Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass aus dem
Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft“ der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl als stellvertretendes Mitglied ausscheidet und an seine Stelle der
Kollege Stephan Mayer ({0}) treten soll. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist der Kollege Stephan Mayer in das Kuratorium
der Stiftung entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu Plänen, eine Ausbildungsplatzabgabe einzuführen
({1})
2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
MAD-Gesetzes ({3})
- Drucksache 15/1959 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und
der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1975 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung
und Liquidation von Versicherungsunternehmen und
Kreditinstituten
- Drucksache 15/1653 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({8})
- Drucksache 15/2009 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Klaus-Peter Flosbach
Hubert Ulrich
Carl-Ludwig Thiele
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Ausschusses für Kultur und Medien ({9}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd
Neumann ({10}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Umsetzung des
Bundestagsbeschlusses zur Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses
- Drucksachen 15/1094, 15/2002 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({11})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({12})
4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung
5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke,
Bernd Neumann ({13}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({14}), Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP: Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur
- Drucksache 15/1973 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({15})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes
- Drucksachen 15/1861, 15/1965 ({16})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({17}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur wirksamen Bekämpfung organisierter Schleuserkriminalität ({18})
- Drucksache 15/1560 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({20})
- Drucksache 15/2005 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Günter Baumann
Dr. Max Stadler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Innenausschusses ({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk,
Thomas Strobl ({22}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: Bundesgrenzschutz für die
EU-Osterweiterung tauglich machen
- Drucksachen 15/1328, 15/2005 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Günter Baumann
Dr. Max Stadler
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - so-
weit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem ist vereinbart, die Tagesordnungspunkte 19
- EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie - und 24 b
- Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens
auf See - abzusetzen. Sind Sie mit den Vereinbarungen
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ({23})
- Drucksache 15/1974 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Energiespeicherforschung vorantreiben Höchsttechnologien für die Speichertechnik
entwickeln
- Drucksache 15/1605 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({25})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Brunkhorst, Birgit Homburger, Michael
Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Perspektiven für eine marktwirtschaftliche
Förderung erneuerbarer Energien
- Drucksache 15/1813 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat und
das Europäische Parlament
Nukleare Sicherheit im Rahmen der Europäischen Union
KOM ({28}) 605 endg.; Ratsdok. 15875/02
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie ({29}) des
Rates zur Festlegung grundlegender Verpflichtungen und allgemeiner Grundsätze
im Bereich der Sicherheit kerntechnischer
Anlagen
Vorschlag für eine Richtlinie ({30}) des
Rates über die Entsorgung abgebrannter
Brennelemente und radioaktiver Abfälle
KOM ({31}) 32 endg.; Ratsdok. 8990/03
- Drucksachen 15/503 Nr. 1.3, 15/1153 Nr. 2.20,
15/1781 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Dr. Rolf Bietmann
Birgit Homburger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile dem Kollegen Horst Kubatschka, SPDFraktion, das Wort.
({32})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich zuerst mit den Richtlinienvorschlägen der
EU-Kommission zur Sicherheit kerntechnischer Anlagen und zur Entsorgung abgebrannter Brennelemente
auseinander setzen. Sie sind für uns ein Trojanisches
Pferd, mit dem sich Brüssel zusätzliche Kompetenzen
im Bereich der Energiepolitik aneignen will. Die Weichen zugunsten der Atomenergie sollen neu gestellt werHorst Kubatschka
den. Unter dem Etikett der Verbesserung der Sicherheit
sollen erhebliche Kompetenzen nach Brüssel verlagert
werden. Sie sollen den Einzelstaaten entzogen werden.
Aber: Ein Oberkontrolleur aus Brüssel ist nicht notwendig. Die Pro-Atom-Haltung der zuständigen Generaldirektion Energie und Verkehr der EU-Kommission
wird von uns nicht geteilt. Sie ist mit unserer Politik der
Beendigung der Atomkraftnutzung und der Modernisierung unserer Energieversorgung nicht deckungsgleich.
({0})
Die Zeichen der Nachhaltigkeit werden nicht erkannt.
Wir werden die Rückgängigmachung des Atomausstiegs durch die Brüsseler Hintertür nicht mitmachen.
({1})
Vielmehr ist es unsere Aufgabe, auf einen europäischen
Konsens beim Ausstieg aus der Kernenergie hinzuwirken. In der heutigen Europäischen Union ist nur eine
Minderheit für die weitere Nutzung der Kernenergie. Die
Mehrheit der heutigen EU-Staaten ist in die Nutzung der
Atomenergie nicht eingestiegen bzw. plant den Ausstieg.
Daraus müsste die EU eigentlich die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Hinzu kommt, dass die Vorschläge der Kommission
kaum materielle sicherheitstechnische Verbesserungen
bringen. Vielmehr ist zu befürchten, dass der Status quo
festgeschrieben werden soll. Damit ist eine dynamische
Weiterentwicklung des Standes von Wissenschaft und
Technik nicht mehr ausreichend berücksichtigt.
Die Vorgaben der Kommission zur Entsorgung radioaktiver Abfälle sind angesichts der weiterhin bestehenden Kontroverse über geeignete Endlagerstätten unrealistisch. Schlimmer: Sie sind geeignet, falsche Erwartungen
zu wecken. Es besteht auch die Gefahr, dass es zu unzureichenden Lösungen kommt. Wir wollen nicht die Option zur Errichtung europäischer Endlager. Sie hebelt den
Grundsatz der Betreiberverantwortung aus. Unsere Position war bisher - das galt eigentlich parteiübergreifend -:
Die Entsorgung radioaktiver Abfälle muss in nationaler
Zuständigkeit erfolgen. Wir stehen nach wie vor zu dem
Primat der nationalen Entsorgungsverantwortung.
Einen europäischen Atommülltourismus wird es mit uns
nicht geben.
({2})
Die SPD-Fraktion will ebenfalls den Vorrang der
nicht nuklearen Energieforschung in der Gemeinschaft
erreichen. Die nukleare Energieforschung soll auf die
Fragen des Gesundheitsschutzes, der Sicherheit sowie
der Zwischen- und der Endlagerung begrenzt werden.
Die mittel- und osteuropäischen Länder sollen weiterhin
bei der Verbesserung der Sicherheit der bestehenden Anlagen unterstützt werden. Dies gilt auch für die Entsorgung.
Die SPD-Fraktion bzw. die rot-grüne Koalition lehnt
die Richtlinienvorschläge der EU-Kommission in der
zurzeit vorliegenden Fassung ab. Wir sehen keine Notwendigkeit für eine Ausweitung der atompolitischen
Kompetenzen der EU-Kommission.
({3})
Morgen wird ein erstes sichtbares Zeichen des Atomkonsenses gesetzt: Das Atomkraftwerk Stade geht vom
Netz.
({4})
Per Knopfdruck wird der mittelfristige Ausstieg aus der
Kernenergie in Deutschland eingeleitet. Das Atomkraftwerk Stade wird abgeschaltet, weil die rot-grüne Koalition am 12. Dezember 2001 das Gesetz zur geordneten
Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen
Erzeugung von Elektrizität - in Kurzform: Atomkonsens - beschlossen hat. Nach ausführlichen und nicht
einfachen Verhandlungen mit der Atomwirtschaft
wurde dieser Konsens erreicht. Wir haben nie einen
Hehl daraus gemacht, dass wir uns einen anderen und
vor allem einen schnelleren Ausstieg gewünscht haben.
Der Atomkonsens war sozusagen keine Liebesheirat. Er
war ein Kompromiss zwischen den Beteiligten. Wir stehen aber zu diesem Konsens. Auf unsere Politik und
auf die mit uns geschlossenen Vereinbarungen ist Verlass. Ich appelliere mit allem Nachdruck an alle Beteiligten, sich auch ihrerseits an den Atomkonsens zu halten, und zwar auch im Geiste.
({5})
Eon nennt wirtschaftliche Gründe für die Abschaltung
des Kernkraftwerkes Stade. Das zeigt wieder einmal, wie
wenig Verlass auf die Aussagen der EVUs ist und wie sie
ihre Argumentation nach der jeweiligen Interessenlage
ausrichten. Als vor vier Jahren die ersten Gespräche begannen, wurden erhebliche Schadensersatzforderungen der Betreiber für den Fall angedroht, dass Rot-Grün
die Atomkraftwerke per Gesetz und ohne Zustimmung
der EVUs abschalten werde. Genannt wurde eine wirtschaftliche Lebensdauer von 60 Jahren, die den Schadensersatzberechnungen zugrunde gelegt wurde. Jetzt wird
das Atomkraftwerk Stade nach 31 Betriebsjahren abgeschaltet. Nach Angaben der Betreiber geschieht das, weil
es sich nicht mehr rechnet. Ist das glaubwürdig?
({6})
Natürlich hat die Stilllegung der Kernkraftwerke Auswirkungen auf die Arbeitsplätze, auf die Arbeitnehmer.
Beim allmählichen Ausstieg aus der Kernenergie hat die
Arbeitsplatzfrage für uns Sozialdemokraten immer eine
wichtige Rolle gespielt. Als Berichterstatter für Kernenergie der SPD-Fraktion habe ich selbstverständlich
Gespräche mit meiner Fraktionskollegin Dr. Margrit
Wetzel geführt und sie hat mir versichert: Die Lichter
gehen nicht aus! Der Konsens zum Kernenergieausstieg
hat vielmehr das Ende der Kernkraftwerke berechenbar
gemacht. Das gilt für alle Kernkraftwerke.
Es gibt auch keine Auswirkungen auf die energieintensive Industrie der betroffenen Region. Für die Mitarbeiter in den Kernkraftwerken ist die Zukunft durch den
Konsens planbar. Außerdem bleibt das Kernkraftwerk
Stade noch viele Jahre als Arbeitgeber erhalten. Der
Rückbau beschäftigt die Hälfte der Mitarbeiter für die
nächsten zehn Jahre. Wer wollte, konnte an andere
Standorte innerhalb des Konzerns versetzt werden. Laut
Aussage der Eon-Sprecherin Petra Uhlmann wird sich
für die 300 Beschäftigten voraussichtlich fast nichts ändern. Sie sagte wörtlich:
Die Mitarbeiter werden am Samstag ganz normal
zur Schicht gehen.
Wir erleben eigentlich eine merkwürdige Situation:
Das AKW Stade wird abgeschaltet; gleichzeitig führen
einige Stromkonzerne eine halb öffentliche Diskussion
über eine Verlängerung der Laufzeiten der Reaktoren.
Ich frage mich: Passt das zusammen? Der badenwürttembergische Wirtschaftsminister Döring fordert als
treu sorgender Vertreter der Interessen der heimatlichen
EnBW eine Verlängerung der Laufzeit auf 50 Jahre, damit das AKW Obrigheim nicht 2005, sondern erst 2018
vom Netz geht, und droht mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.
Der Eon-Vorstandsvorsitzende setzt noch einen drauf
und verlangt gleich eine Verlängerung auf 60 Jahre, womit die Meiler seines Unternehmens noch länger laufen
dürften, als sie schon in Betrieb sind. Auch der RWEVorstand Maichel lässt in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Atomforums keine Gelegenheit ungenutzt, den Atomausstieg als Unsinn zu bezeichnen.
({7})
Wenn sich diejenigen Stromkonzerne, die den Atomkonsens mit ausgehandelt und unterzeichnet haben, direkt oder indirekt aus der Vertragstreue stehlen und den
Konsens zur Disposition stellen, dann halte ich das für
unverantwortlich und für eine nicht hinnehmbare Provokation.
({8})
Das geht gegen den Geist des Konsenses.
Es gibt auch Spekulationen über eine deutsche Beteiligung an Atomkraftwerken in Frankreich. Diese Spekulationen wurden von den Stromkonzernen zwar zurückgewiesen; ich möchte trotzdem klar sagen: Eine
Beteiligung der deutschen EVUs an den Kernkraftwerken in Frankreich würden wir als ein Bekenntnis zum
Wiedereinstieg in die Kernenergie auslegen. Dies würde
sicherlich ein erneutes Nachdenken über den Konsens
erforderlich machen.
Dietmar Kuhnt, einer der vier Unterzeichner des
Atomkonsenses seitens der EVUs, hat vor kurzem eine
zum Teil beachtenswerte Rede gehalten, als er von der
Kerntechnischen Gesellschaft zum Ehrenmitglied ernannt wurde. Er hat in der Höhle des Löwen ausgeführt,
dass die Nutzung der Kernenergie mit erheblichen Problemen verbunden sei, die man nüchtern und selbstkritisch
analysieren sollte. Die Nutzung der Kernenergie sei nicht
mehrheitsfähig. Es mangele an gesellschaftlichem Vertrauen in den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken. Diese kritischen Töne sollten sich die EVUs zu Eigen machen.
Blicken wir nicht zurück, blicken wir voraus! Im Energiebereich liegen immense Aufgaben vor uns. Das
EEG ist nur ein Schritt auf dem Weg zu einem nachhaltigen Umbau der Energiesysteme in Deutschland. Unsere
heutige Energieversorgung muss kritisch hinterfragt
werden. Zentrale Großeinheiten, bei denen bis zu zwei
Drittel der eingesetzten Energie als Abwärme anfallen
und damit verschwendet werden, sind nicht zukunftsfähig.
Es sei auch ganz deutlich gesagt: Große OffshoreWindkraftwerke allein sind kein Ersatz für die Atomenergie. Sie sind ein wichtiger Bestandteil eines vielfältigen und vernetzten Systems innovativer und überwiegend dezentraler Energietechnik. Ein anderer Baustein
ist die Nutzung der Erdwärme in der Grundlast.
Ich will hier die verschiedenen Bausteine nicht weiter
aufführen, weil mir dafür die Zeit fehlt; der Herr Präsident ermahnt mich. Die Zukunft liegt auf jeden Fall in
einem innovativen, vernetzten, dezentralen System, das
wir für unsere Kinder und Kindeskinder vorbereiten
müssen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im August
dieses Jahres hat der Umweltminister seinen Referentenentwurf zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorgelegt. Seitdem konnten wir einen langen Streit
zwischen Umwelt- und Wirtschaftsminister mitverfolgen,
einen Streit, der die Branche der erneuerbaren Energien
stark verunsichert, Investitionen behindert und Arbeitsplätze gefährdet hat, einen Streit, der aber auch die Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung in der Klimaschutz- und Energiepolitik deutlich gemacht hat.
({0})
Nach wie vor fehlt es der rot-grünen Bundesregierung
an einem in sich schlüssigen Energieprogramm für die
nächsten 30 Jahre.
({1})
Dies stellt sich gerade jetzt als ein großes Versagen der
Regierung heraus.
({2})
Wenn wir über die zukünftige finanzielle Förderung der
erneuerbaren Energien diskutieren, dann kann dies sinnvollerweise nur auf der Grundlage eines breiten energiepolitischen und Klimaschutzkonzepts erfolgen. Wir könDr. Peter Paziorek
nen den Stellenwert und die Größenordnung der
erneuerbaren Energien nicht losgelöst von einer solchen
Grundsatzentscheidung betrachten. Wir fordern von Ihnen seit Jahren die Vorlage eines solchen energiewirtschaftlichen Konzepts. Sie leisten dies nicht. Der ehemalige Wirtschaftsminister Müller hat noch vor kurzem
hier in Berlin erklärt, dass bisher, also auch zu seiner
Zeit als Minister, alle Versuche gescheitert sind, in der
rot-grünen Koalition einen solchen energiepolitischen
Rahmen zu verabschieden.
Eine Klimaschutz- und Energiepolitik, die heute etwas zum Atomausstieg, morgen etwas zu den erneuerbaren Energien und irgendwann auch zu der Erneuerung
des konventionellen Kraftwerkparks beschließt, ohne
letztlich zu prüfen, wie das eigentlich zusammenpasst,
wird scheitern. Die Folgen Ihrer Streitigkeiten, die Folgen Ihrer Konzeptionslosigkeit treten heute offen zutage.
({3})
Sie haben die Branche der erneuerbaren Energien zutiefst verunsichert.
({4})
Das von Ihnen verursachte Durcheinander hat zu einer
Gefährdung der Existenz bestimmter Branchen wie Photovoltaik, Biomasse und Biogas geführt. In diesen Bereichen sind die Märkte fast vollständig zusammengebrochen und Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet.
({5})
Das haben Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
ganz allein zu verantworten.
({6})
Es ist auch nicht akzeptabel, wie bei den absehbar unterschiedlichen Positionen der beiden Minister für Umwelt
und Wirtschaft in dieser Koalition der Abstimmungsprozess stattgefunden hat. Sie hätten dafür sorgen müssen, dass
Sie rechtzeitig zu vernünftigen Entscheidungen kommen.
So wie Sie in die Beratungen zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes hineingestolpert sind, darf man in
der Umweltpolitik nicht agieren. Das spüren immer mehr
Menschen in Deutschland, die sich für Umweltpolitik
einsetzen.
({7})
Inzwischen wird das von Ihnen wohl auch so gesehen.
Anders ist der heute hier vorliegende Entwurf eines Vorschaltgesetzes zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gar nicht zu verstehen. Sie unternehmen
damit jetzt den Versuch, die Versäumnisse und Fehler Ihrer Politik aus den letzten Wochen und Monaten zumindest bei der Photovoltaik zu heilen.
Wir sehen, wozu die Handlungsunfähigkeit in den letzten Wochen geführt hat. In einem Hauruckverfahren soll
das Vorschaltgesetz zur Photovoltaik jetzt durch das
Parlament gepeitscht werden, um so ein In-Kraft-Treten
zum 1. Januar 2004 zu ermöglichen und um so der betroffenen Wirtschaft noch rechtzeitig ein positives Signal
zu geben.
({8})
Richtig wäre es gewesen, die hier heute zu diskutierende
Frage einer Förderung der Photovoltaik umfassend im
Rahmen der jetzt anstehenden EEG-Novelle zu erörtern.
Es stellt sich auch die Frage, warum nur die Regelung
zur Photovoltaik vorgezogen wird. Sprechen Sie einmal
mit den interessierten Verbänden! Die Situation bei der
Photovoltaik ist nicht einzigartig. Die gleiche katastrophale Lage ist bei Biogas gegeben. Der gesamte Auftragsbestand ist zusammengebrochen. Im Bereich der
Biomasse gibt es Zurückhaltung, weil Ihre Grundsatzentscheidungen zu spät gekommen sind.
({9})
Darüber hinaus hat der Minister die Chuzpe gehabt - das
muss man einmal deutlich sagen -, sich vor dem Brandenburger Tor hinzustellen und zu erklären: „Wir haben
uns hervorragend geeinigt“, in seiner Rede aber nicht zu
sagen, wie die Einigung für Biomasse und Biogas aussieht. Für diese Bereiche soll unter der rot-grünen Regierung der Förderzeitraum von 20 auf 15 Jahre reduziert
werden. Die Eckpunkte, die Sie vereinbart haben, führen
zu dem Ergebnis, dass Biomasse und Biogas in Deutschland keine Chance haben. Da kann man nur sagen: Sie
fahren die Politik für die erneuerbaren Energien vor die
Wand.
({10})
Wie lange wissen Sie denn schon von dem Auslaufen
des 100 000-Dächer-Programms für Photovoltaik?
({11})
Die Tatsache war schon seit Juni dieses Jahres bekannt.
Aber Sie haben das Problem nicht angepackt und es versäumt, rechtzeitig entsprechende Nachfolgeregelungen
auf den Weg zu bringen. Sie haben einfach die Dinge
schleifen lassen und greifen nun zum Notnagel Vorschaltgesetz, weigern sich aber, uns zu erläutern, ob
nicht eventuell auch ein anderes Förderprogramm in der
Nachfolge des 100 000-Dächer-Programms möglich gewesen wäre.
({12})
Sie haben die Angelegenheit vor die Wand gefahren und
rufen nun das Parlament um Hilfe an. Sie sind inzwischen zu Vertretern einer völlig konzeptionslosen Umweltpolitik geworden. Peinlich, peinlich, kann man da
nur sagen.
({13})
Es ist ja nicht das erste Mal - das sage ich, weil Sie
laufend dazwischenrufen -, dass Sie so verfahren. Ich erinnere nur an das überstürzte Vorgehen bei der Härtefallregelung im vergangenen Jahr. Jetzt wollen Sie bei der
Photovoltaik das Gleiche wiederholen. Was Sie, meine
Damen und Herren, bei den erneuerbaren Energien betreiben, ist reine Flickschusterei.
({14})
In diesem Zusammenhang möchte ich für die Union
grundsätzlich feststellen: Das beschleunigte Verfahren
mithilfe eines Vorschaltgesetzes werden wir aufgrund
der besonderen Situation der Photovoltaikbranche in diesem Fall akzeptieren.
({15})
Die Photovoltaikbranche darf nicht zum Opfer Ihrer falschen und verfehlten Politik werden.
({16})
Bei der großen Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz wird es aber ein Durchpeitschen mit uns nicht geben.
In dem Zusammenhang ist auf einen weiteren Aspekt
hinzuweisen: Es war ja schon interessant, wie die Arbeitsteilung zwischen dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium in den letzten Wochen und Monaten
verlaufen ist.
({17})
Während der Umweltminister bei Umweltverbänden
und Vertretern der erneuerbaren Energien eine bessere
Förderung versprochen hat, sagte der Wirtschaftsminister bei den Wirtschaftsverbänden genau das Gegenteil.
So berichtet die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 31. Oktober 2003 von einer Vortragsveranstaltung der Handelskammer Deutschland-Schweiz, an der auch Wirtschaftsminister Clement teilgenommen hat. Da wird wie folgt
über den Minister geschrieben - ich darf zitieren, Herr
Präsident -:
Andererseits geißelte der Superminister der rot-grünen Regierung jedoch die ständig neuen Auflagen
im Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, denen
die Industrie genügen muss …
Das, Herr Müntefering, wäre ein berechtigter Anlass für
einen Zwischenruf; aber ich sehe ja an Ihrem Gesicht,
dass Sie völlig konsterniert und entgeistert schauen.
({18})
Das ist genau das Problem Ihrer Politik: Sie reden so,
wie es Ihrer Klientel gerade passt.
({19})
Deshalb kann ich Ihnen für meine Fraktion ausdrücklich sagen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt
sich zum Verdopplungsziel der Europäischen Union bei
den erneuerbaren Energien. Wir bekennen uns damit auch
zu dem Teilziel, das Deutschland innerhalb der Europäischen Union bis zum Jahre 2010 erreichen soll, nämlich
den Anteil der erneuerbaren Energien auf 12,5 Prozent
beim Stromverbrauch zu erhöhen. Genauso deutlich
sage ich aber auch: Jetzt schon bei den erneuerbaren Energien verbindliche Ziele zu formulieren, die über das
Jahr 2010 hinausgehen, halten wir für falsch.
({20})
Wir sollten uns erst einmal darauf konzentrieren, die bestehenden Ziele zu erreichen.
Nachdem Sie, Herr Kelber, ja gerade so laut „Aha!“
gerufen haben, erlaube ich mir zu entgegnen: Ich habe
das bewusst vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit
der Klimaschutzdebatte der letzten Tage und Wochen
gesagt. Wir haben da einschlägige Erfahrungen mit Ihnen gesammelt. Von Ihnen werden nämlich laufend neue
Ziele formuliert, während Sie sich gleichzeitig von den
alten Zielvorgaben klammheimlich verabschieden.
({21})
Seit 1998 - übrigens auch in mehreren Koalitionsvereinbarungen - wurde von Rot-Grün das Ziel der Regierung
Kohl, den CO2-Ausstoß bis 2005 um 25 Prozent zu verringern, mehrfach bekräftigt. Jetzt aber, wo absehbar ist,
dass Sie dieses Ziel mit Ihrer Politik nicht erreichen können, wird von Ihnen so getan, als ob Sie damit nichts zu
tun hätten.
({22})
Deshalb ist Ihre Klimaschutzpolitik so unredlich: Sie
formulieren Ziele bis 2050,
({23})
sind aber noch nicht einmal in der Lage, selbst gesteckte
Ziele bis 2005 zu erreichen. Das muss man Ihnen vorhalten.
({24})
Für uns stehen bei einer Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes die folgenden vier Ziele im Vordergrund: erstens die Förderung einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik, zweitens die Schaffung effizienter
Anreize, die zu einer weiteren Verbesserung der einzelnen Technologien und zu einer Senkung der Produktionskosten führen, drittens die Begrenzung der Kostenbelastung durch die EEG-bedingte Förderung für die
Stromverbraucher, insbesondere aber auch für stromintensive Unternehmen, und viertens die Schaffung von
Wettbewerbsfähigkeit und damit auch von Exportfähigkeit der erneuerbaren Energien.
Die Förderung der erneuerbaren Energien dient dazu,
möglichst schnell deren Marktreife zu erreichen - ein
Grundsatz übrigens, der für alle Förderinstrumente gilt.
Daraus folgt natürlich auch, dass die Förderung zeitlich
begrenzt sein muss und dass sie vom Gesamtrahmen her
nicht aus dem Ruder laufen darf.
Aber noch haben die erneuerbaren Energien die
Marktreife nicht erreicht, auch wenn in den letzten Jahren erhebliche technische Fortschritte und Effizienzsteigerungen erreicht werden konnten.
({25})
Dieser Prozess muss beschleunigt werden.
Deshalb sage ich für meine Fraktion sehr deutlich:
Wer jetzt die Förderung der erneuerbaren Energien so
beschneiden will, dass sie in ihrer Existenz gefährdet
werden, wird bei der Union keine Unterstützung finden.
({26})
Denn eines muss man in diesem Zusammenhang hervorheben: Wir fördern hier eine junge Industrie, deren Geschäftsfelder sich international gesehen erst entwickeln.
Wir gehen davon aus, dass auf diesem Gebiet zukünftig
große Chancen im Export liegen werden.
({27})
Wir möchten nicht, dass, wenn in einigen Jahren neue
Geschäftsfelder erschlossen werden - wie im Offshorebereich, im Repowering, also bei der Leistungssteigerung der Windkraft, oder bei Biomassekraftwerken, die
mit nachwachsenden Rohstoffen arbeiten -, diese dann
von ausländischen Anbietern besetzt werden und wir
- wie schon in anderen Bereichen - das Nachsehen haben.
Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze bei
uns geschaffen werden, dass deutsche Unternehmen auf
den Weltmärkten bestehen können, dass die Technologie
bei uns entwickelt wird.
Aber dafür muss ein klarer Zeithorizont vereinbart
werden. Eine Dauerförderung lehnen wir ab. Verbindliche Zielvorstellungen, die über 2010 hinausgehen, sind
ohne ein energiepolitisches Gesamtkonzept, das festlegt,
wo wir insgesamt hinwollen, ein völlig falsches Signal.
Wir, die Unionsfraktion, wollen die Unsicherheit in
der Photovoltaikbranche beseitigen und für die Unternehmen Rechts- und Planungssicherheit und damit
Investitionssicherheit schaffen. Der heute hier vorgelegte Gesetzentwurf findet nur deshalb unsere Unterstützung, weil wir uns unserer Verantwortung für die Photovoltaikbranche und die vielen Tausend Arbeitsplätze
bewusst sind. Entscheidend für unser Abstimmungsverhalten in der nächsten Sitzungswoche wird aber sein, ob
die angedachten Fördersätze in dieser Höhe eine Überförderung bedeuten oder nicht. Eine Überförderung, wie
es sie zum Teil bei der Windkraft gab, darf nicht erneut
bei der Photovoltaik auftreten.
So stellt sich zum Beispiel die Frage, warum in Ihrem
Gesetzentwurf der Degressionssprung von heute 45,7 auf
43,4 Cent pro Kilowattstunde im Jahre 2004 nicht mehr
auftaucht. Sie planen damit eine Erhöhung gegenüber der
im EEG vorgesehenen Regelung. Auch müssen die Zuschläge in ihrer Wirkung überprüft werden: Ein Zubauen
von Freiflächen in großem Umfang durch Photovoltaikanlagen wäre unter den Gesichtspunkten des Landschaftsund Naturschutzes kontraproduktiv. Die entscheidende
Frage wird für uns bei der Prüfung somit sein: Wie werden sich die Zuschläge auswirken?
Meine Damen und Herren, wir wollen bei diesem
Vorschaltgesetz zu einer ökonomisch und ökologisch
sinnvollen Lösung kommen, die der Photovoltaikbranche neue Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen
dazu beitragen, dass Ihre Fehlentscheidungen in diesem
Bereich korrigiert werden. Wenn dies gewährleistet ist,
können wir zustimmen.
({28})
Ich erteile Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Dieser Tag wird von zwei großen
Ereignissen eingerahmt: Morgen geht das AKW Stade
vom Netz. Damit beginnt ganz konkret der Atomausstieg, für den besonders wir Grüne lange gekämpft haben.
({0})
Gestern wurde in Neustadt-Glewe das erste Erdwärmekraftwerk eingeweiht. Wenn auch das eine das andere nicht konkret ersetzt, so sind diese beiden Ereignisse doch Ausdruck der rot-grünen Energiepolitik.
({1})
Ein Eckpunkt der zukünftigen Energieversorgung
steht, nämlich das gemeinsame Ziel der Minister für
Wirtschaft und für Umwelt sowie der beiden Fraktionen,
dass wir bis zum Jahr 2020 20 Prozent der Stromversorgung durch erneuerbare Energien bereitstellen wollen.
Ich freue mich, dass die CDU/CSU das mittelfristige
Ziel, bis 2010 einen Anteil von 12 Prozent zu erreichen,
unterstützt. Damit ist klar, dass all diejenigen, die in der
Sommerpause und auch jetzt Fundamentalopposition
hinsichtlich der erneuerbaren Energien betrieben haben,
keine Chance haben, ihre Position durchzusetzen. Es
gibt im Parlament und in der Gesellschaft eine breite
Mehrheit, die für die Förderung der erneuerbaren Energien ist.
({2})
Die erneuerbaren Energien kommen aus der Ökonische
heraus; denn sie werden ein substanzieller Bestandteil
der zukünftigen Energieversorgung sein.
Es gibt die verlogene Debatte, Windkraft sei keine
wertvolle Energie. Vor dem Hintergrund, dass in Dänemark die Windenergie einen Anteil von 22 Prozent hat
und es dort keine Probleme damit gibt, und vor dem Hintergrund, dass wir einen schwankenden Verbrauch haben
und die Energieversorger auch mit einer schwankenden
Energieproduktion umgehen könnten - sie müssen nur
wollen und einen entsprechenden Kraftwerkspark schaffen; Pumpspeicherwerke, die durch den Ausstieg aus der
Atomenergie frei werden, könnten genutzt werden -,
muss ich sagen, dass der Ausbau der Windenergie absolut
machbar und finanzierbar ist.
({3})
Deswegen sage ich: Diese Diskussion ist reine Propaganda.
({4})
Das EEG ist ein reines Innovationsgesetz. Wir haben
in der letzten Zeit eine Kostenreduktion von 60 Prozent
erreicht. Herr Paziorek, Sie blasen die Backen so dick
auf für einen Erfolg der erneuerbaren Energien. Ich freue
mich darüber. Trotzdem muss ich sagen: Zum einen haben Sie beim ersten Mal gegen das EEG gestimmt;
({5})
wir haben es gegen Ihren Widerstand durchsetzen müssen. Zum anderen werden wir sehen, ob Ihre Backen immer noch aufgeblasen sind, wenn es zur Abstimmung
über das Gesetz kommt. Ich hoffe, dass Sie es diesmal
unterstützen.
({6})
Wir jedenfalls wollen die breite Entwicklung der erneuerbaren Energien. Wir wollen eine Perspektive für
Offshore-Windparks, aber auch für den weiteren Ausbau im Binnenland. Wir wollen eine dynamische Entwicklung im Bereich der Biomasse. Wenn die Vergütungssätze nicht ausreichen, werden wir in diesem Punkt
nachbessern. Wir wollen eine dynamische Entwicklung
bei der Nutzung der Erdwärme und die Modernisierung
der Großen Wasserkraft. Wir sagen auch klar, dass sich
das Land Baden-Württemberg positiv zum EEG verhalten muss. Denn es ist ein Widerspruch, auf der einen
Seite die Ausgaben, die mit dem EEG verbunden sind,
erhöhen zu wollen und auf der anderen Seite gegen das
EEG zu sein. Das geht nicht!
({7})
Wir wollen auch eine dynamische Entwicklung bei der
Kleinen Wasserkraft.
Bei der Photovoltaik haben wir uns zu einem Vorschaltgesetz entschlossen. Wir wollen nämlich, dass die
nächste Photovoltaiksaison schon genutzt werden kann.
Die Menschen entscheiden sich im Frühjahr, wenn die
Sonne wieder länger scheint, dass sie sich eine Anlage
aufs Dach setzen.
({8})
Diese Branche braucht Rechtssicherheit. Deswegen bitte
ich Sie, dass Sie das zügige Verfahren mittragen und
dass wir zum Wohle der Photovoltaikindustrie mit dieser
Beratung schnell vorankommen.
Ein Wort zur FDP. Erstens. Sie sagen zwar immer, Sie
seien für die erneuerbaren Energien. Auf der anderen
Seite sagen Sie aber, dass Sie einen Wechsel wollen.
Dieser Wechsel der Instrumentarien würde eine große
Verunsicherung der Branche bewirken. Denn allein
schon die Diskussion, die Herr Paziorek angeführt hat,
verunsichert die Branche. Ein Wechsel des Modells hätte
dramatische Folgen. So weit zu diesem Punkt.
Zweitens. Ihr Modell wird in Großbritannien praktiziert; es führt aber zu keinem weiteren Ausbau der
Windkraft.
({9})
Gleichzeitig sind die Vergütungssätze wesentlich höher
als in Deutschland.
Drittens. Sie sagen, Sie wollen Wettbewerb zwischen
den Trägern der erneuerbaren Energien. Dann sagen Sie
aber auch ganz ehrlich, dass Sie nur den Ausbau der
Windkraft, aber keine Nutzung der Photovoltaik, der Biomasse und der Erdwärme wollen.
({10})
Denn in Konkurrenz zur Windkraft haben die anderen
erneuerbaren Energien keine Chance - noch keine
Chance.
({11})
Seien Sie also ehrlich!
({12})
Die Vision von einem Anteil in Höhe von 20 Prozent,
perspektivisch von 50 Prozent - die Grünen sprechen
von 100 Prozent - ist eine machbare und eine notwendige Vision; denn wir brauchen den Klimaschutz jetzt
und in der Zukunft. Wir müssen die Abhängigkeit vom
Öl reduzieren; wir dürfen nicht mehr am Tropf von fossilen Energieträgern aus Krisenregionen hängen.
Wir sind auf einem guten Weg. Solange wir Grünen
an der Regierung beteiligt sind, solange es eine rot-grüne
Regierung gibt, werden wir diesen Weg unbeirrbar weiter beschreiten.
Ich danke Ihnen.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
von den Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die
Grünen vorgelegte Zweite Gesetz zur Änderung des EEG
zeigt vor allem eines: Das neue Hätschelkind der erneuerbaren Energien soll die Solarenergie sein. Zur Kompensation des 100 000-Dächer-Programms wird mal eben
schnell ein Vorschaltgesetz eingebracht. Das ist Klientelpolitik.
({0})
Entgegen jeder Vernunft und Logik soll damit die unwirtschaftlichste aller Regenerativenergien als erste bedient werden. Laut Aussagen des BSi, des Bundesverbandes Solarindustrie, wird Solarstrom erst am Ende des
Jahrhunderts mit herkömmlichem Strom konkurrieren
können. Das ist Schneckentempo.
({1})
- Das hat der BSi auf einem Kongress vor acht Tagen
selbst gesagt.
({2})
Die Bedeutsamkeit des Anteils der Solarenergie an
den erneuerbaren Energien insgesamt lässt sich auch an
folgenden Zahlen ermessen: So wird durch Wasserkraft
ein Anteil von 53,9 Prozent erzeugt, Windkraft erbringt
einen Anteil von 37,9 Prozent, Biomasse immerhin
8 Prozent und weit abgeschlagen folgt die Solarenergie
mit 0,2 Prozent. Da frage ich mich an dieser Stelle: Welchen nennenswerten Anteil kann die Solarenergie hier in
Deutschland überhaupt zur Erreichung des Klimaziels
erbringen?
({3})
Mit dem heute hier eingebrachten Vorschaltgesetz soll
die Basisvergütung noch einmal angehoben werden. Es
gibt eine Reihe von Aufschlägen zu den verschiedenen
Installationsvarianten. Insgesamt ist es eine komfortable
Verbesserung der Vergütungssätze. Auch Flächeninstallationen will man besonders forcieren. Eines ist merkwürdig: An anderer Stelle erteilt der Umweltausschuss
dem TAB den Auftrag, zu untersuchen, wie man die Flächeninanspruchnahme zurückfahren könnte.
({4})
Meine Überzeugung ist: Die Solartechnologie sollte
man vorwiegend in den Ländern installieren, die als sonnenreich bekannt sind,
({5})
vor allem auch in den Entwicklungsländern, in denen
ein sehr großer Energiebedarf bislang nicht ausreichend
gedeckt werden kann.
({6})
Ich möchte auch noch einmal auf folgende Kostenkonstellation hinweisen: Die Vermeidung einer Tonne
CO2 mit Solarenergie kostet in Deutschland 500 Euro, in
den Entwicklungsländern dagegen nur 5 Euro, ein Hundertstel. Das sollte man doch bitte einmal auf sich wirken lassen.
({7})
- Ja.
Wir reden heute zu meiner großen Enttäuschung im
Zusammenhang mit diesem Vorschaltgesetz nur über
Photovoltaik. Ich sehe hier wieder einmal eine vertane
Chance von Rot-Grün, Energie- und Klimapolitik miteinander zu verknüpfen und die Kioto-Instrumente wie
CDM zu nutzen. Wir fordern, bei klimarelevanten Investitionsprojekten im Rahmen der technischen Entwicklungspolitik insbesondere auch den internationalen Zertifikatehandel zu forcieren.
Ich komme zu unserem eigenen Antrag, der Perspektiven für eine marktwirtschaftliche Förderung der erneuerbaren Energien aufzeigt. In unserem Modell wollen
wir das Klimaziel mit einem Mengenziel und durch Ausschreibungsverfahren erreichen. Die erneuerbaren Energien sind schnellstmöglich durch marktwirtschaftliche
Förderung zur Wettbewerbsfähigkeit zu führen.
({8})
Wenn die erneuerbaren Energien darüber hinaus zukunftsfähig werden sollen, müssen sie grundlastfähig werden. Dabei darf die Netzeinspeisung bei weitem nicht die alleinige
Option bleiben. Eine auf Energiespeicherung aufbauende
Nutzung der erneuerbaren Energien hätte den Effekt,
dass das Vorhalten von Regelenergie zunehmend entfiele. Beides vermeidet Kosten. Hier ist insbesondere an
die Wasserstofftechnologie und die Brennstoffzelle gedacht.
Nicht zuletzt geht es auch um eine Einbindung des
Verkehrssektors in ein klimapolitisches Gesamtkonzept.
In unserem Antrag zur Energiespeicherforschung, der
heute mit beraten wird, fordern wir, hochleistungsfähige
Energiespeicher zu entwickeln. Wir wollen hinausgehend über die derzeit praktizierte anwendungsorientierte
Forschung, bei der es um die Marktfähigkeit und die
Wirtschaftlichkeit von bereits bekannten Energiespeichersystemen - dies ist die so genannte Ressortforschung - geht, die Grundlagenforschung verstärken. In
unserem Energiespeicherantrag wollen wir aber auch mit
Blick auf eine zukunftsfähige Gesamtenergieversorgung
die Bereiche Kernfusionsforschung und kerntechnische
Sicherheitsforschung nicht vernachlässigt sehen.
({9})
Nur so kann sich Deutschland als Standort für die Entwicklung und den Export energiewirtschaftlicher Hochtechnologie bedeutsam positionieren.
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Handlungsmöglichkeiten und Herausforderungen ist der von Umweltminister Trittin vorgelegte Novellierungsentwurf eine - ich
muss dieses Wort noch einmal aufgreifen - ideenlose
Flickschusterei. Die FDP fordert die Bundesregierung
auf, den erneuerbaren Energien endlich eine langfristig
tragfähige Perspektive zu eröffnen. Liberale Vorschläge
liegen auf dem Tisch.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Müller, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbst in
der ökonomischen Debatte liegen Sie weit zurück.
({0})
Ich verweise auf einen Beitrag des „Economist“ in der
vorletzten Woche. Darin wird deutlich herausgestellt,
dass, wenn auf dem Energiesektor überhaupt eine Zukunftschance bestehen soll, dies nur die massive Förderung der Solarenergie und der erneuerbaren Energien
sein kann. Bei Ihnen gibt es in diesem Zusammenhang
einen zentralen Widerspruch. Sie sagen, Sie wollten
diese Energien. Aber Sie wollen nichts dafür tun. Das
geht nicht.
({1})
Da gibt es Konflikte und diese Konflikte muss man austragen.
Das Grundproblem im Energiebereich ist, dass es hier
um lange Nutzungszyklen und hohe Kapazitäten geht.
Deshalb müssen am Anfang die notwendigen Weichen
durch den öffentlichen Sektor, auch durch den Staat, gestellt werden - natürlich mit dem Ziel, dass sich die erneuerbaren Energien bald selbst tragen. Ohne eine Weichenstellung des Staates werden sie sich nicht
durchsetzen. Genau um diesen Punkt drücken Sie sich
herum. Aber an diesem Punkt kommen Sie nicht vorbei,
wenn Sie es mit den erneuerbaren Energien ernst meinen.
({2})
Es ist gut, dass das Parlament eine Energiedebatte führt.
Denn wir stehen wie kaum zuvor in einem Jahrzehnt mit
grundlegenden Weichenstellungen im Energiebereich. Auf
der einen Seite läuft eine alte Energiephilosophie aus. Diese
alte Energiephilosophie war ausschließlich darauf ausgerichtet, hohe Kapazitäten zu schaffen und möglichst
niedrige Erzeugerpreise zu gewährleisten. Dabei wurde
aber nie darüber nachgedacht, ob das wirklich effizient
und zukunftsfähig ist. Auf der anderen Seite müssen wir
in diesem Jahrzehnt darüber entscheiden, wie die Energiepolitik der Zukunft aussieht. Deshalb ist es gut, dass
wir im Bundestag intensiv darüber debattieren.
Ich stelle fest: Mit den beiden zentralen Weichenstellungen, die Rot-Grün bisher vorgenommen hat - der Abschied von der verschwenderischen Atomenergie, mit
der in der Tat keine Zukunft zu machen ist, und der Einstieg in mehr Effizienz und in die Solarenergie -, liegen
wir auf der richtigen Seite - das ist bei aller Kritik im
Einzelnen der entscheidende Punkt -, Sie aber stehen auf
der falschen Seite.
({3})
Dabei muss man auch sehen, dass die Branche das
völlig anders sieht, als Sie, Herr Paziorek, es hier behauptet haben. Sie haben gesagt, Rot-Grün habe die Solarenergie vor die Wand gefahren. Ich glaube, da werden
Sie bei denjenigen, die damit tagtäglich umgehen, keine
Unterstützung finden. Aber das ist Ihr Problem und nicht
unser Problem.
({4})
Wir stehen vor einer grundlegenden Weichenstellung.
Die Notwendigkeit dieser Weichenstellung ist in den
letzten Monaten überall deutlich geworden, beispielsweise bei den großen Stromausfällen in Schweden, Nordamerika und Italien. Da hat man gesehen, dass im Strombereich der Markt allein, besonders wenn er nur auf die
kurzfristige Sicherung von hohen Kapazitätsauslastungen ausgerichtet ist, keine Sicherheit geben kann. Der
bisherige Weg ist heute ökonomisch, ökologisch und gesellschaftspolitisch fraglich. Diesen Weg, den Weg der
Großkapazitäten im alten Sinne, werden wir nicht gehen.
({5})
Ein weiterer wesentlicher Punkt ist: Heute können wir
durch die Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien dezentrale Energietechniken
sehr viel besser miteinander verbinden. Wir brauchen
nicht mehr die alte Philosophie, zu der immer größere
Kraftwerke, immer größere Reserveleistungen und immer größere Entfernungen vom Kunden gehörten. Diese
Chance müssen wir nutzen. Diese kleinteiligen Strukturen braucht die Energiepolitik der Zukunft. Auch da sind
Sie auf der falschen Seite.
Herr Teufel spekuliert nämlich darüber, ob es zu einem Neueinstieg in die Atomenergie kommt. Die
Atomenergie wird nicht nur aus Sicherheitsgründen und
wegen der Entsorgungsproblematik von uns abgelehnt,
sondern auch weil sie einer modernen, effizienten und
umweltverträglichen Energieversorgung im Wege steht.
Das ist der entscheidende Punkt. Wir öffnen den Weg in
die Zukunft und Sie hängen an der Vergangenheit. Das
ist in der Energiepolitik deutlicher als in anderen Bereichen.
({6})
Klimaschutz werden wir nicht mit den ineffizienten
Großstrukturen der Vergangenheit erreichen, bei denen
zwei Drittel der Energie als Abwärme verloren gehen.
Das ist nicht der Weg; das kann er nicht sein. Zur Energiepolitik der Zukunft gehören vielmehr Effizienz in der
Erzeugung, Einsparen und Solarenergie. Diese drei Säulen bestimmen den Weg von Rot-Grün. Das ist der Weg
der Modernisierung unserer Gesellschaft und Wirtschaft.
({7})
Ich komme auf den „Economist“ zurück. Wir müssen
lernen, was die großen Abhängigkeiten von den fossilen
Michael Müller ({8})
Energieträgern bedeuten. Die Abhängigkeit vom Uran
ist übrigens mindestens genauso groß. Das wird immer
verschwiegen. Was ist denn in der Golfregion passiert?
Was passiert im Bereich des Kaspischen Meeres? Was
passiert in großen Teilen der Welt? 2 Milliarden Menschen haben keinen guten Zugang zur Energieversorgung. Wir lösen dieses Konfliktpotenzial nur mit dezentralen, kleinräumigen, effizienten Strukturen. Wir stoßen
hier einen Teil einer friedlichen Weltinnenpolitik an.
({9})
Wir führen keinen Glaubenskrieg über große und
kleine Kraftwerke. Die entscheidende Frage ist: Wie innovativ, wie erneuerungsfähig, wie modern ist das Energiesystem? Die Bewältigung der Herausforderungen der
Zukunft ist unser Maßstab.
({10})
- Das ist Herr Kauder aus Baden-Württemberg, wo man
zu 60 Prozent vom Atomstrom abhängt, aber vom vernünftigen Energiemix redet. Da fasst man sich doch an
den Kopf.
({11})
Sie sind so sehr von einem Energieträger abhängig und
reden von Modernität!
({12})
Hier kommen die Sünden der Vergangenheit heraus, wo
Sie einseitig auf Atomkraft gesetzt haben, die erkennbar
nicht zukunftsfähig ist.
({13})
Diese Sünden holen Sie ein. Das ist doch heute Ihr Problem.
({14})
- Wir haben auch bei der Biomasse mehr angestoßen als
Sie in Ihren 16 Jahren Regierungszeit. So ist doch die
Wirklichkeit. Das wissen Sie ganz genau.
({15})
Welche Fördersätze gab es denn zu Ihrer Zeit? - Die gab
es doch gar nicht.
({16})
Meine Damen und Herren, den Anstoß zur verstärkten Nutzung erneuerbarer Energien hat diese Bundesregierung gegeben. Da beißt die Maus keinen Faden ab.
Da können Sie noch so toben. So ist es eben. Das sollten
Sie zugestehen. Es ist auch eine Frage der Psychologie:
Erst muss man aussprechen, was wahr ist; dann hat man
eine Chance, etwas zu verändern. Sie sprechen aber
nicht einmal aus, was wahr ist. Das ist Ihr Problem.
({17})
Lassen Sie mich noch einmal zum Thema kommen.
Wichtig ist, dass wir einen Weg der ökologischen Modernisierung gehen. Das ist ein Innovationsmotor für
eine bessere Zukunft. Energiepolitik ist ein zentraler
Punkt für ein modernes Europa und eine moderne Gesellschaft. Wir wollen, dass sie eines der Markenzeichen
der Modernisierungs- und Reformpolitik der Bundesregierung bleibt. Es geht eben nicht nur um den Umbau
der Sozialsysteme, sondern auch um bessere Technologien und Innovationen. Es geht darum, die Idee der
Nachhaltigkeit in allen Bereichen zu verwirklichen. Das
gilt auch und gerade für die Energiepolitik, weil das ein
Schlüsselbereich für die Zukunft unserer Gesellschaft
ist.
Deshalb ist es gut, dass wir morgen mit dem Abschalten des Atomkraftwerks in Stade einen ersten wichtigen Schritt tun. Das ist ein unverzichtbares Zeichen dafür, dass wir einen anderen Weg gehen wollen. Das muss
sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis
niederschlagen. Wir glauben, dass auch die Betreiber der
Atomenergie außer wenigen Hardlinern genau wissen,
dass das der richtige Weg ist. Der Kollege Kubatschka
hat hier zu Recht die Rede von Herrn Kuhn zitiert.
Wenn wir diesen ersten Schritt gehen, müssen wir
aber auch den zweiten Schritt gehen. Es geht nicht nur
um Strom, sondern um die ökologische Modernisierung
insgesamt: auch im Verkehrssektor oder im Wärmebereich. In der Vergangenheit hat man Energiepolitik einfach nur mit Strom gleichgesetzt und die Einweihung eines neuen Kraftwerks als große energiepolitische Tat
gefeiert.
Energiepolitik der Zukunft setzt aber vor allen Dingen
auf die Vermeidung von unnötigen Energieeinsätzen.
Das ist ein ganz anderer, aber sehr viel intelligenterer
Ansatz, für den wir stehen.
({18})
- Wenn ich Sie immer höre, bedaure ich es wirklich,
dass Herr Baum nicht mehr im Parlament ist. Mit dem
konnte man über solche Fragen immer gut diskutieren.
Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich sehr viel geändert hat.
({19})
- Da war die FDP noch eine Partei der Umweltpolitik.
Das war damals ein positiver Beitrag für unser Land.
Wir wollen einen Kurswechsel erreichen. Die Förderung erneuerbarer Energien ist ein Fortschritt und ein
Ansatz gegen die Einfallslosigkeit, die in der Vergangenheit geherrscht hat.
Michael Müller ({20})
Wir debattieren heute über zwei wichtige Punkte, und
zwar zum einen über den nationalen Allokationsplan,
den wir gleich verhandeln, und zum anderen über das
EEG. Die Novelle des EEG, über die das Parlament noch
ausführlich beraten wird, ist ein Zeichen für Kontinuität
und Weiterentwicklung. Ich danke Ihnen übrigens dafür,
dass Sie uns entgegen Ihrer bisherigen öffentlichen Aussagen dabei helfen, jetzt so kurzfristig über die Frage der
Photovoltaik zu entscheiden. Das ist positiv. Das erkenne ich auch an.
({21})
Hinsichtlich der zwei gerade angesprochenen Punkte
bitte ich darum, dass wir zu mehr Gemeinsamkeit finden. Zum Thema Klimaschutz herrschte in diesem Land
einmal große Gemeinsamkeit und das ist diesem Land
gut bekommen. Bei der großen Aufgabe, die Energiesysteme zu erneuern, sollten wir wieder zu mehr Gemeinsamkeit finden, unbeschadet dessen, dass wir in Einzelpunkten immer wieder kontroverse Auffassungen haben
werden. Es wird unserem Land aber gut tun, wenn wir
Vorreiter bei einer neuen, effizienten und solaren Energieversorgung sein werden.
Vielen Dank.
({22})
Ich erteile dem Kollegen Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion um erneuerbare Energien wird häufig ideologisch oder emotional oder gar mit einer Mischung aus beidem geführt, wie es ja hier heute Morgen
wieder lebhaft vorgeführt wurde. Das ist aber falsch. Das
Thema ist nüchtern und sachlich anzugehen. Und die
Wahrheit ist immer konkret. Die erneuerbaren Energien
haben ihre Berechtigung und sollen zukünftig eine verstärkte Rolle spielen. Der Kollege Paziorek hat vorhin
ausgeführt, welche Position die Union dabei einnimmt.
Aber die erneuerbaren Energien sind eben kein Allheilmittel.
Bei aller Begeisterung über die erneuerbaren Energien ist deren Förderung vor allem an den finanziellen
und wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu orientieren.
Energiepolitik findet nicht im luftleeren Raum oder gar
im Raumschiff „Enterprise" statt. Energiepolitik ist
Standortpolitik. Dabei geht es um Arbeitsplätze, um Investitionen, um die Attraktivität des Standortes Deutschland.
({0})
Die Energiepolitik und insbesondere die Energiepreise sind wichtige Wettbewerbsfaktoren für unsere
Unternehmen; ebenso sind günstige Energiepreise für
den privaten Konsum wichtig. Wir brauchen in Deutschland Energiepreise, die im europäischen Maßstab wettbewerbsfähig sind. Wir als Union wollen eine langfristig
kostengünstige, international wettbewerbsfähige und
umweltverträgliche Energieversorgung für Unternehmen
und Verbraucher.
({1})
Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen wir eine Energiepolitik aus einem Guss. Isolierte Aktivitäten in einzelnen Sektoren helfen nicht weiter: hier der Ausstieg
aus der Kernenergie mit der nach wie vor ungelösten
Entsorgungsfrage, dort die Aktivitäten zur CO2-Reduktion und der Einstieg in den Emissionshandel, dann Planungs- und Investitionsunsicherheit hinsichtlich des
Ersatzbedarfs bei Kraftwerken - dies ist schon angesprochen worden; der Ausstieg aus der Kernenergie erfordert
einen Ersatzbedarf in Höhe von 22 000 Megawatt, zusätzlich werden in den nächsten zehn, 15 Jahren
40 000 Megawatt bei konventionellen Kraftwerken benötigt -, die Entwicklung der erneuerbaren Energien
usw. Überall sind zum Teil hektische Aktivitäten zu verzeichnen, ohne dass ein Gesamtkonzept erkennbar wäre
oder gar angestrebt würde.
({2})
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt,
die Wahrheit sei immer konkret. Wie sieht die konkrete
Bilanz in Euro und Cent nach fünf Jahren rot-grüner
Energiepolitik aus?
({3})
Ich greife exemplarisch den Stromsektor heraus. Die
staatlich verursachte Belastung aller Stromkunden hat
sich seit 1998 verfünffacht. Ich wiederhole, meine sehr
geehrten Damen und Herren: verfünffacht!
({4})
Ich erläutere Ihnen das im Einzelnen: Sie haben die
Ökosteuer beim Strom neu eingeführt, die Konzessionsabgaben sind gestiegen, die Belastung durch die erneuerbaren Energien ist geradezu explodiert und Sie haben
das KWK-Gesetz neu eingeführt. Im Jahre 1998 betrug
die Belastung der Stromkunden in Deutschland
2,28 Milliarden Euro. Diese Belastung ist in den letzten
fünf Jahren über 4 Milliarden Euro, 7 Milliarden Euro,
8,5 Milliarden Euro und 9,5 Milliarden Euro in diesem
Jahr auf 12,6 Milliarden Euro angestiegen. Das Ergebnis
rot-grüner Energiepolitik ist also eine Verfünffachung
der Belastung gegenüber dem Jahr 1998.
({5})
Bei diesen Zahlen wird einem schwindelig. Wenn
man jetzt noch die Ökosteuer auf Kraftstoffe dazunimmt, dann sind wir wirklich in Absurdistan. Rot-Grün
verfährt hier aber offensichtlich nach dem Motto: Ist der
Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert.
({6})
Bei der Neuverschuldung für das Jahr 2003 waren im
Haushalt zunächst 18,9 Milliarden Euro veranschlagt,
am Ende werden es 43,3 Milliarden Euro sein.
({7})
- Die kommen gleich. - Bei der Maut fehlen 1 bis 2 Milliarden Euro. Sie rechnen offenbar damit, dass bei Ihrem
Chaos die Milliarden bei der Energie irgendwie mit untergehen. Bisher - das muss ich Ihnen in der Tat attestieren - ist Ihre Rechnung aufgegangen. Die Abzocke im
Energiebereich ist in der politischen und in der öffentlichen Diskussion untergegangen. Das werden wir ändern,
meine sehr geehrten Damen und Herren.
Jetzt werde ich noch konkreter: Was bedeutet diese
Belastung - die Milliarden sind ja immer nur sehr virtuell und für den einzelnen Bürger nicht so greifbar - für
den einzelnen Bürger, die Familien und die Unternehmen in diesem Land? Wir haben einmal ausgerechnet,
was Ihre Politik, Ihre Beschlüsse für eine Familie mit
zwei Kindern, einer Wohnung mit 100 Quadratmetern,
einem durchschnittlichen Stromverbrauch von 5 000 Kilowattstunden im Jahr, einem Heizölverbrauch von
2 500 Litern pro Jahr sowie einem PKW mit einem
Durchschnittsverbrauch von 8,9 Litern auf 100 Kilometer und einer durchschnittlichen Fahrleistung von
12 700 Kilometern im Jahr bedeuten. Sie belasten diese
Familie im Jahr 2003 mit staatlich verursachten Abgaben in Höhe von 421,33 Euro.
({8})
Zum Vergleich: Das Vorziehen der dritten Stufe Ihrer
vermurksten Steuerreform von 2005 auf 2004 bringt
brutto eine Entlastung von einmalig 16 Milliarden Euro.
Wenn man das umrechnet, kommt man zu dem Ergebnis,
dass für den einzelnen Bürger gerade einmal ein Bruchteil dessen übrig bleibt, was Sie ihm über die Energieund Stromabrechnung auf subtile Weise aus der Tasche
ziehen - Prinzip „rechte Tasche, linke Tasche“! Das ist
moderne Wegelagerei und nichts anderes.
({9})
In der Wirtschaft sieht es nicht anders aus. Sie beeinträchtigen auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit
unserer Unternehmen. Ich kann Ihnen ein konkretes
Beispiel aus meinem Wahlkreis in der Region Stuttgart
nennen
({10})
- ich spreche gerade über die Zukunft Ihrer Energiepolitik -: Ein mittelständisches Unternehmen aus dem Automobilzuliefererbereich hat eine Investitionsentscheidung
nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Stromkosten
gegen Deutschland gefällt. Das werden wir nicht weiter
mitmachen. Verbraucher und Wirtschaft sind nicht unbegrenzt belastbar.
Jetzt zum EEG. Wie hat sich das EEG im Detail entwickelt? Am Anfang stand das Stromeinspeisungsgesetz, das zu Beginn der 90er-Jahre übrigens nicht von Ihnen, sondern von der Union eingeführt wurde.
({11})
- Richtig, zusammen mit der FDP. - Das Vergütungsvolumen betrug 50 Millionen DM pro Jahr. In diesem Jahr
wird das Vergütungsvolumen eine Höhe von 2,7 Milliarden Euro erreichen. Mir ist klar, dass man den Wert des
eingesparten Stroms entsprechend abzuziehen hat, aber
auch dann bleibt noch immer ein Subventionsvolumen
von knapp 2 Milliarden Euro übrig, das die Verbraucher
und die Wirtschaft zu tragen haben. Wenn Sie das mit
der bisherigen Dynamik so weitertreiben, dann kommen
wir im Jahr 2010 auf ein direktes Vergütungsvolumen
von bis zu 7 Milliarden Euro allein aus dem EEG.
({12})
Hinzu kommen die Kosten für den Netzausbau und die
Regelenergie. Das ist nicht zu schultern. Die Union wird
daher in den nächsten Wochen ein Konzept vorlegen,
wie wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben
und gleichzeitig die Belastung für Wirtschaft und Verbraucher begrenzen und das gesamte System effizienter
machen können.
({13})
Zum Photovoltaik-Vorschaltgesetz: Die Photovoltaik ist unstrittig eine interessante und zukunftsträchtige
Technologie, und zwar nicht nur begrenzt auf den Einsatz in Deutschland, sondern vor allem auch für den Export. Auf diesem Feld wollen wir Technologieführer,
Marktführer bei der Produktion und im Verkauf sein. Die
Photovoltaik ist bei der regulären Stromerzeugung und
der Einspeisung in das Netz - das gilt zumindest für Mitteleuropa - noch weit von der Wettbewerbsfähigkeit entfernt. Wir befinden uns in der Entwicklungs-, bestenfalls
in der Versuchs- und Demonstrationsphase. Es geht in
absehbarer Zeit also nicht, wie bei anderen erneuerbaren
Energien, um die Markteinführung oder gar um die
Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Energieträgern aus
fossilen oder erneuerbaren Energiequellen, sondern vor
allem um Technologieforschung. Das wird auch an den
von Ihnen vorgeschlagenen Vergütungssätzen deutlich.
Diese reichen von 45,7 Cent pro Kilowattstunde bis
62,4 Cent pro Kilowattstunde. Damit bewegen wir uns,
was die Kosten gegenüber anderen Energieträgern angeht, im Bereich von Faktor 10.
Die Photovoltaik ist heute aber bereits für den Inselbetrieb und vor allem für die Nutzung in anderen, sonnigeren Länder interessant. Um Märkte erschließen und
exportieren zu können, sind Größendegressionseffekte
bei der Fertigung zu erzielen. Die Frage ist nur: Soll die
Exportförderung - das frage ich Sie ernsthaft - der eh
schon über Gebühr belastete Verbraucher zahlen? Ist die
Exportförderung nicht vielmehr Aufgabe von Forschungs- und Technologieförderung oder von Außenwirtschaftsförderung? Ihr Vorschlag ist insofern systemfremd.
({14})
Kommen Sie mir nicht mit der Haushaltslage. Wo ein
Wille ist, ist auch ein Weg. Bei der Förderung der Zukunftstechnologie Photovoltaik geht es um einige hundert Millionen Euro. Das ist zwar viel Geld, aber Sie
sind auch nicht bereit, diese Mittel zur Verfügung zu
stellen. Herr Müller, Sie haben gerade dampfplaudernd
über viele Bereiche gesprochen, den Bereich Steinkohle
haben Sie aber vergessen. Ich will Ihnen in Erinnerung
rufen: In dieser Woche hat Ihr Kanzler in den öffentlichen Haushalten en passant 17 Milliarden Euro für die
Steinkohle bereitgestellt.
Sie haben wertvolle Zeit verplempert und die gesamte
Branche verunsichert. Spätestens seit Frühjahr dieses
Jahres wissen Sie dies. Nachdem Sie ein halbes Jahr
nichts unternommen haben, können Sie jetzt nicht andere für Ihre Fehler verantwortlich machen. Machen Sie
endlich Ihre Hausaufgaben und beantworten Sie die gestellten Fragen, damit wir für diese und für andere Branchen Planungs- und Investitionssicherheit erreichen können!
({15})
Lassen Sie mich abschließend noch zu einem anderem Thema, das in dieser verbundenen Debatte auch aufzurufen ist, einige Sätze sagen. Es geht um das „Nuklearpackage“. Wir lehnen - auch meine Vorredner haben das
gesagt - den Eingriff in originäre nationale Zuständigkeiten ab. Die Rückstellungen der deutschen Energieversorgungsunternehmen gehören zu den wenigen Wettbewerbsvorteilen, die wir innerhalb Europas noch haben.
