl in der Regierungsvorlage das KJP um rund
8,5 Prozent reduziert wurde.
Sie halten lieber Ihre Prestigeobjekte wie zum Beispiel das Programm „Jugend bleibt“ oder das JUMPProgramm - ich weiß, dass das in einem anderen Haushalt etatisiert ist - hoch. Darauf legen Sie Wert, und das,
obwohl Ihnen der Bundesrechnungshof in seinem jüngsten Bericht bestätigt, dass diese Programme nur dem
Zwischenparken junger Menschen dienen.
({8})
Entgegen der gesetzlichen Forderung stellen die Arbeitsämter nämlich nicht sicher, dass Jugendliche, die in Sonderprogrammen sind, auf frei werdende Stellen vermittelt werden. Selbst eine Stelle, die am selben Ort frei ist,
wird dem Jugendlichen, der in einem Sonderprogramm
ist, nicht zugewiesen. Angesichts dessen ist es für die Jugendlichen eher schädlich, an solchen Maßnahmen teilzunehmen.
({9})
Was macht die Ministerin? Sie sucht während der
Haushaltsberatungen für das Unterhaltsvorschussgesetz
40 Millionen Euro und findet diese flugs in der Haushaltsstelle des Erziehungsgeldes mit der Begründung,
die dort etatisierten Mittel würden sowieso nicht gebraucht. Wenige Wochen vorher ist meinem Kollegen
Fricke und mir in der Berichterstatterrunde geschworen
worden, dass diesmal die Haushaltsstelle Erziehungsgeld ganz knapp kalkuliert sei und dass dort ganz bestimmt keine Luft mehr sei.
({10})
Das nenne ich Zaubern von Deckungsvorschlägen. Das
ist aber keine ernsthafte Beratung. Dass wir bei dieser
Art Zauber nicht mitmachen wollen, können Sie sich
wohl denken.
Ich habe schon in der ersten Lesung darauf hingewiesen, dass nicht einmal die Hälfte der von uns zu beratenden Änderungsgesetzentwürfe zu Beginn der Beratung
vorgelegen hat. Die Entwürfe der Gesetze betreffend den
Kinderzuschlag, den Erziehungsfreibetrag und den
Unterhaltsvorschuss sind erst während der laufenden Beratungen eingereicht worden. Bei den ganztägigen Anhörungen zu diesen Gesetzentwürfen lagen den Sachverständigen die aktuellen Fassungen zum Teil noch gar
nicht vor.
({11})
Die Vorschläge von Koch und Steinbrück sind
ebenfalls erst während der laufenden Beratungen eingebracht worden und sollten ursprünglich der Absicherung
des Risikos dienen, dass im Vermittlungsausschuss nicht
alle Ihre Gesetzentwürfe durchkommen. Tatsächlich hat
Finanzminister Eichel pauschal 1,2 Milliarden Euro, die
durch Subventionsabbau erzielt werden sollen, in den
Haushalt eingestellt mit der Bemerkung, die näheren
Einzelheiten könne man ja im Vermittlungsausschuss
klären.
({12})
Immerhin sind 50 Steuergesetze von den Änderungen
betroffen, über die wir bislang nicht einmal beraten haben. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass mir eine
solche Beratung keinen Spaß macht.
({13})
Aus diesem Grund wollten wir die Haushaltsberatungen aussetzen und nach dem Ende der Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss wieder aufnehmen. Sie haben
am kommenden Freitag noch immer die Chance, das zusammen mit uns durchzusetzen. Ich würde mich freuen.
Ansonsten müssen Sie das vorliegende Zahlenwerk
- „Haushalt“ kann man das nach unserer Ansicht nicht
nennen - alleine verantworten.
Danke.
({14})
Das Wort hat nun die Kollegin Bettina Hagedorn,
SPD-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! In Zeiten gut gefüllter Kassen Politik zu machen ist nicht schwer. Aber da wir im Moment solche
Zeiten nicht haben - darüber sind wir alle sicherlich einer Meinung -, mussten wir uns der Aufgabe stellen, die
Gestaltungsspielräume, die wir haben wollten, selbst zu
schaffen. Wir mussten also klare Prioritäten setzen und
einen roten Faden spinnen, um nicht nur sagen zu können, was wir gerne hätten und was möglich ist, sondern
auch, um deutlich zu machen, was nicht möglich ist. Das
gehört dazu. Genau dieser unliebsamen Aufgabe haben
Sie sich verweigert.
Der Einzelplan 17, in dem nicht nur die Leistungen
für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, sondern
auch für Verbände, die Träger der freien Wohlfahrtspflege, viele Tausende ehrenamtlich Tätige in unserer
Republik, zahllose Projekte in allen Bundesländern sowie Leistungen zugunsten aller Generationen enthalten
sind, hätte es fürwahr verdient gehabt, dass Sie kreativ
mitwirken.
({0})
In diesen Tagen werden Haushaltsberatungen ebenfalls in den Ländern und Kommunen geführt. Auf allen politischen Ebenen ist dabei Schmalhans Küchenmeister. In den Regionen stehen häufig gerade die eben
erwähnten gesellschaftlichen Gruppen als Sparopfer auf
den Streichlisten. In den letzten Tagen war hier schon die
Rede von den Studentendemonstrationen in einigen Ländern. Dazu kann ich ergänzend sagen, dass in meinem
Wahlkreis gerade erst Eltern mit ihren Kindern und
Pädagogen wegen der Kürzung der Mittel für die Kitas
um 50 Prozent - übrigens, das hat eine CDU-Mehrheit
zu verantworten - auf die Straße gegangen sind.
({1})
- Entschuldigung, ich rede über die kommunale Ebene.
Dort dominiert die CDU.
({2})
Den Jugendpflegern wird gekündigt. Den Pflegeeltern
ist sogar die Beihilfe gestrichen worden. Herr Kampeter,
das liegt nicht nur - die Platte kennen wir ja - an der
schlechten finanziellen Situation der Kommunen. Es
hängt auch damit zusammen, wo Prioritäten gesetzt werden und wo nicht.
({3})
Ich weiß mich mit vielen Eltern in diesem Land einig,
dass in den Kommunen und in den Ländern, wo die
CDU regiert, gerade bei diesen Gruppen enorm gestrichen wird.
({4})
Die gute Botschaft, was den Einzelplan 17 anbelangt,
ist: Auf Bundesebene streichen wir nicht bei denjenigen,
deren Arbeit gerade in der heutigen Zeit sozial unverzichtbar ist.
Die Mittel für den Kinder- und Jugendhilfeplan
- Frau Tillmann, Sie haben ihn angesprochen - wurden
durch Umschichtungen innerhalb des Einzelplanes
- nichts anderes werde ich behaupten - auf
106,7 Millionen Euro angehoben. Davon profitiert allerdings auch die ganze Palette der präventiven Arbeit - die
internationale Jugendarbeit, die Freiwilligendienste, die
Integrationsarbeit und die außerschulischen Maßnahmen
der Jugendbildung -, die so wichtig ist und die wir auf
hohem Niveau halten wollen.
({5})
Wir halten auch die Ansätze für die Familien-, die
Gleichstellungs- und die Seniorenpolitik mit insgesamt
rund 48 Millionen Euro auf gleich hohem Niveau. Das
muss doch einmal gesagt werden. Meine Damen und
Herren von der Union, es ist ein Erfolg, wenn die Ansätze in solch einer Haushaltssituation auf gleichem Niveau gehalten werden. Das ist unser Erfolg und nicht Ihrer; denn Sie haben daran nicht mitgewirkt.
({6})
Wir sind auch stolz darauf, dass wir trotz der äußerst
schwierigen Haushaltslage die Mittel für diejenigen Projekte, mit denen man sich in unserem Land für bürgerschaftliches Engagement, Demokratiefähigkeit sowie
Toleranz und gegen Extremismus und Antisemitismus
engagiert - sie werden in den Kommunen mit großem
ehrenschaftlichem Engagement getragen -, nicht nur gehalten, sondern angehoben haben. Beispielsweise stehen
in diesem Bundeshaushalt jetzt 19 Millionen Euro für
Entimon und Civitas bereit.
({7})
Insgesamt umfasst der Haushalt des Ministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend
4 872,5 Millionen Euro. Dies ist - das ist völlig unbestritten - weniger als im vergangenen Jahr.
({8})
- Was heißt hier „aha“?
({9})
Es ist doch ganz klar, dass der Umfang der Haushalte
insgesamt gesunken ist. Es steht weniger Geld zur Verfügung. Herr Kampeter, das Kunststück der Politik besteht
gerade darin, dass man, gerade wenn weniger Geld zur
Verfügung steht, Gestaltungsspielräume erobert, damit
man trotzdem Schwerpunkte setzen kann. Das haben wir
gemacht.
({10})
Es stehen in diesem Einzelplan allerdings
126,4 Millionen mehr zur Verfügung, als im Regierungsentwurf vom September vorgesehen war. Der Familienhaushalt gehört damit zu den Gewinnern der achtwöchigen Haushaltsberatungen.
({11})
Das ist gerade für die Familien eine frohe Botschaft;
denn ausschließlich ihnen kommt dieses Geld als so genannter Kinderzuschlag in einer Höhe von bis zu
140 Euro monatlich zugute. Diejenigen Eltern, die so
wenig verdienen, dass sie den Lebensunterhalt ihrer Kinder davon nicht bestreiten können, erhalten ab dem
1. Juli 2004 diese Familienleistung, die auf Dauer als
völlig neuer Rechtsanspruch installiert wird. Das ist
doch der entscheidende Punkt. Ich stimme Ihnen zu: Es
wäre sehr schön, wenn es mehr als 140 Euro im Monat
wären. Entscheidend aber ist - ich wiederhole -: Es
wurde - für eine Gruppe, die es besonders nötig hat eine neue Familienleistung installiert, auf die man einen
Rechtsanspruch hat.
({12})
Damit leiten wir eine Neuorientierung in der Familienförderung - weg vom Gießkannenprinzip und hin zu
einem Einsatz der Mittel für eine zielgenaue Förderung
der Familien, die das Geld besonders dringend
brauchen - ein.
In diesem Jahr stehen Mittel in Höhe von etwa
124 Millionen Euro bereit. In den nächsten Jahren sollen
die Mittel aber auf circa 240 Millionen Euro angehoben
werden. Die Auszahlung beginnt erst zum 1. Juli nächsten Jahres im Zusammenhang mit der Einführung der
Hartz-Gesetze. Im Ergebnis werden dadurch 150 000
Kinder und Jugendliche aus der Sozialhilfe herausgeholt. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
({13})
Darauf kommt es an.
({14})
Frau Eichhorn, Sie haben hier am 9. September zu
Recht angeprangert - manchmal lohnt es sich, in alten
Protokollen zu lesen -, dass in Deutschland
1,1 Millionen Kinder und Jugendliche von der Sozialhilfe abhängig sind. Diese Zahl ist richtig und sie ist für
ein wohlhabendes Land beschämend.
({15})
Sie haben aber vergessen, zu sagen, dass diese Zahl aus
dem Kinder- und Jugendhilfebericht von 1998 stammt,
dass in Wahrheit also schon 1998 1,1 Millionen Kinder
in der Sozialhilfe waren. Das ist mithin das traurige Ergebnis Ihrer und nicht unserer Politik.
({16})
Im Gegensatz zu uns, die wir mit dem Kinderzuschlag
jetzt ein erstes Instrument entwickelt haben, um dagegen
anzugehen, halten Sie bis auf den heutigen Tag an Familientransferleistungen selbst für höchste Einkommensgruppen fest. Das ist doppelzüngig. Insofern sind Ihre
Krokodilstränen hier in keiner Weise glaubwürdig.
({17})
In jedem Fall können wir eines sagen: Wir sind es, die
handeln. Gehandelt haben Sie für diese Zielgruppe bisher nicht.
({18})
Das gilt auch für die immer größer werdende Gruppe
der tatsächlich Alleinerziehenden in diesem Land, für
die ab dem 1. Januar 2004 die dauerhafte Einführung eines steuerlichen Freibetrags von 1 308 Euro pro Jahr
endlich auf Dauer eine Entlastung bringen wird. Das bedeutet im nächsten Jahr knapp 100 Millionen Euro Mindereinnahmen beim Bund. Ab 2005 summiert sich das
Ganze auf circa 300 Millionen Euro, die die tatsächlich
Alleinerziehenden dann zusätzlich in der Tasche haben
werden.
Auch hier gilt: Wir haben gehandelt. Sie haben sich
nicht daran beteiligt. Allerdings muss sich noch zeigen,
ob das Ganze durch den Vermittlungsausschuss kommt.
Da können Sie Farbe bekennen und sich entscheiden, ob
Sie das mittragen, ja oder nein.
Rot-Grün hat auch noch für eine andere Zielgruppe
gehandelt, nämlich für die Pflegeeltern, die durch das
Steueränderungsgesetz nach unserem Willen noch rückwirkend für 2003 für den unbürokratischen Bezug von
Kindergeld und Zusatzleistungen, die damit im Zusammenhang stehen, Rechtssicherheit erhalten werden. Davon sind 49 000 Kinder und Jugendliche, die auf Dauer
in Pflegefamilien leben, positiv betroffen. Ihrem Wohl
dient diese Maßnahme und zu ihrem Wohl haben wir gehandelt. Das verstehen wir unter zielgenauer Förderung.
({19})
Nicht erst seit PISA wissen wir, dass das Portemonnaie der Eltern für Kinder in Deutschland mehr als in anderen Ländern über Erfolg und Misserfolg in Schule
und Ausbildung entscheidet. Länder, die bei der Bildung erfolgreicher sind als wir, haben ein flächendeckendes schulisches Ganztagsbetreuungsprogramm und
entsprechende Förderung. Darum ist das Investitionsprogramm des Bundes mit den 4 Milliarden Euro der wesentliche Ansatz in unserem Familienprogramm. Dabei
geht es darum, dass jungen Menschen Bildung und
Selbstbestimmung unabhängig von der sozialen Herkunft ermöglicht wird. 1 000 Millionen Euro stehen dafür in diesem Haushalt bereit, so wie es versprochen war.
Auch da zeigt sich, dass wir diejenigen sind, die handeln. Trotz knapper Kassen wird bei uns nicht bei der
Bildung junger Menschen gespart.
({20})
Allein in meinem Wahlkreis nehmen fünf Schulen
dieses Zuschussprogramm in Anspruch. Schleswig-Holstein - das kann ich Ihnen verraten - hat die Mittel für
2003 zu 85 Prozent ausgeschöpft. Hier geisterte aus Ihren Reihen gestern durch den Raum, es sei nur zu
10 Prozent in Anspruch genommen worden. Das mag für
CDU- oder CSU-regierte Länder zutreffen.
({21})
Da zeigt sich wieder, dass man das Ganztagsbetreuungsprogramm dort, wo es von einer Partei nicht als
der richtige Weg angesehen wird, nicht in dem Umfang
in Anspruch nimmt und dabei die Interessen der Schüler
und Schülerinnen, die davon profitieren sollen, nicht in
dem Umfang beachtet.
({22})
- In Schleswig-Holstein ist das jedenfalls anders. Ich
habe es gerade dargestellt.
({23})
Trotz der erfreulichen Botschaften soll nicht verschwiegen werden, dass im Einzelplan 17 gegenüber
dem Jahr 2003 unter dem Strich 229 Millionen Euro weniger zur Verfügung stehen. Eingespart haben wir diese
Mittel - das soll hier gar nicht abgestritten werden beim Erziehungsgeld. Das ist uns schwer gefallen. Das
sage ich auch als Mutter von drei Kindern. Wer aber zusätzliche Leistungen installieren will, wie wir das mit
dem Kinderzuschlag und dem Freibetrag für tatsächlich
Alleinerziehende tun, muss schließlich auch sagen, woher die Mittel dafür kommen sollen. Vor diesem Hintergrund finde ich es angemessen, bei besser verdienenden
Eltern Abstriche beim Erziehungsgeld zu machen. Das
ist ein schmerzhafter, aber ein richtiger Weg. Wir sollten
nämlich nicht verkennen, dass bisher sogar Bundestagsabgeordnete für ihre Kinder noch das volle Erziehungsgeld bekommen haben.
({24})
Erklären Sie einmal den Bürgern draußen im Land,
wieso wir darauf angewiesen sind. Insofern ist es auch
gerechtfertigt, dass wir dort Kürzungen vorgenommen
haben.
({25})
Unter Gerechtigkeit verstehen wir, dass dann, wenn
wenig zu verteilen ist, Förderung dort konzentriert werden muss, wo sie besonders notwendig ist. Unser Familienkonzept spiegelt genau das wider. Frau Eichhorn hatte
sich hier im September gewünscht, dass das rot-grüne
Familienkonzept auf den Tisch gelegt wird. Voilà! Hier
ist es. Wir haben es auf den Tisch gelegt. Das Beste daran ist, dass unser Familienkonzept keine Fata Morgana
ist, sondern real umgesetzt und vor allen Dingen real bezahlt werden kann. Das unterscheidet es eklatant von Ihren Konzepten. Das so genannte konservative Konzept
eines Familiengeldes, das Sie, Frau Tillmann, hier eben
noch einmal erwähnt haben, kostet nämlich
31 Milliarden Euro. Das ist nicht finanzierbar. Obwohl
Sie seit zwei Jahren davon reden, haben Sie noch nicht
einmal im Ansatz den Versuch gestartet, eine Gegenfinanzierung aufzustellen. Mit allen anderen Konzepten,
seien sie von Merz, seien sie von Herzog, hat Ihr Konzept gemeinsam, dass es keine soliden Finanzierungsvorschläge dafür gibt - es gibt nämlich gar keine. All das
scheint frei nach dem Motto zu gehen: Das macht doch
nichts, das merkt doch keiner.
Neben der Unbezahlbarkeit ist das Schlimmste an den
CDU-Konzepten - dazu können Sie ja noch Stellung beziehen -, dass sie unsozial und familienfeindlich sind.
({26})
Weder die Kinder noch die Frauen haben Sie dabei nämlich im Blick.
({27})
Das Merz-Konzept sieht zwar unter dem Deckmantel
von Entbürokratisierung reichlich Steuervorteile für gut
verdienende Kinderlose vor, aber eine vierköpfige Familie mit 37 650 Euro Einkommen steht nach dem Modell
von SPD und Grünen besser da: Schon ab dem nächsten
Jahr braucht sie keine Steuern mehr zu bezahlen, während sie es nach dem Merz-Modell sehr wohl müsste.
({28})
Dass Herr Merz auch noch das Kindergeld von
1 848 Euro pro Kind im Jahr streichen will, kann wohl
kaum als kinderfreundlicher Beitrag verstanden werden.
({29})
- Das stimmt.
({30})
Das Fazit: Ihre Modelle sind familienfeindlich, unsozial und reiner Etikettenschwindel.
({31})
Wenn ich mir eine Bemerkung noch erlauben darf: Im
Zuge der Haushaltsberatungen hat auch Frau Merkel
heute Morgen eine Rede gehalten.
({32})
Mir ist dabei aufgefallen - ich hoffe, Ihnen auch -, dass
die Wörter Familie und Kinder in ihrer ganzen Rede
nicht vorkamen.
({33})
Sie hat von grüner Gentechnik gesprochen, von Außenpolitik und Steuermodellen, von der Ausbildungsplatzabgabe und der Tarifautonomie. Aber Familien, Kinder,
Jugendliche und junge Eltern kamen in ihrem Vokabular
nicht vor.
({34})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Ende. - Sie haben während der
Haushaltsberatungen nicht einen einzigen Einsparantrag
vorgelegt. Sie sind von meinen Kollegen verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht worden.
({0})
- Mit „Sie“ meine ich die CDU/CSU. - Ich habe hier die
309 Anträge, die Sie zwölf Stunden vor der Bereinigungssitzung eingereicht haben. Um sie zu bearbeiten,
mussten unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im
Haushaltsausschuss eine Nachtschicht bis morgens um
4 Uhr einlegen. Sie haben Ihre Anträge vernünftigerweise am nächsten Morgen nach zwölf Stunden wieder
zurückgezogen.
({1})
Aber diese Anträge sind ein Trauerspiel. Deshalb ist die
Schleife, mit der ich diese Anträge umwickelt habe, übrigens auch schwarz.
({2})
Es soll damit nicht nur symbolisiert werden, wer der
Verfasser dieser Anträge war, sondern auch, wer sie
heute empfängt.
Sie müssen nun dennoch zum Schluss kommen.
Das tue ich auch.
({0})
Sie haben sich nämlich in den letzten acht Wochen
nicht für die Familien engagiert, nicht für die Wohlfahrtsverbände, nicht für die Jugend, nicht für die Senioren, nicht für die Frauen. Sie haben schlichtweg Ihre Arbeit nicht gemacht. Das ist ein Anlass zum Trauern.
({1})
Zu einer Kurzintervention bekommt der Kollege
Kampeter das Wort.
Frau Kollegin Hagedorn, wir respektieren jederzeit,
wenn es über den politischen Inhalt Streit gibt. Aber
wenn Sie behaupten, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Änderungsanträge so spät vorgelegt hätte,
dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Sekretariats des Haushaltsausschusses Überstunden hätten leisten müssen, ist das objektiv falsch. Wenn Sie auf die
Drucksachennummern sehen, werden Sie feststellen,
dass die zuletzt - in der Nacht - gedruckten Änderungsanträge Ihre waren.
({0})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Auf diese Art und Weise
davon abzulenken, dass der Etat, den Sie hier zu vertreten haben, sinkt, dass sich die Situation der Familien in
Deutschland nicht verbessert und dass die Frau Bundesministerin in vielen Bereichen eher eine Ankündigungsministerin als eine Ministerin der Tat ist, ist billige Polemik, die wir entschieden zurückweisen.
({1})
Herr Kollege Diller, denken Sie bitte daran, dass Zwischenrufe vornehmlich aus dem Plenum und nicht von
der Regierungsbank erfolgen dürfen.
({0})
Zur Erwiderung Frau Hagedorn.
Herr Kampeter, weder Sie noch ich haben bis morgens um 4 Uhr in der Druckerei gestanden, um zu sehen,
welche Anträge zu welcher Minute gedruckt werden.
({0})
- Es wäre schön, wenn Sie mich ausreden ließen, Herr
Kampeter. Jetzt darf ich sprechen.
Tatsache ist, dass unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in dieser Nacht bis morgens um 4 Uhr diese Anträge drucken und verteilen mussten. Tatsache ist ebenfalls - darauf habe ich im Grunde genommen, genau wie
meine Kollegen, abgehoben -, dass diese Anträge zunächst einmal die einzigen Anträge - so genannte Anträge - waren, die Sie gestellt haben. In den acht Wochen, die wir über das Thema beraten haben, ist von
Ihnen kein Antrag gekommen. Sie waren nur physisch,
also nur körperlich, anwesend, mehr nicht.
Diese Beratungsphase wäre die Zeit gewesen, inhaltliche Anträge zu stellen. Wir haben darauf gewartet.
({1})
Wir hätten uns gerne mit Ihnen darüber auseinander gesetzt. Mit Frau Tillmann hätte ich mich gerne zum Beispiel darüber unterhalten, wie sie das Familiengeld hätte
gegenfinanzieren wollen. Es sind aber keine Anträge gestellt worden.
Auf den über 300 Anträgen, die dann gekommen
sind, steht jeweils nur „Erörterungsbedarf“, mehr nicht.
Besonders viel Gehirnschmalz, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, steckt da nicht drin. Das war
eine billige Effekthascherei, weil Sie den Medien gegenüber angekündigt haben, dass Sie über 300 Änderungsanträge stellen würden. Dann stand aber nichts drin. Und
als die Presse gerade einmal nicht hingeschaut hat, haben Sie die Anträge schnell wieder zurückgezogen. In
jedem Fall sind dadurch Mitarbeiter sinnlos beschäftigt
worden, Papier ist sinnlos bedruckt worden.
({2})
In der Sache hat es uns nicht weitergebracht. Ich bleibe
dabei: Das ist ein Grund zur Trauer.
({3})
Nun hat die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. - Entschuldigung, ich bitte
um Nachsicht. Ich habe voreilig die übernächste Wortmeldung aufgerufen. Das war ein allzu durchsichtiger
Versuch, überzogene Redezeiten an anderer Stelle einzusparen. Ich nehme das als untauglichen Versuch zurück
und bitte um Nachsicht.
Herr Kollege Haupt.
Sie kriegen mildernde Umstände, Herr Präsident.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Es
ist mir übrigens eine Ehre, als einziger männlicher Debattenredner zum Einzelplan 17
({1})
und damit hoffentlich sachlich zu wichtigen gesellschaftlichen Problemen reden zu dürfen.
({2})
Frau Hagedorn, Kabarett gehört eigentlich nicht hierher.
Vorige Woche war der Jahrestag der Unterzeichnung
der VN-Kinderrechtskonvention, übrigens eine der
meistunterzeichneten Menschenrechtskonventionen
überhaupt. Im Ausland wird nicht verstanden, dass ausgerechnet Deutschland sich nicht vorbehaltlos für Kinderrechte aussprechen will
({3})
und noch immer nicht seine Vorbehaltserklärung zur
Kinderrechtskonvention zurückgenommen hat. Unser
Ruf in der Welt leidet darunter erheblich. Der politische
Schaden ist groß.
Frau Kinderministerin, ich bitte Sie ganz herzlich:
Machen Sie Druck - im Kabinett und bei den Ländern und suchen Sie Wege, wie die Bundesregierung - notfalls auch im Alleingang - die Vorbehaltserklärung zurücknehmen kann.
({4})
Die bevorstehende Anhörung des VN-Ausschusses
am 16. Januar in Genf zum Zweitbericht Deutschlands
wäre ein guter Anlass zur Rücknahme der Interpretationserklärung. Sie ist ein längst überfälliges Signal.
({5})
Ein zentrales Anliegen im Zusammenhang mit Kinderrechten ist die Partizipation. Die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an sie betreffenden Entscheidungen in der Gesellschaft muss - da sind wir uns alle
einig - auf allen Ebenen, in allen Bereichen verbessert
werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich die vom Jugendministerium dazu geplante Beteiligungskampagne.
Allerdings darf es nicht noch einmal passieren, dass uns
im Nachgang zu einer solchen Kampagne von Jugendlichen und deren Verbänden vorgehalten wird, es habe
sich nur um Scheinpartizipation gehandelt. Denn wir
brauchen Nachhaltigkeit statt Aktionismus gerade in dieser wichtigen Frage der Partizipation.
({6})
Ich glaube, wir können kaum einen größeren Fehler begehen, als Kindern und Jugendlichen den Eindruck zu
vermitteln, ihre Meinung, ihr Fachurteil zähle nicht
wirklich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familienpolitik
und Sozialreform sind mittlerweile in aller Munde. Dennoch kann die familienpolitische Situation in Deutschland nicht befriedigen. Junge Familien müssen immense
Kosten tragen für die Erziehung ihrer Kinder, obwohl
diese Leistung im Interesse der gesamten Gesellschaft
liegt. Wir müssen ihnen eine Perspektive bieten, sich ein
Leben mit Kindern auch wirklich leisten zu können.