({16})
Für den Rückbau der Nukleartechnik und die Entsorgung in Deutschland haben die deutschen Energieversorgungsunternehmen Rückstellungen in einer Größenordnung von 30 Milliarden Euro getätigt.
({17})
In Frankreich, das im Bereich der Kerntechnik einen wesentlich höheren Anteil hat, sind es weniger als
20 Milliarden Euro. Andere haben noch viel geringere
Rückstellungen gebildet.
Wir lehnen die Sozialisierung dieser Rückstellungen
innerhalb Europas, die einen Wettbewerbsvorteil für unsere Unternehmen darstellen, im nationalen Interesse ab
und rufen die Bundesregierung auf, dies bei den jetzt anstehenden Beschlüssen zu verhindern, damit wir neben
den anderen Benachteiligungen, die Sie uns mit Ihrer
Politik schon auferlegt haben - ich habe es aufgeführt -,
nicht auch noch in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten und den letzten Wettbewerbsvorteil innerhalb
Europas verlieren.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beneide die Kollegin Merkel nicht um ihre Aufgabe, die diversen Positionen, die es in der Union gibt, zusammenzuhalten. Heute muss sie den Herrn Pfeiffer und den
Herrn Paziorek zusammenbinden. Herr Paziorek sagt, es
gebe viel zu wenig für die Biomasse, und Herr Pfeiffer
sagt, wir müssten mit der Förderung drastisch heruntergehen. Dies zusammenzubinden kann man nur im Pfeifferschen Drüsenfieber oder solange man auf der Oppositionsbank sitzt.
({0})
Morgen geht das Kernkraftwerk Stade vom Netz.
Das ist der sichtbare Beleg dafür, dass die Atomenergie
in Deutschland keine Zukunft hat.
({1})
In den USA sollen diese Altanlagen 60 Jahre laufen; wir
halbieren die Laufzeit. Damit wird der Weg für eine sichere und zukunftsfähige Energiestruktur frei. Abgeschriebene und über Jahre hoch subventionierte Altanlagen dürfen die Investitionen in die Energiestruktur von
morgen nicht länger blockieren.
({2})
Allein in Deutschland müssen wir Kraftwerkskapazitäten von 40 000 MW ersetzen; in ganz Europa sind es
200 000 MW. Die Mehrheit der Staaten in der Europäischen Union ist heute frei von Atomenergie oder auf
dem Weg heraus aus der Atomenergie. Explizit nenne
ich Belgien, Schweden und die Bundesrepublik; implizit
trifft das auch auf das Vereinigte Königreich und die
Niederlande zu.
Kein Land steigt aber so schnell aus wie die Bundesrepublik Deutschland. Bis 2020 werden wir die Kraftwerke abgeschaltet haben. Das heißt, bis dahin gehen
30 Prozent der Kraftwerkskapazitäten allein aufgrund
dieser Tatsache vom Netz. Für uns alle gemeinsam bedeutet das: Kein Land muss sich so schnell um Ersatzkapazitäten bemühen wie die Bundesrepublik Deutschland. Das geht nur mit einer Energiepolitik, die sich von
allen Vereinseitigungen verabschiedet. Sie muss auf drei
Säulen begründet sein: auf erneuerbare Energien, auf Effizienz und auf Energieeinsparung.
Wir haben uns in der Koalition zusätzlich vorgenommen, bis 2020 40 Prozent der Treibhausgase in
Deutschland einzusparen. Wenn wir dies bis 2020 erreichen wollen - Herr Paziorek, das ist der Grund für
diese Maßzahl -, dann geht das nur mit konsequenter
Energieeinsparung. Man kann nicht hier im Bundestag
Energieeinsparung fordern und gleichzeitig alle dafür
erforderlichen Instrumente bekämpfen. Aus der von
Ihnen beschimpften Ökosteuer zahlen wir die 340 Millionen Euro für die CO2-Einsparungen im Bereich von
Gebäuden. Sie haben dafür 12 Millionen Euro aufgewendet.
({3})
Wenn wir die Energieeffizienz wirklich verdoppeln
wollen, brauchen wir einen ökonomischen Anreiz für effizientere Kraftwerke. Dafür gibt es das Instrument des
Emissionshandels. Wir müssen den Ausbau erneuerbarer
Energien forciert fördern. Das ist Zweck des Gesetzes.
Deswegen haben wir in dem Gesetzentwurf quantifiziert, dass wir bis zum Jahre 2020 20 Prozent unseres
Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugen wollen. Es
spricht Bände, Herr Paziorek, wenn Sie immer betonen,
Sie seien für die erneuerbaren Energien, sich aber
gleichzeitig gegen diese Zweckbestimmung wenden.
({4})
Diese beiden Ziele, Steigerung der Energieeffizienz
und Ausbau erneuerbarer Energien, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beides kann nur miteinander funktionieren. 20 Prozent zu erreichen ist das Ziel
des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Aber wir wollen
denjenigen, die in diesem Sektor tätig sind, klar machen:
Am Ende muss für sie die Marktfähigkeit stehen. Deswegen haben wir die Degression durchgehend auch da
festgeschrieben, wo es dem einen oder anderen wehtut,
beispielsweise im Bereich der Biomasse, was Sie angesprochen haben.
({5})
Dabei müssen wir auch darauf achten, dass die Kosten für die erneuerbaren Energien die Haushalte nicht
übermäßig belasten. Deswegen haben wir dafür Sorge
getragen, dass beispielsweise nicht nur große, sondern
auch mittlere Unternehmen von der Härtefallregelung
profitieren können, aber gleichzeitig eine Deckelung
vorgenommen: Wenn heute der Klimaschutz durch die
Förderung erneuerbarer Energien 1 Euro pro Haushalt
und Monat kostet, dann darf das künftig nur 1,10 Euro
sein. Das ist Politik mit Augenmaß: Förderung der erneuerbaren Energien und Beachtung der Kostenseite,
aber keine Umgestaltung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in eine reine Konsumentenumlage!
({6})
Die Koalitionsfraktionen beschließen heute ein Vorschaltgesetz für die Photovoltaik, das die Mindestvergütung für Strom aus diesen Anlagen auf 45,7 Cent pro Kilowattstunde festschreibt. Ich will darauf verweisen,
dass wir die bürokratische Deckelung bei den großen
Anlagen abschaffen und dass die Fördersätze für die Installation an Gebäuden, insbesondere für den Einsatz
von Photovoltaik in Fassaden - das ist eine der wesentlichen Zukunftsfragen -, erhöht werden. Damit wird künftig die Förderung der Photovoltaik, die in Deutschland
inzwischen dazu geführt hat, dass wir in Europa Spitzenreiter bei der Anwendung der Photovoltaik sind, allein
durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz getragen.
Das ist jedoch nicht nur eine umwelt- und klimapolitische Frage. Ich war letzte Woche bei Solar-World in
Freiberg in Sachsen. Dort wird die gesamte Wertschöpfungskette, von der Siliziumproduktion bis zur Fertigung
der Module, in einer Fabrik abgearbeitet. Dort sind aus
120 Arbeitsplätzen im Jahr 2000 inzwischen 425 Arbeitsplätze geworden. Der Wirtschaftszweig der erneuerbaren Energien hat schon heute eines erreicht: Mit mehr
als 130 000 Menschen arbeiten in dieser Branche mehr
als in der Kohle- und Nuklearindustrie zusammen.
Dies verteilt sich sehr unterschiedlich auf das Bundesgebiet. Ein Schwerpunkt sind die nördlichen Bundesländer - Neustadt-Glewe ist bereits angesprochen worden -, im Osten der Republik tut sich einiges. Aber im
Süden, in Bayern und Baden-Württemberg, gibt es noch
gallische Dörfer, wo die Landesregierung nichts anderes
zu tun hat, als jede Anlage von erneuerbaren Energien
mit allen bürokratischen Mitteln zu schikanieren und zu
verhindern.
({7})
Reden Sie mal mit den Investoren von Ostwind, reden
Sie mit denen, die beispielsweise nicht nur Windanlagen, sondern auch Biomasseanlagen in Bayern genehmigen lassen wollten!
Dann wissen Sie, was bayerische Regelungswut und
bayerische Bürokratie alles bewirken kann, nämlich die
Verhinderung von Investitionen und der Schaffung von
Arbeitsplätzen.
({8})
Das passt nicht mit den Reden über erneuerbare Energien zusammen.
({9})
- Über das Dosenpfand brauchen Sie mir nichts zu erzählen. Ich habe gegen die Bayerische Staatsregierung
die Vernichtung der bayerischen mittelständischen und
kleinen Brauereien verhindert. Das sehen die genauso.
({10})
Zu der Frage der Energieeffizienz in der Energiepolitik.
Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Bitte schön, Herr von Klaeden.
Herr Bundesminister, da Sie eben selber das Dosenpfand angesprochen haben,
({0})
darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass mittlerweile eine eidesstattliche Erklärung von acht Personen,
allesamt Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter
- von Beruf sind diese Linienführer, Dreher, Maschinist,
Industriemeister, Maschinenschlosser, Maschinenführer,
Elektroniker -, vorliegt, die an einem Gespräch mit Ihrem Staatssekretär teilgenommen haben,
({1})
wonach auf die sinngemäße Feststellung eines Betriebsrats, dass die Einwegindustrie und die Arbeitsplätze den
Bach heruntergingen, Ihr Staatssekretär, Herr Baake, gesagt habe: „Ja, meine Herren, dies ist politisch auch so
gewollt.“
({2})
Sie haben hier vor dem Deutschen Bundestag genau das
Gegenteil behauptet. Ich darf Sie bitten, zu dieser eidesstattlichen Erklärung Stellung zu nehmen.
({3})
Herr von Klaeden, Sie können sich ganz schnell wieder hinsetzen. Ich habe der Feststellung - die ich hier
schon gemacht habe -, dass mein Staatssekretär diese
Unterstellung schon mehrfach zurückgewiesen hat,
nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen.
({0})
- Bevor Sie sich hinsetzen,
({1})
möchte ich Sie fragen - dann ist die Frage abschließend
beantwortet, Herr Parlamentarischer Geschäftsführer -,
ob es mit den Regeln, die sich dieses Haus gegeben hat,
vereinbar ist, Debatten zu Themen auf diese Weise zu
gebrauchen, um nicht das Wort „missbrauchen“ zu verwenden.
({2})
Das müssen die Parlamentarischen Geschäftsführer untereinander klären; dafür fehlt mir die Beurteilung.
({3})
Wir kommen zum Thema zurück: Wie sieht die Energieversorgung von morgen aus? - Es bedarf auch der Effizienz.
Was knapp ist, wird sorgsam und kosteneffizient bewirtschaftet. Für die Knappheit gibt es ein Instrument, nämlich den Vertrag von Kioto. Bis 2010 dürfen Industrie,
Energiewirtschaft, Gewerbe, private Haushalte und Verkehr in Deutschland nicht mehr als 841 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Das ist die Obergrenze und diese
Obergrenze gilt ohne Ausnahme.
Damit bekommt der CO2-Ausstoß einen Preis, der in
Tonnen gemessen wird. Künftig kostet übermäßige Klimabelastung den Verursacher Geld.
({4})
Einsparungen aber kann man überall in Europa verkaufen. Grundlage für die Vergabe dieser Mittel wird der
CO2-Emissionshandel sein. Das Einsparziel der deutschen Industrie von 45 Millionen Tonnen ist maßgebend,
nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Sie werden sich mit dem zugrunde liegenden Gesetz,
das heißt mit der Frage der wesentlichen Regeln, auf deren Basis wir diese Emissionsrechte verteilen, hier im
Bundestag beschäftigen müssen. Die Bundesregierung
wird im Dezember das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz verabschieden und danach haben Sie zu entscheiden. Sie haben danach nicht nur über diese allgemeinen
Regeln zu entscheiden, sondern Sie werden sich untereinander - auch zwischen den Positionen von Herrn
Pfeiffer und Herrn Paziorek - zu einigen haben.
({5})
Sie werden sich über die Frage zu einigen haben, wie
viele Millionen Tonnen CO2 die privaten Haushalte, wie
viele Millionen Tonnen CO2 der Verkehr, wie viele Millionen Tonnen CO2 die Energiewirtschaft, die Industrie
und das Gewerbe emittieren dürfen, und zwar bis 2020,
spezifiziert nach nachrechenbaren Tonnen.
({6})
Ich bin sehr gespannt,
({7})
ob Sie das Vorgehen, das Sie hier an den Tag legen - nämlich die von Ihnen selbst bewirkte Verfehlung klimapolitischer Ziele zu bejammern, aber gleichzeitig jede konkrete Maßnahme zur Erreichung dieser Ziele im
Bundestag zu blockieren -, auch weiter durchhalten werden.
({8})
Ich bin der festen Überzeugung: Der Emissionshandel
bietet eine Chance für die deutsche Wirtschaft; er erleichtert ihr übrigens auch den Klimaschutz.
Mehr Effizienz ist eine der Säulen der Versorgungssicherheit von morgen. Effizienz, erneuerbare Energien
und Energiesparen bilden die Grundlage für die VersorBundesminister Jürgen Trittin
gungssicherheit, aber auch für einen vernünftigen Klimaschutz auch und gerade im Interesse künftiger Generationen.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute ein sehr wichtiges Thema. Herr Minister Trittin, Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, der Ausstieg aus der Kernenergie sei der Einstieg in eine sichere
und zukunftsfähige Energieversorgung. Dem muss ich
entgegenhalten: Ohne ein konkretes Energiekonzept für
den Wirtschaftsstandort Deutschland
({0})
ist der Ausstieg aus der Kernenergie noch lange kein
Einstieg in eine sichere Energieversorgung. Ein solches
Konzept fehlt, Herr Trittin!
({1})
Deswegen möchte ich für meine Fraktion betonen:
Wir wollen ein Energiekonzept, das auf der einen Seite
die Versorgungssicherheit für dieses Land gewährleistet,
das aber auf der anderen Seite einen neuen Energiemix
beinhaltet, der Unabhängigkeit von politisch instabilen
Regionen schafft. Angesichts der beim Erdöl und Erdgas
bestehenden Abhängigkeit von Ländern, die politisch
bei weitem nicht stabil sind, ist ein umfassendes Energiekonzept geboten.
Dazu gehören aber mehrere Komponenten, nämlich
das Energiesparen und die Energieeffizienz.
({2})
Einzubeziehen ist nicht nur der Strommarkt, sondern
sind auch der Wärmemarkt und - Herr Müller hat es angesprochen - der Verkehrsbereich. Wenn Sie das alles
mit einbeziehen wollen, dann müssen Sie den Mut aufbringen, in moderne Technologien - auch in die Speichertechnologie - einzusteigen. Nur dann werden Sie es
schaffen, den erneuerbaren Energien eine Zukunft zu geben.
({3})
Das hat zum einen damit zu tun, dass die Verfügbarkeit
von erneuerbaren Energien zum Teil sehr schwankt.
Sie müssen zum anderen auch berücksichtigen, dass
beim Netzausbau und dem Vorhalten der Regelenergiereserve Kosten entstehen. Deswegen ist es dringend erforderlich - aus diesem Grunde haben wir unseren Antrag zum Thema Speichertechnologie vorgelegt -, die
Netzunabhängigkeit der erneuerbaren Energien zu erreichen.
({4})
Nur so können wir ihnen in Deutschland eine riesige Zukunftsperspektive geben.
({5})
Im Zusammenhang mit den beiden in Ihren Vorlagen
zum Thema Atomenergie erwähnten Richtlinien der Europäischen Union, über die wir heute auch beraten,
möchte ich Ihnen eines sagen: Wir sind uns in einigen
Punkten durchaus einig, aber Sie nutzen das wieder für
eine ideologische Kundgebung. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Wenn wir über die sichere Energieversorgung dieses
Landes diskutieren, dann geht es nicht um heute und
morgen. Es geht vielmehr um eine Perspektive für die
nächsten 50 Jahre oder mehr. Wenn wir in solchen Perspektiven denken, dann geht es nicht an, den Vorrang
von nicht nuklearer Energieforschung in Europa festzuschreiben, wie Sie das wollen. Wir müssen vielmehr die
Chance ergreifen, mit dem internationalen Projekt ITER
die Fusionsforschung in Europa zu halten und die Bundesrepublik Deutschland daran zu beteiligen.
({6})
Ich möchte noch etwas zu der Feststellung der Kollegin Hustedt anmerken, dass die Energieversorger durchaus in der Lage seien, schwankende Energiemengen zu
handhaben. Ich möchte Ihnen nur eines sagen, Frau
Hustedt: Technisch ist das möglich. Aber Sie müssen
auch die finanziellen Auswirkungen einplanen. Wir sind
der Meinung, dass wir, wenn wir die Zukunftsfähigkeit
der erneuerbaren Energien sicherstellen wollen, eine intelligente Verknüpfung der Photovoltaik - über den Entwurf eines entsprechenden Vorschaltgesetzes reden wir
ja heute morgen - mit dem Emissionshandel brauchen.
Herr Minister Trittin, Sie haben gesagt, dass Sie das machen wollen. Aber warum haben Sie das nicht schon
längst getan? Das ist doch die Frage, die Sie sich stellen
lassen müssen.
({7})
Ich sage klar und deutlich: Wir können durch die Verknüpfung mit dem Emissionshandel Exportmöglichkeiten und riesige Chancen für die Photovoltaik eröffnen;
das will die FDP. Wenn wir den erneuerbaren Energien
nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine Zukunft
geben wollen, dann müssen wir das Ganze effizient organisieren und Kostensenkungspotenziale realisieren.
Das sind wir den Menschen in diesem Lande schuldig.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Marco Bülow, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange
Zeit haben konservative Kräfte geleugnet, dass die Erde
um die Sonne kreist. Doch sie konnten den Fortschritt
nicht aufhalten. Dieses Phänomen scheint sich nun zu
wiederholen. Vehement leugnen heute andere starke
Kräfte, dass bereits in absehbarer Zeit ein Großteil des
Energiehungers mit der Kraft der Sonne gestillt werden
kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich der Fortschritt erneut durchsetzen wird.
({0})
Diesmal steht allerdings mehr auf dem Spiel und wir
haben deutlich weniger Zeit. Der bildliche Satz „Nach
mir die Sintflut!“ könnte zur grausigen Realität werden.
Damit das nicht Realität wird, reicht nicht nur die Erkenntnis aus - diese haben auch einige aus der Opposition -, dass wir große Potenziale der erneuerbaren Energien, insbesondere der Sonnenenergie, nutzen können.
Das muss vielmehr auch in die Tat umgesetzt werden
und darf auf keinen Fall verhindert werden. Dem ist die
rot-grüne Koalition mit zahlreichen Initiativen und Gesetzen nachgekommen. Das wohl wichtigste - und auch
sehr erfolgreiche - Gesetz war das Erneuerbare-Energien-Gesetz, kurz EEG. Ich hoffe, dass auch in der Opposition in zunehmenden Maße die Erkenntnis wächst - ich
weiß, dass das bei einigen Abgeordneten bereits der Fall
ist -, dass es notwendig ist, mehr als nur vollmundige
Lippenbekenntnisse zu den erneuerbaren Energien abzuliefern. Dafür bieten die anstehenden Beratungen über
die Entwürfe einer Novelle zum EEG und eines Photovoltaik-Vorschaltgesetzes eine hervorragende Möglichkeit.
Ich wollte heute eigentlich eine friedensstiftende Rede
halten, die uns zusammenbringt. Doch einige Meinungsbekundungen von der Opposition veranlassen mich, ein,
zwei Sätze zu sagen, die nicht in diesem Sinne sind. Herr
Paziorek, Sie spielen sich heute als Retter der erneuerbaren Energien auf. Dabei gibt es viele in der Union - das
ist auch heute wieder deutlich geworden -, die die erneuerbaren Energien eigentlich lieber verteufeln. Welchen
Stand Sie in der Branche haben, haben Sie selbst auf der
von Ihnen erwähnten Demonstration erlebt. Der Applaus
für Sie war nicht besonders groß.
({1})
Ich erinnere nur an 1998, als viele aus der Branche gesagt haben: Wir haben Angst vor einem Regierungswechsel. Deswegen bleiben uns die Kunden weg. - Das
ist die Realität in diesem Land. Die Branche weiß genau,
was sie an Rot-Grün hat und was sie mit Ihnen bekommen würde.
({2})
- Angesichts Ihrer Zurufe möchte ich Ihnen Folgendes
sagen: Sie von der Union nehmen die Umweltschutzund die Energiepolitik so ernst, dass Sie Herrn Hohmann
in den Umweltausschuss strafversetzen!
({3})
Herr Pfeiffer, überprüfen Sie bitte Ihre Kostenberechnungen. In 14 Minuten haben Sie keinen einzigen Vorschlag gemacht, aus dem hervorgeht, wie Sie eine Erneuerbare-Energien-Politik machen wollen. Sie sind doch
noch viel zu jung, um ein Dinosaurier zu sein.
({4})
Über den Entwurf der EEG-Novelle wollen wir mit
allen Fraktionen intensiv beraten und dann möglichst zügig beschließen; denn die Branche braucht Planungssicherheit. Es darf in diesem innovativem Bereich zu keinem Fadenriss kommen. Ich weiß, dass es an einigen
Stellen, beispielsweise in der Biogasbranche - hier gebe
ich Ihnen Recht -, trotzdem sehr eng werden wird.
Das Auslaufen des erfolgreichen 100 000-DächerProgramms würde aber selbst bei einem reibungslosen
Novellierungsverfahren zumindest für einen Teil der
Photovoltaikbranche zu spät kommen. Ich habe eine
Liste mit Firmen, die schon jetzt mehr als nur zu kämpfen haben. Beispielsweise hat einer der größten deutschen Solarzellenproduzenten in den neuen Ländern wegen der unsicheren politischen Lage für 2004 noch
keinen einzigen festen Auftrag. Das ist ein Novum.
Wenn wir jetzt nicht handeln, dann sind über 10 000 zukunftsfähige Arbeitsplätze gefährdet, und das in einer
jungen Branche mit großem Potenzial. Ich brauche hier
nicht zu erklären, dass eine junge Branche natürlich
keine großen Rücklagen gebildet haben kann, um in einem solchen Fall darauf zurückzugreifen.
({5})
Wir gefährden unsere gute Position auf dem Weltmarkt. Mithilfe des 100 000-Dächer-Programms hat sich
die deutsche Photovoltaikwirtschaft in einer Zukunftstechnologie an die internationale Spitze katapultiert.
Dem ging ein Gesetz voraus, das Rot-Grün auf den Weg
gebracht hat. Außerdem gefährden wir das Erreichen unserer Klimaziele. Wir begrüßen es deshalb, dass sich das
Bundesumweltministerium dem Vorschlag der Koalitionsfraktionen nach einem Photovoltaik-Vorschaltgesetz angeschlossen hat.
({6})
Die Förderbeiträge des vorliegenden Vorschaltgesetzes sollen bereits am 1. Januar 2004 ihre Wirkung entfalten. Schon im Vorschaltgesetz sind die Änderungen
enthalten, die sich später in der großen Novelle wiederfinden. Statt einer Vergütungsstufe plädieren wir für eine
Basisvergütung und eine mögliche Zusatzvergütung.
Dies ermöglicht eine zielgenauere Förderung und eine
Bevorzugung von Anlagen auf Fassaden, Dächern und
Lärmschutzwänden. Für Anlagen auf Freiflächen ist die
Basisvergütung vorgesehen, sie unterliegen aber dem
Geltungsbereich des Bebauungsplans.
Die Förderung von Photovoltaik ist ein gutes Beispiel
für unsere Idee der Gesamtförderung der erneuerbaren
Energien. Durch die Maßstäbe, die wir anlegen, tragen
wir dazu bei, auch beim Klimaschutz Rücksicht auf den
örtlichen Umweltschutz zu nehmen. Wir bringen die Interessen der Ökologie und der Ökonomie zusammen, sodass beide profitieren. Außerdem setzen wir auf eine immer effizientere Förderung.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Die
Degression bei Photovoltaik beträgt 5 Prozent; das heißt,
die Förderung wird jedes Jahr um 5 Prozent zurückgefahren. Hinzu kommt die Inflation. Wir haben von Anfang an, auch beim ersten Gesetz, auf die Wirtschaftlichkeit der erneuerbaren Energien gesetzt. Es wäre
äußerst wohltuend, wenn diese harten Auflagen beispielsweise bei der Atomenergie gegolten hätten. Wenn
das der Fall gewesen wäre, dann hätten wir in diesem
Land einige Probleme weniger.
Gerade diejenigen, die bei den erneuerbaren Energien
mehr Abstriche fordern, drükken bei den herkömmlichen Energieressourcen gerne beide Augen zu. Dies ist
unangemessen und ungerecht. Die Diskussion über die
Kosten der erneuerbaren Energien war vom ersten Tag
an eine einzige Farce. Ich hoffe, wir werden die folgenden Diskussionen sachlicher und fairer führen.
({7})
Dabei ist es keine Frage, dass einige ErneuerbareEnergien-Branchen schon in absehbarer Zeit wettbewerbsfähig sind. Deren Innovationskraft und Effizienzsteigerung - Frau Brunkhorst, hören Sie gut zu! - geben
uns dazu einen guten Anhaltspunkt. Hinzu kommt, dass
ein großer Teil des fossilen Kraftwerksparks erneuert
werden muss. Dies geht nicht zum Nulltarif. Selbst die
vorsichtige Schätzung von RWE Schott Solar besagt,
dass die Wettbewerbsfähigkeit von Solarstrom in zehn
Jahren in Südeuropa und in weiteren zehn Jahren in Mitteleuropa erreicht wird. Das ist die Realität.
({8})
Die Kostenschere zwischen den erneuerbaren und den
herkömmlichen Energien wird sich schließen, selbst
ohne Einbeziehung der externen Kosten, also beispielsweise ohne Einbeziehung der Umweltkosten, die auf der
Stromrechnung niemals ihren Niederschlag finden, obwohl wir und vor allen Dingen die nachfolgenden Generationen sie zu tragen haben.
Die Energiewende hin zu mehr Effizienz und einer
Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien ist
keine Utopie. Anders als uns einige immer weismachen
wollen, ist sie vor allen Dingen kein Luxus, den man
sich nur leisten kann, wenn man genug Geld dazu hat.
Luxus ist vielmehr, die Chancen von heute verstreichen
zu lassen. Dies würden uns unsere Kinder niemals verzeihen.
({9})
Die Energiewende ist unser nachhaltigstes Projekt
überhaupt: Sie schafft Arbeitsplätze, sichert unsere Lebensgrundlage und ist die Basis unserer Wirtschaft. Der
Freidenker Ludwig Uhland hat einmal gesagt:
Umsonst bist du von edler Glut entbrannt, wenn du
nicht sonnenklar dein Ziel erkannt.
Wir haben unser Ziel erkannt. Dieses Ziel heißt: Auf zur
Nutzung „der edlen Glut“ der Sonne!
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile der Kollegin Doris Meyer, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Photovoltaikbranche wird heute vermutlich aufatmen und vorsichtigen Optimismus an den
Tag legen, Optimismus, weil ihr geholfen werden kann.
({0})
Nach dem Wegfall des 100 000-Dächer-Programms
Mitte dieses Jahres verspürte sie keine oder nur noch geringe Motivation, in neue Anlagen zu investieren. Es
musste Abhilfe geschaffen werden. Abhilfe verspricht
man sich nun von dem heute vorliegenden Vorschaltgesetz, dem 2. EEG-Änderungsgesetz.
Bereits das 1. Änderungsgesetz zum EEG sollte Abhilfe schaffen. Die durch das EEG bedingten Schmerzen
der besonders energieintensiven Unternehmen sollten
damit beseitigt werden. Beseitigt werden sollten aber
auch wieder einmal handwerkliche Fehler der rot-grünen
Koalition.
({1})
Die rot-grüne Koalition hat sich in den Diskussionen
über das Für und Wider einer Härtefallregelung verheddert. In einem Schnellschussverfahren hat sie die Härtefallregelung in Gesetzesform gegossen.
Genauso ist es nun mit dem Vorschaltgesetz zur Photovoltaik. Das schon erwähnte Förderprogramm ist
Mitte dieses Jahres ausgelaufen. Nun stellt sich heraus:
Die Photovoltaik kommt nicht mehr vorwärts. Die Solarindustrie ist in ihrer Existenz bedroht.
Bereits Mitte August wurde mit dem Referentenentwurf des BMU die neue Runde der EEG-Novellierung
eingeläutet. Sie ist bei den Ressortabstimmungen oder,
besser gesagt, bei den Streitereien zwischen dem Umweltminister Jürgen Trittin und seinem Kollegen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement unter die Räder gekommen.
({2})
Doris Meyer ({3})
Wer von den beiden den Streit angezettelt hat, vermag
schon niemand mehr zu sagen. Hat nun der eine das zum
Energiegipfel hochstilisierte Treffen beim Kanzler ohne
Beteiligung des anderen stattfinden lassen oder hat der
andere seinen Referentenentwurf noch kurz vorher vorgelegt, um den einen zu ärgern?
({4})
Es fällt schwer, unter den beiden einen Verantwortlichen
auszumachen.
({5})
Das Problem bei solchen Streitereien unter den Ressortchefs ist die Verzögerung, die sich daraus unweigerlich ergibt. Sie lähmt die dringend notwendige Sacharbeit. Ob einem der beiden geholfen ist, wenn er über
seinen Kollegen obsiegt, interessiert vielleicht noch die
rot-grüne Koalition, aber nicht die von den Gesetzen betroffenen Unternehmen. Die interessiert, wie sich die
Gesetze für sie und auf ihre Pläne in den nächsten Jahren
auswirken.
Ergebnis dieser Streitereien ist das Herauslösen bzw.
Vorziehen der Regelung zur Photovoltaik. Nach der Härtefallregelung ist das heute vorliegende Vorschaltgesetz
also ein zweiter Schnellschuss. Wir als verantwortungsbewusste Parlamentarier müssen uns gegen diese Art
und Weise des Zustandekommens vehement wehren.
({6})
Dem Änderungsgesetz können wir von den Unionsfraktionen zwar grundsätzlich zustimmen; zu den einzelnen Vergütungssätzen besteht aber noch Diskussionsbedarf.
({7})
Die Erhöhung der Mindestvergütungen für die so genannten gebäudeintegrierten Fassadenanlagen geht in
die richtige Richtung. Wir dürfen die Flächenversiegelung nicht forcieren. Die Solaranlagen müssen konsequent in die Gebäudeflächen einbezogen werden. Solaranlagen an oder auf Gebäuden und baulichen Anlagen
sind eindeutig solchen auf Freiflächen vorzuziehen. Das
bislang erzielte Abstimmungsergebnis zwischen den beiden Ministerien kann wieder nur eine Grundlage bilden,
auf der wir verhandeln. Wir müssen alles im Einzelnen
genau betrachten.
Mit Einführung des Stromeinspeisungsgesetzes Anfang der 90er-Jahre war fraktionsübergreifend die Zielrichtung klar. Die meisten Energieträger sind endlich.
Deshalb musste im Sinne der Nachhaltigkeit eine Änderung herbeigeführt werden. Langfristig kann somit nur
ein Mix aus herkömmlichen und regenerativen Energien
helfen, die Energieversorgung zu sichern. Dies sollten
gelegentlich auch die Gegner der einen oder anderen
Energieart einmal bedenken.
({8})
Alle wissen um diese Notwendigkeiten, aber nur die wenigsten handeln danach. Die meisten sind immer noch
alten Denkstrukturen verhaftet. Das führt uns eines Tages in die energiepolitische Sackgasse, meine Damen
und Herren.
({9})
Besser ist es, Chancen und Potenziale zu nutzen, die
die verschiedenen Energiearten bieten, und deren Vorteile miteinander zu kombinieren. Die Wasserkraft beispielsweise ist eine jahrhundertealte Energieart. Dem
jüngsten Gutachten von Professor Ripl ist zu entnehmen,
wie positiv sich Kleinwasserkraftwerke auf die Natur
auswirken. Dieses Werk kann ich allen Skeptikern zur
Lektüre empfehlen. Die so genannte kleine Wasserkraft
aber durch noch strengere Vorgaben als die der Wasserrahmenrichtlinie und der Naturschutzgesetze zu hemmen
ist unsinnig.
({10})
Bei der Biomasse das gleiche Spiel: Gerade die Betreiber kleinerer Anlagen brauchen ein deutliches Signal,
wohin die Reise gehen soll. Ist wirklich eine dezentrale
Energieversorgung gewünscht oder nicht? Wir müssen
uns entscheiden, meine Damen und Herren: Es ist unverantwortlich, die Dauer des Mindestvergütungsanspruchs
bei Strom aus Biomasse auf 15 Jahre herunterzufahren,
statt sie bei den 20 Jahren zu belassen, die für alle anderen Stromarten gelten.
({11})
Eine solche Maßnahme gibt ein falsches Signal an die
Anlagenbetreiber und -bauer.
Wir von der Union wollen bei der EEG-Novelle kein
Hauruckverfahren wie jetzt bei der Photovoltaik-Förderung, sondern genügend Zeit für Beratungen.
({12})
Wir halten am Ziel fest, den Anteil der erneuerbaren
Energien bis 2010 auf 12,5 Prozent zu steigern. Wir wollen eine nachhaltige Klimaschutzpolitik. Wir wollen
effiziente Anreize zur Verbesserung der Technologien
schaffen. Wir wollen Anreize zur Senkung der Produktionskosten geben. Wir wollen den Standort Deutschland
für die erneuerbaren Energien erhalten. Schließlich wollen und müssen wir die regenerativen Energien zur Wettbewerbsfähigkeit führen.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1974, 15/1605 und 15/1813 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Präsident Wolfgang Thierse
auf Drucksache 15/1781 zu zwei Unterrichtungen durch
die Bundesregierung über EU-Vorlagen zur nuklearen
Sicherheit. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtungen durch die Bundesregierung die Annahme
einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Marie-Luise Dött, Dr. Klaus W. Lippold
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Nationalen Allokationsplan als Parlamentsgesetz gestalten
- Drucksache 15/1791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich eine kurze Vorbemerkung machen, bevor ich zum Sachthema komme. Ich habe gerade
erlebt, wie Sie, Herr Trittin, im Zusammenhang damit,
dass Sie, wie Ihr Staatssekretär gesagt hat, durch die Verpackungsverordnung mutwillig Arbeitsplätze vernichten, wiederum ausweichend geantwortet und faktisch so
getan haben, als sei die eidesstattliche Erklärung der acht
Betriebsräte infrage zu stellen. Ich sage ganz offen: Ich
habe für Ihre Haltung kein Verständnis.
({0})
Es passt aber zu Ihrer Grundhaltung, Herr Trittin.
Denken wir nur an die Verlautbarung Ihres Pressesprechers, dass Sie die Abschaltung des Kernkraftwerkes
Stade - die Vernichtung von Arbeitsplätzen - mit einem
Empfang, einer Fete mit Musik und allem Drum und
Dran, verbinden. Das ist doch zynisch, Herr Trittin. Dass
Sie in Ihrem Ministerium die Vernichtung von Arbeitsplätzen feiern und zu dieser Feier alte Kampfgefährten
einladen ({1})
das kann ich so nicht akzeptieren.
({2})
Das wäre ein Punkt, an dem wir einmal über die Streichung von Haushaltsmitteln in Ihrem Etat nachdenken
müssten.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Klimaschutz ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Das ist ein Punkt, über den zwischen allen
Fraktionen dieses Hauses Einvernehmen herrscht. Ich
glaube, dass die Klimakatastrophe nicht nur entschiedenes nationales, sondern auch internationales Handeln erfordert. Mit dem Kioto-Protokoll machen wir einen Versuch, aber noch ist das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert.
Deshalb ist der Versuch der Europäischen Union, verschiedene Instrumente zum Klimaschutz zu aktivieren,
damit wir die Situation verbessern, zu begrüßen. Insofern begrüßen wir die Richtlinie zum Emissionszertifikatehandel. Ich glaube, auch das ist ein Punkt, in dem wir
uns einig sind. Allerdings - das sage ich ganz deutlich wollen wir festhalten, dass wir ein Verfahren wählen, das
unbürokratisch und flexibel ist.
({4})
Es gibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, einen Punkt, den man sich klar machen muss: Das Kernstück der Richtlinie ist der nationale Allokationsplan.
Mit dem Allokationsplan wird die Gesamtmenge der in
einer Handelsperiode zuzuteilenden Emissionsberechtigungen festgelegt. Das klingt sehr abstrakt - was bedeutet das? Wir legen fest, wie viel CO2 ein Unternehmen
emittieren darf, also wie viel Energie es verbrauchen
darf. Wir legen fest, wie viel Energie ein Sektor der
Wirtschaft verbrauchen kann. Wir legen fest, wie die
Verteilung der Emissionen auf die Sektoren der Wirtschaft vorgenommen wird.
Da bleiben im Moment noch eine ganze Reihe von
zentralen Fragen zu stellen. Warum? Mit der Zuteilung
von Energie ist auch die Zuteilung von Chancen oder das
Versagen von Chancen verbunden. Wenn jemandem zu
wenig Emissionsberechtigungen zugeteilt werden, muss
er seine Produktion einschränken, Arbeitsplätze zurückfahren, Arbeitsplätze abbauen. Wenn ich diese Fragen
behandle, muss ich wissen, wie es weitergehen soll:
Treffe ich eine Regelung, die für den Betrieb, die für den
Sektor adäquat ist?
Wir sind in einer von dieser rot-grünen Regierung mit
zu verantwortenden rezessiven Phase. Es stellt sich die
Frage, was geschieht, wenn eine wirtschaftliche Erholung - trotz Ihrer Politik - eintritt. Die Aufwärtsentwicklung in den USA könnte ja der Anlass dafür sein, dass
die Wirtschaft auch bei uns anspringt, dass die Wirtschaftler sagen: Die weltweite Entwicklung überspielt
die katastrophale Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. - Was wird dann mit den einzelnen Unternehmen?
Haben wir die nötigen Reserven, um den Unternehmen
dann mehr Emissionsberechtigungen zuzuteilen?
({5})
Schließlich sollen sich trotz der Politik dieser Bundesregierung auch neue Unternehmen gründen können.
Dr. Klaus W. Lippold ({6})
Diesen neuen Unternehmen müssen wir Emissionsberechtigungen kostenlos zuteilen können, denn wenn sie
sie nicht kostenlos erhalten, werden sie unter Umständen
überlegen, ob sie einen anderen Standort wählen. Die
Arbeitsplätze würden dann an einem anderen Standort
entstehen. Das kann nicht angehen.
({7})
Es ist auch eine Frage, wie es aussieht, wenn Sie - was
nicht eintreten wird, aber was ja sein könnte - den Ausstieg
aus der Kernenergie wirklich durchsetzen. Dafür ist - das
war heute schon zu hören - ein völlig emissionsfreier Ersatz nicht möglich.
Es kann doch nicht sein, dass die Wirtschaft, die
Haushalte und auch der Verkehrssektor dafür bestraft
werden, dass Sie eine falsche Entscheidung treffen. Es
müssen vielmehr Vorkehrungen getroffen werden, mit
denen sichergestellt wird, dass die zusätzlichen Emissionen aus einer Reserve, die die Bundesrepublik Deutschland und niemand anders bereitstellt, abgedeckt werden.
All diese Fragen, die sich in der derzeitigen Situation ergeben, sehe ich überhaupt noch nicht geregelt.
Ich sage ganz deutlich: Die Antworten auf diese Fragen sind für den Arbeitsmarkt und für die zukünftige
Entwicklung von Ausbildungsplätzen - mit der Ausbildungsplatzabgabe werden Sie das Gegenteil bewirken so wichtig, dass sie nicht en passant von der Bundesregierung allein beantwortet werden können. Über diese
Fragen muss im Parlament diskutiert werden; sie sind zu
wichtig, als dass die Regierung allein darüber entscheiden kann.
({8})
Dass in unserem Antrag - ich sage das einmal so ein gewisses Misstrauen gegenüber der Bundesregierung
und ihren Ansätzen mitschwingt,
({9})
ist wohl mehr als berechtigt. Es ist schade, dass Herr
Trittin im Moment nicht auf der Regierungsbank sitzt;
ich hoffe aber, dass er im Saal anwesend ist.
({10})
- Das könnte durchaus sein. - Ich sehe bislang nicht,
dass sich der Minister für Umwelt und die Spitze seines
Hauses bewegen und entsprechende Positionen artikulieren. Diese zentrale Frage kann nicht unter der Hand geregelt werden. Hier muss das Parlament entscheiden.
Eine ähnliche Korrektur haben wir schon früher in anderen Bereichen erlebt. Nachdem wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz verabschiedet hatten, haben wir festgestellt, dass wesentliche politische Inhalte
nicht im Gesetz selber, sondern in Verordnungen geregelt sind. Daraufhin hat dieses Haus beschlossen, die
wesentlichen Verordnungen zum Kreislaufwirtschaftsund Abfallgesetz zustimmungspflichtig zu machen. Damit wurde die Entscheidung in das Parlament zurück
verlagert, wo sie auch hingehört. Daran sollten wir uns
ein Beispiel nehmen.
Auch hinsichtlich des nationalen Allokationsplans
sollte dieses Haus so handeln.
({11})
Ich möchte gerne wissen, wie hierzu der Stand der Diskussion ist und welche Verteilungsmengen für die Sektoren Verkehr, Haushalte, Industrie und Gewerbe vorgesehen sind.
({12})
Um dieses Thema von der anderen Seite politisch aufarbeiten zu können, möchte ich von Ihnen auch gerne wissen, wie Überschreitungen der Mengen in einem Sektor
ausgeglichen werden sollen. Auch da kann ich nicht erkennen, dass Sie eine entsprechende Vorsorge betreiben.
Es gibt noch einen anderen Punkt. Durch Ihre Verkehrspolitik wird kein reibungsloser Ablauf des Verkehrs ermöglicht; durch Ihre Verkehrspolitik werden Stauemissionen und Emissionen auf der Straße vergrößert. Das
lässt sich alles im Einzelnen nachweisen. Wie sollen
diese erhöhten Emissionen ausgeglichen werden? Ich
sehe nicht, dass hierfür schon Abhilfe vorgesehen ist.
Ich fasse zusammen. Lassen Sie uns die Diskussion in
diesem Hause führen. Lassen Sie uns Antworten auf die
Frage gemeinsam erarbeiten, wie wir im Falle einer wirtschaftlichen Erholung, im Falle von Existenzgründungen und bei der Erweiterung von Produktion verfahren.
({13})
Dazu gehört auch die Frage, wie es mit der Kernenergie
weitergeht.
Lassen Sie uns in Ergänzung dazu darüber diskutieren, wie wir auf die internationale Politik Einfluss nehmen können, damit das Kioto-Protokoll ratifiziert wird
und in Kraft treten kann und wir die Instrumente Clean
Development Mechanism und Joint Implementation nutzen können. Ich bin dafür, dass wir hier keine Caps setzen oder zumindest nur solche, die wesentlich oberhalb
der derzeitigen Caps liegen. Ich glaube, das ist eine richtige Vorgehensweise.
({14})
Sie vergeben sich nichts, wenn Sie unserem Antrag
zustimmen. Wir können die Auseinandersetzung in der
Sache führen, aber wir sollten sie hier und öffentlich
führen. Wir sollten diese Diskussion nicht in die Arbeit
von Kommissionen oder in die Verhandlungen einzelner
Ministerien verlagern, wie es in anderen Politikbereichen - ich erinnere an den Nachhaltigkeitsrat - bedauerlicherweise der Fall ist.
Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Unsere Kooperation in dieser Grundsatzfrage ist Ihnen gewiss.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Jürgen Trittin das Wort zu
einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
gern - auch für diejenigen, die vorhin vielleicht nicht
ganz richtig zugehört haben oder eventuell nicht da gewesen sind - das wiederholen, was ich vorhin gesagt
habe, weil mir sehr daran gelegen ist, die gemeinsame
Kooperation an dieser Stelle zu pflegen.
({0})
Die Bundesregierung wird Ihnen einen Gesetzentwurf
zum Handel mit Emissionszertifikaten vorlegen,
({1})
der beinhalten wird, dass der Gesetzgeber über die wesentlichen Regeln - das ergibt sich übrigens schon aus dem
Grundgesetz, Wesentlichkeitstheorie - bei der Verteilung
der Emissionsrechte entscheidet und dass er eine Verordnungsermächtigung für die Einzelverteilung hat. Das ist,
glaube ich, eine sinnvolle Arbeitsteilung. Insbesondere
wird er den Gesetzgeber in die Lage versetzen, über die
Verteilung auf die einzelnen Makrosektoren zu entscheiden.
Ich wiederhole: Wir dürfen im Jahre 2010 - genauer gesagt, zwischen 2008 und 2012 - im Jahresmittel nicht
mehr als 846 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Das ist
kein erfundener Cap, das ist die absolute Grenze im
Kioto-Protokoll, dem Sie und wir alle zugestimmt haben. Dieses Haus hat über die Verteilung der daraus
resultierenden Emissionsreduktionen auf die einzelnen
Sektoren der Gesellschaft zu entscheiden. Das wird der
Punkt sein, über den der Bundestag zu entscheiden hat.
Ich habe vorhin gesagt, um auf Ihren Zwischenruf zu
antworten, liebe Frau Dött: Die Bundesregierung wird
noch im Dezember nach der Anhörung der Verbände, die
zurzeit stattfindet, also noch vor Weihnachten, über diesen Gesetzentwurf entscheiden und ihn Ihnen zuleiten.
Wir werden ihn zustimmungsfrei gestalten. Wir werden
ihn aber so gestalten, dass der Bundesrat in der Sitzung
im Februar seine Stellungnahme dazu abgeben kann. Ich
vermute, es wird eine parallele Einbringung geben. Das
heißt, die Beteiligungsrechte des Bundestages und des
Bundesrates sind in vollem Umfang erfüllt. Insofern
können Sie sich jeden Verdacht sparen, wir wollten die
Rechte des Parlaments einschränken. Wir sind in dieser
Frage sehr an Ihrer Kooperation und konstruktiven Haltung interessiert.
Vielen Dank.
({2})
Kollege Lippold, Sie haben die Chance zur Reaktion,
bitte.
Herr Minister Trittin, ich habe Ihnen sowohl vorhin
wie auch jetzt sehr aufmerksam zugehört und dabei ist
mir aufgefallen, dass Sie eine Teilmenge meiner Fragen
in die Parlamentsdiskussion einbeziehen wollen. Sie haben aber weder etwas zur Frage der notwendigen Reservebildung noch dazu gesagt, wie Sie die Abgrenzung zu
anderen Instrumenten, die ich vorhin aus Zeitgründen
nicht erwähnt habe, wie zum Beispiel Ökosteuer, KWKVerpflichtungen und eine ganze Reihe anderer Fragen,
regeln wollen.
Uns geht es auch um diese Fragen, weil sie von genauso zentraler Bedeutung sind, gerade die Frage der
Reservebildung. Wenn wir uns darauf einigen könnten,
Herr Trittin, dass Sie auch diese Punkte mit in das Gesetz aufnehmen, ist das etwas anderes. Wenn diese
Punkte jedoch außen vor bleiben sollten, bleibt unser
Antrag nach wie vor aktuell.
Danke.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist Spitzenreiter beim Klimaschutz
und wir müssen auch einfach einmal selbstbewusst sagen: Kein anderes großes Industrieland hat ähnliche Erfolge beim Klimaschutz vorzuweisen wie Deutschland.
Wir haben unsere Verpflichtungen aus den internationalen Klimaschutzvereinbarungen schon fast erfüllt. Dabei
ist die Erreichung der Ziele in diesen Vereinbarungen
erst für das Jahr 2010 vorgesehen und wir haben noch
sieben weitere Jahre vor uns, in denen wir erfolgreich
Politik machen können.
Zunehmend zeigt sich, dass Klimaschutz eben nicht
nur ein moralisches und ökologisches Erfolgsthema für
Deutschland ist, sondern dass Klimaschutz auch ein
wirtschaftlicher Knüller für unser Land ist. Wir verkaufen weltweit die Technologien für Emissionsminderung, für Energieeffizienz und für erneuerbare Energien. In all diesen Bereichen sind wir seit 1998
Weltmarktführer geworden. Eine kleine Anlehnung an
die vorherige Debatte: Wenige Monate vor dem Regierungswechsel im September 1998 hatte der letzte Hersteller von Solarzellen das Land verlassen, weil die Politik der Vorgängerregierung aus CDU/CSU und FDP
keine Grundlage mehr bot, hier mit der Herstellung von
Technologien für erneuerbare Energien Geld verdienen
zu können.
({0})
Außerdem werden die deutschen Firmen, die am
Emissionshandel teilnehmen werden, ab dem Jahr 2005
an Firmen in anderen EU-Ländern Emissionsrechte
verkaufen dürfen, weil die Firmen in anderen EU-Ländern ihre Klimaschutzvereinbarungen nicht eingehalten
haben. Klimaschutz ist damit zum Innovationsmotor für
Deutschland geworden; gerade der Emissionshandel
zeigt dies.
Herr Kollege Kelber, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Ja, selbstverständlich.
Bitte, Herr Grill.
Herr Kollege Kelber, Sie haben eben gesagt, dass vor
dem Regierungswechsel die letzten Solarzellenhersteller das Land verlassen haben. Ist Ihnen bekannt, dass der
damalige Bundesforschungsminister Rüttgers sowohl in
Nordrhein-Westfalen, in Gelsenkirchen, als auch in Bayern mithilfe von Bundesmitteln zwei Solarzellenfirmen
mit auf den Weg gebracht hat und bei der Grundsteinlegung anwesend war? Wie bewerten Sie die Tatsache,
dass die alte Bundesregierung zwei Solarzellenfabriken
in Deutschland initiiert hat?
Zunächst weiß ich, dass Jürgen Rüttgers der Minister
für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie
war, der als Erster in der Geschichte der Republik die
Mittel für diesen Etat gekürzt hat, was danach wieder geändert wurde.
({0})
Entscheidend ist aber die Frage, welchen Stand wir
auf dem Weltmarkt im Jahre 1998 hatten und welchen
wir heute haben. Damals lagen wir bei der Photovoltaik
am Ende der Skala. Heute sind wir hinter den Japanern
die Nummer zwei.
({1})
Bei den anderen Technologien sind wir vorne. Der entscheidende Punkt ist dabei: Es wird ein marktwirtschaftliches Instrument angewandt; die Investitionen tragen
nämlich heute die Unternehmen selbst.
({2})
Der Bundestag debattiert heute ausführlich über einen
ganz bestimmten Aspekt des Emissionshandels: über
den nationalen Allokationsplan. Der Bundestag zeigt damit - das ist wichtig -, für wie wichtig er die Maßnahme
des Emissionshandels im Rahmen des Klimaschutzes
hält; denn er ergänzt andere erfolgreiche Maßnahmen.
Ich nenne als Beispiele die Förderung der erneuerbaren
Energien, die Energieeinsparverordnung und die Ökosteuer.
Wir können festhalten: Deutschland ist heute beim
Klimaschutz auf einem guten Weg. Wir werden alle internationalen Vereinbarungen voll erfüllen. Dabei
sollten wir uns nicht davon abbringen lassen, bereits
jetzt über neue, noch ehrgeizigere Ziele für die Zeit nach
2010 nachzudenken.
Durch den Verkauf von Klimaschutztechnologie
und von Emissionsrechten wird der Emissionshandel für
Deutschland zum wirtschaftlichen Gewinn. Voraussetzung ist ein vernünftiges Emissionshandelssystem innerhalb der EU. Es ist vor allem wichtig - Herr Lippold hat
dies angesprochen; dies ist ein Nachklapp aus einer
Debatte der letzten Woche -, bei der Anrechnung von
Billigstmaßnahmen im Ausland, die den Klimaschutz zu
Hause ersetzen sollen, eine Obergrenze einzuhalten.
Diese Obergrenze wollen CDU/CSU und wohl auch
- wenn ich an den damaligen Applaus denke - die FDP
streichen, obwohl sich alle Umweltgruppen, die meisten
Wirtschaftsverbände, die Wissenschaft, die Mehrheit des
Bundestages, die Gesamtheit des Bundesrates sowie die
Bundesregierung für die Beibehaltung dieser Obergrenze aussprechen - und dies aus guten Gründen: Die
Aufhebung dieser Obergrenze wäre schlecht für den Klimaschutz und für unsere Wirtschaft.
({3})
Denn dann könnten sich die Klimasünder in Europa, die
bisher nichts getan haben, billig davonstehlen, anstatt
mit den gleichen Technologien arbeiten zu müssen, mit
denen wir unsere Erfolge an dieser Stelle erreicht haben.
Auch diese Wahrheit gehört zur Debatte über den nationalen Allokationsplan.
Man kann nach außen eine gewisse Beruhigung hinsichtlich Ihres Planes signalisieren: Gott sei Dank haben
ihn Ihre eigenen Parteifreunde im Bundesrat bereits abgelehnt.
Die nationalen Regeln des Emissionshandels bestimmt der nationale Allokationsplan: Welcher Sektor
der Volkswirtschaft soll welche Verpflichtungen übernehmen? Mit welchen Klimaschutzprogrammen sind
diese Ziele real hinterlegt? Welche Vorgaben erhalten die
einzelnen Branchen? Dabei muss man immer berücksichtigen, welche Emissionsminderungen sie physikalisch wirklich noch herausarbeiten können. Wie sieht
nach Bedarfs- oder Effizienzgrad die Erstausstattung betroffener Anlagen aus? Wie wird mit dem Atomausstieg
umgegangen? Wie sieht es mit einer Reserve aus? Wie
wird mit neuen Anlagen umgegangen, wie mit Stilllegungen? Welchen Schutz bekommen getätigte Investitionen?
All das müssen wir am Ende im nationalen Allokationsplan regeln.
({4})
Damit wird der Klimaschutz Bestandteil von Börsenbewertungen und Bestandteil der Finanzrechnung von
Unternehmen.
Wenn wir sagen, der Emissionshandel mache
Deutschland zu einem wirtschaftlichen Gewinner, dann
wird der nationale Allokationsplan natürlich darüber entscheiden, welche Branchen innerhalb Deutschlands zu
den Gewinnern gehören und welche Branchen besondere
Anstrengungen unternehmen müssen.
Deswegen muss der nationale Allokationsplan selbstverständlich im Parlament beraten und beschlossen
werden: seine Eckpunkte, die wichtigsten Regelungen.
({5})
An dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht keinen Unterschied zwischen den Meinungen von Abgeordneten der
Koalition und der Opposition. Vielen Dank, Herr Bundesminister, dass Sie klargestellt haben, dass die Kernpunkte des nationalen Allokationsplans, dass die wesentlichen Regelungen in einem Gesetz festgelegt werden,
das im Parlament beraten wird. Sie sind damit nicht nur
der antragstellenden Opposition entgegengekommen,
sondern auch den eindringlichen Forderungen der Koalitionsabgeordneten.
({6})
Dass die Regelungen des nationalen Allokationsplans
als Gesetz diskutiert werden, hat aber nicht nur mit dem
Selbstverständnis des Parlaments zu tun. Die Diskussion
über den nationalen Allokationsplan ist auch der Augenblick, wo im Klimaschutz einmal Butter bei die Fische
muss. An dieser Stelle kann man sich nicht mehr hinter
Sonntagsreden verstecken.
Die Klimaschutzvereinbarungen der Europäischen
Union geben eine klare Obergrenze für die Emissionen
eines jeden Staates vor. Diese Verpflichtung muss auf
Sektoren aufgeteilt werden: private Haushalte, Wirtschaft, Verkehr, Energieerzeugung. Die vom Emissionshandel betroffenen Anlagen bekommen weitere Reduktionsziele vorgegeben; die anderen Sektoren müssen dann
den Rest erfüllen. Damit das zu einem echten Ergebnis
führt, müssen die Staaten ihre nationalen Allokationspläne von der Europäischen Union sozusagen genehmigen lassen. Hinter den Zielen müssen auch reale Programme stehen: kein Wolkenkuckucksheim, kein „Wir
haben doch vor“, kein „Wir wollen doch fördern“, sondern ganz konkrete Programme, die bewertet werden
können.
Damit wird die Luft für die Klimasünder in der Europäischen Union dünner. Diese Verpflichtung zu konkreten Programmen und Zahlen hat aber auch für Deutschland Folgen. Jede Tonne CO2, die nicht in Industrie und
Energieerzeugung eingespart werden soll, müssten private Haushalte und Verkehr zusätzlich erbringen.
Schutzzäune, die die Opposition für bestimmte Industrien und Energieerzeuger aufstellen will, führen zu
Mehrbelastungen anderer Unternehmen und der privaten
Haushalte.
({7})
Wer den Vorschlag der Bundesregierung zur Aufteilung auf die Sektoren und Branchen ändern will, muss
sagen, mit welchen Mitteln er das tun möchte und wen er
mehr als vorher belasten will. Das ist das Schöne für die
Koalition: Für die Opposition ist das Ende der Worthülsen in der Klimaschutzdebatte gekommen. Bisher haben
Sie nämlich einfach alle konkreten Maßnahmen abgelehnt. Jetzt kommt diese neue Pflicht dazu. Ablehnen
reicht nicht mehr. Jetzt braucht die Opposition eigene
Vorschläge. Dann kann Herr Pfeiffer nicht noch einmal
14 Minuten von einem Thema zum anderen springen,
ohne einen einzigen eigenen Vorschlag vorzutragen.
Dann muss Butter bei die Fische.
({8})
Bei der Debatte über den nationalen Allokationsplan
und die technischen Fragestellungen rund um den Emissionshandel darf man nicht vergessen: Der Emissionshandel ist kein Selbstzweck. Er ist ein Mittel, um die
Emission von Treibhausgasen zu reduzieren. Der Emissionshandel soll den Innovationsmotor Klimaschutz unterstützen. Der Emissionshandel sorgt dafür, dass Anstrengungen und Investitionen für den Klimaschutz sich
noch schneller wirtschaftlich amortisieren. Dadurch bekommen verfügbare effiziente Technologien bessere
Marktchancen.
Ein einfaches Beispiel: Veraltete Kraftwerke werden
durch den Emissionshandel für den Besitzer zu einer finanziellen Belastung. Die Investition in neue, effizientere Technologien lohnt sich. Also werden wir die
Modernisierung schneller bekommen als ohne Emissionshandel. Das ist ein einfacher Vorteil, den man belegen kann.
Da der Emissionshandel aber auch langfristige Perspektiven öffnet, wird sich die Entwicklung neuer Technologien beschleunigen - vorausgesetzt, Deutschland
und die Europäische Union setzen sich auch für die Zeit
nach 2010, nach 2012 anspruchsvolle Klimaschutzziele.
Mit diesen neuen Technologien könnten wir erreichen,
dass über Energieeinsparungen und den Ausbau erneuerbarer Energien die Strommenge ersetzt wird, die bis
2020 durch den notwendigen Ausstieg aus der Atomenergie wegfallen wird. Die Modernisierung des Kraftwerksparks und ein klimafreundlicherer Verkehr ermöglichen weitere Emissionsminderungen.
Zwei Punkte, die in der Energiedebatte fast schon
wieder in Vergessenheit geraten sind, nämlich „Negawatt statt Megawatt“ und Least-Cost-Planning, werden mit dem Emissionshandel zu einer Renaissance finden. Sie waren gute Instrumente und sind in einer rein an
Betriebskosten - nicht volkswirtschaftlichen Kosten orientierten Debatte fast in Vergessenheit geraten.
Voraussetzung für diese positive Vision von einer
energieeffizienten Zukunft sind weitere ambitionierte
Ziele im Klimaschutz für die Zeit nach 2010. Nur wenn
die Marschrichtung klar ist, kann die Effizienzrevolution
auch kommen. Wir brauchen quantitative Ziele für die
Jahre 2020 und 2050 und auch für das Jahr 2100. Deswegen ist es richtig, sich eine Emissionsminderung bei
den Treibhausgasen um 40 Prozent bis zum Jahre 2020
vorzunehmen, wenn sich gleichzeitig die EU auf eine
Senkung um 30 Prozent einlässt. Es ist keine Zeit, bis
2010 abzuwarten. Es ist aber der neue Trend der Opposition, zu sagen: Wir warten einmal ab. Klare Vorgaben
zum richtigen Zeitpunkt sind die beste Methode, die Effizienz aus der Industrie, aus den privaten Haushalten
und aus der Forschung herauszukitzeln.
Wir sind in der Lage, die Emissionen bis zum Jahre
2050 um 80 Prozent zu reduzieren. Wir sind in der Lage,
noch in diesem Jahrhundert vollständig auf eine Solarwirtschaft umzusteigen. Das ist nicht nur ökologisch
vernünftig. Spätestens seit dem Bericht der EnqueteKommission wissen wir, dass dies auch wirtschaftlich
für Deutschland eine riesige Chance bietet: neue Produkte, neue Dienstleistungen und damit auch neue Jobs
durch den Klimaschutz.
({9})
Für diese Ziele brauchen wir einen funktionierenden
Emissionshandel, aber auch ergänzende Maßnahmen, so
etwa den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien.
Hier haben wird die Weltmarktführerschaft gewonnen
und die lassen wir uns auch nicht wieder nehmen.
Auch im Verkehrsbereich müssen wir weitere Fortschritte erzielen. Wir sind das erste Industrieland, das es
in den letzten drei Jahren geschafft hat, den Trend hin zu
immer mehr CO2-Emissionen im Verkehr zu stoppen
und umzudrehen. Jetzt aber kommt die große Herausforderung durch die EU-Osterweiterung mit dem zusätzlichen Güterverkehr auf uns zu. Gerade in diesem Zusammenhang ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass sich die
europäischen Automobilhersteller von ihrer Selbstverpflichtung zum Klimaschutz verabschieden wollen.
Nach meiner Information stehen an der Spitze übrigens
die deutschen Automobilbauer.
({10})
Wenn diese Selbstverpflichtung nicht eingehalten
wird, muss aus meiner Sicht eine gesetzliche Obergrenze
für den Flottenverbrauch her. Wenn sich die Automobilindustrie von dem Klimaschutzziel verabschieden will,
können wir das nicht akzeptieren. Wir können die bisher
im Verkehrsbereich erzielten Erfolge beim Klimaschutz
nicht wieder zunichte machen lassen.
({11})
Für die Zeit nach 2010 müssen wir uns um neue internationale Ziele im Klimaschutz bemühen. Es reicht
nicht, allein nationaler Vorreiter zu sein. Eine stärkere
Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer
ist nur dann möglich, wenn wir im eigenen Land mit gutem Beispiel vorangehen. Dafür sind ein konsequenter
nationaler Allokationsplan und ein funktionierendes
Emissionshandelssystem eine gute Voraussetzung. Wir
brauchen allerdings auch andere Maßnahmen. Für diese
anderen konkreten Maßnahmen wünsche ich mir das
gleiche Engagement der Opposition wie beim nationalen
Allokationsplan und beim Emissionshandel.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute über ein ganz zentrales Instrument des
Klimaschutzes: über den Emissionshandel und damit
verbunden über den nationalen Allokationsplan. Am Beginn einer solchen Debatte steht immer die Frage nach
Zielen. Herr Kelber, Sie haben völlig Recht, wenn Sie
sagen, wir müssten uns ehrgeizige Ziele setzen. Ich
möchte Sie aber auf eines hinweisen: Wir, die FDPCDU/CSU-Koalition, haben uns in der Klimapolitik ehrgeizige Ziele gesetzt und damit die Klimapolitik in
Deutschland angeschoben.