Sehr geehrte Frau Familienministerin, vor knapp 14
Tagen haben Sie der Öffentlichkeit das Gutachten zu einer nachhaltigen Gesellschaftspolitik vorgestellt. Die
Studie zeigt die zentralen Ziele im Sinne einer nachhaltigen Familienpolitik: eine steigende Kinderzahl, eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote und eine bessere Integration älterer Menschen in die Arbeitswelt.
({7})
Familienplanung braucht Sicherheit und Zuversicht.
({8})
Die Bundesregierung hat aber eine tiefe Verunsicherung
geschaffen.
({9})
Sie haben die Voraussetzungen für den Bezug des Bundeserziehungsgeldes erst verbessert; jetzt wollen Sie es
deutlich kürzen. Sie haben beschlossen, die steuerlichen
Vergünstigungen für Alleinerziehende zu streichen; nach
heftigen Protesten soll ein neuer Steuerfreibetrag für Alleinerziehende wieder eingeführt werden.
({10})
Die Bundesregierung hat die Möglichkeit, dass berufstätige Eltern die Kosten für ihre Haushaltshilfe von der
Steuer absetzen können, erst gestrichen und dann wieder
eine Abzugsmöglichkeit bis zu einem Höchstbetrag eingeführt.
({11})
Diese Orientierungslosigkeit in der Politik ist das Gegenteil von dem, was Familien brauchen: Planbarkeit
und Verlässlichkeit.
({12})
Alle Studien zeigen: Deutschland gibt im internationalen Vergleich keineswegs wenig Geld für Familienförderung aus. Aber wir stecken einen zu großen Anteil
in undifferenzierte Transfers. Wir müssen künftig zielgenau und wirksam den Familien helfen, die Hilfe wirklich
benötigen.
({13})
Zum Jahresende 2002 bezogen - das wurde hier
schon erwähnt - rund 1,02 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Sozialhilfe, 37 Prozent der
Empfänger insgesamt. Frau Hagedorn, da ist es auch
Wurst, piepe, schnuppe, egal, aus welchem Jahr diese
Zahl ist. Es ist einfach ein Skandal für dieses wohlhabende Deutschland.
({14})
Wir müssen dafür sorgen, dass Familien nicht allein
wegen des erforderlichen Unterhalts für ihre Kinder auf
Sozialhilfe oder das neue Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Außerdem müssen wir für Eltern mit geringem
Einkommen Arbeitsanreize schaffen, damit erwerbstätige Eltern nicht schlechter gestellt sind als Sozialhilfeempfänger. Ob der geplante Kinderzuschlag zu diesem
Ziel führt, bleibt abzuwarten.
Das Haupthindernis, das junge Menschen davon abhält, ihren Kinderwunsch zu realisieren, ist die unzulängliche Infrastruktur zur Kinderbetreuung. Junge Eltern wollen arbeiten. Dafür brauchen sie zuallererst
Arbeitsplätze und dann vielfältige, flexible und bezahlbare Betreuungsangebote für ihre Kinder.
({15})
Die Finanzierung der versprochenen Betreuungsplätze für unter Dreijährige durch erhoffte Einsparungen
bei der Gemeindefinanzreform und den Arbeitsmarktreformen steht auf tönernen Füßen.
({16})
Die finanzielle Unterstützung für die Kommunen ist verschoben worden und beginnt erst 2005. Der Betreuungsgipfel wurde abgesagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tagesmütter und
-väter können eine günstige und hochflexible Form
der Kinderbetreuung sein. Bisher aber ist die Beschäftigung von Tagesmüttern und -vätern versicherungsrechtlich und steuerlich sehr kompliziert.
({17})
Die FDP hat jetzt eine Initiative zur Vereinfachung der
Tagespflege in den Bundestag eingebracht. Damit
könnte den Familien sofort geholfen werden und nicht
erst in zwei Jahren.
({18})
Tageseinrichtungen und Tagespflege sind nicht nur
verantwortlich für die Kinderbetreuung, sondern auch
für Erziehung und Bildung. Die jüngsten internationalen
Studien zeigen, dass der Bildungsauftrag des Kindergartens insgesamt, und nicht nur für Problemfälle, in
Deutschland deutlich fokussiert und besser umgesetzt
werden muss. Frühkindliche Bildung als Voraussetzung von Chancengleichheit für das Kind und als Investition in die wichtigste Ressource unserer Gesellschaft
muss uneingeschränkt, also gebührenfrei, zugänglich
sein. Kostenlose Halbtagskindergartenplätze mit Bildungsauftrag würden gerade Kindern mit höherem Förderbedarf und aus problematischen Familien zugute
kommen.
Chancengleichheit für Kinder aus unterschiedlichen
sozialen Milieus hat einen besonderen Stellenwert bei
Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund. Die
Integration von Zuwanderern ist eine entscheidende Herausforderung für unsere Gesellschaft. Dazu gehört
auch, dass durch frühkindliche Bildungsmaßnahmen die
Kompetenz der Kinder für die deutsche Sprache rechtzeitig gefördert wird.
({19})
Denn nur so haben die Heranwachsenden später auf dem
Arbeitsmarkt eine Chance; nur so werden sie auch wirklich in unserer Gesellschaft ankommen. Hier besteht ein
dringender Handlungsbedarf, den wir übrigens schon bei
den Haushaltsberatungen der vergangenen Jahre angemahnt haben.
({20})
Die weit überdurchschnittlichen Einsparungen im
Einzelplan 17 gehen fast ausschließlich zulasten des Zivildienstes. Die finanzielle Austrocknung des Zivildienstes wird letztlich dazu führen, dass es zwangsläufig
zur Aussetzung der Wehrpflicht kommt, wie sie übrigens
von der FDP seit langem gefordert wird.
({21})
Problematisch wird die Übergangszeit. Nachdem die
FDP seit Jahren ein Konzept für einen geordneten und
planbaren Rückzug aus dem Zivildienst anmahnt, hat
nun auch die zuständige Ministerin Handlungsbedarf erkannt.
({22})
Mit der Einsetzung der Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“ ist ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Wir begrüßen das ausdrücklich. Ohne die
grundlegende parlamentarische Entscheidung über die
Zukunft der Wehrpflicht hat die Kommission jedoch de
facto keine Handlungsgrundlage.
({23})
Die demographische Entwicklung mit dem zunehmenden Älterwerden unserer Gesellschaft und der geringer werdenden Geburtenrate erfordert ein Umdenken in
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich glaube, wir
können auf die Produktivität, die Kreativität und die Erfahrung von Älteren nicht verzichten. Es ist absurd, politisch einer Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters das Wort zu reden, wenn zugleich das faktische
Renteneintrittsalter immer mehr sinkt.
({24})
Die Arbeitsmarktpolitik hat den Trend zur Frühverrentung in den letzten Jahren gefördert. Nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung verursacht die
Frühverrentung Gesamtkosten von mindestens 60 Milliarden Euro im Jahr. Sie ist uns damit mehr wert als der
gesamte Bereich Forschung und Entwicklung, für den
im Jahre 2001 rund 50 Milliarden Euro aufgewendet
wurden. Vorschläge der FDP, die Frühverrentung zu
stoppen, sind von der Mehrheit des Hauses regelmäßig
abgelehnt worden, zuletzt bei den Beratungen zu
Hartz III und IV.
Die von der Bundesregierung beschlossenen Notoperationen wie das Aussetzen von Rentenerhöhungen und
die Verdoppelung des Beitrags zur Pflegeversicherung
für Rentner führen zu kräftigen realen Einkommensverlusten für die Rentner. Es kann doch nicht sein, dass die
Seniorenpolitik nur noch aus Zumutungen und immer
neuen Belastungen für die ältere Generation besteht.
({25})
Dazu hätte ich gern Ihre mahnende Stimme wahrgenommen, Frau Seniorenministerin. Überhaupt habe ich von
Ihnen seniorenpolitisch außer Ankündigungen kaum etwas gehört. Das lang versprochene Altenhilfestrukturgesetz ist beispielsweise noch immer nicht in Sicht.
Wirklich tief greifende Reformen sind unabdingbar.
Sie würden von den älteren und jüngeren Menschen in
unserem Land mitgetragen, wenn die Hoffnung auf eine
echte und nachhaltige Verbesserung der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft bestünde. Ich habe derzeit nicht
den Eindruck, dass in der Öffentlichkeit dieses Vertrauen
herrscht.
Danke.
({26})
Nun hat die Kollegin Dümpe-Krüger, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
Einzelplan 17 haben wir einen Sparhaushalt vor uns.
Dennoch ist es uns gelungen, Prioritäten zu setzen. Wir
werden im Hinblick auf die notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen dafür sorgen, dass es zu keinen strukturellen Veränderungen kommt, und das, obwohl für den
Einzelplan 17 in 2004 weitere 17,6 Millionen Euro erwirtschaftet werden müssen.
Aber, meine Damen und Herren von der Opposition:
Während wir hier unsere Hausaufgaben erledigen, entwickeln Sie eine Verweigerungshaltung, die unglaublich
ist.
({0})
Sie sitzen zwar hier, was gut ist und Sie schreien dazwischen. Ansonsten haben Sie es sich aber wirklich abgewöhnt, mental an Haushaltsberatungen teilzunehmen.
Begründung: Der Vermittlungsausschuss wird es schon
richten.
Die FDP hat gestern mit ihrem Antrag auf Absetzung
der Haushaltsberatungen ebenfalls im Aussteigerboot
Platz genommen. Nun habe ich überhaupt nichts gegen
Aussteiger; aber man wundert sich schon, auf welcher
Seite dieses Hohen Hauses sie momentan sitzen.
({1})
Frau Tillmann, es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass
Sie heute wieder sagen, dass das Parlament sein Budgetrecht an den Vermittlungsausschuss abgeben soll.
({2})
Das zeugt nicht nur von mangelndem Demokratieverständnis; das ist in meinen Augen auch glatte Arbeitsverweigerung.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Nein. - Herr Fricke, Sie sollten jetzt ruhig einmal hören, was ich vortrage. Vielleicht ergibt sich ja zum
Schluss noch eine Gelegenheit.
Ich komme zum Kinder- und Jugendplan. Sie,
meine Damen und Herren von der Union, haben wiederholt behauptet, Rot-Grün vernachlässige die Anliegen
junger Menschen. Ich finde das ebenso scheinheilig wie
selbstgefällig. Trotz aller Konsolidierungsmaßnahmen
haben wir nämlich Akzente gesetzt, zum Beispiel dadurch, dass die Kürzungen im Kinder- und Jugendplan
mit 4,7 Prozent erheblich geringer ausgefallen sind als
ursprünglich vorgesehen. Die Veränderungen ergeben
sich im Wesentlichen durch auslaufende Modellprogramme, zum Beispiel beim Programm „Interkulturelles
Netzwerk der Jugendsozialarbeit im Sozialraum“. Das
Programm ist im Juli ausgelaufen. Es ist in enger Kooperation mit den Angeboten zum Beispiel der Jugend- und
der Migrationssozialarbeit vor Ort vernetzt worden. Die
gewonnenen Erkenntnisse werden in den Jugendgemeinschaftswerken übernommen. Gleichzeitig hat es für das
Haushaltsjahr 2004 Mittelverschiebungen zugunsten anderer oder neuer jugendpolitischer Schwerpunkte gegeben: zum Beispiel zugunsten der Programme „Jugend
ans Netz“ und „Jugend bleibt“ oder auch zugunsten der
neuen Beteiligungskampagne, die in Angriff genommen
werden soll.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie beklagen, dass es Jugendlichen an Arbeits- und Ausbildungsplätzen fehlt. Sie beklagen, dass die Bundesregierung angeblich die Interessen von Jugendlichen in den
Bereichen Arbeit und Ausbildung völlig außer Acht
lässt.
({0})
- Sie brauchen noch nicht Beifall zu klatschen; denn ich
wollte gerade sagen, dass die Wahrheit in Wirklichkeit
ganz anders ausschaut. - Sie sind es nämlich, die die Debatte um die Ausbildung und die Arbeit junger Menschen nach dem Motto führen: Leider kann nicht jeder
ein Superstar werden und auf seinen Traumjob warten. Von Ihrer Seite ist ständig zu hören, Jugendliche seien
angeblich nicht ausbildungsfähig, nicht ausbildungswillig oder aber zu unflexibel.
({1})
Ihnen fällt überhaupt nicht mehr auf, wie diskriminierend das ist.
({2})
Sie sind nicht ein einziges Mal auf die Idee gekommen, dass es bei einem Anteil von nur noch rund
23 Prozent ausbildungswilligen Betrieben endlich Zeit
für eine Ausbildungsplatzumlage wird. Aber unsinnige
Vorschläge, beispielsweise den, dass sich demnächst
zwei bis drei Jugendliche eine Ausbildungsvergütung
teilen könnten,
({3})
weil die Wirtschaft und die Unternehmen dann unter
Umständen bereit wären, mehr Jugendliche auszubilden,
haben Sie ganz fix bei der Hand. So funktioniert es eben
nicht.
({4})
Bei den Haushaltsberatungen im vergangenen Jahr
gab es schmerzliche Einschnitte im Bereich des Zivildienstes. So mussten die Träger darüber unterrichtet
werden, dass sie sich mit 50 Prozent statt wie zuvor mit
30 Prozent an den entstehenden Kosten beteiligten
müssten. Das haben sie getan, um zu verhindern, dass es
plötzlich zu einer drastischen Absenkung der Zahl der
Zivildienstleistenden kommt. Bundesfamilienministerin
Renate Schmidt hat damals versprochen, dass diese Kürzungen nur für ein Jahr gelten würden.
Ich habe das Geschrei der FDP noch gut im Ohr, Herr
Haupt.
({5})
Von der Austrocknung des Zivildienstes und von einem
finanziellen Kahlschlag war damals und auch heute wieder die Rede. Es wurde behauptet, dass die Kürzungen
im Leben nicht zurückgenommen würden.
Wir stellen fest: Die Ministerin hat Wort gehalten.
Trotz schwieriger Haushaltslage ist der alte Zustand wiederhergestellt. Ich bin der Ansicht, dass es an dieser
Stelle einmal Zeit für eine Entschuldigung wäre.
({6})
Ich habe im Übrigen kein Verständnis dafür, dass wir
uns zwar einerseits darüber im Klaren sind, dass der Zivildienst ein Auslaufmodell ist,
({7})
aber andererseits ständig beklagt wird, dass dann niemand mehr zur Betreuung bereitsteht. Wir alle wissen,
dass die ersten Träger für den Fall der Fälle Konzepte in
der Schublade haben. Der Mix heißt: Ausweitung der
Freiwilligendienste sowie Umwandlung in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und Minijobs. Damit
könnten wir als Grüne ganz gut leben.
Weil meine Redezeit gleich abgelaufen ist, komme
ich zum Schluss. Uns war es auch wichtig, dass bei den
Freiwilligendiensten nicht gekürzt wurde. In diesem Bereich wurden die Mittel - im Gegenteil - sogar geringfügig erhöht. Außerdem ist es uns gelungen, die Mittel für
die Programme gegen Rechtsextremismus zu verstetigen. Meine Kollegin hat das eben schon angesprochen.
Ich denke, hier wurden durch die Koalition weitere Zeichen gesetzt. Abschließend möchte ich mich an dieser
Stelle ganz ausdrücklich bei allen Berichterstatterinnen
und Berichterstattern bedanken.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Kollege Fricke hat um eine Kurzintervention gebeten.
Ich verbinde das mit dem Hinweis, dass es auch eine
kurze Intervention sein möge.
({0})
- Aber selbstverständlich, Herr Präsident.
Liebe Kollegin Dümpe-Krüger, als Journalistin sind
Sie ja fast noch mehr als wir anderen in erster Linie der
Wahrheit verpflichtet,
({0})
in zweiter Linie aber auch einer stärkeren Rechercheund Informationspflicht. Wenn Sie hier wider besseres
Wissen und vor allen Dingen ohne Rücksprache mit Ihren Haushältern behaupten, dass sich die FDP aus den
Beratungen verabschieden wolle, dann darf ich Sie
freundlich auf Folgendes hinweisen: Unser Verständnis
ist, dass es im Vermittlungsausschuss um mehrere Milliarden Euro geht. Die Ergebnisse, die dort erzielt werden,
hätte man abwarten können. Notfalls wäre die FDP auch
bereit, zwischen den Feiertagen Sondersitzungen durchzuführen. Mit Ihrem Verhalten, indem Sie zum Beispiel
keine Zwischenfragen zulassen, wollen Sie im Endeffekt
nur vertuschen, dass Sie schon jetzt wissen, dass Sie
auch für das nächste Jahr einen Nachtragshaushalt bekommen werden.
({1})
Zur Erwiderung, bitte schön.
Herr Kollege, ich habe gesagt - ich glaube, das war
ganz laut und deutlich -, dass Sie gestern mit Ihrem Antrag auf Absetzung der Beratungen zum Haushalt ebenfalls im Aussteigerboot Platz genommen haben. So ähnlich habe ich es formuliert. Ich glaube, dass ich ganz
strikt bei der Wahrheit geblieben bin.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Maria Eichhorn, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Familienpolitik muss in den Mittelpunkt aller anstehenden Reformen rücken. Das haben die Diskussionen in den letzten
Wochen und Monaten gezeigt.
({0})
Leistungen zielgenau denen zugute kommen zu lassen, die sie wirklich benötigen: Das ist die Maxime
dieser Bundesregierung.
Das haben Sie, Frau Ministerin, in der ersten Lesung
zum Haushalt 2004 erklärt.
Aber nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes landen immer mehr Kinder und Frauen in der
Armut. Jede vierte Alleinerziehende war zuletzt auf Sozialhilfe angewiesen. Dabei steigt ihre Bedürftigkeit
deutlich mit der Kinderzahl. Bei Müttern mit drei und
mehr Kindern sind es 48 Prozent; das ist jede zweite Alleinerziehende. Gegenwärtig erhalten 6,6 Prozent der
Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren Sozialhilfe.
Dies ist ein doppelt so hoher Anteil wie in der Gesamtbevölkerung. Allein von 2001 auf 2002, Frau Hagedorn,
stieg diese Quote bei Kindern um 1,9 Prozent.
({1})
Die Verantwortung für diese katastrophale Entwicklung
liegt allein bei Ihnen.
({2})
Künftig wollen Sie Ihre Familienpolitik nur noch auf
Familien in prekären Einkommensverhältnissen und Alleinerziehende reduzieren. So steht es in einem Antrag
von Ihrem letzten Bundesparteitag.
({3})
Das ist schließlich die völlige Bankrotterklärung. Alle
Fachleute sind sich einig, dass Familien insbesondere in
der Familiengründungsphase finanzielle Unterstützung
benötigen. Statt Familien zu fördern, haben Sie jedoch
drastische Einschnitte beim Erziehungsgeld vorgenommen. Diese Verschlechterung beim Erziehungsgeld ist
untragbar. Ihre Behauptung, dass von der Kürzung der
Einkommensgrenzen nur ein geringer Teil der Familien
betroffen ist, wurde von den Experten in der Anhörung
total widerlegt.
Heute hat die überwiegende Mehrzahl der Familien
nach der Geburt des Kindes einen Erziehungsgeldanspruch. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht in seiner Stellungnahme davon aus, dass ab
dem Jahr 2005 aufgrund der Kürzungen jährlich etwa
jede dritte Familie ihren Anspruch auf Erziehungsgeld in
den ersten sechs Monaten nach Geburt des Kindes verlieren wird.
Die Aussage, dass fast alle Frauen mit Kindern unter
drei Jahren sofort wieder eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, ist nicht haltbar. Zwei Drittel dieser Frauen
verzichten auf eine Erwerbstätigkeit und nehmen sich
ganz bewusst Zeit für ihre Kinder. Diese Zahl haben Sie,
Frau Schmidt, im April dieses Jahres selbst vorgestellt.
Dennoch kürzen Sie wider besseres Wissen das Erziehungsgeld. Die Arbeitsgemeinschaft Interessenvertretung Alleinerziehender befürwortet dagegen ein Erziehungsgeld von 500 Euro für insgesamt drei Jahre. Daran
sollten Sie sich orientieren.
({4})
In fünf Bundesländern - vier davon sind unionsregiert - wird im Anschluss an die Gewährung von Bundeserziehungsgeld im dritten Jahr ein Landeserziehungsgeld gezahlt.
({5})
In Rheinland-Pfalz dagegen hatte die SPD-Regierung
1997 nichts anderes zu tun, als das Landeserziehungsgeld zu streichen.
Der Studie des Bundesfamilienministeriums „Väter
und Erziehungsurlaub“ aus dem Jahr 2002 ist zu entnehmen, dass die noch immer geringe Inanspruchnahme der
Elternzeit durch Väter vor allem auf finanzielle Gründe
zurückzuführen ist. Das verwundert nicht: Da drei Viertel der Männer vor der Geburt des Kindes deutlich mehr
verdienen als ihre Ehefrau, kann auf das Einkommen des
Ehemannes gerade in dieser sehr finanzintensiven Phase
der Familiengründung nicht verzichtet werden. Es ist unbestritten, dass die ökonomischen Rahmenbedingungen
stimmen müssen, damit sich wieder mehr junge Menschen für eine Familiengründung und mehr Väter für die
Inanspruchnahme der Elternzeit entscheiden.
Der Kinderzuschlag von 140 Euro, den Sie einführen
wollen, ist keine Gegenleistung für die Kürzungen des
Erziehungsgeldes, sondern stellt sozusagen nur eine
Notoperation dar, die unter dem Strich eine Verschlechterung der finanziellen Förderung von Familien bedeutet. Das Erziehungsgeld wird zweckentfremdet und verkommt zu einer so genannten Stütze für sozial schwache
Familien. Ich frage Sie: Wo ist Ihr Konzept für eine
nachhaltige Familienpolitik?
({6})
Kindergeldzuschläge für Geringverdienende sind aus
Sicht des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter
ein Armutsbeschönigungszuschlag. Dem ist nichts hinzuzufügen.
({7})
Der Vertreter des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes
hat bei der Sachverständigenanhörung am 8. Oktober
deutlich gemacht, dass diese Neuregelung das Problem
materieller Armut von gering verdienenden Familien
nicht lösen wird.
({8})
Familien mit Kindern bleiben bei Rot-Grün auch weiterhin auf der Strecke.
({9})
Nach Schätzungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes steigt durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die Quote der Kinderarmut von
derzeit 6,6 Prozent auf 9,2 Prozent. Mit welchen Konzepten werden Sie dieser Entwicklung begegnen? Frau
Hagedorn, wir haben mit dem Vorschlag, ein Familiengeld einzuführen, ein schlüssiges Konzept vorgelegt, das
Kinder aus der Sozialhilfe holt. Das Familiengeld wird
unabhängig von Erwerbstätigkeit und Einkommen gezahlt und ersetzt die Kosten in voller Höhe, die durch
Kinder entstehen. Und das nennen Sie unsozial?
({10})
Eine Diskussion über eine familienfreundliche und
zukunftsorientierte Politik ist in Deutschland mehr als
überfällig. Schließlich sind die Folgen der demographischen Entwicklung in allen Bereichen spürbar. Mit einer Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau liegt
Deutschland im weltweiten Vergleich am unteren Ende.
Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter in Deutschland wird langfristig von derzeit 11 Millionen Frauen auf
9 Millionen Frauen im Jahr 2030 zurückgehen.
({11})
Wirtschaftsverbände beklagen schon heute den Mangel
an Fachkräften. Die Überalterung der Gesellschaft gefährdet die Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft
({12})
und damit auch den technischen Fortschritt.
({13})
Auf dem jüngsten Bundesparteitag der SPD haben Sie,
Frau Schmidt, gesagt, Deutschland brauche mehr Kinder. Wenn Sie wollen, dass sich mehr junge Menschen
für Kinder entscheiden, müssen Sie ein familien- und
kinderfreundliches Klima schaffen.
Eltern nehmen mit der Erziehung der Kinder nicht nur
Verantwortung auf sich, sondern auch erhebliche Kosten. Der Betrag, den Eltern für ein Kind vom ersten bis
zum 18. Lebensjahr ausgeben, beläuft sich auf rund
281 000 Euro; bei zwei Kindern sind es 399 000 Euro.
Das ist ein enormer Betrag. Daher ist eine ausreichende
finanzielle Förderung für eine zukunftsorientierte Politik
nach wie vor unverzichtbar.
({14})
Einig sind wir uns über das Erfordernis eines vielfältigen und bedarfsgerechten Ausbaus der Kinderbetreuung.
Da vorhin von fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten gesprochen wurde, darf ich Ihnen die neuesten Zahlen - Stand: November 2003 - vortragen:
Die schlechteste Versorgung mit Plätzen in Kindertagesstätten für Kinder von drei bis sechs Jahren hat
Niedersachsen - bisher SPD-regiert - mit 90,6 Prozent.
Mecklenburg-Vorpommern - SPD-regiert - weist 90,7 Prozent auf.
({15})
- Es geht um den Versorgungsgrad. - Es folgt SachsenAnhalt - bisher SPD-regiert - mit 91,9 Prozent. Die besten drei sind das Saarland - CDU-regiert - mit
119 Prozent, Sachsen - CDU-regiert - mit 99,4 Prozent
und Bayern - CSU-regiert - mit 98,6 Prozent. Das habe
ich der Länderübersicht zur Versorgungssituation im Bereich der Kindertagesstätten entnommen. Sie können das
ganz aktuell nachlesen. Das ist die Wahrheit.
({16})
Eine zukunftsorientierte familienfreundliche Politik
beinhaltet aber mehr als Kinderbetreuung und Kindergeld. Dazu gehören auch Maßnahmen eines verbesserten
Zugangs zum Arbeitsmarkt für diejenigen, die nach einer Elternzeit wieder in den Beruf einsteigen wollen.
Genauso wichtig sind auch bessere Chancen für Familien auf dem Wohnungsmarkt und eine familienfreundliche Gestaltung des Wohnumfeldes.
Kinder dürfen kein Grund für Altersarmut sein. Von
Ihren aktuellen Rentenkürzungen sind jedoch Frauen
besonders betroffen. Die Kürzung bei der Anrechnung
von Ausbildungszeiten kann bei ohnehin äußerst niedrigen Renten für Frauen zu einer um 5 Prozent geringeren
Rente führen. 2002 lag die Durchschnittsrente für Männer im Westen bei 1 157 Euro. Für Frauen lag sie im
Vergleich dazu bei 593 Euro - ein wenig mehr als die
Hälfte! -, im Osten bei 706 Euro.
Oberste Priorität für nachhaltige Reformen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme muss eine kinderund familienfreundliche Politik haben. Eine solche Politik gibt es nicht zum Nulltarif. In Deutschland wird zwar
viel Geld in die Sozialsysteme gepumpt, Familien sind
bislang trotzdem immer die Verlierer im Verteilungsspiel
geblieben. Das muss sich ändern.
({17})
Wir alle wissen, dass eine nachhaltige Familienpolitik
die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sichert. Was uns
diese Zukunftsfähigkeit wert ist, wird sich bei den anstehenden Reformen zeigen. Deutschland fehlt der Nachwuchs; wir haben zu wenig Kinder. Die wenigen Kinder,
die wir haben, sind zudem überproportional von Armut
betroffen. Die Familienpolitik muss daher oberste Priorität haben.
({18})
Wir müssen endlich anerkennen und berücksichtigen,
dass die Erziehung von Kindern der wichtigste Beitrag
zum Generationenvertrag ist.
({19})
Die Unterstützung und Förderung von Familien ist nicht
nur ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, sondern dadurch
wird auch für eine junge nachwachsende Gesellschaft
gesorgt. Diese wird dringend gebraucht, um unser Sozialsystem zu sichern und um den technischen Fortschritt und Innovationen voranzubringen. Wir müssen
die Benachteiligungen von Familien beseitigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 3. April 2001 zur Pflegeversicherung gesagt - ich zitiere -:
Die gleiche Belastung mit Versicherungsbeiträgen
führt zu einem erkennbaren Ungleichgewicht zwischen dem Gesamtbeitrag, den Kindererziehende in
die Versicherung einbringen, und dem Geldbeitrag
von Kinderlosen.
Generationengerechtigkeit erreichen wir nur, wenn die
demographische Entwicklung positiv beeinflusst wird.
Junge und Alte, Eltern und Kinderlose, Arbeitnehmer
und Arbeitgeber sind hier gleichermaßen gefordert.
Ich zitiere am Schluss Gertrud Bäumer, Frauenrechtlerin und Politikerin, die bereits 1933 festgestellt hat:
Der Inbegriff der Politik eines Volkes ist die Frage:
Was habt ihr euren Kindern zu bieten? Eine solche
Politik führt an den Ursprung zurück. Sie beginnt
bei der Familie.
Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen!
({20})
Das Wort hat nun die Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, Frau Schmidt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Lassen Sie mich ganz am Anfang den drei
Haushälterinnen und dem einen Haushälter ganz herzlich danken. Ich tue dies am Anfang nicht deshalb, weil
ich Sie milde stimmen will, sondern schlicht und einfach, weil ich diese Zusammenarbeit schätze und ich sie
- das ist an alle Fraktionen gerichtet - als gut und vertrauensvoll empfinde.
({0})
Ich glaube, das ist beispielhaft. Ich finde das wirklich
ganz ausgezeichnet.
({1})
Liebe Frau Tillmann, liebe Frau Eichhorn, wissen Sie,
worüber ich mich besonders gefreut hätte? Wenn wir
heute bei diesen Haushaltsberatungen endlich einmal
über wirklich unterschiedliche Konzepte zur Familien-,
Frauen-, Jugend- und Seniorenpolitik geredet hätten ({2})
und wenn dies nicht leere Worthülsen geblieben wären,
sondern erhärtet worden wären durch ganz konkrete
Anträge, die zu diesem Haushalt gestellt sind.
({3})
Wenn Sie zum Beispiel beim Erziehungsgeld bestimmte Regelungen ablehnen, dann hätte ich mich gefreut, wenn endlich einmal klar geworden wäre, wie Sie
denn eigentlich das, was Sie vorschlagen und für richtig
halten, konkret umsetzen wollen. Leider muss ich wieder
einmal feststellen: Fehlanzeige! Klar ist, was Sie nicht
wollen, nämlich alles, was wir wollen.
({4})
Klar ist, was Sie kritisieren, nämlich die Kürzungen
beim Erziehungsgeld, die Regelungen für Alleinerziehende und den Kinderzuschlag. Das ist Ihr gutes Recht.
Damit werde ich mich jetzt und hier auseinander setzen.
Warum aber lehnen Sie alle Verbesserungen, die wir
vorschlagen, ab? Den Kinderzuschlag zum Beispiel sehe
ich doch um Himmels willen nicht als die Lösung zur
Bekämpfung der Kinderarmut an. Es ist ein erster kleiner, bescheidener Einstieg mit einem neuen Instrument.
Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, dass dies nicht reicht,
dann sage ich Ihnen: Selbstverständlich reicht das nicht.
Aber es ist der erste Schritt, den wir auf diesem Weg gehen. Wenn Sie kritisieren, dass dies alles nichts ist, dann
sage ich Ihnen: 150 000 Kinder und ihre Familien nicht
nur aus der Statistik, sondern ganz real aus der Sozialhilfe, aus dem Arbeitslosengeld II herauszuholen ist ein
wichtiger erster Schritt, den man nicht kleinreden soll.
({5})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Tillmann?
Ja, gerne.
Frau Tillmann, bitte schön.
Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, dass es auch bisher in der Sozialhilfe einen Erhöhungsbetrag für Kinder
gibt? Stimmen Sie mir weiter zu, dass es einen ähnlichen
Erhöhungsbetrag demnächst im Arbeitslosengeld II geben wird? Und stimmen Sie mir dann noch zu, dass dieser Erhöhungsbetrag fast auf den Euro genau der Betrag
ist, den Sie als Kinderzuschlag in die Welt setzen, dass
also diese Familien - wenn sich nicht zusätzlich Dinge
ändern, zum Beispiel durch Erwerbstätigkeit - durch den
Kinderzuschlag nicht einen Euro mehr in der Tasche haben werden?
Frau Tillmann, wir sind uns in einer Frage vollkommen einig: Dreh- und Angelpunkt ist natürlich die Erwerbstätigkeit. Das ist überhaupt keine Frage. Das können wir hier aber nicht diskutieren.
({0})
- Herr Kampeter, ich habe Sie und Ihre Zurufe ein paar
Stunden genossen. Vielleicht ist es möglich, sich eine
Viertelstunde zurückzuhalten. Das wäre reizend.
({1})
- Ich weiche nicht aus, aber ich möchte gerne einigermaßen ungestört meine Rede zu Ende führen, Herr
Kampeter. Ich habe ein paar Benimmregeln gelernt.
Vielleicht könnten wir uns auf diese verständigen. Es ist
spät genug.
({2})
Jetzt zu Frau Tillmann: Sie haben vorhin richtigerweise vorgerechnet, dass von dem für den Kinderzuschlag eingestellten Gesamtbetrag ein gutes Drittel als
tatsächliche zusätzliche Aufwendung übrig bleibt. Diese
zusätzliche Aufwendung kommt den Familien zugute.
Sie können gerne sagen, dass diese paar Millionen zu
wenig sind. Das ist Ihr gutes Recht. Ich habe aber die
große Bitte, dass Sie auch einmal einen Blick auf Ihre
noch nicht so lange zurückliegende Regierungszeit werfen und zur Kenntnis nehmen, dass schon damals
1,1 Millionen Kinder in der Sozialhilfe waren. Dass dieser Zustand angesichts der jetzigen Situation nicht mit
einem Schlag beseitigt werden kann, dürfte doch wohl
klar sein.
Für die Familien bleibt etwas übrig. Ich bin stolz darauf, dass es in dieser prekären Situation gelungen ist, in
diesem Bereich etwas für die Familien zu erreichen.
({3})
Es gibt aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.
Eine der Pflichten einer Opposition, die ernst genommen
werden will, besteht darin, eine gangbare finanzierbare
Alternative vorzulegen, statt - wie Sie es tun - in einer
fantasielosen Verweigerungs- und Blockadehaltung zu
verharren. Was wollen Sie denn nun? Sie haben heute
wieder gesagt, Sie wollen ein Familiengeld. In der Endstufe - ich weiß, dass man das nicht auf einmal umsetzen
kann; das kritisiere ich auch gar nicht - kostet das
31,8 Milliarden Euro.
Herr Mißfelder - ich zitiere ihn nicht allzu häufig hat in der „Frankfurter Rundschau“ heute ein Interview
gegeben. Ich zitiere daraus:
Wo es richtig schief gegangen ist, war der Fall
Katherina Reiche. Man zaubert eine junge Frau aus
dem Hut, die vorher nie etwas mit Familienpolitik
zu tun gehabt hat, reicht sie im Wahlkampf rum und
zieht sie dann zurück. So etwas wird einem übel genommen. Oder nehmen Sie das Familiengeld. Das
wurde propagiert, ohne zu sagen, wie man es finanzieren will - und hat es dann stillschweigend einkassiert. So geht das nicht!
({4})
Im weiteren Verlauf sagt Herr Mißfelder, dass man auf
dem Leipziger Parteitag versuchen werde, das Familiengeld wieder aus der Versenkung zu holen. Frau
Eichhorn, ich habe vollständig zitiert.
Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie nun das Familiengeld oder wollen Sie die Steuerreform à la Merz,
der zwar behauptet, Familien entlasten zu wollen, ihnen
aber das Kindergeld streichen will und sie insgesamt
nicht entlastet, sondern belastet?
({5})
Außerdem frage ich Sie: In welchem Einzelplan scheint
wenigstens eine Idee Ihrer Vorschläge durch? - Nirgendwo!
({6})
Worüber soll man sich denn streiten, wenn nichts vorliegt? Es wäre richtig, etwas vorzulegen. Nur zu kritisieren ist einfach; aber einen Vorschlag und das entsprechende Finanzierungskonzept vorzulegen ist ein
bisschen schwieriger.
({7})
Frau Eichhorn, Sie haben richtigerweise die Frage der
Rente angesprochen. Was wollen Sie in diesem Zusammenhang? Wollen Sie die Anrechnung zusätzlicher Rentenversicherungsjahre für Kindererziehung - à la
Böhmer und Merkel -, was dann über Steuern finanziert
wird? Für die Geburten vor 1992 sollen zwei Rentenversicherungsjahre berücksichtigt werden und für die Geburten nach 1992 drei Jahre; hinzu soll ein Abschlag in
Höhe von 50 Euro pro Kind auf den Rentenversicherungsbeitrag kommen. Wenn Sie das zusammenrechnen,
kommen Sie auf einen Bedarf von mindestens
20 Milliarden Euro jährlich. Sie haben keinen einzigen
Satz dazu gesagt, wie Sie das finanzieren wollen.
({8})
Wollen Sie das oder wollen Sie die an die Grenze der
Verfassungsmäßigkeit gehende Strafaktion à la Stoiber
gegen Kinderlose? Was wollen Sie denn nun? Womit
soll man sich in diesem Parlament denn auseinander setzen? Man weiß ja gar nicht, was Sie eigentlich wollen.
({9})
Frau Eichhorn, in einem gebe ich Ihnen vollkommen
Recht: Auch bezüglich der Rente muss noch etwas getan
werden.
({10})
Natürlich haben wir - das sage ich verhältnismäßig ungeschützt - in der Hinterbliebenenversorgung Möglichkeiten, Umschichtungen zugunsten derer, die Kinder haben, vorzunehmen.
({11})
Ich halte das für notwendig, wenn auch mit langen Vorlaufzeiten, weil wir den Vertrauensschutz für diejenigen
gewährleisten müssen, die sich auf diese Leistungen verlassen haben.
({12})
Wir müssen einfach sehen: Verläufe ununterbrochener
Erwerbstätigkeit von kinderlosen Ehepaaren werden in
absehbarer Zeit dazu führen, dass diese satte Hinterbliebenenversorgungen kassieren, ohne dass für die Hinterbliebenenversorgung jemals ein einziger Euro Beitrag
geleistet wurde. An dieser Stelle kann man zusammenkommen. Da sehe ich Möglichkeiten, aber nicht bei Ihren unfinanzierbaren Vorstellungen, mit denen Sie uns
jeden Tag überhäufen
({13})
und mit denen Sie zur Verunsicherung von Menschen
beitragen.
({14})
Ich sehe, dass sich Ihre Familienpolitik nach wie vor in
der Forderung nach milliardenschweren finanziellen
Leistungen erschöpft.
Damit komme ich jetzt zu dem, was meinen Haushalt
leitet: Wir nehmen einen wirklichen Paradigmenwechsel
vor, und zwar weg von der Diskussion, die sich in der
Forderung nach mehr materiellen Leistungen und höherem Kindergeld erschöpft, und hin zur Priorität für die
Verbesserung der Infrastruktur für die Familien. Ich
glaube, das ist dringend notwendig, weil wir uns von der
Illusion verabschieden müssen, dass es irgendwann und
irgendwie möglich sein könnte, über Steuern, Transferleistungen oder Leistungen der sozialen Sicherungssysteme ein gesamtes Erwerbseinkommen annähernd zu ersetzen. Das geht nicht.
({15})
Das müssen wir wissen. Wenn wir gleichzeitig wissen,
dass die meisten jungen Menschen beides unter einen
Hut bringen wollen, dann müssen wir der Erfüllung dieser Wünsche die Priorität geben. Genau das versuchen
wir zu tun. Wir versuchen das mit dem Projekt Ganztagsschulen und mit dem Projekt der Verbesserung der
Betreuung für die unter 3-Jährigen.
({16})
Ich habe die herzliche Bitte an Sie, Folgendes zu bedenken: Wenn Sie im Vermittlungsausschuss die Gemeindefinanzreform und die Hartz-IV-Reformen blockieren, dann blockieren Sie auch die Verbesserung der
Infrastruktur für die unter 3-Jährigen. Deshalb mein Appell an Sie, die Konsequenzen Ihrer Blockadepolitik insgesamt zu sehen.
({17})
Frau Eichhorn, Sie haben aufgezählt, welche Bundesländer bei den Betreuungszahlen vorne liegen.
({18})
Zum einen haben Sie nur die Zahlen für die über 3-Jährigen genannt und zum anderen müssen Sie sehen, dass
das im Westen vor allem Halbtagskindergartenplätze
sind, in Mecklenburg-Vorpommern aber zum Beispiel
Ganztagskindergartenplätze. Es gibt nämlich gewisse
Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen
Deutschlands. Halbtagskindergartenplätze reichen für
Familien nicht aus. Eltern in Bayern, die einen Halbtagskindergartenplatz haben, können bei den langen Wegezeiten nicht einmal eine Teilzeitbeschäftigung ausüben.
Da müssen wir auch etwas ändern.
({19})
Das kann nicht der Bund alleine. Hier sind auch Länder
und Kommunen gefordert.
Ich habe so gut wie keine Redezeit mehr, würde aber
gerne noch die Frage von Herrn Haupt zur UN-Kinderrechtskonvention beantworten. Herr Haupt, Sie haben
vollkommen Recht: Ich habe hier mehrfach die Initiative
ergriffen und Gott sei Dank gibt es in der Zwischenzeit
auch von den Ländern das eine oder andere positive Signal, dass wir bei diesem Thema vorwärts kommen können. Bisher sind die Signale noch bescheiden. Die Bundesregierung allein wird das nicht schaffen. Wir sind der
Meinung, der Vorbehalt zur UN-Kinderrechtskonvention
muss endlich zurückgenommen werden. Meine Bitte
geht an Sie, dass Sie auch die von der Union und der
FDP regierten Länder dazu auffordern, ihre Vorbehalte
zurückzunehmen, damit wir an dieser Stelle ein Stückchen weiterkommen.
({20})
Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Damen, ich habe mir vorgenommen, das, was ich angekündigt habe, umzusetzen.
({21})
Dazu gehört, dass wir beim Zivildienst zu den alten Beträgen zurückgekehrt sind - für die Wohlfahrtsorganisationen und die anderen Träger, die Zivildienstleistende
beschäftigen - und dass wir eine verlässliche Grundlage
für die einbezogenen Zivildienstleistenden geschaffen
haben, mit der alle Träger einverstanden sind.
({22})
Wir haben dafür gesorgt, dass die Mittel für den Jugendmedienschutz aufgestockt werden und auch personell etwas getan werden kann. Auch hier gilt mein Dank den
Haushältern.
Wir haben - an dieser Stelle kann ich Ihnen nicht zustimmen, Frau Tillmann - bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sehr wohl etwas getan. Wir haben
Programme, von denen über 100 000 Jugendliche profitieren, erneut in Angriff genommen und in diesem Jahr
vor sämtlichen Rotstiften gerettet. Das gilt zum Beispiel
für das Freiwillige Soziale Trainingsjahr, welches junge
Menschen überhaupt erst einmal in die Lage versetzt, in
den Beruf einzusteigen und ausbildungsfähig zu werden.
({23})
Solche Programme sind dringend notwendig, weil es leider stimmt, dass manche junge Menschen nicht von
vornherein geeignet sind, eine Ausbildung zu beginnen.
Wir haben das angekündigte Gender-KompetenzZentrum gegründet und den runden Tisch Pflege eingerichtet, um zugunsten älterer Menschen eine Entbürokratisierung und die Verzahnung ambulanter und stationärer
Pflege zu erreichen.
Ich glaube, dass das alles in diesen schwierigen Zeiten nicht möglich gewesen wäre, wenn diese Bundesregierung es nicht ermöglicht hätte, mehr zu erreichen als
erwartet. Dieser Bundesregierung sind nämlich Kinder
und Jugendliche und deren Familien wichtig. Sie setzt
auf Generationensolidarität statt auf die Konfrontation
der Generationen. Sie setzt auf die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es in Deutschland je gegeben
hat, und will deren Chancen nicht schmälern, sondern erweitern.
Diesen Weg werde ich weiter verfolgen, und zwar mit
Ihrer Unterstützung, aber sicherlich manchmal auch
ohne sie. Ich glaube, dass wir Erfolge haben werden und
dass es in Deutschland künftig wieder Mut zum Kind geben wird.
({24})
Ich erteile der Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke
Ihnen für den Anfangsapplaus, den ich - obwohl Sie
noch gar nichts von mir gehört haben - auch auf mich
beziehe. Ich habe mich schon einmal an das Rednerpult
begeben und da Sie so gut erzogen sind, wie die Frau
Ministerin festgestellt hat, haben Sie sicherlich uns beide
gemeint.
({0})
Frau Ministerin, auch ich bin gut erzogen. Ich habe in
meinem Elternhaus einiges gelernt, darunter zum Beispiel, dass jemand, der laut wird und schreit, noch lange
nicht Recht hat.
({1})
Auch wenn Sie lauter geworden sind, zeugt das nicht
unbedingt von der Qualität und Wahrheit Ihrer Aussage.
Wenn Sie den Kollegen Mißfelder zitieren, dann bitte ich
um die ehrliche und vollständige Wiedergabe des Zitats.
Sie haben sich auf das Interview in der „Frankfurter
Rundschau“ bezogen. Darin hat Herr Mißfelder noch
Folgendes festgestellt:
Auf dem Leipziger Parteitag werden wir uns gemeinsam mit der CDA und der Frauen-Union deshalb dafür einsetzen, dass dies
- nämlich das Familiengeld das Kernstück der Unionsprogrammatik bleibt.
({2})
Es geht nicht, dass Sie nur Teile vortragen; wenn möglich, sollten Sie komplett zitieren.
({3})
Frau Ministerin, Sie mahnen konkrete Anträge an und
beklagen, dass es in unseren Reihen unterschiedliche
Konzepte gibt. Sie haben es nötig! Wo ist denn Ihr Konzept? Ich habe es gesucht.
Als Sie angetreten sind, habe ich gedacht - ich sage es
Ihnen ganz ehrlich -: Nachdem Ihre Vorgängerin, Frau
Ministerin Bergmann, im Kabinett etwas untergegangen
war, kommt jetzt eine Ministerin, die zugunsten der Familien auf den Tisch hauen wird. Wo aber bleiben Ihre
Wortmeldungen? Wo haben Sie Ihre Prioritäten verteidigt? Ihre Namensvetterin im Kabinett hat ab und zu auf
den Tisch gehauen - das muss neidlos anerkannt
werden -, wenn auch ohne großen Erfolg. Aber sie hat
sich zumindest bemüht. In Ihrem Hause war es zu meinem Bedauern in letzter Zeit sehr ruhig.
Die Kollegin Hagedorn hat festgestellt, dass es eine
Frage des Willens ist, Prioritäten zu setzen. Wenn man
den Willen hat, dann muss man versuchen, diesen auch
durchzusetzen. Das hätte ich von Ihnen erwartet.
In den Haushaltsberatungen können nur dann Anträge
formuliert werden, wenn auch der Haushaltsentwurf
konkret ist. Dass Ihr Haushalt Luftnummern beinhaltet,
wissen Sie genauso gut wie ich. Sie wissen auch, dass
die darin verpackten Zahlen keinen Bestand haben werden.
Ich habe zu Hause unter anderem auch gelernt, mit
meiner Arbeitszeit effektiv umzugehen. Deswegen haben wir die Position vertreten, uns erst dann konkret zu
äußern, wenn Sie den Nachtragshaushalt einbringen und
wir die genauen Zahlen kennen. Dann werden wir uns
dazu konkret äußern. Aber an den Luftbuchungen werden wir uns nicht beteiligen, Frau Schmidt.
({4})
Als Sie noch nicht Ministerin waren, hat der Kanzler
Ihr Ressort als Ministerium für „Frauen und Gedöns“ bezeichnet. Er hat zum Jubiläum „50 Jahre Familienministerium“ damit geprahlt, er habe jetzt gelernt, es heiße
„Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Damals habe
ich geglaubt, dieser Mann habe es erkannt, auch er
werde jetzt Prioritäten setzen und Sie in den Haushaltsberatungen unterstützen. Aber es ist absolut nichts passiert. Man merkt bei Ihren Reformvorhaben überhaupt
nicht, dass Familien eine Rolle spielen. Das tut mir für
die Familien Leid.
Familien haben mit deutlich mehr Belastungen zu
rechnen. Sie werden keineswegs gefördert und entlastet.
Die Hauptlasten der zukünftigen Reformen tragen sie
durch höhere Zuzahlungen sowie die Streichung oder
Absenkung von familienpolitischen Leistungen. Familien sind die großen Lastenträger dieser Regierung.
Dabei hängt das Schicksal eines Staates - so hat es
Alexandre Vinet schon im 17. Jahrhundert festgestellt „vom Zustand der Familie ab“. Wie Recht er hat! Wie ist
der Zustand der Familien heute? Da Sie uns ja nicht immer Glauben schenken, Frau Ministerin, zitiere ich jetzt
den Präsidenten des Deutschen Kinderhilfswerks,
Thomas Krüger, der anlässlich der Eröffnung des Weltkindertagfestes Ende September in Berlin sagte:
Deutschland marschiert in die demographische Katastrophe. Kinder sind Armutsrisiko Nr. 1. Da sind
Steuerfreibeträge für Alleinerziehende, Kindergeld
und Kinderzuschläge für gering verdienende Eltern
oder das Erziehungsgeld kaum Anreiz zum Kinderkriegen. Diese Förderungen sichern Kinder und
ihre Familien nicht einmal vor Armut. Deutschland
muss deutliche Zeichen setzen, ... Durch die für
2004 im Rahmen der Agenda 2010
- das ist Ihr Reformwerk, nicht unseres geplante Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II steigt die
Zahl der … von Armut betroffenen Kinder von jetzt
einer halben Million auf 1,5 Millionen.
So etwas sagt ein Präsident nicht einfach aus der hohlen
Hand; dazu hat er wohlweislich Informationen eingeholt. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, Frau
Hagedorn, dass Sie sich hier noch rühmen, dass den
49 000 Kindern in Pflegefamilien etwas geholfen wird.
Diese Maßnahme ist zwar für sich genommen gut, aber
zugleich bringen Sie deutlich mehr, nämlich 500 000
Kinder in die Sozialhilfe. Da würde ich mich schämen;
so etwas ist unverantwortlich.
({5})
Frau Ministerin, Sie müssen auch auf die Tatsache
Antworten geben, warum die jungen Leute, die Kinder
haben wollen, sie nicht bekommen. Wo haben Sie da
eine Familienoffensive, wo findet Ihre Familienförderung statt? Ich kann gut verstehen, dass Ihnen unsere
Vorschläge nicht passen und Sie sich deshalb - nicht nur
hier, sondern auch auf verschiedenen anderen Veranstaltungen - aufregen. Wir alle wissen, dass weniger Kinder
weniger Wachstum, weniger Wachstum weniger Konsum und weniger Konsum weniger Wohlstand bedeuten.
Dazu zitiere ich den Präsidenten des Diakonischen Werkes, Jürgen Gohde:
Mit Migration allein lässt sich dieses Defizit nicht
ausgleichen. Für die sozialstaatliche Entwicklung
ist ein Klima des Vertrauens grundlegend, sowohl
im wirtschaftlichen, im politischen wie im persönlichen Bereich.
Bei diesem Zickzackkurs - dies hat der Kollege Haupt
vorhin ganz deutlich gemacht - ist Vertrauen leider auf
der Strecke geblieben.
({6})
Jürgen Gohde fährt fort:
Wer sich vor dem wirtschaftlichen Absturz fürchtet,
wird auch Angst haben, Kinder zu bekommen. Wer
keinen Ganztagsplatz vorfindet, wenn Familie und
Berufsarbeit vereinbart werden wollen, wird sich
im Zweifel gegen Kinder entscheiden. … Aktive
Familienpolitik ist die direkte Prävention gegen den
Kollaps des Sozialstaates. Dazu zählt auch die
Überwindung der Familienfeindlichkeit des Abgaben- und Rentensystems.
Besser hätte ich es auch nicht sagen können; hinsichtlich
aktiver Familienpolitik ist im Moment Fehlanzeige zu
vermelden.
Frau Hagedorn, Sie haben gerade so schön über
Schleswig-Holstein geredet und dabei die Kommunen
erwähnt. Ist Ihnen bekannt, dass sich in Ihrem Bundesland die Regierungskoalition - Sie wissen, wer sie
stellt - darüber streitet, wie hoch die Kürzungen bei den
Zuschüssen im Kindertagesbereich sein sollen? Das wissen Sie nicht? Ich kann Ihnen die Zahlen von NordrheinWestfalen sagen; dabei kann mich Kollegin Humme unterstützen. Auch in Nordrhein-Westfalen wird mächtig
gestritten. Was auf Landesebene zusammengekürzt wird,
ist eine absolute Katastrophe. Angesichts dessen erzählen Sie hier besseren Wissens so etwas?
({7})
- Ich möchte jetzt keine Frage beantworten, wie Sie,
Frau Hagedorn, es auch nicht getan haben. Wenn Sie
gleich eine Kurzintervention machen, werde ich darauf
antworten.
Nein, Frau Kollegin, ich muss Sie fragen: Lassen Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Hagedorn zu?
Nein, lasse ich nicht zu.
Gut.
Betrachtet man die Kürzungen im Bereich der gesetzlichen Leistungen für Familien, dann stellt man fest,
dass der Etat von 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf
3,5 Milliarden Euro im Jahr 2004 gekürzt wurde. Die Erhöhungen nach dem Bundeskindergeldgesetz in Höhe
von 124 Millionen Euro sind dabei schon einbezogen.
Auf die drastische Reduzierung des Erziehungsgeldes hat schon meine Kollegin Eichhorn hingewiesen.
Hier werden gerade junge Eltern, die wegen der Erziehung ihrer Kinder für eine gewisse Zeit auf Erwerbstätigkeit verzichten wollen, richtig zur Kasse gebeten. Sie
müssen herhalten, um Finanzierungslöcher zu begrenzen.