({0})
Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Wir halten am
nationalen Emissionsminderungsziel von 25 Prozent
bis zum Jahre 2005 fest.
({1})
Wir halten auch am europäischen Klimaschutzziel und
am europäischen Burden-Sharing fest. Sie können sich
nicht hier hinstellen und en passant sagen: Dieses Ziel
wird erreicht, deswegen setzen wir jetzt neue Ziele. Sie
müssen zur Kenntnis nehmen, dass Ihnen das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung mehrfach - zuletzt in
diesem Jahr - deutlich gesagt hat, dass Sie das nationale
CO2-Minderungsziel nicht erreichen werden.
({2})
Bevor Sie über neue Ziele reden, reden Sie erst einmal darüber, wie Sie die jetzigen Ziele erreichen wollen.
Da ist noch sehr viel zu tun. Angesichts dessen kann
man nur feststellen, dass Sie die ganze Diskussion und
vor allen Dingen die Notwendigkeit, dafür in Deutschland Regelungen zu schaffen, schlicht verschlafen haben.
({3})
Wir haben im Deutschen Bundestag den Emissionshandel mehrfach diskutiert, nicht aber auf Antrag von
SPD und Grünen und auch nicht deswegen, weil diese
glorreiche Bundesregierung irgendetwas vorgelegt gehabt hätte; wir haben über diese Fragen im Wesentlichen
deshalb diskutiert, weil die FDP-Bundestagsfraktion
mehrere Anträge dazu vorgelegt hatte. Daher werden wir
das Emissionshandelsgesetz, das Sie jetzt im Deutschen
Bundestag vorlegen wollen, ganz intensiv und kritisch
begleiten. Wir nehmen uns das Recht dazu heraus, weil
wir die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag sind,
die schon vor Jahren einen Antrag vorgelegt hatte, in
dem vorgeschlagen wurde, wie die Selbstverpflichtung
der deutschen Wirtschaft beim Klimaschutz mit dem
internationalen Emissionshandel verknüpft werden
kann. Damals haben wir Sie aufgefordert, beizeiten die
nötigen Regelungen zu schaffen. Sie haben es nicht getan. Deswegen sind wir jetzt unter Druck und in Schwierigkeiten.
({4})
Trotzdem werden wir uns jetzt daran beteiligen und uns
das Recht herausnehmen, Herr Kelber, an den Stellen, an
denen die Vorlage nichts taugt, es auch deutlich zu machen.
({5})
Es spricht Bände, dass der Herr Bundesminister
Trittin in dieser Debatte nicht ans Rednerpult tritt. Er hat
sich hier in einer kurzen Erklärung dahin gehend geäußert, er wolle die Rechte des Parlaments schon irgendwie wahrnehmen. Wenn man aber die Rechte des Parlaments wahrnehmen will, meine Damen und Herren von
der Koalition, dann muss man den Gesetzentwurf rechtzeitig vorlegen. Sie wissen, dass bis Ende dieses Jahres
das Gesetz beschlossen sein muss. Bis heute ist es weder
im Kabinett beschlossen noch dem Deutschen Bundestag vorgelegt. Wir sollen bis Ende März nächsten Jahres
den Allokationsplan zu Ende beraten haben. Dafür fehlt
aber die Grundlage, das Gesetz. Deswegen sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Sorgen Sie dafür, dass die Vorlage schnell eingebracht wird, damit wir wirklich genug
Zeit haben, darüber zu diskutieren. Nur dann werden die
Rechte des Parlaments tatsächlich wahrgenommen
werden können.
({6})
Der nationale Allokationsplan ist das Herzstück dieses Emissionshandels. In ihm geht es um die Anfangszuteilung von Emissionsrechten; insofern ist er für die
Anlagen betreibenden Unternehmen von zentraler, herausragender Bedeutung. Daher ist die Feststellung in
dem Antrag, den wir heute diskutieren, zutreffend, dass
die erforderlich werdende staatliche Zuteilung von
Emissionsrechten sowohl die Freiheit der Berufsausübung als auch das Grundrecht auf Eigentum wesentlich
berührt. Die Forderung, bei so weit reichenden Eingriffen die Parlamente maßgeblich einzubeziehen, ist meines Erachtens selbstverständlich. Das betrifft sowohl die
Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages als auch
die der Länderkammer, des Bundesrates. In diesem
Punkt teilt die FDP die Einschätzung des vorliegenden
Antrages.
Allerdings ist die Schlussfolgerung, die daraus gezogen wird, dass der nationale Allokationsplan als formelles Gesetz rechtlich eigenständig ausgestaltet werden
solle, meines Erachtens nicht zwingend; darüber sollten
wir noch einmal reden. Dabei ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, worum es bei dem nationalen Allokationsplan geht: um die konkrete Festlegung der Zuteilungsmengen für jede einzelne der 4 000 bis 5 000
Anlagen in Deutschland, um die Spezifizierung bestimmter Technologien, um die rechtsverbindliche Beschreibung von Tätigkeiten in Bezug auf Neuanlagen
und Anlagenerweiterungen, um Regelungen zu Anlagenstilllegungen und Ersatzanlagen, über die Kostenpflichtigkeit der Zuteilung und ihre nachträgliche Korrektur sowie ihre Überführung in die nachfolgende
Zuteilungsperiode und vieles andere mehr. Ich habe dies
deswegen hier aufgezählt, weil ich deutlich machen will,
dass es sich um die Festlegung einer Fülle technischer
Details handelt. Hier wäre nach meiner Meinung die
Rechtsverordnung der Weg, der für solche Dinge aus
guten Gründen üblicherweise gewählt wird.
Deshalb schlagen wir vor, diese Details auch im Rahmen einer Rechtsverordnung zu regeln. Das muss aber
noch lange nicht am Parlament vorbeigehen. Wir haben
sowohl im Abfallrecht als auch nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz heute schon die Möglichkeit, bei
Verordnungen eine Zustimmungspflicht von Bundestag
und Bundesrat vorzusehen. Dafür haben wir beispielsweise in § 48 b Bundes-Immissionsschutzgesetz ein Verfahren festgelegt, das hier Anwendung finden könnte.
Wir wollen also eine Beteiligung des Parlaments, aber es
muss nicht unbedingt im Rahmen eines Gesetzes sein,
wie es von der CDU/CSU vorgeschlagen wurde.
({7})
In höchstem Maße ärgerlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung nach wie vor kein Gesetz zum Emissionshandel eingebracht hat. Wir sind
spät, eigentlich schon zu spät dran. Die Wirtschaft wird
sich nicht mehr darauf einstellen können. Ein großes
Problem ist vor allem, dass im Referentenentwurf eines
Emissionshandelsgesetz, der bekannt wurde - ein Gesetzentwurf liegt dem Deutschen Bundestag noch nicht
vor -, eine Regelung zu wesentlichen Fragen bisher
schlichtweg fehlt.
Ich nenne einige Beispiele: Es muss eine Regelung in
das Emissionshandelsgesetz aufgenommen werden, die
die Vorausleistungen der deutschen Wirtschaft im Klimaschutz bei der Zuteilung der Emissionsrechte berücksichtigt. Wir brauchen eine Regelung der Frage, wie
Neuanlagen, die nach 2005 in Betrieb gehen, behandelt
werden sollen. Es bedarf im Gesetz auch einer grundsätzlichen Regelung der Frage einer nationalen Reserve
bei den Emissionshandelsrechten. Das sind die Punkt an
denen sich entscheidet, ob das Emissionshandelsgesetz
ein Erfolg oder ein Desaster werden wird. Regelungen
hierzu fehlen zurzeit und sind auch nicht vorgesehen.
Wir fordern, sie aufzunehmen; Art. 80 des Grundgesetzes erfordert das geradezu. Der Referentenentwurf von
Minister Trittin wird sowohl den rechtlichen Grundsätzen wie auch den inhaltlichen Notwendigkeiten in dieser
Hinsicht in keiner Weise gerecht.
({8})
Bei der Ausgestaltung des Gesetzes ist natürlich auch
die Frage der Mitwirkungsrechte der Länder zu klären. Wir müssen darüber nachdenken, wer den Emissionshandel in Deutschland vollziehen soll, also ob es einen Zentralvollzug des Emissionshandels gibt oder einen
Vollzug, an dem die Länder beteiligt sind. Das ist eine
Fachfrage, die sehr intensiv diskutiert werden muss.
Denn es kann nicht sein - das sage ich an dieser Stelle
ausdrücklich -, dass die Handelsrechte vom Bund vergeben werden und die Länder den Vollzug vorzunehmen
haben. Wenn es dann nämlich zu Streitigkeiten und womöglich zu Klagen kommt, sind die Länder die Beklagten. Eine solche Konstruktion halte ich für nicht akzeptabel und für unfair.
({9})
Ich freue mich auf die inhaltliche Diskussion über
Fachfragen. Ich hoffe, dass die Verantwortung, die hierbei
besteht, von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag
gleichermaßen wahrgenommen wird. Wir müssen dieses
Thema im Parlament beraten. Auch könnte das Parlament
mal wieder einen Änderungsantrag formulieren.
({10})
Das haben wir lange Zeit nicht mehr gemacht. Sie von
Rot-Grün sind nämlich dazu übergegangen, alles, was
die Bundesregierung einbringt, im Schweinsgalopp
durchzuwinken, ohne darüber nachzudenken.
({11})
Das können wir uns bei einer solch zentralen Frage nicht
leisten.
Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass der
Emissionshandel ein Erfolg wird, wenn er entscheidend
zur Reduzierung von CO2-Emissionen in Deutschland
und der Welt sowie zur Realisierung von Kostensenkungspotenzialen im Klimaschutz beitragen soll. Wenn
wir das schaffen, haben wir ein großes Ziel erreicht. Das
müssen wir aber auch erreichen; denn wenn dieses Instrument durch Missmanagement dieser Regierung an
die Wand gefahren wird, dann stehen wir klimapolitisch
ziemlich nackt da.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einer Kritik an der Sprache beginnen, die an
uns alle gerichtet ist. Wenn man die Debatte verfolgt,
dann hört man Begriffe wie Allokation, Innovation, Effizienz, Grenzkosten, Mikroplan oder Makroplan. Wir
müssen aufpassen, dass wir dieses Thema so darstellen,
dass die Öffentlichkeit es nachvollziehen kann.
({0})
Denn wenn es um Klimaschutz geht, ist es wichtig, zu
erklären, warum wir diese Regelungen vorsehen und
welche Ziele wir damit verfolgen. Das darf man nicht
vergessen; denn sonst gleitet diese Diskussion in eine
Technokratendiskussion ab, die vielleicht nur eine Hand
voll Leute verfolgen kann, die aber niemanden wirklich
noch erreicht.
Wir unternehmen diese Anstrengung, weil Klimaschutz eine der größten globalen Herausforderungen unserer Zeit und ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit
ist und weil die Kosten unterlassenen Handelns im Klimaschutz wesentlich größer sein können, als wir alle erwarten. Das sind die Motive.
({1})
Wir unternehmen diese Anstrengung aber auch, weil
wir glauben, dass ökologischer Strukturwandel ein
wichtiger Beitrag zur Lösung unserer wirtschaftlichen
Probleme und der Beschäftigungsprobleme ist. Wir in
der Bundesrepublik, wir in Europa müssen zeigen, dass
wirtschaftliche Prosperität auf der einen Seite und das
Verfolgen ökologischer Ziele auf der anderen Seite Hand
in Hand gehen können. Dafür ist der Emissionshandel
ein ganz wichtiger Beitrag.
({2})
Wir tun das übrigens auch, weil das ein Beitrag zur
Glaubwürdigkeit ist. Das knüpft ein wenig an das an,
was Uli Kelber gesagt hat. Es geht natürlich darum, dass
man auf dem internationalen Parkett bei den Klimaverhandlungen und anderswo wirklich nur dann glaubwürdig agieren kann, wenn man seine Hausaufgaben erledigt und zeigt, dass es geht. Dieser Zusammenhang ist
ganz klar.
Bei aller Freundschaft zum CDM und zur Joint Implementation, also dem Recht, die Maßnahmen auch außerhalb des Landes durchführen zu können, ist zu sagen: Es
ist schön und gut, dass man flexibel ist, wichtig ist aber,
dass wir zeigen, dass es geht, dass wir unsere technologische und ökonomische Kompetenz in dieser Richtung
weiterentwickeln und dass wir keinen Innovationsdruck
aus dem Kessel herausnehmen, sondern ihn aufrechterhalten. Das ist der Sinn und Zweck des Emissionshandels.
({3})
Ich komme zum Verfahren. Frau Kollegin Homburger,
ich muss schon sagen: Das, was Sie sagen, ist einfach
nicht richtig. Das Europaparlament hat im Juli in abschließender Lesung entschieden. Seit Oktober ist es in
Kraft. Wenn ich es richtig sehe, haben wir jetzt November. Das heißt, die Bundesregierung ist bei der Bearbeitung rasend schnell.
({4})
Es ist allerdings ganz klar, dass wir ein Dilemma haben:
Die Exekutive muss handeln - es geht um die Erarbeitung eines nationalen Allokationsplans -, ohne dass es
dafür eine Grundlage gibt, nämlich ein Gesetz, legislatives Handeln. Dieses Defizit werden wir sehr bald beheben. Ich gehe davon aus, dass das Kabinett im Dezember
beschließen wird und dass wir uns, nachdem wir wieder
zusammengekommen sind, im Januar oder Februar mit
dem Thema beschäftigen können. Insofern kann man
hier überhaupt nicht den Vorwurf erheben, das Verfahren
werde verschleppt oder es sei zu langsam. Es ist ganz
wichtig zu sagen: Wir sind in time.
Ich komme zu den Zielen. Bei dem Beitrag des Kollegen Paziorek in der letzten Debatte habe ich eine gewisse Inkonsistenz festgestellt. Einerseits haben Sie gesagt, wir brauchten endlich ein Konzept, das weit über
den Tag hinausweist, damit alle Investoren Planungssicherheit haben. Dazu kann ich nur sagen: Jawohl, das
dauert aber; hierfür muss man eine Perspektive von 20,
30 oder auch 50 Jahren ins Auge fassen. Andererseits
haben Sie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz beklagt,
dass man sich auf gar keinen Fall Ziele über das Jahr
2010 hinaus vornehmen sollte.
({5})
Das passt einfach nicht zusammen, das ist nicht logisch.
({6})
Deswegen sagen wir: Wir brauchen mittel- und langfristige Ziele - zum Beispiel die Reduktion bis zum
Jahre 2020 um 40 Prozent -, damit wir ein klares Investitionsfenster haben. Das ist der Korridor, in dem Investitionen getätigt werden können und auch willkommen
sind. Das ist unsere Botschaft.
({7})
Mit den langfristigen Zielen stehen wir keineswegs alleine. Großbritannien hat sich vor kurzem das Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2050 60 Prozent seiner Emissionen
zu reduzieren. Das ist ein ganz zentraler Punkt.
Ich gebe Ihnen allerdings Recht: Mit dem Verweis auf
morgen und übermorgen kann man nicht begründen,
weshalb man die Ziele von heute leider nicht erreichen
kann. Wir müssen aufpassen, dass wir uns kurz-, mittelund langfristige Ziele setzen. Wenn wir bestimmte Ziele,
wie zum Beispiel das 2005-Ziel, nicht erreichen - es
sieht ja danach aus, dass wir vielleicht bei 20 Prozent
und nicht bei 25 Prozent liegen werden -, dann müssen
wir genau analysieren, warum das so ist und was geändert werden muss, damit wir den Zielen näher kommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der FDP, um einmal ganz ehrlich zu sein:
So ganz glaube ich Ihnen Ihre Krokodilstränen bezüglich
des Verfehlens des 25-Prozent-Ziels nicht. Sie haben
gegen die ökologische Steuerreform, gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz, gegen das Marktanreizprogramm
für erneuerbare Energien, gegen das 100 000-DächerProgramm bei der Photovoltaik, gegen das Altbausanierungsprogramm und gegen das KWK-Gesetz gestimmt.
Das passt nicht zusammen. Man kann nicht einerseits
über das Verfehlen des Ziels klagen und andererseits immer fordern: weniger, weniger, weniger. Sie haben hier
eine echte Glaubwürdigkeitslücke. Das haben Sie bei der
letzten Wahl ja auch gemerkt.
({8})
Ich komme jetzt zu einem Aspekt, der mir sehr wichtig ist. Ich glaube, dass der Emissionshandel ein wunderbarer Beitrag auch zum Bürokratieabbau ist, wenn wir
ihn richtig aufziehen; das ist ganz zentral. Beim Emissionsschutzrecht und der ganzen Bürokratie können wir
zu deutlichen Reduzierungen kommen, wenn wir in den
Emissionshandel einsteigen; das muss man einmal sagen. Wir können die Ziele ökologische Effizienz und
Bürokratieabbau gut miteinander verbinden.
Beim Emissionshandel reduziert der Staat seine Rolle
im Prinzip darauf, die Ziele zu setzen und den Rahmen
vorzugeben. Innerhalb dieses Rahmens sind die Akteure
bei der Entscheidung, wie sie diese Ziele erreichen, vollständig frei. Der Staat kommt am Anfang, wenn er die
Emissionsrechte ausgibt, und am Ende vor, wenn er
schaut, ob die Ziele auch tatsächlich erreicht worden
sind. All das, was dazwischen stattfindet, also Handel,
Zertifizierung und verschiedene Dienstleistungsaktivitäten, sind neue Wirtschaftsaktivitäten, aus denen sich der
Staat völlig heraushält. Ich glaube, das passt sehr gut in
die aktuelle Debatte über Bürokratieabbau. Vor allen
Dingen entstehen auch viele neue strategische Geschäftsfelder.
Ich komme jetzt zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich kann ganz klar sagen: Zu 50 Prozent können
wir ihm zustimmen und zu 50 Prozent nicht.
({9})
Wir können dem Antrag der CDU/CSU in dem Punkt
zustimmen, dass Sie ein transparentes Verfahren unter
größtmöglicher Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit fordern.
Wir brauchen im Gesetz eine Festlegung der Ziele
und der Prinzipien. Das unterstützen wir. Wir wollen vor
allen Dingen auch, dass die Umweltverbände in diesem
Dialogprozess in angemessener Weise berücksichtigt
werden; denn sie besitzen sehr große Kompetenz. Darum geht es uns. Dazu können wir uneingeschränkt Ja
sagen.
Den Teil jedoch, in dem Sie fordern, dass der nationale Allokationsplan im Parlament behandelt werden
soll, können Sie nicht ernst meinen. Es geht hier um
Emissionsrechte für 5 000 Anlagen. Wir sind keine Beamte, sondern Politiker. Unser Werkzeug ist das Argument, nicht der Rechenschieber. Darüber möchte ich hier
im Parlament im Einzelnen wirklich nicht diskutieren.
({10})
Ich komme kurz zu einzelnen Punkten. Erstens. Unsere Position ist, angemessene absolute Reduktionsziele
kurz- und mittelfristig umzusetzen. Ich habe schon gesagt, es muss erkennbar sein, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden.
Zweitens. Wir erwarten von der Industrie, dass sie die
zugesagte Reduktion des Kohlendioxidausstoßes von
45 Millionen Tonnen bis 2010 gegenüber 1998 tatsächlich erbringt. Wir haben immer klar gemacht: Die Industrie muss sich keine Sorgen machen. Im Rahmen des
Emissionshandels verlangen wir von der Industrie nicht
mehr als das, was sie im Zuge der freiwilligen Selbstverpflichtung in der ersten Verpflichtungsperiode bis 2010
zugesagt hat. Wir halten unser Wort. Wir erwarten aber
von der Industrie, dass auch sie ihr Wort hält. Das ist eindeutig.
Es darf nicht zu einer Querabwälzung kommen. Die
Industrie darf ihre Kosten nicht anderen aufbürden, sodass den privaten Haushalten und dem Verkehr überproportionale Kosten entstehen. Es muss schon eine gewisse intersektorale Gerechtigkeit herrschen. Dafür
werden wir uns einsetzen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie das berücksichtigt.
Drittens. Natürlich muss es einen Reservefonds geben; das ist völlig klar. Es wird hoffentlich neue Akteure
und neue Unternehmen geben. Aufgrund der Konjunktur
und des Strukturwandels entstehen viele Unwägbarkeiten. Insofern brauchen wir einen Reservefonds. Wir betrachten es jedoch nicht als Aufgabe des Staates, diesen
Reservefonds bereitzustellen, sondern dieser muss aus
dem gesamten Emissionsbudget aufgebracht werden.
Am Ende des Tages wird sowohl im Rahmen der EULastenteilung, des Burden Sharing, als auch des KiotoProtokolls abgerechnet, um zu sehen: Was haben wir insgesamt erreicht? Wir können nicht einfach Geld zur Verfügung stellen; das geht nicht. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen berühmten Oggersheimer Philosophen
zitieren: Entscheidend ist, was hinten herauskommt. Genau das ist die Frage.
({11})
Wichtig sind für uns auch Privilegien für die KraftWärme-Kopplung; denn sie ist mit die effizienteste
Form der Energieerzeugung. Das heißt, wir wollen bei
der Kraft-Wärme-Kopplung eine wie auch immer geartete Form der Bonuszuteilung. Für die Kernenergie lehnen wir eine pauschale Kompensation ab. Es kann nicht
sein, dass den Unternehmen der Kernenergieausstieg extra bezahlt wird.
Vor allen Dingen wollen wir - das sagte ich schon - den
Emissionshandel mit Bürokratieabbau verbinden, also
weniger Ordnungsrecht und mehr moderne, effiziente
Umweltinstrumente mit einem größtmöglichen Freiheitsgrad für die Akteure zur Erreichung der Ziele. Ich
bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden. Ich
freue mich, dass die Opposition hier Zusammenarbeit signalisiert hat.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden bald eine neue Währung bekommen, eine Währung
für den Klimaschutz, eine Währung für Kohlendioxidemissionen. In wenig mehr als einem Jahr wird der europaweite Emissionshandel auch in Deutschland Wirklichkeit. Die Einführung dieser neuen Klimaschutzwährung
ist in ihren Auswirkungen durchaus mit der Einführung
des Euro vergleichbar. Immerhin steht uns ein grundlegender Systemwechsel bevor: vom traditionellen Ordnungsrecht hin zu einem marktwirtschaftlichen Steuerungsinstrument.
Starttermin ist der 1. Januar 2005. Bereits vorher,
schon in fünf Monaten, hat die Bundesregierung der Europäischen Kommission den nationalen Allokationsplan
vorzulegen. Es ist also langsam an der Zeit, die Bürger
und vor allem die Unternehmen darüber zu informieren,
was sie erwarten wird. Tatsächlich aber ist genau das
Gegenteil der Fall: Es macht sich gerade bei der Bundesregierung und im Umweltministerium erschreckende
Ahnungslosigkeit breit. Bisher hat das Umweltministerium lediglich einen Referentenentwurf für das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz vorgelegt. Doch in diesem Gesetz steht nichts Substanzielles. Die wesentlichen
Punkte werden auf den wenigen Seiten, die der Entwurf
umfasst, nicht angesprochen.
Der Gesetzentwurf trifft keine Aussage zur Berechnung der zuzuteilenden Zertifikatmengen, keine Aussage zur Einbeziehung von Vorleistungen, keine Aussage zur Kostenpflichtigkeit der Zuteilung, keine
Aussage zu Anlagenerweiterungen, keine Aussage zu
Anlagenstilllegungen,
({0})
keine Aussage zu Neuanlagenzulassungen und auch
keine Aussage zu Reservebildungen und Puffern.
({1})
- Wenig. - Stattdessen finden sich in nur 23 Paragraphen
insgesamt zehn Verordnungsermächtigungen.
({2})
Auch das Herzstück der nationalen Umsetzung, die
Regeln der Allokation, sollen in einer Rechtsverordnung
und nicht in einem Gesetz stehen. Herr Trittin, ich verstehe, dass Sie die alleinige Entscheidungsgewalt in Ihrem Haus behalten wollen. Sie umgehen damit aber die
Beteiligung des Parlaments.
({3})
Diese Praxis ist verfassungsrechtlich bedenklich. Namhafte deutsche Verfassungsrechtler stimmen mir in dieser Aussage zu, zum Beispiel Professor Eckard
Rehbinder von der Universität Frankfurt. Es besteht die
Gefahr, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz
der Anlagenbetreiber beschränkt wird, wenn die Zuteilungsentscheidung zunächst auf der Grundlage eines
Planes und erst später als Verwaltungsakt getroffen wird.
Wichtiger im Zusammenhang mit unserem Antrag erscheint mir jedoch die Entscheidung der Bundesregierung, auch die Regeln der Zuteilung ohne Beteiligung des
Parlaments festzusetzen. Es ist Ausdruck unseres RechtsMarie-Luise Dött
staatssystems, dass solche wesentlichen Entscheidungen
durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber getroffen werden. Dieser Gedanke liegt dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des
Grundgesetzes zugrunde.
Der Grundsatz verlangt, dass sich das gesetzliche Programm nach Zweck, Art und Umfang aus der Verordnungsermächtigung ergibt. Um es einfacher zu sagen:
Wenn ein Bürger in das TEHG schaut, muss er dem Gesetz entnehmen können, mit welcher Tendenz und mit
welchem Inhalt das Bundesministerium für Umwelt von
der Befugnis Gebrauch machen kann, den nationalen Allokationsplan zu erstellen.
({4})
Unter diesem Gesichtspunkt birgt die Verlagerung der
Regelungsgewalt auf die Exekutive zweierlei Probleme.
Zum einen kommt der angesprochene Systemwechsel im
TEHG nicht mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Zum anderen ist aus dem Gesetzentwurf nicht zu
erkennen, wie die Frage der Zuteilung der Zertifikate
durch den Verordnungsgeber angegangen werden soll.
Das Gesetz lässt also völlig offen, wie der nationale Allokationsplan aussehen soll. Die zentralen Fragen der
Erstzuteilung, der Behandlung von early actions und des
Marktzugangs für Neuanlagen sind in dem Entwurf zum
TEHG nicht hinreichend bestimmt.
Da keine aussagekräftigen Kriterien genannt werden,
ist nicht erkennbar, in welcher Richtung die Regelung
durch das Umweltministerium erfolgen soll. Dabei entscheidet der nationale Allokationsplan über Wohl und
Wehe der betroffenen Unternehmen. Er legt fest, welches Unternehmen wie viele Zertifikate bekommt. Damit werden den Betrieben wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten direkt zugestanden oder aber auch
versagt.
Wir fordern Sie daher auf, die wesentlichen Fragen der
nationalen Ausgestaltung nur mit Beteiligung des Parlaments zu treffen. Sie, Herr Minister Trittin, scheinen auch
so langsam zu dieser Einsicht zu kommen. Der von der
Rechtsprechung entwickelte Wesentlichkeitsgrundsatz
verpflichtet Sie dazu. Verlagern Sie die wesentlichen Entscheidungen nicht auf die Verordnungsebene, sondern gestalten Sie den nationalen Allokationsplan als formelles
Gesetz!
Ich bin gespannt auf Ihren Gesetzentwurf, den Sie für
Dezember angekündigt haben. Aber erlauben Sie mir, in
dieser Sache sehr skeptisch zu sein.
({5})
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Professor Ernst
Ulrich von Weizsäcker von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
Ich suche zunächst einmal nach den gemeinsamen Punkten. Das heutige Beratungsziel ist die Überweisung an
die zuständigen Ausschüsse. Darin sind wir uns sicherlich einig. Dieses Ziel werden wir erreichen. Das ist
schon einmal ein gutes Symbol.
Darüber hinaus - das sehe ich ähnlich wie Herr Loske sind wir uns darüber einig, dass das Parlament intensiv
beteiligt werden muss. Eine andere Frage ist, ob wir großen Spaß daran finden, über 5 000 oder 6 000 einzelne
Anlagen zu beraten und in das Feilschen über die Startlizenzen einzutreten. Das wäre ziemlich abwegig. Ich
habe aber nicht den Eindruck, dass dies das Ziel Ihres
Antrags ist, Herr Dr. Paziorek.
({0})
Wenn das der Fall wäre, dann müssten wir darüber streiten. Denn es entspricht nicht dem, was wir im Bundestag
mit der Klimapolitik beabsichtigen.
Bei der Klimapolitik handelt es sich - das haben schon
viele Redner festgestellt - um eine sehr langfristige Aufgabe. Sie erfordert eine größere Gemeinsamkeit und einen stärkeren Willen zur Gemeinsamkeit, als es bisher
vielleicht zum Ausdruck gekommen ist. Unseren Enkeln
wird es ziemlich egal sein, wer im Jahr 2003 im Bundestag die schönere Rede gehalten hat. Es wird ihnen aber
sehr darauf ankommen, was in der Praxis wirklich geschieht.
In einem solchen Zeitraum wechseln auch schon einmal die Mehrheiten. Man sollte nicht darauf bauen, dass
sich eine bestimmte Doktrin 50 Jahre lang hält. Insofern
ist auch Flexibilität erforderlich.
Ich sehe den eigentlichen Charme des Emissionshandels darin, dass der Markt hinsichtlich der höchsten Effizienz immer wieder neu justiert werden kann. Es sind
nicht ständig neue Entscheidungen notwendig. Wenn ich
es richtig verstanden habe, liegt die Logik des bisherigen
Referentenentwurfs zum Teil darin, Frau Dött, dass nicht
alles von vornherein festgelegt wird.
({1})
- Für die Planungssicherheit ist der mit der Senkung der
Emissionen auf 846 Millionen Tonnen CO2 eingezogene
Deckel notwendig. Der Markt erlaubt keine wirkliche
Planungssicherheit; das ist der Sinn der Marktwirtschaft.
({2})
Darüber kann man sich nicht beim Ministerium beklagen.
Ich bin aber sehr froh darüber, dass zum Beispiel Herr
Lippold die Festlegungen durch das Kioto-Protokoll und
die EU-Richtlinie ausdrücklich begrüßt hat, dass sich
Herr Paziorek in der Diskussion zum vorhergehenden
Tagesordnungspunkt zum Anwalt der erneuerbaren
Energien gemacht hat - das ist sehr erfreulich - und dass
Frau Homburger die Rolle der FDP bei der Entwicklung
des Grundgedankens des Emissionshandels herausgestellt und die Notwendigkeit der Effizienztechnologien
und - im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien - auch der Speichertechnologien betont hat. Ich
habe den Eindruck, dass es einen breiten Spielraum für
eine Einigung gibt.
Konkret werden wir den Antrag in den zuständigen
Ausschüssen einschließlich des Umweltausschusses beraten. Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Beratungen zu einer Stärkung des Parlaments in den Grundsatzfragen führen.
Der Emissionshandel ist insgesamt ein Novum. Das
hat Frau Dött sehr zutreffend dargestellt. Gleichzeitig
stehen wir unter einem von außen erzeugten enormen
Zeitdruck. Das impliziert für den Gesetzgeber und das
Ministerium, sich zunächst pragmatisch auf das zu beschränken, was wenigstens einigermaßen einfach und
durchschaubar ist. Darin liegt der Sinn des nationalen
Allokationsplanes, den auch die anderen europäischen
Länder erstellen müssen. Das stellt eine in pragmatischer
Hinsicht unvermeidliche Selbstbeschränkung auf einen
Bereich des Klimaschutzes dar, in dem man es mit wenigen großen Akteuren zu tun hat. 5 000 Akteure sind relativ wenig.
Auf die Dauer wird aber der Klimaschutz nicht kostengünstig möglich sein, wenn nicht auch die Millionen von
kleinen Akteuren berücksichtigt werden, die bisher nichts
von einer Verwirklichung des nationalen Allokationsplanes haben. Es muss den Bundestag auf die Dauer interessieren, wie wir den Strukturwandel über die großen
Akteure hinaus ausdehnen und den Preis, der den CO2Emissionen jetzt zugewiesen wird, transparent machen
können. Das muss zum Teil mit anderen Instrumenten als
mit einem nationalen Allokationsplan geschehen. Aber
das muss jedenfalls im Visier der Energiepolitik sein.
Heute früh ist schon darauf hingewiesen worden, dass
wir in diesem Jahrzehnt vor grundlegenden energiepolitischen Entscheidungen stehen und dass es in den kommenden Jahren - vielleicht anderthalb Jahrzehnten - notwendig sein wird, etwa 40 000 Megawatt der heutigen
Kraftwerkskapazität zu ersetzen, weil zahlreiche
Kraftwerke aus Altersgründen vom Netz genommen
werden müssen. Die entscheidende Frage ist, wie diese
Kapazitäten ersetzt werden sollen. Eine Möglichkeit ist
- diese wird von den Kraftwerksbetreibern ständig
propagiert -, effizientere Kraftwerke, zum Beispiel GasDampf-Kombinationskraftwerke, zu bauen. Hier ist die
Arena für den Emissionshandel nach dem nationalen Allokationsplan; das ist auch richtig so.
Nach meiner Vision können so aber nur 40 Prozent der
40 000 Megawatt ersetzt werden. Weitere 20 Prozent kann
man durch die Nutzung erneuerbarer Energiequellen abdecken; auch das ist in der Zielsetzung. Die restlichen 40 Prozent sollten durch die Steigerung der Endnutzereffizienz
erzielt werden, die bisher kaum im Gespräch ist. Das betrifft also die Haushalte und den Verkehr. Natürlich sind
die großen Energieverbraucher in Industrie und Gewerbe
schon jetzt einbezogen. Wir müssen uns also zusätzlich
in eine andere große Arena begeben, wenn wir die energiepolitischen Entscheidungen dieses Jahrzehnts mit
Vernunft und einer langfristigen Zielsetzung angehen
wollen.
Ich glaube, es war Herr Kelber, der darauf hingewiesen hat, dass es nicht angeht, dass sich eine große Branche, die in Deutschland einiges Ansehen genießt, stillschweigend von einer Selbstverpflichtung verabschiedet.
Das ruft den Gesetzgeber geradezu auf den Plan, nun
endlich feste Rahmenbedingungen - auch um der Planungssicherheit willen - zu setzen; denn wir können es
uns nicht leisten, noch in zehn Jahren eine Dinosaurierautomobilflotte und entsprechende Gebäude zu haben.
Wir müssen jetzt in die Energie sparende Technologie
einsteigen.
({3})
Ich freue mich sehr auf die Debatte über den im
Grundsatz sehr vernünftigen Antrag der CDU/CSUFraktion auf parlamentarische Beteiligung an der Erarbeitung eines nationalen Allokationsplans. Ich bin sehr
erfreut und auch beruhigt über die Auskunft des Herrn
Ministers, dass er selbstverständlich das Parlament, wie
es sich gehört, im Zusammenhang mit der Ermächtigung
für eine Verordnung in die Beratungen über den Entwurf
eines Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes einbeziehen will.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Petzold von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leider sind die Vorstellungen der Bundesregierung zur Umsetzung eines nationalen Emissionszuteilungsplanes - um das einmal so auszudrücken - noch
sehr im Dunkeln und sorgen gerade in den neuen Bundesländern für erhebliche Unruhe. Immer wieder werden
Fragen nach der Berücksichtigung von bereits erbrachten
Emissionsminderungen, den so genannten early actions,
und deren Vorhaltemöglichkeit an mich gerichtet.
Wenn wir ohne Voreingenommenheit zurückblicken,
dann stellen wir fest: Die beträchtlichen Minderungen
beim CO2-Ausstoß, die Deutschland seit 1990 erreicht
hat, wurden im Wesentlichen durch den schmerzlichen
Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern erbracht.
({0})
Des Weiteren wurden dort Betriebe zum großen Teil
nach dem neuesten Stand der Technik errichtet, sodass
sie kaum noch über Minderungspotenziale bei Klimagasen verfügen. Durch eine restriktive Zuteilung von
Emissionsrechten würde in den neuen Bundesländern
ein Zustand verfestigt, der dort eine selbst tragende Wirtschaft auf Dauer verhindern und diese Länder zu dauerhaften Subventionsempfängern machen würde. Aus dieser Situation würden sie nicht wieder herauskommen.
Es liegt bei der Zuteilung von Emissionsrechten daher
im gesamtstaatlichen Interesse, die den Mitgliedstaaten
von der Europäischen Union eingeräumten Ermessensfreiräume zu nutzen. Diese Freiräume bestehen zum Beispiel bei den als early actions bezeichneten Vorleistungen, bei einer für die wirtschaftliche Entwicklung
notwendigen Zertifikatsreserve und beim Banking, also
einem Ansparen von Emissionszertifikaten.
Das Gutachten von Professor Arndt von der Universität Mannheim zeigt uns exemplarisch auf, wie weit wir
bei der Gestaltung dieser verteilungspolitischen Aspekte
in unseren nationalen Gesetzen und Verordnungen gehen
können, um Verwerfungen in unserer Wirtschaft zu vermeiden.
({1})
Er greift unter anderem vier Problemfelder auf, auf denen sich die Bundesregierung im Hinblick auf ihr weiteres Handeln anscheinend noch unschlüssig ist und auf
denen sie in streitiger Diskussion mit den betroffenen
Ländern steht.
Erstens. Der Zeitpunkt, ab dem early actions als Vorleistungen für den Klimaschutz angerechnet werden sollten, sollte sich eindeutig auf das Jahr 1990 beziehen.
Wie könnte die Bundesrepublik eine CO2-Minderung bezogen auf das Jahr 1990 abrechnen, wenn man dieses
Jahr nicht gleichzeitig als Basisjahr ihres nationalen Allokationsplanes festlegte?
Zweitens. Professor Arndt fordert in seinem Gutachten geradezu einen Vertrauensschutz für early actions infolge der strikten Klimavorsorgeanforderungen in der
Bundesrepublik an die Wirtschaft bereits seit Anfang der
90er-Jahre. Eine Gleichstellung von Vorreitern und
Nachzüglern im Klimaschutz verbietet sich danach sogar
in Anbetracht von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Eine
Gleichbehandlung von Ungleichen würde jeden Vertrauensschutz und jede zukünftige Aktivität von Vorreitern
torpedieren. Auch bereits erfolgte Stilllegungen müssten
als Klimaschutzvorleistungen anerkannt werden, wenn
Betreiber zukünftiger Stilllegungen mit ihren Zertifikaten handeln dürften. Im Zweifel müssten die Klimaschutzvorleistungen durch bereits erfolgte Stilllegungen
einer Reserve der förderungsbedürftigen Länder zugeführt werden, die einer Ausstattung von Neuansiedlungen dient.
Drittens. Ich trete der Auffassung energisch entgegen,
dass beihilferechtliche Bestimmungen einer Zuteilung
bei early actions entgegenstehen. Diese Zuteilungen erfolgen kostenlos und ohne Belastung des Staatshaushaltes. Damit sind wesentliche Voraussetzungen für die Bewertung als Beihilfe nicht gegeben. Außerdem bedeutet
die Einführung des Zertifizierungsmodells für ein Unternehmen nicht von vornherein einen Vorteil, sondern ist
eher eine Belastung, die von uns nicht künstlich zu einem Vorteil schöngeredet werden sollte.
Viertens. Ein Banking, also eine Übertragung von
Vorleistungen in eine nachfolgende Handelsperiode,
sollte für uns - da es für spätere Phasen zwingend zugelassen wird - auch für den Übergang von der ersten zur
zweiten Handelsperiode gelten. Es wäre unverständlich,
wenn Unternehmen, die ihre Emissionen durch die Modernisierung von Anlagen um mehr als zwei Drittel gemindert haben, in ihrer Fähigkeit zum Wachstum gehemmt werden, indem sie für die Erweiterung ihrer
Produktion nicht den Zeitraum nutzen können, der für
sie wirtschaftlich am vorteilhaftesten ist.
({2})
Ich hoffe, es wurde deutlich, dass wir Parlamentarier
genauso wie die betroffenen Bundesländer auf unserer
Beteiligung an der Umsetzung der Richtlinie bestehen
müssen; ansonsten werden wir in der Folgezeit nur den
Reparaturdienst im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu leisten haben.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kanada
hat verkündet, dass es aufgrund von Naturkatastrophen
deutliche wirtschaftliche Einbußen hinnehmen musste.
Mit Naturkatastrophen waren Dürren, Stürme und Katastrophen im Zusammenhang mit landwirtschaftlichen
Fehlplanungen gemeint. Auch uns in Deutschland haben
die Folgeschäden der Überschwemmungen und der
Dürre getroffen. Diese Schäden sind wirtschaftlich keine
Peanuts mehr, sondern kommen uns mittlerweile richtig
teuer zu stehen.
Wenn wir den Klimaschutz nicht ernst nehmen und
wenn wir das Anwachsen des Treibhauseffekts nicht begrenzen können, dann hat das tatsächlich weitreichende
wirtschaftliche Konsequenzen und kann auch Wirtschaftssysteme sehr stark gefährden. Deswegen ist Klimaschutz keine grüne Spielwiese - wir machen das
nicht, um Menschen zu ärgern -, sondern Klimaschutz
ist eine objektive Notwendigkeit.
({0})
Hier wird immer Planungssicherheit eingefordert,
speziell im Emissionshandel, aber auch allgemein für die
Zukunft. Wer dies fordert, muss die Grünen unterstützen,
wenn sie sagen: Wir brauchen neue Klimaschutzziele
über das Jahr 2010 bzw. 2012 hinaus. Nur dann, wenn
wir Klimaschutzziele festlegen, gibt es Planungssicherheit. Ansonsten wird aufgrund der geschilderten objektiven Notwendigkeit, die sich Bahn brechen wird, jede
Regierung ruckartig handeln müssen und dann entsteht
das Gegenteil von Planungssicherheit. Wer Planungssicherheit einfordert, der muss sich also auch dafür einsetzen, dass wir uns auf nationale und auf europäische
Klimaschutzziele über die jetzt bestehenden hinaus verständigen.
Die Basis dafür kann natürlich die objektive Notwendigkeit sein. Die objektive Notwendigkeit ist, bis zum
Jahr 2020 die Treibhausgasemissionen gegenüber dem
Stand von 1990 um 40 Prozent zu reduzieren.
Über einen Eckpunkt haben wir vorhin schon diskutiert: Die erneuerbaren Energien sollen zukünftig 20 Prozent der Energieversorgung sicherstellen. Es wurde darauf hingewiesen, dass es sehr notwendig ist, bis dahin
eine absolute Energieeinsparung von mindestens 10 Prozent durchzusetzen. Wenn wir aus der Atomkraft ausgestiegen sein werden, wird für die fossilen Energieträger
im Jahr 2020 ein Anteil von circa 70 Prozent bleiben.
Das bedeutet: Wenn wir ambitionierte Klimaschutzziele durchsetzen wollen, dann müssen wir in dem Bereich eine drastische Effizienzsteigerung durchsetzen.
Das entscheidende Instrument dafür ist der Emissionshandel. Jetzt müssen die Hälfte der Kraftwerkskapazitäten in Deutschland und 200 000 Megawatt in der Europäischen Union ersetzt werden. Da muss der
Emissionshandel dafür sorgen, dass es im neuen Kraftwerkspark zu drastischen Einsparungen von CO2
kommt. Das ist auch möglich. Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk durch ein neues, kann man 30 Prozent CO2
einsparen. Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk durch
ein Gaskraftwerk, kann man 50 Prozent CO2 einsparen.
Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk gar durch ein
Kraftwerk mit Auskopplung von Wärme, also durch ein
Kraftwerk, bei dem man die Wärme für die Stromerzeugung nutzt, dann kann man 80 bis 90 Prozent der CO2Emissionen einsparen. Das heißt, das Ziel 40 Prozent
CO2-Reduktion, also Klimaschutz, und der Atomausstieg sind miteinander vereinbar.
Wir brauchen eine Vielfalt der Technologien in
Deutschland. Wir brauchen Deutschland als Schaufenster auch für den Export. Weltweit wird der Energieverbrauch um 30 Prozent steigen. Angesichts dessen sind
Technologien gefragt. Es müssen moderne Technologien
sein. Moderne Technologien sind Klimaschutztechnologien. Da wollen wir alles im Einsatz haben: die KraftWärme-Kopplung, die Brennstoffzelle, die Mikroturbine, die Blockheizkraftwerke und die gesamte Palette
der erneuerbaren Energien.
Ein Problem wird sein, den Emissionshandel mit der
Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung zu verzahnen.
Auf gar keinen Fall darf es durch den Emissionshandel
eine Benachteiligung der Kraft-Wärme-Kopplung geben. Was den Strom angeht, so sinkt der Effizienzgrad
zwar etwas, insgesamt allerdings wird der Energieträger
optimaler ausgenutzt.
Eine spezielle KWK-Regelung ist unabdingbar. Sie
muss Lösungen bringen, ohne dass es zu einer Überfrachtung des Systems kommt. Ein optimaler Weg wäre eine
Befreiungsregelung für den Brennstoffeinsatz, der der
Wärmeerzeugung zuzurechnen ist. Ob das im Rahmen
der EU-Richtlinie machbar ist, muss man überprüfen.
Wir werden uns das Ergebnis des Emissionshandels
angucken und werden genau prüfen müssen, ob auch ein
ausreichendes Signal gesetzt wird, Kraft-Wärme-Kopplung in diesem Land tatsächlich zu fördern. Wenn der
Emissionshandel dazu nicht ausreicht, dann wird man
nachgelagert im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zusätzliche Anreize setzen müssen.
Ich sage abschließend: Der Emissionshandel wird neben dem EEG zu einem zentralen Instrument werden,
um eine zukunftsfähige Energieversorgung durchzusetzen. Zusammen mit dem Energiewirtschaftsgesetz bilden sie die drei zentralen Säulen einer zukünftigen Energieversorgung.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne die Gelegenheit nutzen, bevor ich
mich mit dem nationalen Allokationsplan und der Klimapolitik im europäischen Kontext auseinander setze,
hier festzuhalten, dass Sie, Herr Kelber, meiner Frage
ausgewichen sind. Ich möchte hier auch für die Öffentlichkeit noch einmal deutlich machen, dass Ihre Behauptung, dass Produzenten von Solarzellen vor dem Regierungswechsel 1998 Deutschland den Rücken gekehrt
haben, schlicht und einfach falsch ist.
({0})
Der damalige Minister Rüttgers hat nämlich noch kurz
vor der Wahl die Grundsteinlegung von zwei Solarzellenfabriken begleitet.
({1})
Weiterhin haben Sie, Herr Kollege Kelber, auf die Erfolge der Klimaschutzpolitik in der Bundesrepublik
Deutschland abgehoben. Ich möchte Sie dabei auf folgende Dinge hinweisen:
Erstens. An der Bilanz, die Sie jetzt vorlegen können,
trägt die Klimaschutz- und Energiepolitik der Regierung
Kohl und der CDU/CSU-FDP-Koalition einen erheblichen Anteil.
Zweitens. Die internationalen Vereinbarungen, die die
Grundlage für Kioto bildeten, sind eine Folge der international engagierten Entwicklungs- und Umweltpolitik
von Helmut Kohl, Klaus Töpfer und Angela Merkel.
Überhaupt nur auf diesen Fundamenten können Sie über
heutige Erfolge in Deutschland reden. Sie bilden die Basis dafür, dass es überhaupt eine international verbindliche Klimaschutzpolitik geben kann.
({2})
- Ich sage das nur deswegen, weil Sie hier immer den
Eindruck zu erwecken versuchen, die Ära der erneuerbaren Energien und der Klimaschutzpolitik hätte 1998 begonnen.
({3})
Wenn Sie das nicht ständig wider besseres Wissen wiederholten, bräuchte ich eine solche Bemerkung an dieser
Stelle nicht zu machen.
Drittens. Sie beklagen beredt die Haltung der europäischen Automobilwirtschaft und -industrie. Ich teile diese
Einschätzung und kritisiere sie auch. Vielleicht setzen
Sie aber an dieser Stelle einmal Ihren Autokanzler in Bewegung, der immer dann aufgetreten ist, wenn es darum
ging, wirtschaftliche Belastungen von der Automobilindustrie fern zu halten. Das ist meine herzliche Bitte. Sie
haben ja alle Möglichkeiten dafür, wenn ich mir bestimmte Habita des Herrn Bundeskanzlers anschaue.
({4})
Viertens. Ich habe zwar eine Reihe von Argumenten
für die Energiepolitik dieser Koalition und der Bundesregierung gehört, aber ein schlüssiges Konzept dazu, wie
der Ausstieg aus der Kernenergie ökonomisch vernünftig und CO2-neutral durchgeführt werden kann, haben Sie auch heute hier nicht vorgetragen. Das können
Sie nämlich nicht.
({5})
In dieser Woche sind 17 Milliarden für die deutsche
Steinkohle auf den Tisch gelegt worden. Frau Hustedt
hat hier über 70 Prozent fossile Kraftwerke - vorgestern
waren es noch 80 Prozent - geredet. Ich bin ja durchaus
der Meinung, dass das eine der Möglichkeiten ist,
möchte dazu aber zwei Anmerkungen machen: Wenn
diese Kraftwerke den Anteil der Kernkraftwerke kompensieren sollen, dann müssen Sie zunächst sagen, dass
dadurch mehr CO2 ausgestoßen wird.
({6})
- Aber natürlich. - Weiterhin sollten Sie sich in dieser
Bundesregierung dann dazu entschließen, gemeinsam
mit Nordrhein-Westfalen ein modernes, hocheffizientes
Kohlekraftwerk zu bauen. Das müssen wir ja überhaupt
erst einmal erproben, denn wir haben in Deutschland auf
diesem Sektor sozusagen einen Negativtrend, weil es in
Deutschland keinen Kraftwerkshersteller mehr gibt. Wir
müssen daher erst einmal Technologien für hocheffiziente Kohlekraftwerke erproben.
({7})
Im Haushalt sind für die Forschung zur Energiegewinnung aus Kohle nur 10 Millionen Euro vorgesehen. Das
steht doch in keinem Verhältnis zu den 17 Milliarden
Subventionen für die Steinkohle.
Herr Minister Trittin sprach ja eben davon, dass seine
Energiepolitik auf drei Säulen basiere: erneuerbare
Energien, Einsparungen und Effizienzsteigerung. Ich
will mich an der Stelle gar nicht mit der Frage der erneuerbaren Energien auseinander setzen, denn die Defizite
Ihrer Politik liegen in den Punkten Effizienzsteigerung
und Energieeinsparung. Das können Sie unter der Hand
von jedem besseren Umweltverband in Deutschland hören.
Ihr Kollege Müller hat vor dem Regierungswechsel
1998, als Sie noch in der Opposition waren, gesagt:
Wenn wir an der Regierung sind, werden wir bis 2010
einen Rückgang der Emissionen um 30 Prozent erreichen; das schaffen wir locker. - Ihre Bilanz ist, gemessen an Ihren Ansprüchen und Versprechungen, jämmerlich.
({8})
Wir müssen uns über die Förderinstrumente unterhalten. Die KfW-Programme werden nicht akzeptiert.
({9})
- Lieber Herr Loske, wir haben uns gerade, auch im Beirat der Dena, über den Erfolg dieser Dinge unterhalten.
Denken Sie bitte auch an die Situation im Hausbau. Wir
müssen über den Gebäudebestand reden - das will ich
überhaupt nicht bestreiten - und sicherlich mehr tun, als
wir bis 1998 gemacht haben; das gebe ich freimütig zu.
Die Versuche unserer damaligen Umweltgruppe, etwas
mehr zu machen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Aber
im Neubau setzen Sie - ich sage das nicht als Vorwurf;
setzen wir, wenn Sie so wollen - die Energieeinsparverordnung nicht um. Nach den Untersuchungen zu diesem
Bereich genügen maximal 40 Prozent der Neubauten
dem Anspruchsbereich von Wärmeschutzverordnung
und Energieeinsparverordnung. Deswegen müssen wir
über das Ganze noch einmal nachdenken.
Wir haben über den Export gesprochen. Gerade in
diesen Tagen ist deutlich geworden, dass Ihre Exportpolitik gescheitert ist.
({10})
Wir haben Ihnen von dieser Stelle aus gesagt, dass das,
was Sie planen, zu bürokratisch ist und nicht greift. Ich
kann nur sagen: Wer will, dass erneuerbare Energien und
andere Technologien aus Deutschland Exportschlager
seien, der muss auch die Weichen dafür stellen, dass
diese in der Welt akzeptiert und gekauft werden.
({11})
- Ich bin dabei, mich mit Ihren Argumenten auseinander
zu setzen, Herr Kelber. Wenn Sie das nicht gemerkt haben, kann ich nichts dafür.
({12})
- Zu diesem Antrag ist hier vieles gesagt worden. Ich
setze mich mit Ihren Argumenten auseinander. Aber
vielleicht können Sie das ja nicht ganz begreifen.
({13})
Der Kioto-Prozess steht - deswegen ist es notwendig, dass wir uns im Parlament mit diesen Fragen auseinander setzen - möglicherweise vor dem Scheitern.
Wenn aus den USA ähnliche Nachrichten gekommen
wären, wie wir sie diese und letzte Woche aus Russland
gehört haben, nämlich dass das russische Parlament das
Kioto-Protokoll nicht ratifizieren will, dann hätten Sie
sich heute Morgen an diesem Pult in Ihrer Kritik an
Bush und den USA und der Verletzung der internationalen Verpflichtungen in der Klimapolitik überboten. Sie
wissen genauso gut wie ich, dass es bei der Frage, ob
Russland das Kioto-Protokoll ratifiziert oder nicht, um
mehr geht als um die Frage, ob ein Land ratifiziert: Es
geht darum, ob diese Vereinbarung völkerrechtlich verbindlich wird oder nicht.
Wenn wir in diesem Zusammenhang über die nationale Umsetzung europäischer Politik reden, müssen wir
zwei Ereignisse berücksichtigen, die bedauerlicherweise passiert sind: Erstens. Auf dem deutsch-russischen
Gipfel ist über das Kioto-Protokoll überhaupt nicht geredet worden. Zweitens. Wir haben mit Entsetzen festgestellt, dass Herr Berlusconi als Ratspräsident gegen alle
Regeln verstoßen hat. Die Folge ist, dass in dem Protokoll von Russland und Europa das Wort Kioto überhaupt
nicht auftaucht, geschweige denn die Ratifizierung dieses Protokolls durch Russland. Somit befinden wir uns
in der katastrophalen Situation, dass wir zwar über eine
Politik reden, die im Kern, auch bezüglich der marktwirtschaftlichen Komponenten, richtig angelegt ist - das
will ich hier ausdrücklich betonen -, aber in eine Wettbewerbssituation geraten, die sich angesichts der außenwirtschaftlichen Entwicklung für die deutsche Wirtschaft negativ darstellt. Zudem wird dadurch auch die
Frage der Entwicklungspolitik berührt; denn wenn das
Kioto-Protokoll völkerrechtlich nicht verbindlich wird,
werden Joint Implementation und CDM massiv berührt.
({14})
Deswegen müssen wir von dieser Stelle aus die russische Regierung, aber auch unsere Kollegen in der russischen Duma nachhaltig auffordern, die Ratifizierung
nicht zu verweigern. Russland braucht - das weiß ich
aus persönlicher Erfahrung - einen solchen Strategiewandel, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was hier
vorgetragen worden ist, nur umgekehrt: Die Russen haben offensichtlich geglaubt, sie könnten mit dem Verkauf von CO2-Emissionszertifikaten Geld verdienen.
Jetzt aber gibt es in Russland Wirtschaftswachstum. Eine Nebenbemerkung: Wenn wir das Wachstum hätten,
von dem Sie träumen, dann müssten wir über eine ganz
andere CO2-Bilanz in diesem Lande reden. - Aufgrund
ihres Wachstums benötigen die Russen ihren Emissionsanteil selber und können daher mit dem entsprechenden
Handel von Zertifikaten kein Geld mehr verdienen.
Wenn Joint Implimentation und CDM als ein Element
der kostengünstigeren Emissionsbeseitigung ausfallen,
dann schaffen wir ein ökonomisches Problem, was die
Kosten der CO2-Politik in der Europäischen Union angeht.
({15})
Es war deshalb ausgesprochen gut, Herr Kollege von
Weizsäcker, dass Sie deutlich gemacht haben, dass es zu
einem Dialog im Umweltausschuss und in den anderen
Gremien des Deutschen Bundestages kommen wird. Ich
kann nur hoffen, dass unser Antrag die Basis dafür ist,
das Parlament in dieser Frage angemessen zu beteiligen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Man kann zum Ende dieser Debatte feststellen, dass sie
- das gilt zumindest für den Zeitraum bis zur Rede des
Kollegen Kurt-Dieter Grill -, weitgehend sachlich verlief. Viele haben sogar zum Thema gesprochen.
({0})
Auch ich will das versuchen und deshalb eine Änderung
im Stil im Vergleich zum letzten Redebeitrag einführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Emissionshandel ist in der Tat ein völlig neues Instrument, das eine sehr
große Chance bietet. Wenn dieses Instrument gut entwickelt wird - der Allokationsplan, über den heute gesprochen wird, ist da natürlich eine ganz entscheidende
Weichenstellung -, dann haben wir eine große Chance,
dass es ein sehr integratives Instrument sein kann. Ich
jedenfalls glaube, dass wir im weiteren Verlauf - nicht am
Anfang des Prozesses der Entwicklung dieses Instrumentes - die Möglichkeit haben, unser gesamtes energiepolitisches Instrumentarium daraufhin zu überprüfen,
inwieweit nicht manches in Zukunft durch den Emissionshandel erledigt werden kann, was bisher mithilfe
von Einzelinstrumenten erledigt werden musste.
Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass die
SPD-Bundestagsfraktion einer Aufforderung, die von
anderen Fraktionen gelegentlich an sie gestellt wurde,
nachgekommen ist und eine energiepolitische Agenda
formuliert hat. Damit wird der Versuch unternommen,
die verschiedenen energiepolitischen Themen und Herausforderungen der nächsten Zeit miteinander zu verbinden und daraus ein ganzheitliches Konzept zu machen.
({1})
Dass wir im Instrument des Emissionshandels auch
die Chance sehen, Themen miteinander zu verbinden,
sehen Sie daran, dass der Emissionshandel in diesem Papier eine besondere Erwähnung findet. Ich will die entsprechende Stelle, die Ihre Forderung aufgreift, einmal
vorlesen:
Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zum Handel
mit Treibhausgasemissionen werden wir die mit den
flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls ermöglichten kostengünstigen CO2-Minderungsstrategien mit industrie- und strukturpolitischen Wertschöpfungsaspekten verbinden. Wir werden dieses
potenziell hocheffiziente Instrument so einsetzen,
dass gleichzeitig auch standortpolitische Aspekte
sowie die nationalen Vorleistungen berücksichtigt
und internationale Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. Dabei ist sicherzustellen, dass der
Emissionshandel mit den weiteren existierenden
bzw. vorgesehenen nationalen und internationalen
Klimaschutzmaßnahmen so harmonisiert wird, dass
ein optimaler Beitrag zur Bewältigung der globalen
Aufgabe des Klimaschutzes geleistet wird.
({2})
Ich denke, hieran wird deutlich, dass vieles von dem,
was von den verschiedenen Fraktionen zu Recht angesprochen worden ist, auch von uns als Aufgabe im Rahmen des Emissionshandels und seiner Entwicklung gesehen wird.
Ich freue mich im Übrigen - auch das darf ich hier sagen -, dass auch der Koalitionspartner, die Grünen, ein
Energiekonzept entworfen und in dieser Woche verabschiedet hat. Wir können dort, wie ich gehört habe, eine
Vielzahl an Schnittmengen entdecken und werden versuchen, daraus etwas Gemeinsames zu entwickeln.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat uns gestern im
Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages mitgeteilt, dass auch die beiden bei Energiefragen federführenden Häuser, also das Wirtschaftsministerium und das
Umweltministerium, sich über ein gemeinsames Energiekonzept abstimmen werden. Damit entspricht diese
Bundesregierung einer lange formulierten Forderung sowohl aus dem Parlament als auch aus dem außerparlamentarischen Raum. Ich freue mich sehr darüber.
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Emissionshandel soll die Kosten für den Klimaschutz, insbesondere in den Industrieländern, deutlich verringern. Das
ist der eigentliche Grund, warum die Industrieländer, federführend die USA, dieses Instrument sozusagen erfunden haben. Und es ist schon interessant, dass auch große
transnationale Konzerne dieses Instrument seit Jahren
entwickeln und konzernintern ausprobieren. Wenn der
Vorstand von BP Deutschland im Rahmen einer Sitzung
des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages
sagt, der Emissionshandel „erbringt klimapolitische Effizienz im volkswirtschaftlichen Schongang, spürbarer
Klimaschutz zu spürbar geringeren Kosten“, sollte uns
das jedenfalls insgesamt zuversichtlich stimmen und uns
veranlassen, dieses Instrument jetzt auch bei uns zu entwickeln.
Einige Redner haben darauf hingewiesen, dass wir im
Zusammenhang mit dem Emissionshandel auch Joint
Implementation und Clean Development Mechanisms
integrieren müssen. Ich denke, das ist in der Tat auch
eine große Chance dieses Instrumentes. Es ist eben nicht
nur ein nationales, sondern es ist ein international angelegtes Instrument.
Schon im Zusammenhang mit dem klassischen Umweltschutz kennen wir die Grenzkostenproblematik und
wissen, dass die Vermeidung der letzten Prozente in der
Größenordnung von Mikro- oder Nanogramm zu immensen Kosten führt. Insofern ist es sinnvoll, dass wir
im Rahmen dieses Instruments auch die Chance suchen,
eine Kostenoptimierung dadurch zu erzielen, dass wir
insbesondere CO2-Reduzierungen dort vornehmen, wo
sie kostengünstig zu erreichen sind.
({4})
Das heißt allerdings nicht, dass wir uns im nationalen
Rahmen vor notwendigen CO2-Reduzierungen drücken
dürfen. Diese beiden Dinge müssen zusammengebunden
werden.
({5})
Einige Stichworte, die ich noch aufgreifen will, sind
von verschiedenen Rednern aller Fraktionen hier ebenfalls genannt worden. Ich denke, es ist von zentraler Bedeutung, dass bei der Umsetzung des Allokationsplans
eine ausgewogene Makro- und Mikroallokation gelingt.
Ich will hier auch deutlich sagen: Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir als Parlament insbesondere bei
der Makroallokation ein deutliches Wort mitzureden haben. Deswegen begrüße ich ausdrücklich die heutige
Ankündigung von Minister Trittin, dass auch die Regierung die Auffassung teilt, insbesondere die wesentlichen
Regeln des Emissionshandels seien durch den Gesetzgeber, also durch uns, zu definieren. Ich denke, das ist eine
berechtigte Forderung, in der sich die Fraktionen in keiner Weise voneinander unterscheiden.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Emissionshandel und mit dem jetzt vorzulegenden Allokationsplan
eröffnen wir vor allen Dingen Chancen für die deutsche
Wirtschaft. Natürlich sind wir in einer Phase offener Fragen. Es gibt zurzeit den Dialog innerhalb der Branchen
und den Dialog der Branchen mit der Bundesregierung.