({0})
- Liebe Frau Kollegin, die einzigen positiven familienpolitischen Leistungen - ich kann Ihnen die entsprechenden Unterlagen zuschicken - sind unter der von
CDU/CSU und FDP geführten Bundesregierung erbracht worden. Wenn Sie das einmal erreichen sollten,
dann können wir gerne weiter diskutieren.
({1})
- Ich werde sofort darauf eingehen, werte Frau Kollegin.
An dieser Stelle muss man festhalten, dass es seit der
Einführung des Erziehungsgeldes 1986 eine solch drastische Kürzung noch nie gegeben hat.
({2})
Daran müssen Sie sich messen lassen. Ich schicke Ihnen,
wie gesagt, gerne die entsprechenden Unterlagen zu, damit Sie das nachlesen können.
Unsere Bedenken sind sehr groß; denn es werden eindeutig die Familien bestraft, die Kinder erziehen. Das
können wir nicht gutheißen. Das ist ein falsches politisches Signal. Gerade in der jetzigen Zeit dürfen solche
Signale nicht gesandt werden.
Nun zu Ihrem Versprechen, Frau Ministerin - ich
würde mich freuen, wenn auch Sie zuhörten -, mehr
Ganztagsschulen einzurichten: Man muss feststellen,
dass Ihre diesbezüglichen Angebote gut gemeint waren,
dass sie aber nicht so angenommen wurden, wie Sie das
erhofft haben. Wir wissen, warum das so gekommen ist.
Die Förderung ist auf die Sanierung der Schulen begrenzt worden und die Kommunen sind bei der personellen Ausstattung allein gelassen worden.
({3})
- Frau Humme, Sie wissen doch, dass in NRW, dem
Bundesland, aus dem Sie kommen, Horte geschlossen
werden, um Ganztagsschulen einzurichten. Es kommt
auch vor, dass Schulen saniert werden, dass aber das
Personal fehlt, um die Stunden abzudecken. Das ist
keine Förderung, sondern eine Verwahrung von Kindern.
Das hat mit Bildung nichts mehr zu tun.
({4})
- Frau Humme, in Herne regiert seit 40 Jahren die SPD
und Sie sind als Pädagogin tätig gewesen. Sie wissen
doch genau, dass es so ist.
({5})
Ich bin mir aber ganz sicher, dass sich dort demnächst
nach der Wahl etwas ändern wird.
„Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der
Familien ab.“ Den heutigen Zustand können wir nur
durch eine vernünftige Förderung der Familien, insbesondere der jungen Eltern sowie der jungen Menschen
ändern.
Ich möchte noch eine Anmerkung machen, obwohl
ich gerade sehe, dass mir die Zeit davonläuft.
Frau Kollegin, die Zeit läuft Ihnen nicht davon, sondern Ihre Redezeit ist bereits überschritten.
Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. Dann schließe ich.
Ich wäre angesichts der geplanten Kürzungen im Kinder- und Jugendplan schon froh, wenn der Staatssekretär
die gleichen Zahlen nennen würde wie Sie, Frau Ministerin. Mir liegt schriftlich vor, dass er von 8,5 Prozent
ausgeht. Sie behaupten hier etwas anderes. Das belegt
die Undurchsichtigkeit Ihres Haushaltes, Frau Ministerin. Deshalb werden wir uns erst dazu äußern, wenn konkrete Zahlen auf dem Tisch liegen.
({0})
Ich erteile der Kollegin Hagedorn das Wort zu einer
Kurzintervention.
Verehrte Kollegin, nehmen Sie bitte Ihre falsche Behauptung, die Sie vorhin in aller Öffentlichkeit aufgestellt haben, zurück, dass das Land Schleswig-Holstein
seine Zuschüsse zur Kindertagesstättenförderung zurückfahre. Wenn Sie das nicht zurücknehmen, dann
muss ich Sie darüber aufklären, dass diese Förderung
1988 - damals gab es noch eine CDU-geführte Landesregierung - bei 1,5 Millionen DM im Jahr lag, während
sie heute bei knapp 60 Millionen Euro im Jahr liegt, und
dass das Land auf Bitte der kommunalen Spitzenverbände den Kommunen angeboten hat, die Förderung auf
diesem Niveau zu belassen, wenn im Gegenzug die
Kommunen ihre Zuschüsse nicht kürzen. Vier CDU-regierte Kreise und CDU-regierte Kommunen haben ihre
Zuschüsse halbiert; darum wird diese Vereinbarung
wahrscheinlich nicht zustande kommen. Das Land hat
diese Zuschüsse nicht gekürzt.
({0})
Frau Kollegin Fischbach, Sie haben das Wort zu einer
Erwiderung.
Ich glaube, die Kollegin Hagedorn war wegen der
Haushaltsberatungen im Stress.
Werte Frau Kollegin Hagedorn, wenn Sie uns hier sagen wollen, dass die Kommunen allein, also ohne Landeszuschüsse, die Kinderbetreuungseinrichtungen finanzieren können, dann erzählen Sie absoluten Blödsinn.
Ich habe Sie gerade darauf hingewiesen, dass Ihre Regierung in Schleswig-Holstein über die Reduzierung der
Zuschüsse streitet.
({0})
Nichts anderes habe ich gesagt. Man sollte immer ehrlich bei dem bleiben, was gesagt wurde. Presseartikel belegen, dass es diesen Streit gibt. Wenn Sie die entsprechenden Unterlagen nicht haben, dann lasse ich sie
Ihnen gern mit der Publikation über die familienpolitischen Leistungen der CDU und der CSU zukommen.
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Fazit aus dieser Debatte ist, dass wir alle mehr
über bessere Rahmenbedingungen für Familien reden
müssen. Wir alle sprechen über Generationengerechtigkeit und darüber, was wir für Kinder und das Zusammenleben mit Kindern tun können. Wenn es aber darum
geht, das, was ich gerade angesprochen habe, ernst zu
nehmen und es umzusetzen, dann macht die Opposition
nicht mit.
Wir reden hier tatsächlich auch über Sparmaßnahmen.
Wir kürzen das Erziehungsgeld für Ehepaare, die ein
Nettoeinkommen von mindestens 50 000 Euro haben.
Der Durchschnittsverdienst in Deutschland liegt noch
immer bei 30 000 Euro. Gleichzeitig wollen wir dafür
sorgen, dass Erziehungszeiten bei kurz aufeinander folgenden Geburten nicht mehr gekürzt werden. Sie werden
dagegenstimmen.
Wir wollen ein verfassungskonformes Gesetz verabschieden, das regelt, dass Alleinerziehende einen Steuerfreibetrag bekommen. Sie waren in Ihrer Regierungszeit
nämlich nicht in der Lage, ein entsprechendes verfassungskonformes Gesetz zu verabschieden: Ihr Gesetz
wurde vom Bundesverfassungsgericht einkassiert.
({0})
Unser Gesetzentwurf, der diesen Freibetrag vorsieht, ist
verfassungskonform. Sie werden dagegen stimmen.
Wir wollen einen Kinderzuschlag für Familien mit
prekären Einkommensverhältnissen einführen. Dabei
geht es nicht nur darum, dass bestimmte Familien mehr
Geld bekommen. Es geht vielmehr darum, den mit dem
Bezug von Sozialhilfe verbundenen Teufelskreis zu
durchbrechen, also Familien aus dem Bezug von Sozialhilfe und dem damit verbundenen Bittstellerstatus herauszuholen. Es geht darum, dass sich in diesem Land
Erwerbstätigkeit rentiert und dass derjenige, der arbeitet,
mehr Geld in der Tasche hat. Sie werden dagegen stimmen.
({1})
Wir wollen ein 4-Milliarden-Euro-Programm für
Ganztagsschulen einführen. Für die Betreuung von
Kindern im Alter von null bis drei Jahren soll es ein 1,5Milliarden-Euro-Programm geben. Obwohl Sie hier behaupten, auch Sie seien für die Förderung der Kinderbetreuung, werden Sie dagegen stimmen. Sie sind nicht
besonders konstruktiv. Überall dort, wo es tatsächlich
um die Änderung der Rahmenbedingungen für Familien
geht, stimmen Sie einfach dagegen.
Zu Beginn dieser Debatte haben Sie sich ein bisschen
darüber lustig gemacht, dass Herr Rürup uns geraten hat,
in die Infrastruktur zu investieren. Um Ihnen zu zeigen,
dass wir richtig liegen, verweise ich auf einen Artikel in
der Frauenzeitschrift „Lisa“, die beim Emnid-Institut
eine Studie in Auftrag gegeben hat. Diese Studie ist zu
dem Ergebnis gekommen, dass 60 Prozent der Frauen in
diesem Land gerne arbeiten würden, es aber nicht können, weil ihnen dazu die Infrastruktur für die Kinderbetreuung fehlt.
({2})
- Nein. Diese Frauen sagen, sie könnten es nicht, weil
die entsprechende Infrastruktur fehlt.
({3})
Insbesondere bei einer Ganztagsstelle wüssten sie nicht,
wohin mit ihrem Kind, weil der Kindergarten um 11.30
Uhr zumacht oder die Schule eine Halbtagsschule ist.
Ein weiteres Ergebnis dieser Studie ist, dass ein Großteil dieser Mütter die heutigen Kinderbetreuungsplätze
für nicht zufriedenstellend halten. 95 Prozent der Mütter
sagen: In den Kinderbetreuungseinrichtungen in
Deutschland sind die Gruppen zu groß, die Öffnungszeiten zu unflexibel, die Kosten zu hoch und die Betreuung
nicht qualitativ hochwertig. Genau da investiert diese
Regierung. Wir sagen: Wir investieren in die Kinderbetreuung, in die Infrastruktur. Das werden wir im kommenden Haushalt mit dem 4-Milliarden-Euro-Programm
und mit den Investitionen in die Kinderbetreuung für die
unter Dreijährigen im Umfang von 1,5 Milliarden Euro
besiegeln.
Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel, das zeigt, dass wir
zu Recht in die Infrastruktur investieren. Sie sind der
Meinung, man müsse in Familiengeld investieren. Kostenfaktor: 30 Milliarden Euro. Wir wissen nicht, wie Sie
es finanzieren wollen. Sie sagen weiter, wir bräuchten
auch bei der Rente bessere Leistungen für die Familien.
Die Kosten dafür werden mit 19 bis 20 Milliarden Euro
beziffert. Damit wollen Sie Frauen motivieren, mehr
Kinder zu bekommen. Ich sage Ihnen: Das ist genau der
falsche Ansatz.
({4})
Wir brauchen die Infrastruktur. Den Beweis dafür finden wir in der Stadt Laer in Nordrhein-Westfalen. Diese
Stadt hat 6 500 Einwohner, 13,5 Geburten pro 1 000 Einwohner und damit die höchste Geburtenquote in ganz
Deutschland. Das liegt nicht daran, dass es dort billiges
Bauland, besonders tolle Supermärkte, McDonald‘s oder
Kinos gibt; ganz und gar nicht! Diese Stadt Laer hat fünf
wichtige Einrichtungen: eine Ganztagsschule und vier
Ganztagskindertagesstätten.
({5})
Inzwischen wird soziologisch untersucht, warum es
dazu gekommen ist, dass die Stadt Laer die höchste Geburtenquote in ganz Deutschland hat. Es liegt an diesen
fünf Einrichtungen und an sonst nichts.
Noch eine Zusatzinformation: Die Stadt Laer hat übrigens einen grünen Bürgermeister, nämlich den HansJürgen Schimke.
({6})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Christel Humme, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich muss sagen: Am Schluss der Debatte bin ich
kein bisschen schlauer geworden
({0})
und kann der Ministerin Renate Schmidt absolut Recht
geben: Sie haben kein Konzept. Sie sind zerstritten. Sie
haben überhaupt keinen Mut, Verantwortung zu übernehmen. Ihnen fehlt der Mut, den wir haben, nämlich der
Mut,
({1})
in dieser schweren Situation - das gebe ich zu - tatsächlich Verantwortung zu übernehmen.
Mit unserer Agenda 2010 machen wir heute die nötigen Reformen, damit es uns morgen wieder besser geht.
Dass das notwendig ist, zeigt Ihr Umgang mit dem
Haushalt in den 90er-Jahren. Wir zahlen heute für Ihre
Sünden der Vergangenheit, meine Damen und Herren
von der Opposition.
({2})
Damit unsere Kinder und Kindeskinder nicht die gleichen Erfahrungen machen, setzen wir unseren Konsolidierungskurs fort.
Ja, es ist richtig: Wir brauchen gleichzeitig - das ist
gar keine Frage; das haben Sie, Frau Fischbach, auch
richtig festgestellt - neue Arbeitsplätze. Deshalb geben
wir trotz notwendiger Einsparungen die notwendigen
Konjunkturimpulse.
({3})
Wir müssen natürlich auch auf die Zukunft vorbereitet sein. Darum brauchen wir Strukturreformen. Das ist
unsere Vorstellung von Verantwortung für die Familien,
für die Frauen, für die Jugendlichen und für die älteren
Menschen in der Zukunft. Effizienter Mitteleinsatz - darum geht es - und Vorrang für Zukunftsinvestitionen
sind ganz eindeutig die Markenzeichen des Haushalts
2004.
Auch wenn wir es heute schon oft genug gehört haben, will ich es wiederholen, weil ich die letzte Rednerin
in dieser Debatte bin und unser Konzept noch einmal in
den Vordergrund stellen möchte:
({4})
4 Milliarden Euro gibt der Bund den Ländern und Kommunen dazu, um den Ausbau der Ganztagsschulen voranzutreiben.
({5})
- Die Ministerin hat es natürlich auch dargestellt; gar
keine Frage. Das habe ich damit nicht gemeint.
({6})
Sie haben gar kein Konzept vorgestellt. Von daher ist es
wichtig - da beißt die Maus keinen Faden ab -, dass unser Konzept zum Schluss noch einmal in den Vordergrund gestellt wird.
Die entsprechende Infrastruktur brauchen wir, Frau
Fischbach, und da sind natürlich in erster Linie Länder
und Kommunen gefordert. Wir als Bund geben
4 Milliarden Euro, damit der Ausbau von Ganztagsschulen vorangebracht werden kann.
({7})
Wir geben jährlich weitere 1,5 Milliarden Euro für die
Betreuung von Kindern unter drei Jahren,
({8})
damit entsprechende Investitionen auf den Weg gebracht
werden können. Dass das geht, haben wir gerade am
Beispiel der Stadt Laer vernommen. Es gibt noch eine
weitere beispielhafte Gemeinde in Holstein. Diese Politik muss nur vor Ort umgesetzt werden. Genau das ist
unser Konzept: Wir wollen mit unserer Politik für bessere Bildungschancen, höhere Geburtenraten und für
bessere Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt sorgen.
({9})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Tillmann?
Bitte erst zum Schluss meiner Rede. Ich habe nicht
mehr viel Zeit, wie ich gerade sehe.
({0})
Mehr Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten
brauchen Familien am nötigsten. Das wissen wir mittlerweile. Die heutigen Eltern - auch das muss man
feststellen - haben leider sehr lange auf diesen so wichtigen Kurswechsel in der Familienpolitik warten müssen;
viel länger als Eltern in Frankreich, Großbritannien oder
Skandinavien. Dort hat man bereits vor 20 bzw.
30 Jahren in Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten investiert. Sie haben schon damals Ihre Verantwortung
nicht wahrgenommen, meine Damen und Herren von der
Opposition. Sie haben selig geschlafen und den Zug der
Zeit verpasst. Auch dafür müssen wir heute zahlen.
({1})
Welche Vorstellungen propagieren Sie nach wie vor?
Man kann es kaum glauben. Dies ist die dritte Debatte
darüber und Sie holen immer wieder das gleiche Konzept aus der Mottenkiste, nämlich das Konzept eines
Familiengeldes. Der Vorschlag eines Familiengeldes
- das wiederhole ich auch zum dritten Male, damit es
endlich jeder wahrnimmt - ist unseriös, weil es in der
gegenwärtigen Situation nicht finanzierbar ist. Das weiß
jeder.
({2})
Das Familiengeld ist aber auch ungerecht, weil das Geld
per Gießkannenprinzip an alle Familien unabhängig vom
Einkommen verteilt wird. Auch dieser Aspekt darf nicht
vergessen werden: Es ist absolut unmodern, weil es die
Frauen nach Hause schickt. In Wirklichkeit handelt es
sich hierbei nämlich um eine Zu-Hause-bleib-Prämie.
Da beißt die Maus keinen Faden ab.
({3})
Wenn ich mir das Konzept von Herrn Merz ansehe,
stelle ich fest, dass es die gleichen Attribute verdient: Es
ist ebenfalls unseriös, ungerecht und unmodern.
({4})
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - das
muss ich leider feststellen -, haben nichts dazugelernt.
Sie setzen immer noch auf das falsche Pferd und entziehen sich damit absolut der Verantwortung.
Frau Kollegin Humme, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn?
Zum Schluss, ich möchte gerne meine Gedanken darstellen.
Nein, zum Schluss lasse ich keine Zwischenfrage
mehr zu.
Interventionen aber.
({0})
Wir haben vorhin gehört, dass bei unserem Konzept
die Mittel zielgenau eingesetzt werden. Erziehungsgeld
und Kinderzuschlag sind ein wichtiger Einstieg in die
Grundsicherung für Kinder. Das ist ein Fortschritt.
Damit helfen wir 150 000 Kindern. Wenn Sie behaupten,
das sei nicht das richtige Instrument, dann schlagen Sie
den Kindern und den Eltern, die dieses Geld dringend
brauchen, absolut ins Gesicht.
Meine Damen und Herren von der Union, wir haben
in der Agenda 2010 einen wichtigen Impuls für die Konjunktur vorgesehen, nämlich das Vorziehen der Steuerreform. Zugleich ist das auch ein wichtiger Impuls für
die Familien: Ab 1. Januar 2004 wird die Steuerbelastung der Familien um 10 Prozent sinken.
({1})
Das betrifft, Frau Fischbach, in der Tat das Thema „Lastenträger Familie“. Durch das Vorziehen der Steuerreform
werden Familien nämlich erheblich entlastet, sie zahlen
im Durchschnitt circa 2 400 Euro weniger als 1998.
({2})
Arbeitsplätze werden wir nicht nur dadurch schaffen,
dass die Eltern mehr Geld im Portemonnaie haben und
deshalb mehr ausgeben können, sondern auch durch die
Verbesserung der Infrastruktur. Denn wenn es mehr
Ganztagsbetreuung gibt - das ist erwiesen -, dann werden mehr Menschen einer Beschäftigung nachgehen, vor
allen Dingen Frauen.
({3})
Dann werden mehr haushaltsnahe Dienstleistungen
nachgefragt werden. All das wird Impulse geben. Es gibt
eine Untersuchung, in der festgestellt wurde, dass sich
jeder Euro, der in diesen Bereich investiert wird, dreibis viermal rechnet. Beschäftigung ist im Übrigen, Frau
Eichhorn, genau das, was Familien brauchen, um vor
Armut geschützt zu sein. Wir helfen ihnen an dieser
Stelle durch die Förderung von Ganztagsbetreuung.
Mehr Bildung und Betreuung sind Schlüssel für die
Lösung vieler Probleme in unserer Gesellschaft. Das ist
unser Ziel.
({4})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Blick auf
die jungen Menschen richten, die ja auch zu unserer
Zielgruppe - Familie, Senioren, Frauen und Jugend gehören. Unser Ziel ist - das ist nicht zu verachten -, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz und eine Qualifikation nach der Schulzeit zu geben. Wir machen das
mit zwei Instrumenten: Erstens haben wir JUMP-Plus
mit 210 Millionen Euro auf den Weg gebracht und zweitens werden wir die Ausbildungsumlage einführen.
Letztere soll immer dann greifen, wenn die Wirtschaft
nicht allen jungen Menschen eine Chance auf Ausbildung einräumt.
({5})
Junge Menschen brauchen die Chance auf Ausbildung
und Arbeit. Dafür übernehmen wir gerne die Verantwortung.
({6})
Jugendlichen eine Zukunftsperspektive zu geben und
sie stark zu machen gegen Rechtsextremismus und für
Toleranz gegenüber Andersdenkenden, das ist eine der
wichtigen Säulen unseres demokratischen Systems. Deshalb kann ich nicht nachvollziehen, dass Sie von der
Union immer wieder versuchen, unsere Programme gegen Rechtsextremismus - Entimon und Civitas -, für
die wir - da danke ich Frau Hagedorn ausdrücklich jetzt wieder mehr Geld zur Verfügung stellen können, infrage zu stellen.
({7})
Es ist verantwortungslos, Rechtsextremismus nur
dann als Problem wahrzunehmen, wenn aufgrund eines
aktuellen Vorfalls öffentlich darüber debattiert wird; dieser falsche Umgang zeigt sich sogar im Deutschen Bundestag. Die Zahl derer, die zu Rechtsextremismus und
Antisemitismus neigen, hat sich in den vergangenen
Jahrzehnten nicht verändert. Deshalb sind und bleiben
unsere Programme Entimon und Civitas sehr wichtig;
denn die Bekämpfung des Rechtsextremismus bleibt für
uns alle eine Daueraufgabe.
({8})
Meine Damen und Herren von der Union, wir sind auf
den Zug der Zeit aufgesprungen, den Sie vor 20 Jahren
verpasst haben. Ich kann Sie nur auffordern, schnellstmöglich ein Ticket für diesen Zug zu kaufen,
({9})
und ich kann Ihnen auch sagen, wo es dieses Ticket gibt:
am Schalter des Vermittlungsausschusses. Dann können
wir gemeinsam in die Richtung gehen, die Familien,
Kinder, Jugendliche, Frauen und Ältere brauchen.
Danke schön.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Eichhorn.
Frau Kollegin Humme, ich muss Ihnen ins Stammbuch schreiben, dass Sie wider besseres Wissen die Unwahrheit sagen. Würden Sie erstens bitte zur Kenntnis
nehmen, dass das Familiengeld unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Mütter und Väter gezahlt wird und
deswegen genau das Gegenteil von der Zu-Hause-bleibPrämie ist, als die Sie es bezeichnen? Denn damit wird
Wahlfreiheit ermöglicht.
Würden Sie zweitens bitte zur Kenntnis nehmen, dass
der Erfolg in Frankreich auf drei Säulen basiert: erstens
der Kinderbetreuung - da sind wir uns einig -, zweitens
einer einkommensabhängigen Förderung von Familien
und drittens einer einkommensunabhängigen Förderung
von Familien? Diese drei Säulen sind wichtig, um das zu
erreichen, was es in Frankreich gibt, nämlich eine Geburtenrate von 1,8 Kindern pro Frau.
Frau Kollegin Humme, bitte.
Frau Eichhorn, ich nehme das sehr gerne zur Kenntnis, denn genau darauf bezog sich meine Äußerung, dass
das Familiengeld eigentlich ungerecht sei: Es geht ziellos an alle Familien, unabhängig von der Höhe des Einkommens.
({0})
Wenn Sie sich unser Konzept anschauen, werden Sie
feststellen, dass die Summe, die Sie für das Familiengeld
veranschlagen, dort schon lange vorgesehen ist. Wenn
Sie nämlich das Kindergeld und das Erziehungsgeld zusammenrechnen, dann kommen Sie bei Familien im unteren Einkommensbereich auf eine Zahlung in dieser
Höhe. Damit fördern wir Familien im unteren und mittleren Einkommensbereich. Wir brauchen das Familiengeld nicht für die, die ein hohes Einkommen haben. Von
daher ist unser Konzept sozial gerecht und Ihres ist ungerecht.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 17 - Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend - in der Ausschussfassung. Es liegen
zwei Änderungsanträge der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch und Petra Pau vor, über die wir zuerst abstimmen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
15/2074? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
15/2075? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses abgelehnt.
Damit kommen wir zur Abstimmung über den Einzelplan 17 in der Ausschussfassung. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Einzelplan 17 ist mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I. 7 auf:
Einzelplan 10
Bundesministerium für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksachen 15/1910 und 15/1921 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Koppelin
Ernst Bahr ({0})
Franziska Eichstädt-Bohlig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, den Plenarsaal möglichst zügig zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Landwirtschaftshaushalt ist ein Schlag ins Gesicht aller Bäuerinnen und Bauern. Er enthält keine Signale, die den Landwirten eine Perspektive geben und
die die strukturellen Probleme der Landwirtschaft lösen.
Vielmehr enthält er Maßnahmen, die sich direkt massiv
und negativ auf die Einkommen der Landwirte auswirken.
({0})
Das was er enthält, sind Maßnahmen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte
massiv verschlechtern, und dies in einer Situation, in der
die Landwirtschaft alles andere als rosige Zeiten vor sich
hat.
Nach den uns vorliegenden Informationen über die
Einkommenssituation im Wirtschaftsjahr 2002/2003 haben wir in manchen Bereichen Einkommensrückgänge
von bis zu 40 Prozent zu verzeichnen; im Durchschnitt
liegen sie sogar bei 25 Prozent.
Ich weiß nicht, was in diesem Land los wäre, wenn
diese Einbrüche auch bei anderen Wirtschaftszweigen zu
verzeichnen wären. Wir müssen diese Tatsache zur
Kenntnis nehmen und unsere Landwirtschaftspolitik an
dieser Situation ausrichten.
Deutlich wird diese Situation auch, wenn wir uns die
Investitionsbereitschaft in der Landwirtschaft vor Augen halten. Sie wissen, dass das Prognos-Institut alle drei
Monate eine Befragung über die unternehmerische Situation in der Landwirtschaft durchführt. Noch nie waren
die Ergebnisse einer Befragung so miserabel wie gerade
jetzt. Ganze 9 Prozent der Befragten bezeichnen ihre
Situation als gut, 49 Prozent bezeichnen sie als ungünstig bis sehr ungünstig. Dass sich in einer solchen Situation keine Investitionsbereitschaft zeigt und auch keine
Investitionsfähigkeit vorhanden ist, liegt doch auf der
Hand.
Was sind die Gründe? Ein Grund liegt darin, dass Jahr
für Jahr im Bundeshaushalt die Leistungen für die Landwirte beschnitten werden. Ein weiterer Grund liegt darin,
dass Jahr für Jahr und auch zwischen den Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Wettbewerbssituation
der deutschen Landwirte durch einseitige nationale Entscheidungen verschlechtert wird.
({1})
Zum Dritten ist Fakt, dass auch das fehlende Vertrauen in die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik der
Bundesregierung ausschlaggebend ist für die fehlende
Investitionsfähigkeit und -bereitschaft der Landwirte.
({2})
Es wird häufig davon geredet, man müsse Subventionen in der Landwirtschaft abbauen, da gerade die Landwirtschaft so viele Subventionen bekommen würde.
({3})
Man sollte ganz deutlich sagen: In den Jahren 1998 bis
2002 ist die Hälfte des Subventionsabbaus auf Kosten
der Landwirtschaft gegangen. Man muss auch deutlich
sagen, dass beispielsweise die Agrarsozialleistungen
eben keine Subventionen sind; sie sind auch nicht im
Subventionsbericht der Bundesregierung enthalten.
Umso befremdlicher ist es, dass Sie gerade jetzt bei diesem Haushalt einschneidende Maßnahmen in der Krankenversicherung der Landwirte vorsehen.
({4})
Ich will daran erinnern, dass es damals bei der Schaffung der eigenständigen agrarsozialen Sicherung einmal Konsens in diesem Hause gab, dass nicht nur die demographische Entwicklung, sondern insbesondere der
Strukturwandel in der Landwirtschaft durch einen höheren Bundeszuschuss abgesichert wird. Die Absicherung
sollte auch dadurch erfolgen, dass der Bund die Kosten
für die Leistungen, die für die Altenteiler in der Krankenversicherung der Landwirte erbracht werden, zu
100 Prozent übernimmt.
Nun haben Sie in den vergangenen Jahren durch Ihre
Politik dazu beigetragen, dass sich der Strukturwandel in
der Landwirtschaft noch schneller vollzieht, als er sich
ohnehin vollzogen hätte. Gerade in der Zeit, in der Sie
eigentlich den Bundeszuschuss hätten erhöhen müssen,
kürzen Sie ihn. Sie rücken von der 100-prozentigen Deckung der Altenteilerkosten ab. Das Ergebnis sind massive Beitragssatzsteigerungen für die Landwirte.
Dies geschieht in einer Zeit, in der die Landwirte
durch das Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz die
gleichen Einschränkungen bei den Leistungen wie die
anderen gesetzlich Versicherten in Kauf nehmen müssen. Zum einen haben sie aber - anders als diese gesetzlich Versicherten - keine Wahlfreiheit. Das heißt, sie
können, wenn sie nicht freiwillig versichert sind, nicht
die Kasse wechseln. Zum anderen müssen sie neben diesen zusätzlichen Zuzahlungen auch noch höhere Beiträge in Kauf nehmen. Diese einseitige Belastung der
Landwirte lassen wir nicht durchgehen. Wir werden alles
daransetzen, dies im Vermittlungsverfahren zu ändern.
({5})
Nun wissen wir angesichts einer Reihe von Maßnahmen, dass vieles in der Landwirtschaft von Entscheidungen auf EU-Ebene abhängig ist. Gerade deshalb ist es
notwendig, dass wir einigermaßen vergleichbare Produktions- und Wettbewerbsbedingungen schaffen. Sie
unterlaufen dieses Ziel ständig nicht nur durch Maßnahmen im Bereich des Pflanzenschutzes und des Tierschutzes, sondern auch - neuerdings verstärkt - durch die
Agrardieselbesteuerung. In vielen anderen europäischen Ländern ist die Agrardieselsteuer weit niedriger
als bei uns. Sie liegt zum Teil nur bei 3 oder 5 Cent pro
Liter, in einigen Ländern sogar bei null Cent. In
Deutschland beträgt sie 25,6 Cent. Frau Minister, was
haben Sie bisher getan, um dieses Ungleichgewicht zu
ändern? Anstatt für eine Harmonisierung auf europäischer Ebene zu sorgen, machen Sie mit Ihren Haushaltsentwürfen und Ihren aktuellen Entscheidungen das Gegenteil dessen, was notwendig wäre. Sie wollen nämlich
die Agrardieselbesteuerung noch anheben, und zwar um
durchschnittlich 56 Prozent. Dies wirkt sich unmittelbar
auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte
aus. Sie müssen einmal die Bedingungen der deutschen
Landwirte mit denen in anderen Ländern vergleichen.
({6})
Die niedrigere Besteuerung von Agrardiesel ist im
Übrigen keine Subvention, sondern diese Regelung trägt
dem Umstand Rechnung, dass die landwirtschaftlichen
Fahrzeuge eben nicht überwiegend auf der Straße, sondern auf Feldern, Wiesen, Äckern, in den Wäldern und
auf dem Hof fahren.
Ähnliches gilt für die Umsatzsteuerpauschalierung,
die ebenfalls im Haushalt vorkommt. Man kann fast den
Eindruck haben, dass Sie alles tun, um die Landwirte zu
schikanieren, wo es nur geht. In Ihren Sonntagsreden tönen Sie großartig, dass Bürokratie abgebaut und der Verwaltungsaufwand reduziert werden soll. Aber im Alltag
machen Sie genau das Gegenteil.
({7})
Durch die Absenkung des Pauschalierungssatzes von
9 auf 7 Prozent und durch die Begrenzung auf die so genannten 13-A-Landwirte meinen Sie noch zusätzliche
Mehreinnahmen erreichen zu können. Meine Damen
und Herren, diese Mehreinnahmen werden sicherlich
nicht in den Kassen der Finanzminister landen, weil es
diese Mehreinnahmen nicht geben wird. Wenn dabei fiskalisch überhaupt kleine Summen herauskommen, werden sie vom zusätzlichen Verwaltungsaufwand aufgefressen, und zwar nicht nur bei den Steuerpflichtigen,
sondern vor allem bei den Finanzämtern.
({8})
In diesen Tagen - gestern und heute - wird immer davon gesprochen, man müsse sparen und den Konsolidierungskurs fortsetzen. Das ist schon erstaunlich. Denn
wo ist bei über 43 Milliarden Euro Neuverschuldung
überhaupt ein Konsolidierungskurs erkennbar? Von einem Konsolidierungskurs, der fortgesetzt werden soll,
kann überhaupt nicht die Rede sein.
Zum Sparen kann man Ja sagen, aber nicht so, wie Sie
das im Landwirtschaftsetat machen. Es kann nicht sein,
dass die Landwirtschaft immer wieder - auch in diesem
Jahr - einen überproportionalen Teil aller Sparmaßnahmen tragen muss. Es kann auch nicht sein, dass die Axt
dort angelegt wird, wo Sie sie jetzt anlegen, nämlich bei
den direkten Einkommen der Landwirte. Mit den Maßnahmen, die Sie geplant haben, legen Sie die Axt bei der
Wettbewerbsfähigkeit und der Investitionsfähigkeit der
Landwirte an, was wachstumspolitisch und wirtschaftspolitisch der völlig falsche Ansatz ist.
({9})
- Das sage ich Ihnen sofort. - Ansätze zum Streichen
gibt es bei so mancher rot-grünen Spielwiese, beispielsweise beim Bundesprogramm für Ökolandbau. Es ist
wirklich abenteuerlich, dass Millionen von Euro ausgegeben werden für derartige Programme, die rein ideologisch bedingt sind, dass aber gleichzeitig den Landwirten der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
({10})
Mit dem Haushalt, den Sie heute zur Abstimmung
vorlegen, beweisen Sie einmal mehr, dass Sie zu einem
echten Konsolidierungs- und Wachstumskurs nicht in
der Lage sind. Vielmehr machen Sie unter dem Deckmantel eines solchen Kurses einen für uns alle wichtigen
und vor allem notwendigen Wirtschaftszweig kaputt.
Dazu, meine Damen und Herren, werden wir unsere
Hand nicht reichen.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Bahr, SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Hasselfeldt, was
wir jetzt im Strukturwandel der Landwirtschaft aufzuarbeiten haben, ist das, was Sie uns hinterlassen haben.
({0})
Sie haben über Jahrzehnte den Strukturwandel in der
Landwirtschaft blockiert. In der Art und Weise, wie Sie
die Haushaltsberatungen als Fraktion und auch im
Ausschuss begleitet haben, ist deutlich zu sehen, wie Sie
die Dinge begleiten wollen, nämlich nicht konstruktiv.
Sie sind völlig destruktiv. Sie haben im Grunde genommen nur gezeigt, wie schlecht der Zustand Ihrer Fraktion
und Ihrer Partei ist.
({1})
Sie sehen nämlich keine Lösungen. Deswegen können
Sie sich an dieser Beratung gar nicht beteiligen.
({2})
Ich will die Einzelheiten gar nicht beschreiben; das
wurde heute schon zur Genüge getan. Ich finde aber die
Art und Weise, wie Sie an der Haushaltsberatung nicht
beteiligt waren, unwürdig, und zwar in vielerlei Hinsicht. Ich finde sie unter anderem deshalb unwürdig,
weil Sie den Mitarbeitern des Ausschussdienstes zugemutet haben, über 300 Anträge - nein, nicht Anträge,
sondern inhaltlose Papiere - in Nachtarbeit einzuarbeiten. Am nächsten Morgen ziehen Sie diese Anträge dann
zurück. Das ist den Mitarbeitern des Ausschussdienstes
gegenüber wirklich unwürdig. So sind Sie auch mit uns
umgegangen. Es ist unwürdig, mit uns als Ausschussmitgliedern, mit Ihren Kolleginnen und Kollegen, so umzugehen.
({3})
Es ist vor allen Dingen auch unwürdig den Menschen
gegenüber, für die wir hier zusammenarbeiten sollen.
Wenn Sie sich dieser Arbeit verweigern, so wie Sie es
getan haben, dann ist das wirklich nicht in Ordnung.
({4})
Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir jetzt wieder zur
sachlichen Arbeit im Haushaltsausschuss zurückkommen könnten. Die Berichterstattergespräche haben ausdrücklich gezeigt, dass wir sachlich arbeiten können; wir
waren in den Berichterstattergesprächen sehr erfolgreich. Wir haben in wenigen Beratungen in sehr konstruktiver Arbeit all das geschaffen, was jetzt hier zu
präsentieren ist. Insofern richte ich meinen herzlichen
Dank im Besonderen an Ihre Kollegin Frau Aigner, die,
soweit sie das aus ihrer Position konnte, ordentlich mitgearbeitet hat. Ich danke auch meinen anderen Kolleginnen und Kollegen und den Mitarbeitern des Ministeriums.
({5})
Ich gehe aus Zeitgründen nicht so sehr auf den Verbraucherschutz ein; denn die Verbraucherschutzpolitik
ist offenbar so gut, dass sie in den Berichterstattergesprächen nicht strittig war. Ich denke, hier hat die Regierung
gute Arbeit geleistet.
({6})
Was den Agrarhaushalt betrifft, so muss man sagen,
dass wir hier in der Tat bewusst Einsparungen vorgenommen haben, allerdings auch in dem Wissen, dass wir
den Landwirten an einigen Stellen einiges zumuten. Wir
denken aber, dass diese Zumutungen durchaus vertretbar
sind.
Die Agrarsozialpolitik ist ein Bereich, in dem wir
trotz Kürzungen schon bei einem prozentualen Anteil
von 73 Prozent des Einzelplans 10 sind. Wenn wir so
fortfahren würden, wären wir in wenigen Jahren bei
80 bis 90 Prozent. Das kann einfach nicht hingenommen
werden, unter anderem deshalb, weil wir eine gestaltende Politik machen wollen, die man mit den restlichen
nicht einmal mehr 30 Prozent aber nicht machen kann.
Wir sind uns bewusst, dass wir eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft brauchen,
({7})
die auch im ländlichen Raum der eigentliche Motor für
die wirtschaftliche Entwicklung und auch für den kulturellen Fortschritt ist. Das ist uns sehr bewusst. Deswegen
brauchen die Landwirte eine Situation, in der sie den
ländlichen Raum attraktiv gestalten können. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Das tun wir auch.
({8})
Nach intensiver Diskussion haben wir beispielsweise
im Bereich der Agrarsozialausgaben in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung eine Lösung entwickelt, die die landwirtschaftlichen Unternehmen nicht
überproportional belastet. Im Haushaltsbegleitgesetz ist
eine Absenkung der Defizitdeckung bei den Altenteilern
auf 95 Prozent im nächsten Jahr, also im Jahr 2004, vorgesehen, ab 2005 dann auf 93 Prozent. Hinzu kommt ein
einmaliger Vermögensabbau in Höhe von 120 Millionen
Euro. Wegen der Auswirkungen der Gesundheitsreform
steigt die Mehrbelastung für die in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung Versicherten nach diesem
Konzept bundesweit um durchschnittlich 4,8 Prozent.
Ich denke, diese Regelungen sind sehr moderat, vor
allen Dingen wenn man berücksichtigt, dass von Ihnen
anders darüber diskutiert worden ist. Die maximale Belastung liegt bei 9,8 Prozent in Rheinland-Pfalz,
({9})
Ernst Bahr ({10})
die maximale Entlastung bei minus 6,8 Prozent in Sachsen. Dem ist hinzuzufügen, dass die Beiträge jetzt zwar
steigen, dass sie in den nächsten Jahren aber stabil bleiben bzw. sogar leicht sinken werden. Insofern denke ich,
dass das Konzept, das wir entwickelt haben, durchaus
zumutbar ist.
({11})
Im Grunde genommen konnten wir damit die Maßnahmen, die im ursprünglichen Haushaltsbegleitgesetz vorgesehen waren, sogar milder gestalten. Auch das ist ein
Erfolg unserer parlamentarischen Arbeit. Ich freue mich,
dass dies gelungen ist.
Dieser Kompromiss hat allerdings ein Problem aufgeworfen. Wir mussten nämlich gegenüber dem Regierungsentwurf Mehrausgaben in Höhe von 26 Millionen Euro feststellen. Dieser Betrag musste in diesem
Einzelplan eingespart werden. Wir haben das geschafft,
indem wir die Mittel für die tiergerechten Haltungsverfahren, für Baumaßnahmen und für die Gemeinschaftsaufgabe moderat gesenkt haben.
({12})
- Nein, auf diesen Punkt komme ich gleich zurück.
Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ haben wir gegenüber dem
Regierungsentwurf um etwa 6 Millionen Euro gekürzt.
Wir meinen, das ist eine Größenordnung, die noch zu
vertreten ist, obwohl wir sehr wohl wissen, wie wichtig
diese Gemeinschaftsaufgabe für die ländlichen Räume
ist. Deshalb hat es mich umso mehr gewundert, dass sowohl die FDP-Fraktion als auch die CDU/CSU-Fraktion
die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabe sogar um
100 Millionen Euro kürzen wollte.
({13})
Derzeit haben wir einen Betrag von 735 Millionen Euro eingespart. Aber im Regierungsentwurf sind
schon 720 Millionen Euro aus den Vorjahren gebunden,
und zwar durch Kassenmittel für den Küstenschutz,
durch Anmeldungen der Länder bei der Ausgleichszulage und durch die Kofinanzierung des Bundes im Rahmen der Modulation.
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Carstensen?
Ja, bitte.
Herr Kollege Bahr, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass die Zustimmung zu der im Antrag der FDP
enthaltenen Kürzung ein Fehler war, den ich auf meine
Kappe genommen habe, dass es sich dabei also nicht um
eine Zustimmung durch die CDU/CSU-Fraktion gehandelt hat, sondern um einen Fehler, den ich, weil ich nicht
aufgepasst habe, im Ausschuss gemacht habe? Das habe
ich zu Protokoll gegeben.
({0})
Sehr geehrter Kollege Carstensen, das nehme ich gern
zur Kenntnis. Ich würde es auch begrüßen, wenn es so
war, wie Sie es jetzt sagen. Nur, das zeigt deutlich, wie
leichtfertig Sie mit Ihrer Arbeit und mit Ihrer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit umgehen. Das bestätigt das, was ich eingangs gesagt habe.
({0})
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Nein, ich würde in meinen Äußerungen gerne fortfahren. Die Zeit ist schon fortgeschritten. Andere Kollegen
wollen auch noch reden.
Es stehen noch 720 Millionen Euro an gebundenen
Mitteln und 15 Millionen Euro an freien Mitteln zur Verfügung. Diese Mittel sind von großer Bedeutung für den
ländlichen Raum. Sie müssen wissen, dass jeder Euro
eine viel höhere Wirkung hat und demnach auch jede
Kürzung. Aus 1 Euro werden im Rahmen dieser Gemeinschaftsaufgabe in den alten Bundesländern 3,33 Euro
und in den neuen Bundesländern 6,67 Euro; die Vervielfachung ist hier sogar noch beachtlicher. Der Verantwortung, die sich hieraus ergibt, müssen wir uns bewusst
sein.
Trotzdem müssen wir die Mischfinanzierung und die
Kompetenzverschränkung der Gemeinschaftsaufgabe
zwischen Bund und Ländern noch einmal überdenken.
Es wird meiner Meinung nach Aufgabe der Föderalismuskommission sein, in dieser Frage Klarheit zu schaffen und Möglichkeiten zu eröffnen, die die Finanzierung
der Entwicklung der ländlichen Räume weiterhin sichern. Eine Reduzierung oder gar eine ersatzlose Streichung ist nicht hinzunehmen. Wir werden uns auch nicht
damit abfinden, wenn an der einen oder anderen Stelle
ein entsprechender Versuch unternommen werden sollte.
Die Welthandelsorganisation hat gezeigt, dass der
Markt eines jeden Landes von vielen anderen Ländern
bedrängt wird. Das wissen wir. Deshalb müssen wir unsere Landwirte in die Situation versetzen, dass sie im
Wettbewerb mithalten können. Wir sind - auch das wissen wir sehr wohl - Exportnation bei Agrarprodukten.
Insofern ist es sehr wichtig, dass wir unsere Landwirte
unterstützen und deren Wettbewerbsfähigkeit sichern.
Es stellt sich für uns aber auch eine Aufgabe in einem
anderen Bereich, wodurch der Landwirtschaft neue Zukunftsmöglichkeiten eröffnet werden könnten. Neben
der Produktion hochwertiger Nahrungsmittel und der
Landschaftspflege wollen wir dafür sorgen, dass die
Landwirte durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe
Ernst Bahr ({0})
die Möglichkeit haben, ihre Flächen zu nutzen und
gleichzeitig zu produzieren. Das halten wir für sehr
wichtig. Dadurch könnten die Landwirte zum Beispiel
Energien erzeugen und nutzen, die sie selber bewirtschaften. Das ist eine weitere Möglichkeit, eine Zukunft
für die Landwirtschaft zu eröffnen. Deswegen werden
wir diesen Bereich ausbauen.
({1})
In meinem Heimatland Brandenburg gibt es zurzeit
1 500 Anlagen von unterschiedlicher Größe, in denen
Biomasse energetisch genutzt wird. Die Größenordnung
beträgt etwa 400 Megawatt. Ich denke, das ist eine beachtliche Leistung. Damit zeigt sich, dass in diesem Bereich noch Potenziale liegen, die man ausbauen kann.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, diese Technik in den
nächsten Jahren durch gesetzgeberische Maßnahmen
und durch Meinungsbildungsprozesse so zu befördern,
dass die Landwirte darin eine Chance sehen können.
({2})
Wir beschreiten, wie Sie sehen, neue Wege und rücken davon ab, alte Konzepte zu verwenden. Subventionen und Protektionismus sind für die Landwirtschaft
kein Zukunftsweg. Das ist ein Weg in die Vergangenheit,
den wir nicht gehen wollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Goldmann,
FDP-Fraktion.
({0})
Du oller Fischkopp, wat sägst du doa?
({0})
De meent, ick wär’n Hühnerbaron. Dat is aber nich so.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eigentlich könnte das eine richtig gute Agrarwoche sein, wenn man sich ansieht, wie viele Tagesordnungspunkte zum Bereich Agrar auch im Bundesrat auf
der Tagesordnung stehen. Angesichts des schlechten
Haushaltes ist es aber keine gute Agrarwoche.
Liebe Frau Künast, Sie betreiben eine schlechte
Agrarpolitik. Mit Agrarwende hat das wirklich nichts
mehr zu tun. Sie führt in Deutschland schlicht und ergreifend zu einem Agrarende für viele, viele Bauern und
für weite Teile der Lebensmittelwirtschaft.
({1})
Sie machen darüber hinaus auch keine gute Verbraucherschutzpolitik. Ich will versuchen, Ihnen das in meiner
Rede klar zu machen.
({2})
- Nicht oha. - Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass
der Bundeshaushalt, mit dem wir uns beschäftigen, verfassungswidrig ist.
({3})
Wenn man Ihnen das sagt, zucken Sie noch nicht einmal
zusammen, sondern nehmen das einfach so hin. Sie denken sich: Pech gehabt, es ist eben so. Warum denn auch
nicht? Was macht es aus, wenn der Haushalt verfassungswidrig ist? Wer stellt denn noch irgendwelche Ansprüche an uns? Wir machen doch sowieso, was wir wollen, ob auf Brüsseler Ebene oder auf nationaler Ebene.
Es kommt bei unserer Politik eh nicht viel
herum. - Leider gehen aber, wenn man so denkt, jede
Menge Arbeitsplätze verloren. Sie sind doch auch betroffen, dass die Firma Nordmilch ein Drittel ihrer Arbeitsplätze abbaut. Herr Kollege Bahr, ich hoffe, Sie sind
auch betroffen, dass wir es in diesen Bereichen mit einem erschreckenden Investitionseinbruch zu tun haben
und dass wir ständig Exportmärkte für unsere Agrarprodukte verlieren, weil wir national überziehen und die
Produktion damit aus Deutschland vertreiben.
Das kann doch nicht die Politik sein, die Sie für den
ländlichen Raum, die Bauern und die Hochleistungsindustrie - eine solche stellt die Ernährungswirtschaft
dar - wirklich wollen. Diese Hochleistungsindustrie haben wir über Jahrzehnte gemeinsam getragen. Sie hat
dazu geführt, dass „Made in Germany“ gerade im
Agrar- und Ernährungsbereich ein absolutes Edeletikett war. Das wird von Ihnen innerhalb kurzer Zeit zerstört. Wie gesagt: Das hat überhaupt nichts mehr mit einer Agrarwende zu tun. An sehr vielen Stellen im
ländlichen Raum unserer Gesellschaft wird dadurch das
Ende eingeleitet. Die Lichter werden schlicht und ergreifend ausgehen. Das nehmen wir nicht hin.
({4})
Herr Kollege Bahr, mit einigen Zumutungen hat das
überhaupt nichts mehr zu tun. Mit Ihrer Kritik an dem,
was Herr Carstensen getan hat, sind Sie schnell bei der
Hand. Erkundigen Sie sich einmal nach dem, was über
die Europäische Union zum Beispiel auf die Landwirtschaft zukommt. Dort wurden massive Einschränkungen
bei den Finanzmitteln auf den Weg gebracht. Erkundigen
Sie sich einfach einmal, wie die Einkommenssituation
der Bauern zum Beispiel in der Milchwirtschaft aussieht
und wie sie sich in der letzten Zeit verändert hat. Mit einigen Zumutungen ist es hier nicht getan. In meinen Augen haben wir es hier schlicht und ergreifend mit einer
auch durch Ihre Arbeit hervorgerufenen völlig falschen
Weichenstellung zu tun.
({5})
Die FDP hat gewisse Grundvorstellungen, die mit Ihrem Haushalt natürlich nicht in Einklang zu bringen
sind; das erwarten wir auch nicht. Wir erwarten nicht,
dass Sie sich für unternehmerische Landwirtschaft und
zukunftsorientierte Technologien, wie die grüne Gentechnik, einsetzen.
({6})
Wir erwarten aber, dass Sie mit bestimmten Dingen einigermaßen fair umgehen.
({7})
Ihr Haushalt enthält eine Sachverständigenposition,
eine Personalposition und eine Position für die Mittelbereitstellung im Zusammenhang mit der ökologischen
Orientierung, die nicht zum Tragen kommen. Der Bundesrechnungshof hat Ihnen diese Positionen um die Ohren gehauen. Frau Künast, ich muss wirklich sagen: Ich
bin von Ihnen enttäuscht, dass Sie das auf diesem Weg
tun. Das hat nichts mit einer fachgerechten Politik zu
tun. Das ist ein ideologisch bestimmter Umbau in eine
Richtung, die in die Sackgasse führt. Das ist schändlich
für unser Land.
({8})
Herr Bahr, Sie erkundigen sich immer genau danach,
was wir im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Küstenschutz“ vorhaben. Ich will es Ihnen sagen: Es ist richtig, dass wir in diesem Bereich um 100 Millionen Euro
kürzen. Gleichzeitig stellen wir aber einen Antrag, aufgrund dessen die nationale Modulation beendet werden
soll. Wenn Sie die nationale Modulation beenden würden, dann würden 96 Millionen Euro direkt wieder bei
den Bauern ankommen und nicht durch irre und an der
Sache vorbeigehende Verschleuderungs- und bürokratische Systeme aufgezehrt werden.
({9})
- Du nennst den Haushalt in Niedersachsen. Lieber Kollege Ortel, du kennst ja die Geschichten vor Ort. Ich
kann nur sagen: In keinem einzigen Bereich in Niedersachsen gibt es ein so großes Aufatmen wie im Bereich
der Agrarwirtschaft.
({10})
Gott sei Dank gibt es im Bereich der Agrarwirtschaft in
Niedersachsen wieder Perspektiven. Du weißt ganz genau, worüber wir reden. Du hast vor zwei Tagen auf dem
Gut Altona sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass
Niedersachsen im Agrarbereich auf dem besten Weg ist.
Wenn du noch mehr dazu wissen willst, dann bitte ich
dich, eine Zwischenfrage dazu zu stellen.
({11})
- Warst du nicht auf dem Gut Altona? Du hast in der
Zeitung gestanden.
Liebe Freunde, ich komme zum Haushaltsbegleitgesetz und nenne den Agrardiesel und die Umsatzsteuerpauschalierung. Schauen Sie sich das einmal genau an
und lassen Sie sich das verklickern. Dann werden Sie dahinter kommen, dass die Abschaffung der Umsatzsteuerpauschalierung schlicht und ergreifend dummes Zeug
ist.
({12})
Das ist der einzige Bereich, in dem es noch einfache
steuerrechtliche Bedingungen gibt. Wenn Sie das ändern, wird es zu Mindereinnnahmen des Staates kommen. Das haben auch die Vertreter der Agrarwirtschaft
- und zwar nicht die Lobbyisten, sondern die Durchblicker aus dem Bereich des Landvolkes - all denen erklärt,
die es hören wollten.
Es ist überhaupt keine Frage, dass wir im Bereich der
landwirtschaftlichen Sozialversicherungen vor Herausforderungen stehen. Herr Kollege Bahr, wenn Sie die
Strukturen im ländlichen Raum ein Stück weit erhalten
wollen, dann dürfen Sie gerade in diesem Bereich keine
Eingriffe vornehmen; denn damit würden Sie die Kleinen treffen, die dafür sorgen, dass die ländliche Struktur
im ländlichen Raum noch einigermaßen erhalten wird.
Die Großbetriebe im Osten, in der Region, in der Sie geboren wurden und in der Sie leben, haben damit keine
Last. Die Veränderungen, die Sie in diesen Bereichen auf
den Weg gebracht haben, treffen gerade die Betriebe, die
sich um eine gute fachliche Praxis im Einklang mit den
Menschen, den Tieren und der Natur insgesamt bemühen.
({13})
Wir müssen natürlich aufpassen, liebe Frau
Hasselfeldt, dass wir uns dabei nicht ins Knie schießen,
wenn wir alles ablehnen und das Koch/SteinbrückKonzept aufgreifen.