Sicherlich gibt es auch unterschiedliche Interessen innerhalb der deutschen Wirtschaft. Wer in Veranstaltungen,
etwa mit dem BDI, über den Emissionshandel redet,
spürt das. Es gibt nicht das homogene Interesse daran,
wie denn der Emissionshandel und der Allokationsplan
zu organisieren sind. Es geht hier um Verteilung.
Deshalb gilt, was der Kollege Kelber eben gesagt hat:
Wer dann, wenn ein Vorschlag zum Allokationsplan vorliegt, anderer Auffassung ist, muss nicht nur sagen, wo
er jemanden entlasten will, sondern muss auch sagen, wo
er dann belasten will. Das ist eine Forderung, die nicht
nur den Koalitionsfraktionen, sondern allen Mitgliedern
dieses Hauses gilt. Ich denke, das macht die Diskussion
im Deutschen Bundestag in den nächsten Monaten besonders spannend.
Die Opposition ist hier zu konstruktiver Mitarbeit
aufgefordert. Ein bloßes Nein reicht nicht.
({7})
Ich glaube aber, in dieser Debatte einige Stimmen gehört
zu haben, die deutlich machen: Es gibt - jedenfalls in
Teilen der Opposition - durchaus Bereitschaft zur Mitarbeit.
Abschließend ein Wort zu Russland: Es ist richtig,
dass wir Besorgnis darüber haben müssen, dass in Russland - jedenfalls zurzeit - keine Bereitschaft zu erkennen ist, das Kioto-Protokoll und die Energiecharta zu unterzeichnen. Auch die deutsche Bundesregierung ist
gefordert, im Dialog mit Russland deutlich zu machen,
dass wir eine bestimmte Erwartung an Russland haben.
Aber genauso falsch wäre es, daraus abzuleiten, dass wir
im Deutschen Bundestag so lange die Hände in den
Schoß legen, bis dieses Problem gelöst ist.
({8})
Eine „Arbeitsniederlegung“ im Deutschen Bundestag
hilft uns in dieser Sache überhaupt nicht weiter.
Insoweit ist es begrüßenswert, dass jetzt ein Entwurf
vorliegt und wir bald sehr konkret über den Emissionshandel und den Allokationsplan in Deutschland diskutieren können.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1791 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 h sowie
die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 6. März 2002 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und der Republik
Mosambik über die Förderung und den gegen-
seitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1845 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 6. August 2001 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und dem Königreich
Marokko über die gegenseitige Förderung und
den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1846 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 18. Oktober 2001 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und Bosnien und
Herzegowina über die Förderung und den ge-
genseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 15/1847 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistiken der Rohstoff- und Produktionswirtschaft einzelner Wirtschaftszweige
({0})
- Drucksache 15/1849 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierunddreißigsten
Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({1})
- Drucksache 15/1854 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung
der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in der
Bundesrepublik Deutschland ({2})
- Drucksache 15/1888 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Führung des Handelsregisters, des Genossenschaftsregisters, des
Partnerschaftsregisters und des Vereinsregisters
durch von den Ländern bestimmte Stellen ({4})
- Drucksache 15/1890 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung von Gender Mainstreaming in Wissenschaft und Forschung
- Drucksache 15/720 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Änderung des MAD-Gesetzes ({7})
- Drucksache 15/1959 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1975 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen.
Dem Entwurf eines Gesetz der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen zur
Änderung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften auf
Drucksache 15/1975 ist die Fraktion der FDP als Initiant
beigetreten.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 c bis
24 h sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt
sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung der Satzung des europäischen Systems
der Zentralbanken und der Europäischen
Zentralbank
- Drucksache 15/1654 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({11})
- Drucksache 15/2008 Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Georg Fahrenschon
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2008,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 2. Juli 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Österreich über den Verlauf der gemeinsamen
Staatsgrenze im Grenzabschnitt „Salzach“ und
in den Sektionen I und II des Grenzabschnitts
„Scheibelberg-Bodensee“ sowie in Teilen des
Grenzabschnitts „Innwinkel“
- Drucksache 15/1655 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({13})
- Drucksache 15/2006 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Ernstberger
Dr. Andreas Schockenhoff
Claudia Roth ({14})
Dr. Rainer Stinner
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
15/2006, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich
bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 18. September 2002
zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland, den Vereinten Nationen und dem
Sekretariat des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten
über den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens
- Drucksache 15/1473 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16})
- Drucksache 15/1826 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Maria Flachsbarth
Winfried Hermann
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/1826, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 74 zu Petitionen
- Drucksache 15/1881 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 74 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 75 zu Petitionen
- Drucksache 15/1882 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 75 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 76 zu Petitionen
- Drucksache 15/1883 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 76 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 77 zu Petitionen
- Drucksache 15/1884 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 77 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung und Liquidation von
Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten
- Drucksache 15/1653 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
({22})
- Drucksache 15/2009 Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Klaus-Peter Flosbach
Hubert Ulrich
Carl-Ludwig Thiele
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2009, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten mit den Stimmen aller anderen
Abgeordneten angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit
dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({24}),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur
Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses
- Drucksachen 15/1094, 15/2002 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({25})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({26})
Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen zwei Erklärun-
gen nach § 31 der Geschäftsordnung der beiden Kol-
leginnen Petra Pau und Gesine Lötzsch vor, die wir zu
Protokoll nehmen.1)
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschlie-
ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei
Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Kolleginnen
angenommen.
1) Anlage 2 und 3
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag auf Drucksache 15/1094
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit
den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der
beiden fraktionslosen Kolleginnen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für
den Antragsteller der Kollege Dr. Friedbert Pflüger von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist keine Frage: Russland hat in den letzten
Jahren große Fortschritte gemacht. Unter Präsident Putin
hat es die strategische Grundsatzentscheidung getroffen,
die Modernisierung des eigenen Landes über ein breites
Engagement mit dem Westen zu erreichen.
In der nach dem 11. September 2001 gebildeten Antiterrorallianz hat Moskau großes Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Putin gelang es ferner - anders als
Schröder und Chirac -, ein Kunststück zu vollbringen,
nämlich gegen den Irakkrieg zu sein und trotzdem ausgezeichnete Beziehungen zu Amerika zu pflegen.
({0})
Russland ist heute Teil der G 8, in Kürze Mitglied der
WTO. Keine Frage: Putin hat die neuen Konstellationen
nach dem 11. September 2001 geschickter als alle anderen genutzt. Nach Jahren des Chaos und des Niedergangs erscheint Russland heute wieder verlässlich und
stabil. Diese Entwicklungen liegen in unserem Interesse.
Für CDU und CSU sage ich deshalb: Wir wollen enge
partnerschaftliche und vertrauensvolle Beziehungen zu
Russland.
({1})
Wir sagen aber ebenso: Partnerschaft erfordert klare
Worte vonseiten der Bundesregierung und der Europäischen Union, wenn in Russland rechtsstaatliche Prinzipien missachtet und Menschenrechte verletzt werden.
({2})
Wenn sich sogar der russische Ministerpräsident Kasjanow über die Verhaftung von Chodorkowski „sehr beunruhigt“ äußert, hätte das dann nicht auch die Bundesregierung tun müssen? Hätte es ihr nicht gut angestanden,
in dieser Situation ein deutliches Wort der Kritik in
Richtung Moskau auszusprechen?
({3})
Chodorkowski ist gewiss kein Säulenheiliger. Die
Oligarchen sind in Russland in kurzer Zeit im Zuge der
so genannten Raubtierprivatisierung zu extremem
Reichtum gekommen. Chodorkowski hat aber als erster
Oligarch seine Eigentumsverhältnisse offen gelegt. Ich
kenne ihn aus der gemeinsamen Arbeit im Vorstand der
International Crisis Group. Dort hat er großes internationales Engagement und großes Verantwortungsbewusstsein gezeigt. In Russland fördert er soziale Projekte im
ganzen Land. Er unterstützt den mutigen Putin-Kritiker
Jawlinski und dessen Jabloko-Partei.
In einer Erklärung der Gesamtrussischen Konferenz
zivilgesellschaftlicher Organisationen vom 28. Oktober
dieses Jahres heißt es:
Die Verhaftung Chodorkowskis ist kein Beweis für
die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Es ist
eine Demonstration der Gleichheit der Bürger vor
der Willkür. Die Hauptaufgabe besteht heute darin,
sich dem Zerfall der Demokratie und der Freiheit in
unserem Land entgegenzustellen.
Das sagen Menschenrechtler in Russland. Diese Menschenrechtler schauen auf die Bundesregierung und erwarten sich von uns im Westen, von der EU, von
Deutschland, dass wir ihnen helfen und sie nicht allein
lassen im Kampf gegen die autokratischen Tendenzen,
die wir seit einiger Zeit in Russland wieder verstärkt beobachten.
({4})
Wir helfen weder den Menschen in Russland noch
dem Präsidenten Putin, indem wir zu all diesen Vorgängen schweigen. Wir müssen diese Dinge ansprechen.
Hier, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und der Regierungskoalition, hat die Bundesregierung kläglich versagt.
Das Gleiche gilt für die Vorgänge und die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Was wir dort vonseiten der Bundesregierung gegenüber der russischen
Regierung erleben, grenzt geradezu an Selbstverleugnung. In Tschetschenien wurden mehr als 100 000 Menschen getötet. 400 000 sind geflüchtet. Nicht Bagdad,
Grosny liegt in Schutt und Asche!
({5})
Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Gewalt als in
Tschetschenien. Vor diesem Hintergrund ist es schon etwas verwunderlich, dass Herr Schröder dazu schweigt
und gar die Chuzpe hat, mit Russland eine Friedensachse
gegen Amerika aufzubauen.
({6})
Herr Fischer, der jetzige Außenminister, sagte, wie
ich finde, zu Recht:
Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es kein Einmischungsverbot. Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es vielmehr nur eines: die Pflicht zur
Wahrheit, Klarheit und zur öffentlich bekundeten
klaren Position.
Dies sagte er am 19. Januar 1995 hier im Deutschen
Bundestag. Heute hört man von ihm solche Worte leider
nicht mehr. Zu den Themen Russland und Menschenrechte sowie Russland und Tschetschenien gibt es keine
Aussagen des Herrn Bundesaußenministers.
({7})
Sie in der grünen Fraktion sollten darüber einmal nachdenken und ein ernstes Wort mit ihm sprechen; denn Sie
stehen doch auch für Menschenrechte und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Sorgen Sie
dafür, dass die Bundesregierung endlich ihr Schweigen
bricht und dass wir hier im Deutschen Bundestag endlich
eine Regierungserklärung von Herrn Schröder oder
Herrn Fischer über die Vorgänge in Tschetschenien und
Russland bekommen!
({8})
Wir wollen ein stabiles Russland, zu dem wir gute
Beziehungen haben. Aber wir wollen auch ein freies
Russland, in dem die Menschenrechte gelten. Wenn sich
Russland dafür entscheidet, zum Westen zu kommen und
seine Modernisierung mithilfe des Westens zu bewerkstelligen, dann muss Moskau es auch ertragen, dass wir
bei aller Sympathie und Partnerschaft nachfragen und
deutlich Kritik üben. Dazu muss auch die Bundesregierung endlich einen Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({9})
Für die Bundesregierung hat Herr Staatsminister Hans
Martin Bury das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland in der Mitte Europas hat ein überragendes und langfristiges Interesse an einem stabilen Russland, mit dem wir in einem Raum gemeinsamer Werte
leben und mit dem wir gemeinsam internationale
Herausforderungen annehmen und lösen können. Im
Mittelpunkt steht für uns das Wohl der Menschen in
Deutschland und Russland, die Festigung von Frieden,
Sicherheit und Stabilität im gemeinsamen europäischen
Raum, die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaat,
Menschenrechten und Marktwirtschaft in Russland sowie, damit verbunden, die weitere Annäherung Russlands an die EU als Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft.
Unsere bilateralen Beziehungen ruhen auf vier Pfeilern: erstens auf einem intensiven und vertrauensvollen
politischen Dialog, in dem auch kritische Punkte wie die
Lage in Tschetschenien offen angesprochen werden.
Zweitens. Auch aufgrund der Rolle Deutschlands als
wichtigster Handels- und Investitionspartner Russlands
und dessen Bedeutung als größter Energielieferant für
Deutschland beobachtet die Bundesregierung Entwicklungen wie die Ermittlungen gegen die Firma Jukos und
Herrn Chodorkowski sehr aufmerksam. Die Bundesregierung erwartet, dass bei den laufenden Verfahren
rechtsstaatliche Grundsätze beachtet werden. Rechtssicherheit ist eine wesentliche Voraussetzung für die weitere Integration Russlands in die internationale Wirtschaft, für eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit der
Europäischen Union und für ausländische Investitionen
in die russische Wirtschaft.
Drittens. Die deutsch-russischen Kulturbegegnungen
2003/04 sind ein besonders gut sichtbares aktuelles Beispiel für den weit entwickelten kulturellen Austausch. In
bisher einmaliger Dichte und Breite präsentiert Russland
seine Kultur 2003 in Deutschland, wir präsentieren im
Gegenzug die deutsche Kultur 2004 in Russland.
Viertens. Eine lebendige und freie Zivilgesellschaft
ist wie auch eine freie Presse wichtige Voraussetzung für
die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Marktwirtschaft. Die Bundesregierung unterstützt
deshalb den Aufbau eines aktiven Bürgerengagements in
Russland und fördert entsprechende Kontakte. Dies gilt
insbesondere für den Petersburger Dialog als regierungsunabhängiges, öffentlich sichtbares Forum, das Gelegenheit zu einem offenen Gedankenaustausch auch über
schwierige Themen bietet.
Schließlich gestalten wir die Russlandpolitik der
Europäischen Union aktiv mit. Allerdings kommt hier
der jeweiligen EU-Präsidentschaft und der Kommission
eine zentrale Rolle zu. So wurden beim jüngsten EURussland-Gipfel in Rom mit Russland auch die für uns
wichtigen kritischen Themen wie die Lage in Tschetschenien oder die Ratifizierung des Kioto-Protokolls diskutiert. Deshalb bedauert es die Bundesregierung umso
mehr, dass es in den Gesprächen zwischen der EU und
Russland nicht gelungen ist, bei diesen Themen zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Wir hätten uns
gewünscht, dass diese Themen in der gemeinsamen Erklärung deutlich angesprochen worden wären.
Ungeachtet dessen wird die Bundesregierung weiter
darauf drängen, dass Russland so bald wie möglich das
Kioto-Protokoll ratifiziert. In der Tschetschenien-Frage
hat die Bundesregierung die russische Seite wiederholt
aufgefordert, ihr Möglichstes zur Förderung eines wirklichen politischen Prozesses beizutragen und ihre Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen, insbesondere mit der OSZE, zu verstärken.
Insgesamt konnten beim Gipfel eine Reihe von Fortschritten erzielt werden, so beispielsweise bei dem wesentlich auf deutsche Initiative zurückgehenden und auf
dem Gipfel in Sankt Petersburg vereinbarten Konzept
der „vier Räume“ in den Bereichen Wirtschaft, innere
Sicherheit, äußere Sicherheit sowie Forschung und Kultur. Einigkeit besteht auch bei dem Wunsch, Erleichterungen bei der Visaerteilung zu erreichen. Dieser
Wunsch wie auch die bilateralen deutsch-russischen Bemühungen um Visaerleichterungen sind darauf gerichtet,
den Austausch zwischen unseren beiden Gesellschaften
zu fördern und damit auch die Zivilgesellschaften zu
stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur ein intensiver
und vertrauensvoller bilateraler wie multilateraler Dialog mit Russland ermöglicht es, unsere Ziele und Anliegen zum Tragen zu bringen, sowohl bei Themen, bei deStaatsminister Hans Martin Bury
nen wir uns einig sind und gemeinsame Ziele verfolgen,
als auch bei den Themen, bei denen das nicht der Fall ist.
So kann eine wirkliche Annäherung Russlands an Europa gelingen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir machen uns sehr große Sorgen um die gegenwärtige Entwicklung in Russland. Deshalb ist es gut,
dass heute im Deutschen Bundestag eine Aktuelle
Stunde zu diesem Thema angesetzt ist.
({0})
Die Festnahme Chodorkowskis, das nicht öffentliche
Verfahren, die viel zu lange U-Haft, die Durchsuchung
von Anwaltskanzleien sowie die Beschlagnahmung der
Jukos-Aktien sind Ereignisse, die angesprochen werden
müssen. Dass die russischen Oligarchen keine Engel
sind, darin gebe ich Ihnen völlig Recht, Herr Pflüger.
({1})
Wenn in Russland gegen Korruption wirklich Front gemacht und die Abwicklung dunkler Geschäfte wirklich
bekämpft werden würde, dann könnte man nur schwerlich etwas dagegen sagen. Aber gerade das Herauspicken Chodorkowskis, die Singularität dieses Vorgehens
und die gesamte Jukos-Affäre werfen ein mehr als zweifelhaftes Licht auf die jüngsten Vorgänge in Russland.
Denn sie ereignen sich ja nicht im luftleeren Raum, sondern finden kurz vor wichtigen Parlamentswahlen statt
und richten sich gegen einen mächtigen Ölmagnaten, der
angefangen hatte, sich politisch einzumischen und oppositionelle Kräfte zu stärken.
Diese Vorgänge werden von massiven Eingriffen in
die Pressefreiheit begleitet. Sie stehen darüber hinaus im
Zusammenhang mit der Entwicklung in Tschetschenien,
der Wahl, die dort stattgefunden hat - diese Wahl war
eine echte Farce -, und mit den noch immer stattfindenden schlimmen Menschenrechtsverletzungen. Herr Bury,
ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Bericht auch
auf dieses Thema eingegangen wären und nicht nur über
die russischen Kulturwochen gesprochen hätten.
({2})
All das lässt massiven Zweifel aufkommen, ob in
Russland bei den Parlamentswahlen am 7. Dezember
und bei den Präsidentschaftswahlen im April alles mit
rechten Dingen zugehen wird. Woran es in Russland
heute vor allem fehlt, sind Transparenz, Berechenbarkeit
und Offenheit. Michail Gorbatschow hat das Ende der
80er-Jahre als Glasnost bezeichnet, das Kernelement der
Perestroika. Russland war in dieser Hinsicht schon weiter. Nun aber sehen wir gefährliche Tendenzen hin zu einem Rückfall auf den Stand vergangener Zeiten.
Mit dieser Affäre schadet sich Russland selbst am allermeisten. Die Oligarchen verlassen fluchtartig das
Land und nehmen ihr für den Aufbau Russlands so wichtiges Kapital mit. Investitionen aus dem Ausland werden
ausbleiben. Der stellvertretende Außenhandelsminister
Dworkowitsch warnt ausdrücklich, dass das Risiko bestehe, dass die Sünden der Vergangenheit wieder aufgenommen werden, und rät sogar von Investitionen in
Russland ab. Der russische Innenminister Gryslow wird
im Zusammenhang mit der Jukos-Affäre mit der Aussage zitiert: „Die Rohstoffe gehören dem Volk“. Da müssen doch alle Alarmglocken schrillen; denn Gryslow
stellt so die Existenz der Privatwirtschaft, die gerade in
Russland jetzt erst richtig entsteht, fundamental infrage.
Angesichts solcher Äußerungen muss man sich fragen,
ob Russland überhaupt dazu fähig ist, in die WTO, in die
Welthandelsorganisation, aufgenommen zu werden. Man
fragt sich auch, was ein Land, das eine so unsichere
Wirtschaftspolitik betreibt, eigentlich in der G 8 zu suchen hat.
Was tut die Bundesregierung in dieser Situation? Sie,
Herr Erler - Sie sind Koordinator der Regierung für die
deutsch-russischen Beziehungen -, haben Anfang November gesagt, dass der Schaden durch die Jukos-Affäre
überschaubar sei, solange es sich mit Chodorkowski nur
um einen Einzelfall handelt. Ich sage Ihnen: Genau das
Gegenteil ist der Fall. Gerade dieses Herauspicken von
Chodorkowski, also eines Einzelnen, lässt doch den Verdacht aufkommen, dass hinter der Affäre politische Motive stehen: Ein zu mächtig werdender Mann soll mundtot gemacht werden.
({3})
Ohne die stillschweigende Unterstützung von Präsident
Putin wäre das sicherlich so nicht gelaufen; ich glaube,
darin sind wir uns alle einig.
({4})
Putin versucht sehr geschickt, die weltpolitischen
Verwerfungen um den Irakkrieg und den Kampf gegen
den internationalen Terrorismus zu missbrauchen, um
für sein Vorgehen in Tschetschenien Verständnis und
Akzeptanz zu erhalten. Unser Bundeskanzler geht ihm
dabei auf den Leim. Er hat seine Männerfreundschaft zu
Putin ja erst entdeckt, als er einen Verbündeten im
Kampf gegen den Irakkrieg suchte. Seitdem funktioniert
die deutsch-russische Achse wunderbar. Die Bundesregierung hat sich dabei aber offensichtlich von den bisherigen Zielen der deutschen Russlandpolitik verabschiedet. Bislang galt, dass man Russland als Partner, als
Freund, aber durchaus auch als kritischer Mahner auf
seinem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Marktwirtschaft nach Kräften unterstützen wollte. Jetzt
gilt offensichtlich nur noch, dass man in Moskau einen
stabilen Partner für eigene weltpolitische Ambitionen
sucht.
Herr Leibrecht, denken Sie bitte an die Zeit.
Ja.
Meine Damen und Herren, wir meinen, die deutschrussischen Beziehungen sind wichtig. In einer guten politischen Freundschaft, unter Freunden, muss man sich
aber auch unangenehme Dinge sagen können. Ich fordere unseren Bundeskanzler auf, auf Präsident Putin einzuwirken und ihn auf die Jukos-Affäre und auch auf die
furchtbaren Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien anzusprechen. Ich denke, damit wäre uns schon
sehr geholfen. Ich hoffe, dass die deutsch-russischen Beziehungen von unserer Bundesregierung wieder auf eine
ehrliche Basis gestellt werden.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Russland ist auch ohne die EU-Mitgliedschaft ein großes
europäisches Land. Seine und die Geschichte der Beziehungen zu anderen Ländern Europas - auch zu Deutschland - haben gezeigt, dass es uns alles andere als gleichgültig sein kann, was dort geschieht. Lieber Friedbert
Pflüger, es ist uns auch alles andere als gleichgültig, was
dort geschieht.
Schon seit Gorbatschow 1985 Perestroika und Glasnost verkündete, keimte im Westen, aber vor allem auch
in der russischen Gesellschaft die Hoffnung auf eine
freiere Gesellschaft, auf Rechte für jeden und jede auf,
darauf, dass nicht jeder Mensch wie selbstverständlich
Eigentum des Staates ist. Jede Entwicklung zu Wohlstand - auch das ist etwas Neues für die meisten Menschen in Russland - setzt eine funktionierende Wirtschaft voraus. Dazu gehören die Anerkennung
ökonomischer Gesetze und die Respektierung der individuellen Unabhängigkeit und Integrität, kurz: der Menschenrechte und des Rechtsstaates. Auch das alles ist in
Russland neu.
Seit Gorbatschow - fortgesetzt durch Jelzin und
Putin - begann all das Bedeutung zu erlangen und immer mehr Menschen in Russland begannen, ihre Rechte
ernst zu nehmen, sie selbstbewusst einzuklagen und
sich so zu verhalten, wie es Menschen mit ihren unveräußerlichen Rechten eben zu Recht tun. Nach außen
- auch in unsere Richtung - versicherten die Mächtigen ihr Bestreben, die politisch-bürgerlichen Freiheitsrechte und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte zu verwirklichen und zu
garantieren, um damit die russische Gesellschaft bzw.
Russland überhaupt zukunftsfähig zu machen.
Wir sollten sie darin ernst nehmen. Wir sollten sie
beim Wort nehmen. Deshalb stimme ich der Kritik der
EU-Kommission an den unakzeptablen Äußerungen
Berlusconis anlässlich des EU-Russland-Gipfels ausdrücklich zu:
({0})
Russland ist noch längst kein Rechtsstaat. Die Tschetschenienpolitik der russischen Regierung ist falsch. Die
dortigen Wahlen waren eine Farce. Nicht nur tschetschenische Terroristen, sondern auch russische Sicherheitskräfte verüben dort Verbrechen. Wer Gewalt gegen die
Zivilbevölkerung, wer die bedrückende Situation der
Flüchtlinge, wer die Realität in Tschetschenien, die
Menschenrechtsverletzungen, als Märchen der Medien
diskreditiert, verhöhnt die Opfer und zeigt sein gespaltenes Verhältnis zur Unabhängigkeit der Presse.
({1})
Eine Farce ist aber keine politische Lösung. Die
scheinbare Übertragung der Verantwortung für eine falsche Politik auf eingesetzte Kollaborateure entbindet die
russische Regierung nicht von ihrer Verantwortung und
der Notwendigkeit einer politischen Lösung, die die
Menschen in Tschetschenien einbezieht, um überhaupt
Aussicht auf Erfolg zu haben. Es ist tatsächlich im ureigenen Sinne Russlands, politische Lösungen zu suchen, weil dieser Krieg das ganze Land verändert.
Der Zusammenhang zwischen Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten und Wirtschaft spielt im heutigen Russland und für die gegenwärtigen Vorgänge um
den Oligarchen Chodorkowski eine wichtige Rolle. Der
für uns eher merkwürdige Vorgang eines gemeinsamen
offenen Briefes an Putin von mehreren, auch mittelständischen Wirtschaftsverbänden und zivilgesellschaftlichen
Organisationen - von Menschenrechtsgesellschaften wie
MEMORIAL bis zu Verbraucherschutzverbänden zeigt das.
Was aber verbündet diese hierzulande traditionell
eher in distanziertem Misstrauen zueinander stehenden
Interessengruppen? Natürlich ist der bisherige JukosChef ein Oligarch. Zweifellos hat er seinen Reichtum
nicht nur legal erworben. Niemand, so sagt der Vorsitzende der Gesellschaft MEMORIAL, kann in Russland
die Steuergesetze einhalten, auch MEMORIAL nicht.
Für ihn stellen sie ein ganz spezielles politisches Instrument dar, das Missbrauch Tür und Tor öffnet und jede
juristische Person erpressbar machen und unter Druck
setzen kann. Nicht zuletzt mit ihrer Anwendung wurde
allen unabhängigen elektronischen Medien die Existenzgrundlage entzogen.
({2})
Nicht jedoch um die Rechtfertigung des Milliardärs
Chodorkowski geht es. Auch den Menschenrechtsgruppen in Russland ist er nicht besonders sympathisch. Es
geht um etwas anderes. Es geht um den Kampf um das
Recht, vom Staat und seinem Willen unabhängig handeln zu können.
({3})
Claudia Roth ({4})
Dafür, das getan zu haben, dafür, dass er soziale Aufgaben als Pflicht eines Unternehmers ansah und dass er andere Parteien als die der Macht unterstützte,
({5})
wurde der Bürger Chodorkowski verhaftet, begleitet von
gefährlich antisemitischen Tönen. Niemand bestreitet
das ernsthaft in Russland.
({6})
Das ist der Grund für das Bündnis zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Russland. Ihr gemeinsames Ziel ist ein Gesellschaftsvertrag zwischen ihnen und
der politischen Macht, der die Unternehmen auf Gesetzestreue und soziale Verantwortung verpflichtet und die
Respektierung der Rechte des Einzelnen garantiert.
({7})
Putin hat den Vorschlag für einen Gesellschaftsvertrag
bisher leider schlichtweg abgelehnt. Wir jedoch sollten
diesen Vorschlag ausdrücklich unterstützen. Er enthält
den Kern unserer Vorstellungen vom Funktionieren einer
demokratischen Gesellschaft. Eine solche soll und muss
Russland werden. Auf diesem Weg wird Russland all unsere Unterstützung bekommen.
Am Konzept einer so genannten gelenkten Demokratie haben wir dagegen erhebliche Zweifel; denn dies ist
im Grunde die modernisierte Variante des autoritären
Staates, der in Russland schon eine lange und verhängnisvolle Tradition hat. Das laut zu sagen ist unsere
demokratische Verantwortung.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold Vaatz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Frau Kollegin Roth, Sie haben mir in
weiten Teilen Ihrer Rede aus der Seele gesprochen. Ich
bin außerordentlich dankbar, dass Sie sich so eindeutig
geäußert haben. Der Grund, weshalb unsere Fraktion
diese Aktuelle Stunde beantragt hat, war, dass es unser
Wunsch ist, dass sich Vertreter der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, nämlich der Herr Bundeskanzler und der Herr Außenminister, ähnlich deutlich und
eindeutig hier vor dem Deutschen Bundestag artikulieren.
({0})
Als der Kollege Pflüger gerade festgestellt hat, wie
sehr ihm das Schweigen der Regierung auffällt, hat der
Kollege Volmer geantwortet: Ja, wären Sie einmal in den
Menschenrechtsausschuss gekommen.
({1})
- Aber es ist aus Ihrer Ecke gekommen. Vielleicht gibt
es bei Ihnen jemanden, der sich dazu bekennt, das gesagt
zu haben. Ich habe es deutlich gehört.
Ich kann Ihnen dazu sagen: Wir wünschen uns einen
Bundeskanzler oder einen Außenminister, der in die Öffentlichkeit tritt und das dort klar macht und nicht unbedingt das relativ abgeschlossene Gremium eines parlamentarischen Ausschusses braucht, um dort zu sagen,
was er eigentlich denkt. Das ist nicht das Wesen unserer
Demokratie.
({2})
Dass wir stabile Beziehungen zu Russland brauchen
und diese freundschaftlich und konstruktiv sein sollen,
ist nicht alleine aufgrund unserer engen Verbindungen
im energiepolitischen Bereich notwendig. Jeder, der mit
offenen Augen die Geschichte des 20. Jahrhunderts gesehen hat, muss zu der Erkenntnis kommen, dass ein
großer Teil der Probleme in Deutschland, die wir heute
haben, dadurch verursacht worden ist, dass die Beziehungen zu Russland lange Zeit das zuvor erwähnte Attribut gerade nicht verdient haben. Es ist die Abwesenheit
eines Verhältnisses zu den Menschenrechten und die Abwesenheit der Rechtsstaatlichkeit in Russland gewesen,
die in Ostdeutschland die Probleme verursacht hat, die
wir heute haben.
({3})
Daraus folgt, dass wir ein existenzielles Interesse daran haben, solche Verhältnisse, wie sie sich im Augenblick in Russland andeuten, und solche Signale politisch
zu bewerten. Dass Sie das können, haben Sie uns mehrfach bewiesen. Die Regierung war außerordentlich
schnell bei der Hand, als es darum ging, das kleine Österreich infolge eines Wahlergebnisses, das ihr nicht in
den Kram passte,
({4})
mit einer grotesken Strafaktion zu überziehen, die sie
später selbst als Fehler erkannt hat und zurücknehmen
musste.
({5})
In Russland legt man völlig andere Maßstäbe an.
({6})
Ich kann Ihnen sagen, welcher Fall sich erst in der letzten Woche ereignet hat. Da war eine Menschenrechtsdelegation unter Führung von Herrn Ponomarjow in
Berlin. Außerdem waren der Duma-Abgeordnete Babuschkin von Jabloko und die Rechtsanwälte des inhaftierten Unternehmers Chodorkowski dabei. Sie haben
hier in Berlin mit einigen für Außenpolitik verantwortlichen Kollegen der Fraktionen des Deutschen Bundestages gesprochen, aber dem Auswärtigen Amt wurde von
der Regierung selbst jeder hochrangige Kontakt mit dieser Gruppe untersagt.
({7})
Dabei hatte diese Gruppe zu berichten, dass man inzwischen in Russland so weit gegangen ist, die Büros der
Anwälte Chodorkowskis durchsuchen zu lassen und so
sein Recht auf Verteidigung anzutasten. Wenn Sie von einer Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft sprechen, Herr
Kollege Bury, dann frage ich Sie: Ist das die Werte- und
Wirtschaftsgemeinschaft, die Sie sich vorstellen, oder
müssen Sie dagegen Einspruch erheben? Oder betrachten
Sie es als den richtigen Weg, diejenigen, die diese Wertegemeinschaft einklagen, in Berlin abzuweisen?
({8})
Das sind Handlungsweisen, die wir von einer deutschen
Bundesregierung nicht erwarten und die wir scharf kritisieren müssen. Ich bin gespannt, was Sie dem Deutschen
Bundestag zur Erklärung dieses Verhaltens vorzutragen
haben.
({9})
Wenn durch die Menschenrechtsverletzungen in
Russland weiter der Eindruck erweckt wird, dass die Demokratie dort einem langsamen Zerfallsprozess ausgesetzt ist, dann sind wir hier in Deutschland an erster
Stelle für diese Entwicklung mit verantwortlich, wenn
wir schweigen.
Aus diesem Grunde fordere ich uns alle auf, eine
klare Sprache zu sprechen, ohne den Boden der freundschaftlichen und konstruktiven Auseinandersetzungen
zu verlassen. Beides zu beherrschen ist eine Grundanforderung, die an einen deutschen Außenminister und Bundeskanzler zu stellen ist. Es genügt nicht, Artigkeiten
auszutauschen. Dabei ist politische Substanz gefragt und
die vermissen wir.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin mit vielem einverstanden, was aus der analytischen Beobachtung heraus vorgetragen worden ist. Aber
ich möchte an die rechte Seite des Hauses gewandt, auf
der viele Kollegen aus der deutsch-russischen Parlamentariergruppe sitzen, die noch in diesen Tagen mit mir und
auch mit russischen Journalisten sehr offene Worte gewechselt haben, die Frage richten: Ist der Umgang mit
diesem Thema, indem Sie die Bundesregierung, die Fragen stellt und sich zu dem Thema äußert, auffordern, etwas lauter zu reden, eigentlich angemessen? Ich glaube
nicht, dass das dem Problem, das wir in diesem Zusammenhang haben, angemessen ist.
({0})
Wir sind sehr besorgt über das, was hier vorgeht, weil
es den langen Weg der russischen Politik, den wir kollegial und partnerschaftlich begleitet haben und an dessen
guten Resultaten wir gemeinsam interessiert sind, möglicherweise infrage stellt. In Russland ist ein wichtiger
Unternehmer - der reichste Mann Russlands, aber auch
ein Mann des öffentlichen Lebens mit einer sehr wirksamen, großen Stiftung, der Stiftung „Offenes Russland“ verhaftet worden, wobei kein einziger Russe glaubt, dass
das kein politischer Vorgang war. Daher brauchen auch
wir das nicht zu glauben, Herr Leibrecht; das ist völlig
richtig. Sie haben aber auch Boris Grislow, den Vorsitzenden der putinschen Reformpartei, zitiert: Die russischen Bodenschätze gehören dem russischen Volk.
In diesem Zusammenhang stellt sich sofort die Frage,
ob es hierbei um ein Strafverfahren geht oder ob sich damit eine Revision der Politik der 90er-Jahre ankündigt,
in denen, wie wir alle wissen, eine mehr oder weniger
gesetzlose und oft wilde Aneignung von Volksvermögen
stattgefunden hat. Soll das revidiert werden?
Aber unsere russischen Kollegen stellen ferner eine
andere Frage, die ich noch gravierender finde. Sie fragen
danach, ob vielleicht nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politisch-gesellschaftliche Revision
bevorsteht. Der uns allen bekannte liberale Politiker
Grigorij Jawlinskij hat festgestellt: Von der gesteuerten
Demokratie Putins bleibt im Augenblick nur noch die
Steuerung übrig.
Noch deutlicher hat sich Gleb Pawlowskij - keineswegs jemand, der verdächtigt ist, ein Kritiker des Kreml
zu sein - geäußert: Es ist klar, dass es sich um die Vorbereitung eines politischen Schauprozesses handelt.
({1})
Boris Nemcow - auch er ist als ehemaliger Gouverneur von Nischnij Novgorod in Deutschland gut
bekannt - hat zu dem Zusammenhang und den Veränderungen an der Kremlspitze am 28. Oktober in der „Nezavisimaja Gazeta“ Folgendes festgestellt:
Ein Sieg der Silaviki,
- das ist die Machtgruppe aus den Diensten die auf die wirtschaftlichen Interessen des Landes
pfeifen, ist eine feste Wendung in Richtung Diktatur.
Schauprozess, Diktatur, möglicherweise eine völlige
Veränderung innerhalb der russischen Gesellschaft - das
sind keine von uns gewählten Begriffe, sondern sie wurden von unseren Kollegen in Russland verwendet. Ich
glaube, das macht deutlich, um welche Dimension es
hierbei geht. Man muss sich sehr genau überlegen, wie
man damit umgeht. Es geht nicht darum, sich gegenseitig vorzuwerfen, dass der eine zu leise und der andere zu
laut redet. Ich meine, wir haben sehr ernste Fragen zu
stellen. Dabei sollten wir immer im Blick behalten, was
unsere Interessen sind. Unsere Interessen sind, dass all
die Befürchtungen, die unsere Kollegen aus Russland
- vielleicht auch angespornt durch den Wahlkampf, der
begonnen hat - vortragen, nicht eintreten. Wir sind an eiGernot Erler
nem Erfolg des russischen Transformationsprozesses
und auch der wichtigen Reformen interessiert, die sich
mit dem Namen Putin und seinen letzten vier Regierungsjahren verbinden. Wir müssen bei allem, was wir
hier tun, abwägen, ob es dazu beiträgt oder nicht.
Ich hoffe sehr, dass unsere Debatte - wenn sie in diesem Ton geführt wird; es ist das gute Recht nicht nur der
Regierung, sondern auch des Parlaments, das zum Ausdruck zu bringen; deswegen finde ich es gut, dass Sie
von der CDU/CSU diese Aktuelle Stunde beantragt haben; das findet meine Unterstützung - der russischen
Seite unsere Erwartung deutlich macht, bald befriedigende und auch zutreffende Antworten auf unsere ernsten Fragen - wir erfinden das Thema nicht; es ist vielmehr ein Thema der russischen Gesellschaft - zu
bekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Melanie Oßwald.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der schwierigen Situation in Tschetschenien sind
wir uns eigentlich einig - Frau Roth, Sie haben das bereits ausgeführt -: Wir verurteilen die Anschläge tschetschenischer Terroristen. Wir wollen, dass Russland die
Menschenrechte einhält. Wir setzen uns vehement für
die tschetschenische Zivilbevölkerung ein. Wir wollen
das Leid der Flüchtlinge beenden, die immerhin fast die
Hälfte des tschetschenischen Volkes ausmachen und erheblichen Diskriminierungen in der Russischen Föderation ausgesetzt sind. Wir wollen verhindern, dass sich
der Konflikt auf den ganzen Kaukasus oder sogar auf
ganz Russland ausweitet. Das unendliche und ungerechte Leid des Tschetschenienkrieges muss nicht nur im
Namen der CDU/CSU-Fraktion ein Ende haben. Die
Tschetschenen haben ein Recht, in Frieden und Würde
zu leben. Auch die jungen russischen Soldaten haben
Anspruch auf eine politisch durchdachte und vernünftige
Lösung des Bürgerkrieges.
Es besteht weiterhin dringendster Handlungsbedarf
seitens der Bundesregierung. Besorgnis alleine reicht
nicht aus; denn Tschetschenien ist keinesfalls, wie in der
russischen Öffentlichkeit oft behauptet wird, weitgehend
befriedet und nun in der Lage, legitime Institutionen zu
schaffen, und zwar auch nicht nach dem Referendum
und den Präsidentschaftswahlen, die - auch darin sind
wir uns einig - eine reine Farce des Kremls waren.
Diese Wahlen waren im wahrsten Sinne des Wortes
ein Urnengang. Die letzte Hoffnung auf Frieden wurde
begraben. Ich frage Sie: War das die politische Lösung,
die wir gefordert haben und die Hilfe bringen sollte? Ich
sage Ihnen: Nein! Wir Abgeordnete haben völlig zu
Recht die Wahlbeobachtung verweigert, um keine Legitimation zu ermöglichen.
({0})
Ich frage Sie aber: Wo sind die Konsequenzen daraus
gezogen worden? Es liegt eigentlich in der Verantwortung einer deutschen Regierung, in einer europäischen
Gemeinschaft einem Nachbarstaat aus einer anscheinend
ausweglosen Situation herauszuhelfen. Es geht nicht nur
darum, von der Russischen Föderation zu fordern, sondern zu vermitteln und ihr zu helfen, ein demokratischer
Staat zu bleiben. Die besten Voraussetzungen dafür sind
ja gegeben. Noch nie waren laut Herrn Bury die deutschrussischen Beziehungen - wenn auch im Kulturbereich so eng. Doch die Bundesregierung schafft es ja nicht
einmal - das ist gerade wieder deutlich geworden -, das
Thema jenseits verschlossener Türen ausführlicher als in
einem Satz anzusprechen.
Stabile deutsch-russische Beziehungen sind gut und
notwendig. Aber der Schmusekurs Schröders gegenüber
Putin muss bei den Menschenrechten endlich ein Ende
haben. Setzen Sie sich dafür ein, dass Hilfsorganisationen wieder ohne Gefahr in der Krisenregion arbeiten
können! Ich erinnere nur an den entführten Arjan Erkel
von „Ärzte ohne Grenzen“ - ich habe das bereits in meiner ersten Rede erwähnt -, der nach anderthalb Jahren
noch immer nicht befreit ist.
Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, Russland
dazu zu drängen, Hilfe vonseiten des Europarates, der
OSZE und der Vereinten Nationen zu akzeptieren. Außerdem muss sie sich schnellstens dafür einsetzen, dass
das Mandat der OSZE wieder zustande kommt.
({1})
Der Tschetschenienkrieg ist nicht nur für Russland
eine Schande, sondern auch für Deutschland und die
Welt, vor deren Augen unter dem Deckmantel der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ein ganzes
Volk seines Landes und seiner Lebensmöglichkeiten beraubt wird. Die westlichen Demokratien dürfen dieser
einseitigen Logik der russischen Führung nicht folgen.
Wir müssen darum gemeinsam eine internationale Friedenslösung anstreben. Von deutscher wie auch von europäischer Seite muss dringend ein fundiertes Konzept
zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden.
Die Suche nach Auswegen aus einer derart komplizierten Konfliktsituation ist sehr schwer: Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann bis zur
Stunde zwei Beschwerdeführer nicht auffinden. Diese
Ankläger müssen geschützt werden. Menschenrechtsverletzungen müssen konsequent aufgeklärt und die Täter müssen bestraft werden. Außerdem müssen in
Tschetschenien eine effektive Verwaltung und eine effektive Justiz geschaffen werden.
({2})
Es reicht nicht, zu hoffen und besorgt zu sein; denn es
dürfen nicht noch mehr unschuldige Menschen ihr
Leben lassen. Eine friedliche politische Lösung in
Tschetschenien muss schnellstens angestrebt werden.
Sie können sicher sein: Dafür werde ich weiter kämpfen,
wenn ich im Dezember als Wahlbeobachterin in Moskau
bin. Ich appelliere an Sie: Schauen Sie nicht weg, wenn
einem freiheitsliebenden Volk die Lebensgrundlage entzogen wird!
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe den Eindruck, dass die Debatten über
Russland, die wir hier seit Jahren führen, an zwei sich
gegenseitig ergänzenden Vereinseitigungen leiden: Entweder haben wir Menschenrechtsverletzungen und den
Demokratiemangel im Visier und kritisieren Russland
massiv und öffentlich - dabei vergessen wir aber die
Notwendigkeit der Kooperation, die uns nach dem Ende
des Kalten Krieges als Chance zugewachsen ist - oder
wir thematisieren die Sicherheitspolitik sowie die Wirtschaftspolitik und neigen dazu, Menschenrechtsverletzungen und den Demokratiemangel aus den Augen zu
verlieren.
Die heutige Debatte ist vielleicht eine rühmliche Ausnahme. Man hat hier nämlich versucht, diese beiden
Punkte zusammenzubringen. Im Hinblick auf unsere
Russlandpolitik ist es notwendig, die Friedensdividende,
die wir uns 1989/90 mit dem Ende des Warschauer Pakts
eingehandelt haben, auch zur Verbesserung unserer Sicherheit zu nutzen. Da Demokratie und Menschenrechte
in Russland eine Funktion der Sicherheit sind, dürfen
wir sie aus der Debatte nicht ausschließen.
({0})
Wir brauchen Russland nach wie vor als verlässlichen
Kooperationspartner für die Sicherheit in Europa. Wir
brauchen Russland für eine kooperative Sicherheitspolitik bezogen auf Regionalkonflikte. Ich denke etwa an die
Kooperation im Nahostkonflikt - Stichwort Roadmap -,
wo es übrigens keine deutsch-russische Achse gegen die
USA gibt; vielmehr handeln wir zusammen mit den
USA und mit der UNO. Die Zusammenarbeit mit Russland in Sachen Irak war gut und sinnvoll. Das ist auch
dann so, wenn Sie, Herr Pflüger, dies als „Achse“ bezeichnen.
Wir brauchen Russland auch im Kampf gegen den
Terror. Wir können aber nicht akzeptieren, dass Menschenrechte in Tschetschenien unter dem Label „Kampf
gegen den Terrorismus“ massiv verletzt werden.
({1})
Wir sollten grundsätzlich für eine Kooperation auch auf
wirtschaftlichem Gebiet eintreten, die die Thematisierung der Menschenrechts- und der Demokratiefrage
nicht ausschließt. Eine solche Kooperation kann geradezu als Medium benutzt werden, um diese Frage immer
wieder systematisch anzusprechen.
Ich habe übrigens nicht den Eindruck, dass die Bundesregierung diese Fragen nicht anspricht, nur weil sie
es nicht durch öffentliche Proklamationen tut. Man kann
sich zwar wünschen, dass hin und wieder ein lautes Wort
fällt; aber ich weiß aus eigener Beobachtung, dass dieses
Thema immer wieder angesprochen wird. Das geschieht
allerdings so, wie es Diplomaten gern tun, wenn sie befürchten, dass Interessen wie diejenigen, die ich gerade
beschrieben habe, durch eine falsche Tonlage in Mitleidenschaft gezogen werden könnten.
({2})
Wir kritisieren die Verhaftung von Chodorkowski
- Claudia Roth und andere haben es eben getan - nicht,
weil wir meinen, dass Oligarchen wie in der Vergangenheit agieren sollen. Oligarchie ist das Gegenteil von Demokratie und nicht deren Erfüllung.
({3})
Der Liberalismus der Oligarchen ist kein Liberalismus in
unserem - demokratischen - Sinne. Deshalb gibt es ein
gewisses berechtigtes Interesse, da-rauf zu achten, dass
die Liberalisierung in Russland nicht so weit geht, dass
die strategischen Rohstoffe des Landes an internationale
Konzerne ausverkauft werden.
({4})
Ich weiß nicht, worin der Vorteil für uns bestehen soll,
wenn die russische Oligarchie durch die Oligarchie der
internationalen Ölkonzerne ausgetauscht wird. Das kann
nicht die Alternative sein.
({5})
Wenn wir ein Interesse daran haben, dass Russland
seine Öl- und Gasreserven insbesondere mit uns austauscht - so könnten wir unsere einseitige Abhängigkeit
von der Golfregion endlich verlieren; so würde aber
auch zu einer Beruhigung im Mittleren Osten beigetragen -, dann sollten wir parallel zu allen Diskussionen
und Verhandlungen über eine Gaspipeline durch die Ostsee systematisch mit thematisieren, dass die Oligarchie
langsam, aber sicher in Demokratie überführt wird. Das
sind zwei Elemente in der Politik, die unmittelbar zusammengehören.
In der Soziologie gibt es eine harte These: Demokratie ist die Regierungsform der bürgerlichen Gesellschaft.
In dieser Striktheit finde ich die These falsch. Aber als
weiche These finde ich sie richtig: Die Existenz einer
bürgerlichen Gesellschaft befördert die Entwicklung von
Demokratie.
Nun frage ich, wie es um die demokratische Gesellschaft
bzw. um die bürgerliche Gesellschaft in Russland bestellt
ist. Nach all den Transformationsprozessen der letzten
zehn, 15 Jahre können wir sagen: Sie ist immer noch viel zu
schwach. Es gibt ein Bürgertum im Wirtschaftsbereich, das
auf der einen Seite durch die Oligarchen geprägt ist - das ist
alles andere als demokratisch - und auf der anderen Seite
durch einen Bodensatz, den man nur als mafios bezeichnen kann; auch das ist alles andere als demokratisch.
Was wir im Auge haben - das politische Bürgertum, den
Mittelstand, die sozialen Mittelschichten der urbanen
Welt -, ist noch sehr schwach. Auch die Zivilgesellschaft ist leider noch viel zu schwach.
Wenn wir wollen, dass sich in Russland Demokratie
entwickelt, dann müssen wir den staatlichen Diskurs
führen und müssen auch mit Putin und anderen deutlich
darüber reden. Wir sollten aber gleichgewichtig zum
Ausbau unserer wirtschaftlichen Beziehungen unsere gesellschaftlichen Dialoge mit dem kleinen Kern von Demokratie, mit der Keimzelle von Demokratie, verstärken, das heißt unsere Zusammenarbeit insbesondere mit
der Zivilgesellschaft und mit den Reformern im gesellschaftlichen Bereich intensivieren.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst
eine Vorbemerkung machen. Wir alle betonen immer
wieder, dass Menschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist. Aber im Durchschnitt ist die Regierungsbank bei Menschenrechtsdebatten ziemlich leer.
({0})
Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt: Wir dürfen
hier keine Arbeitsteilung machen nach dem Motto: Hier
sind die, die über die Menschenrechtsfragen reden, und
dort sind die, die über Sicherheits- oder Wirtschaftspolitik reden. Die Abwesenheit jedes Bundesministers entlarvt, dass genau dies die Arbeitsteilung von Rot-Grün ist.
({1})
- Wir haben das auch in den letzten Menschenrechtsdebatten so erlebt, Herr Schmidt. Schreien Sie doch nicht
auf, nur weil sie erwischt worden sind! Wir haben das in
all den letzten Menschenrechtsdebatten genau so erlebt.
({2})
Zu der Wahlfarce in Tschetschenien und zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen ist Deutliches gesagt worden. Die Menschenrechtsverletzungen werden
von den Sicherheitskräften wie von den Rebellen begangen. Für den Dialog mit der russischen Regierung ist
entscheidend, dass das zutrifft, was der Kollege Bindig
das Klima der Straflosigkeit genannt hat. Die russische
Regierung hat ihr Versprechen, dass auch Menschenrechtsverletzungen, die von staatlichen Sicherheitskräften begangen werden, geahndet werden, bis heute nicht
eingelöst. Die wenigen Strafverfahren, die es gegeben
hat, entsprechen in keiner Weise dem Umfang der begangenen Menschenrechtsverletzungen.
Einigkeit besteht doch wohl darüber, zumindest unter
den Menschenrechtspolitikern, dass es eine nicht akzeptable Leisetreterei der europäischen Regierungschefs
gibt. So erklärte die Vorsitzende des Ausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Christa Nickels,
im Vorfeld der Wahlen in Tschetschenien - ich zitiere
wörtlich -:
Im Vorfeld der Wahl hört man von den europäischen Regierungschefs nichts.
({3})
Kollege Bindig kritisierte vor einigen Tagen bei einer
Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte den Einsatz westlicher Staats- und Regierungschefs - ich zitiere wörtlich - als nicht hinreichend.
Die schlimmen Äußerungen des italienischen Regierungschefs sind hier schon erwähnt worden. Da kann
man gen Rom nur rufen: Si tacuisses! - Wenn du doch
nur geschwiegen hättest!
({4})
Aber auch Bundeskanzler Schröder hat durch fragwürdige Äußerungen zu dem Eindruck beigetragen, dass mit
dem Kampf gegen den Terrorismus eine größere Nachsicht gegenüber der russischen Politik im Kaukasus verbunden ist. So sprach er unmittelbar nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001 von der
Notwendigkeit einer „Neubewertung“ der Lage in
Tschetschenien. Ja, im Vorfeld des seinerzeitigen Referendums in der Kaukasusrepublik lobte er sogar „gute
Ansätze“ in der russischen Tschetschenienpolitik.
Welche Verbitterung solche beschönigenden Formulierungen vor allem bei den Menschenrechtsorganisationen in Russland auslösen, die unter schwierigsten Bedingungen für Menschenrechte in ihrem Land und vor allen
Dingen für eine politische Lösung im Kaukasus eintreten, macht die Äußerung von Oleg Orlow, dem Vorsitzenden von Memorial - auf die wertvolle Arbeit von
Memorial hat ja Kollegin Roth zu Recht hingewiesen -,
deutlich. Oleg Orlow erklärte wörtlich: „Entweder ist
Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkompetenz aus.“
({5})
Längst haben sich Befürchtungen bewahrheitet, der
Wille der russischen Regierung, den Konflikt gewaltsam
zu lösen, werde sich als schleichendes Gift gegen
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auch in der übrigen Russischen Föderation auswirken. Zunehmende
Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind zu beobachten: Das Fernsehen ist weitgehend wieder unter Kontrolle der politischen Machthaber.
Als ich im Oktober die Büros von Memorial in Moskau und St. Petersburg besuchte, lag ein Einbruch Unbekannter im Büro von Memorial in St. Petersburg erst wenige Wochen zurück. Wichtige Unterlagen und alle
Computer waren dabei entwendet worden. Wie selbstverständlich ging man in beiden Büros davon aus, durch
Sicherheitskräfte abgehört zu werden.
Vor wenigen Wochen durchsuchten Staatsanwälte die
Werbeagentur der liberalen Jabloko-Partei und beschlagnahmten Geld, Computer und zentrale Wahlkampfunterlagen. Der Vorsitzende dieser Partei spricht vom „Kapitalismus mit stalinistischem Gesicht“. Seine Partei
befürchtet zu Recht, dass ein fairer Wettbewerb nicht
möglich ist, wenn der politische Gegner die zentralen
Ideen für den eigenen Wahlkampf, die Strategien und
das Programm erhält.
Meine Damen und Herren, nicht Lautstärke ist gefordert, verehrter Herr Kollege Erler; vielmehr muss endlich Klartext gesprochen werden. Dazu leisten viele Abgeordnete aus allen Fraktionen dieses Hauses einen
Beitrag. Die Bundesregierung ist aufgefordert, endlich
diesem Beispiel zu folgen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Mützenich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland trägt maßgeblich zur Unterstützung des
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in
Russland bei. Es ist offenkundig: Das ist ein schwieriger
Balanceakt. Wir haben ein Interesse an einem stabilen
Russland. Stabilität und Verlässlichkeit sind ohne
Rechtsstaatlichkeit aber nicht denkbar. Darauf wirken
wir ein; das macht die heutige Debatte deutlich.
Ich bin gegen Schwarzweißmalerei. Wir müssen klug
und behutsam für die Demokratie in Russland arbeiten.
Den Demokraten in Russland ist aber nicht mit Lautstärke geholfen. Wir müssen vielmehr die Rahmenbedingungen beeinflussen, um die Strukturen und die Grundlagen der Demokratie zu stabilisieren. Daran arbeitet
diese Bundesregierung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Thema ist die deutsche Russlandpolitik. Deshalb möchte ich gerne auf drei
Aspekte aufmerksam machen, die bisher noch keine
Rolle gespielt haben:
Erstens. Die USA, Russland und Deutschland haben
im Juni 2002 eine Initiative zur Beseitigung von militärischen Altlasten in Russland angestoßen. Ziel des mehrjährigen Programms ist eine globale Partnerschaft gegen
die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und -materialien. Zu den vorrangigen Anliegen der globalen Partnerschaft gehören die Zerstörung chemischer Waffen, die
Demontage von außer Dienst gestellten U-Booten, die
Entsorgung spaltbaren Materials und die Beschäftigung
früherer Rüstungsforscher. Auch dies trägt, wie ich
denke, dazu bei, dass wir Russland stabilisieren und ihm
auf dem Weg zur Demokratie helfen. Deshalb bin ich der
Bundesregierung für ihr Engagement in diesem Bereich
dankbar. Denn diese Initiativen können sich sehen lassen.
({1})
Sie unterstreichen unser Interesse an Sicherheit und
Stabilität. Die Programme sind ein wichtiger Beitrag, damit die schrecklichen Hinterlassenschaften aus dem OstWest-Konflikt nicht in die Hände von Terroristen gelangen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf einen zweiten Aspekt aufmerksam machen, der die Bedeutung der deutschen Russlandpolitik unterstreicht. Die
Bundesregierung setzt sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle ein. Wir brauchen in einem vereinten Europa
keine großen Armeen mehr. Ein Meilenstein dabei ist
der Vertrag über die Reduzierung der konventionellen
Streitkräfte in Europa, kurz: KSE-Vertrag. Das Abkommen ist für Frieden, Stabilität und Sicherheit an den
Grenzen Russlands von großer Bedeutung. Wir müssen
daher alles dafür tun, dass der angepasste KSE-Vertrag
so schnell wie möglich in Kraft tritt.
Die erfolgreichen Anstrengungen Russlands, seine
Streitkräfte auf die im Art. V des Vertrages vereinbarten
Obergrenzen zu reduzieren, verdient Anerkennung;
gleichwohl brauchen wir eine Klärung der noch offenen
Fragen zwischen Russland und Georgien. Hier hat die
Bundesregierung geholfen, Vertrauen und Verständigung
zu fördern. Auch dies ist ein Aspekt, auf den wir, wenn
wir über deutsche Russlandpolitik sprechen, hinweisen
müssen. Erst vor kurzem hat eine georgische Delegation
auf Einladung der Bundesregierung in Deutschland an
einem Seminar über die Lage im Südkaukasus und den
angepassten KSE-Vertrag teilgenommen.
Auch wenn sich der erwartete vollständige Abzug
russischer Truppen aus Moldau weiter verzögert, besteht
die Hoffnung, dass Russland die vollständige Erfüllung
dieser Verpflichtungen bis Ende 2003 erreichen kann.
Ich bin mir daher sicher, dass die Bundesregierung diesen Prozess im Rahmen der OSZE weiter fördern wird.
Die Erfüllung der noch offenen Istanbuler Verpflichtungen bezüglich Georgien und Moldau wird die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Mitgliedsländer des
Bündnisses und andere Vertragsstaaten die Ratifizierung
des angepassten KSE-Vertrags weiterführen können und
dieser in Kraft treten kann. Dies ist die Voraussetzung
für weitere, mutige Abrüstungsschritte in Europa.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die Gelegenheit nutzen, um ein drittes Thema anzusprechen:
Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist
eine schwierige Aufgabe. Militärische Mittel sind dabei
nur begrenzt hilfreich und angemessen. Leider müssen
wir beobachten, dass im Windschatten dieser Aufgabe
neue Unsicherheiten zwischen Staaten provoziert werden. Dazu zählt die Absicht, ohne Beachtung des Völkerrechts Gewalt in Form von militärischer Prävention
einzusetzen.
Vor einem Monat wurden Teile der neuen russischen
Militärdoktrin bekannt. Auch darin sind offenbar Präventivschläge gegen Staaten und Regionen vorgesehen,
von denen „eine Gefahr für die nationale Sicherheit
Russlands ausgeht“. Darüber hinaus wurde die Aufstellung neuer Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen angekündigt. Dies sind Entwicklungen, die uns beunruhigen müssen.
({2})
Die SPD-Fraktion bekräftigt, dass das offenbar von
immer mehr Staaten in Anspruch genommene Recht zu
Präventivschlägen nicht der richtige Weg sein kann, um
die internationale Politik zu gestalten. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die USA, sondern auch für
Russland.
({3})
Ich bitte daher die Bundesregierung, mit Russland über
die Folgen einer neuen Militärdoktrin zu sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte hat
deutlich gemacht: Die Bundesregierung unterstützt die
Reformen von Präsident Putin. Wir brauchen ein stabiles
und demokratisches Russland. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und soziale Sicherheit sind Voraussetzungen für den Frieden in Europa. Wir müssen Russland
weiterhin als kooperativen Partner in die internationale
Politik einbinden. Ich ermutige die Bundesregierung,
diesen Weg weiterzugehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Und wir, lieber Herr Kollege Mützenich, gratulieren
Ihnen zu Ihrer ersten Rede hier im Plenum.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bury, Sie haben für die Regierung gesprochen. Vielleicht ist Ihnen
aufgefallen, dass in der Debatte niemand auf Sie eingegangen ist. Womit hängt das zusammen? Das hängt damit zusammen, dass sich niemand mehr daran erinnern
kann, was Sie vorgetragen haben. Es war eine belanglose
Erklärung, die allem ausgewichen ist, worum es hier eigentlich geht. Herr Kollege Erler, es geht nicht darum,
jetzt großmännisch gegenüber Russland aufzutreten,
überhaupt nicht. Aber es geht auch nicht, dass die Regierung nur ausblendet, ignoriert, wegsieht und ein gutes
Klima verbreitet. Denn jeder, der jetzt schweigt, vergrößert den Spielraum derer, die die russische Gesellschaft
wieder autoritär umgestalten wollen.
Deshalb besteht jetzt die Notwendigkeit, angemessen,
aber deutlich zu sagen, was wir von der möglichen Entwicklung halten. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung; dieser weicht sie aber aus, was in dieser Situation
falsch ist.
Angesichts der sich verschlechternden Verhältnisse
für ausländische Investoren in Russland fragt man sich,
worauf man sich noch verlassen kann. Man muss wieder
Eigenheiten der russischen Bürokratie beachten, von denen man glaubte, dass sie ausgeräumt seien. Man muss
wieder Kreml-Astrologen befragen. Diese Zeit sollte
Russland eigentlich hinter sich haben.
Stabilität und Berechenbarkeit sind gefragt. Deshalb
kommt der Frage der Unabhängigkeit der Justiz und der
Pressefreiheit eine so enorme Bedeutung zu.
({0})
Die Bedenken, ob die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt
ist, zeigen, wie ernst diese Probleme in der Zusammenarbeit mit Russland genommen werden. Ein Gesetz mit
dem Titel „Gesetz gegen Agitation im Wahlkampf“ zeigt
mir, wie die Verhältnisse in Russland sind.
({1})
Es geht um die Unterbindung demokratischer Freiheiten.
Es wird der Versuch unternommen, eine uniforme Gesellschaft wiederherzustellen.
All diejenigen, die es mit Russland gut meinen und
die an einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit sowie
an der Entwicklung gemeinsamer Ideen für den Bau des
Hauses Europa - ich will diesen alten Begriff einmal
verwenden - interessiert sind, müssen jetzt Farbe bekennen.
({2})
Ich will daher sagen, dass sich der Beitrag von Frau Roth
so angenehm von dem unterscheidet, was vonseiten der
Bundesregierung vorgetragen worden ist.
Deutschland ist mit einem Anteil von 10 Prozent am
Gesamthandel der größte Außenhandelspartner Russlands. Der bilaterale Handel liegt bei knapp 25 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2003 stiegen unsere Exporte nach Russland um 4,7 Prozent. Die deutschen
Investitionen in Russland liegen bei 4 Milliarden Dollar.
Damit ist Deutschland der größte Investor in Russland.
Auch für die Zukunft zeichnet sich ein großes Potenzial ab - aber nur dann, wenn es gelingt, die Vorhaben,
die jetzt in der Pipeline sind, in einem störungsfreien
Umfeld weiter voranzutreiben. Daneben muss eine
Struktur in Russland entwickelt werden, die einen Handel auf Gegenseitigkeit ermöglicht und nicht auf dauernde Rohstoffabhängigkeit setzt.
Das Ziel der russischen Führung muss es sein, das
Vertrauen der ausländischen Investoren zu erhalten bzw.
wiederzugewinnen. Ohne zusätzliche Auslandsinvestitionen und ohne verlässliche Rahmenbedingungen ist
der Beitritt Russlands zur WTO im nächsten Jahr sehr
infrage gestellt.
({3})
Am Beispiel China kann man nachvollziehen, wie
enorm die Anstrengungen sein müssen, um den Prozess
der Angleichung an die Verhältnisse der WTO-Mitgliedsländer zu schaffen. In Russland geschieht hinsichtlich der Vorbereitungen auf diesen Beitritt genau das Gegenteil. Das ist schlecht für beide Seiten: Das ist schlecht
für unsere Wirtschaftsbeziehungen und das ist auch
schlecht für die Möglichkeit Russlands, selbst voranzukommen.
Dass noch viel Vertrauen gewonnen werden muss,
zeigt auch ein Vergleich mit Polen. Während es in Russland im Jahr 2002 Auslandsinvestitionen in Höhe von
23 Milliarden Euro gegeben hat, waren es in Polen und
China immerhin schon 45 Milliarden Euro. Daran sieht
man, welchem Land man bei vergleichbaren politischen
Verhältnissen mehr zutraut, dass die Richtung stimmt
und dass eine einheitliche Entwicklung, die zu einer stabilen Rahmenordnung führt, möglich ist.
({4})
- Nein, genau das habe ich nicht gesagt, Herr Meckel.
Das Vertrauen, dass die Entwicklung in die richtige
Richtung geht, ist im Falle Chinas größer. Viele wissen
nämlich im Augenblick nicht, wohin der Weg Russlands
geht.
({5})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon abgelaufen. Sie
können jetzt keine Dialoge mehr führen.
Vielen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin.
Ich will zum Schluss noch das Wort von der Bürgergesellschaft aufgreifen, das Herr Volmer gebraucht hat.
Natürlich ist es das Problem Russlands, dass sich eine
demokratisch strukturierte Gesellschaft in seiner 70-jährigen Geschichte nicht entwickeln konnte. Aber umso
mehr muss jetzt natürlich alles dafür getan werden, dass
diejenigen nicht hoffnungslos werden, die auf dem Weg
sind, genau eine solche Gesellschaft zu bilden.
({0})
Deshalb vielen Dank für Ihre Beiträge. Deshalb aber
auch weiterhin die Kritik an der Regierung: So geht es
nicht, meine Damen und Herren.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jelena Hoffmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei meinen politischen Gesprächen in Moskau im September wurde mir klar, dass die Verbindung
zwischen Politik und Oligarchen in Russland zu einem
Wahlkampfthema gemacht wird, und zwar von fast allen
Parteien. Und nun beschäftigen wir uns im Bundestag
mit der Verhaftung des Oligarchen Chodorkowski - auch
ich musste lernen, den Namen auszusprechen - und den
eventuellen Folgen dieser Verhaftung auf die deutschrussische Politik.
Ich möchte davor warnen, die Beziehungen zu Russland und Russland als Land auf diesen Vorfall zu reduzieren. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Opposition
gerade mit diesem Ziel die Aktuelle Stunde beantragt
hat. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
sollten sich nichts vormachen und in der sicherheitspolitischen Realität von heute ankommen. Wir brauchen einen starken - ich betone ausdrücklich: einen starken Partner Russland, der mit uns, Europa und den USA zusammenarbeitet. Ohne Russland wird es auf Dauer keinen Frieden in Europa geben. Deshalb unterstützt
Deutschland Russlands Annäherung an die NATO und
die Europäische Union und vor allem auch die Mitgliedschaft Russlands in der WTO.
Natürlich müssen wir von beiden Seiten des Parlaments vieles von dem aufzählen, was in Russland unserem Demokratieverständnis nicht entspricht. Das tun wir
auch heute mit dieser Debatte. Doch wir sollten uns vor
Augen führen, welche gewaltigen Reformen Russland in
den letzten Jahren durchgeführt hat. Das Gesellschaftssystem, die Staatsstrukturen, die Wirtschaftsordnung, ja
auch Kultur und Wissenschaft haben einen gewaltigen
Umbruch und Wandel erfahren. Und dieser Prozess ist
bei weitem noch nicht abgeschlossen.
Im Jahr 2002 hat die Modernisierungsstrategie Putins
größere Erfolge erzielt. Die drei wichtigsten Säulen der
Wirtschaftspolitik, Energie, Rüstung und Transportwesen, konnten als Grundlage für die Entwicklung des Landes erhalten werden. Leider wurde die schon oft verschobene Bankenreform erneut auf das Jahr 2005
verschoben und die bitter notwendigen Gesetze zur Unterstützung des Mittelstands wurden kaum durchgesetzt.
Doch die russische Wirtschaft entwickelt sich, vor allen Dingen auch aus unserer Sicht, mit 4 bis 6 Prozent
Zuwachs ziemlich gut, und zwar nicht nur aufgrund des
Ölpreises. Man sollte nicht vergessen, dass die EU Russland im letzten Jahr den marktwirtschaftlichen Status zuerkannt hat. Diese Tatsache wird auch durch die Intensivierung der Tätigkeit deutscher Unternehmen in
Russland dokumentiert.
Anfang der 90er-Jahre konnte man einem Unternehmen kaum empfehlen, nach Russland zu gehen. Es existierten keine an der Marktwirtschaft orientierten Gesetzesgrundlagen. Die Gesetze änderten sich schneller, als
sie gedruckt waren, und wenn Gesetze da waren, hat
man sich an die Gesetze nicht gehalten. Doch jetzt sind
Jelena Hoffmann ({0})
über 1 200 Repräsentanzen deutscher Unternehmen in
Russland tätig. Deutschland als Handelspartner der Russischen Föderation nimmt mit einem Anteil von etwa
zehn Prozent am gesamten Handelsvolumen den ersten
Platz ein.
Russland hat ein hohes Wirtschaftswachstum und ist
ein Markt der Zukunft. Daraus ergeben sich Chancen,
die man nutzen sollte. Vor kurzem haben in Jekaterinenburg die deutsch-russischen Regierungskonsultationen
stattgefunden. Sie haben eindrucksvoll die erfolgreiche
Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten bestätigt. Der Bundeskanzler wurde von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet, was
das große Interesse der deutschen Wirtschaft an einer
Verstärkung der Zusammenarbeit mit Russland beweist.
Die deutsche und die russische Bahn haben vereinbart, den bilateralen Personen- und Güterverkehr auszubauen. Touristen sollen von Berlin über Kaliningrad
nach Sankt Petersburg fahren können. Der deutsche
Energiekonzern Eon beabsichtigt, gemeinsam mit russischen Partnern ein hochmodernes Gaskraftwerk nicht
weit von Moskau zu bauen und zu betreiben. Ein Abkommen zur Entsorgung der russischen Atom-U-Boote
sowie zahlreiche Vereinbarungen und Verträge zwischen
Unternehmen, vor allem auch zwischen Unternehmen
aus dem mittelständischen Bereich, sind unterzeichnet
worden.
Die Gespräche in Jekaterinenburg haben gezeigt, dass
die von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin im
Jahr 2000 ins Leben gerufene deutsch-russische Strategiearbeitsgruppe zu einem bewährten Instrument in den
bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen geworden ist.
Insgesamt sind diese Beziehungen von einer steigenden
Dynamik geprägt und besitzen große Potenziale. Natürlich verläuft die Entwicklung nicht immer reibungslos
und für unsere Unternehmen nicht schnell genug. Dennoch kommen viele deutsche Unternehmen gut voran.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition,
als Echo der amerikanischen Presse rufen Sie immer
nach Sanktionen oder politischen Rügen gegenüber
Russland. Hören Sie doch lieber, was der Vorsitzende
des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Herr
Mangold, über den Jukos-Fall gesagt hat - ich erlaube
mir, zu zitieren -:
Dies in aller Klarheit: Die Jukos-Affäre ist weder
der Anfang vom Rückfall in alte Zeiten noch das
Ende von Reformen und Privatisierung. Zur Reformpolitik Russlands gibt es nämlich keine Alternative.
({1})
Frau Kollegin!
Meine letzten Sätze, Frau Präsidentin.
Auch wir beobachten die Entwicklung Russlands kritisch. Aber dieses Land muss die Chance erhalten, Vertrauen zu erwerben und mit internationalen Partnern wie
Deutschland eine langfristige Perspektive zu entwickeln.
Deshalb können und müssen wir die Bundesregierung in
ihrer Russlandpolitik unterstützen.
Danke.
({0})
Jetzt möchte ich das noch einmal für alle klären: Eine
Aktuelle Stunde ist eigentlich so gedacht, dass man einen ganz kurzen, freien Redebeitrag zu dem aktuellen
Punkt macht. Lange Redebeiträge bzw. eine Rede von
sieben Minuten entsprechen eigentlich nicht dem Stil.
Ich bitte, dass das die Nächsten bedenken.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Es ist gut
und richtig, dass sich die Bundesregierung um gute Beziehungen zu Russland bemüht. Das gebietet nicht nur die
deutsche Geschichte, sondern allein schon die Vernunft.
Aber gute Beziehungen sollten auch eine kritische Sicht
auf die Politik des anderen beinhalten. Aus dieser kritischen Sicht sollten Schlussfolgerungen gezogen werden.
({0})
Wir haben erlebt, dass in der Frage der Menschenrechte schon immer eine unterschiedliche Messlatte angelegt worden ist. Ich darf Sie an die Ereignisse im vergangenen Jahr im Dubrowka-Theater, dem Theater
„Nord-Ost“, erinnern. Tschetschenen hatten in diesem
Moskauer Theater einen Saal voller Menschen als Geiseln genommen. Das ist ein Verbrechen, das nicht zu
rechtfertigen ist. Es ist aber auch ein Verbrechen gewesen, das aus Verzweiflung geboren war.
Wie wurde reagiert? - Die russischen Behörden leiteten Nervengas in das Theater, richteten die Geiselnehmer per Genickschuss hin und nahmen darüber hinaus
den Tod von unschuldigen Geiseln in Kauf. Wie war die
internationale Reaktion? - Die internationale Öffentlichkeit hielt sich zurück. Wie groß wäre der Aufschrei gewesen, hätte - sagen wir es einmal ganz allgemein - jemand, der sowieso als unberechenbarer Diktator gilt,
Nervengas in ein Theater geleitet?
Wir kritisieren die Zurückhaltung der Bundesregierung in der Tschetschenienfrage außerordentlich. Meine
Damen und Herren von der CDU/CSU, damit unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der Vorgängerregierung.
({1})
Bereits zum vierten Mal wird gegen das tschetschenische Volk ein Ausrottungskrieg geführt. Der erste endete
nach 30 Jahren im Jahre 1859 mit der Flucht, der Ermordung und dem Tod Tausender Menschen.
({2})
- Ihr Zwischenruf, Herr Volmer, war mehr als unqualifiziert.
({3})
Der zweite Krieg gegen die Tschetschenen war die
Deportation des tschetschenischen Volkes durch
Stalin. - Ich weiß nicht, was die Grünen da zu lachen
haben. - Bei dieser Deportation nach Mittelasien ist ein
Viertel des tschetschenischen Volkes ermordet worden. Und Herr Volmer sitzt hier und grinst.
Der dritte Krieg gegen das tschetschenische Volk
wurde von 1994 bis 1996 unter Jelzin geführt. Der vierte
Krieg begann im September 1999 unter Putin.
({4})
Ich möchte gerne wissen, warum die Bundesregierung
ihre guten Beziehungen zu Russland nicht nutzt, um hier
mehr Einfluss zu nehmen. Ich möchte gerne wissen, warum diese Verletzung der Menschenrechte geduldet wird.
Warum hat die Bundesregierung nicht schärfer auf die
Wahlfarce im März und im Oktober reagiert?
({5})
Warum wurde zum Beispiel auf eine mündliche Anfrage,
die ich hier gestellt habe, mehr als ausweichend reagiert?
Ich möchte für die Besucherinnen und Besucher erklärend hinzufügen, dass bei diesen Wahlen im März
und im Oktober die Besatzungssoldaten in Tschetschenien mit abstimmen durften.
Die Rede von Frau Roth wurde hier von mehreren
Kolleginnen und Kollegen sehr gelobt. Frau Roth, als
Sie noch nicht Menschenrechtsbeauftragte des Deutschen Bundestages waren, haben Sie vor der russischen
Botschaft Reden gegen den Krieg in Tschetschenien gehalten.
({6})
Leider haben Sie heute in Ihrer Rede nicht dargestellt,
was Sie in Ihrer Funktion als Menschenrechtsbeauftragte
konkret getan haben. Sie haben uns auch nicht berichtet,
wann Sie das letzte Mal mit Verantwortlichen in Russland über diese Frage gesprochen haben. Das hätte mich
sehr interessiert.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Bindig.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es richtig und wichtig, dass wir bei unserer Debatte über unsere Beziehungen zur Russischen
Föderation die Menschenrechte ins Zentrum der Argumentation stellen.
({0})
Hier ist ein breites Spektrum von Aufgaben zu bewältigen.
Dabei geht es um wichtige Reformen in vielen Politikfeldern: die Reform des Justizwesens, die Übertragung des Strafvollzugssystems vom Innenministerium
auf das Justizministerium, die Reform der Staatsanwaltschaft, die Anwendung der neuen Strafprozessordnung,
das Angehen gegen die Verletzungen der Menschenrechte Wehrpflichtiger, den alternativen Militärdienst,
die Praxis der Religions- und der Medienfreiheit.
Vorhin ist kritisiert worden, dass es ein Gesetz über
die Begrenzung der Medien in Wahlkämpfen gibt. Es ist
ein ermutigendes Zeichen, dass ein Gericht dieses Gesetz zwischenzeitlich aufgehoben hat.
({1})
Das zeigt, dass die Justiz anfängt, sich von der Gängelung durch die zentrale Administration zu lösen.
Es geht auch um die Errichtung eines menschenrechtlichen Ombudsmannsystems. Es geht um die Lage im
Strafvollzug.
Vor 14 Tagen habe ich in der Fernostregion der Russischen Föderation eine Strafkolonie für Frauen und zwei
Untersuchungsgefängnisse besucht und dort teilweise
unakzeptable Zustände angetroffen. Wichtig ist es, dann
immer klar zu kritisieren, was vom europäischen Standard abweicht, klar zu sagen, was verändert werden
muss, aber auch anzuerkennen, wenn der Koloss sich bewegt, wenn es in Teilbereichen Fortschritte gibt.
({2})
Ohne Zweifel ist die Menschenrechtslage in Tschetschenien der größte Problembereich. Praktisch täglich
kommt es zu neuen schweren Menschenrechtsverletzungen vonseiten russischer Sicherheitskräfte und der Rebellen, aber zunehmend auch von den neu aufgebauten
so genannten Sicherheitskräften des amtierenden tschetschenischen Präsidenten Kadyrow.
Das Verfassungsreferendum ist durchgedrückt worden. Die so genannten Präsidentenwahlen waren Scheinwahlen. Das Klima der Straflosigkeit dauert weiter an.
Erschreckend ist auch der krasse Gegensatz zwischen
der Darstellung der Politik in Tschetschenien durch die
russischen offiziellen Stellen, die sagen, man habe die
Lage stabilisiert und die Sicherheitsprobleme weitgehend überwunden, und der praktischen Realität, die vor
Ort vorzufinden ist. Verschleppungen und Folter von seiten der Behörden bleiben an der Tagesordnung. Die
Menschenrechtslage in Tschetschenien und in Inguschetien hat sich verschlechtert. Nach den Aussagen von Memorial hat sich die Menschenrechtssituation insgesamt
nicht verbessert. Vielmehr hat sich das Problem verlaRudolf Bindig
gert. Die früheren groß angelegten Säuberungen sind
durch kleine, gezielte, in der Summe aber gleich bleibende Aktionen ersetzt worden. Die Anzahl der verschwundenen Personen ist so hoch wie vor eineinhalb
Jahren. Das muss sich ändern.
({3})
Wir müssen mit unseren Möglichkeiten überall auf
eine Veränderung hinwirken. Es ist notwendig, dass
diese Frage bei allen Gesprächen, die auf der Ebene der
Staats- und Regierungschefs sowie der Außenminister
geführt werden, angesprochen wird.
Ich sage durchaus: Wenn der Eindruck entsteht, das
würde dort nicht intensiv angesprochen und debattiert
- wobei wir allerdings hören, dass das Thema immer angesprochen wird -, muss man eben klarer sagen, was
denn dort angesprochen worden ist, um das für die Öffentlichkeit transparent zu machen.
({4})
Ich weiß, dass der Regierungskoordinator für die Beziehungen zur Russischen Föderation, Gernot Erler, dieses Thema anschneidet, wenn er in Moskau Gespräche
mit Vertretern der Zivilgesellschaft und den Offiziellen
führt. Auch ich habe im Auftrag des Europarates eine
Reihe von Berichten angefertigt und durch diese Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen die Informationslage in Europa mit beeinflussen können.
Leider muss ich allerdings sagen, dass ich in der letzten Zeit durch die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion,
ein Pairing-Abkommen für internationale parlamentarische Verpflichtungen abzuschließen, bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe behindert werde.
({5})
Sie sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken, ob
man das nicht ändern kann.
({6})
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kritik an der
Menschenrechtssituation in Tschetschenien gegenüber
den russischen Politikern weitergeführt und noch verstärkt werden muss.
({7})
Die Misshandlungen und Tötungen von Menschen in
Tschetschenien müssen aufhören. Die Verantwortlichen
für Menschenrechtsverletzungen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Für den Tschetschenienkrieg
muss eine politische Lösung gefunden werden, die nicht
darin bestehen kann, mit Gewalt ein einseitig moskauorientiertes Konzept durchzusetzen.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisher
herrschte in der deutschen Russlandpolitik weitgehend
Übereinstimmung. Wir wollten und wollen die Reformen dort, die Transformation zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft sowie zur Wahrung der Menschenrechte unterstützen, entsprechende Anstrengungen
fördern und natürlich auch kritisieren, wenn von diesem
Weg abgewichen wird.
Vor diesem Hintergrund haben Sie, Herr Kollege
Erler, die Frage gestellt, ob es angemessen sei, die Bundesregierung zu lauterem Reden aufzufordern. Es geht
um die auffälligen Unterschiede in der Lautstärke bei
dem, was die Bundesregierung macht. Denken Sie zum
Beispiel an die Reaktionen auf die Entwicklung in Österreich und Italien. Zu den aktuellen Vorfällen in Russland
stellen wir jetzt ein eher beredtes Schweigen fest; das
kann ja einen eigenen Symbolgehalt bekommen. Dabei
müssten wir gemeinsam Sorge um Russland haben; denn
wenn ich die Debatte richtig verfolge, teilen auch Sie
diese Einschätzung ein wenig.
Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt, die Bundesregierung spreche die Fragen der Menschenrechtsverletzungen und der Demokratieentwicklung nicht offen,
sondern eher diplomatisch an. Dann wäre es ein schönes
diplomatisches Signal gewesen, das auch sicherlich registriert worden wäre, wenn die Bundesregierung diese
Aktuelle Stunde zum Anlass genommen hätte, auf der
Kabinettsbank entsprechend mit Ministern vertreten zu
sein.
({0})
Herr Kollege Erler, Sie haben die russischen Kollegen
zitiert, die von drohenden Schauprozessen und von möglichen Entwicklungen hin zu einer Diktatur sprechen.
Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Bindig haben
beide - dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken klare und deutliche Worte zu den Menschenrechtsverletzungen und zur Lage in Tschetschenien sowie zu den
Vorfällen um Chodorkowski gefunden. In diesem Punkt
sind wir uns einig.
Aber, Herr Bury, solche klaren Worte hätten wir gern
von der Bundesregierung gehört.
({1})
Stattdessen haben Sie davon gesprochen, dass Sie die
Entwicklung aufmerksam beobachteten und ein rechtsstaatliches Verfahren erwarteten. Als hätte der bisherige
Gang des Verfahrens nicht längst das Gegenteil von
Rechtsstaatlichkeit bewiesen! Dazu kein Wort von der
Bundesregierung!
({2})
Der liberale Politiker Boris Nemzow beschreibt die
gegenwärtige Situation wie folgt: „Russland wird nur
selten glücklich, aber wir hatten eine Chance. Jetzt verlieren wir sie.“ Was hätten unsere Kollegen wie Grigori
Jawlinski, Nemzow oder Ryschkow gesagt, wenn sie Ihren Erklärungen heute hier im Deutschen Bundestag hätten zuhören können? Ich glaube, sie wären entsetzt und
enttäuscht gewesen, weil sie sich von einem wichtigen
Partner Russlands im Stich gelassen gefühlt hätten, der
zu den Vorfällen, die sie bitter besorgt machen, einfach
schweigt und eine so blasse und nichts sagende Erklärung abgibt, wie Sie es heute für die Bundesregierung
getan haben.
({3})
Man muss die Besorgnis haben, dass es so etwas wie
einen westlichen Deal, an dem ja nicht nur die Bundesregierung beteiligt ist, gibt, der besagt: Wir schweigen zur
Entdemokratisierung Russlands, dafür garantiert Putin
dort Stabilität. Wir kritisieren die Tschetschenienpolitik
nicht länger, dafür macht Russland im Kampf gegen den
internationalen Terrorismus mit. Wir sind Russland beim
Zugang zu den globalen Wirtschaftsorganisationen behilflich, dafür können wir Öl und Gas importieren und in
Sibirien investieren. Eine solche Rechnung würde aber
nicht aufgehen, wenn man sie denn machte: Auf längere
Sicht könnte der Westen bei einem Sieg der Silowiki
nicht sicher sein, ob nicht der alte imperiale Staat, die
alte aggressive, antiwestliche Supermacht, wiederbelebt
würde. Dies sagt nicht jemand, der aus dem kalten Krieg
übrig geblieben ist, sondern das hat unser Kollege
Wladimir Ryschkow, Mitglied der Duma, in einem Interview der „Zeit“ zum Ausdruck gebracht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sollten wir
ernst nehmen. Deshalb ein paar ganz klare Forderungen
zum Schluss: Leisetreterei hilft dem Westen nicht. Wir
müssen für die Liberalisierer in Russland klar Partei ergreifen.
({4})
Unsere Forderungen müssen lauten: wirklich freie Parlamentswahlen im Dezember, private Fernsehstationen,
eine unabhängige Justiz, freies Unternehmertum, Bürgerrechtsvereinigungen und Zivilgesellschaft. Nicht Putin,
meine Damen und Herren, sondern nur ein demokratischeres Russland kann auf Dauer Stabilität garantieren.
Für diejenigen, die vor allem an Wirtschaftsfragen interessiert sind, füge ich hinzu: Nur ein demokratischeres
Russland kann in Zukunft auch den steten Fluss von Öl
und Erdgas garantieren. Diese Forderungen sind nicht
weltfremde Illusionen, sondern echte Realpolitik im Interesse unseres Landes.
Vielen Dank.
({5})
Danke schön. - Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine
Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag,
Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian
Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren
({0})
- Drucksache 15/1976 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Joachim Stünker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für die Opfer einer Straftat kann die Durchführung des
daraus resultierenden Strafverfahrens eine eminent
große Belastung bedeuten. Es ist deshalb Aufgabe eines
sozialen Rechtsstaates, nicht nur darauf zu achten, dass
die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld des Beschuldigten in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt wird, sondern ebenso darauf, dass die Belange des
Opfers gewahrt bleiben.
Die mit dem vorliegenden Opferrechtsreformgesetz
vorgeschlagene Reform verfolgt daher das Ziel, in dem
Strafverfahren die Interessen der Opfer noch stärker zu
berücksichtigen. Die Reform setzt daher die mit dem
Opferschutzgesetz aus dem Jahre 1986 begonnene Gesetzgebung, die mit dem Zeugenschutzgesetz im Jahre
1998 und der Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs
im Jahre 1999 ergänzt worden ist, zur Verbesserung der
Rechte der Verletzten fort. Mit dem genannten Opferschutzgesetz erfolgte seinerzeit die Abkehr von der bis
dahin gängigen Betrachtungsweise im Strafprozess, wonach die Opfer im Strafverfahren vornehmlich die Stellung als Zeuge und damit letztlich als Beweismittel innehatten. Der Ihnen jetzt vorliegende Entwurf eines
Opferrechtsreformgesetzes nimmt zudem Impulse auf,
die der Rahmenbeschluss der Europäischen Union
über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom
15. März 2001 für die nationale Gesetzgebung entwickelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole, was
ich bereits am 8. Mai dieses Jahres in diesem Hohen
Hause gesagt habe: Lassen Sie uns die Aufgabe der Verbesserung des Opferschutzes gemeinsam angehen. Sie
ist es wert - im Interesse der Opfer von Straftaten -, dass
sie gemeinsam gelöst wird.
({0})
Alle Fraktionen des Hohen Hauses stimmen darin überein, dass wir die Rechte der Opfer von Straftaten im
Strafverfahren verbessern wollen. Die Unionsfraktion
hatte bereits im Mai dieses Jahres - ich habe darauf hingewiesen - ein entsprechendes Opferschutzgesetz eingebracht. Die Regierungskoalition und die Bundesregierung folgen nunmehr mit dem vorliegenden
Opferrechtsreformgesetz.
Wir stimmen, wie ich denke, aber auch darin überein,
dass es kein Urheberrecht auf den Opferschutzgedanken
gibt. Ich appelliere daher - wie schon vor einigen Monaten - an Sie: Lassen Sie uns eine angemessene sachliche
Debatte führen, eine Debatte frei von Gezänk und politischer Rechthaberei. Die Aufgabe, die wir zu lösen haben, ist anspruchsvoll; darauf werde ich noch zurückkommen. Wir sollten daher gemeinsam nach der besten
Lösung suchen.
Lassen Sie mich in der ersten Lesung kurz die drei
zentralen Ansatzpunkte unseres Entwurfes zusammenfassend skizzieren:
Erstens. Wir wollen die Belastungen für das Opfer
durch das notwendige Strafverfahren so gering wie möglich halten. Wir wollen, dass die Verfahrensrechte des
Opfers im Strafverfahren gestärkt werden. Zu diesem
Zweck sollen wiederholte Vernehmungen des Opfers,
die ganz besondere Belastungen hervorrufen können, so
weit wie möglich vermieden werden. Dem Opfer soll
eine stärkere aktive Teilnahme am Verfahren ermöglicht
werden. Hierzu dienen insbesondere die vorgeschlagenen Verbesserungen bei der Nebenanklage und beim Opferanwalt.
Zweitens. Wir wollen für das Opfer, das ja zugleich
Verletzter ist, die Möglichkeit verbessern, bereits im
Strafverfahren vom Angeklagten Ersatz für den aus der
Straftat entstandenen Schaden zu verlangen und diesen
gleichzeitig durchzusetzen. Der Entwurf enthält daher in
einem, wie ich finde, in sich geschlossenen Konzept die
notwendigen Regelungsvorschläge für eine spürbare
Verbesserung und Stärkung des in der Strafprozessordnung bereits heute möglichen Verfahrens, das aber wenig angewendet wird. Hierdurch werden zugleich die
Ressourcen der Justiz effizienter genutzt; denn wenn das
Opfer als Verletzter bereits im Strafverfahren einen vollstreckbaren Titel erlangt, wird ein nachfolgender Zivilprozess überflüssig.
Drittens. Wir wollen eine verbesserte Information
des Opfers als des Verletzten über seine Rechte und den
Ablauf des Strafverfahrens. Hierzu dienen weit gehende
Mitteilungen über eine Einstellung des Verfahrens, die
Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens,
den Sachstand des Verfahrens einschließlich des Termins
der Hauptverhandlung sowie über freiheitsentziehende
Maßnahmen. Weiter wird die Verpflichtung zur Unterrichtung des Opfers über seine Schutz-, Beistands-, Informations- und Verfahrensrechte erheblich ausgebaut.
Die Quintessenz ist: Der Verletzte als Opfer einer Straftat soll, wenn es für das Verfahren nicht notwendig ist,
dem Täter im Strafverfahren nicht wieder begegnen
müssen, wenn er nicht will.
Warum ist die Implementierung eines verbesserten
Opferschutzes in die Strafprozessordnung - ich habe es
bereits mehrfach angedeutet - so kompliziert, schwierig
und problembehaftet? Ich möchte auf die Beantwortung
dieser Frage mein Augenmerk lenken. Die Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass die Strafprozessordnung in ihrer seit Jahrzehnten fortentwickelten
Grundkonzeption vornehmlich die Interessen des Beschuldigten und das Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung austariert.
Die Strafprozessordnung wird zu Recht als die Magna
Charta des Beschuldigten bezeichnet. Dem widerstreiten
folgerichtig in vielen Bereichen der einzelnen Verfahrensabschnitte eines Strafverfahrens die, wie wir alle
wissen, berechtigten Interessen des durch die Straftat
Verletzten. Der Deutsche Anwaltverein weist in seiner
Stellungnahme daher zu Recht darauf hin, dass auch bei
einer zunehmend größeren Bedeutung des Opferschutzes
die grundlegenden Prozessrechte eines Beschuldigten,
insbesondere die Unschuldsvermutung und der Anspruch auf ein rechtsstaatliches und faires Verfahren, in
ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden dürfen.
({1})
Ebenso zutreffend weist der Deutsche Richterbund in
seiner Stellungnahme darauf hin, dass durch die Stärkung der Beteiligungsrechte des Opfers am Strafverfahren die Kernaufgabe der Justiz, nämlich schnellstmöglich unter eigener Überzeugungsbildung zu einer
Entscheidung zu gelangen, die vom Täter und vom Opfer akzeptiert werden kann, nicht beeinträchtigt werden
darf. Ich stimme auch zu, dass gerade die konsequente
und zeitnahe Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches als solchen einen präventiven Opferschutz gewährleistet und damit letztendlich zugleich auch eine Genugtuungsfunktion erfüllt wird. Ich denke, das alles dürfen
wir, wenn wir in den vor uns liegenden Wochen und Monaten in den Ausschussberatungen über Opferschutz
reden, angesichts der Systematik der Strafprozessordnung nicht aus den Augen verlieren.
Ich komme nun zu der Frage, die uns alle umtreibt
und die ich eben auch schon angesprochen habe: Wie lösen wir das Problem der Umsetzung, dass das Opfer
einer Straftat bereits im Strafprozess einen Schadensersatzanspruch, einen Strafanspruch, realisieren kann? In
einer grundlegenden Entscheidung hat der Bundesgerichtshof bereits vor einigen Jahren Ausführungen dazu
gemacht, die ich hier zitieren darf. Dort heißt es nämlich:
Es ist zu vermeiden, dass sich ein Angeklagter - zumal nach einem Geständnis -, um keine Zweifel an
seiner Einsicht, Reue und seinem Wiedergutmachungswillen aufkommen zu lassen, gedrängt sieht,
einen in diesem Verfahren verfolgten Anspruch
- auch wenn ihm die Höhe der Forderungen zweifelhaft erscheint - unbedingt anzuerkennen.
Der Richter darf daher auch nicht den Anschein
eines unsachlichen Drucks auf den Angeklagten,
zum Beispiel zum Abschluss eines Vergleichs, entstehen lassen.
Indem ich das zitiere, möchte ich verdeutlichen, in
welchem Spannungsverhältnis diejenigen, die mit dem
Gesetz hinterher zu arbeiten haben - sprich: Staatsanwaltschaft, Justiz, die entsprechenden Organisationen,
die im Bereich des Täter-Opfer-Ausgleichs arbeiten, und
andere -, stehen. Deshalb müssen wir ihnen ein Instrumentarium an die Hand geben, mit dem sie in diesem
Spannungsverhältnis, das dort nun einmal gegeben ist,
arbeiten können.
All diese mahnenden, aber, wie ich meine, doch sehr
prononciert ausgesprochenen Hinweise werden wir jetzt
in den Beratungen zur Gesetzgebung im Ausschuss und
insbesondere auch in der Sachverständigenanhörung sowie in den Berichterstattergesprächen zu beachten haben. Wir müssen dabei den gemeinsam als richtig erkannten Mittelweg zu dem gemeinsam als richtig
erkannten Ziel finden und diesen einschlagen.
Zusammengefasst kann man sagen: Die Wahrung der
rechtsstaatlichen Rechte des Täters, die berechtigten Interessen des Opfers und die Durchsetzung des Strafanspruch des Staates müssen miteinander kompatibel
gemacht und vereinbart werden. Ich bin davon überzeugt, dass wir diesen Mittelweg mit der entsprechenden
Unterstützung der Fachöffentlichkeit in den Beratungen hier im Parlament finden und auch gehen werden.
Wenn man die beiden jetzt vorliegenden Gesetzentwürfe, die ich genannt habe - den der Union vom Mai,
und den, den wir jetzt vorgelegt haben -, nebeneinander
legt und miteinander vergleicht, dann stellt man fest,
({2})
dass die rechtspolitische Philosophie, die darin zum Tragen kommt, identisch ist und dass die einzelnen Regelungsvorschläge, die dort gemacht werden, nicht tief
greifend oder gar unüberbrückbar differieren. Wenn man
genau hinschaut, dann sieht man, dass es eigentlich nur
zwei oder drei Punkte gibt, die wirklich sehr unterschiedlich gesehen werden. Ansonsten gibt es hier eine
weitgehende Übereinstimmung. Wir haben ja auch seit
Jahren an diesem Themenbereich gearbeitet. Ich habe
bereits im Mai auf unser Eckpunktepapier - es ist
mittlerweile drei Jahre alt - hingewiesen.
Lassen Sie mich unter dem Eindruck der gestrigen
Sachverständigenanhörung - einige waren dabei - auf
einen Sachverhalt hinweisen, der mir etwas Sorge macht
und worüber wir nachdenken müssen. Uns liegen
mittlerweile insgesamt vier Gesetzentwürfe zur Änderung der Strafprozessordnung vor: das Justizmodernisierungsgesetz, das Justizbeschleunigungsgesetz und zwei
Entwürfe eines Opferrechtsreformgesetzes. In absehbarer Zeit wird als fünfter Entwurf - das habe ich Ihnen
schon angekündigt; dieser Entwurf wird noch in diesem
Herbst eingebracht - ein umfassender Gesetzentwurf zur
Änderung der Strafprozessordnung als solcher vorliegen.
Dies kann im Ergebnis Verwirrung schaffen. Deshalb
wird es unsere Aufgabe sein, diese Änderungen zusammenzuführen. Ich hoffe, dass wir diese Arbeiten gemeinsam möglichst zügig abschließen können: im Interesse
des Rechtsstaates, im Interesse des rechtsstaatlichen
Schutzes der Opfer, aber auch im Interesse der Strafverfolgung in unserem Land.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als ich zum Rednerpult
ging, bekam ich auf den Weg mit: Das alles können Sie
wohl nur noch loben.
Keiner in diesem Haus will, dass Opfer von Gewalt
und Straftaten nicht zu ihrem Recht kommen. Jeder von
uns will, dass die Belastungen von Opfern im Strafverfahren möglichst gering sind. Aber, Herr Stünker, erlauben Sie mir einen Hinweis: Es kann nicht angehen, dass
Sie sich immer wieder als opferpolitischer Bedenkenträger outen.
({0})
Man muss Opferschutz nicht nur wollen, sondern ihn
auch so umsetzen, dass er zu einem abgeschlossenen
System wird, damit man den Opfern nicht Steine statt
Brot gibt.
({1})
Die Frau Bundesjustizministerin hat auf der Homepage ihres Ministeriums am 5. November veröffentlicht:
Der Oppositionsentwurf beinhaltet kein abgeschlossenes Gesamtkonzept und greift bei einzelnen Regelungen zu kurz.
({2})
Sie haben aus unserem Entwurf - zu Recht - die Regelungen zum Hinterbliebenenanwalt übernommen.
Hier werden wir zustimmen. Das ist ein weiterer Vorteil
für die Hinterbliebenen von Tatopfern. Sie haben von
uns auch übernommen, dass Bild-Ton-Aufzeichnungen
der Vernehmungen von Tatopfern für den Beschuldigten
gesperrt werden. Sie haben unsere Idee übernommen,
dass das Adhäsionsverfahren, also das Verfahren, mit
dem Opfer in Strafverfahren Entschädigung bekommen,
reformiert werden muss. Aber Sie haben es so gemacht,
dass es nicht praktikabel ist. Sie wollen das Adhäsionsverfahren kaputtsanieren.
({3})
- Herr Kollege Stünker, auch Sie werden es vielleicht
noch verstehen. Wenn nicht, verweise ich Sie auf einen
Siegfried Kauder ({4})
wissenschaftlichen Beitrag, den ich demnächst veröffentliche.
In Ihrem Vorschlag wird der Rechtsmittelweg, den
Sie im Adhäsionsverfahren eröffnen, aufgespalten: Ein
Teil landet zum Beispiel beim Oberlandesgericht, ein anderer Teil beim Landgericht. Dabei wurde noch übersehen, dass § 305 StPO korrigiert werden muss, weil sich
sonst ein Widerspruch im Ablauf ergibt. So, wie Sie das
Adhäsionsverfahren sanieren und reformieren wollen,
wird es in der Praxis nicht gehen. Ich weiß, dass man im
Ministerium darüber nachdenkt, wie man diesen Mangel
beheben kann.
({5})
Wenn Sie schon davon sprechen, dass Ihr Entwurf ein
abgeschlossenes Gesamtkonzept sei, dann hätte ich erwartet, dass Sie sich Gedanken nicht nur zum Erwachsenenstrafverfahren machen, sondern insbesondere über
die Stellung des Opfers im Jugendstrafverfahren nachdenken. Das gehört zu einem abgeschlossenen Konzept
dazu.
({6})
Die Nebenklage im Jugendstrafverfahren ist nicht zugelassen.
({7})
Überlegen Sie sich, welche fatalen Folgen das für das
Opfer hat! Das Opfer im Jugendstrafverfahren bekommt
keinen Opferanwalt auf Staatskosten wie ein Kind als
Zeuge im Erwachsenenstrafverfahren,
({8})
sondern nur einen Zeugenbeistand. Diesen Zeugenbeistand muss das Opfer aus eigenen finanziellen Mitteln
bezahlen.
Ist es das, was Sie beim Opferschutz wollen, oder ist
es das nicht? Im Jugendstrafverfahren erhält der Zeugenbeistand nicht einmal uneingeschränkte Akteneinsicht,
weil diese nach § 406 e StPO beschränkt werden kann.
Die Nebenklage gegen Heranwachsende ist zugelassen,
({9})
das heißt: volle Opferrechte im Verfahren gegen 18- bis
21-Jährige. Aber das Adhäsionsverfahren - also die
Möglichkeit, Schmerzensgeld geltend zu machen - ist
nur dann zugelassen, wenn sich am Ende des Prozesses
herausstellt, dass man Erwachsenenstrafrecht anwendet.
Wird Jugendstrafrecht angewendet, steht das Opfer
schutzlos da.
({10})
Mit einem Problem scheinen Sie sich nicht befassen zu
wollen, weil es so schwierig ist, Herr Stünker - schwierige Probleme klammert man lieber aus, als dass man sie
löst -:
({11})
Machen Sie sich einmal Gedanken, welche Position das Opfer einer Straftat im so genannten verbundenen Verfahren
hat! Das verbundene Verfahren ist ein Strafverfahren gegen Heranwachsende, gegen Jugendliche und gegen erwachsene Straftäter. Wenn diese drei Gruppen eine
Straftat gemeinsam begangen haben, wird das Tatopfer
so behandelt, als wenn es sich um ein nicht öffentliches
Verfahren gegen einen Jugendlichen handelte. Das heißt
also, im verbundenen Strafverfahren steht das Tatopfer
schlechter da, als wenn nur ein Verfahren gegen einen
Erwachsenen durchgeführt werden würde. Das Tatopfer
ist in diesem verbundenen Verfahren völlig schutzlos;
seine Rechte werden nicht berücksichtigt.
Sie sehen also, meine Damen und Herren: Opferschutz wollen ist die eine Seite, ihn aber konsequent und
in einem geschlossenen Konzept umzusetzen ist die andere Seite. Das ist Ihnen mit Ihrem Entwurf nur insoweit
gelungen, als Sie Vorstellungen aus unserem Entwurf
übernommen haben.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard
Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der die Belange der Opfer im gesamten Strafprozessverfahren umfassend verbessert, ohne dabei berechtigte Interessen der
Angeklagten zu vernachlässigen. Die Menschen, um die
es geht, meist Frauen und Kinder, haben schlimme Gewaltverbrechen erlitten, grausamste Verletzungen an
Körper und Seele, sexualisierte Gewalt, Zwangsprostitution. An den Folgen der Taten tragen sie meist noch
Jahre später, oft sogar ein Leben lang.
Darum ist es notwendig, die Folgen einer Tat für die Opfer
verstärkt in das Blickfeld zu rücken, um das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren so zu gestalten, dass es für sie ohne
zusätzliche Verletzungen abläuft und sie die Tat nicht doppelt
erleben müssen. Für viele Opfer - insbesondere die Kinder stellt die nochmalige Konfrontation mit den Tätern im
Ermittlungsverfahren oder als Zeuge bzw. Zeugin vor
Gericht eine unzumutbare Belastung dar.
Darum wollen wir eine Vernehmung insbesondere der
kindlichen Opfer aus einem Nebenraum heraus per Videostandleitung ermöglichen. Zum Teil wird das jetzt schon
gemacht, aber wir stellen das jetzt auf eine andere
Grundlage. Darin sind wir uns auch hier im Hause einig.
Allerdings sieht unser Vorschlag vor, dass der oder
die Vorsitzende im Gerichtssaal verbleibt und nur das
Kind außerhalb des Sitzungssaales vernommen wird.
Wir ziehen dieses Verfahren dem Mainzer Modell vor,
das Sie, meine Damen und Herren von der CDU, in Ihrem Gesetzentwurf präferieren, wonach der Richter oder
die Richterin und das Opfer außerhalb des Gerichtssaals
sind. Wir glauben, dass es für die Unmittelbarkeit des
Verfahrens in der Hauptverhandlung besser ist, wenn der
Richter oder die Richterin im Saal bleibt.
Ich persönlich bin sehr froh, dass die Herausgabe von
Videobändern über die Vernehmung von Kindern an die
Täter nicht erfolgt und nur den zur Akteneinsicht Berechtigten diese Aufzeichnungen überlassen werden.
Das verhindert, dass sich Täter jederzeit an dem durch
sie verübten Leid auch noch ergötzen können.
Daneben wollen wir besonders schutzbedürftige Zeuginnen und Zeugen wie zum Beispiel Opfer von Sexualverbrechen vor Belastungen durch mehrfache Vernehmungen
zum gleichen Gegenstand bewahren. So kann künftig direkt beim Landgericht Klage erhoben werden, anstatt
wie bisher zunächst beim Amtsgericht und dann erst in
zweiter Instanz beim Landgericht. Damit ersparen wir
den Opfern die nochmalige Vernehmung in einer etwaigen zweiten Tatsacheninstanz.
Wir stärken mit diesem Gesetzentwurf - dabei sollte
auch mit der Zustimmung der Opposition zu rechnen
sein - konsequent die Rechte aller Opfer von schweren
Straftaten im gesamten Verfahren. Prostituierte zum Beispiel, die durch einen Zuhälter ausgebeutet wurden, können sich damit einem Strafverfahren gegen diesen mit
der Nebenklage anschließen. Ich glaube, das ist ein großer Erfolg. Die CDU/CSU sieht in ihrem Entwurf lediglich ein Fragerecht von Staatsanwalt und Verteidiger für
Straftaten nach § 181 StGB vor. Den Zuhälter zu stärken
und ihm mehr Rechte zu geben als seinen Opfern, den
Prostituierten - das wollen wir nicht.
({0})
Prostituierte schlechter zu behandeln als alle anderen
Opfer - das ist durch nichts zu legitimieren.
Was die körperliche Untersuchung angeht, so haben
wir geändert, dass nicht nur bei Frauen die Untersuchung von Personen gleichen Geschlechts vorgenommen wird, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen. Auch Männer können ein Schamgefühl haben, sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU.
Bei berechtigtem Interesse - ich denke dabei gerade an
kleine Jungen, die von Männern missbraucht wurden kann es auch wichtig sein, dass das Opfer das Geschlecht der untersuchenden Person selbst bestimmen
kann. Das ist Opferschutz, der sich an der Realität orientiert.
({1})
Daneben besteht das grundsätzliche Recht, sich durch
eine Person seines Vertrauens in Vernehmungen begleiten zu lassen. Außerdem - Herr Kollege Kauder, Sie haben das schon erwähnt - werden nahe Angehörige von
Getöteten künftig im Strafverfahren Anspruch auf die
kostenlose Beiordnung eines Opferanwalts - Sie nennen
ihn Hinterbliebenenanwalt - haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur wer informiert
ist, kann seine Rechte wahrnehmen und sich schützen.
Darum werden die Verletzten künftig nicht nur besser
über ihre Rechte, sondern auch über den Ablauf des
Strafverfahrens informiert, zum Beispiel über Verfahrenseinstellung, Eröffnung der Hauptverhandlung, Haft,
Unterbringung, Vollzugslockerungen und - was ich sehr
wichtig finde - die Entlassung des Täters. Dies gilt nicht
nur auf Antrag, wie Sie es vorsehen, sondern dieses
Recht besteht von vornherein.
Gerade Opfer von Gewaltverbrechen wollen wissen,
ob und wann sich ihr Peiniger auf freiem Fuß befindet.
Versetzen Sie sich doch einmal in die Situation einer vergewaltigten Frau, die sich aufgrund des verhängten
Strafmaßes sicher fühlt und den Täter in Haft vermutet,
diesen aber plötzlich in der Nähe ihrer Wohnung trifft!
Ich meine, es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass bei
ihr die Angst und das Gefühl von Unsicherheit sofort zurückkehren. Darum ist es wichtig, dass diese Opfer auch
über den Termin der Haftentlassung Bescheid wissen.
Wir wollen den Opfern schwerer Straftaten zukünftig
solche Situationen ersparen.
Ich komme zum Schluss zu einem weiteren für die Opfer wichtigen Bereich, dem Ausgleich des Schadens. In
den allermeisten Fällen wird durch die Straftat auch ein
Schaden verursacht. Gegenwärtig ist es in der Praxis die
Regel, dass über die meisten Schadensersatzansprüche
der Opfer in einem weiteren zivilrechtlichen Verfahren
entschieden wird. Damit sind für die Opfer eine weitere
Klageerhebung und wiederum Ladung und Aussagen vor
Gericht verbunden.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbessern wir
die Möglichkeiten, gleich im Strafverfahren auch Ersatz
des aus der Straftat entstandenen Schadens festsetzen zu
lassen. Durch die Möglichkeiten eines insofern erweiterten so genannten Adhäsionsverfahrens kann eine zusätzliche Klage vor einem Zivilgericht erspart werden.
In Frankreich ist das bereits üblich. Herr van Essen hat
in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der CDU/CSU
darauf hingewiesen. Ich glaube, das ist ein guter Vorschlag, der zudem sicherlich die Justiz entlasten wird.
({2})
Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung: Der
vorliegende Gesetzentwurf enthält so viele Verbesserungen zugunsten der Opfer von Straftaten, dass man mit allem Recht von einer umfassenden Reform der Opferrechte sprechen kann, Herr Kauder. Das Gesetz, das wir
jetzt auf den Weg bringen, ist dabei ein wichtiger Schritt
im Rahmen der bevorstehenden Gesamtreform der StrafIrmingard Schewe-Gerigk
prozessordnung; der Kollege Stünker hat vorhin darauf
hingewiesen.
Wir haben vereinbart, dass im Dezember eine Sachverständigenanhörung über die einzelnen Punkte, insbesondere über die Regelungen im Adhäsionsverfahren,
stattfindet. Es würde mich sehr freuen, wenn wir gerade
bei diesem Thema, in dem wir bekanntermaßen in vielen
Fragen übereinstimmen, gemeinsam zum Wohle der Opfer und zugunsten eines besseren Opferschutzes entscheiden könnten.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen,
FDP.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem wir unter dem liberalen Justizminister Edzard
Schmidt-Jortzig Ende der 90er-Jahre einige, wie ich
finde, wesentliche Fortschritte bei der Stärkung der Opferrechte erzielt haben, gab es leider eine Phase von vier
Jahren, in der kaum etwas geschehen ist. Der Täter-Opfer-Ausgleich ist in dieser Zeit nur geringfügig verbessert worden. Trotz vieler Initiativen meiner Fraktion,
aber auch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geschah
nicht wirklich etwas. Deshalb freue ich mich ganz außerordentlich, Frau Ministerin - ich finde, dass es kein
Mangel ist, wenn ein Oppositionspolitiker etwas Positives anspricht -, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf,
der unter Federführung Ihres Justizministeriums erarbeitet wurde, wieder einen ganz wesentlichen Schritt nach
vorne tun.
Die heutige Debatte zeigt, dass wir ein ganzes Stück
weiter sind. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass
die Rechte der Opfer weiter gestärkt werden müssen und
dass wir von dem wegkommen müssen, was beispielsweise die Strafrechtsdiskussion der 70er-Jahre ausschließlich bestimmt hat, nämlich die Rolle des Täters
im Strafverfahren. Natürlich müssen wir auch die Rolle
des Täters im Strafverfahren berücksichtigen. Herr
Stünker hat deutlich gemacht, dass Beschuldigtenrechte
nicht eingeschränkt werden dürften. Aber ich sage ganz
ehrlich: Wenn ich mir die verschiedenen Möglichkeiten,
die Position des Opfers zu stärken, anschaue, dann stelle
ich fest, dass es nur ganz wenige Punkte gibt, in denen
überhaupt die Gefahr besteht, dass Beschuldigtenrechte
eingeschränkt werden. Die Stärkung der Opferrechte bedeutet nicht gleichzeitig die Einschränkung von Beschuldigtenrechten. Die Rechte der beiden Gruppen sollten wir nicht gegenüberstellen.
({0})
Selbstverständlich will niemand Beschuldigtenrechte
einschränken, die notwendig sind. Aber wir wollen die
Stärkung der Opferrechte.
Frau Schewe-Gerigk hat einen Aspekt angesprochen,
der auch für mich im Mittelpunkt steht: das Adhäsionsverfahren. Frankreich ist ja nur ein Beispiel dafür, dass
das in unseren Nachbarländern ganz selbstverständlich
funktioniert. Die deutsche Justiz - ich selbst komme ja
aus diesem Bereich - will es aber einfach nicht annehmen. Deshalb werden wir Druck machen müssen, Frau
Ministerin, dass dieses Verfahren auch in deutschen Gerichtssälen Praxis wird.
Ein weiterer Punkt, bei dem ich Sorge habe, dass er
längst nicht so angenommen worden ist, wie wir uns das
wünschen, ist die Videovernehmung. Die Videovernehmung und der Gebrauch von aufgezeichneten Vernehmungen können natürlich dazu führen, dass das Opfer
nicht noch einmal aussagen muss. Eine einmal auf Video
festgehaltene Vernehmung dient dann allen weiteren
Vernehmungen als Grundlage. Das ist gerade bei Kindern eine ganz erhebliche Hilfe; denn sie können nach
einer einmaligen Vernehmung vergessen und werden
nicht mehr durch ständige Vernehmungen an schlimme
Taten erinnert. Auch hier werden wir Druck auf die Justiz ausüben müssen, im Interesse der Opfer öfter davon
Gebrauch zu machen.
Ich weiß, dass über ein paar Punkte noch einmal diskutiert werden muss. Dazu gehören für mich in erster Linie - das möchte ich auch deutlich machen - die Fragen
betreffend das Jugendrecht. Ich wiederhole das, was ich
bereits während der ersten Lesung des CDU/CSU-Gesetzentwurfes gesagt habe und worauf der Kollege
Kauder vorhin aufmerksam gemacht hat: Ich halte es
nicht für einen Widerspruch zu dem pädagogischen Ansatz des Jugendrechts, dass sich der bzw. die jugendliche
Beschuldigte mit dem Opfer auseinander setzen muss
und auch damit, dass das Opfer gegebenenfalls eigene
Rechte geltend macht.
({1})
In diesem Punkt halte ich den vorliegenden Gesetzentwurf für dringend nachbesserungsbedürftig. Auch Jugendliche müssen mit dem Opfer und dessen Rechten
konfrontiert werden.
Ich vermisse sehr - darauf habe ich mehrfach hingewiesen; ich würde mich freuen, wenn hier eine Nachbesserung möglich ist - eine Regelung im Opferentschädigungsgesetz, wonach die psychologische Betreuung der
Opfer staatlich getragen wird. Wer die Nach- und Auswirkungen insbesondere eines Mordes an einem Kind in
einer Familie kennt, weiß, dass die betroffene Familie
lange darunter leidet und dass sie deshalb dringend der
Betreuung bedarf. Eine entsprechende Regelung müssen
wir in das Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Die
Opferschutzverbände wie der Weiße Ring weisen uns
darauf ständig und nachdrücklich hin.
Ich denke, da muss in den Beratungen nachgebessert
werden.
({2})
Ich wiederhole im Namen der Fraktion der FDP: Wir
halten das Ganze für eine gute Beratungsgrundlage. Wir
alle sollten uns einbringen, um Folgendes zu erreichen:
Die Opfer sollen im Strafverfahren nicht das Gefühl haben, noch einmal Opfer zu sein.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Daniela Raab.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist gerade einmal ein halbes Jahr vergangen, seitdem die Unionsfraktion im April den Entwurf eines zweiten Opferschutzgesetzes hier eingebracht
hat und schon liegt prompt - so möchte man meinen ein fast gleich lautender Entwurf der Regierungsfraktionen vor. Man freut sich natürlich über so viel Einsicht
- das ist ungewöhnlich - von Ihrer Seite.
({0})
- Sie brauchen mich nicht schon jetzt zu unterbrechen. Man liest dieses Werk, freut sich und stellt erstaunt fest:
Es wurde abgeschrieben, und das auch noch schlecht.
({1})
Der von der CDU/CSU-Fraktion im April vorgelegte Gesetzentwurf und der Entwurf des Bundesrates aus dem
Jahr 2000 haben eigentlich schon frühzeitig den richtigen
Weg aufgezeigt. Dies gilt im Übrigen für so vieles, das
von uns im Bereich Opferschutz schon früher umgesetzt
wurde. Anstatt jetzt aus unserem Entwurf abzuschreiben,
hätten Sie damals gleich zustimmen können.
({2})
Warum haben Sie sich überhaupt noch die Mühe gemacht, aus unserem praxisnahen und vor allem opferorientierten Entwurf ein solches Stückwerk zu machen?
({3})
Ich habe noch immer die Hoffnung, dass Sie sich spätestens bei der für Dezember geplanten Expertenanhörung
davon überzeugen lassen, dass Sie auch noch die letzten
Punkte aus unserem Entwurf in Ihren übernehmen oder
Ihre Fehler korrigieren.
Zum Adhäsionsverfahren ist schon vieles gesagt
worden. Auch in diesem Punkt war unser Entwurf weitreichender und besser;
({4})
aber auch dieser Punkt ist Ihrer halbherzigen Abkupferung zum Opfer gefallen.
({5})
Ich möchte jedoch nicht nur über das sprechen, was
Sie schlecht abgeschrieben haben,
({6})
sondern auch über das, was Sie - aus welchem Grund
auch immer - gar nicht übernommen haben.
({7})
- Vielen Dank.
({8})
- Das macht ja nichts, Herr Stünker. Wir wissen schon,
dass Sie sich schnell aufregen.
Herr Kollege Stünker, bitte!
({0})
Nach Ihrem Entwurf können weiterhin Kopien von
Bild- und Tonaufzeichnungen einer Opfervernehmung
an den Verteidiger herausgegeben werden. Unser Entwurf sah ganz klar die notwendige Zustimmung des Opfers vor; denn in dessen Persönlichkeitsrecht wird damit
nun einmal massiv eingegriffen. Die von Ihnen hier vorgeschlagene Formulierung des § 58 a StPO ist in meinen
Augen unklar und beseitigt in keiner Weise die noch immer vorhandenen Missstände. Lesen Sie also besser noch
einmal in unserem Entwurf nach! Dann wird es besser!
Wir haben außerdem vorgeschlagen - auch Kollegin
Noll wird darauf eingehen -, dass kindliche Opferzeugen in einem Prozess vom Vorsitzenden in einem separaten Raum vernommen werden können. Das halten wir
für sehr wichtig; denn erste praktische Erfahrungen mit
dem Zeugenschutzgesetz aus dem Jahre 1998 zeigen
uns, dass bei der noch immer gängigen Vernehmungspraxis insbesondere den Belangen kindlicher Opferzeugen nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Auch
hier gilt: Unser Entwurf beseitigt Lücken, Ihrer nicht.
Sie hätten bei Ihren eigenen Ideen durchaus darauf
verzichten können, die Normierung eines Rechts- und
Kooperationsgesprächs zwischen allen Verfahrensbeteiligten - zum Beispiel im Ermittlungsverfahren - vorzunehmen. Es erscheint beinahe grotesk, die vollkommen unterschiedlichen Interessen quasi an einem runden
Tisch schon zu solch einem frühen Zeitpunkt zusammenführen zu wollen. Wozu soll das führen?
Der Täter möchte immer im besten Licht erscheinen,
um eine für ihn günstige Entscheidung herbeizuführen.
Sein Verteidiger wird ihn dabei unterstützen. Staatsanwaltschaft und Gericht sollen die objektive Wahrheit herausfinden und ein materiell richtiges Urteil fällen. Das
Opfer erwartet in erster Linie Gerechtigkeit und Genugtuung. In meinen Augen sind das Interessen, die sich
kaum zusammenführen lassen. Wieso führt man dann
solch eine Sollvorschrift ein? Sie ist in meinen Augen
überflüssig. Es ist in der Praxis gängig, dass solche Gespräche - zum Beispiel über die Reduzierung des Verfahrensstoffes - geführt werden. Auch diese Vorschrift
ist im Prinzip unnötig.
Auch wenn es Herrn Stünker wieder ärgert: Abschreiben ist zwar schön und gut; aber es fällt früher oder späDaniela Raab
ter auf. Es ist uns jetzt aufgefallen. Sie haben noch versucht, Ihren Entwurf durch das Einbringen eigener Ideen
von unserem unterscheidbar zu machen. Der Versuch ist
Ihnen, wenn Sie so wollen, gelungen; denn die Unterschiede sind praxisfern, irrelevant und schlicht unbrauchbar.
Zuletzt möchte ich Ihnen aber doch noch ein Lob aussprechen - Sie werden sich wundern -: Sie halten es in
diesem Fall wie die Schüler. Sie schreiben von den Besseren ab.
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus gegebenem Anlass möchte ich jetzt doch einmal sagen, dass ich insbesondere bei jungen weiblichen Abgeordneten den Zwischenruf „Wer hat Ihnen denn die Rede aufgeschrieben?“
etwas chauvinistisch finde.
({0})
Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Brigitte
Zypries.
({1})
Ich kann Ihnen sagen, wer mir das aufgeschrieben
hat, wenn Sie es wissen möchten.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
jetzt schon mehrfach betont worden, dass wir mit diesem
Gesetz die Position der Opfer im Strafprozess eindeutig verbessern. Bei allem Streit, der noch zu Einzelheiten
besteht, sollten wir uns in dieser Gesamteinschätzung einig sein und versuchen, den Streit ein bisschen tiefer zu
hängen; denn Gegenstand des Entwurfs und Gegenstand
der Aussprache sind Menschen und die Rechte der Menschen, die Opfer von Straftaten geworden sind und die
im Strafprozess als Opfer einem Beschuldigten, einem
Angeklagten gegenüberstehen. Es sind Menschen, denen
Leid an Körper, an Seele oder Besitz zugefügt wurde.
Sie können erwarten, dass sich der Staat ihrer mit Würde
und Respekt annimmt.
({1})
Deswegen meine Bitte: Lassen Sie uns trotz aller noch
bestehenden Unterschiede eine angemessene, sachliche
Debatte führen und uns bemühen, die Profilierung hintanzustellen.
Der Weiße Ring hat in seiner letzten Presseerklärung
so schön formuliert:
Der Weiße Ring fordert nach der Kabinettsentscheidung für eine nachdrückliche Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren die zügige und konsequente
Umsetzung der lange überfälligen Reformen. „Das
Thema Opferschutz ist weder regional aufteilbar,
noch darf es parteipolitischem Kalkül ausgesetzt
werden“ …
Dem kann ich mich nur anschließen.
({2})
Es geht um vier wesentliche Punkte, die hier schon
genannt worden sind:
Erstens. Die Belastungen der Verletzten sollen verringert werden, das heißt, Mehrfachvernehmungen sollen
vermieden werden. In dem Entwurf der CDU/CSU ist
eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes dahin
gehend, dass gleich Anklage beim Landgericht erhoben
werden kann, nicht vorgesehen. Wir glauben aber, dass
es in bestimmten Fällen ein erheblicher Opferschutz sein
kann, wenn wir nur eine einmalige Vernehmung vorsehen. Mit der Revision zum Bundesgerichtshof bleibt
auch dann ein Rechtsmittel erhalten. Damit tun wir einen
entscheidenden Schritt. So erreichen wir, dass die nochmalige Vernehmung von Opfern vermieden wird.
({3})
Auch in den Fällen, die ihren Ausgang beim Amtsgericht nehmen, werden wir zu einer Reduzierung der Zahl
der Vernehmungen kommen. Die Ergebnisse sollen nicht
mehr wie bisher nur schriftlich protokolliert werden,
sondern wir wollen eine Aufzeichnung auf Tonträger
insgesamt, sodass das Ganze auch wieder abgehört werden kann.
Zum Streitpunkt „Mainzer Modell, ja oder nein?“.
Ich habe schon in der Befragung der Bundesregierung
gesagt, dass das 1998 ausdrücklich und sehr umfänglich
diskutiert worden ist. Es gab damals gute Gründe, das
Modell nicht einzuführen. Diese Gründe bestehen meines Erachtens fort. Insofern gibt es eben ein Dilemma.
Auf der einen Seite ist die vertrautere Verhandlungsposition, die Sie auch hervorheben - der Richter sitzt mit
dem Kind in einem Raum und kann anders auf das Kind
eingehen, wobei ich in Klammern hinzufüge: so er das
kann; das muss nicht immer so sein -, und auf der anderen Seite gibt es die rechtsstaatlichen Bedenken, dass
nämlich der Vorsitzende die Verhandlung nicht richtig
leiten kann, weil er nicht mehr im Saal ist. Es stellt sich
die Frage, ob man dem Anspruch der Strafprozessordnung, dass das Gericht aus der Hauptverhandlung heraus
urteilen muss, überhaupt noch gerecht werden kann. Das
waren die rechtsstaatlichen Bedenken, die seinerzeit gegen das Mainzer Modell sprachen.
Wir wollen jetzt etwas anderes einführen. Mir scheint
es so zu sein, dass die Länder damit einverstanden sind.
Zumindest haben wir von keinem Bundesland die Rückmeldung bekommen, dass es statt unseres Vorschlags
lieber das Mainzer Modell will. Es spricht also doch einiges dafür, dass die Länder das inzwischen als richtig
erkannt haben.