({14})
Bei Agrardiesel zum Beispiel bin ich mit den Koch/
Steinbrück-Positionen nicht einverstanden. Ich denke,
dass wir uns darin einig sind und dass wir gemeinsam
dafür kämpfen, zusätzliche Belastungen für die Agrarwirtschaft abzuwehren.
Nationale Umsetzung der EU-Agrarreform. Für uns
ist völlig klar: Wir wollen auf die Dauer die Flächenprämien. Wir sehen ein, dass es eine Übergangszeit mit der
Betriebsprämie geben muss. Unsere Fürsorgehaltung gegenüber den Milchbauern und den Tierhaltern ist genau
die richtige. Lassen Sie uns am besten schon in dieser
Woche gemeinsam eine Lösung finden, die uns in diesem Bereich ein bisschen mehr Luft verschafft.
Nun komme ich zu einem meiner Lieblingsthemen,
dem Tierschutz. Ich sage Ihnen klipp und klar: Die Initiativen, die von einigen Ländern ergriffen worden sind,
habe ich zumindest zu diesem Zeitpunkt für nicht sehr
klug gehalten. Ich sage ebenso klar: Der alte Käfig soll
so schnell wie irgend möglich sterben.
({15})
Der alte Käfig bietet keine artgerechte Haltungsform.
Frau Künast, das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist, dass Sie Käfig mit Käfig gleichsetzen. Das läuft
wohl nach dem Motto: Wohnzimmer ist gleich Wohnzimmer. Ich will doch hoffen, dass sich Ihr Wohnzimmer
von meinem unterscheidet.
({16})
Ich kenne Ihr Wohnzimmer nicht, aber ein Berliner
Wohnzimmer unterscheidet sich sicher von einem
Wohnzimmer im ländlichen Raum. Ich schaue von meinem Wohnzimmer aus ins Grüne und auf weidende
Kühe.
({17})
Das werden Sie so wahrscheinlich nicht haben. Vielleicht bin ich deswegen dem Lande stärker als Sie verbunden.
Frau Künast, zurück zur Sache. Es reicht nicht, bei
Maischberger mit irgendwelchen Papierchen aufzuwarten. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diese Simpelpolitik ist
Ihrer unwürdig. Lassen Sie uns doch auf Folgendes einigen: Die alten Käfige sind tot. Ich rede von einem ausgestalteten Käfig, der aber noch Käfig heißt.
({18})
Mein Goldhamster hat auch in einem Käfig gelebt. Aber
dieser unterschied sich sehr deutlich von einem Legehennenhaltungskäfig und anderen Käfigen. Hören wir
auf, zu sagen: Käfig ist gleich Käfig. Vielmehr muss
man genau hinschauen.
Wir müssen uns gemeinsam fragen, ob nicht der ausgestaltete Käfig, der einen Legeplatz und Einstreu hat,
sodass die Tiere scharren und sich plustern können, wie
Sie gestern Abend so schön gesagt haben, und wo die
Tiere eine Stange finden, auf der sie sich in der Nacht
aufständern können, ein möglicher Weg ist. Lassen Sie
uns diesen Weg gehen. Hören Sie endlich damit auf, die
Agrarwirtschaft und in diesem Fall die Geflügelwirtschaft damit zu diskriminieren, dass Sie sie als Tierschutzfeinde bezeichnen, weil sie an dem alten Käfig
festhalten. Das ist nicht der Fall. Es geht hier einzig und
allein darum, einen ausgestalteten Käfig als Möglichkeit
zu diskutieren, der meiner Meinung nach mit einem
ganzheitlichen Ansatz unter ökologischen, ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten eine sehr gute Lösung wäre.
Machen Sie es sich in diesem Bereich nicht zu leicht.
Auch in anderen Bereichen des Tierschutzes müssen wir
über diese Dinge miteinander ins Gespräch kommen.
Frau Künast, es macht keinen Sinn, ein Mittel gegen
Schwarzkopfkrankheit vom Markt zu nehmen, während
gleichzeitig aus Gründen des Tierschutzes 75 Prozent aller Puten, die gehalten werden, leiden müssen. Diese Politik, die Sie betreiben, ist unseriös. Ich denke, das haben
Sie nicht nötig. Wir sind politisch in vielen Punkten anderer Meinung, aber wir sollten auch die Gemeinsamkeiten nicht vernachlässigen.
Mein Fazit: Das ist ein wirklich erbärmlicher Haushalt.
({19})
Dieser Haushalt ist gesetzeswidrig. Ihre Agrarpolitik
führt in die Sackgasse. Ich kann Sie nur heftig bitten:
Nehmen Sie in diesen Punkten Vernunft an und lassen
Sie uns die Weichen für eine unternehmerische zukunftsfähige Landwirtschaft stellen.
Herzlichen Dank.
({20})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Goldmann, abgesehen davon, dass Sie
das Bild eines Hühnerkäfigs mit Sofa und Ohrensessel
gezeichnet haben, haben Sie sehr deutlich gesagt: Hochleistungsagrarindustrie ist und bleibt das Leitbild. Wir
wollen die Zeit um 30 Jahre zurückdrehen. ({0})
Der Rede von Frau Kollegin Hasselfeldt habe ich entnommen, dass es eigentlich keine Veränderungen geben
solle. Bei beiden - leider auch bei der FDP - habe ich
sehr deutlich herausgehört, dass die alte Verteilungspolitik insbesondere im Agrarsektor aufrechterhalten werden
soll.
({1})
Laut Frau Hasselfeldt soll alles so sein, wie es vor zehn
oder zwanzig Jahren war. Herr Goldmann sagte, dass
„zusätzliche Belastungen für die Agrarwirtschaft abzuwehren“ sind.
({2})
Das passt in Zeiten so harter Umstrukturierungen
wirklich nicht in die Landschaft. Man muss irgendwann
einmal sagen, dass auch der Agrarbereich etwas beitragen muss.
In dieser Woche hören wir von beiden Parteien: „Ihr
spart nicht genug! Ihr haltet die Maastricht-Kriterien
nicht ein! Ihr seid nicht verfassungsgemäß!“
({3})
Dabei achten wir sehr genau darauf, ab welchem Punkt
das wirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist. Unser
Haushalt ist insgesamt sehr wohl verfassungsgemäß. Die
Verfassung lässt nämlich einen Spielraum offen, wenn
man nachweist, was zur Stärkung der Wirtschaft vorgesehen ist. Sehen Sie das bitte ein.
({4})
- Nein, Kollege Koppelin, ich möchte noch eine Weile
meinen Beitrag leisten. Vielleicht kommen wir später
noch einmal zusammen.
({5})
- Wir kennen uns gut genug. Wir kennen unsere Sprüche.
Die Aussagen der Fachpolitiker und Fachpolitikerinnen stehen in klarem Widerspruch zu den Klageliedern Ihrer Haushaltspolitiker und Ihres Kollegen Merz.
Ihre Haushaltspolitiker sagen: „Sparen, sparen, sparen!
Wo sind die 6 Milliarden Euro für Maastricht?“ Und was
sagen Sie, die Fachpolitiker, hier?
({6})
Diesen Widerspruch müssen Sie endlich auflösen.
({7})
Ich sage das in aller Deutlichkeit, weil es nicht an uns
ist, diesen Widerspruch aufzulösen.
Wir stellen uns dieser Aufgabe. Wir haben sehr hart,
aber kollegial um die abverlangten Zumutungen und
Verzichtsleistungen der Landwirte gerungen - wir wissen, wie hart diese sind -, und zwar vor dem Hintergrund
der haushaltspolitischen Gegebenheiten einerseits und
der Wünsche der Fachpolitiker andererseits. Im gesamtstaatlichen Interesse und der Haushaltskonsolidierung
müssen wir ihnen diese aber abverlangen. Es ist wichtig,
achtsam und sorgfältig mit diesem Umstand umzugehen.
Die Zumutbarkeitsgrenze muss im Einzelnen sehr genau austariert werden.
({8})
In der Agrarsozialpolitik haben wir das gemacht.
Der Kollege Bahr hat das im Wesentlichen eben schon
sehr deutlich geschildert. Den Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes haben wir modifiziert. Im Interesse der
Landwirte haben wir die Sparleistung etwas abgemildert.
({9})
Bei der landwirtschaftlichen Krankenversicherung beträgt der Zuschuss 95 Prozent. Ab 2005 ist ein Zuschuss
von 93 Prozent vorgesehen.
({10})
Wir haben das Gesetz also so behutsam wie möglich,
aber auch so verantwortungsvoll wie nötig ausgestaltet.
Ich denke, das ist der richtige Weg. Wir müssen den
Agrariern zumuten, dass sie die Einsparvolumina bei der
Rentenanpassung ebenfalls leisten. Das machen wir
nicht aus Spaß und Begeisterung, sondern aus Einsicht
in die Notwendigkeit.
Ich finde es akzeptabel - auch wenn das nicht leicht
ist -, dass wir die Steuervergünstigungen für den Agrardiesel um 157 Millionen Euro abschmelzen.
({11})
Wir wissen sehr wohl um die europapolitische Asymmetrie in diesem Bereich. Wir wissen, dass das für die Konkurrenz schwierig ist. Ich sage aber auch deutlich: Wo
finden sich denn im Konzept von Herrn Merz und im
Kirchhof-Gutachten die Subventionen für Agrardiesel?
Wenn Sie sein Konzept ernst nehmen und begeistert sagen, dass es dann erhebliche Steuersenkungen gibt - wir
sehen sie noch lange nicht, weil wir noch hohe Staatsschulden abtragen müssen -,
({12})
dann müssen Sie ehrlich mit dem Thema umgehen. Ihre
Fachpolitiker können nicht alles fordern und Ihre Haushaltspolitiker alles wieder einkassieren. So einfach können Sie sich das in Zukunft nicht mehr machen. Diese
Zeiten sind schlicht vorbei.
({13})
Uns ist es gelungen - das sage ich ganz deutlich -, die
Agrarwende teilweise herbeizuführen. Wir haben die
Ansprüche, die wir mit der Agrarwende verbinden - im
Etat haben wir sie teilweise bescheidener formuliert gesichert. Wir haben den Landwirten Mut gemacht, sich
für gesunde und naturverträgliche Nahrungsmittel sowie
für artgerechte Tierhaltung verstärkt zu engagieren und
selbst darauf umzustellen. Das halten wir nach wie vor
für ein richtiges Ziel. Ich finde das besser, als zu meinen,
mit Chemikalien, Pestiziden und der alten Legehennenhaltung zu einer zukunftsfähigen Landwirtschaft und einer gesunden Ernährung kommen zu können.
({14})
So ist das. Es würde Ihnen gut tun, wenn Sie das einmal
lernen würden.
({15})
Insofern bin ich stolz, dass wir den ökologischen Landbau haben, auch wenn er gerade von der FDP immer
wieder infrage gestellt wurde. Auch Kollege
Austermann und Kollegin Hasselfeldt haben gesagt, das
sei alles ideologischer Kram. Das ist es nicht. Das sind
alles Maßnahmen zur schrittweisen Umstellung.
({16})
Wir wissen sehr wohl, dass die Landwirte den ökologischen Landbau und die artgerechte Tierhaltung nicht in
dem Maße annehmen, das wir uns gewünscht haben.
Aber irgendwann, wie auch immer das in dieser Woche
ausgeht,
({17})
wird die Legehennenverordnung geändert. Wir werden
hart daran arbeiten, dass sie kommt. Entsprechende Regelungen werden auch für die Schweinehaltung getroffen. Dann werden sich die Landwirte ärgern, dass sie die
Programme, die wir ihnen anbieten, nicht in Anspruch
nehmen. Dann sollen sie aber auch nicht jammern, dass
sie nicht konkurrenzfähig wirtschaften können. Daher
sollten Sie helfen, dem Berufsstand Mut zu machen, statt
immer wieder die Illusion zu nähren, er könnte zurück
zu der Situation der 70er- und 80er-Jahre. Das ist ein
großer Irrtum. Das wollen die Landwirte teilweise schon
längst selbst nicht mehr.
({18})
Der nächste Punkt betrifft die Gemeinschaftsaufgabe. Da haben wir uns genau anders verhalten als die
FDP. Wir sind der Meinung, dass sie im Wesentlichen
gehalten werden soll, sie aber auch zunehmend einen
Beitrag zur ländlichen Entwicklung leisten soll. Zum
Bereich der nachwachsenden Rohstoffe hat Kollege
Bahr das Wichtigste gesagt. Das ist wichtig, um dem
Agrarwirt schrittweise ein zweites Standbein als Energiewirt zu geben.
Als Letztes möchte ich eines erwähnen. Es ist uns
auch gelungen, auf der Grundlage des Konzepts, das
Frau Wedel seinerzeit für den Verbraucherschutz ausgearbeitet hat,
({19})
das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und das Bundesinstitut für Risikobewertung
personell schrittweise auszubauen, so wie es konzeptionell vorgesehen ist. Das halte ich für sehr wichtig. Ich
sage aber gleich eines dazu: Überwiegend wird das
durch Umstrukturierungen und eigene Mittel, die im Etat
aufgebracht werden, geleistet. Das ist auch für andere
Ressorts vorbildlich.
({20})
Ein letzter Satz. Ich würde mir wünschen, dass auch
die Opposition endlich Spaß an gesunder Ernährung bekommt und aufhört, sich nach der alten Landwirtschaft
zu sehnen. Im Übrigen danke ich allen Beteiligten an
dieser Stelle, auch der Opposition, dafür, dass bei der Erarbeitung dieses wirklich nicht einfachen Haushalts sehr
konstruktiv zusammengearbeitet worden ist. Insofern an
alle Kolleginnen und Kollegen herzlichen Dank. Auch
das Ministerium war sehr engagiert. Wir hatten sehr
viele Termine und die Gespräche waren sehr hilfreich,
um eine ausgewogene Mischung zwischen Sparnotwendigkeiten und Verträglichkeiten zu erreichen.
Danke schön.
({21})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Koppelin.
Frau Kollegin, ich glaube, es wäre für Landwirte,
wenn sie uns zugehört hätten, bitter gewesen - hoffentlich hören sie uns zu so später Stunde nicht zu -, zu sehen, dass Sie kaum Ahnung von der Landwirtschaft und
kein Gefühl für die Landwirte haben.
({0})
Ich habe mich gemeldet, weil Sie gesagt haben, es
müsse in diesem Etat gespart werden, aber wir seien
nicht dazu bereit und wollten alles beim Alten lassen.
Ich greife einen Punkt heraus, den Sie nicht erwähnt haben: Das ist das Programm für den Ökolandbau.
({1})
Ich bin Hauptberichterstatter für diesen Etat. Ich habe
darum gebeten, dass der Bundesrechnungshof das einmal überprüft. Inzwischen gibt es einen Zwischenbericht. Der Bundesrechnungshof - das wissen Sie - stellt
fest, dass die Mittel im Programm Ökolandbau - in dem
Etat sind 20 Millionen Euro - überwiegend für Öffentlichkeitsarbeit vorgesehen sind und überhaupt nicht dort
hinein gehören. Das ist Ihre Politik. Sie haben unter dem
Stichwort „Ökolandbau“ eine reine Propagandamaschine aufgebaut. Für Landwirte, die im Ökolandbau tätig werden wollen, ist kein Geld übrig. Sie machen reine
Propagandaveranstaltungen.
Ich sage jetzt etwas bösartig: Ich möchte nicht wissen,
wie viele Wälder Sie abholzen müssen, damit das Papier
hergestellt werden kann, auf dem Ihr Propagandamaterial geschrieben wird.
({2})
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, bitte.
Herr Kollege Koppelin, darüber haben wir in den Berichterstattergesprächen und im Ausschuss schon mehrfach diskutiert. Zunächst einmal ist deutlich erkennbar,
dass es sich nicht nur um eine Werbeaktion handelt, sondern um ein Ökolandbaukonzept, zu dem allerdings auch
die Information und beispielsweise auch pädagogische
Konzepte gehören, um Kinder, Jugendliche und Privathaushalte an eine gesunde und naturverträgliche Ernährung heranzuführen. Insofern umfasst es alle drei BeFranziska Eichstädt-Bohlig
standteile: Information, Pädagogik und konkrete Hilfe
für den Ökolandbau. Dazu stehen wir auch.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte ich auf unser Verhalten im Haushaltsausschuss eingehen. Sie haben mir bestätigt - das kann ich auch für die anderen Kolleginnen und
Kollegen in den Berichterstattergesprächen feststellen -,
dass wir uns sehr wohl konstruktiv an der Debatte beteiligt haben. Das einzige, auf das wir verzichtet haben, war,
Anträge in Mark und Pfennig zu stellen, weil wir grundsätzlich der Meinung sind, dass der vorgelegte Haushaltsentwurf eines Haushaltsausschusses unwürdig ist.
({0})
Sie wissen genau, dass das, was Sie vorgelegt haben,
weder verfassungskonform ist noch den Defizitkriterien
entspricht und dass darin Risiken enthalten sind,
(Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Womit haben wir diese Opposition verdient?
die wir auch schon für den Haushalt 2003 prognostiziert
haben, und zwar mit einem Umfang von 20 Milliarden
Euro.
Der Haushalt, der voraussichtlich diese Woche verabschiedet wird, ist nach wie vor nicht das Papier wert, auf
dem er gedruckt wurde.
({1})
Das war der Grund, warum wir uns nicht beteiligt haben. Hätten wir das getan, dann hätten wir inhaltlich sicherlich nahe bei der FDP gestanden. Ich werde das
noch in einzelnen Punkten darlegen. Wir hätten sicherlich sehr viele Änderungsanträge zur Absenkung gestellt, aber wir hätten andere Schwerpunkte gesetzt. Darin bestehen die Unterschiede zwischen Ihnen und uns.
({2})
- Sie können unbesorgt sein; ich kann Ihnen das relativ
deutlich belegen.
Heute sind schon einige Punkte angesprochen worden, insbesondere solche Programme wie der Ökolandbau. Liebe Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, ich
würde gerne einen Titel sehen, der einen Zuschuss für
Landwirte vorsieht. Ich habe den Haushalt genau geprüft: Es ist kein einziger entsprechender Titel darin enthalten.
({3})
Was darin enthalten ist, ist - Frau Präsidentin, erlauben Sie, dass ich das vorzeige? - die Spielanleitung zu
„Kater Krümels Bauernhof“
({4})
mit dem schönen Konterfei der Frau Ministerin. Eine
Spielanleitung als Öffentlichkeitsarbeit!
({5})
Wenn Sie sich in diesem Bereich einmal umgesehen
hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass hinsichtlich der
Information von Kindern und Jugendlichen - im Vorschulalter wie auch in den Schulen - die Landfrauen eine
sehr wertvolle Arbeit leisten. Fragen Sie einmal meine
Kollegin Marlene Ortler, die den Landfrauen angehört!
({6})
Ich kann Ihnen den Inhalt der Broschüre im Einzelnen
vortragen: Woher kommt unser heimisches Gemüse?
Wie bereiten wir Müsli aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der Region selber zu? Wie stellen wir Zutaten
für ein gesundes Frühstück her und so weiter und so fort.
Zu all diesen Themen gibt es bereits Informationen. Dafür muss keine umfangreiche Informationsbroschüre erstellt werden, die 1,5 Millionen Euro kostet.
({7})
Ich habe noch etwas Schönes mitgebracht: Postkarten
mit Aufschriften wie „Amore Bio“, „Kein Schwein ruft
mich an“,
({8})
„Komm, wir verkrümeln uns“ und „Mir ist heute danach“. So sieht die Information durch das Bundeslandwirtschaftsministerium aus.
Ich bin sehr daran interessiert, von Ihnen zu erfahren,
welchen tieferen Sinn diese Aktion hat, für die das Geld
zum Fenster herausgeworfen wird.
({9})
Wir hätten sicherlich - ähnlich wie die FDP - beantragt,
20 Millionen Euro für dieses Programm zu streichen.
Damit hätten wir schon einen entsprechenden Sparbeitrag erzielt.
Als Nächstes komme ich zu dem abenteuerlichen
Programm „Tiergerechte Haltungsverfahren“. Noch
einmal zur Historie - das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen -: Im Haushalt 2002 waren 13 Millionen Euro dafür eingestellt. Tatsächlich ist kein einziger
Euro abgeflossen. Trotzdem wurde im Haushaltsentwurf 2003 der Ansatz auf 15 Millionen Euro erhöht.
Jetzt hat man es wieder mit 15 Millionen Euro ausgewiesen. Sie haben es jetzt Gott sei Dank etwas abgesenkt;
aber die 15 Millionen Euro sind auf alle Fälle zu viel gewesen.
Für Modell- und Demonstrationsvorhaben - ich
habe vergeblich versucht, herauszufinden, was sich dahinter verbirgt - wurden 23,5 Millionen Euro ausgewiesen.
Wenn ich diese Titel zusammenzähle, komme ich auf
60 Millionen Euro.
({10})
Angesichts dessen frage ich mich, wo die Schwerpunktsetzung bleibt. Sie könnten nämlich Gelder in den Bereichen belassen, in denen die Landwirte sie dringend brauchen.
Die landwirtschaftliche Krankenversicherung ist
schon mehrfach angesprochen worden. Ich stelle hier einen Vergleich zu anderen Bereichen her: Schauen Sie
sich bitte einmal die Knappschaft an! Ich verlasse jetzt
die Krankenversicherung und komme auf den Bundeszuschuss zur Knappschaft in der Rentenversicherung zu
sprechen, der 7,45 Milliarden Euro für 1,498 Millionen
Betroffene - Rentner und diejenigen, die versichert
sind - ausmacht. Bei der Landwirtschaft beträgt der Zuschuss 2,322 Milliarden Euro für gut 944 000 Betroffene. Der Unterschied liegt darin, dass bei der Knappschaft pro Kopf knapp 5 000 Euro zugeschossen werden,
bei der Landwirtschaft nicht einmal die Hälfte. Angesichts dieses Unterschiedes bei der Förderung kann man
wohl kaum von sozialer Gerechtigkeit sprechen.
({11})
Der landwirtschaftlichen Krankenversicherung versetzen Sie jetzt wirklich den Todesstoß. Sehr geehrter
Kollege Bahr, Sie haben gesagt, die Erhöhung der Beitragssätze betrage etwas über 4 Prozent. Das stimmt
nicht ganz. Die Berechnungen der Versicherung sprechen inklusive Pflegeversicherung, die man immer dazu
rechnen muss, im Schnitt von 5,91 Prozent für 2004 und
von noch einmal 5,45 Prozent für 2005.
({12})
Die Erhöhungen wären noch stärker, wenn Sie nicht in
die Betriebsmittel eingriffen und dort 120 Millionen
Euro abzögen. Das ist eigentlich ein Skandal.
({13})
Wie wirkt sich dies aus? Beim Gesundheitsmodernisierungsgesetz werden höhere Eigenbeiträge eingefordert. Das gilt auch für die landwirtschaftliche Krankenversicherung, allerdings mit dem Unterschied, dass bei
den gesetzlichen Krankenversicherungen die Beiträge
abgesenkt werden sollen, während sie hier steigen. Damit werden Sie irgendwann einmal ein Problem bekommen.
Dies wird auch dazu führen, dass diejenigen, die jetzt
schon freiwillig versichert sind, die Krankenkasse wahrscheinlich verlassen werden. Auch werden noch einige
über die Beitragsbemessungsgrenze kommen und die
Kasse ebenfalls verlassen. Dann werden die Beiträge erneut steigen, sodass sich irgendwann einmal die Frage
stellen wird, was mit dieser Krankenversicherung der
Landwirte passieren wird.
({14})
Dann gibt es zwei Optionen: Entweder ermöglichen
Sie es den Pflichtversicherten, bei Beitragssatzsteigerungen in andere Krankenkassen zu wechseln, oder Sie
schließen die Krankenkasse der Landwirte in den Risikostrukturausgleich ein, wie es bei der Knappschaft auch
der Fall ist. Wenn Sie die LKK in den Risikostrukturausgleich eingliederten, dann kostete es wesentlich mehr als
der jetzige Bundeszuschuss, wobei die Mehrkosten allein von den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung getragen würden. Sie wären dann also nicht
mehr aus Steuern finanziert. Wäre dieses Modell Sie billiger gekommen, hätten Sie es schon gemacht. Sie wissen aber ganz genau, dass es Sie im Prinzip teurer kommen wird.
In diesem Haushalt ist noch eine Reihe weiterer
Punkte, bei denen man streichen könnte: Fachbeiräte,
Sachverständige, Aushilfskräfte usw.
({15})
All diese Titel führe ich jetzt nicht auf, auch nicht die
Steigerungen, die in anderen Teilen des Haushalts zu
verzeichnen sind. Hätten wir Anträge gestellt, hätten wir
mit Sicherheit mehr Änderungsanträge nach unten als
nach oben gestellt. Wir hätten mit Sicherheit auch nicht
bei der GAK eine Erhöhung beantragt. Wir hätten vielleicht bei der FDP nicht mitgestimmt, meinen aber
schon, dass die GAK stabilisiert werden muss. Wir hätten den Schwerpunkt auf die landwirtschaftliche Krankenversicherung gelegt. Aber, Herr Kollege Bahr, ich
kann mich noch an die Debatte über den Haushalt 2003
erinnern, als die Mittel für die GAK abgesenkt wurden.
Seinerzeit habe ich fast dieselben Argumente gebracht
wie Sie. Daher empfinde ich es als sehr bedauerlich, dass
diese Argumente in diesem Jahr kommen.
Wir hätten also andere Schwerpunkte gesetzt und Anträge gestellt,
({16})
wenn es ein beratungsfähiger Haushalt gewesen wäre; er
ist es aber nicht. Ich glaube nach wie vor, dass wir näher
bei den Menschen und Sie näher an Ihrer Ideologie sind.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Wolff,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Am Anfang möchte ich ein paar Worte loswerden,
({0})
bevor ich zu meiner eigentlichen Rede komme. Herr
Goldmann, von Ihnen bin ich, ehrlich gesagt, ziemlich
enttäuscht.
({1})
Die konstruktiven Vorschläge, die Sie im Ausschuss gemacht haben, sind es sicherlich wert, genannt zu werden.
Aber ich habe den Eindruck, dass Sie vor dem heutigen
Tag eine Gehirnwäsche erfahren haben; denn das, was
Sie im Plenum losgelassen haben - anders kann ich das
nicht bezeichnen -, ist Ihrer nicht würdig.
({2})
Ich möchte gern wiederholen, dass wir uns in einer
schwierigen weltwirtschaftlichen Situation befinden. Die
damit verbundenen Probleme will und wird Rot-Grün
meistern. Alles, was die CDU/CSU heute vorgeschlagen
hat, sind durch die Bank alte Zöpfe. Es waren keine Vision, keine Ziele und kein Wille zu erkennen, die Probleme zu lösen. Das haben Ihre Reden eindeutig gezeigt.
({3})
Der Einzelplan 10 kann 2004 nicht von Sparmaßnahmen verschont bleiben. Trotzdem setzt die rot-grüne Bundesregierung weiterhin positive Akzente zugunsten einer
zukunftsorientierten Agrar- und Verbraucherpolitik.