Der zweite Punkt ist die Stärkung der Verfahrensrechte von Verletzten. Der Opferanwalt ist erwähnt worden. Frau Schewe-Gerigk hat auch schon darauf hingewiesen, dass wir die Nebenklagemöglichkeiten für
Frauen, die zum Beispiel Opfer von Prostitution oder
Zuhälterei geworden sind, erweitern werden. Das ist,
wie ich glaube, ebenso wichtig wie die Erweiterung der
Rechte ausländischer Opfer. Dies soll dadurch geschehen, dass nebenklageberechtigte Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, Anspruch darauf haben, unentgeltlich einen Dolmetscher zu erhalten, und
zwar nicht nur auf Nachfrage.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Möglichkeit, eine
Person des Vertrauens in das Verfahren einzuführen,
die auch schon bei den Ermittlungsgesprächen als Stütze
dabei sein darf. Das kann jemand aus der Familie sein,
jemand Befreundetes oder eine Person, die psychologische Beratung wahrnimmt. Da muss dann jede und jeder
für sich selber entscheiden, wer es sein wird. Das stellt
eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen
Rechtslage dar. Im Moment ist es ja so, dass derjenige,
der die Vernehmung leitet, darüber entscheidet und nicht
das Opfer selbst. Diesen Grundsatz drehen wir also um.
({4})
Drittens werden wir die Möglichkeiten des Adhäsionsverfahrens verbessern. Damit wollen wir den Verletzten den zusätzlichen Gang vor das Zivilgericht ersparen. Auch das ist schon mehrfach erwähnt worden.
Entgegen der bisherigen Praxis sehen wir eine Art Umkehrung vor, die übrigens in Ihrem Entwurf fehlt. Vielleicht lesen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, das noch einmal nach. Unser Ziel ist es,
die bisherigen Entscheidungsformen über den zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch hinaus zu erweitern. Wir
wollen noch ein Anerkenntnisurteil einführen und auch
einen vollstreckbaren Vergleich über die Ansprüche des
Verletzten aus der Straftat ermöglichen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kauder?
Ja, in der Hoffnung, dass ich sie beantworten kann.
Falls wieder streitige Absätze zitiert werden, kann ich
das nicht garantieren.
Frau Justizministerin, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass wir eine Entscheidung des Gerichts über
die Zulassung des Adhäsionsverfahrens nicht brauchen,
weil wir bei besonders schweren Straftaten eine besondere Verletztheit des Opfers unterstellen und unser Entwurf in diesen Fällen das Adhäsionsverfahren zwingend
vorsieht?
Ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass wir deshalb das Problem bezüglich des Rechtsmittelweges, das
Sie in Ihrem Entwurf nicht gelöst haben, nicht haben. Ich
habe inzwischen selbst Überlegungen angestellt. Es ist
außerordentlich schwer, den Rechtsmittelweg in den
Griff zu bekommen.
({0})
- Ich kann Sie, Herr Kollege Stünker, beruhigen: Wenn
Sie sich vertrauensvoll an mich wenden, werde ich Ihnen
die Lösung des Problems nennen.
({1})
Herr Kauder, ich halte es für sehr schwierig, dem Opfer - und damit dem zivilrechtlich Geschädigten - eine
bestimmte Verfahrensart aufzuzwingen.
({0})
- Das ist das, was Sie vorsehen; das haben Sie eben referiert. Sie haben gesagt, in bestimmten Fällen muss das
Adhäsionsverfahren durchgeführt werden. Das heißt
nichts anderes, als dass das - ({1})
- Jetzt kann ich auch noch einmal ausreden.
({2})
Das Wort hat jetzt die Justizministerin.
Okay, auf Antrag muss es durchgeführt werden. Deswegen brauchen Sie keine Rechtsmittel. Das ist eine
Möglichkeit, die man erwägen kann.
Wir meinen, dass das Rechtsmittelproblem lösbar ist,
wenngleich ich Ihnen zugestehe, dass wir daran noch arbeiten müssen. Wir haben aber inzwischen vom Deutschen Richterbund die Stellungnahme erhalten, dass er
mit diesem Vorgehen sehr einverstanden ist und es für einen richtigen Weg hält, um das Adhäsionsverfahren besser handhabbar werden und häufiger zur Anwendung
kommen zu lassen. Das fehlt uns ja im Moment. Wir können in der Anhörung gerne darüber diskutieren, ob wir
mit Ihrem Vorschlag weiterkommen oder ob wir es schaffen, die Rechtsmittelfrage so zu regeln, dass der von Ihnen zitierte doppelte Gang zum Gericht nicht erfolgt.
Als vierten Punkt würde ich gerne noch die Information der Opfer über ihre Rechte im Strafverfahren und
über den Ablauf desselben erwähnen. Wir wollen künfBundesministerin Brigitte Zypries
tig informieren über die Einstellung eines Verfahrens,
über die Entscheidung der Eröffnung einer Hauptverhandlung, den Sachstand des Verfahrens und auch über
die Folgeentscheidungen, das heißt: Wann rückt der
dann Verurteilte in Haft ein? Gibt es Vollzugslockerung?
Wann wird er entlassen? Das ist ein Punkt, der übrigens
auch in Ihrem Gesetzentwurf fehlt, wenn ich das nicht
übersehen haben sollte.
Aufgrund der Punkte, die ich jetzt genannt habe,
meine ich, Herr Kauder, dass man nicht mit einer so pauschalen Kritik sagen kann, dass unser Entwurf nicht umfassender sei als Ihrer.
({0})
Ich glaube, es ist schon richtig, wenn wir sagen, dass wir
einige Punkte mehr geregelt haben.
({1})
- Zum Jugendstrafrecht kommt gleich noch etwas.
Wir halten die Informationspflicht für wichtig, weil es
für die Opfer eine furchtbare Situation sein kann, wenn
sie unvorbereitet auf der Straße ihrem früheren Peiniger
entgegentreten müssen. Diese Situation wollen wir künftig gerne vermeiden.
Wir verbessern also insgesamt die Lage der Opfer.
Dabei wahren wir - wie Herr Stünker richtig gesagt hat die Verfahrensrechte der Angeklagten und den Charakter
des Strafverfahrens; denn im Vordergrund steht - auch
darauf hat Herr Stünker hingewiesen -, den Strafanspruch des Staates durchzusetzen. Auch aus diesem
Grund kann dem Opfer durch das Strafverfahren nicht
unbedingt geholfen werden, wenngleich es für manche
Opfer sicherlich auch zur Verarbeitung der Straftat gehört, den Strafprozess mit zu durchleben.
Ich möchte noch auf einige Punkte außerhalb der Gesetzgebung eingehen, die für die Opfer wichtig sind. Das
ist zum Beispiel die Betreuung von Zeugen vor und
während eines Strafprozesses. Während dieser Zeit sind
persönliche Ansprache und Zuwendung ganz besonders
wichtig. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Opfer von sexueller Gewalt sowie für kindliche und jugendliche Opferzeugen. Diese verdienstvolle Arbeit wird in
Deutschland durch Zeugenbetreuungsstellen und Einrichtungen der Opferhilfe in privater und öffentlicher
Trägerschaft geleistet. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, all denen, die mit viel Engagement und Idealismus
und sehr oft ehrenamtlich daran beteiligt sind, für ihren
Einsatz ganz herzlich zu danken und ihnen unsere Anerkennung auszusprechen.
({2})
Danken möchte ich auch den Ländern, die mit finanziellem und organisatorischem Einsatz bei der Einrichtung oder Förderung von Zeugenberatungsstellen sehr
viel geleistet haben. Ich ermutige sie, trotz der knappen
öffentlichen Haushalte in ihren Bemühungen nicht nachzulassen.
Wir haben, um Opfer zu informieren, eine Opferfibel
herausgegeben, bundesweit verfügbar und jetzt bereits in
zweiter Auflage erschienen. Sie ist auch über das Internet abrufbar. Die Nachfrage nach dieser Opferfibel war
sehr groß. Aufgrund der guten Erfahrungen möchte ich
nun eine spezifische Opferfibel für kindliche Opfer erarbeiten lassen, die sich damit auseinander setzt: Wie kann
man Kindern Strafverfahren näher bringen? Wie kann
man ihnen erklären, was dabei auf sie zukommt und worauf sie sich einstellen müssen? Welche Rechte haben sie
in diesem Verfahren? Viele kindliche Opferzeugen haben schließlich Hemmungen, über das Erlebte zu sprechen; sie wissen nicht genau, was sie erwartet.
Dieses Projekt haben wir in Angriff genommen. Bei
der Justizministerkonferenz letzte Woche habe ich die
Länder eingeladen, sich daran zu beteiligen - nicht finanziell, sondern an der Erarbeitung der Texte.
({3})
Meine Damen und Herren, ich bin sicher, dass wir
mithilfe der Sachverständigenanhörung, die für den
10. Dezember anberaumt ist, einige der noch offenen
Punkte klären können. Dann werden wir auch darüber zu
diskutieren haben, ob und in welcher Form es einer Nebenklage im Jugendstrafprozess bedarf. Dazu habe ich,
ehrlich gesagt, in Ihrem Gesetzentwurf nichts gefunden.
Vielleicht habe ich es ja übersehen.
({4})
- Ich habe es als Vorwurf empfunden, dass wir Ihre
Texte nicht übernommen hätten. Aber wenn dieser
Aspekt in Ihrem Text gar nicht steht, kann ich auch nicht
darauf eingehen.
({5})
Wir können gerne darüber diskutieren. Bei den spezifischen Fällen, die Sie, Herr Kauder, genannt haben,
müsste man im Zweifel immer Rücksicht auf das
schwächste Glied und damit auf den jugendlichen Angeklagten nehmen. Bei der Dreierkombination, die Sie dargestellt haben, sehe ich, ehrlich gesagt, kein Problem; da
kann ich Ihre Worte auch nicht als Kritik anerkennen.
Ob das generell erforderlich und möglich ist, darüber
sollten wir diskutieren. Sie wissen, dass es in der Wissenschaft gewichtige Stimmen gibt, die das aus dem
Grundgedanken des Erziehungsanspruchs im Jugendstrafrecht nicht für richtig halten. Von daher werden wir
die Sachverständigen brauchen, um in dieses kontrovers
debattierte Themenfeld etwas Licht zu bringen. Das wird
uns gelingen. Ich kann Ihnen versichern, dass es wie bei
allen anderen Gesetzesvorhaben ist: Wir haben ein Interesse an sachgerechten Lösungen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Koalition wird von der
CDU/CSU-Fraktion sowohl mit Erleichterung als auch
mit Enttäuschung aufgenommen. Die Erleichterung folgt
aus der Tatsache, dass eine jahrelange Verweigerungshaltung von SPD und Grünen auf dem Gebiet des Opferschutzes nunmehr beendet ist.
Die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes, über
das wir heute debattieren, ist über vier Jahre alt; sie hat
1999 begonnen. Sie haben die gesamte vergangene Legislaturperiode vertan, was zur Folge hatte, dass dieser
Gesetzentwurf dem Prinzip der Diskontinuität zum Opfer gefallen ist. Auf dem Gebiet des Opferschutzes saßen
Sie vier Jahre lang im Bremserhäuschen. Auch darüber
muss heute geredet werden.
({0})
Es muss nicht deswegen darüber geredet werden, weil
wir das Bedürfnis haben, Recht zu bekommen, sondern
deswegen, weil in den vergangenen vier Jahren die Opfer nicht in den Genuss der Rechte und Möglichkeiten
gekommen sind, die wir heute fast übereinstimmend für
notwendig halten. Die Opfer sind die Verlierer Ihrer Untätigkeit, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
({1})
Das muss heute einmal gesagt werden.
({2})
- In den 16 Jahren davor - ich habe das in der letzten
Debatte zu diesem Thema gesagt; Herr Kollege van
Essen hat es heute angesprochen - ist sehr viel auf dem
Gebiet des Opferschutzes geschehen.
({3})
1994 wurde das Opferschutzgesetz verabschiedet und
1998 gab es die Regelungen zum Zeugenschutz. Lesen
Sie es nach! CDU/CSU und FDP waren immer die führenden Fraktionen auf dem Gebiet des Opferschutzes.
({4})
Bis auf Kleinigkeiten haben Sie bislang nichts getan.
Das ist die reine Wahrheit.
({5})
Opferschutz ist immer eines unserer Hauptthemen gewesen. Wir freuen uns wirklich, dass Sie dieses Thema
entdeckt haben. Bei aller Freude muss ich dennoch sagen, dass auch Enttäuschung mitschwingt.
Es ist schon angesprochen worden: Seit über einem
halben Jahr liegt ein umfassender Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Fraktion vor. Diesen Gesetzentwurf, den
wir nie der Diskussion entziehen wollten, haben wir
nicht erarbeitet. Er stammt aus dem Bundesrat, initiiert
von der sozialdemokratischen Justizsenatorin PeschelGutzeit. Daran schloss sich eine breite Debatte im Bundesrat an. Die Frage ist, warum Sie so lange gebraucht
haben, sich dieser breiten Koalition für mehr Opferschutz anzuschließen.
Sie regen sich gelegentlich auf, wenn wir Sie kritisieren. Ich will deshalb die Regierung zu Wort kommen
lassen. Angesichts dieser Äußerung ist es völlig unverständlich, warum so lange nichts passiert ist. Ich zitiere
Frau Zypries aus der Regierungsbefragung vom
5. November 2003:
Es liegt zum Beispiel ein Entwurf der CDU/CSUFraktion vor, dessen wesentliche Punkte sich in unserem Gesetzentwurf wiederfinden …
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stünker?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Herr Kollege Dr. Röttgen, da ich mich sehr erregt
habe, als es vorhin um das Thema Abschreiben ging
- die Frau Präsidentin hat mich wegen meiner Reaktion
gerügt; aber das ist ein anderes Thema -, möchte ich Sie
fragen: Stimmen Sie mir zu, dass Grundlage Ihres Gesetzentwurfs, den wir im Mai diskutiert haben, der Gesetzentwurf der Freien und Hansestadt Hamburg gewesen ist, der in der 14. Legislaturperiode eingebracht
worden ist? Sie haben also diesen Entwurf nur übernommen.
Ich freue mich sehr über diese Frage und möchte darauf in zweierlei Hinsicht antworten.
Erstens. Ich habe vorhin ausdrücklich erklärt, dass
wir für unseren Gesetzentwurf kein Urheberrecht in Anspruch nehmen. Auch bei der Einbringung im Mai habe
ich darauf hingewiesen, dass unser Beitrag in Bezug auf
diesen Gesetzentwurf darin liegt, dass wir ihn sozusagen
aus der Diskontinuitätsfalle herausgeholt haben und ihn
wieder eingebracht haben.
({0})
Ich habe ausdrücklich gesagt, das Positive an diesem
Gesetzentwurf ist, dass er von einer breiten Koalition getragen wird. Sozialdemokratisch regierte Länder haben
ihn unterstützt. Ich habe in diesem Zusammenhang Frau
Peschel-Gutzeit erwähnt, die nicht Mitglied unserer Partei ist.
({1})
- Zum Thema Abschreiben komme ich noch. - Ich habe
ferner gesagt, dass darin die Chance liegt, einen Konsens
zu finden.
({2})
- Ich bin mit der Beantwortung Ihrer Frage noch nicht
fertig. Ich darf Sie also bitten, stehen zu bleiben. - Ich
komme gleich darauf zu sprechen, wie Sie auf dieses
Angebot reagiert haben.
Zweitens. Sie haben der Kollegin Raab in Ihrer Erregung - das habe ich nicht anders erwartet - nicht richtig
zugehört. Denn der primäre Vorwurf der Kollegin Raab
an Sie war nicht, dass Sie unsere Vorschläge übernommen
haben, dass Sie abgeschrieben haben. Unsere Vorschläge
werden dadurch nicht falsch, dass Sie sie übernehmen.
Der Vorwurf ist, dass Sie schlecht abgeschrieben haben,
meine Damen und Herren. Sie haben eine schlechte Kopie erstellt.
({3})
Das ist unser Vorwurf, den wir Ihnen machen, und das ist
auch das Enttäuschende.
({4})
- Doch, Sie schaffen es immer wieder, schlecht abzuschreiben. An sich ist das relativ schwer, da gebe ich Ihnen Recht, Herr Kollege.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Röttgen, würden Sie mir bestätigen,
dass ich bereits im Mai hier vorgetragen und darauf hingewiesen habe - Sie können das im Protokoll der Sitzung nachlesen; mich erbost der Vorwurf des Abschreibens, weil er in der Tat einfach falsch ist -, dass alle
Punkte, die jetzt in Ihrem Entwurf stehen, auch Gegenstand des Eckpunktepapiers sind, das Rot-Grün in der
14. Legislaturperiode vorgelegt hat?
({0})
Können Sie das bestätigen?
Ich werde jetzt nicht wieder durch die Beantwortung
Ihrer Frage Redezeit in Anspruch nehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich Sie aus der Debatte
am 8. Mai gleich zu Wort kommen lassen. Ich werde die
Kritik vortragen, die Sie damals an unserem Entwurf geübt haben, von dem Sie jetzt behaupten, er sei im Wesentlichen identisch mit Ihrem heutigen Entwurf. Ich
werde zitieren, wie Sie ihn damals kritisiert haben; denn
das ist die Kritik, die Sie eigentlich an dem Entwurf der
Bundesministerin üben.
Ich betone es noch einmal. Die Bundesministerin
sagt, wesentliche Punkte seien identisch. Mit welchen
Gründen haben Sie, obwohl die Gesetzentwürfe in wesentlichen Punkten identisch sind, unseren Entwurf damals zurückgewiesen? Von den Gründen haben Sie sich
heute nicht distanziert, sondern Sie haben sie gerade sogar wieder vorgetragen.
Darum will ich jetzt einmal Stünker zitieren. Der
Adressat ist allerdings heute nicht mehr Röttgen, sondern Zypries, weil das Gesetz im Wesentlichen gleich
ist. Es geht auch um den Einwand an der Methode, denn
Sie haben ja nicht nur den Inhalt, sondern auch die Methode kritisiert. Sie haben nämlich gesagt, man könne
das Ganze nicht punktuell machen. Jetzt zitiere ich
Stünker aus der Debatte:
… denn eine Strafprozessordnung können Sie nicht
stückweise ändern,
- wie Zypries es jetzt macht sonst passt nachher nichts mehr zusammen … wir
werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine
umfassende Novellierung der Strafprozessordnung … vorlegen.
Meine Damen und Herren, ich frage: Wo ist die umfassende Novellierung der Strafprozessordnung? Die haben Sie nicht vorgelegt. Sie haben sie angekündigt und
haben es wieder nicht geschafft.
({0})
Ich zitiere weiter Stünker.
({1})
- Ich zitiere gleich auch Sie, Kollege Montag. Stellen
Sie sich schon einmal darauf ein. - Jetzt zitiere ich aber
Stünker und richte das damit an Frau Zypries:
Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis
Steine statt Brot. Das ist blinder Aktionismus,
Rechtspolitik, die nicht durchdacht ist und nur tagespolitisch opportun erscheint …
Das ist die Kritik, die Sie im Mai 2003 an einem Gegenstand geübt haben, der zu 80 Prozent identisch ist mit
dem, was Sie jetzt selber einbringen, meine Damen und
Herren. Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem in
dieser Frage.
({2})
Auch der Kollege Montag hat Ihnen zugestimmt. Ich
zitiere auch ihn:
Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so gemacht werden, wie der Kollege Stünker es skizziert
hat. Diesen Gesetzentwurf
- der im Wesentlichen identisch ist 6474
werden wir mit Ihnen sicherlich nicht weiterverfolgen.
Herr Montag, jetzt sind Sie doch bei der Verfolgung dabei.
Sie haben ein massives Erklärungsproblem im Hinblick auf die Aussagen, die Sie noch vor einem halben
Jahr gemacht haben. Das ist das, was ich kritisiere. Der
Ton in der heutigen Debatte, den alle Koalitionsredner
angeschlagen haben - sensibel, sachlich, die Opfer betonend -, steht in einem völligen Gegensatz zu dem Ton,
den Sie in der Debatte angeschlagen haben, in der wir
unseren Gesetzentwurf vorgelegt haben. Das ist Ihr Problem, das haben Sie zu verantworten.
({3})
- Ich bin nicht beleidigt. - Hier geht es um die Art und
Weise, wie Rechtspolitik gemacht wird. Das ist meine
letzte Bemerkung, mit der ich Kritik üben möchte. Es
geht um die Art und Weise, wie Sie Rechtspolitik machen, und die müssen Sie ändern.
Es immer das gleiche rot-grüne Muster:
Erstens. Die CDU/CSU macht einen Vorstoß. In diesem Fall waren Sie völlig unvorbereitet.
Zweitens. Bei besonders guten Initiativen sehen Sie
sich veranlasst, besonders heftig zurückzuweisen, und
zwar nicht mit Argumenten, sondern mit der Ankündigung eines großes Vorhabens.
Dritte Stufe: Sie arbeiten an diesem großen Vorhaben
- das nehme ich Ihnen ab - und Sie scheitern daran. Sie
haben es doch in Wahrheit wieder nicht geschafft, eine
umfassende Novellierung zu erreichen. Sie haben daran
gearbeitet, aber Rot und Grün waren sich wieder nicht
einig.
Viertens. Es kommt am Ende die schlechte Kopie der
CDU/CSU-Entwürfe.
({4})
Meine Damen und Herren, hören Sie auf, so Rechtspolitik zu machen. Nehmen Sie nicht immer nur
schlechte Kopien, nehmen Sie die besseren Originale der
CDU/CSU, wir werden Sie da weiterhin antreiben. Dann
wird bei Ihrer Rechtspolitik am Ende wenigstens noch
ein bisschen herauskommen. Sie selber kriegen ja nichts
hin.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Opferschutz ist eine Thematik, die uns allen wirklich am
Herzen liegt. In diesem Punkt besteht, glaube ich, Konsens in diesem Haus.
Nur, der entscheidende Anstoß zur Verbesserung der
Rechte von Verletzten im Strafverfahren - da können Sie
sich drehen und wenden, wie Sie wollen - ist von uns gekommen. Dankenswerterweise haben Sie das selber - Frau
Ministerin, jetzt muss ich Sie ansprechen - in der Regierungsbefragung der letzten Woche eingeräumt. Sie haben nämlich wörtlich gesagt - das hat gerade auch mein
lieber Kollege Röttgen betont -:
({0})
Es liegt … ein Entwurf der CDU/CSU-Fraktion
vor, dessen wesentliche Punkte sich in unserem Gesetzentwurf wiederfinden …
Da muss ich Sie fragen: Sie haben sechs Monate dafür gebraucht, um einen ähnlichen Entwurf vorzulegen?
Aber ich sage immer: Nicht die Hoffnung aufgeben, besser spät als nie! Leider sind Sie auch in diesem Entwurf
in wesentlichen Punkten hinter unseren Forderungen zurückgeblieben; vieles davon haben meine Kollegen bereits erwähnt.
Liebe Frau Ministerin, ich lasse nicht locker, wenn es
um das Mainzer Modell geht. Ich glaube, niemand in
diesem Hohen Hause wird in Abrede stellen, dass die
Durchführung eines Strafverfahrens für jedes Opfer eine
große Belastung ist. Bei erwachsenen Zeugen ist es hinnehmbar - da stimme ich zu -, dass der Vorsitzende im
Gerichtsaal bleibt und die Vernehmung des Zeugen gegebenenfalls über Videotechnik erfolgt.
Aber etwas anderes muss gelten, wenn es sich um
kindliche Opferzeugen handelt. Ich möchte erneut - deswegen stehe ich heute wieder an dieser Stelle - für diese
Personengruppe das Wort ergreifen; denn dort hat der
Staat eine besondere Schutzpflicht. Meine Forderung
lautet: das so genannte Mainzer Modell durch eine Änderung des § 247 a StPO in die Strafprozessordnung aufnehmen! Ziel ist es, ein persönliches Gespräch mit dem
Kind fernab vom Täter durchführen zu können. Das
heißt, Richter und Kind gehen in ein separates Vernehmungszimmer. Per Videotechnik wird die richterliche
Vernehmung zeitgleich in den Sitzungssaal übertragen.
Erst diese menschliche Nähe und diese persönliche Ansprache schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre für
das Kind, die es überhaupt in die Lage versetzt, auszusagen.
({1})
Versetzen Sie sich einmal ganz kurz in folgende Lage
- oben auf der Tribüne sitzen sehr viele unbescholtene
Bürger; davon gehe ich jetzt einmal aus -:
({2})
Sie bekommen per Hauspost ein Schreiben vom Gericht.
Darin steht dann: Termin zur Ladung am … Gerichtstermine gehören für die Menschen, die dort oben sitzen,
nicht unbedingt zum Alltagsgeschäft. Hier unten unter
den Kollegen sitzen Richter und Staatsanwälte - natürlich auch andere Bundestagsabgeordnete -,
({3})
für die das Routine ist.
Jetzt seien Sie einmal ganz ehrlich und stellen Sie
sich ein achtjähriges Mädchen vor, das Opfer von sexuellem Missbrauch geworden ist, sich nun in einem fremden Umfeld mit vielen Menschen in schwarzen Roben
befindet, oftmals lange Wartezeiten während des Verhandlungstermins aushalten muss, in einem separaten
Raum sitzt und auf sich gestellt ist. In einer solchen Situation soll das Kind über seine furchtbaren Erlebnisse in
eine Kamera sprechen? Ich sage Ihnen klipp und klar:
Das ist lebensfremd.
({4})
Das hat nichts mit einer versteckten Kamera aus dem
Samstagnachmittagsprogramm zu tun. Das ist für das
Kind eine schwierige Situation. Manche Kinder - da
gebe ich Ihnen Recht - schaffen das. Aber schwache
Kinder werden dazu nicht in der Lage sein. Das ist und
bleibt eine große Belastung für kindliche Opferzeugen.
Etwas mehr Sensibilität und Feingefühl sind wir den
kindlichen Opferzeugen schuldig. Meine Forderung lautet nach wie vor: Eine erneute Traumatisierung durch die
Vernehmung muss verhindert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, steter Tropfen höhlt den Stein; ich
bleibe am Ball. Denn Opferschutz für Kinder muss heißen: am Wohl des Kindes orientiert. Wer das Kindeswohl ernst nimmt, muss sich unserer Forderung nach
Einführung des Mainzer Modells anschließen.
Es gibt einen weiteren Bereich, zu dem ich sage: Da
geschieht wenig. Das ist das Jugendstrafverfahren.
Hier findet kein Opferschutz statt. Ich finde in Ihrem
Entwurf nicht eine Zeile dazu. Glauben Sie allen Ernstes, dass es für eine 21-jährige Frau einen Unterschied
macht, ob sie von einem Jugendlichen oder von einem
Erwachsenen brutal vergewaltigt worden ist? Ich sage:
Nein. Die Tatfolgen sind für das Opfer die gleichen. Fakt
ist nur, dass die Täter immer brutaler und immer jünger
werden. 30 Prozent aller Tatverdächtigen sind Kinder,
Jugendliche und Heranwachsende.
Alle Abgeordneten bekommen die Tageszeitung „Berliner Morgenpost“ ins Büro. Darin steht in der Überschrift ganz groß: „Polizei ermittelt gegen 1 000 Kinder“.
Darunter heißt es:
Ein 14-Jähriger erregt die Gemüter der Hauptstadt.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Jungen … vor, er
habe seine 21-jährige Freundin zum Teil mit brutaler Gewalt gezwungen …
Das ist Realität. Wir müssen also etwas tun. Auch diese
Opfer bedürfen des Schutzes durch die Rechtsordnung.
Nachdem mein Kollege Herr Kauder Ihnen bereits die
handwerklichen Fehler im Adhäsionsverfahren vorgehalten hat, wird es uns vielleicht jetzt gelingen, gemeinsam das Adhäsionsverfahren aus dem Dornröschenschlaf zu wecken.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich denke, in der Sache sind wir nah beieinander.
({5})
Lassen Sie uns gemeinsam in die kommenden Gesetzesberatungen gehen. Wir werden es gemeinsam schaffen.
Wir werden gemeinsam etwas für den Opferschutz tun.
({6})
- Dann sind Sie auf dem falschen Weg. Es tut mir Leid.
Ich stehe hinter den Opfern und hinter den Schwachen in
der Gesellschaft.
Unnachgiebig wiederhole ich meine Forderung: Opfer dürfen nicht erneut zu Opfern werden.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1976 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auf
den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und
die öffentlichen Finanzen
- Drucksache 15/758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn wir uns heute mit dem Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur
Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auf den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und
die öffentlichen Finanzen befassen, so sprechen wir über
ein sehr gutes, durchaus beschäftigungswirksames und
sozialpolitisch erfolgreiches Reformwerk.
({0})
Wie sah es denn vor 1999 aus? Über 4 Millionen geringfügige Jobs mit steigender Tendenz, ohne soziale Sicherung und ohne wirksame Kontrolle, gepaart mit zunehmender Gefährdung der Vollzeitjobs durch Aufspaltung.
Das war damals die Realität. Die Realität war aber auch
eine CDU/CSU/FDP-Koalition, die sich nicht in der
Lage sah und nicht die Kraft hatte, diese verhängnisvolle
Entwicklung zu stoppen.
({1})
Mit dem Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse hat die Koalition aus SPD
und Bündnis 90/Die Grünen der weiteren Erosion sozial
gesicherter Arbeit und der Flucht aus der Sozialversicherung eine deutliche Grenze gesetzt.
({2})
Unsere Ziele waren die soziale Absicherung der bis
dahin ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, die finanzielle Stabilisierung der Sozialkassen, ein Stopp der
Aufspaltung von Vollzeitverhältnissen und ein Meldeverfahren, das Übersicht ermöglicht und Schutz vor
Missbrauch möglich macht. Ich stelle fest: Mit den verschiedenen Reformschritten haben wir diese Ziele erreicht.
Erstmals wurden gut 4 Millionen geringfügige Jobs in
die Systeme der sozialen Sicherung einbezogen. Durch
das Gesetz selbst konnte die Rentenversicherung jährlich
gut 1,9 Milliarden Euro an Mehreinnahmen verzeichnen.
Für die gesetzliche Krankenversicherung gab es 2000
und 2001 allein aufgrund der ausschließlich geringfügig
Beschäftigten Mehreinnahmen von rund 1,2 Milliarden
Euro. Mehr noch: Die unzureichende soziale Absicherung von Frauen, die vor der Reform besonders benachteiligt waren, wurde beseitigt.
({3})
Denn wir haben die Möglichkeit eingeführt, freiwillig in
die Rentenversicherung einzuzahlen und auf volle
Pflichtbeiträge aufzustocken. Damit haben wir die
Chance eröffnet, Lücken in Erwerbsbiografien durch
Pflichtbeitragszeiten zu schließen. Es wurde die Gelegenheit eröffnet, Ansprüche auf Rehabilitationsmaßnahmen, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und vorgezogene
Altersrente zu erwerben. Von dieser Möglichkeit machen
inzwischen weit mehr als 140 000 Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer Gebrauch.
({4})
Gut zwei Drittel davon sind Frauen. Das ist ein Erfolg.
({5})
Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb zu?
Ich würde sagen, Sie warten noch einen kleinen Moment, dann können Sie die Prozente selbst ausrechnen.
({0})
Das zeigt: Mit der Reform von 1999 ist ein solides
Fundament gelegt worden, das durch die Neuregelungen
des letzten Jahres, durch Hartz II und durch das Zusammenbringen verschiedener Vorstellungen auch hier aus
diesem Hause modernisiert und weiterentwickelt worden
ist.
({1})
Mit Hartz II wurde die Arbeitsentgeltgrenze für alle
geringfügigen Beschäftigungen von 325 Euro auf
400 Euro monatlich angehoben. Wir haben Neuregelungen für Privathaushalte geschaffen und für die Arbeitgeber - privat wie unternehmerisch - wurde das Beitragsund Meldeverfahren ganz entscheidend vereinfacht und
damit entbürokratisiert.
Die zentrale Meldestelle bei der Bundesknappschaft
erfüllt ihre Arbeit in hervorragender Weise. Sie ist bürgernah und kundenorientiert. Das hilft der Wirtschaft
und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gleichermaßen. Und sie gibt uns einen guten Überblick.
Seit dem In-Kraft-Treten der Neuregelungen ist ein
kräftiger und deutlicher Zuwachs von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zu verzeichnen.
({2})
Basierend auf den Daten der Bundesknappschaft konnte
deren Erster Direktor, Herr Georg Greve, am 4. November 2003 bekannt geben, dass die Zahl der gemeldeten
Jobs inzwischen auf 5,9 Millionen angestiegen ist. Damit sind in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr gut
1 Million neue Jobs, in den letzten drei Monaten gar
260 000 neue Jobs entstanden.
({3})
Es sind 6,7 Millionen Jobs gemeldet, wenn man die
kurzfristigen Jobs und die in den privaten Haushalten
hinzunimmt. Es freut uns, von Herrn Greve zu hören,
dass eine Aufspaltung regulärer Arbeitsverhältnisse in
Minijobs nicht stattgefunden hat.
({4})
Mit den Regelungen für die Jobs in der Gleitzone
zwischen 400 und 800 Euro mit gestaffelten SozialversiParl. Staatssekretär Franz Thönnes
cherungsabgaben haben wir deutlich gemacht, wie sozial
verantwortbar Beschäftigung im unteren Einkommensbereich gestaltet werden kann. Damit ist klar: Es ist uns
gelungen, diesen Bereich der Beschäftigungspolitik in
seiner gesamten Bandbreite unter Wahrung des notwendigen sozialen Schutzes zukunftsfähig zu machen.
Angemerkt sei auch, dass sich allein die Beschäftigungsverhältnisse in Privathaushalten noch nicht so
entwickeln, wie wir uns das vorgestellt haben. Gleichwohl sind inzwischen 33 000 Minijobs in Privathaushalten gemeldet. Das sind immerhin schon 6 000 mehr.
Auch hier machen sich das einfache Haushaltsscheckverfahren sowie die steuerliche Förderung positiv bemerkbar. Gleichwohl müssen wir an dieser Stelle zusätzliche Anstrengungen unternehmen, müssen mehr über
die Optionen informieren und damit auch gleichzeitig einen Weg aus illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit
aufzeigen.
({5})
Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang die Erleichterungen im Bereich des Ehrenamtes.
Das wird allzu häufig vergessen. So wurde die bekannte
Übungsleiterpauschale von 2 400 Euro auf 3 600 Euro
im Jahr angehoben
({6})
und damit eine langjährige Forderung, insbesondere aus
dem Bereich des Sports, erfüllt.
({7})
Hinzu kommt die erweiterte Steuerfreistellung ehrenamtlicher Tätigkeiten sowie für Aufwandsentschädigungen, die aus öffentlichen Haushalten geleistet werden.
Hier sind bis zu 300 Euro im Monat steuerfrei.
Aufbauend auf der ersten Reform der so genannten
Minijobs durch die SPD-geführte Bundesregierung hat
sich durch die Vorschläge der Hartz-Kommission, durch
die Aufnahme der Kritiken und der Erfahrungen aus der
Praxis und die Einbeziehung politischer Initiativen aus
diesem Haus bis hin zu den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses nun eine gute gesetzliche Grundlage
für die Regelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse entwickelt.
Sie gewährleistet weiterhin die soziale Absicherung
einstmals ungesicherter Arbeitsverhältnisse. Sie stärkt
Beschäftigungsoptionen im Bereich der geschaffenen
Gleitzone, also im unteren Einkommensbereich. Sie ist
nutzerfreundlich für die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die wachsenden Zahlen
belegen das eindeutig. Sie grenzt Missbrauch ein. Sie
stärkt das Ehrenamt und ist damit alles in allem ein gutes
Fundament für die sozialverträgliche Gestaltung flexibler Beschäftigungsformen.
Dies ist und wird auch künftig der Gradmesser für die
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung sein. Die
Weichen für mehr Beschäftigung sind auf diesem wichtigen Streckenabschnitt der Arbeitsmarktpolitik in die
richtige Richtung gestellt.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Matthäus Strebl,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Thönnes, der vorliegende
Bericht ist symptomatisch für die letzten fünf Jahre RotGrün. Hier muss die Bundesregierung wieder einmal
einräumen, dass ihre Politik in einem weiteren wichtigen
Bereich gescheitert ist.
Ich mache eine kurze Zeitreise vier Jahre zurück:
Nach der Bundestagswahl im Jahr 1998 erklärte die
Bundesregierung die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mit der 630-Mark-Job-Regelung zum großen
Reformprojekt. Dieses Projekt wurde in unserem Land
über vier Jahre getestet.
({0})
Was war geschehen? In der Hauptsache wurden die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse wie auch die geringfügigen Nebenbeschäftigungen sozialversicherungspflichtig gemacht. Für geringfügig Beschäftigte hatte der
Arbeitgeber 10 Prozent an die gesetzliche Krankenversicherung und 12 Prozent an die gesetzliche Rentenversicherung abzuführen. Ziel der Regierung war es,
diesen Beschäftigungsbereich abzubauen und den Sozialkassen mehr Einnahmen zu verschaffen.
Der Erfolg hielt, was versprochen war, wenn auch
nicht von der Bundesregierung, sondern von etlichen
Verbänden: Allein innerhalb des ersten Quartals 1999 ist
die Zahl der geringfügig Beschäftigten um rund 700 000
auf 5,8 Millionen zurückgegangen. Dies bedeutete einen
Rückgang um 10 Prozent im ersten Schritt. Ebenso ging
die Zahl der Nebenbeschäftigten in diesem Zeitraum um
600 000 auf 1,1 Millionen Personen zurück. Was im Koalitionsvertrag von 1998 angestrebt war, ist also eingetroffen. Man muss folglich der Bundesregierung zu diesem Erfolg gratulieren, so möchte man im ersten
Moment meinen. Aber diese Gratulation fällt bitter aus,
wenn man die Folgen für den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft und das Ehrenamt betrachtet. Hier zeigt sich, was
Rot-Grün vor lauter falsch verstandener Sozialromantik
und Ideologie übersehen hat.
({1})
Kanzler Schröder meinte, auf die Opposition nicht
hören zu müssen. Mit eiskalter Arroganz verkündete er
1999 im Plenum des Deutschen Bundestages: „Wir brauchen die Opposition nicht zum Regieren.“ Der einzige
Erfolg, wie wir heute wissen, war ein unübersichtlicher
Berg an Reformplänen - fünf Jahre ruhige Hand. Schnell
machte der Spruch „Es gilt das gebrochene Wort“ die
Runde.
({2})
Kritische Stimmen aus den eigenen Reihen, etwa von
Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis oder dem damaligen Sozialminister Florian Gerster, wurden schlicht
ignoriert. Auch die Unionsfraktion hatte bis zum Schluss
massiv auf die verheerenden Auswirkungen dieser Neuregelung vom 1. April 1999 - man könnte hier an einen
Aprilscherz denken - hingewiesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, einzelne
Branchen sind von dem Prinzip der geringfügigen Beschäftigung geradezu abhängig. Sie brauchen flexible, oftmals zeitlich begrenzte Arbeitsplätze. Dementsprechend
groß war auch der Aufschrei in den einzelnen Verbänden:
vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und dem Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter bis hin zur Land- und
Forstwirtschaft und dem gesamten Sozialbereich. Geringfügige Beschäftigung wurde so weit verteuert, dass sie für
die Verbände im Endeffekt abgeschafft worden ist. Die
zusätzliche Belastung durch die Sozialabgaben wurde
nicht durch eine entsprechende Steuerentlastung ausgeglichen. Die Folge waren Zehntausende von Kündigungen
allein im Zeitungs- und Anzeigenwesen.
({3})
Somit war eine der großen Hoffnungen der Bundesregierung, es käme zu mehr Festanstellungen, wie eine Seifenblase zerplatzt. Das Institut der deutschen Wirtschaft
stellte damals fest, die Neuregelung der so genannten
630-DM-Jobs habe im Jahr 1999 kaum zu festen Stellen
geführt. Im Gegenteil, die Auswirkungen für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt waren verheerend.
({4})
Kanzler Schröder wollte sich nach seiner Wahl 1998 am
Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen. Stattdessen
brachte er es zu immer neuen historischen Rekorden,
wie wir auch derzeit wieder sehen.
Ob nun beim Wirtschaftswachstum oder beim Abbau
der Arbeitslosigkeit, meine sehr verehrten Damen und
Herren, Deutschland war stets das Schlusslicht der EU.
Es ist schon fast faszinierend, dass die Bundesregierung Probleme zwar erkennt, aber stets falsche Lösungsansätze bringt.
({5})
Richtig erkennt die Bundesregierung in ihrem Bericht, der
uns vorliegt, auf Seite 13, dass geringfügige Beschäftigung speziell im Hinblick auf das Alter eine Brücke in
den Arbeitsmarkt sei. Als richtig stellt sie auch fest,
dass Schüler und Personen mit geringer bis gar keiner
Qualifizierung den größten Anteil der geringfügig Beschäftigten ausmachen. Also gerade die Gruppen sind
betroffen, die am schwierigsten in den Arbeitsmarkt zu
vermitteln sind und somit am ehesten von Arbeitslosenund Sozialhilfe abhängig sind.
Angesichts dessen frage ich mich, warum bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen Einschnitte erfolgen sollten. Eine Beschneidung bei diesen Beschäftigungsverhältnissen zwingt diese Gruppen förmlich in
die Arbeitslosigkeit. Nicht umsonst forderte Arbeitgeberpräsident Hundt ein Jahr nach Einführung dieser Regelung, sie rückgängig zu machen. Denn die Neuregelung hat zu höheren Kosten für die Unternehmen, zu
mehr Bürokratie und zum Verlust von Arbeitsplätzen
geführt. Es liegt dabei auf der Hand, dass sich die ehemals geringfügig Beschäftigten zu einem Teil in die
Schwarzarbeit geflüchtet haben. Damit haben sie dem
Staat, der Wirtschaft, aber auch den Sozialversicherungen, die laut Bundesregierung von der Neuregelung profitieren sollten, beträchtliche Summen entzogen.
Auch für die Ehrenamtlichen und die Sportvereine
stellte die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse damals geradezu einen Anschlag dar.
So wurden ehrenamtlich Tätige bei der Feuerwehr, in
Sportvereinen und in Kirchen bis hin zu den Versichertenältesten immer öfter als sozialversicherungspflichtig
eingestuft. Freiwilliges Engagement, Fleiß und Arbeitsbereitschaft wurden damals mit Füßen getreten.
({6})
Es stellt sich also die Frage, was die Neuregelung bei
den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen für die
Sozialversicherungen und die Haushaltskasse gebracht
hat. Sie hat zum einen zu gewissen Mehreinnahmen bei
den Sozialversicherungen geführt, zum Beispiel zu
Mehreinnahmen der Rentenkasse von etwa 1,9 Milliarden DM im Jahr 1999
({7})
bzw. circa 2,85 Milliarden DM in den Folgejahren sowie
zu Mehreinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung von 1,5 Milliarden DM bzw. 2,25 Milliarden DM in
den Folgejahren. Diesen Mehreinnahmen stehen jedoch
kassenmäßige Steuermindereinnahmen einschließlich
des Solidaritätszuschlages zum Beispiel von allein 1,37
Milliarden DM im Jahr 1999 gegenüber. Das macht rund
625 Millionen DM für den Bund, 553 Millionen DM für
die Länder und 195 Millionen DM für die Gemeinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits in
den Jahren 1999 und 2000 haben ich und meine Kollegen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Bundestag auf dieses Ungleichgewicht hingewiesen. Die Haushalte und kleinen Unternehmen werden übermäßig
belastet, während sich große Unternehmen beim Energieverbrauch selbst entlasten können. Mein Fazit lautet:
Schröder ist als umgedrehter Robin Hood aufgetreten - er
schont die Großen und plündert die Kleinen.
({8})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich seit der
Einführung der Neuregelung im Jahr 1999 stets um Verbesserungen bemüht, angefangen vom Antrag „630-DMGesetz und Neuregelung der Scheinselbstständigkeit zurücknehmen“ und die Anträge „Kurzfristige Beschäftigungen im Rahmen des 630-DM-Gesetzes entlasten“
und „Arbeitnehmer entlasten - Vorfahrt für mehr Beschäftigung“ in der 14. Wahlperiode bis zum Entwurf des
„Kleine-Jobs-Gesetzes“ in der 15. Wahlperiode.
Stets kamen von Rot-Grün zuerst Bedenken. Doch
letztlich hat sich die Union beim Bereich Minijobs
durchgesetzt. Mittlerweile gilt, dass bis zu einer Einkommensgrenze von 400 Euro im Monat der Arbeitnehmer bei einer gering entlohnten Beschäftigung brutto für
netto erhält. Das gilt auch für Nebenverdienste. Der Arbeitgeber zahlt einen Pauschalbetrag von 25 Prozent an
eine zentrale Einzugsstelle, die die Gelder an die Sozialversicherungen weitergibt. Es gibt daher keine umständlichen Meldeverfahren mehr wie vorher. Vor allem gibt
es in den Krankenkassen keine unterschiedlichen Ansprechpartner mehr. Bis zu einem Monatseinkommen
von 800 Euro werden die Sozialversicherungsbeiträge
der Arbeitnehmer schrittweise bis zum vollen Beitrag
angehoben. Für fast 1 Millionen Arbeitswillige gibt es
damit neue Beschäftigungsmöglichkeiten.
Durch die neue Regelung sind inzwischen 5,8 Millionen Minijobs gemeldet worden. Rechnet man die kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse und die Tätigkeiten
in den privaten Haushalten hinzu, so kommt man auf
6,4 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnbereich.
Hinzu kommt noch, dass nun jedermann, auch den rund
2 Millionen Menschen mit geringer Qualifikation, die
bislang ohne Job waren, der Weg in einen unbürokratischen Niedriglohnsektor offen steht.
Auch für die Unternehmen rechnen sich die Minijobs.
Nach Berechnungen des Unternehmermagazins „Impulse“ können Arbeitgeber und Mitarbeiter mit dem Minijob-Gesetz bis zu 434 Euro pro Mann und Monat sparen. So lohnt sich auch niedrig entlohnte Arbeit wieder;
denn sie ist unbürokratisch, flexibel und rentabel. Nur so
kann man den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft wieder
auf den richtigen Kurs bringen und den Menschen in unserem Land eine Perspektive aufzeigen.
({9})
Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist dazu ein Schritt.
Am Schluss meiner Rede möchte ich sagen:
({10})
Ich bin nur froh, dass der Schutt, den uns der ehemalige Arbeitsminister Walter Riester bei den Minijobs hinterlassen hat, seit diesem Jahr endlich ausgeräumt ist;
denn nun ist der Weg für mehr Beschäftigung wenigstens in diesem Bereich frei.
Ein Anfang ist getan. Um unser Land wegen der Globalisierung und der EU-Osterweiterung zukunftsfähig zu
machen, müssen nun weitere Schritte im Allgemeinen
sowie im sozialen, wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bereich folgen.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man Herrn Strebl hört und konstatiert, dass fast
die Hälfte der Redezeit einer Geschichtsstunde entsprach, in der das Jahr 1999 behandelt wurde, dann kann
man nur zu dem Schluss kommen,
({0})
dass wir bei der Reform der Minijobs, an der auch Sie
mitgewirkt haben, so erfolgreich waren, dass Sie sich
scheuen, über die Perspektiven und Aussichten im Bereich der geringfügigen Beschäftigung zu reden. Ich
habe wirklich gedacht, dass Sie darüber reden würden;
denn Minijobs und die geringfügige Beschäftigung sind
in Ergänzung zu voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen wichtige Bausteine in der Arbeitswelt.
({1})
Arbeitslose können durch ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis den Kontakt zum Arbeitsleben halten und
über den so genannten Klebeeffekt unter Umständen sogar
den Einstieg in einen regulären Job schaffen. Nach wie vor
gibt es bei uns - das ist der Unterschied zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 - die Sozialversicherungspflicht und
die Möglichkeit, Zeiten anzurechnen. Durch die Reform
haben wir jetzt in der Tat erreicht, dass Jobs, in denen
schwarz gearbeitet wurde, in sozialversicherungspflichtige Minijobs überführt worden sind.
({2})
Ich bin mir ganz sicher: Wir werden diesen Erfolg fortsetzen und auch bei den haushaltsnahen Dienstleistungen
durchsetzen, da das dort Erreichte in der Tat noch nicht
zufriedenstellen kann. Daher müssen wir Informationen
verbreiten. Ich freue mich, dass die Bundesknappschaft
von einer Kampagne spricht, um den Bereich der Minijobs bis zu den haushaltsnahen Dienstleistungen auszuweiten. Ich freue mich auch darüber, dass es Initiativen
wie die in Nordrhein-Westfalen gibt. Dort werden zum
Beispiel verschiedene Minijobverhältnisse über Dienstleistungspools zusammengefasst und im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen perspektivisch in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse überführt.
Wir müssen aber auch sehen, dass Minijobs vorwiegend
zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse zu regulären Arbeitsverhältnissen sind. Sie stellen einen Zuverdienst
zum Arbeitslosengeld oder zum Haushaltseinkommen
dar, der in der Regel von Hausfrauen erarbeitet wird.
Die Bundesanstalt für Arbeit schätzt den realen Arbeitsmarkteffekt bislang nur auf circa 80 000. Ich denke, das
sollten wir natürlich berücksichtigen. Da zieht das Argument nicht, dass der Arbeitsmarkt durch die Minijobs
insgesamt belebt werden kann. Bei aller Freude über die
Akzeptanz der Minijobs und bei aller Genugtuung darüber, dass dies offensichtlich nicht zu dem auch von mir
- das gebe ich zu - befürchteten Einbruch bei den Einnahmen der Sozialversicherung geführt hat, sehen wir,
dass dies nur eine ergänzende Beschäftigungsform ist.
Sie erwecken - auch darüber muss man im Rahmen
dieser Debatte einmal reden - den Eindruck - Sie haben
von der Globalisierung gesprochen -, eine Niedriglohnund Minijobökonomie eröffne den Weg zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit oder gar Vollbeschäftigung.
({3})
- Das behaupten Sie doch permanent. In der Debatte um
Hartz IV hat hier Herr Koch von Stundenlöhnen in Höhe
von 4 Euro gesprochen und als Vergleich die Tschechische Republik angeführt. Er hat behauptet, über niedrige
Löhne könnten wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen. Aber auch wenn Sie diese Behauptung wiederholen, wird sie dadurch nicht richtiger.
({4})
Insbesondere im internationalen Wettbewerb steht
Deutschland in einem Wettbewerb um Produktivität,
Qualität, Produkt- und Prozessinnovation. Die Lohnkosten für sich betrachtet stellen nicht den entscheidenden
Wettbewerbsvorteil dar. Entscheidend sind die Lohnstückkosten. Hier liegen deutsche Unternehmen im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht. Entscheidend ist auch, ob Produkte und Dienstleistungen über ein
Alleinstellungsmerkmal und Innovationsvorsprünge verfügen. Man fragt sich, ob Sie die Theorie der komparativen Kostenvorteile des Ökonomen David Ricardo - ein
klassischer Ökonom des 19. Jahrhunderts - überhaupt
kennen.
({5})
Seine Theorie ist das Rüstzeug jedes Studenten der
Volkswirtschaft. Offensichtlich haben Sie einen Grundkurs nötig.
Diese Theorie der komparativen Kostenvorteile besagt, dass jede Volkswirtschaft im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung ihre besondere Ausstattung mit Produktionsfaktoren wie etwa Arbeitskräften, Rohstoffen,
Wissen und Fertigungskapazitäten so ausrichtet, dass sie
sich auf die günstigste Kombination vergleichbarer Kostenvorteile spezialisiert. Die Lohnkosten sind in einer
Ökonomie wie Deutschland mit Sicherheit nicht der
komparative Kostenvorteil, den es zu kultivieren gilt.
({6})
Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein
Drei-Sterne-Restaurant, das in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, wird sich auf eine Weise bestimmt nicht
retten können, nämlich indem es seine Köche als Minijobber zu McDonald’s-Löhnen und -Arbeitsbedingungen
beschäftigt. Es wird auch nicht erfolgreich sein, wenn es
nur noch Frikadellenbrötchen statt Haute Cuisine anbietet. Diese beiden Produkte stehen nämlich überhaupt
nicht in Konkurrenz zueinander. In diesem Sinne ist ein
Fortschreiten der internationalen Arbeitsteilung ein ganz
normaler Prozess. Es ist völlig normal, wenn etwa Produktionen mit geringer Wertschöpfung ins Ausland verlagert werden. Diese Entwicklung werden wir auch
durch Minijobs nicht aufhalten können.
Eine Debatte über Niedriglöhne anzuzetteln bedeutet
in diesem Sinne auch, dass Sie die Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland in die völlig falsche Richtung lenken. Sie lenken mit der Lohnhöhe die Aufmerksamkeit auf einen Wettbewerbsfaktor, bei dem
Deutschland letzten Endes gar nicht gewinnen kann. Wo
soll denn der Lohnwettbewerb enden, den Sie immer
wieder propagieren?
({7})
Sind Sie zufrieden, wenn wir das Niveau der durchschnittlichen Stundenlöhne der Tschechischen Republik
erreicht haben?
({8})
Oder fangen Sie dann an, über die Lohnhöhe in China
oder Bangladesch zu philosophieren?
({9})
Es ist traurig, dass Binsenweisheiten in der politischen wie öffentlichen Diskussion auch von manchem
Wirtschaftsforschungsinstitut wie dem Ifo-Institut hartnäckig ignoriert werden. Es ist dringend notwendig, dass
wir von ideologischen Fiktionen wegkommen und zu einer tatsachenbezogenen Politik zurückfinden.
({10})
Von Ihrem ökonomischen Verständnis her befinden Sie
sich zum Teil auf dem gleichen Niveau wie die Weber
des 19. Jahrhunderts, die meinten, durch Maschinenstürmerei dem unvermeintlichen Produktivitätsfortschritt zu
entkommen.
({11})
Ein Vergleich der Bauindustrie Japans und Deutschlands zeigt schon heute, dass eine Verengung des Wettbewerbs nur auf die Lohnhöhe den Produktivitätsfortschritt hemmt und die Wettbewerbsfähigkeit letztlich
gefährdet; denn in der Bauindustrie Japans ist die Automatisierung schon sehr weit fortgeschritten, während
sich auf deutschen Baustellen unterbezahlte Arbeitskräfte aus Osteuropa gegenseitig im Weg stehen.
In diesem Sinne bieten Minijobs, insbesondere im
Hotel- und Gaststättengewerbe, eine ergänzende, quasi
Lücken füllende und unterstützende Funktion an. Sie
können in gewissen Bereichen Brücken in den ersten Arbeitsmarkt bauen. Aber das entbindet uns nicht von der
Pflicht, die Diskussion zu entideologisieren,
({12})
die Lohnhöhe zu akzeptieren, angemessen Löhne und
Produktivitätsfortschritt zu fördern und zu steigern. Beides muss in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gesetzt werden. Genau dazu ist Rot-Grün angetreten. Das
werden wir auch durchsetzen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich schlage vor, Herr Kollege Kurth, dass wir uns jetzt
aus dem Soziologieseminar wieder zurück in die Realität
bewegen. Da sehen die Dinge schon ganz anders aus.
({0})
Die Geschichte der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse unter Rot-Grün ist - das sage ich auch an die
Adresse des Staatssekretärs - alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Sie ist bestenfalls eine Tragikkomödie,
die 1999 im Chaos begann und die sich durch Zutun der
Opposition zu Beginn dieses Jahres zum Erfolgsmodell
gewandelt hat. Das ist die Wahrheit, was die geringfügige Beschäftigung anbelangt.
({1})
Ich will mich gar nicht lange bei der Vergangenheit
aufhalten, denn es gilt das Sprichwort: Wer immer nur in
den Rückspiegel guckt, fährt zwangsläufig gegen die
Wand. Das ist ja Ihr Problem in der letzten Legislaturperiode gewesen. Es genügt, wenn man einen Hinweis auf
das Waterloo gibt, das Sie 1999 mit den geringfügigen
Beschäftigungsverhältnissen erlebt haben. Das ist Ihnen
alles noch in bester Erinnerung.
({2})
- Wenn Sie wollen, können Sie sich das wieder in Erinnerung rufen.
Es genügt auch ein Hinweis auf das Zustandekommen
der Minijob-Regelung im Rahmen von Hartz II. Fragen
Sie meinen Kollegen Dirk Niebel. Ihm ist noch bestens
in Erinnerung, wie damals Herrn Stiegler die Zigarre aus
der Hand fiel, als Herr Clement der Opposition die jetzige Minijob-Regelung zugestanden hat. So ist es nämlich gewesen.
Blicken wir nach vorne. Das Beschäftigungspotenzial, das alle bekannten Sachverständigen und Experten
im Niedriglohnbereich insgesamt verorten, muss aus
unserer Sicht stärker ausgeschöpft werden, wenn wir im
Kampf gegen die Arbeitslosigkeit Erfolge erzielen wollen. Es geht nicht an, dass Sie sagen, die Regelung habe
nur 80 000 Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt
gebracht. Herr Kollege Kurth, wir müssen auch die gesamtwirtschaftlichen Umstände bedenken, die Sie zu
verantworten haben. In einer Phase wieder anziehender
Konjunktur - die wird irgendwann kommen, spätestens
nach der nächsten Bundestagswahl - werden wir die
volle Durchschlagskraft der geringfügigen Beschäftigung erleben können.
Wir haben der Regelung über die Minijobs nicht zugestimmt; nicht weil wir die Ansätze für falsch gehalten
hätten, sondern weil wir der Meinung waren, dass noch
entschiedener hätte gehandelt werden müssen. Wir sehen
uns in unserer damaligen Auffassung auch durch den
Bericht der Bundesregierung und die Berichte der
Knappschaft bestätigt. Der Arbeitsmarkt schreit regelrecht nach Erleichterungen und Freiraum.
({3})
Schon kleine Spielräume werden vom Markt dankbar
honoriert und in Beschäftigung umgesetzt. Das ist es,
was man diesen Berichten entnehmen kann.
({4})
Wenn man sich jetzt die Entwicklung der Minijobs anschaut, dann wird deutlich, dass 1 Million Minijobs zusätzlich entstanden sind. Das ist ziemlich genau die Größenordnung, die Sie 1999 mit dem blindwütigen
Einschlagen auf die alte 630-Mark-Regelung vernichtet
haben. Man muss sich das einmal ansehen, Herr
Thönnes. Sie haben ja keine Zwischenfragen zugelassen.
({5})
Ich habe die Krokodilstränen noch in Erinnerung. Das
waren eigentlich alles unzumutbare Beschäftigungsverhältnisse,
({6})
weil dort Menschen tätig sind, die keine Chance haben,
eine Altersvorsorge aufzubauen. Das wollten Sie ändern.
({7})
Jetzt sind es 160 000 Menschen von 6,7 Millionen, wenn
ich Ihnen richtig zugehört habe; weniger als 2,5 Prozent
aller geringfügig Beschäftigten, die von Ihrem Angebot
Gebrauch machen, zusätzliche Beiträge zu leisten und
sich damit eine weiter gehende Altersversorgung aufzubauen. Sie wollten damals ein Problem lösen, das aus der
Sicht der Menschen überhaupt nicht bestand. Das ist die
Wahrheit, Herr Staatssekretär.
({8})
Weil es Beschäftigungseffekte gibt, muss man jetzt
auch durchstarten und die Schwelle von 400 Euro auf
mindestens 630 Euro erhöhen.
({9})
Das ist ungefähr das Existenzminimum im Monat. Dadurch entsteht zusätzliche reguläre Beschäftigung, Herr
Kollege Dreßen. Arbeitnehmer können dann netto mehr
verdienen und Arbeitgeber können flexibler und unbürokratischer disponieren.
Was die Situation in den Haushalten anbelangt, vertreten Sie das Prinzip Hoffnung. Das wird nicht ausreichen. Notwendig ist vielmehr die steuerliche Anerkennung des Privathaushalts als Arbeitgeber. Bis 2002 war
es Privathaushalten möglich, jährlich 9 203 Euro für sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Haushalt
abzusetzen. Das haben Sie Ende des Jahres 2002 gestrichen.
Die FDP hat in ihrem Berliner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, den der Kollege Solms vorgelegt hat,
vorgeschlagen, dass für die Tätigkeit in privaten Haushalten, zum Beispiel die Kinderbetreuung, zukünftig bis
zu 12 000 Euro abgesetzt werden können.
({10})
Ich meine, eine solche Förderung der Beschäftigung
in Privathaushalten ist gerade auch im Hinblick auf die
bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf - das sollte
unser gemeinsames Anliegen sein - dringend geboten.
Wenn ein Elternteil zusätzlich arbeiten kann, weil eine
sozialversicherungspflichtig beschäftigte Tagesmutter
die Kinder betreut, dann verschafft das dem Staat doppelte Einnahmen. Wenn die Förderung der Beschäftigung in Privathaushalten ausbleibt, dann können zwei
reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht zustande
kommen.
Ich meine, gerade auch im Hinblick auf die demographische Entwicklung in sieben oder acht Jahren ist es
notwendig, die Frauenerwerbsquote zu erhöhen. Deswegen haben wir unter dem Titel „Tagespflege als Baustein
zum bedarfsgerechten Betreuungsangebot“ einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich bitte Sie, unseren Antrag ernst zu nehmen und der Erhöhung der absetzbaren
Summe von derzeit 2 400 Euro auf bis zu 12 000 Euro
zuzustimmen.
Abschließend sollten wir auch nicht übersehen, dass
viele Haushalte die Beschäftigungsverhältnisse gerne legalisieren wollen, dass sie dies aber nicht können, weil
der oder die Beschäftigte keine Arbeitserlaubnis oder gar
Aufenthaltserlaubnis hat.
({11})
- Ja, natürlich ist das illegal. Aber dann müssen wir dafür sorgen, Herr Kollege Dreßen, dass der Nachfrage
aufseiten der Haushalte ein legales Arbeitskräfteangebot
gegenübersteht. Dieses Thema sollten wir auch in den
Beratungen über das Zuwanderungsgesetz offen und ideologiefrei diskutieren. Wir sind dazu bereit.
Die Minijobregelung ist ein guter Ansatz. Sie ist aber
durch mutiges Handeln noch deutlich ausbaufähig. Sie
sollten Ihrem Herzen einen Stoß geben und über die
Hürde springen, indem Sie mit uns gemeinsam darüber
nachdenken, wie man diesem Sektor eine größere Dynamik verschaffen kann.
Vielen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Dreßen, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte eingangs zwei Punkte ansprechen. Herr Strebl,
ich glaube, Sie haben die frühere Situation im Zusammenhang mit den 630-Mark-Jobs vergessen. Ist Ihnen
nicht mehr geläufig, dass bei der Überprüfung solcher
geringfügig Beschäftigten herauskam, dass über 2000
von ihnen schon lange auf dem Stuttgarter Friedhof lagen?
({0})
Sie haben uns doch seinerzeit ein Chaos hoch drei hinterlassen.
Ich denke auch an das Thema Scheinselbstständigkeit. Sie haben diejenigen, die als Scheinselbstständige
arbeiten mussten, in die Armut getrieben, weil sie völlig
unzulänglich abgesichert waren.
Ihre eben vorgetragene Argumentation, dass in Fällen
illegalen Aufenthalts und illegaler Beschäftigung eine
Legalisierung erfolgen sollte
({1})
- so haben Sie das eben formuliert -, verstehe ich so,
dass wir, wenn jemand wegen schweren Raubes verurteilt wird, beschließen sollten, dass alle Hausbesitzer ihr
Haus offen lassen müssen, damit die Tat zukünftig nur
noch als einfacher Raub gilt. Das ist doch schizophren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolb?
Ja, wenn die Uhr angehalten wird.
({0})
Herr Kollege Dreßen, ich bedanke mich ausdrücklich
dafür.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das
nicht so gemeint habe, wie Sie es dargestellt haben? Ich
meine natürlich nicht denselben Personenkreis. Es ist
völlig klar, dass solche illegalen Handlungen nicht legalisiert werden können.
({0})
Ich habe gesagt: Wir müssen im Rahmen der Beratungen über ein Zuwanderungsgesetz auch daran denken,
dass der offensichtlich vorhandenen Nachfrage von Privathaushalten nach legaler Beschäftigung entsprochen
wird und Personengruppen ins Land kommen können,
die diese Nachfrage der Haushalte auf legale Weise zufriedenstellen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass ich das in diesem Sinne gemeint habe?
Wenn Sie das so interpretieren, dann akzeptiere ich
das. Ich akzeptiere auch, dass wir mit dem Zuwanderungsgesetz die eine oder andere bestehende Ungerechtigkeit beseitigen sollten. Dann müssen Sie aber an Ihre
Kollegen neben Ihnen appellieren, damit wir ein Stück
weiterkommen.
({0})
Auf Wunsch der Opposition diskutieren wir heute
über den Bericht der Bundesregierung über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Dieser Bericht wurde
dem Bundestag im März dieses Jahres zugeleitet. Angesichts der derzeitigen Konzeptionslosigkeit der Opposition bin ich etwas verwundert darüber, dass Sie nichts
Besseres zu tun haben, als sich mit veralteten Arbeitsmarktdaten zu beschäftigen. Sie wollen heute über Zahlen und einen Bericht sprechen, die auf dem Stand vom
März 2003 sind und deren praktische Bedeutung verloren gegangen ist; denn wir haben mit Hartz II - das
wurde schon erwähnt - zum 1. April dieses Jahres die
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse neu geregelt.
Im Unterschied zu damals sind jetzt für die Minijobs
Sozialbeiträge abzuführen.
Ich freue mich trotzdem aus zwei Gründen, dass wir
Gelegenheit haben, über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zu sprechen. Erstens können wir noch
einmal betonen, welche Verbesserungen wir für die soziale Absicherung geringfügig Beschäftigter erzielt
haben. Zweitens haben wir die Gelegenheit, über die
Neuerungen bei den Minijobs im Rahmen der ersten
Hartz-Gesetze zu sprechen. Ich danke Ihnen, Herr
Staatssekretär, dass sich hier schon einiges getan hat.
Zum ersten Punkt: Was haben die Bundesregierung
und die rot-grüne Koalition für die geringfügig Beschäftigten getan?
({1})
- Aber sicher! - Die Bundesregierung macht Sie in ihrem Bericht noch einmal auf die Verbesserungen für
geringfügig Beschäftigte aufmerksam, die wir am
1. April 1999 eingeführt haben. So leisten seit diesem
Zeitpunkt auch die Arbeitgeber ihren Beitrag zur Kranken- und zur Rentenversicherung für geringfügig Beschäftigte. Seit der Neuregelung können des Weiteren
geringfügig Beschäftigte durch Aufstocken Leistungsansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erwerben. Wenn es jetzt 140 000 bis 160 000 geringfügig Beschäftigte gibt, dann bedeutet das, dass nun tatsächlich
mehr in die Rentenkasse eingezahlt wird und dass diese
Beschäftigten zusätzliche Rentenansprüche haben. Wir
müssen vielleicht noch werben, damit es mehr werden.
Zum zweiten Punkt: Bei der Verabschiedung von
Hartz II waren wir auf Ihre Unterstützung angewiesen
und mussten uns nolens volens darauf einlassen, die Geringfügigkeitsgrenze von 325 Euro auf 400 Euro anzuheben.
({2})
Herr Kolb fordert sogar eine Erhöhung auf 600 Euro.
({3})
Sie haben nur vergessen, zu erwähnen, wie Sie die Lücke in der Sozialversicherung, die dann aufgrund fehlender Beiträge entstehen würde, schließen wollen. Mich
interessiert, wie Sie das machen wollen. Zusätzlich
wurde im Vermittlungsausschuss über die Einführung einer Gleitzone entschieden. Ich habe meine Zweifel, dass
durch die von uns zugestandene Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Wir müssen aber erst die Zahlen der
Bundesanstalt für Arbeit abwarten. Ausfälle im Sozialversicherungssystem sind jedenfalls der Preis gewesen,
den wir für die Umsetzung unserer Vorstellungen im
Vermittlungsausschuss zahlen mussten.
Wir wollten in Anlehnung an die Vorschläge der
Hartz-Kommission illegale Beschäftigungsverhältnisse
im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen legalisieren. Verhaltensänderungen setzen sich jedoch nur
langsam durch. Im Bereich der Haushaltshilfen ist trotz
der Neuregelung die Schwarzarbeit leider noch immer
der Normalfall. Von den geschätzten 2 Millionen bis
3 Millionen Personen, die in privaten Haushalten arbeiten, sind lediglich 36 000 in angemeldeten Beschäftigungsverhältnissen tätig, und das, obwohl wir mit einer
Reihe von Anreizen versucht haben, die Situation zu ändern. Der Haushaltsscheck ist einfacher geworden, wodurch die bürokratischen Hemmnisse beseitigt worden
sind. Dieser Scheck umfasst zwölf Fragen und ist im Internet unter www.minijob-zentrale.de abzurufen. Ich
kann nur jedem empfehlen, sich diese Internetseite anzuschauen. Es gibt auch eine gute Erläuterung zur Beantwortung der zwölf Fragen. Es ist wirklich sehr einfach.
Eine pauschale Abgabe für den Arbeitgeber in Höhe
von 10 Prozent und eine steuerliche Abzugsfähigkeit bis
zu 510 Euro sollen Anreize schaffen, haushaltsnahe
Dienstleistungen bei der Bundesknappschaft anzumelden. Außerdem haben wir uns dafür eingesetzt, bürokratische Abläufe rigoros zu vereinfachen. Wir haben die
15-Stunden-Grenze für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aufgehoben. Die Berechnungen für kurzfristige
Minijobs wurden erheblich vereinfacht. Damit sind wir
vor allem den Bedürfnissen der Arbeitgeber entgegengekommen. Unternehmen müssen nun nicht mehr wie
bisher komplizierte Berechnungen über die Dauer einer
Beschäftigung im Jahr anstellen. Es reicht einfach die
Prüfung, ob ein Beschäftigter weniger als zwei Monate
bzw. weniger als 50 Tage pro Kalenderjahr beschäftigt
ist.
Arbeitgeber profitieren außerdem davon, dass sie
nicht mehr rückwirkend in Haftung genommen werden,
wenn ein Arbeitnehmer zu Unrecht gleichzeitig mehreren Minijobs nachgeht und so die Sozialversicherungspflicht umgeht.
Über die quantitativen Auswirkungen der Neuregelung der Minijobs und der eingeführten Gleitzone werden wir sprechen, sobald die Zahlen der Bundesanstalt
vorliegen. Ich hoffe, dass Sie, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU, nach dem Vorliegen dieser Daten
nicht erneut ein halbes Jahr Zeit zum Lesen brauchen.
Wenn das der Fall ist, dann könnte die nächste Beurteilung der geringfügigen Beschäftigung etwas zeitnäher
und aktueller ausfallen.
({4})
Nächste Redner ist der Kollege Karl-Josef Laumann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich sehr darüber, dass alle Redner in
der heutigen Debatte gesagt haben, das jetzige Gesetz
zur Regelung der 400-Euro-Jobs sei in Ordnung.
({0})
Um der Wahrheit Genüge zu tun, möchte ich darauf
hinweisen, dass dieses Gesetz kein Bestandteil von
Hartz I oder Hartz II war.
({1})
Es wurde davon gar nicht berührt. Wegen Hartz II ist damals der Vermittlungsausschuss angerufen worden; ich
selbst habe an den entsprechenden Sitzungen teilgenommen. Damals haben wir gesagt: Wir müssen auch über
die Minijobs reden; wir brauchen eine Reform der verkorksten Regelung der Riester-Rente. Clement war gerade im Amt und hat das eingesehen. Dann ist im
Grunde genommen das, was im Wahlprogramm von
CDU und CSU stand, Gesetz geworden.
({2})
Mittlerweile loben es alle. Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Was im Wahlprogramm von CDU und CSU stand,
war gut und es hat sich bewährt, was im Gesetzblatt
steht.
({3})
- Ich bin von 1990 bis 2002 im Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung gewesen. Mittlerweile gehöre ich
dem Ausschuss für Arbeit und Wirtschaft an. Ich beschäftige mich mit dem Arbeitsmarkt also schon ein paar
Tage.
({4})
- Frau Kollegin Barnett, das, was Sie zwischen 1994 und
1998 im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung vertreten haben, und das, was Sie jetzt tun, verhalten sich zueinander ungefähr so wie Feuer und Wasser.
({5})
Wie war es denn früher mit den 630-DM-Jobs?
({6})
Die Konstruktion des entsprechenden Gesetzes hatte im
Grunde einen Fehler: Die Einnahmen aus der Pauschalbesteuerung in Höhe von 20 Prozent flossen in den
Staatshaushalt und damit fiel das Arbeitsvolumen, das in
diesem Bereich bestand, als Grundlage für die Finanzierung der Sozialversicherung weg.
Nach Ihrem Wahlsieg 1998 haben Sie beschlossen,
alle in die Sozialversicherung zu drängen, die
630-DM-Jobs sozialversicherungspflichtig zu machen
und Scheinselbstständigkeit abzuschaffen. Dann haben
Sie festgestellt, dass das auf dem Arbeitsmarkt keinen
Erfolg hat, weil viele Menschen in die Schwarzarbeit geflüchtet sind.
({7})
Nicht nur die 400-Euro-Jobs, sondern auch die Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit war ein Erfolg von Hartz II. Insofern war alles, was damals gemacht worden ist, vernünftig und
richtig.
Dass es mit den 400-Euro-Jobs jetzt so gut klappt
und sie uns so wenige Beschwerden bereiten, liegt ganz
einfach daran, dass die Belastung der Arbeitgeber mit
25 Prozent genauso hoch oder sogar etwas höher ist als
die Belastung der Arbeitgeber, die im Rahmen eines
regulären Beschäftigungsverhältnisses Sozialversicherungsbeiträge abführen müssen.
Ich habe in den damaligen Vermittlungsgesprächen
der entsprechenden Arbeitsgruppe im BMWA immer gesagt: Es darf für die Arbeitgeberseite keine Anreize geben, das zu machen, und deswegen muss die mit einem
solchen Arbeitsverhältnis verbundene Abgabenlast genauso hoch wie die bei einem regulären Arbeitsverhältnis sein.
({8})
Dass das Geld seitdem in die Sozialkassen und nicht in
den Staatshaushalt fließt, führt natürlich dazu, dass sich
der Verdrängungswettbewerb in Bezug auf Arbeitsstunden - es geht darum, ob sie in dem einen oder in dem anKarl-Josef Laumann
deren Bereich anfallen - auf die Sozialkassen nicht auswirkt.
({9})
Deswegen finde ich, dass das, was wir da gemacht haben, vernünftig und richtig ist.
({10})
Es hat dazu geführt, dass zusätzlich 1 Million oder
800 000 Menschen illegale Arbeitsverhältnisse verlassen
haben - ich behaupte, die allermeisten haben schon vorher Geld dazuverdient - und in ein legales Arbeitsverhältnis zurückgekehrt sind. Das erhöht wahrscheinlich
insbesondere die Kaufkraft derjenigen Familien, die auf
mehr Geld dringend angewiesen sind.
Die Wahrheit ist doch: Es gibt ganz viele Menschen,
die nicht die Möglichkeit haben, durch Karrieresprünge
mehr Geld zu verdienen. Wenn sie in einer bestimmten
Lebenssituation einmal mehr Geld brauchen, dann haben
sie in der Firma oder in der Verwaltung, in der sie arbeiten, oft nicht die Möglichkeit, ihr Einkommen durch
Überstunden zu steigern. Ihre einzige Möglichkeit, mehr
Geld zu verdienen, besteht darin, einen Zweitjob auszuüben. Wir von der Union haben für diese Leute sehr viel
Sympathie.
({11})
Der Fleiß muss sich eben auch lohnen.
Da ist auch etwas aufgegangen. Ich war mir damals
gar nicht so sicher, dass es aufgehen würde. Fast alle Minijobs werden nebenbei gemacht. Es ist also nicht zu einer Aufspaltung von normalen Arbeitsverhältnissen in
Minijobs gekommen. Der Minijobber ist zum Beispiel
jemand, der schon eine Rente erhält. Wie wir in dem Bericht lesen konnten, ist der Anteil der über 55-Jährigen
relativ hoch. Auch Hausfrauen machen Minijobs. Es ist
eben etwas, was nebenbei gemacht wird. Ich bin also
sehr damit zufrieden, wie das gelaufen ist.
Wie sieht es mit den Beschäftigungen im Haushalt
aus? Was den Haushalt angeht - steuerliche Absetzbarkeit, relativ einfaches Verfahren -, so haben wir damals,
finde ich, im Grunde nichts falsch gemacht.
({12})
Trotzdem meldet nur ein verschwindend geringer Teil
der Menschen eine solche Beschäftigung an. Dabei wissen wir alle, dass es in Deutschland ganz viele Haushaltshilfen gibt. Das liegt einfach daran, glaube ich, dass
es insofern gar kein Unrechtsbewusstsein gibt. Leute wie
wir, die im öffentlichen Leben stehen, müssen natürlich
aufpassen und werden so etwas anmelden,
({13})
aber jeder Privatmann denkt sich doch: Mein Gott, ich
zahle das aus meinem Portemonnaie.
Außerdem kann man im Haushalt sowieso nicht kontrollieren. Der Haushalt genießt ja starken Schutz vor
staatlichen Kontrollen.
({14})
Wir streiten im Bundestag darüber, ob Privatwohnungen
zum Zwecke der Verbrechensverfolgung abgehört werden dürfen. Eine Sozialversicherung kann im Haushalt
überhaupt nicht kontrollieren. Das ist die Wahrheit. Deswegen ist die Geschichte so, wie sie ist.
Wir können das nur lösen, wenn Sie jetzt auf uns hören, so wie Sie bei den Minijobs richtigerweise auf uns
gehört haben.
({15})
Wir müssen den Schritt tun, dass der private Haushalt
ein ganz normaler Arbeitgeber wird, so wie es Friedrich
Merz vorschlägt.
({16})
Damit bin ich bei einer Baustelle, die uns in den
nächsten Tagen sehr beschäftigen wird: Wie machen wir
das mit dem Arbeitslosengeld II, mit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe? Dabei
geht mir Folgendes am meisten durch den Kopf: Mit den
Familienangehörigen sind immerhin 4,3 Millionen Leute
betroffen. Wir müssen uns das einmal vorstellen: In
Deutschland sind 4,3 Millionen Menschen - diejenigen,
die keine Arbeit haben, und ihre Familienangehörigen in der Grundsicherung. Von den arbeitsfähigen Erwachsenen haben 50 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung.
Von folgender Aussage lasse ich mich nicht abbringen: Es gibt Menschen, für die wir eine einfach strukturierte Arbeit brauchen. Die können nicht das leisten, was
in der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft allgemein verlangt wird. Für diese Menschen könnte der
Haushalt eine Beschäftigungsperspektive sein. Wenn wir
das auf breiter Front wollen, dann muss der Haushalt
seine Beschäftigten genauso wie ein normaler Arbeitgeber brutto bezahlen können.
({17})
Wir bekommen das doch nachher über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern wieder und die Menschen haben Beschäftigung.
Ich bin mir sicher, dass die Frage, wie wir es erreichen, dass in Akademikerhaushalten wieder mehr Kinder
geboren werden, auch mit der Kinderbetreuung zusammenhängt. Ich stelle mir dazu vor, dass die Kinderbetreuung nicht nur in Gemeinschaftseinrichtungen des Staates
oder der Kirchen erfolgt, sondern auch durch Haushaltshilfen organisiert werden kann.
({18})
Wir wissen nicht, wie wir in der Industrie Arbeitsplätze für die von mir eben beschriebenen Menschen finden sollen. Das Wirtschaftswachstum kann noch so groß
werden, für diese Menschen werden keine Arbeitsplätze
entstehen. Für sie wird es auch in der Wissensgesellschaft keine Arbeitsplätze geben; allenfalls ein paar im
Dienstleistungsbereich. Lassen Sie uns doch den Schritt
tun, für diese Menschen im Haushalt eine Beschäftigungsperspektive zu eröffnen! Ich bin ganz sicher, dass
dann auch all diese Beschäftigungsverhältnisse legal bestehen werden. In dem Haushalt, der einstellt, wird man
sich nämlich sagen: Ich muss das jetzt offiziell machen,
({19})
weil ich mir die Steuervorteile nicht entgehen lassen
will. Punkt.
({20})
Dann haben wir das im Griff und werden sehen: Wir
werden Hunderttausende oder Millionen von zusätzlich
Beschäftigten in Deutschland haben. Wir werden
Schwarzarbeit bekämpft haben. Wir werden auch von
der Statistik und den Einnahmen her wesentlich besser
dastehen als heute. Weil es offizielle Arbeitsverhältnisse
sind, werden die Menschen
({21})
auch besser geschützt sein als heute. Ich spreche da einmal als Sozialpolitiker und denke an unsere Herkunft,
lieber Peter. Der Schwarzarbeiter ist ja überhaupt nicht
geschützt, höchstens ein bisschen über Gerichtsurteile.
Gehen Sie doch diesen Weg mit uns! Machen Sie es
wie bei den 400-Euro-Jobs: Hören Sie auf das, was wir
sagen! Auch wir haben nicht immer Recht, aber wir haben ganz bestimmt auch nicht immer Unrecht. In der Arbeitsmarktpolitik haben wir zur Zeit einfach die besseren
Konzepte,
({22})
weil wir seit 1998 viel darüber nachgedacht haben.
Wir sollten uns aber darüber freuen, dass wenigstens
eine Sache, die im letzten Jahr auf den Weg gebracht
wurde, geklappt hat. Die Bilanz bei allen anderen Arbeitsmarktinstrumenten - von der PSA bis hin zur IchAG - ist eher traurig. Gehen Sie deshalb auf dem jetzt
eingeschlagenen Weg weiter und geben Sie sich einen
Stoß, dass wir bei den Gesprächen über Hartz IV, die
morgen beginnen, zu einem solchen Konzept kommen.
({23})
Ich kann Ihnen nur sagen: Die Zusammenführung geht
nur, wenn wir erst einmal darüber reden, wo wir Beschäftigungsfelder für diese Menschen finden. Dazu
noch einmal: Lasst uns den Haushalt als Arbeitgeber genau ins Visier nehmen!
Lassen Sie uns weiterhin vernünftig miteinander darüber reden, welche Arbeit zumutbar ist. Auch wir
Christdemokraten wollen nicht, dass die Leute für einen
Appel und ein Ei arbeiten. Auch wir sind für einen gerechten Lohn.
({24})
- Das sage ich auch Herrn Koch. Er sieht das übrigens
genauso wie ich. - Allerdings kann die Festschreibung
auch nicht lauten: orts- und tarifüblich. Wir haben gesehen, was Sie mit einer solchen Festschreibung angerichtet haben, als Sie die Zeitarbeit in die Tarifbindung gezwungen haben. Jahrelang hat die Zeitarbeit als
einziges Segment des Arbeitsmarktes in Deutschland
Zuwächse verzeichnet. Seitdem Sie zwingend die Tarifbindung vorgeschrieben haben, verliert sie an Bedeutung.
Lassen Sie uns auch ganz vernünftig darüber reden, wie
wir in Deutschland Menschen, für die nur eine einfach
strukturierte Arbeit infrage kommt, im Niedriglohnbereich
fördern. Ich will keine Regelung für ganze Branchen,
aber eine Lösung für Einzelfälle. Ich will Entscheidungsstrukturen, damit solchen Menschen wieder eine
Beschäftigungsperspektive gegeben werden kann. Es ist
allemal besser, wenn sie eine Aufgabe finden und einen
Teil ihres Lebensunterhalts durch eigene Arbeit verdienen. Weil wir denken, dass jemand, der acht Stunden am
Tag arbeitet, besser als ein Sozialhilfeempfänger leben
soll, müssen wir die Löhne dann eben ein bisschen aufstocken. Gehen Sie auch diesen Weg mit uns!
Wenn wir diese drei Punkte am Freitag und in den
kommenden Tagen einvernehmlich klären können, dann
wird uns als vernünftigen Menschen - da bin ich mir
ziemlich sicher - auch etwas dazu einfallen, wie wir von
der Administration her die Trägerschaft so gestalten
können, dass es dann auch funktioniert.
({25})
Ich hoffe sehr, dass wir hier eine ähnliche Regelung wie
vor einem Jahr hinbekommen. Wir haben damals in der
Adventszeit verhandelt, wir verhandeln auch jetzt wieder in der Vorweihnachtszeit.
({26})
Vielleicht führt ja das auch bei den Sozialdemokraten zu
einem Verhalten, das etwas mehr an der Realität orientiert ist, als es das sonst im Allgemeinen ist.
Schönen Dank.
({27})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer arbeitslos ist und nicht aufgibt, der greift nach jedem Strohhalm, egal, ob der Halm Minijob oder Ich-AG
heißt. Gerade deshalb möchte ich uns allen den Film
„Halbe Treppe“ von Andreas Dresen empfehlen. Er
sucht nicht den Superstar. Er zeigt das wahre Leben, er
zeigt Menschen mit ihren Sorgen und die alltägliche
Liebe, also all das, was hier im Bundestag oft nur statistisch verwaltet wird. Das nimmt allerdings die Politik
nicht aus der Verantwortung.
Zur politischen Bilanz gehört: Die Anzahl der Minijobs hat zugenommen, aber die Massenarbeitslosigkeit
hat nicht abgenommen, nicht einmal statistisch. Auch
Hartz bietet keine Linderung in dieser Situation. Deshalb
verbietet sich bei der Debatte über den vorliegenden Bericht jede Feierstunde.
({0})
Alle seriösen Untersuchungen belegen: Minijobs sind
bestenfalls ein Pflaster für ungeheilte Wunden. Sie werden als Zubrot ergriffen. Mit Existenz sichernder Arbeit
haben Sie nichts zu tun. Obendrein belegen die Statistiken: Dieses Manko wirkt im Osten noch gravierender als
in den alten Bundesländern. Der Bedarf an Putzfrauen
oder Dumpingsheriffs ist an der Oder offenbar geringer
als mancherorts am Main. Aber Sie kennen ja meinen
Vorwurf: Die Mehrheit des Bundestages guckt noch immer einäugig durch die Westbrille und bleibt so auch in
dieser Frage ostblind.
({1})
Grundsätzlich geht es allerdings nicht um ein OstWest-Problem; es geht um die gesellschaftliche Frage:
Wohin soll die Entwicklung in der Bundesrepublik gehen? In den viel zitierten USA kursiert ein Witz: Der
Präsident lobt sich, er habe heute schon wieder fünf Minijobs geschaffen. „Stimmt“, sagt der Pizzafahrer, „vier
davon habe ich.“ Von irgendetwas müsse man ja leben.
Ich denke, das ist nicht die Perspektive, die wir für erstrebenswert halten sollten. Zu Beginn war Rot-Grün
noch der Meinung: Minijobs unterlaufen die Sozialversicherungspflicht, sie gefährden das Renten- und das Gesundheitssystem. Das ist auch heute noch grundsätzlich
richtig. Inzwischen verfolgt Rot-Grün allerdings das Gegenteil. Zwar spüren alle: Die Sozialsysteme - das Renten- und das Gesundheitssystem - krachen. Aber alle
Fraktionen loben derweil eine Arbeitswelt, die genau das
befördert; der Kollege Kurth war heute eine gewisse
Ausnahme.
Diese Kehrtwende von Rot-Grün ist nicht nur unlogisch, sie ist fundamental. Sie haben inzwischen das
Prinzip preisgegeben, wonach die Wirtschaft für die
Menschen da ist, aber nicht umgekehrt. Sie haben sich
dem Irrglauben hingegeben: Alles wird gut, wenn die
Wirtschaft nur regiert. Deshalb drängen Sie in billige
Jobs statt auf gute Arbeit. Das ist aber keine Politik, sondern führt uns in die Sackgasse.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich gönne jeder Kellnerin im Bayerischen Wald ihren kleinen Job
und wünsche jedem Studenten auf dem Taxibock oder
auch in irgendeinem Bundestagsbüro Erfolg. Nur, eine
Lösung für die großen Herausforderungen - die Arbeitslosigkeit und die Reform der Sozialsysteme -, genau das
sind die Minijobs nicht. Ganz im Gegenteil, sie sind Teil
unseres Problems.
({2})
Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Doris Barnett, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal eine Feststellung: Wir haben die geringfügige Beschäftigung aus der Schmuddelecke herausgeholt, ebenso seinerzeit die Leiharbeit.
({0})
Wir erkennen die Probleme und lösen sie gut, Herr Kolb.
Beide Formen der Beschäftigung hatten und haben leider
immer noch das Stigma, den Vollzeit- und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen unterlegen
zu sein - im sozialen Ansehen und in der Wertigkeit; in
der Lohnhöhe ja sowieso. Bis zu unserer ersten Reform
1999 waren die geringfügig Beschäftigten bei den Sozialversicherungssystemen außen vor. Das war ein Anschlag, Herr Strebl, aber von Ihnen! Die Folgen davon
werden insbesondere die Frauen noch lange spüren,
({1})
trotz der Forderungen der Opposition, zum Beispiel nach
eigenständiger Alterssicherung der Frauen. Sie hatten
es 16 Jahre in der Hand, etwas zu ändern, die Lücken in
den Rentenbiographien der Frauen zu schließen. Na ja,
auch da räumen wir hinter Ihnen auf. Lieber Kollege
Laumann, Sie haben es ja gesagt: Seit 1998 können Sie
endlich kräftig nachdenken. Tun Sie das weiter so, dann
nützen Sie der ganzen Republik.
({2})
Jeder von uns kennt doch etliche Frauen - Frauen machen immer noch den Großteil der Arbeitnehmer in dieser Beschäftigungsform aus -, die nach den Kindererziehungsjahren jahrelang geringfügig beschäftigt waren
und keinerlei Anrechnung dieser Zeiten hatten, auch
wenn sie es noch so gerne gewollt hätten und dafür sogar
Beiträge gezahlt hätten.
Mit den jetzt vorliegenden Möglichkeiten der geringfügigen Beschäftigung, den Minijobs und den Jobs in der Gleitzone, also den Midijobs, ist es doch endlich rentabel - neudeutsch: wir haben die Incentives gesetzt -, Personen aus
der Schwarzarbeit in legale Beschäftigungsverhältnisse zu
bringen. Denn was sind diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse anderes als Teilzeitbeschäftigungen?
({3})
Sie sind auch versicherungspflichtig für den Arbeitgeber. Sie sagten es schon, Herr Laumann. Dazu kommt
noch eine Pauschalsteuer von 2 Prozent. Damit haben
wir das beibehalten, wofür wir zusammen mit den Gewerkschaften immer gekämpft haben: dass für den Arbeitgeber jede Arbeitsstunde bezüglich der Abgaben
gleich teuer sein muss, egal, ob es eine geringfügige Beschäftigung oder eine Vollzeitbeschäftigung ist.
Die Beschäftigten haben es ihrerseits in der Hand,
echte Rentenanwartschaften aufzubauen: Mit eigenen
Beiträgen können sie ihre Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung aufrechterhalten bzw. erwerben. Selbst wenn es sich um kleine Renten handelt,
ist das immerhin etwas. Außerdem besteht dadurch die
Möglichkeit, die staatlich unterstützte Zusatzrente zu
bekommen. Das ist besonders für diese Beschäftigungsgruppe attraktiv, weil zum Beispiel eine allein erziehende Mutter von zwei Kindern bei einem relativ geringen Jahresbeitrag von circa 75 Euro ab 2008 mit einer
Zulage von rund 500 Euro pro Jahr rechnen kann. Allerdings - das gebe ich zu - bedarf es hier noch vermehrter
Aufklärung,
({4})
damit mehr Leute diese Möglichkeiten nutzen. Sie sehen: Wir haben an alle gedacht, gerade auch an diejenigen, die einer besonderen Unterstützung bedürfen.
({5})
Wir kümmern uns wirklich um die Schicksale der
Frauen. Ob mit oder ohne Kinder - auf jeden Fall brauchen Frauen eine eigenständige Alterssicherung.
Geringfügige Beschäftigung hat vielfältige Gründe:
Die Arbeitnehmerin sucht eine solche zum Beispiel wegen der Kinderbetreuung; sie will darüber den Wiedereinstieg schaffen oder die Arbeit in der letzten Erziehungsphase langsam wieder aufnehmen. Vielleicht hat sie einen
Hauptjob und will nebenher etwas verdienen. - In diesem
Zusammenhang muss ich bemerken, dass die Zahl von
160 000 nicht ganz richtig ist, Herr Kolb. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es nicht unser Ziel ist,
dass die Menschen mindestens zwei Jobs haben müssen,
um sich über Wasser halten zu können. - Oder die Arbeitnehmerin will sich ihr Studium finanzieren. Auch
der Rentner kann sich etwas dazu verdienen. Diese Möglichkeit haben wir geschaffen.
Geringfügige Beschäftigung hat ein breites Spektrum.
Wenn wir uns den Bericht der Knappschaft über die aktuelle Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung am
Arbeitsmarkt ansehen, können wir feststellen, dass diese
Beschäftigungsart nicht gering bezahlter, weil gering bewerteter Arbeit vorbehalten ist. In allen Wirtschaftszweigen und Betrieben finden wir diese Beschäftigungsform.
({6})
Arbeitgeber kann beispielsweise der Existenzgründer
sein, der eine Stundenkraft zum Aufbau seiner Bürotechnik oder für die Computerbetreuung braucht. Auch ein
kleiner Handwerksbetrieb braucht nur eine Stundenkraft
und keine Buchhalterin, die ganztags oder halbtags beschäftigt ist. Arbeitsspitzen müssen abgefangen werden,
wobei wir allerdings dem Missbrauch vorbeugen und
darauf achten müssen, dass es keine Aufspaltung von
Vollzeitarbeitsplätzen gibt. Arbeitgeber kann auch der
Privathaushalt sein. Sie haben es bereits angesprochen.
Natürlich werden auch viele Arbeitssuchende, die eigentlich Vollzeit arbeiten wollen, diese Jobs annehmen,
weil es sonst im Augenblick kein anderes Angebot für
sie gibt. Diese Tatsache verkenne ich nicht. Minijobs
sollen nicht die Regel werden, sondern als Brücke dienen. Wir Sozialdemokraten und auch unser Koalitionspartner erwarten von den Arbeitssuchenden, dass sie ein
solches Arbeitsplatzangebot nicht ablehnen; denn es ist
nicht unbillig zu erwarten, dass diejenigen, die steuerfinanzierte Leistungen erhalten, das Ihre dazu beitragen,
die Bedürftigkeit zu überwinden.
Außerdem ist geringfügige Beschäftigung - ich komme
zu einer weiteren wichtigen Feststellung - nicht gleichzusetzen mit Dumpinglöhnen. Wir werden das nicht
tun. Ich habe Sie hoffentlich falsch verstanden, dass Sie
geringfügige Beschäftigung mit Billiglohn gleichsetzen
wollen. Denn die Bezahlung in dieser Beschäftigung hat
sich - das ist unsere Auffassung - nach Tariflohn bzw.
nach ortsüblichem Lohn zu richten.
({7})
Das haben wir in Hartz IV ganz klar geregelt. Helfen Sie
jetzt bitte mit, dass diese Regelung im Vermittlungsausschuss nicht gekippt wird!
({8})
Damit kann das Arbeitsamt auch niemanden zwingen,
unter diesem Niveau eine Arbeit anzunehmen. Ich sage
das hier so deutlich, um einer Legendenbildung vorzubeugen.
Zwischen geringer Entlohnung - das sind zum Beispiel 6,85 Euro pro Stunde, was einem Tariflohn für eine
Reinigungskraft in einem Leiharbeitsunternehmen entspricht, gegenüber 8,02 Euro pro Stunde im Gebäudereinigerhandwerk - und Dumpinglöhnen zwischen 2 und
4 Euro pro Stunde, wie Sie sie fordern,
({9})
liegen Welten. Jetzt werden die ganz Wirtschaftsfreundlichen wahrscheinlich sagen: Wenn tarifungebundene Firmen Leute finden, die - sagen wir einmal - für 400 Euro
100 Stunden arbeiten, dann soll es recht sein. Nein, das
darf uns nicht recht sein! Wir lassen doch nicht sehenden
Auges zu, dass die funktionierende Sozialpartnerschaft
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kaputtgemacht wird,
({10})
dass die gewissenhaften Arbeitgeber von Menschenschindern, die die Notlage der Arbeitssuchenden rücksichtslos ausnutzen, an die Wand gedrückt werden.
({11})
Wir alle in diesem Hause haben die Pflicht, aufzuklären und Missbrauch zu verhindern. Selbst der FDP kann
es doch nicht recht sein, wenn hier Schmutzkonkurrenz
entsteht, die den Wettbewerb massiv verzerrt. Wenn Ihnen, wenn uns allen etwas am Mittelstand, den es jetzt
noch gibt, liegt, dann haben wir alles zu tun, um faire
Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und zu erhalten.
Also: Hartz IV zustimmen!
({12})
Wir können weder Wildwest- noch Wildostmethoden
dulden. Solchen Firmen darf die öffentliche Hand keine
Aufträge mehr erteilen.
In diesem Hause wird viel über die Dienstleistungsgesellschaft geredet. Wir gehen diesen Weg und haben dafür auch sozialverträgliche Instrumente zur Verfügung
gestellt. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute als Minijobber bei einem Existenzgründer arbeiten, morgen von
ihm, wenn er sich etabliert hat, in Vollzeitbeschäftigung
übernommen werden. Dazu geben wir beiden Seiten
eine Chance.
Mini- und Midijobs, also geringfügige Beschäftigung,
gehören nicht in die Schmuddelecke; das hat weder der
Würstchenverkäufer noch der PC-Spezialist verdient.
Was sie trennt, sind die verschieden hohen Stundenlöhne. Was sie eint, ist, dass ihre Arbeit der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Das ist eine Errungenschaft,
auf die wir Sozialdemokraten stolz sind.
({13})
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/758 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 15/1506 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({1})
- Drucksache 15/1958 Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Hilbrecht
Bernd Neumann ({2})
Claudia Roth ({3})
Hans-Joachim Otto ({4})
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Bernd Neumann ({5}), Günter Nooke,
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Verbesserung der Rahmenbedingungen für
den deutschen Film
- Drucksachen 15/1034, 15/1554 Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein interfraktioneller Änderungsantrag vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau
Staatsministerin Christina Weiss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der deutsche Film ist wieder in den Top Ten.
Der deutsche Film hat sich zurückgemeldet, er macht
wieder neugierig und - noch wichtiger - er beweist wieder Mut; eine günstige Ausgangslage also, um ein neues
Filmförderungsgesetz auf den Weg zu bringen, das die
Chancen des deutschen Films deutlich verbessern wird;
eine Herausforderung zudem, endlich ein maßgeschneidertes Marketing für den deutschen Film zu entwerfen.
Letztlich geht es nicht nur darum, den deutschen Film
hierzulande erfolgreich in den Kinos zu halten; es geht
auch darum, ihm den Weg in die internationale Arena zu
ebnen. Bei der heutigen Abstimmung über das neue
Filmförderungsgesetz ernten wir die Früchte eines Reformprozesses, der mit dem ersten Bündnis für den
Film begann, der sich über fünf Runden hinzog, zahllose
Einzelgespräche und Einzelverhandlungen verlangte und
schließlich im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages ankam. Es war gut, dass wir lange und intensiv über
die Zukunft des deutschen Films diskutiert und in konstruktiver Weise nach Chancen und Möglichkeiten gesucht haben. Dafür gebührt dem Kulturausschuss großer
Dank.
({0})
Natürlich wird der deutsche Film nur so kühn und so
wagemutig sein können, wie es die Künstler sind, die ihn
produzieren. Die Politik aber hat die Frage zu beantworten, wie stabil oder wie morsch die Strukturen der
Filmwirtschaft sind. Wer über Wirtschaft redet, der will
Erfolg. Dazu will dieses Wirtschaftsgesetz auch beitragen, was nicht bedeutet, dass die Kunst dabei zerrieben
wird. Wenn wir einen neuen Zeitgeist im deutschen Kino
registrieren, dann wollen wir auch, dass die Filme von
Regisseurinnen und Regisseuren wie Wolfgang Becker,
Sönke Wortmann oder Christian Petzoldt dauerhaft ein
breites Publikum finden, auch im deutschen Kino.
({1})
Wer bei den genannten Beispielen davon spricht, hier
hätten die Regisseure Massengeschmack bedient, der beleidigt Macher, Aussagen und Talente.
({2})
Der deutsche Film besitzt ein wachsendes Potenzial.
Er erreicht aber mit 11 bis 19 Prozent noch nicht den Zuschaueranteil, den er verdient. Wenn also die Zuschauer
wegbleiben, die Produzenten nicht solvent genug sind
und die Werbung zu bescheiden ausfällt, dann muss das
System verbessert werden. Unser Ziel ist, neben und
nach der Produktion das Marketing für die Filme verbessern zu können. Dazu braucht man mehr Geld. Es ist
uns gelungen - und es kann in diesen Zeiten weiß Gott
nicht oft genug betont werden, dass es ein Gelingen
war -, das Fördervolumen um 40 Prozent zu erhöhen.
({3})
Rund 64 statt 46 Millionen Euro fließen in die Kassen
der Filmförderungsanstalt. Niemand hätte daran zu Beginn dieses Jahres geglaubt.
({4})
Es geht aber nicht nur um Masse. Es geht auch darum,
ein bestehendes System so zu verändern, dass es den
Gesetzen der Kunst und nicht den Verordnungen der
Bürokratie folgt. Es geht um vier Schlüsselfiguren: die
Kreativen, die Produzenten, die Verleiher und die Kinobetreiber. Kein guter Film ohne einen guten Stoff, kein
Ereignis ohne Begabung. Wenn wir nicht wollen, dass
allein das Fernsehen die Talente ködert, dann bedürfen
Autorinnen und Autoren sowie Regisseurinnen und Regisseure einer wirksameren Fürsorge. Das neue Gesetz
enthält solche Anreize. Die Entwicklung des Drehbuches rückt stärker in den Fokus der Filmpolitik. Das
künstlerische Urteil wird künftig in den Gremien der
Filmförderungsanstalt wichtiger sein.
Zweite Gruppe. Die Produzenten verfügen oft über
ein zu geringes Eigenkapital. Das macht sie von Juryentscheidungen abhängig; das schwächt ihre unternehmerische Eigenverantwortung. Deshalb wollen wir die Rahmenbedingungen für das Beschaffen von Kapital
verändern. In der Novelle ist die Möglichkeit von Bürgschaften durch die FFA vorgesehen, die den Produzentinnen und Produzenten eine Zwischenfinanzierung erleichtern sollen. Damit verbessern wir auch die
rechtlichen Rahmenbedingungen für Filmproduzenten in
Deutschland.
Außerdem weiten wir die automatische Referenzfilmförderung aus. Erfolgreiche Produzenten, die ihre
Tauglichkeit sowohl bei den Zuschauern als auch bei
Festivaljuroren unter Beweis gestellt haben, können
ohne ein weiteres Juryvotum mit einer Förderung rechnen. Wir haben es uns mit der Referenzfilmföderung gewiss nicht leicht gemacht. Das System brauchte eine
ganze Reihe von Feinjustierungen, um am Ende wirksam werden zu können. Fest steht - das ist ganz neu in
diesem Gesetz -: Wir setzen nicht nur auf Zuschauerbzw. Mainstream-Erfolge. Wir prämieren vielmehr auch
den künstlerischen Wert eines Films.
({5})
Der gute Start auf einem Festival wird ebenso Anerkennung erfahren wie ein Preis. Nicht jeder Film erhält einen Preis auf einem Festival.
({6})
Wir wissen, dass Publikumsakzeptanz allein nicht
ausreicht, um über Gewicht und Nachhaltigkeit eines
Filmes zu urteilen. Gerade deshalb haben wir andere
Kriterien aufgestellt, die vorher keinerlei Berücksichtigung fanden. Mit diesen Marken haben wir gezielt eine
internationale Ausrichtung des deutschen Films verknüpft. Derzeit fließt ein Lizenzentgelt von rund
970 Millionen Euro in den Import. Dem steht eine magere Exportsumme von 64,7 Millionen Euro gegenüber.
Deutschland ist also ein Filmimportland. Gerade deshalb
ist der Erfolg des deutschen Films auf Festivals im Ausland ebenso wichtig wie die Resonanz im Inland, und
zwar sowohl aus Exportgründen als auch aus kulturellen
Gründen. Dies wird sich in einer handwerklich geschickteren Außenvertretung des deutschen Films beweisen
müssen.
Kommen wir zur dritten Gruppe, zu den Verleihern.
Sie sind die Schaltstelle zwischen den Filmemachern
und den Zuschauern. Aus diesem Grund heben wir die
Absatzförderung für Verleiher und Videovertriebe
deutlich an. Die Förderung wird um mehr als 100 Prozent auf rund 14,5 Millionen Euro steigen. Darin enthalten sind auch Medialeistungen der Privatsender. Dies ist
eine enorme Anstrengung, die sich als effektive Werbung für deutsche Kinofilme im Fernsehen auszahlen
wird. Wir können sicher sein, dass dies zu mehr Besuchern in unseren Kinos führen wird.
Ein Wort zu den Kinobetreibern: Ich bin froh über die
Vielfalt unserer Kinoszene, über das Angebot der Filmtheater. Das soll auch so bleiben. Daher wollen wir mit
unserer Novelle vor allem kleine und mittlere Kinos, insbesondere Programmkinos, durch Investitionshilfen unterstützen.
({7})
Die Novelle soll auch Signalwirkung für die Filmwirtschaft haben. Den deutschen Unternehmen werden
Wachstumsraten von jährlich 6,6 Prozent prophezeit.
Über 8 000 Unternehmen beschäftigen rund 100 000 Arbeitnehmer und weitere 50 000 freie Mitarbeiter. Zwar
spielt der Kinofilm im Hinblick auf den Gesamtumsatz
eine untergeordnete Rolle, aber er ist ein umso größerer
Imageträger für die Branche, nicht mehr, aber auch nicht
weniger.
Es war schon davon die Rede, dass es mich mit
Freude erfüllt, in welcher Weise das finanzielle Aufkommen für den deutschen Film steigt. Das ist in dieser Zeit
nicht selbstverständlich, weil das Geld überall knapp ist.
Dafür braucht es starke Partner und vor allem ein verändertes Bewusstsein für den deutschen Film. Beides war
vorhanden. So dürfen wir heute davon sprechen, dass der
Kraftakt gelungen ist.
Zu verdanken haben wir dies den Fernsehveranstaltern, die ihre freiwilligen Leistungen an die FFA auf
22 Millionen Euro erhöhen und damit verdoppeln. Berücksichtigt man zugleich die Beteiligung der öffentlichrechtlichen Sender an den Filmförderungen der Länder
- davon kann man nicht absehen -, dann ergibt sich ein
doch beträchtlicher Beitrag der Sender für die deutsche
Filmwirtschaft. Eine Gerechtigkeitslücke, wie sie von
der Kinobranche geradezu kampagnenhaft beklagt
wurde, vermag ich nicht zu erkennen.
({8})
Wie sehr ARD und ZDF, den großen Geldgebern der
FFA, am Wohl des deutschen Films gelegen ist, beweist
auch die Tatsache, dass sie nun auf einen Sitz im Vergabeausschuss verzichten, obwohl die Sitzverteilung unser
Verhandlungsergebnis war.
({9})
Herr Otto, Verhandlungsergebnisse sind nach meiner
Kenntnis bislang noch keine Erpressungsversuche.
({10})
ARD und ZDF signalisieren Gleichbehandlung mit den
Privaten und ordnen eigene Interessen dem größeren
Ziel unter. Das ist verdienstvoll und solidarisch und findet daher meinen Respekt.
({11})
Spätestens damit war nämlich der Weg zu einem fraktionsübergreifenden Solidarpakt für den deutschen Film
frei.
Wie Sie wissen, leistet auch die Kino- und Videowirtschaft ihren Beitrag, damit das Fördervolumen angehoben werden kann. Ab kommendem Jahr soll die
gesetzliche Abgabe an die Filmförderungsanstalt
durchschnittlich 2,7 Prozent des Bruttoumsatzes an der
Kinokasse betragen.
Weil es hier in der Vergangenheit immer wieder zu
Protesten kam, will ich noch einmal deutlich beziffern,
worum es tatsächlich geht. Wir streiten uns um eine Abgabe, die wir um genau 3 Cent pro verkaufte Kinokarte
erhöht haben. Davon zahlen die Kinobetreiber nur etwa
die Hälfte. Die andere Hälfte zahlen die Verleiher.
3 Cent mehr für die Zukunft des deutschen Filmes - zum
Vergleich: In Frankreich beträgt die Abgabe 11 Prozent.
Ich kann nachvollziehen, dass die Kinowirtschaft im
ersten Halbjahr von Umsatzeinbrüchen geschlagen war
und eine Abgabenerhöhung Unbehagen bereitet. Ich
kann nicht nachvollziehen, dass unsere Abgabe gleich zu
lebensgefährlichen Existenzkrisen führen soll, wie das
von Verbänden behauptet wird.
({12})
Die Kampagnen, die die Novelle des Filmförderungsgesetzes begleitet haben, waren populistisch und irreführend und schadeten der gemeinsamen Sache.
Der Protestnebel hat den Blick für das Ziel verhängt
und außerdem einer falschen Strategie Vorschub geleistet. Denn je erfolgreicher der deutsche Film ist, umso
voller sind die Kinos. So einfach ist das. Das Problem
sind nicht die verkauften Kinokarten mit der Abgabe,
das Problem sind die nicht verkauften Kinokarten. Darüber sollten wir an anderer Stelle reden.
({13})
Was wir derzeit am wenigsten brauchen können, sind
Scharfmacherei und Egoismen. Das hat der deutsche
Film in dieser Situation nicht verdient.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen
Ausblick wagen. Lassen Sie es mich mit Sepp Herberger
sagen: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Unsere Novelle liegt vor. Damit sind wir in Führung. Aber es geht
weiter. Insbesondere im Urheber- und im Steuerrecht
stehen Veränderungen an, die keinerlei Aufschub dulden
und an denen wir jetzt schon arbeiten müssen, noch bevor das FFG beschlossen sein kann.
Anlässlich der Vorlage dieser Novelle möchte ich allen Beteiligten für die wirklich konstruktive Unterstützung und Zusammenarbeit herzlich danken. Ich wünsche, dass wir mit dem Gesetz ein neues Marketing für
den deutschen Film begleiten können.
Ich danke Ihnen.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Neumann,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß
nicht, ob es sich bis zur Bundesregierung herumgesprochen hat, Frau Weiss: Wir diskutieren hier zwei Tagesordnungspunkte, zum einen das Filmförderungsgesetz
und zum anderen die Antwort auf unsere Große Anfrage
zu den Rahmenbedingungen für den deutschen Film, die
mindestens so entscheidend sind wie das Filmförderungsgesetz. Es ist bezeichnend, dass Sie dazu bis auf einen Halbsatz am Schluss nichts gesagt haben. Ich bedauere das schon zu Anfang.
({0})
Zur Lage des deutschen Films möchte ich einige wenige Bemerkungen machen. Licht und Schatten liegen
eng beieinander. Positiv kann man die Erfolge - vor allem
die internationalen Erfolge - einzelner deutscher Filme
nennen: den Oscar für „Nirgendwo in Afrika“, den Goldenen Löwen für Katja Riemann in „Rosenstraße“, wie
natürlich auch den insbesondere in Deutschland erfolgreichen Film „Good Bye, Lenin!“, der allerdings auch
Bernd Neumann ({1})
international reüssiert. Einen deutschen Film, den in
Frankreich mittlerweile mehr als 1 Million Zuschauer
gesehen haben, hat es lange nicht mehr gegeben.
({2})
Das ist das Positive.
Bedingt positiv ist der Marktanteil deutscher Filme
in den deutschen Kinos. Im Jahre 2003 liegt dieser
Marktanteil zurzeit bei 14,5 Prozent. Man kann nun sagen, dass das eine Steigerung gegenüber dem Marktanteil von 11,8 Prozent im Jahre 2002 ist. Dennoch ist dies
sehr trügerisch; denn wenn Sie sich bei den deutschen
Filmen den einen Erfolgsfilm „Good Bye, Lenin!“ wegdenken - das wollen an sich wir nicht tun -, dann liegen
wir bereits bei einem Anteil von 7,8 Prozent. Das heißt,
der Erfolg von „Good Bye, Lenin!“ macht 44 Prozent
des Anteils deutscher Filme in den deutschen Kinos aus.
Weil man nicht davon ausgehen kann, dass in jedem Jahr
ein solcher Volltreffer gelingt, kann einem bei diesen
Zahlen nicht ganz wohl sein. Auch dies muss gesagt
werden.
({3})
Negativ ist die dramatische Entwicklung in den Kinos.
Ich rede hier noch gar nicht von der Abgabe, Frau Weiss,
aber Sie sollten diese Entwicklung zumindest zur Kenntnis nehmen; denn zum Film gehört das Kino. Wir haben
in den letzten neun Monaten einen Umsatzrückgang von
90 Millionen Euro - das sind 13,3 Prozent - und einen
Besucherrückgang um 12,1 Prozent, von 116 Millionen
im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres auf 102 Millionen, zu verzeichnen. Sie wissen, dass sich viele Kinos, insbesondere kleine Kinos, in einer Existenzkrise
befinden, die sich allerdings zunehmend nicht nur auf
die kleinen, sondern auch auf die Multiplexkinos bezieht. Wenn Kinos um ihre Existenz ringen, habe ich
schon Verständnis dafür, dass die Kinobetreiber sagen:
Wir haben Bedenken, dass die Abgabe, die wir leisten
müssen, erhöht wird. Immerhin soll sie von
21,3 Millionen Euro auf 25 Millionen Euro erhöht werden. Das ist schon ein gang schöner Brocken. Das würde
ich nicht so abtun, wie Sie das gemacht haben.
Nun zum Filmförderungsgesetz selbst. Wir stimmen
ihm zu, weil die wesentlichen Forderungen von uns, die
wir im Laufe des Verfahrens auch auf Grundlage des erfolgten Hearings gestellt haben, übernommen wurden
und dadurch aus meiner Sicht der Regierungsentwurf an
wichtigen Punkten entscheidend verbessert wurde.
({4})
Das neue Filmförderungsgesetz wird in der Tat, so
glaube ich, zur Stärkung des deutschen Films einen
Beitrag leisten. Dass wir dieses Gesetz einstimmig beschließen, ist heutzutage schon etwas Besonderes; bei
anderen Gesetzentwürfen wissen wir gar nicht, wie sie
am Ende aussehen werden. Diese Einstimmigkeit - das
will ich an dieser Stelle sagen - hat auch etwas mit dem
Klima zu tun, in dem man arbeitet. Ich möchte vorweg
zwei Personen nennen, von denen ich glaube, dass sie
entscheidend dazu beigetragen haben, dass es möglich
war, ein solches Ergebnis zu erreichen: Das ist im Ministerium Ihr Mitarbeiter Hanten und das ist meine Kollegin
Gisela Hilbrecht, früher Schröter. Nur durch diese Zusammenarbeit und durch das Entgegenkommen - das ist
ja eine gute Sache - ist es gelungen, zu so einem Ergebnis zu kommen. Dafür sage ich Danke schön.
({5})
Was hat sich positiv verändert? Erstens. Das Gremiummonstrum Deutscher Filmrat, das Sie wollten, fällt weg weniger Gremien, weniger Bürokratie.
({6})
Die Kreativen sind gestärkt worden - in Gremien und
durch die Mittel, die sie bekommen -; denn die beste Voraussetzung für einen stärkeren Erfolg des deutschen Filmes ist in erster Linie nicht die Summe der Förderung,
sondern sind viel mehr bessere Filme.
({7})
Viel mehr bessere Filme bedeutet: Viel mehr tun für Kreative und sie unterstützen; denn sie bringen die Filme
heraus.
Nächster Punkt. Die hohe Schwelle von 150 000 Punkten, die notwendig ist für die Referenzförderung - von
vielen Beteiligten aus der Branche so nicht akzeptiert -, haben wir reduziert bzw. haben deren Erreichbarkeit erleichtert, indem wir das Votum bzw. die Prädikate der
Filmbewertungsstelle Wiesbaden wieder mit zusätzlichen 50 000 Punkten einbezogen haben, sodass diese
Schwelle jetzt auch von vielen kleineren Filmen und deren Verantwortlichen erreicht werden kann.
Der Verwaltungsrat ist verändert worden. An dieser
Stelle hebe ich hervor, dass auf unseren Wunsch und im
Gegensatz zu dem, was Sie wollten, nach wie vor beide
Kirchen vertreten sind.
({8})
Ich halte es schon für wichtig, dass beiden Kirchen das
Recht zugestanden wird, in einem kulturellen Gremium,
das über 30 Mitglieder hat, vertreten zu sein.
Wie der nächste Punkt gelaufen ist, ist schon etwas
abenteuerlich, Gisela Hilbrecht. Sie sagen jetzt, der Erfolg bestehe darin, dass Sie sich mit einem Vertreter der
öffentlich-rechtlichen Anstalten bescheiden, obwohl im
Regierungsentwurf eine Verdoppelung auf zwei vorgesehen war. Dieses Hin und Her hätten Sie einfacher haben
können, wenn Sie in der letzten Sitzung den Voten des
FDP-Kollegen Otto und mir gefolgt wären. Gott sei
Dank haben Sie nun eingelenkt, wenngleich nicht dank
Ihrer Einsicht, sondern dank der Einsicht der öffentlichBernd Neumann ({9})
rechtlichen Rundfunkanstalten. Ich begrüße dies außerordentlich.
({10})
Meine Damen und Herren, im Regierungsentwurf
werden Schutzbestimmungen zugunsten inländischer
filmtechnischer Betriebe beseitigt, nicht aus Bösartigkeit, sondern weil wir Deutschen wie so häufig meinen,
wir müssten im Gegensatz zu anderen, etwa den Franzosen, schnell europäisch handeln. Über den Ausschuss ist
erreicht worden, dass Sie nach Abwarten dessen, was
sich auf EU-Ebene tun wird, über eine Rechtsverordnung deutsche filmtechnische Betriebe schützen können.
Nach meiner Auffassung müssen wir genau so deutsch
handeln, wie die Franzosen französisch handeln. Wir
wollten damit sicherstellen, dass wir alle zulässigen
Quoten ausnutzen können, wenn es um die Interessen
und die Arbeitsplätze unserer filmtechnischen Betriebe
geht.
({11})
Nun komme ich zum letzten Punkt der zu bewertenden Sachverhalte, zur Mittelerhöhung; darauf bin ich
schon in der ersten Lesung eingegangen. Sie sagen voller Stolz, es sei Ihnen gelungen, die Mittel um
40 Prozent zu erhöhen. So einfach geht es mit den Erfolgen der Bundesregierung nicht immer! Die Erhöhung ist
dadurch möglich geworden, dass Sie die Abgaben erhöht
haben, die andere leisten; Sie haben gar nichts dazu getan. Andere - die Videounternehmen, die Kinounternehmen, die Fernsehanstalten - müssen mehr zahlen.
({12})
Das haben Sie vereinbart oder gesetzlich festgelegt.
Dass dies ein großartiger Erfolg der Bundesregierung
sein soll, vermag ich nicht zu erkennen, auch wenn ich
merke, dass Sie stolz darauf sind, wenn Sie Unternehmen mehr abknöpfen können, und dies als Meisterleistung ansehen.
Ich unterstütze dies ja im Hinblick auf die Leistungen
des Fernsehens. Angesichts des hohen Gebührenvolumens von 6,5 Milliarden Euro ist es nach wie vor sehr
bescheiden, nur 11 Millionen Euro in die Filmwirtschaft
zu stecken.
({13})
Aus meiner Sicht können sie in der Tat mehr leisten.
Man muss aber darüber nachdenken, welche Folgen
dies im Bereich der Filmtheater haben kann. Ich habe
schon darauf hingewiesen, dass im Regierungsentwurf
eine Erhöhung um 18,74 Prozent von rund 21 Millionen
auf 25 Millionen Euro vorgesehen ist. In der ersten Lesung, als Sie Ihren Entwurf vorstellten, sagte ich, wir
würden in einer Zeit, in der ein Kinosterben stattfindet,
nicht daran mitwirken, die Abgabe für Kinounternehmen
zu erhöhen. Sie haben dann mit den Betroffenen Vereinbarungen getroffen. Richtig ist, dass die Filmwirtschaft
der Abgabe zugestimmt hat, nachdem Sie sie erst einmal
reduziert hatten. Im Ausschuss wurde dann noch auf unsere
Initiative hin sichergestellt, dass alle Kinos gleich behandelt
werden. Vorgesehen war nämlich, dass Kinos mit kleineren
Umsätzen prozentual mehr bezahlen als Kinos mit höheren
Umsätzen. Dies haben wir jetzt verändert; das ist gut so.
Nun haben wir neueste Brandbriefe bekommen - das muss
man hier fairerweise sagen -, in denen die Kinowirtschaft
darum bittet, in Anbetracht ihrer existenziellen Schwierigkeiten die vorgesehene Erhöhung noch einmal um
0,2 Prozentpunkte zu reduzieren. Mittlerweile fürchten
nicht mehr nur die kleinen Kinos, sondern auch schon
die großen um ihre Existenz.
Ich habe am Wochenende Kontakt mit Vertretern der
Koalition aufgenommen und sie gefragt, ob man noch etwas tun könne. Mir ist signalisiert worden, dass Sie, Frau
Weiss, nicht dazu bereit seien - das respektiere ich -, weil
Sie der Meinung sind, dass alles zusammenbrechen
könnte, wenn Sie das Fass noch einmal aufmachen. Das
sehe ich nicht so. Ich bin der Meinung, wenn wir das
noch ändern, würde es zum Filmförderungsgesetz nicht
nur in diesem Hause Einstimmigkeit geben, sondern in
der ganzen Branche. Das wäre doch großartig! Leider ist
das nicht zu erreichen. Ich gebe zu: Das alles ist ein wenig spät gekommen. Trotzdem hat die Branche ein Recht
darauf, dass wir das hier benennen.
So weit zum ersten Teil der Debatte, auf den Sie, Frau
Weiss, sich in Ihren Ausführungen beschränkt haben. Der
zweite Teil der Debatte betrifft die Große Anfrage zu den
sonstigen Rahmenbedingungen der Filmwirtschaft, auf
die Sie eine umfangreiche Antwort vorgelegt haben.
Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr daran, verehrte
Frau Staatsministerin Weiss, schließlich sind Sie nicht
darauf eingegangen. So wichtig es auch ist, dass wir über
das neue Filmförderungsgesetz den deutschen Film stärken; man darf die sonstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen die deutsche Filmwirtschaft auf
europäischer und internationaler Ebene antreten muss,
nicht vergessen. Das ist ebenso wichtig, vielleicht sogar
noch wichtiger. Hierzu will ich vier Punkte nennen, die
in der Großen Anfrage eine wichtige Rolle gespielt haben.
Der erste Punkt betrifft internationale Koproduktionen.
Der im Januar 2001 vom BMF veröffentliche Medienerlass hat für deutsche Produzenten - das wissen Sie genauso gut wie ich - die Möglichkeit, sich an internationalen Koproduktionen zu beteiligen, dramatisch
erschwert. Dabei kann man heute fast nur im Rahmen
von Koproduktionen Filme machen. Die Zahl der Koproduktionen ist seitdem kontinuierlich zurückgegangen.
Der zweite Punkt betrifft Medienfonds. Jährlich werden in Deutschland mehrere Milliarden Euro in so genannte Medienfonds investiert. 80 Prozent dieser Gelder,
wenn nicht sogar noch mehr, fließen in Hollywood-Produktionen. Damit gehen für deutsche bzw. europäische
Kinofilme beträchtliche Mittel verloren. Zugleich wirken sich die mit ihnen Fonds verbundenen Investitionen
überwiegend nicht in Deutschland aus.
Der dritte Punkt betrifft das Urheberrecht. Die Position der Produzenten wurde durch die Novellierung des
Urhebervertragsrechts nicht, wie versprochen, gestärkt,
Bernd Neumann ({14})
sondern eher geschwächt; fragen Sie in der Branche
nach. Auch bei der jüngsten Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht in der Informationsgesellschaft
wurde die begründete Forderung der Filmwirtschaft,
eine generelle „Bereichsausnahme Film“ zu verankern,
nicht ausreichend berücksichtigt.
Der vierte Punkt betrifft steuerliche Präferenzen.
Diese hat einer Ihrer Vorgänger angekündigt. Wie Sie
wissen, messe ich Ihre Leistungen an den Ankündigungen.
({15})
- Das bedeutet für mich eine gewisse Seriosität. Herr
Otto meint, das seien Unterstellungen und nicht mehr.
Das stimmt nicht; ich nehme das ernst.
({16})
Ihr Vorgänger hat deutlich gemacht, dass es nötig sei,
eine steuerliche Förderung einzuführen bzw. Anreize für
Produktionen zu geben, wie das in vielen anderen Ländern üblich ist - deswegen müssten wir nachziehen -,
um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Films zu stärken.
Meine Damen und Herren, bei diesen vier Forderungen sind wir und die BKM noch nicht einmal auseinander. Verehrte Frau Weiss, diese Punkte wurden von der
Filmwirtschaft zusätzlich zur Novellierung des Filmförderungsgesetzes als ganz wichtig genannt. Zu diesem
Ergebnis kam man im ersten Bündnis für den Film 1999
unter Ihrem verehrten, aber noch nicht vergessenen Vorgänger Naumann und auch unter seinem Nachfolger und
Ihrem direkten Vorgänger Nida-Rümelin. Alle, auch Sie,
haben immer wieder deutlich gemacht, dass diese
Punkte wichtig sind und dass man sie auch umsetzen
wolle.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die berechtigte
Frage, wie weit Sie bei der Umsetzung fortgeschritten
sind. Angesichts der Antwort auf die Große Anfrage, in
der wir diese Punkte präzisiert haben, bestätigt sich, dass
Sie keinen Schritt weitergekommen sind. Deswegen haben Sie auch nichts dazu gesagt.