({4})
- Hören Sie gut zu, dann werden Sie das mitbekommen.
Vielleicht lernen Sie heute Abend auch noch ein bisschen dazu.
Wir werden die Zuwendungen für die Stiftung Warentest und die Verbraucherzentrale Bundesverband
auch im nächsten Jahr konstant halten. Wir werden die
Zuschüsse für die Verbraucherzentralen der Länder
um 2,5 Millionen Euro steigern; denn nur umfassend informierte Bürgerinnen und Bürger können verantwortungsvolle Entscheidungen beim Konsum treffen. Die
Menschen in unserem Land erwarten mehr Informationen. Diese bekommen sie von Rot-Grün.
({5})
Die landwirtschaftliche Sozialpolitik macht mit
circa 3,8 Milliarden Euro etwa drei Viertel des Gesamtetats unseres Einzelplans aus. Aus diesem Grund war es
unumgänglich, die Agrarsozialpolitik in die Sparmaßnahmen einzubeziehen. Im kommenden Jahr wird daher
der landwirtschaftlichen Krankenversicherung ein Einsparvolumen in Höhe von 192 Millionen Euro auferlegt.
Aber durch den Rückbau der vorgeschriebenen Betriebsmittel werden die landwirtschaftlichen Krankenkassen
mit insgesamt 120 Millionen Euro einen großen Beitrag
zur Einsparung leisten. Ich bin der Auffassung, dass
diese Maßnahmen möglich und einmalig zumutbar sind.
Gerade weil im Bereich der landwirtschaftlichen
Krankenversicherung Einsparungen vorgenommen
werden müssen, möchte ich noch etwas zum System sagen. Frau Hasselfeldt, hätten wir in der letzten Legislaturperiode mithilfe der Bundesländer und der Opposition
bei der Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung einen Bundesträger installiert, dann hätten
wir heute nicht solche Schwierigkeiten bei der Beitragsgestaltung. Das steht auf jeden Fall fest.
({6})
Fakt ist: Nur ein geringer Prozentsatz der Kinder von
Landwirten wird Beitragszahler in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung werden. Sie werden größtenteils
andere Berufe ergreifen und damit in anderen Sozialsystemen integriert. Auf gut Deutsch: Den Bauern werden die eigenen Kinder - zumindest in der Haushaltsaufstellung - nicht als Beitragszahler zugeordnet. Um es
ganz klar und deutlich zu sagen: Bei den Mittelzuweisungen zur landwirtschaftlichen Krankenversicherung handelt es sich nicht um Subventionen im klassischen Sinne,
wie das beispielsweise bei Prämienzahlungen der Fall ist.
Die Zuwendungen des Bundes sind gesetzlich geregelt
und betreffen die Leistungsaufwendungen im Rahmen
der gesundheitlichen Fürsorge für die Bauern im Rentenalter. Bäuerliche Altenteile brauchen eine Krankenversorgung, die der gesetzlichen Krankenversicherung
ebenbürtig ist. Trotzdem wird es auch in Zukunft immer
wieder Diskussionen über Mittelkürzungen im Bereich
der landwirtschaftlichen Sozialversicherung geben; denn
die Gesamtkosten werden aufgrund der Alterspyramide
ansteigen. Deshalb wird die Politik stets neu darüber
nachdenken müssen, wie die Kosten gedämpft werden
können. Selbst die Verwaltungskosten können nur begrenzt reduziert werden. Genau darum muss es in der Zukunft neue Reformschritte in diesem System geben.
Das, was ich von Frau Hasselfeldt und auch von Frau
Aigner vorhin vernommen habe, heißt im Grunde genommen: Sie wollen das alte System erhalten, neue Zuschüsse vom Bund bekommen und überhaupt nicht beachten, dass es immer weniger Beitragszahler gibt.
({7})
So kann man dieses System nicht auf Dauer erhalten.
Daher müssen wir neue Überlegungen anstellen. Solche
Überlegungen fehlen bei Ihnen eindeutig; das beweisen
Sie mit jeder Rede. Es ist ganz schwierig, in diesem Bereich mit der Opposition zusammenzuarbeiten.
({8})
Waltraud Wolff ({9})
Wir müssen Sicherheit für die Zukunft der landwirtschaftlichen Krankenversicherung - dort sind die Bäuerinnen und Bauern pflichtversichert - schaffen. Deshalb
begrüße ich die Diskussion um eine Bürgerversicherung außerordentlich. Daran knüpfe ich persönlich die
Hoffnung, dass wir auch für die Landwirtschaft eine allgemein gültige Lösung finden.
Größter Subventionsempfänger innerhalb des Bundeshaushaltes war und ist - man muss es so feststellen unser Haushaltstitel.
({10})
Das ist weder der Wunsch der Bauern und Bäuerinnen
noch ist es der unserige. Selbstredend stellt sich dieser
Berufsstand angesichts dieser Situation aber auf die jährlichen Zahlungen ein. Damit will ich nicht sagen, dass
zukünftig keine Gelder mehr in die Agrarproduktion
fließen sollen; denn es bleibt unbestritten, dass die Landwirtschaft in Deutschland nur dann funktionieren kann,
wenn wir auch in Zukunft staatliche Unterstützungen gewähren. Das muss auch in Zukunft möglich sein; aber es
muss gezielt und gerechter geschehen.
Seit drei Jahren stagniert unsere Wirtschaft. Logische
Folge: Mindereinnahmen im Steuerbereich. Woraus werden staatliche Subventionen bestritten? Logischerweise
auch aus dem allgemeinen Finanzhaushalt. Da dieser
aber nur noch in verminderter Form zur Verfügung steht,
ist das Fazit doch klar: Als Erstes werden die Subventionen auf den Prüfstand gestellt. Die Kürzungen im Bereich des Agrardiesels müssen uns dazu veranlassen,
neue Wege einzuschlagen. Auch diesbezüglich habe ich
Vorschläge der Opposition vermisst.
Ist es nicht wirklich das Beste, wir verständigen uns
gleich darauf, den Einsatz von Biodiesel in landwirtschaftlichen Maschinen zu ermöglichen und zu fördern?
({11})
Bislang wird Biodiesel in der Landwirtschaft zwar produziert, aber es wird dort kaum damit gefahren.
({12})
Das Programm zur Förderung der Umstellung auf Biodiesel kann ausgesprochen hilfreich sein. Außerdem
könnte auf diese Weise auch eine neue Art von landwirtschaftlichem Kreislauf entstehen.
({13})
Zusätzlich zum schon jetzt steuerbefreiten Biodiesel
werden endgültig auch andere Biokraftstoffe von der
Steuer befreit. In den entsprechenden Ausschüssen des
Bundesrates hat eine Mehrheit dem Steuerrechtsänderungsgesetz schon zugestimmt.
({14})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, Sie haben sich gegenüber den Lobbys immer so
verhalten, als wäre die Mineralölsteuerbefreiung für
Biokraftstoffe eine feststehende Größe. Daher bin ich
froh, dass wenigstens an dieser Stelle ein Konsens zwischen Koalition und Opposition besteht.
Die Landwirte könnten von den Auswirkungen des so
veränderten Mineralölsteuergesetzes zukünftig sogar
doppelt profitieren: zum einen als Erzeuger der Rohstoffe für Biokraftstoffe, zum anderen auch als Verbraucher.
({15})
In diesem Bereich liegt ein großes Potenzial für die Zukunft.
Wenn ich mir manche Pressemitteilungen anschaue,
dann frage ich mich ernsthaft, ob sich die Kolleginnen
und Kollegen der CDU/CSU im luftleeren Raum befinden oder ob sie mit ihren Gedanken möglicherweise
schon irgendwie im Nirwana verschwunden sind. Frau
Hasselfeldt, die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, schreibt am 10. November:
Bundesrat stoppt rot-grüne Kahlschlagspläne gegenüber der Landwirtschaft.
Der Tenor dieser Pressemitteilung ist: Alles bleibt, wie
es ist. - Ich kann nirgends Alternativen zu den vorgegebenen Einsparmaßnahmen entdecken. Es sind keine
Konzepte vorhanden.
Auch heute habe ich von Frau Hasselfeldt und von
Frau Aigner nur „Wir hätten …“, „Wir wollten …“, „Wir
wären …“ gehört. - Damit kann man natürlich keine
vernünftige Politik bestreiten.
In dieser Pressemitteilung gibt es aber auch einen Bezug auf den Agrardiesel. Frau Hasselfeldt fordert eine
Harmonisierung mit den anderen europäischen Staaten.
Wenn das mit Details untersetzt gewesen wäre, hätte ich
es verstanden. Aber nein, auch hier wieder Fehlanzeige!
Im Klartext heißt das doch: Subventionen hoch!
({16})
Hätte sie gesagt: „Abbau in den anderen Staaten“, wäre
es anders gewesen. Haben Sie das Papier vom Koch/
Steinbrück noch nicht gelesen? Sagt bei Ihnen jeder, was
er will?
({17})
Diesen Eindruck kann man haben. Gerade vor dem Hintergrund des Koch/Steinbrück-Papiers, nach dem auch
beim Agrardiesel abgeschmolzen werden soll, kann man
diese Pressemitteilung wirklich nicht ernst nehmen.
Waltraud Wolff ({18})
Wenn alte, ausgefahrene Straßen den heutigen Anforderungen nicht genügen, wenn sie dem Verkehr nicht
mehr standhalten können, muss man neue Straßen
bauen. In der Landwirtschaft ist es ganz genauso. Vor
uns liegt jetzt die Umsetzung der EU-Agrarreform. Sie
von der CDU/CSU haben ihr lange mit Ablehnung gegenübergestanden. Wir mussten in Deutschland nach der
BSE-Krise in der Landwirtschaft eine neue Richtung
einschlagen.
({19})
Sie haben sich nicht daran beteiligt.
Heute haben wir unter Sparzwängen einen Haushalt
zu verabschieden. Wir müssen neue Quellen der Einkommenssicherung erschließen.
({20})
Wir müssen wegen der notwendigen Einsparungen in
der Sozialpolitik neu über das Sozialsystem nachdenken.
Mit Blockade und Meckern in der Meckerecke kann man
aber nicht an der Gestaltung der Zukunft teilhaben. Ich
fordere Sie auf: Tun Sie das nicht, sondern lassen Sie uns
in schwieriger Zeit gemeinsam für Deutschland und für
die deutschen Landwirte etwas tun!
Danke schön.
({21})
Das Wort hat die Kollegin Ursula Heinen, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die wirtschaftlichen und finanziellen Rahmendaten geben es eindeutig vor: In den einzelnen Ressorts gibt es
überhaupt keinen Spielraum und keinen Anlass für politisch-ideologisch motivierte Eskapaden. Genau das
sollte auch für den Haushalt des Bundesministeriums für
Verbraucherschutz gelten, der in der Vergangenheit immer wieder Spielwiese der ideologischen Ideen der rotgrünen Bundesregierung war. Nach wie vor gibt es in
diesem Haushalt einiges, was doch mehr als wundert;
meine Kollegin Ilse Aigner hat es vorhin schon angesprochen.
({0})
- Gut zuhören, Kollege!
Zu nennen sind zum Beispiel die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit, die nicht gesenkt werden, obgleich das
dringend notwendig gewesen wäre. Begründet wird das
von Ihrer Seite aus mit einer ständig wachsenden Nachfrage nach Informationsmaterial und dem Informationsanspruch der Gesellschaft in Bezug auf tagesaktuelle
verbraucher- und agrarpolitische Ereignisse.
({1})
Doch die Begründung trägt überhaupt nicht. Es ist völlig
unklar, was Sie mit der ständig wachsenden Nachfrage
meinen. Sie haben uns bisher nicht gesagt, wer da überhaupt welche Daten nachfragt.
Noch etwas anderes im Zusammenhang mit der Öffentlichkeitsarbeit. Im Normalfall steht das Ausgeben
von Geld für Öffentlichkeitsarbeit am Ende und nicht am
Anfang der Arbeit. Bei Ihnen ist es dagegen immer umgekehrt: Die Öffentlichkeitsarbeit steht am Anfang Ihrer
Arbeit und wird in der Regel nicht durch inhaltliche Arbeit fortgesetzt.
({2})
Ich erinnere beispielsweise an die Grüne Woche im letzten Jahr, auf der Sie groß angekündigt haben, dass Sie etwas im Bereich des Preisdumpings tun wollen.
({3})
Ihnen war damals aber überhaupt nicht klar, dass es beispielsweise bereits das Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis gibt.
({4})
Unsere Regierung hat das noch 1998 eingeführt.
({5})
Jetzt haben wir gehört, dass Sie bereits eine Kampagne zum Verbraucherinformationsgesetz planen - Sie reden ja anschließend; vielleicht können Sie dann dazu
Stellung nehmen -, zu dem es aus Ihrem Haus bisher
noch überhaupt keine Ansätze gibt.
({6})
Das würde allerdings dazu passen, dass Sie zuerst Öffentlichkeitsarbeit machen und anschließend die Inhalte festlegen.
({7})
- Bevor Sie sich aufregen, lassen Sie mich sagen, dass
es ganz einfach ist: Gerda Hasselfeldt hat im Namen der
CDU/CSU-Fraktion einen Antrag mit Eckpunkten zur
Verbesserung der Verbraucherinformation vorgelegt. Sie
müssten eigentlich nur unserem Ansatz folgen; aber bislang sind wir noch kein Jota weitergekommen, obwohl
der Antrag dem Ausschuss seit mehr als einem halben
Jahr vorliegt.
({8})
Daher schlage ich vor: Vergeuden Sie nicht Geld und
Kraft in Papier und Plakate! In diesem Zusammenhang
sei noch einmal an das Ei am Checkpoint Charlie erinnert:
Ich frage mich, ob Sie es am Freitag wieder auspacken,
mit der Aufschrift „Freiheit“ darunter. Sie sollten vielmehr wirklich etwas für die Verbraucher in Deutschland
tun: Kürzen Sie die Ausgaben für Ihre Luftblase Öffentlichkeitsarbeit, von der der einzelne Verbraucher nur selten konkret etwas hat!
Mit Sorge betrachten wir aber auch, was im Bereich
Verbraucheraufklärung, bei den Modellvorhaben und im
Ökolandbau geschieht. Da zeigt die Ministerin ihr wahres Gesicht: Sie sind nämlich nicht die Ministerin aller
Verbraucher in Deutschland, sondern nur die Ministerin
einer bestimmten Gruppe von Verbrauchern in Deutschland, nämlich derjenigen, die sich ausschließlich für
ökologische Produkte interessieren. Nur diese Verbraucher werden von Ihnen unterstützt.
({9})
So erleben wir, wie die Verbraucheraufklärung einseitig ausgerichtet wird. Es gibt nur zwei Themen: einmal
der nachhaltige Konsum und zum anderen der gesamte
Ernährungsbereich. Beides ist zweifellos wichtig; darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber Verbraucherpolitik umfasst doch nicht nur nachhaltigen Konsum
und Ernährungsfragen. Es geht heutzutage noch um ganz
andere Themen. Ich nenne Stichworte wie Altersvorsorge, Mietfragen, Finanzierung des Eigenheims, Produkt- und Energieberatung etc.
({10})
Gerade heute, da der Arbeitsplatz vieler Menschen nicht
sicher ist - das hat ja auch schwer etwas mit Ihrer Politik
zu tun -, stehen doch Fragen der Sicherung der Existenzgrundlagen im Vordergrund. Dazu gehören beispielsweise auch Fragen danach, wie ich mit geringem Einkommen eine vernünftige Altersvorsorge aufbaue bzw.
wie ich mein Haus finanziere, damit ich diese Last nicht
mehr im Alter tragen muss. Wo sind Projekte, um Schüler beispielsweise in den Schulen schon frühzeitig mit
den Spielregeln des bargeldlosen Geschäftsverkehrs vertraut zu machen? Für „Kater Krümel“ gibt es eine
Menge Geld, aber für die Aufklärung von jungen Menschen in Finanzfragen und bezüglich der Altersvorsorge
gibt es kaum einen Cent.
({11})
Entsprechende Projekte müssen Sie auf die Beine stellen. Da müssen Sie die Arbeit der Verbraucherzentralen
unterstützen.
({12})
All diese Fragen, die die Verbraucher vor Ort tatsächlich stellen, werden von Ihnen außen vor gelassen. Das
ist aber eine Querschnittsarbeit, zu der Sie sich in Ihren
Koalitionsvereinbarungen und bei der Schaffung des Ministeriums verpflichtet haben. Ich sage Ihnen eines: Solange diese existenziellen Fragen für die Menschen offen
sind, werden sie sich nicht dafür interessieren, ob dieses
oder jenes Produkt bezüglich seiner Ökobilanz nachhaltiger ist. Denn die Menschen werden sich, wenn Sie Ihre
Politik so wie bisher betreiben, diese Produkte schlicht
und ergreifend finanziell nicht leisten können.
Ein Weiteres ist wahr - Ihre Kollegen von der SPD
haben dieses Thema ja im Ausschuss auch angesprochen -: Es muss mehr Geld für den wirtschaftlichen
Verbraucherschutz aufgebracht werden. Man kann also
nur sagen: Folgen Sie dem Beispiel der Kollegen und
planen Sie zumindest hierfür im nächsten Haushalt mehr
Geld ein!
({13})
Auch die Posten „Modelle und Demonstrationsvorhaben“ wie auch das „Bundesprogramm Ökolandbau“
- Kollege Koppelin hat es erwähnt - zeigen klar: Alle
Ihre Vorhaben dienen nur einem Zweck, nämlich der
ökologisch orientierten Öffentlichkeitsarbeit wie zum
Beispiel für ein ökologisches Informationszentrum mit
dem Namen „Muh-seum“.
({14})
Ich weiß gar nicht, ob es das nach wie vor gibt; das wäre
etwas für unseren Tierschutzbeauftragten Peter Bleser.
In Ihren Programmen findet sich kein Wort zu Maßnahmen für die moderne konventionelle Landwirtschaft,
kein Wort zu Demonstrationsvorhaben zur grünen Gentechnik. Kollege Heiderich, der sich bei uns um die Biound Gentechnik kümmert, weiß ein Lied davon zu singen.
({15})
Wir fordern von Ihnen, dass Ihre Arbeit im Verbraucherschutz, in der Ernährung und in der Landwirtschaft
ausgewogen ist und die Interessen aller Verbraucher
gleichermaßen berücksichtigt. Dazu würde gehören,
dass Sie die Verbraucher darüber aufklären, dass beispielsweise Eier aus Freilandhaltung wesentlich mehr
Salmonellen enthalten als Eier aus anderen Haltungsformen, worüber wir schon mehrfach diskutiert haben, was
aber nicht so ganz in Ihren Kopf hinein will, obwohl erwiesen ist, dass es so ist.
Ihre Art der Aufklärung, Frau Ministerin, ermöglicht
keine Wahlfreiheit, sondern ist schlicht ideologische Beeinflussung.
({16})
Für solche ideologisch motivierten Projekte ist angesichts knapper Haushaltsmittel kein Platz. Ich bitte Sie
wirklich, Ihre Haushaltspolitik und Ihre Politik für die
Verbraucherinnen und Verbraucher zu überdenken.
Danke.
({17})
Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
ist kein guter Tag für die CSU, und zwar aus zwei Gründen: erstens wegen des Ausgangs des ersten parlamentarischen Schafskopfturniers in der Vertretung des Freistaates Bayern beim Bund unter der Schirmherrschaft
von Mariae Gloria Fürstin von Thurn und Taxis - das hat
nämlich soeben Hans-Josef Fell gewonnen. Ich finde,
das ist einen Applaus wert.
({0})
- Das sieht man. Aber vielleicht kann er es ja einfach
besser als Sie! Er kann ja auch andere Sachen besser als
die CDU/CSU.
Zweitens; da hört der Spaß auch schon auf. Ich wundere mich, ehrlich gesagt, dass Frau Hasselfeldt diesen
Punkt nicht angesprochen hat und dass Herr Deß nicht
auf der Rednerliste steht. Ich finde, Sie argumentieren in
zweierlei Hinsicht nicht sauber: Punkt eins. Was gerade
hier geredet wurde, passt überhaupt nicht zu dem, was
von Ihrer Fraktion heute Vormittag gesagt wurde. Sie
müssen sich entscheiden; sonst nimmt Sie keiner, wirklich keiner ernst.
({1})
Sie reden immer nur davon, dass Sie überall sparen würden. Auch Frau Aigner hat davon gesprochen. Wenn Sie
eine Regierungspartei sein wollen - Sie müssten ja eigentlich eine „Regierungspartei im Wartestand“ sein -, dann
sollten Sie jederzeit in der Lage sein, Ihre eigenen Zahlen
darzustellen, gerade wenn Sie meinen, dass die Regierung
einen schlechten Haushaltsentwurf verfasst habe.
Aber ich sage Ihnen, warum Sie das nicht getan haben: Weil Sie sich an dieser Stelle untereinander nicht einigen können, trauen Sie sich nicht, den Landwirten zu
sagen, wo Sie sparen würden.
({2})
Denn eines ist doch klar: Wenn alle sparen müssen,
wenn Konsolidierung das Ziel ist, wenn Sie in Bezug auf
den Stabilitätspakt Riesenblasen ablassen, wie Sie es
gestern und heute getan haben, dann müssten Sie in der
Folge den Landwirten im Zweifelsfall die doppelte
Summe streichen. Es ist einfach Feigheit, dass Sie das
nicht sagen.
({3})
Zweiter Punkt, gerichtet vor allem an Frau
Hasselfeldt, Frau Aigner, Frau Mortler und Herrn Deß.
Zu dem gestrigen Beschluss des bayerischen Kabinetts
haben Sie kein Wort verloren und ich weiß auch, warum.
Eigentlich sollten Sie sich schämen, uns bezüglich der
Streichung auch nur im Geringsten zu kritisieren. In dem
Beschluss heißt es:
Die Staatsregierung hat heute Eckpunkte für den
Nachtragshaushalt 2004 beschlossen.
So weit, so gut. Weiter heißt es, dass
Ressorts mit einem besonders hohen Personalkostenanteil im Jahr 2004 bei den Einsparungen noch
nicht so beweglich sein können wie andere Ressorts.
Was schließen wir daraus? Es geht nicht um das
Landwirtschaftsressort, weil dessen Personalanteil nicht
so hoch ist. Das Landwirtschaftsressort ist also von den
Kürzungen komplett betroffen.
Die Staatsregierung insgesamt hält am Ziel, 10 Prozent der Ausgaben im kommenden Jahr und 15 Prozent der Ausgaben bis 2008 einzusparen, fest.
Was heißt das? Das heißt, dass das Landwirtschaftsministerium in Bayern 10 Prozent seiner Ausgaben streichen muss. Das ist mehr als das, was wir streichen. Also
müssten Sie eigentlich ruhig sein.
({4})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Deß?
Bitte.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass selbst dann, wenn in Bayern 10 Prozent oder
12 Prozent gestrichen würden, noch doppelt so viel für
die Landwirtschaft ausgegeben wird wie in jedem rotgrün regierten Bundesland?
({0})
Ich bin, lieber Herr Deß, bereit, eine ganze Menge zu
konzedieren. Aber ich sehe an Ihrer Frage, dass Sie nicht
den Satz negieren, den ich gesagt habe, dass nämlich
dort mit einer Streichung von 10 Prozent mehr gekürzt
wird als bei uns.
({0})
Ich sage Ihnen: Auch dort wissen die Bauern nicht, wo
im nächsten Jahr gestrichen wird. Ich habe gerade noch
einmal auf die Website des Landwirtschaftsministeriums
geschaut. Obwohl die Kartoffelernte zu Ende ist, steht
dort: Wir warnen vor der Kartoffelfäule. Aber es steht
dort nicht, wie die Sparquote verteilt wird.
({1})
Wir wissen also: Wenn Sie nach Hause fahren, dann
brennt die Luft. Sie haben keine Lösung, Sie haben auch
keine angeboten. Vielleicht kommt ja Herr Carstensen
nachher noch dazu.
Wir alle wissen auch, meine Damen und Herren: Wir
müssen konsolidieren, wir müssen sparen und wir müssen den Landwirten neue Möglichkeiten aufzeigen. Das
tun wir in diesem Haushaltsplan und auch in anderen Bereichen. Wir bauen vernetzte Konzepte auf. Wir kümmern uns um eine moderne Technologie.
({2})
Wir geben den Landwirtinnen und Landwirten die Möglichkeit, als Energiewirte zu arbeiten. Wir unterstützen
sie beim Einsatz modernster Technik, bei der Förderung
im Qualitätsmanagement, bei der Regionalität und beim
Tourismus.
Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht mehr,
wer vorhin nach den Gründen für die fehlende Investitionsbereitschaft gefragt hat. Es gibt sicherlich viele
Gründe und ich schenke Ihnen jetzt einmal den Satz, es
liege auch an mir.
Ich weiß, woran es noch liegt, meine Damen und Herren: Seit Juni dieses Jahres, als wir auf europäischer
Ebene die Beschlüsse zur Agrarreform gefasst haben,
treffe ich mich regelmäßig mit den Landwirtschaftsministern der Bundesländer, morgen wieder. Ich sage eines
ganz klar: Die Landwirte haben einen Anspruch darauf,
dass auch die CDU/CSU und die Minister der B-Länder
endlich sagen, wohin im nächsten Jahr die Reise gehen
muss. Das möchte ich wissen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben allen Ländern,
sowohl den B-Ländern als auch den A-Ländern, ein Modell vorgeschlagen.
({4})
- Herr Goldmann, mir ist vollkommen egal, welches europäische Land weiter ist. Wenn unsere Bauern nicht investieren, wenn die jungen Leute fragen: „Wo geht es
denn hin?“, dann ist mir vollkommen egal, wo die anderen sind. Wir haben vorne zu sein. Das werden wir doch
wohl noch hinkriegen!
({5})
Ein Vorschlag für eine vernünftige Lösung liegt auf
dem Tisch. Wir haben ein Kombimodell vorgeschlagen.
({6})
- Vielleicht nicht Ihnen, aber den Länderministern, die
das umzusetzen haben.
Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/
CSU]: Sie haben doch überhaupt noch nichts
vorgeschlagen!)
Wir haben einen Vorschlag für ein Kombinationsmodell
eingebracht. Das Ziel ist die regional einheitliche Flächenprämie. Viele, die hier sitzen, wissen das sehr genau.
({7})
Wenn Sie schon die fehlende Investitionsbereitschaft
beklagen, dann sollten morgen auch die Agrarminister
der CDU/CSU klar sagen, wohin die Reise geht, und entsprechende Beschlüsse fassen. Darauf warte ich. Es gibt
seitenweise Papiere, die Sie alle längst von Ihren B-Ministern bekommen haben. Vielleicht sagen Sie nicht die
Wahrheit.
({8})
Die Aussteller auf der „Agritechnica“ haben volle
Auftragsbücher aus dem Ausland. Weil sie die passenden Angebote für eine moderne Landwirtschaft haben,
müssen endlich auch deutsche Landwirte die Auftragsbücher füllen.
Im Übrigen habe ich im Bericht des Herrn von dem
Busche gelesen, dass dieses Mal auch die Ökolandwirte
auf der „Agritechnica“ stark vertreten waren. Ich liebe es
ja, wenn Sie alle immer über Ideologie reden. Aber ich
sage Ihnen: Das sind Reden, die Sie vor vier, fünf Jahren
hätten halten können. Das interessiert heute keinen Menschen mehr.
({9})
Sie, Herr Deß, wollen EP-Abgeordneter werden. Ich
sage Ihnen und allen, die meinen, das sei irgendwie out:
Kommissar Fischler, der, parteilich betrachtet, mehr Ihrer Richtung als meiner angehört,
({10})
wird jetzt Vorschläge für einen Aktionsplan zur Förderung des Ökolandbaues in der Europäischen Union machen. Alle wissen, dass der Ökobereich international
zweistellige Zuwachsraten hat. Deshalb sagen viele: Wir
müssen in genau diesen Bereich investieren, damit auch
unsere Landwirte davon profitieren. Ein Kollege von Ihnen, Miguel Cañete, ein Konservativer aus Spanien,
sagte mir vor kurzem, er kürze bei vielen Messen seine
Präsentationsmittel. Aber für die Teilnahme an der Biofachmesse in Nürnberg - das ist die weltweit führende
Messe im Biobereich - will er Geld ausgeben; denn er
ist der Meinung, dass es in diesem Bereich Wachstum
gibt und dass seine Bauern da Geld verdienen können.
Alle diese Konservativen können sich doch nicht irren,
nicht wahr?
({11})
Ich könnte noch etwas zu den Legehennen sagen.
Eigentlich müsste ich das nicht tun, weil wir am Freitag
im Bundesrat dazu Entscheidungen treffen werden. Aber
ich will deutlich sagen, dass auch in diesem Bereich die
Diskussion sehr rückwärts gewandt ist. Der Bund will
ein Prüfverfahren durchführen. Außerdem sollen die
Forschungsergebnisse im Frühjahr des nächsten Jahres
mit den entsprechenden Landesministern diskutiert werden. Das wird allemal besser sein, als Käfighaltern einen
Fragenkatalog vorzulegen, wobei das Einsammeln und
die Anonymisierung der Daten über eine Geschäftsstelle
der Geflügelwirtschaft erfolgen soll. Das ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern Lobbyarbeit. Von einer
solchen Stelle lasse ich mich nicht - auch nicht unter
dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit - beraten.
({12})
Ich will wegen der Kürze der Zeit nur noch einige wenige Bemerkungen machen. Herr Carstensen, ich muss
Ihnen ehrlich sagen: Ich nehme es Ihnen nicht ab, dass
Ihr Antrag, bei der Gemeinschaftsaufgabe um
100 Millionen Euro zu kürzen, ein Irrtum war.
({13})
Ich will auch sagen, warum. Ich glaube vielmehr, dass es
eher eine freudsche Fehlleistung war. Sie wissen nämlich genau, dass Bayern, Hessen und andere CDU-regierte Länder bei der Gemeinschaftsaufgabe sparen werden, um ihre Sparquote von 10 Prozent zu erreichen.
({14})
Von Hessen wissen wir es längst. Insofern war es wahrscheinlich kein Fehler, sondern vorauseilender Gehorsam. Es ist zumindest der Beweis dafür, dass die Agrarpolitik der CDU/CSU nicht hinreichend sorgfältig ist.
Ich will eine letzte Bemerkung zur Krankenversicherung machen. Ich weiß, dass dies eine schwierige
Sache ist. Mein Ziel ist es - deshalb haben wir an einem
entsprechenden Modell gearbeitet -, die Belastung möglichst niedrig zu halten und die landwirtschaftliche Krankenversicherung ein Stück weit an die gesetzliche Krankenversicherung anzupassen. Aber sie muss sozusagen
darunter bleiben, weil man sonst dieses Zwangssystem
nicht aufrechterhalten kann. Genau das haben wir im
Augenblick sichergestellt.
({15})
- Doch, das haben wir erreicht. Wir haben es auch mithilfe der betroffenen Verbände nachgerechnet.
Frau Hasselfeldt, auch ich habe mir die Liste von
Koch/Steinbrück angeschaut. Mir wäre es lieb, wenn Sie
bei Herrn Koch ein bisschen Lobbyarbeit machen würden.
({16})
Herr Koch benutzt einen erweiterten Subventionsbegriff.
Er bezieht deshalb den Krankenkassenbereich mit ein.
Ich möchte Sie bitten, sich sehr genau zu überlegen,
welche Forderungen Sie stellen. Sie haben im Bereich
der GA und im Bereich des Verbraucherschutzes kürzen
wollen. Da können Sie in Hessen eine ganze Menge
Lobbyarbeit machen. Wir hingegen haben die Mittel für
den Verbraucherschutz erhöht. Das Ergebnis ist, dass uns
die Landesverbraucherzentralen die Bude einrennen,
weil die CDU-Landesminister ihre Aufgabe nicht mehr
erfüllen können. Die Verbraucherzentralen sagen, dass
sie nicht mehr hinreichend sorgfältig beraten können.
Der Bund muss also retten, was noch zu retten ist. Das
ist die ganze Wahrheit über diesen Haushalt.
({17})
Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen: Kümmern
Sie sich um die Zukunft der Landwirtschaft! Reden Sie
nicht nur in ideologischer und plakativer Weise!
Schauen Sie sich an, was die jungen Landwirte brauchen! Sie arbeiten schon längst mehr mit uns zusammen,
als Sie zu träumen wagen.
Bei aller Aufregung möchte ich diesen allerletzten
Satz sagen: Ich danke den Berichterstattern für die gute
Zusammenarbeit.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Harry
Carstensen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Erst einmal herzlichen Glückwunsch an Herrn
Fell für das Gewinnen des Schafskopfturniers! Lieber
Herr Fell, weil wir in der CDU/CSU der Meinung sind,
dass sich Leistung wieder lohnen soll, sage ich Ihnen:
Sie haben Leistung erbracht und das wollen wir anerkennen.
({0})
Aber dieser Haushalt hat wirklich nichts mit Leistung
zu tun. Frau Künast, bei allem Respekt muss ich sagen,
dass ich es unanständig fand, wie Sie den Fehler, den ich
persönlich zu verantworten habe, werten. Ich habe während einer schnell durchgeführten Abstimmungsmaschinerie nicht aufgepasst.
({1})
Peter H. Carstensen ({2})
- Natürlich war das ein normales Verfahren. - Ich habe
in der folgenden Woche eine entsprechende Stellungnahme zu Protokoll gegeben. Ich hatte den Eindruck,
dass meine Erklärung im Ausschuss akzeptiert worden
ist.
({3})
Ich finde es unanständig, die Fraktion für diesen Fehler
in Haftung zu nehmen; denn Sie wissen genau, dass unsere Stellungnahmen zur Gemeinschaftsaufgabe - und
insbesondere meine - immer einen anderen Inhalt hatten.
Frau Künast, es wäre schön, wenn Sie in Ihrem Bereich die Konsistenz und Sicherheit hätten, die wir gerade im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe haben, weil
wir wissen, dass die Gemeinschaftsaufgabe mit zu den
wichtigsten Instrumenten der Agrarpolitik in Deutschland gehört. Sie verwässern diese Aufgabe immer. Im
Moment sind Sie - so höre ich - offensichtlich dabei,
auch noch Pläne für ländliche Räume einzurichten - als
ob die Leute nicht schon genug Pläne machen würden und die Gemeinschaftsaufgabe nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck, nämlich für die Verbesserung der
Agrarstruktur und der Wettbewerbsfähigkeit, zu nutzen.
Es tut mir Leid, aber ich fand das, was Sie gesagt haben,
unanständig.
({4})
Ein Wort zu dem Haushalt in Bayern: Schauen Sie
sich bitte erst einmal genau an, wo es Veränderungen
gibt, und überlegen Sie sich, ob es nicht richtig ist, in einem Landeshaushalt dort aus der Landesfinanzierung
auszusteigen, wo es nachher eine Bundesfinanzierung
bzw. eine europäische Finanzierung gibt. Wenn Sie zur
Kenntnis genommen hätten, dass andere Bundesländer
derzeit wesentlich weniger für ihre Landwirtschaft tun
und in den letzten Jahren getan haben als die Bayerische
Staatsregierung, bei der - im Gegensatz zur Bundesregierung - die Landwirtschaft noch einen bestimmten
Stellenwert hat, dann würden Sie zu einem anderen Urteil kommen. Schauen Sie sich das doch bitte zuerst einmal bei Ihren Freunden an! In Bayern sind im letzten
Jahr 400 Millionen Euro für KULAP und andere Programme im ländlichen Raum sowie für den Naturschutz
ausgegeben worden. In Schleswig-Holstein sind - wenn
ich es richtig weiß - in den letzten Monaten der rot-grünen Regierung null Euro dafür ausgegeben worden.
({5})
Man kann dort in diesem Bereich nicht kürzen, weil nie
etwas gezahlt wurde, Frau Künast!
({6})
Ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie die Frage,
warum in der Landwirtschaft nicht investiert wird, einmal ein bisschen selbstkritischer beantworten würden.
Woher kommt diese fehlende Investitionsbereitschaft?
Nur noch 40 Prozent der Landwirte wollen investieren;
60 Prozent haben die Schnauze voll, weil sie nicht mehr
wissen, worin sie investieren sollen, und weil in der
Landwirtschaft Unsicherheit besteht. Sie sollten sich
einmal fragen und vielleicht nachprüfen lassen, ob es,
seitdem wir in der Bundesrepublik Deutschland Agrarpolitik in dieser Art machen, einen solchen Strukturwandel gegeben hat wie zu Ihrer Zeit, Frau Künast. Sie sollten einmal hinterfragen, ob das nicht mit Ihrer Politik zu
tun hat.
Sie sagen, Sie warten bezüglich der Umsetzung der
Agrarreform auf die Vorschläge und die Lösungen der
Länder. Wenn ich mich richtig erinnere, war es ein - inzwischen glücklicherweise - CDU-geführtes Land, nämlich Niedersachsen, das als erstes Land seine Vorstellungen genannt hat. Dass wir, weil wir heute noch nicht
wissen, wie die Durchführungsverordnungen aussehen
werden, laufend Veränderungen vornehmen müssen,
halte ich für selbstverständlich.
Ich halte diese Agrarreform, die in der Landwirtschaft
in Deutschland zu einer solchen Strukturveränderung
führen wird, wie wir sie noch nie erlebt haben, und die
zu Veränderungen in der Landschaft und in landwirtschaftlichen Bereichen führen wird, für außerordentlich
notwendig. Ich halte es aber - bei allem Respekt - für
nicht richtig, in diesem Bereich holterdiepolter, von
heute auf morgen, zu Beschlüssen zu kommen. Das wäre
nicht verantwortlich.
({7})
Ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie uns einmal
Ihre Vorschläge nennen würden. Legen Sie Ihre Vorschläge doch einmal auf den Tisch!
({8})
Sind das etwa die Vorschläge aus der Bund-LänderKommission, die sehr unverbindlich sind und über die
gesagt wird: „Wir wollen noch ein paar Dinge abprüfen“? Welche Vorschläge sind das? Hätten Sie hier nicht
auch einmal sagen sollen, dass Sie auf die Kürzung der
Envelope um 10 Prozent verzichten? Wäre das nicht
auch etwas, was Sicherheit geben würde? Ihr Kollege in
Schleswig-Holstein sagt, dass er die 10 Prozent haben
will. Von Ihnen kommt keine Äußerung dazu. Sie erwarten, dass andere Äußerungen machen und die Arbeit tun,
die eigentlich Sie machen müssten. So spielen wir nicht
miteinander, liebe Frau Künast.
({9})
Wenn Sie erwarten, dass Vorschläge von anderen
kommen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie auch einmal etwas über die Verteilung der Mittel im Bundesgebiet sagen. Wenn Sie sagen, dass Sie mit einer Betriebsprämie anfangen und diese später in eine Flächenprämie
umstaffeln wollen, dann sagen Sie uns bitte hier und
heute auch, ob Sie bereits zu Beginn bereit sind, einen
Ausgleich zwischen den Bundesländern herzustellen.
Sagen Sie den Verantwortlichen in Bayern und
Schleswig-Holstein, dass sie 50 oder 60 Millionen Euro
zuschießen sollen, um einen Ausgleich zwischen den
Bundesländern zu finden.
Peter H. Carstensen ({10})
Meine Damen und Herren, ich war schon ein bisschen
erstaunt.
({11})
- Lieber Kollege, habe ich nicht gerade eben gesagt,
dass die ersten Vorschläge von Niedersachsen vorgelegt
worden sind? Haben wir nicht gemeinsam beschlossen,
am 8. Dezember dieses Jahres eine Anhörung durchzuführen? Warum möchten Sie eigentlich eine Anhörung
durchführen, wenn Sie schon jetzt 100-prozentig wissen,
was Sie den Bauern in diesem wichtigen Bereich zumuten wollen? Ich sage: Ich möchte erst den Sachverstand
von außen berücksichtigen und dann entscheiden, nicht
aber über die Schulter hinweg zu schnellen Entschlüssen
kommen.
Lieber Kollege Bahr, Sie wissen, dass ich Sie in der
Regel sehr schätze, aber Sie haben von der Hinterlassenschaft der CDU gesprochen und gesagt, dass sie den
Grund für die jetzigen Schwierigkeiten darstellt. Ich
habe das Gefühl, dass Sie erst seit einem halben Jahr an
der Regierung sind. Nein, Sie haben schon viel Verantwortung getragen und diese Verantwortung gerade im
Agrarbereich verspielt.
({12})
Lieber Kollege Bahr, der Unterschied zwischen dem,
was die Politik der CDU im Bereich Landwirtschaft ausgemacht hat, und dem, was die Politik der rot-grünen
Koalition - insbesondere seit Karl-Heinz Funke nicht
mehr die Verantwortung trägt und Frau Künast das Regiment übernommen hat - beinhaltet, ist, dass die Agrarpolitik bei uns noch einen Stellenwert hatte und dass wir
uns in die Landwirtschaft hineindenken konnten.
({13})
Sie haben von Unwürdigkeit gesprochen. Dazu sage
ich Ihnen: Unwürdig ist es, einen Haushalt vorzulegen,
von dem Sie wissen, dass er verfassungswidrig ist.
({14})
Unwürdig ist es, dass Sie den Abschied vom Stabilitätspakt akzeptieren. Unwürdig sind die Kürzungen, die
Sie, liebe Frau Künast, in diesem Haushalt akzeptieren,
die nicht zu Ihren Lasten oder zulasten Ihrer Spielwiesen, sondern ausschließlich zulasten des Einkommens
der Landwirte gehen. Nicht Sie sparen in diesem Haushalt ein, sondern die Bauern.
({15})
Sie reißen, insbesondere in der Sozialversicherung,
Löcher auf, die Sie wahrscheinlich nicht wieder schließen können.
({16})
Herr Kollege Bahr, es ist schon erstaunlich, wie Sie über
die Zumutbarkeit von Belastungen in der Landwirtschaft
sprechen. Auf der einen Seite haben Herr Seehofer und
Frau Schmidt, was sicherlich nicht unbedingt vergnüglich gewesen ist, in Nachtarbeit für mehr Stabilität bei
den Krankenkassen gesorgt. Auf der anderen Seite kürzen Sie hier, was zu überproportionalen Erhöhungen der
Beiträge führt. Lieber Kollege Bahr, es ist falsch, wenn
Sie von nur 5 Prozent oder, im Höchstfall, von 10 Prozent sprechen. Lassen Sie sich einmal vom Kollegen
Schindler informieren. Dann werden Sie feststellen, dass
in Rheinland-Pfalz, wenn Sie die Auflösung der Reserven mit einbeziehen, Erhöhungen von 25 Prozent zu verzeichnen sind.
({17})
Es sind also nicht nur höchstens 10 Prozent, die Sie als
zumutbar bezeichnet haben.
({18})
Meine Damen und Herren, Sie haben einen Haushalt
vorgelegt, der nicht dem entspricht, was notwendig ist,
um eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft zu ermöglichen und um die Herausforderungen, die sich uns in den
nächsten Jahren stellen werden, zu bewältigen. Er sorgt
auf keinen Fall für Wettbewerbsfähigkeit in der Landwirtschaft.
({19})
Lassen Sie mich ein letztes Wort zum Tierschutz, den
Frau Künast auch hinsichtlich der Legehennen angesprochen hat, sagen. Selbstverständlich sollen die alten
Käfige verschwinden. Aber wir wollen nicht, dass sie so
verschwinden, wie es jetzt der Fall ist: Sie werden nur
aus Deutschland verschwinden und nach Polen oder
Tschechien gebracht, damit dort weiter produziert werden kann. Die Eier werden dann hier auf den Markt gebracht.
({20})
Herr Kollege, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.
Frau Präsidentin, das tue ich gerne. Deswegen nenne
ich nur noch einige Zahlen.
Nein, Herr Kollege, das tun Sie nicht mehr.
Dann höre ich jetzt auf und trinke mein Glas Wasser
auf Ihr Wohl.
({0})
Das, Herr Kollege Carstensen, dürfen Sie.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben nun 23.04 Uhr. Da der Ablaufplan die Beratung unseres Einzelhaushaltes im Rahmen der Haushaltsberatungen insgesamt zu dieser späten Zeit vorsieht,
bitte ich Sie um etwas Aufmerksamkeit.
Lieber Kollege Carstensen, Sie haben eben in Ihrer
Rede wieder Worte wie „unwürdig“, „nicht verfassungsmäßig“ oder „unverantwortlich“ verwendet und die Frau
Ministerin beschimpft, was sicherlich nicht freundlich
gemeint war. Das haben wir alle satt.
({0})
In der jetzigen Situation, brauchen wir Wachstum und
Beschäftigung; das wissen wir ganz genau. Weil Sie
16 Jahre dazu nicht in der Lage waren,
({1})
müssen nun wir im Bereich der Landwirtschaft wie in allen anderen Bereichen umsteuern, was besonders am
Haushalt deutlich wird, und der Landwirtschaft endlich
die Wahrheit sagen, dass wir einsparen müssen. Die Einsparungen müssen wir mit Augenmaß vornehmen und
dürfen dabei nicht den Sinn für soziale Gerechtigkeit
verlieren.
({2})
Nicht nur die Ministerin, sondern auch dieses Hohe
Haus hätte es verdient, wenn Sie zu dieser späten Stunde
etwas mehr Ernsthaftigkeit gezeigt
({3})
und nicht nur Sprüche gemacht hätten wie den, dass sich
Leistung wieder lohnen müsse, selbst wenn es nur um
ein Spiel gehe.
In Ihren Debattenbeiträgen zu jedem einzelnen Haushaltsplan hat man über den ganzen Tag hinweg das gleiche Muster feststellen können.
({4})
Sie teilen sich die Aufgaben: Merkel und Merz sind dafür da, den Bundeskanzler und den Finanzminister zu
schelten, ja sogar übel zu beschimpfen, weil die beiden
angeblich nicht genug einsparen würden.
({5})
In den Beratungen zu den Einzelhaushalten dagegen argumentieren Sie, die jeweiligen Fachminister würden
Einschnitte an der falschen Stelle vornehmen und insgesamt zu viel kürzen; sie hätten sich für die Klientel, die
Sie mit Ihrem persönlichen Wohlwollen bedenken, nicht
genügend eingesetzt.
So geht das nicht!
({6})
Sie müssen sich entscheiden, was Sie eigentlich wollen.
Sie müssen sich entscheiden, ob Sie bei der Umstrukturierung helfen wollen, ob Sie zu den Einsparungen beitragen wollen und so die Zukunftsfähigkeit sichern wollen. Ich denke, diese Aufgabe hätten Sie übernehmen
müssen - wenn nicht in der ersten Lesung, dann doch
wenigstens in der zweiten Lesung oder am Freitag in der
dritten Lesung.
({7})
- Lieber Kollege Goldmann, ich habe mit großem Interesse zugehört, als Sie in Ihrer Rede über die Subventionen geschimpft haben. Komisch: Immer dann, wenn Sie
meinen, für eine bestimmte Gruppe zu sprechen, sind Sie
plötzlich für mehr Geld vom Staat und für mehr Subventionen.
({8})
Denken Sie einmal darüber nach, so jedenfalls kann das
nicht gehen.
({9})
- Herr Koppelin, wenn ich fertig bin, können Sie gerne
eine Kurzintervention machen. So lange müssen Sie sich
noch gedulden.
Nun zu Frau Aigner. Sie hat gesagt, sie habe einen
Streichungsvorschlag gemacht. Darauf hat ihr der Kollege Bahr vorgehalten, dass sie über vieles geredet hätte,
aber keinen Antrag dazu eingebracht habe. Das hat sie
nicht widerlegen können.
Anschließend hat sie darüber gesprochen, dass ihr die
Öffentlichkeitsarbeit für den biologischen Landbau
nicht passe. Als ob wir nicht schon längst gehört hätten,
dass Sie etwas gegen biologischen Landbau haben!
({10})
Aber selbst wenn Sie die Mittel hierfür einsparen würden, würde das noch nicht einmal 20 Millionen Euro
bringen. Das, was an Einsparungen, Umstrukturierungen
und Gerechtigkeit notwendig ist, berührt diese Summe
noch nicht einmal am Rande.
({11})
Ich komme zur peinlichen Abstimmung über den Antrag im Ausschuss hinsichtlich der Einsparung von
100 Millionen Euro im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. Kollege Carstensen hat gesagt, dass er die Schuld
an seinem Irrtum eine Woche später in der Sitzung unseres Fachausschusses auf sich genommen habe. Aber warum haben so viele Kolleginnen und Kollegen der CDU/
CSU, als die FDP gerade erklärt hat, was sie mit diesem
Antrag erreichen wolle und dass es in Wirklichkeit kein
Einschnitt sei, geklatscht? Sind Sie nun dafür oder dagegen? War es der individuelle Fehler von Herrn
Carstensen oder nicht?
Verehrte Frau Hasselfeldt, ich habe heute schon um
15.26 Uhr die Presseerklärung über Ihre Rede, die Sie
vorhin gehalten haben, zur Kenntnis nehmen können.
Sie war schon gedruckt. Die Kollegin Wolff hat schon
gesagt, welch eindrucksvolle Presseerklärung Sie am
10. November 2003 vorgetragen haben. Ihre Presseerklärung von heute, 15.26 Uhr - ich habe sie hier -,
schließt sich hier wirklich würdig an. Sie enthält nicht
einen Umstrukturierungsvorschlag, nicht einen Antrag
und nicht einen einzigen Gerechtigkeitsvorschlag. Ich
will dem Hohen Hause jetzt doch noch vortragen, dass
Sie gesagt haben, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
werde sich im laufenden Vermittlungsverfahren - passen
Sie bitte gut auf - weiterhin dafür einsetzen, dass die
überproportional vorgenommenen Kürzungen im
Agrarhaushalt 2004 gemindert werden. Da sind wir aber
gespannt.
({12})
Sie stellen keinen Antrag und rechnen jetzt auch noch
damit, dass sich die Leute daran erinnern werden, dass
der Vermittlungsausschuss ohnehin eine Blackbox ist
und niemand darüber redet, was tatsächlich passiert, damit Sie hier anders reden können als draußen bei den
Lobbygruppen. Das geht nicht.
({13})
Das ist das Grundübel Ihrer Politik und lässt sich auf
Dauer, wenn die Politik insgesamt ernst genommen werden soll, nicht weiterführen.
({14})
Frau Heinen, Sie haben zum Verbraucherschutz geredet. Sie wissen genau, dass wir gerade in dieser Frage
über die Parteigrenzen hinweg einen ziemlich großen
Konsens haben; Gott sei Dank. Das heißt, wir wollen einen vernünftigen und tragbaren Verbraucherschutz gerade auch im Bereich des Verbraucherinformationsgesetzes. Ich fand es nicht in Ordnung, dass Sie gesagt haben,
wir hätten in den vergangenen Jahren nur wenig - Sie
haben sogar gesagt: nichts - für den Verbraucherschutz
getan. Das trifft nicht zu. Wir haben beim Mietrecht angefangen und haben das fortgesetzt über die Schuldrechtsmodernisierung bis hin zum Verbraucherschutz
über die Grenzen hinweg. Richtig ist, dass wir damals
sehr gerne die Unterstützung der Opposition gehabt hätten. Die haben wir aber nicht bekommen.
({15})
Diesen Punkt sollten Sie vielleicht einmal klären.
Ich habe jetzt noch eine Bitte an die Opposition. Herr
Carstensen, es macht überhaupt keinen Sinn, die klare
Bitte der Ministerin, Sie möchten doch in den von der
CDU/CSU regierten Ländern dafür sorgen, dass alle
Landwirte wissen, wohin die Reise geht, mit einem
Schwall an unklaren Äußerungen zu beantworten. Die
Ministerin hat darum gebeten, dass Sie Ihren Einfluss
auf die von Ihnen regierten Länder wahrnehmen, sodass
Ende dieser Woche ein gemeinsamer Vorschlag zur Umsetzung der Luxemburger Beschlüsse auf dem Tisch
liegt. Dann wüssten nämlich alle, wohin die Reise geht.
Wenn Sie das nicht können und wollen, dann unterstreicht das den gesamten Eindruck, den ich an diesem
Haushaltstag gewonnen habe, dass Sie hier nämlich so
und draußen anders reden. So kommen wir nicht weiter.
({16})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende
der Beratung dieses Einzelplans Ihnen, Frau Hasselfeldt,
noch eine kleine Anregung geben. Sie haben Ihre heutige Presseerklärung von 15.26 Uhr mit „Anlässlich der
zweiten Lesung des Haushaltes des Bundesministeriums
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten“ überschrieben.
({17})
Das erklärt, warum Sie so argumentieren, wie Sie es getan haben.
({18})
Eigentlich sollten Sie schon bemerkt haben, dass sowohl
der Einzelplan als auch das Ministerium ganz anders heißen. Wenn nicht meinetwegen, dann nehmen Sie das wenigstens Ihrer Kollegin Heinen zuliebe zur Kenntnis, die
sich, wie ich finde, richtig gut für den Verbraucherschutz
einsetzt.
Ich bedanke mich bei der Ministerin und bei den Kolleginnen und Kollegen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen, dass sie in einer sehr schwierigen Zeit einen
Haushalt mit beraten haben und unterstützen, durch den
drei wirklich wichtige Ziele erreicht werden können:
zum Ersten, Umstrukturierungen endlich nicht nur in die
Wege zu leiten, sondern auch einen guten Schritt weiterzutreiben, zum Zweiten, die notwendigen Konsolidierungen und Einsparungen vorzunehmen, und zum Dritten, den Blick für die Gerechtigkeit und den Sinn für
Wachstum und Beschäftigung nicht zu verlieren.
Herzlichen Dank.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 10, Bundesministerium für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft, in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 10 ist mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 27. November 2003, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.