Meine Damen und Herren, nun kann man meinen,
dass das nur die Opposition so kritisch sieht. Ich habe
Ihre Antwort den verschiedenen Sachverständigen in der
Filmbranche zugestellt und gefragt, wie sie dies sehen
und ob sie damit einverstanden sind.
Nehmen wir den ersten Punkt, den Medienerlass. Ich
zitiere film 20 - die kundigen Thebaner wissen, dass dahinter potenzielle Kräfte der deutschen Filmwirtschaft
stehen; mit einigen von ihnen haben Sie einen außerordentlich guten Kontakt, was letztlich auch zur Etablierung der Filmakademie geführt hat -:
Der Medienerlass ist und bleibt eine Krux für die
deutsche Filmwirtschaft … hat in den Feldern
Nachweis der Herstellereigenschaft der Anleger,
Behinderung von internationalen Koproduktionen
zu Dauerirritation, Rechtsunsicherheit und drastischen Wettbewerbsnachteilen für die deutsche
Filmwirtschaft gegenüber internationalen Wettbewerbern geführt.
Es geht weiter, wobei es hier um die Frage der Koproduktion und darum geht, ob es zwei Betriebsstätten sind
oder nicht; es ist eine steuerliche Frage: Die Betriebsstättenregelung ist bezogen auf die Doppelbesteuerung, die
durch diesen Medienerlass droht, nach wie vor nicht aus
der Welt. Wortwörtlich heißt es: „Nichts ist bis heute
passiert.“ - Das war der Bereich der internationalen Koproduktion. Es wurde seit langem angekündigt, die Betriebsstättenregelung abzuschaffen; sie stellt ein großes
Problem für die Filmwirtschaft dar. Nichts ist passiert.
Ich komme zum zweiten Punkt, den Fonds. Es geht
hier um die Herstellereigenschaft des Fonds. Ich nehme
eine andere Stellungnahme, und zwar die der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Sie schrieb - Zitat -:
Die Bundesregierung hat sich vor dieser Frage herumgedrückt, umso mehr, als die deutschen Fondsbetreiber angeboten hatten, eine 20-prozentige Mittelbindung für Deutschland einzuführen.
Davon lese ich bei Ihnen überhaupt nichts. Man kann
das ja positiv oder negativ bewerten, man sollte es aber
zumindest erwähnen.
Zu diesem Problem schreibt film 20:
Was hat nun der neue BMF-Brief tatsächlich praktisch gebracht? Ein Beschäftigungsprogramm für
Beiräte! Herstellereigenschaft erfordert die tatsächliche und wesentliche Einflussnahme auf das Produkt, weil Anleger das unmöglich leisten können
und das massenhafte Mitreden
- das ist die Folge dieses neuen Schreibens und der Interpretation des BMF der Filmproduktion nun auch tatsächlich total widerspricht - da sagt jeder Produzent, jeder Regisseur ganz laut „Nein, Danke!“… Das Ganze verteuert die Overheadkosten der Fonds, weniger Geld
fließt in die Filme - und schon gar nicht in die
Filmwirtschaft in unserem Land. Die Bilanz: Nebenkriegsschauplatz erweitert - Hauptproblem der
Finanzierung von halb Hollywood mit deutschem
Steuergeld nicht gelöst!
Vernichtender als dieses Urteil der Filmwirtschaft kann
doch gar nichts sein.
Weiter heißt es von film 20 - dazu gehören ja Eichinger
und Co, also all diejenigen, die die Filmakademie gegründet haben:
Unsere Frage - hier wie nur zu oft: Wer küsst den
Finanzminister wach? … Wenn der Fachminister
- so sagen sie das nicht bringt - muss der Chef tätig werden.
Meine Damen und Herren, es ist weiß Gott kein gutes
Zeugnis für die verantwortliche Ministerin, wenn die
Branche sagt, dass jetzt der Chef ran muss. Ja, vielleicht
muss er ran. Ich bin der Auffassung, wir alle müssen ran;
denn so, wie es ist, kann es nicht bleiben.
Bernd Neumann ({17})
Lassen Sie mich nun zu einem wichtigen letzten Punkt
kommen, der auch Gegenstand der Anfrage ist. Das Enttäuschendste war die Antwort der Bundesregierung auf eines
der größten Probleme der Filmwirtschaft, nämlich die dramatisch schnelle Ausweitung des massenhaften Diebstahls
im Spielfilmbereich. Es geht um Raubkopien von Kinofilmen und das illegale Herunterladen aus dem Internet,
wodurch die Kino- und Videowirtschaft ihre Exklusivität
und damit einen erheblichen Teil ihrer potenziellen Besucher und Käufer verliert.
Wenn Sie sich die neuesten Untersuchungen der FFA
dazu ansehen, dann erkennen Sie, dass wir es hier mit einer dramatischen Entwicklung zu tun haben. Im Zeitraum von Januar bis August 2003 wurden zum Beispiel
9,6 Millionen DVD-Rohlinge mit Kinofilmen bespielt.
Bereits nach acht Monaten liegen diese Werte damit über
dem Ergebnis des Gesamtjahres 2002. Ich muss dazu sagen: Dabei wird immer illegal gehandelt. Die anderen
müssen Geld damit verdienen.
({18})
- Ich hätte es gleich gesagt, aber Sie greifen mir vor,
Herr Kollege Otto. Deshalb unterbreche ich jetzt meinen
Gedankenfaden.
Es geht nicht darum, wen ich dafür verantwortlich
mache. Natürlich ist Frau Weiss dafür nicht verantwortlich, es sei denn, sie lädt selbst Filme herunter, was ich
nicht glaube. Aber die Bundesregierung ist verantwortlich, wenn sie sich nicht um dieses Problem kümmert.
Wir müssen dieses Problem diskutieren und Initiativen
ergreifen. Darum geht es.
({19})
Die Hälfte - 53 Prozent - der so genannten Filmbrenner gibt an, auch für Personen außerhalb des eigenen
Haushaltes zu kopieren. Knapp 1 Million Personen besaßen eine Kopie des Filmes „Terminator 3“ schon einen
Monat nach Kinostart, bevor er überhaupt in die deutschen Kinos kam. Circa 1,6 Millionen Personen verfügten bereits im Vorfeld der Videoveröffentlichung über
eine Kopie von „Herr der Ringe“, circa 770 000 von
„Good Bye, Lenin!“. Mit 13,3 Millionen downgeloadeten Spielfilmen bzw. Kinofilmen wurden in den ersten
acht Monaten des Jahres 2003 bereits fast so viele Filme
wie im Gesamtjahr 2002 aus dem Internet heruntergeladen. Damit Sie mich richtig verstehen: Ich sage dies
nicht im Sinne einer Anklage, sonder vor dem Hintergrund eines großen Problems: Wenn dies so weitergeht,
werden viele Existenzen in der Musik- und Filmbranche
vernichtet.
({20})
Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Weiss. Sie weisen in
Ihrer Antwort lapidar - lesen Sie es bitte selbst einmal
nach - auf die gesetzliche Lage hin. Angeblich sei dadurch alles geregelt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Benneter?
({0})
Unter der Voraussetzung, dass die Uhr wie immer angehalten wird - eine Minute Redezeit brauche ich noch -,
gern.
Herr Kollege Neumann, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass wir uns beispielsweise im Rechtsausschuss schon längst mit den Urheberrechten beschäftigen, um genau die Probleme anzugehen, die Sie eben angesprochen haben?
Ich nehme das zur Kenntnis. Ich finde es gut, dass Sie
das tun. Haben Sie aber Verständnis dafür,
({0})
dass man enttäuscht ist - schließlich gibt es eine Staatsministerin für Kultur und Medien; das betrifft uns genauso wie die Arbeitsgruppe im Rechtsausschuss -,
wenn auf die Frage, was die Regierung bei diesem Problem zu tun gedenkt, nur ein lapidarer Hinweis auf die
derzeitige gesetzliche Lage erfolgt. Wenn es so ist, dass
dies im Rechtsausschuss ein wichtiges Thema ist, begrüße ich dies. Ich unterstütze Sie. Es wäre sehr gut,
Frau Weiss, wenn Sie sich mit einem ähnlich großen Engagement wie Ihre Kollegen im Bereich der Justiz - Sie
sind inhaltlich für Medien zuständig; sonst brauchen wir
keinen Staatsminister für diese Aufgabe - damit befassen. Ich glaube, darin sind wir uns einig, Kollege
Benneter.
Die Missachtung des geistigen Eigentums - ich habe
das kurz angedeutet - führt zu Umsatzeinbrüchen, Arbeitsplatzverlusten und Steuerausfällen. Wir wollen
diese verhängnisvolle Entwicklung im Interesse der Kreativwirtschaft in Deutschland und der Menschen, die für
und von ihrer Kunst und Kreativität leben wollen, bremsen. Verehrte Staatsministerin, es ist Ihre Aufgabe, sich
an dieser Diskussion federführend zu beteiligen, Fakten
und Meinungen zu sammeln, die Gesetzgebung zu begleiten, sie sogar zu beeinflussen.
In den USA beispielsweise hat der amerikanische Kongress ausschließlich zu dieser Thematik einen hochkarätigen Ausschuss mit Mitgliedern aller Parteien aus beiden
Häusern eingesetzt, also Repräsentantenhaus und Senat, um
Schutzmaßnahmen auf internationaler Ebene zu diskutieren
und zu erarbeiten mit dem Ziel, die digitalen Film- und Musiktechnologien zu schützen. Sie gelten dort - ich glaube,
Bernd Neumann ({1})
das gilt bedingt auch für Deutschland - als Schlüssel für
amerikanisches Wirtschaftswachstum. Ich darf darauf
hinweisen, dass meine Fraktion unter Leitung der Kollegen Kampeter und Krings just zu diesem Thema eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat.
Ich komme zum Schluss. Sie sehen: Trotz einmütiger
Verabschiedung eines ordentlichen Filmförderungsgesetzes bleibt politisch für den deutschen Film und seine
Wirtschaft noch viel zu tun. Es wäre zu wünschen, dass
wir - Frau Kollegin Hilbrecht und Frau Kollegin Roth,
ich beziehe Sie ein; ich habe Sie vorhin deshalb nicht genannt, weil wir noch nicht so lange zusammenarbeiten auch die von mir genannten Fragen möglichst überparteilich im Konsens zügig bearbeiten. Dies täte dem deutschen Film außerordentlich gut.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Roth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Chefin Christina Weiss!
({0})
Alice sucht gemeinsam mit anderen Überlebenden nach einem Weg - hören Sie zu, das gefällt Ihnen bestimmt - aus
dem zerstörten Biotechnologielabor.
({1})
- Das gefällt Ihnen, das weiß ich doch. - Dabei stößt sie
auf eine Art Zombie,
({2})
der durch gefährliche Erreger zu einem mörderischen
Monster mutiert ist und die gesamte Menschheit auslöschen will. Die Treffsicherheit der Menschheitsretterin
Alice wird wieder einmal auf eine harte Probe gestellt.
Warum ich Ihnen das erzähle? Erstens, um Herrn Otto
eine Freude zu machen,
({3})
zweitens will ich Ihnen aber keine Angst machen, sondern verdeutlichen, wie vielfältig und global unsere
deutsche Filmlandschaft inzwischen ist. Die beschriebene Szene stammt aus der Fortsetzung des Science-Fiction-Films „Resident Evil“, dem in den USA am erfolgreichsten gestarteten Film in der letzten Zeit. Es ist ein
deutscher Film, der in Babelsberg und Adlershof gedreht
wurde.
Aber auch die nachdenkenswerten Stunden, die uns
Joseph Fiennes, Alfred Molina, Bruno Ganz und vor allem Sir Peter Ustinov in dem Film „Luther“ geschenkt
haben - ich habe viel darüber nachgedacht, zum Beispiel
wie der Bauernkrieg beschrieben wird -,
({4})
stammen aus einem deutschen Film, gedreht in Europa,
erstaufgeführt in den USA, mit einem kanadischen Regisseur und produziert von einem Team aus Berlin. Was
mir sehr wichtig ist: Auch „Bernau liegt am Meer“,
„Bungalow“, „Science-Fiction“ und „Die wilden Kerle“
sind deutsche Filme, die zu Recht den Weg in unsere Kinos finden. Was ich sagen will: Die Mischung macht’s.
({5})
- Die Mischung macht’s, Herr Otto. Die Milch macht‘s
auch, aber das ist ein anderes Thema. Das kann ich Ihnen, da ich aus Bayern komme, gern mal erzählen.
Die Filmförderung ist absolut notwendig für den
deutschen Film und die deutsche Filmwirtschaft. Ohne
Filmförderung würde kaum eine deutsche Produktion
das Licht der Leinwand erblicken. Deshalb ist es auch so
unheimlich wichtig, dass sich trotz der damit verbundenen Verhandlungsschwierigkeiten und Kompromisse auf
allen Seiten die Fördersumme für den deutschen Film
insgesamt um rund 40 Prozent erhöht hat. Herr
Neumann, natürlich hat Christina Weiss an diesen Verhandlungen und an diesem Ergebnis einen ganz hohen
Anteil. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
({6})
Für diese Aufstockung möchte ich mich bei allen
Geldgebern und Verhandlungspartnern und -partnerinnen nochmals ausdrücklich bedanken. Aber die Filmförderung ist immer ein - manchmal extremer - Spagat
zwischen ökonomischer Förderung und kultureller Förderung. Ich finde - das sage ich an dieser Stelle nicht
ganz ohne Stolz -, dass uns eben dieser Spagat zwischen
kommerziellen und kulturellen Kriterien mit der Novellierung des Filmförderungsgesetzes mehr als gut gelungen ist.
({7})
Wir stärken zum einen die deutsche Produktionswirtschaft. Produzenten und Produzentinnen von Erfolgsfilmen bekommen in größerem Umfang Mittel zur Verfügung gestellt, die sie zur Stärkung ihres Eigenkapitals
und auch für Nachfolgeprojekte verwenden können.
Kinder-, Erstlings- und Dokumentarfilme werden mit
einfacheren Kriterien an der so genannten Referenzfilmförderung partizipieren können, bei der auch kulturelle
Aspekte zählen. Insbesondere Festivalnominierungen
und -einladungen werden bei den Ausschüttungen berücksichtigt. Das finde ich sehr positiv.
Aber so wichtig die Stärkung der Produzenten und
der Produktionswirtschaft für den deutschen Film auch
ist: Der künstlerisch-kreative Bereich darf nicht zu
kurz kommen. Dazu haben wir mit diesem Gesetz ziemlich viel beigetragen. So werden zukünftig in den EntClaudia Roth ({8})
scheidungsgremien der Filmförderungsanstalt erstmals
auch Drehbuchautoren und -autorinnen, Kurzfilmer und
Regisseure vertreten sein.
Zusätzlichen frischen Wind - ich glaube, das ist sehr
wichtig für die kreative Fantasie - wird es in diesen Gremien durch eine von uns durchgesetzte Frauenquote geben.
({9})
Herr Neumann hat ihr zugestimmt. Er wird wissen, warum. Die Zeiten, in denen sich ausschließlich ältere
männliche Herrschaften zum Zigarrerauchen versammelt haben - damit will ich niemandem zu nahe treten -,
sind vorbei.
({10})
Das tut nicht nur den Nichtrauchern gut.
„Die Elf von Bern spielte nie wieder zusammen“,
heißt es bei Sönke Wortmann in dem wunderbaren Film
„Das Wunder von Bern“ am Ende etwas melodramatisch
und bedauernd. Unsere Elf spielte noch nie zusammen,
stelle ich bezogen auf die neue, elfköpfige Vergabekommission der FFA optimistisch und hoffnungsfroh
fest. Da eine Elf nun einmal elf Spieler hat, ist es zu begrüßen, dass ein Vertreter der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten die Ersatzbank stärkt.
({11})
Erstmals sind Regisseure, Drehbuchautoren, Kurzfilmer und Kurzfilmerinnen in der Vergabekommission mit
festen Sitzen vertreten. Ich bin sicher, dass sie den filmischen Sachverstand in diesem wichtigen Gremium erweitern.
Es gibt zahlreiche weitere Erfolge, die wir uns gemeinsam auf die Fahne schreiben können. Kurzfilme
und Drehbücher werden mit 2 Prozent statt, wie geplant,
mit 1,5 Prozent der FFA-Einnahmen gefördert. Analog
zu der Praxis in den Filmhochschulen können Kurzfilme
mit einer Länge von bis zu 45 statt 15 Minuten gefördert
werden, sofern es sich um Erstlingswerke oder Hochschulfilme handelt. Den Deutschen Filmrat als zusätzliches Gremium wird es zu Recht nicht geben. Darin
stimme ich Herrn Neumann explizit zu.
Natürlich lassen sich - das habe ich gelernt - im Rahmen einer solchen Novellierung nicht alle sinnvollen
Vorschläge sofort realisieren. Deshalb ist es uns sehr
wichtig, dass wir in einer Resolution zum FFG bereits
die Themen ansprechen, die bei der nächsten Novellierung eine Rolle spielen sollten, zum Beispiel die Computerspiele. Wir erleben die Synergien und Konvergenzen zwischen Computerspielen und Filmen beinahe
täglich. So haben vor kurzem die Macher von „Matrix“
angekündigt, die Saga als Computerspiel fortzuführen.
Ich glaube, dass Computerspiele endlich als Teil einer
real existierenden Jugend- und Freizeitkultur betrachtet
werden müssen. Ein wichtiger Schritt, den wir in diesem
Zusammenhang prüfen wollen, ist - nach dem Vorbild
Frankreichs und einiger deutscher Bundesländer - die
Ausweitung der Kompetenzen der Filmförderungsanstalt
auch auf die Bereiche Multimedia und Computerspiele.
Des Weiteren hege ich große Sympathien für das so
genannte „Schweizer Modell“, bei dem neben den Produzenten auch die Regisseure und Drehbuchautoren zu
einem gewissen Prozentsatz direkt von der Erfolgsfilmförderung profitieren. Auch dieses Modell - das haben
wir vereinbart - wollen wir einer genaueren Prüfung unterziehen.
Doch nun wünsche ich erst einmal dem deutschen
Film mit der jetzigen Novellierung des Filmförderungsgesetzes von ganzem Herzen alles Gute. Möge auf
„Good bye, Lenin!“ ein „Hello Marx!“ kommen oder
besser, um niemanden zu verprellen und auch keine
Missverständnisse auszulösen, ein „long hello and no
goodbye“ für den deutschen Film!
Abschließend danke ich Ihnen nicht nur für Ihre Aufmerksamkeit, sondern auch für eine spannende und konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuss - das kann ich
explizit feststellen -, bei der wir über Grenzen und Mauern hinweg diskutiert haben. Ich bedanke mich auch für
die gute Zusammenarbeit mit Christina Weiss und ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit den sich hoffentlich auch weiterhin aktiv und heftig einmischenden
Filmschaffenden in diesem Land.
Danke schön.
({12})
- Herrn Otto habe ich, glaube ich, genügend gewürdigt.
Da dafür die Redezeit offenkundig nicht mehr reichte,
hoffe ich in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich jetzt dem
Kollegen Otto das Wort erteile, ausdrücklich verbunden
mit dem nachgelieferten Dank der Kollegin Roth für die
Mitwirkung an diesem bedeutenden Gesetzeswerk.
({0})
Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Roth, mir wird
richtig warm ums Herz.
({0})
Ich kann Ihnen gleich eingangs versichern, dass auch wir
als FDP-Fraktion dem vorliegenden Gesetzentwurf unsere Zustimmung erteilen. Es kommt nicht allzu häufig
vor, dass wir in der Sache übereinstimmen.
({1})
Das ist aber bei diesem Gesetzentwurf der Fall. Deswegen ist es ein schöner Abend.
({2})
Hans-Joachim Otto ({3})
Dieses einstimmige Votum, wofür viele Kolleginnen
und Kollegen - ich gebe offen zu: auch ich - manche
Kröte schlucken mussten, betrachten wir als ein wichtiges Signal für den deutschen Film. Dieses einstimmige
Votum soll nämlich deutlich machen: Der Deutsche
Bundestag steht zum deutschen Film und will, dass er
Erfolg hat. Deswegen haben wir uns zusammengerauft.
Und das ist auch gut so.
({4})
Ich möchte genauso wie Frau Kollegin Roth - bei ihr
waren es andere Punkte - nicht verhehlen, dass es einige
Punkte gibt, an denen wir unsere Bedenken zurückgestellt haben. Der wichtigste Bedenkenpunkt ist nach
meiner Meinung, dass die Gremien in unsinniger Weise
aufgebläht worden sind. So sollen der Verwaltungsrat
der Filmförderungsanstalt 33 Mitglieder - ein bisschen
kleiner wäre besser - und die Vergabekommission immerhin 12 Mitglieder umfassen.
Noch eine Bemerkung zur Vergabekommission:
Frau Roth, es ist in der Tat gut, dass wir von ARD und
ZDF nur einen auf dem Spielfeld gelassen und einen auf
die Reservebank geschickt haben. Der Frau Staatsministerin, die das als ihren Erfolg verkauft, sage ich nur: Der
Erfolg - so ist das immer im Leben - hat viele Väter und
Mütter, so auch diesmal. Ich sage ganz selbstbewusst:
Wenn ich nicht gemotzt hätte, dann wäre der Erfolg
nicht eingetreten. Sie waren zwar sauer auf mich, dass
ich Kritik geübt habe. Aber ohne die Kritik der FDPFraktion hätten sich ARD und ZDF nicht zurückgezogen. So haben wir letztlich doch an einem Strang gezogen, und zwar sogar in dieselbe Richtung.
({5})
Ich möchte noch etwas in Richtung Filmwirtschaft
sagen. Es möge sich bitte jeder vor Augen halten, dass
sich aus der jetzt vorgesehenen Erhöhung der Förderquote kein Automatismus für zukünftige Erhöhungen ergibt. Ob es nun 40 Prozent, wie Frau Weiss vorgerechnet
hat, oder 25 Prozent sind, wie der Kollege Neumann behauptet hat, jedenfalls bedeutet die vorgesehene Erhöhung einen satten Zuwachs in einer Zeit, in der andere
Einbußen hinnehmen müssen. Das Gesetz gilt bis zum
31. Dezember 2008. Wir haben ausdrücklich und einstimmig in unsere Beschlussempfehlung aufgenommen,
dass es keinen Automatismus geben wird und dass wir
die Aufstockung anhand der Ergebnisse in der Praxis
evaluieren wollen. Die deutsche Filmwirtschaft möge
sich bitte darauf einstellen, dass nicht immer aus dem
Vollen geschöpft werden kann und dass jetzt Erfolge auf
der nun geschaffenen gesetzlichen Basis erzielt werden
müssen.
Nachdem wir das Gesetzesvorhaben positiv abgeschlossen haben, möchte ich ebenso wie der Kollege
Neumann den Blick nach vorne auf das richten, was
noch zu tun ist. Ich möchte besonders einen Punkt ansprechen, den der Kollege Neumann nur tangiert hat,
nämlich das Wirrwarr bzw. die mangelnde Koordination bei der Filmförderung durch die Länder und die
Filmförderungsanstalt. Wir müssen hier zu einer besseren Koordination kommen. Die bisherige irrsinnige und
hirnrissige Praxis der Filmförderung - derselbe Film erfährt eine Förderung von Schleswig-Holstein, weil in
ihm ein Schauspieler aus Schleswig-Holstein mitspielt;
er wird von Baden-Württemberg gefördert, weil dort
eine Außenaufnahme gedreht worden ist, und er erfährt
eine Förderung von Hessen, weil dort die Nachproduktion erfolgt - muss aufhören. Wir brauchen eine Koordination auf der Basis eines Bund-Länder-Staatsvertrages.
Der Kollege Neumann hat völlig zu Recht darauf hingewiesen - auch ich setze hier einen Schwerpunkt -,
dass die Rahmenbedingungen für den deutschen Film
verbessert werden müssen. Die entsprechenden Stichworte sind schon gefallen. Es muss für Chancengleichheit im internationalen Wettbewerb gesorgt werden. Es
muss internationale Standards bei den Finanzierungsund Förderinstrumenten geben. Der Medienerlass - er ist
bereits angesprochen worden - ist geradezu eine Bremse
für den deutschen Film und schadet ihm. Wir müssen
uns ebenfalls darauf verständigen - das ist ein ganz
wichtiger Punkt -, die Abschreibungsbedingungen für
erworbene Filmrechte zu ändern. Eine Regelung, wonach erworbene Filmrechte über 50 Jahre steuerlich abgeschrieben werden können, kann man schlicht und einfach vergessen. Diese Regelung - das ist keine
Subvention für den deutschen Film - müssen wir an die
wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen; denn kein
Film kann über 50 Jahre verwertet werden. Ich nehme
an, dass wir hier Einigkeit erzielen werden. Auch das
Urhebergesetz muss geändert werden. Wir müssen das
tun, was auch schon andere Länder gemacht haben, nämlich die Rechte der Produzenten auf diesem Gebiet stärken.
({6})
- Nein, das ist nicht einfach, Herr Kollege Benneter.
Hier herrscht heute fast schon eine adventliche Stimmung. In der Tat sind alle Punkte, die angesprochen wurden, hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit schwierig.
Wir haben in der Rede von Frau Weiss den Blick in
die Zukunft ein wenig vermisst. Wir sollten uns jetzt
nicht selbstzufrieden zurücklehnen, wenn wir das Filmförderungsgesetz verabschiedet haben. Dieses Gesetz allein wird - das ist meine Kernbotschaft - dem deutschen
Film noch nicht auf die Beine helfen. Wir müssen hier
im Deutschen Bundestag noch einiges andere regeln.
Mit dem Filmförderungsgesetz muss eine große Etappe
mit dem Ziel der Stärkung des deutschen Filmes beginnen.
Langer Rede kurzer Sinn: Wo immer Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Hause sitzen, lassen Sie
uns nicht die Hände in den Schoß legen! Wir haben in
der Tat noch viel zu tun. Bei den Beratungen herrschte
insgesamt - in diesem Punkt will ich die Kollegin Roth
durchaus unterstützen - ein Klima, das auf Zusammenarbeit ausgerichtet war. Das war sehr erfreulich. Wenn
wir das auch bei den Beratungen über die Felder, in denen jetzt noch Reformen durchgeführt werden müssen,
zustande bringen, dann werden wir einen sehr guten BeiHans-Joachim Otto ({7})
trag dazu leisten können, den deutschen Film dauerhaft
zu stärken. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Ziel.
Vielen Dank.
({8})
Bevor ich nun als krönenden Abschluss dieser Debatte der Kollegin Gisela Hilbrecht das Wort erteile, die
den allermeisten - einschließlich des amtierenden Präsidenten - bis heute nur unter dem Namen Schröter bekannt war, nutze ich die Gelegenheit gerne, ihr zu ihrer
Heirat vor wenigen Tagen herzlich zu gratulieren.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident, vielleicht bin ich das
erste Mitglied des Deutschen Bundestages, dem hier, vor
dem Hohen Hause, solch ein Glückwunsch ausgesprochen wurde. Ich möchte das natürlich auch meinem
Mann mit auf den Weg geben.
Ich bin gespannt, ob das wie eine Androhung oder
wie eine Verheißung wirkt.
({0})
Herr Präsident, jetzt haben Sie mich richtig nervös gemacht; ansonsten bin ich das nicht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Neumann, wir reden heute über die Novelle zum Filmförderungsgesetz und über die Rahmenbedingungen für das Filmschaffen in Deutschland insgesamt. Selbstverständlich löst die Novelle allein nicht die
Probleme des deutschen Films. Die wirtschaftliche
Förderung ist nur ein Faktor, der auf die Lage des deutschen Films Einfluss hat, aber - ich denke, da sind wir
uns alle einig - ein ganz zentraler. Deshalb ist es ganz
wichtig, dass wir hier den großen Erfolg dieses von allen
Fraktionen gemeinsam getragenen Gesetzes nicht klein
reden, zumal es hierbei um einen genuinen Regelungsbereich der Bundeskulturpolitik geht.
Beim Medienerlass, beim Urheberrecht oder bei steuerlichen Subventionen für die Filmwirtschaft haben andere Ressorts - das Finanzministerium, das Justizministerium, das Wirtschaftsministerium, aber auch die
Finanzminister der Länder - das Sagen. Dieses Problem
ist uns genauso bewusst wie die Tatsache, dass die Regelungsgegenstände komplex und die Interessen der Beteiligten - wie könnte es anders sein? - sehr unterschiedlich sind. Das heißt: Wir müssen weiterhin ganz dicke
Bretter bohren.
({0})
Lassen Sie mich ganz kurz auf den Medienerlass eingehen. Es gibt auch in meiner Fraktion immer wieder
Anfragen dazu. Dieses Thema spielt immer wieder eine
Rolle. Ich bin froh, dass wir mit dem neuen Medienerlass grundsätzlich die Möglichkeit einräumen, Filme mit
privatem Geld zu finanzieren. Wir können deutsche Medienfonds aus ordnungspolitischen Erwägungen und
nicht zuletzt wegen der im EU-Recht verankerten Kapitalverkehrsfreiheit nicht bevorzugen. Ich denke, dem
kann eigentlich niemand widersprechen. Wir können
aber dazu beitragen, dass der deutsche Film attraktiver
wird. Das Filmförderungsgesetz legt dafür einen Grundstein.
Der Filmproduktionsstandort Deutschland - ich
denke, auch hier sind wir uns einig - muss attraktiver gemacht werden. „film 20“ hat in diesem Zusammenhang
interessante Vorschläge gemacht. Allerdings stoßen solche Ansätze zurzeit - das überrascht nicht - haushaltsmäßig und steuerrechtlich auf enorme Schwierigkeiten.
Das darf uns aber nicht abschrecken, weiterhin nach
neuen Wegen zu suchen.
Noch immer nicht geklärt ist die Betriebsstättenproblematik. Wir warten auf ein Ergebnis der Bund-Länder-Gespräche. Die Bedenken, die einer schnelleren Lösung im Wege stehen, kommen meines Wissens
vonseiten der Länder. Ich selber habe im Bundesfinanzministerium nachdrücklich auf den großen Erwartungsdruck vonseiten der Filmwirtschaft hingewiesen. Wir
sind wohl darüber einig: Wir brauchen endlich eine
praktikable Lösung.
Beim Urheberrecht - auch das ist angesprochen
worden - ist die weitere Umsetzung der EU-Richtlinie
angelaufen. Es geht jetzt um den so genannten zweiten
Korb. Insbesondere von der Kinobranche wird völlig zu
Recht auf das große Problem der Raubkopien hingewiesen. Ich habe bereits in meiner letzten Rede darauf hingewiesen, dass das Problem umgehend gelöst werden
muss. Ich freue mich darüber, dass es im Rechtsausschuss thematisiert wird. Wir sind uns darüber einig,
dass hier höchste Eile geboten ist.
({1})
Mit seinen Branchenabgaben und Fernsehbeiträgen
ist das FFG vom Ansatz her ein Wirtschaftsförderungsgesetz. Bis zur Einrichtung eines Ausschusses für Kultur und Medien wurde das Gesetz federführend im
Wirtschaftsausschuss behandelt und im Innenausschuss
mitberaten. Ich finde es ganz wichtig, dass jetzt der Ausschuss für Kultur und Medien dafür zuständig ist.
({2})
Die Förderung der Filmwirtschaft macht aber nur
Sinn, wenn zugleich auch das Produkt, um das es geht,
nämlich der deutsche Kinofilm, in seiner Qualität gefördert wird. Gefördert wird - so heißt es in der neuen Fassung des § 1 - die kreativ-künstlerische Qualität des
deutschen Films als Voraussetzung für seinen Erfolg im
Inland und im Ausland. Ich bin froh darüber, dass das
kein leeres Bekenntnis ist. Diese Einsicht in die Notwendigkeit des sachgerechten Ausgleichs zwischen wirtschaftlichen Interessen und kulturellem Anspruch, ohne
dass man das eine dem anderen opfert, zieht sich durch
das ganze Gesetz.
({3})
An dieser Stelle geht mein herzlicher Dank an alle
Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für die - wie
sollte es anders sein? - wirklich sehr gute Zusammenarbeit. Ich danke auch der Ministerin sowie ihrer Fachabteilung, die in ganz vorbildlicher Art und Weise mit dem
Parlament kooperiert haben. In aller Offenheit, sowohl
vonseiten der Parlamentarier als auch vonseiten der
Staatsministerin - das habe ich in meinen dreizehn Jahren in diesem Parlament so noch nicht erlebt -, ist ein
Regelwerk im Dialog mit den Betroffenen aus der Filmbranche entstanden. Das ist, denke ich, Kulturpolitik im
besten Sinne des Wortes, so wie man sie von Kulturpolitikern auch erwarten sollte.
({4})
- Nein, das war noch nicht das Schlusswort, Herr Otto.
Sie müssen mir schon noch ein bisschen zuhören.
({5})
Festmachen kann man diesen Ausgleich zwischen
wirtschaftlichem Interesse und kultureller Verantwortung an zwei Punkten des Gesetzes - ich fasse noch einmal zusammen -, erstens an der Einbeziehung kultureller Kriterien bei der Referenzfilmförderung und
zweitens an der Einbeziehung der Kreativen bei der Besetzung der Gremien der FFA.
Eine Anmerkung kann ich mir nicht verkneifen. Keineswegs gilt doch - darüber sind wir uns, denke ich, einig -: je größer ein Gremium, desto repräsentativer. Ich
verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Kampf
um die Gremienbesetzung für viele offensichtlich der
wichtigste Punkt in der Debatte war.
({6})
Insofern unterscheidet sich die Filmbranche nicht von
anderen Branchen.
Noch ein Hinweis zur Vergabekommission. Drehbuchautoren, Regisseure und auch Kurzfilmer sind künftig neben Vertretern von Kino, Produktion, Verleih,
Video, Fernsehen und Parlament mit dabei, wenn über
die Förderung von Filmprojekten entschieden wird. Als
Mitglied dieser Kommission bin ich gespannt, wie sich
das auf die Förderpraxis auswirkt.
Eine ganz persönliche Bemerkung: Ich als Politikerin
verstehe mich durchaus auch als Kreative. Ich denke,
dass auch Kreativität eine Voraussetzung für erfolgreiche Politik ist.
({7})
Ich hoffe, dass wir mit der Einbeziehung der Kreativen auch denen gerecht werden, die immer nach mehr
Transparenz der Gremien gerufen haben. Aber ich
möchte ausdrücklich anmerken: Transparenz gibt es nur
dann, wenn alle Vertreter auch wirklich transportieren,
was zum Beispiel im Verwaltungsrat läuft.
Die FFG-Novelle, die wir heute beschließen, ist ein
großer politischer Erfolg. Aber die Arbeit geht natürlich
weiter. Wir, die Kulturpolitiker aller Fraktionen, haben
in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag eine
Agenda verabredet, die wir alle, wie ich denke, sehr
ernst behandeln werden. Die Fußballsprache hat nach
dem Wunder von Bern - wen wundert es? - auch unsere
Debatte um das FFG erreicht. Also: Nach der Novelle ist
vor der Novelle.
({8})
- Oh, Sie kennen sich im Fußball gut aus; ich auch.
Ich halte fest: Die Aufmerksamkeit für den deutschen
Film hat deutlich zugenommen und wird sich hoffentlich
auch in Marktanteilen und Festivalerfolgen niederschlagen. Unsere Aufgabe als Kulturpolitiker wird es sein,
diesen Erfolg nachhaltig zu stabilisieren; und das nicht
nur, damit die deutsche Filmwirtschaft floriert, sondern
auch, weil es sich beim Kinofilm um ein Kulturgut ersten Ranges handelt,
({9})
um ein Medium von größter gesellschaftlicher und identitätsstiftender Bedeutung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann waren Sie das
letzte Mal in einem deutschen Kinofilm?
({10})
Ich wünsche mir, dass wir alle und auch alle Gäste hier
zu Botschaftern des deutschen Films werden.
({11})
Ich schließe die Aussprache und lasse die Anregung
einmal auf sich beruhen, ob wir demnächst regelmäßig
abfragen, wer wann zuletzt in welchem Film war, obwohl das zum Unterhaltungswert dieser Debatten sehr
beitragen könnte.
({0})
- Die könnten wir, Herr Kollege, kongenial mit einbeziehen.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Wir kommen jetzt zu den erforderlichen Abstimmungen über den vorliegenden Gesetzentwurf bzw. die Entschließungsanträge.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Filmförderungsgesetzes auf der Drucksache 15/1506. Der Ausschuss für Kultur und Medien
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1958, den Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegt ein interfraktioneller Änderungsantrag vor, über den wir zuerst abstimmen müssen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/1977? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Änderungsantrag ist angenommen.
({1})
- Wenn es dem Glanz der Gesetzgebung dient, füge ich
gerne hinzu, dass er einstimmig angenommen worden
ist. Das ist für den Änderungsantrag ja nicht ganz so wesentlich wie für den Gesetzentwurf, über den wir jetzt
anschließend dennoch abstimmen müssen.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
ebenfalls einstimmig angenommen.
({2})
Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme eines
Änderungsantrages in zweiter Beratung unmittelbar in
die dritte Beratung einzutreten. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so vereinbart.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand der
Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Damit ist dieser Gesetzentwurf zur Änderung des Filmförderungsgesetzes vom Deutschen Bundestag einstimmig angenommen.
Um das mehrfach bemühte Beispiel des Wunders von
Bern aufzugreifen: Wenn das Zusammenspiel dieser
Mannschaft so grandios war, wie alle Sprecher der Fraktionen wechselseitig gerühmt haben, wäre es schade,
wenn diese Mannschaft zum letzten Mal so zusammengespielt hätte.
({3})
Wir kommen nun zu Buchstabe b der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 15/1958 mit
der Empfehlung der Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme? Dann ist auch diese Beschlussempfehlung einstimmig
angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutschland beibehalten
- Drucksache 15/1876 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erteile ich der
Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehe
davon aus, dass es auch bei diesem Tagesordnungspunkt
Gemeinsamkeiten gibt.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um eine
Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots für
schwere LKW zu verhindern. Denn Berichten zufolge
will die EU dieses Fahrverbot aufweichen.
Das Sonn- und Feiertagsfahrverbot für LKW in
Deutschland hat sich bewährt und muss erhalten bleiben.
({0})
Deutschland wäre als Transitland Nummer eins in Europa
von dieser Lockerung massiv betroffen. An Sonn- und
Feiertagen gäbe es aufgrund des zeitgleich stattfindenden
Freizeitverkehrs lange LKW-Kolonnen mit Staus, Lärm
und Unfällen auf den ohnehin schon stark belasteten Autobahnen. Das ist den Anwohnern nicht zumutbar.
Uns ist das Sonn- und Feiertagsfahrverbot für LKW
heilig. Wir halten es für wichtig.
({1})
Verkehrsminister Stolpe darf allerdings nicht einknicken
und nicht Europa Tür und Tor für den Schwerlastverkehr
öffnen, der dann künftig auch sonntags über unsere Straßen lärmen würde. Wir wollen in Deutschland die Sonnund Feiertage nicht zu Werktagen degradieren und wir
wollen auch nicht, dass LKW-Transporte an Wochenenden die Straßen verstopfen und den Freizeitverkehr einschränken.
In der EU wachsen allerdings die Bestrebungen, den
Sonn- und Feiertagsschutz mittelfristig einzuschränken
bzw. langfristig abzuschaffen - mit der fadenscheinigen
Begründung, den zunehmenden Güterverkehr auf der
Straße besser abwickeln zu können. Zudem seien sonntägliche Wartezeiten an den Grenzen nicht zumutbar
bzw. nicht hinnehmbar.
Nach dem Willen der EU-Kommission sollen die Mitgliedstaaten zusätzliche Fahrverbote künftig nur noch
mit ausdrücklicher Genehmigung der EU-Kommission
verhängen dürfen. Wenn die grundsätzlichen Befugnisse
erst einmal auf die EU übertragen worden sind, ist zu befürchten, ja sogar davon auszugehen, dass die bisherigen
nationalen Vorschriften allenfalls Auslaufmodelle und
erfahrungsgemäß nur noch von kurzer Haltbarkeitsdauer
sind. Wir kennen doch die Regelungswut der EU bzw.
das An-sich-Ziehen von Befugnissen. Es besteht die Gefahr, dass die Sonn- und Feiertagsfahrverbote Scheibchen für Scheibchen beschnitten werden. Das wäre auch
im Hinblick auf die EU-Osterweiterung und den damit
zu erwartenden Verkehr für Deutschland fatal.
Im Übrigen beeinträchtigen die geltenden deutschen
Regelungen den freien Warenverkehr nicht, da verderbliche Waren ohnehin schon von Fahrverboten ausgenommen sind. Allerdings müsste die Kennzeichnung
„verderbliche Waren“ durch die zuständigen Behörden
restriktiv ausgelegt und kontrolliert werden, damit die
Umgehung des geltenden Rechts erschwert bzw. ganz
verhindert wird. Bei manchem LKW, der an Sonn- und
Feiertagen unterwegs ist, habe ich doch die Vermutung,
dass keinesfalls verderbliche Waren gefahren werden,
sondern man eher darauf vertraut, nicht kontrolliert zu
werden bzw. die dann fällige Strafe durch den gewonnenen Transportvorteil locker bezahlen zu können.
Eine Lockerung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots
für LKW bedeutet zudem einen gravierenden Einschnitt
in das Privatleben der Berufskraftfahrer und deren
Familien.
Eine generelle Fahrerlaubnis würde nicht nur die Fahrer, sondern auch sehr viele andere Arbeitnehmer belasten; denn es geht nicht nur um das Fahren, sondern auch
um das Be- und Entladen der Fahrzeuge.
Auch das deutsche Transportgewerbe lehnt die Aufhebung oder Aufweichung dieses Fahrverbots ab; denn
es würde eine weitere Verschlechterung der Wettbewerbssituation im europäischen Vergleich entstehen,
wenn die LKWs aus unseren Nachbarstaaten auch sonnund feiertags durch Deutschland fahren könnten.
Besonders in Regionen, wo der Fremdenverkehr die
einzig bedeutende Einnahmequelle ist, kann sich eine
Aushöhlung des Fahrverbots an Sonn- und Feiertagen
für LKWs negativ auf die Überlebenschancen der Fremdenverkehrsbetriebe auswirken. Dörfer und Städte müssten sich dann mit dem Aufstellen von Park- und Durchfahrtsverbotstafeln für LKWs befassen. Dies kann
keinesfalls in unserem Sinne sein.
Ich gehe davon aus, dass alle Fraktionen in diesem
Hause für die Beibehaltung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots für LKWs in Deutschland sind; denn Deutschland wäre als Drehscheibe des Verkehrs in Europa von
einer Lockerung dieses Verbots am stärksten betroffen.
Dies können wir unserer Bevölkerung nicht zumuten.
({2})
Wir sollten nach dem Motto „Wehret den Anfängen!“
gemeinsam handeln und der Bundesregierung diesen gemeinsamen Auftrag mitgeben bzw. ihr den Rücken für
Verhandlungen mit der EU stärken, damit wirklich alle
Maßnahmen ergriffen werden können, um eine Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots zu verhindern.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Pläne aus Brüssel
zur Aufweichung des Fahrverbots gehören in den Papierkorb und müssen vom Parlament zurückgewiesen
werden.
({3})
Für die Bundesregierung hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Dieser Nachmittag entwickelt sich regelrecht zu einem Nachmittag der Harmonie.
Das LKW-Sonntagsfahrverbot ist ein hochpolitisches
Thema. In Ihrem Antrag kommt die Sorge zum Ausdruck, dass durch eine europäische Regelung das Sonnund Feiertagsfahrverbot gefährdet werden könnte. Die
Bundesregierung teilt diese Sorge und sie teilt auch die
Forderung nach einer Beibehaltung dieses Verbots.
Immer wieder müssen wir uns in gewissen Abständen
mit diesem Thema beschäftigen. Bisher ist es zusammen
mit Frankreich, Österreich und Italien immer gelungen,
Begehrlichkeiten der Kommission oder anderer Länder
abzuwehren. Dass Italien als amtierende Ratspräsidentschaft den geänderten Richtlinienentwurf der Kommission auf die Agenda genommen hat, ist überraschend
und nicht zu erklären.
Der Richtlinienentwurf hat den irreführenden Titel
„… über ein transparentes System harmonisierter Vorschriften zur Beschränkung des grenzüberschreitenden
Güterverkehrs mit schweren Lastkraftwagen …“. Ich
sage dazu: Ziel jeder EU-Richtlinie muss ein europäischer Mehrwert und eine europäische Harmonisierung
sein. Ich kann aber weder den europäischen Mehrwert
noch die Harmonisierung erkennen. Warum sollte - so
muss ich im Umkehrschluss fragen - ein Land Fahrverbote eigentlich einführen, wenn es diese Fahrverbote
aufgrund eines geringen Fahraufkommens gar nicht
braucht?
In der Bundesrepublik Deutschland haben wir seit
1956 ein Fahrverbot an Sonn- und Feiertagen. Dieses
Verbot hat sich aus Gründen der Verkehrssicherheit und
auch deshalb, weil es unserem Verständnis von Sonntagsruhe entspricht, bewährt.
({0})
Die Sonntagsruhe ist - das weiß vielleicht nicht jeder auch im Grundgesetz festgehalten.
Übrigens kannte die DDR kein Sonntagsfahrverbot.
Das lag vor allen Dingen daran, dass der übliche Transportweg die Schiene war. Die restliche Transportleistung
war überschaubar. Dies ist aber in einem Transitland
nicht der Fall.
Als Transitland haben wir besondere Lasten zu tragen. Periphere Staaten kennen diese Situation nicht.
Diese Lasten zu tragen ist eine schwere Aufgabe. Auch
bei uns wird immer wieder die Diskussion darüber geführt, wie man das prognostizierte Verkehrsaufkommen
bewältigen kann. Dazu gibt es mehr oder weniger gute
Ratschläge.
In einer Pressemitteilung des Bundesverbandes des
Deutschen Groß- und Außenhandels heißt es, wir müssten die Denkverbote überwinden und eine Diskussion
führen über die Aufhebung von Sonntagsfahrverboten,
über die Öffnung des Werksverkehrs für Transporte Dritter und auch über die Anhebung des zulässigen Gesamtgewichts für LKW’s auf bis zu 60 Tonnen.
Ich stelle hier fest, dass diese Aufforderung zur Diskussion bis jetzt keine Resonanz gefunden hat, weder im
politischen Bereich noch beim betroffenen Gewerbe. Ich
hoffe, damit hat sich das erledigt. Wir haben eine Regelung, die sich bewährt hat und - was ja nicht so häufig
vorkommt - die auch äußerst beliebt ist.
({1})
Wie geht es jetzt weiter in Europa? Wir werden weiterhin mit Nachdruck unsere ablehnende Haltung zum
Richtlinienentwurf zum Ausdruck bringen. Wir werden
weiterhin eng vor allen Dingen mit Frankreich zusammenarbeiten. Wir treffen aber Vorkehrungen, unser
Ziel - es heißt: Fortbestand des Sonn- und Feiertagsfahrverbotes - auch dann zu erreichen, wenn wir überstimmt werden. In diesem Fall werden wir uns für einen
dauerhaften Bestandsschutz der bestehenden nationalen
Regelungen einsetzen. Wir haben immer sehr viel
Verständnis für unsere Position gefunden. Wenn es allerdings hart auf hart geht - das betrifft auch Punkt II Ihres
Antrages -, können wir von Großbritannien zwar Verständnis erwarten, aber Unterstützung ist schon ein bisschen problematischer. Großbritannien hat das uns gegenüber auch so zum Ausdruck gebracht.
Mit Ihrer Forderung nach einer integrierten Verkehrspolitik rennen Sie bei uns nun wahrlich offene Türen ein
({2})
- ja, Scheunentore, größere Tore kann es gar nicht
geben -, wenngleich wir uns in unserer Diskussion nicht
auf die transeuropäischen Netze beschränken sollten und
auch nicht wollen. Weil es in Ihrem Antrag so treffend
formuliert ist, möchte ich mir vorbehalten, bei der nächsten Debatte, die wir über die Bahn führen, gegebenenfalls auf diese Formulierung zurückzukommen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich für
die FDP-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei so viel Gemeinsamkeit wird es ja schon
wieder interessant, eine andere Meinung zu haben, aber
man muss sich das richtige Thema heraussuchen. Zunächst muss man sich fragen: Was hat eigentlich die EUKommission bewogen, ausgerechnet an dem Punkt anzufangen, über eine Harmonisierung in Europa laut
nachzudenken?
({0})
Es gäbe eine ganze Palette von Themen, über die man
mit dem Ziel der Beseitigung von Defiziten ernsthaft mit
der EU diskutieren könnte. Eine solche Diskussion wäre
zwar auch strittig, aber sie wäre sehr viel wichtiger, als
jetzt das Thema Sonntagsfahrverbot aufzugreifen.
({1})
Ich denke an Themen wie Lenk- und Ruhezeiten, KfzSteuer, Mineralölsteuer sowie an andere Vorschriften
und Ausnahmeregelungen
({2})
wie die nachträglich genehmigten steuerlichen Hilfen
anderer Länder ab dem Jahr 2000 für ihr Transportgewerbe.
({3})
Diese Genehmigung erfolgte im Übrigen mit Zustimmung der Bundesregierung. Es gäbe also eine große Palette von Themen, über die man sich Gedanken machen
könnte. Der Kollege Fischer fordert ja ständig ein Weißbuch der EU zur Beseitigung der Harmonisierungsdefizite.
({4})
Es wäre sicherlich interessant, das abzuarbeiten. Dazu
braucht man aber kein Weißbuch; die Themen sind eigentlich bekannt.
({5})
Dass man jetzt ausgerechnet das Sonntagsfahrverbot in
den Blick nimmt zeigt, dass man einen Sinn darin sieht,
Horst Friedrich ({6})
das größte Transitland und das wirtschaftlich interessanteste Land innerhalb der EU noch stärker zu frequentieren - zwei Drittel des Gesamtverkehrs finden schon jetzt
bei uns statt - und dass man deshalb jetzt auch das bestehende Fahrverbot von Sonntag 0 Uhr bis 22 Uhr aufheben will.
Allerdings - das ist ja schon angeklungen, verehrte
Kolleginnen und Kollegen - müssen wir natürlich auch
selber aufpassen. Mittlerweile werden in den Regionen neben dem sowieso schon ausgenommenen Verkehr für
so genannte lebensnotwendige Güter - flächendeckend
mehr und mehr Ausnahmeregelungen erteilt, was dazu
führt, - das zeigt ein Vergleich der täglichen Verkehrszahlen -, dass am Sonntag bereits jetzt schätzungsweise
20 Prozent des Schwerlastverkehrs, der durchschnittlich
werktäglich unterwegs ist, auf Deutschlands Autobahnen fährt. Das ist natürlich überwiegend aufgrund von
regionalen Ausnahmegenehmigungen möglich. Wer auf
der einen Seite von sich aus deutlich macht: „Ich nehme
das alles nicht allzu ernst“, darf sich umgekehrt nicht
wundern
({7})
- wenn das Handy klingelt;
({8})
damit wären wir wieder beim Thema Film: „Immer
wenn der Postmann zweimal klingelt“ -,
({9})
wenn man von der anderen Seite darauf angesprochen
wird, in diesem Bereich zu harmonisieren.
Wir werden uns im Ausschuss intensiv mit dem Antrag der Union befassen und sicherlich in sehr pragmatischer Weise ein gemeinsames Ergebnis erzielen. Ich
freue mich auf die Fortsetzung der Debatte anlässlich der
weiteren Behandlung dieses Antrages im Plenum.
Herzlichen Dank.
({10})
Diejenigen Kollegen, die offenkundig Entzugserscheinungen haben, weil sie nicht Mitglied des Ausschusses für Kultur und Medien sind, mache ich darauf
aufmerksam, dass nach unserer Geschäftsordnung jedes
Mitglied des Bundestages berechtigt ist, an Sitzungen
von Ausschüssen, in denen es kein Mitglied ist, teilzunehmen.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Albert Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass dies heute ein so konsensualer, harmonischer Nachmittag ist.
({0})
Dies ist schon der zweite Tagesordnungspunkt, der offenbar die Einigkeit des Hauses in wichtigen Fragen dokumentiert.
({1})
Dies ist auch die zweite Verkehrsdebatte, die ich hier erlebe, bei der es in einem zentralen Punkt Übereinstimmung gibt. Beim ersten Thema ging es um den Börsengang der Bahn. Ich finde, hier waren wir mit unserem
Aufsichtsratsbeschluss, der dieser Debatte unmittelbar
folgte, erfolgreich. Das zweite Thema ist jetzt das Sonntags- und Feiertagsfahrverbot für schwere LKW’s.
({2})
- Das zeigt, dass wir dann Erfolg haben, wenn wir gemeinsam das Richtige wollen.
({3})
Noch gilt in Deutschland, in Frankreich, in Italien und
in Österreich an Sonntagen und an bestimmten Feiertagen ein LKW-Fahrverbot. Das ist keine Willkür und
auch kein Zufall. Denn diese Länder liegen nun einmal
im Herzen Europas, wir in Deutschland ganz besonders:
Wir sind das Transitland Nummer eins in der Mitte Europas. Ob Nord-Süd-Verkehr oder West-Ost-Verkehr,
alle wälzen sich über unsere Straßen.
Deshalb wäre es eine Horrorvorstellung, die LKWKolonne nun zeitgleich mit dem Freizeitverkehr am
Wochenende auf die Straßen zu lassen. Das ist nicht nur
eine Frage der Lebensqualität und der Überlastung unserer Bevölkerung, insbesondere der Anwohnerinnen und
Anwohner, die diesem Lärm auch noch am Sonntag ausgesetzt wären. Das ist vielmehr auch eine Frage der Sicherheit. Denn am Sonntag den Freizeitverkehr zugleich
mit dem Verkehr schwerer LKW’s auf die Straße zu lassen heißt: mehr Unfälle, mehr Staus und noch mehr Belastungen für die Anwohnerinnen und Anwohner. Das
kann niemand verantworten, auch nicht wenn er in Brüssel sitzt.
({4})
- So ist es.
Schon eine Lockerung des Sonntagsfahrverbots ist
eine falsche Strategie. Denn sie führt natürlich dazu,
dass ein solches Verbot nach und nach wie ein Schweizer
Käse durchlöchert wird, bis es am Schluss mehr Löcher
Albert Schmidt ({5})
als Käse hat. Deswegen freue ich mich, dass wir uns hier
einig sind.
Freizeitverkehr plus LKW-Lawinen, das überfordert
nicht nur die Straßen, das überfordert auch die Menschen. Deswegen sind wir alle auf dem richtigen Weg,
wenn wir in Richtung Brüssel und - auch das sage ich
hier sehr deutlich - in Richtung Rom, in Richtung der
gegenwärtigen Ratspräsidentschaft, ausdrücklich feststellen: Das Sonntagsfahrverbot für LKW’s ist für uns
eine Frage der Lebensqualität. Wir im Deutschen Bundestag sollten gemeinsam und einmütig das Signal an
Herrn Berlusconi senden: Er kann auf der nächsten Ratstagung Anfang Dezember treiben, was er will;
({6})
aber dieses Thema sollte er schleunigst von der Tagesordnung absetzen.
({7})
Denn niemand hier will eine Lockerung, noch nicht
einmal das LKW-Gewerbe. Es ist schon gesagt worden,
dass auch das deutsche Speditionsgewerbe eine Aufhebung dieses Fahrverbotes ablehnt, und zwar aufgrund
der Befürchtung einer weiteren Verschlechterung der
Wettbewerbsposition im europäischen Vergleich, nämlich dann, wenn die Trucks aus dem Ausland auch sonnund feiertags durch Deutschland donnern.
Deshalb wird es höchste Zeit, dieses Signal zu geben.
Denn wir befinden uns tatsächlich in einer Fünf-vorzwölf-Situation. Wir können vielleicht gerade noch den
Zeiger anhalten, wenn wir dank der Einmütigkeit heute
gemeinsam das richtige Signal setzen. Ich bin deshalb
sehr dankbar für den vorliegenden Antrag, der uns den
Anlass gibt, diese Debatte heute zu führen.
({8})
Irgendwann einmal - ich will es so salopp sagen muss der Tag sein, an dem ein leidenschaftlicher Autofahrer über die Autobahn brettern kann, ohne dass die
LKW auf der rechten Spur ein Hindernis wie eine Mauer
bilden. Ich denke an Persönlichkeiten wie Rezzo
Schlauch, die auch einmal die Möglichkeit haben wollen, ihre Fahrzeuge auszufahren.
({9})
Man sollte nicht verschweigen, dass auch das eine Rolle
spielen darf.
({10})
Für mich spielt aber noch ein anderer Punkt eine sehr
wichtige Rolle, den ich abschließend ansprechen
möchte. Wenn wir heute einen Stopp der Debatte um
eine Aufweichung des Fahrverbots an Sonn- und Feiertagen fordern, geben wir auch ein Zeichen, dass eine totale Kommerzialisierung der Sonn- und Feiertage an
eine Grenze stößt, bei der wir Halt sagen. Das ist auch
eine kulturelle Frage, Herr Präsident. Es gibt noch andere Werte im Leben als die totale Kommerzialisierung,
den permanenten Transport, das permanente Geschäft.
Es gibt Werte wie Freizeit, Erholung, Ruhe und Familienleben.
({11})
Das wollen wir garantiert sehen. Deshalb sagen wir
heute Nein zu diesen Plänen aus Brüssel, aus Rom oder
woher immer sie kommen mögen.
({12})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Schorsch
Brunnhuber, CDU/CSU-Fraktion. Falls auch er noch die
kulturelle Bedeutung des Straßenverkehrs hervorhebt, ist
mit dem Zuströmen der verschwundenen Kollegen aus
dem einschlägigen Ausschuss zu rechnen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
kennen mich: Wenn alles schon gesagt ist, braucht man
in einer Sache, bei der man sich wirklich einig ist, nicht
alles zu wiederholen.
Ich stelle deshalb erstens fest: Das Sonntagsfahrverbot für schwere LKW’s muss bleiben, weil es sich bewährt hat und weil wir den Sonntag als heilig wollen.
Wir haben jetzt schon bis Samstag volle Arbeitszeit; deshalb muss der Sonntag absolut frei gehalten werden.
Zweitens. Wir wollen nicht, dass ausländische Konkurrenz, die wir jetzt schon haben, das deutsche Verkehrsgewerbe im grenzüberschreitenden Verkehr permanent zurückdrängt: von 35 Prozent Anteil vor fünf
Jahren auf jetzt unter 25 Prozent. Das muss verhindert
werden.
Drittens. All das, was von allen Kollegen gesagt worden ist, ist richtig.
Ich bitte deshalb die Bundesregierung, unseren Antrag zu unterstützen. Umgekehrt können wir Ihnen versichern: In Brüssel haben Sie unsere volle Zustimmung.
({0})
Verehrter Kollege Brunnhuber, ich hätte es nicht für
möglich gehalten, in meiner Amtszeit noch einmal eine
so spektakuläre Unterschreitung der Redezeit erleben zu
dürfen, wie das gerade der Fall war.
({0})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat der
Kollege Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem meine Redezeit bereits von elf auf sechs
Minuten heruntergekürzt worden ist, werde auch ich
mich kurzfassen. Insofern hoffe ich, dass ich Ihr Wohlwollen verdiene.
Als ich mich in den letzten Tagen wieder mit diesem
Thema beschäftigte, fiel mir auf, dass man den Eindruck
haben könnte, es handele sich um einen Evergreen, der
alle vier Jahre hier im Parlament erörtert wird. 1998 und
1999 hat der Bundestag eindeutige Beschlüsse dazu gefasst. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass wir
unterschätzen, was aus Europa kommt.
Europa ist eine Mühle, die beständig mahlt. Sie produziert unaufhörlich immer neue Vorschläge, Entschließungen und Verordnungen. Man muss aufpassen, dass
der nationale Wille dabei am Ende nicht fürchterlich unter die Räder kommt. Das droht in diesem Fall.
Ich habe einmal nachgeschaut: Seit 1998 hat es auf
europäischer Ebene 14 Befassungen mit diesem Thema
gegeben. 23 Bulletins und ähnliche Schriften sind nur zu
diesem Thema verfasst worden,
({0})
immer mit dem gleichen Ziel, an dieser Stelle etwas aufzubohren.
Es ist gut und notwendig, dass dieses Parlament sich
einmütig gegen diese Hydra wehrt, der, sobald man einen Kopf abgeschlagen hat, zwei neue nachwachsen. Ich
bin sehr dankbar dafür, dass das hier so einmütig passiert.
Ich habe allerdings eine Bitte. Bei der Recherche haben wir festgestellt, dass SPD, CSU, ÖVP und SPÖ im
Europäischen Parlament eine einheitliche Position haben, leider aber nicht die Abgeordneten der Christlich
Demokratischen Union im Europäischen Parlament. Die
haben mehrheitlich leider für den Kommissionsvorschlag gestimmt, was von einer leichten Verwirrung bei
all denen zeugt, von denen man hätte annehmen müssen,
dass sie um unsere nationale Debatte wissen.
({1})
Insofern ist das ein Arbeitsfeld, bei dem wir noch überzeugen müssen. Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz
aufgegeben.
Seitens der sozialdemokratischen Fraktion darf auch
ich feststellen: Wir sind eindeutig der Meinung, dass wir
an diesem Regelwerk nichts verändern wollen. Wir werden uns im Ausschuss bei der Beratung Ihres Antrages
entsprechend verhalten.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1876 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2002 ({1})
- Drucksachen 15/500, 15/1837 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Merten
Anita Schäfer ({2})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache 45 Minuten dauern. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages
Dr. Willfried Penner.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine intakte Institution und in dieser Armee
leisten Soldaten erstklassigen Dienst. Aus aktuellem Anlass füge ich hinzu: Die Bundeswehr ist eine demokratische Institution im demokratisch verfassten Staat und
nicht etwa Gehäuse für Rechtsextremismus oder Rechtsextremisten.
({3})
Die Bundeswehr steht für Freiheit, steht für Toleranz
und für Achtung der menschlichen Würde und nicht für
das Gegenteil. Das ist Tatsache und nicht etwa beschwörende Leerformel. In der Bundeswehr wird innere Führung praktiziert und Soldaten sind Staatsbürger in Uniform. Mächtige Wirkkräfte sichern die demokratische
Beschaffenheit der Bundeswehr ab: Ich nenne die ständige, fast uneingeschränkte Kontrolle durch die Öffentlichkeit, ich nenne die ständige parlamentarische
Kontrolle und ich erwähne die besondere politische Verantwortlichkeit von Bundesverteidigungsminister und
Bundeskanzler als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt. Da ist kein Platz für die Widerwärtigkeiten des
Rechtsextremismus; das wird auch so bleiben.
({4})
Gewiss bedeutet dies keinen uneingeschränkten Schutz.
Die Begehrlichkeiten des Rechtsextremismus in Richtung Bundeswehr im Hinblick auf deren hierarchische
Ordnung, im Hinblick auf Waffen und den Umgang mit
denselben, aber auch im Hinblick auf militärische Symbole und die Dienstkleidung werden bleiben. Dies ist
aber eine andere Geschichte. Dagegen kann man sich
wehren und das geschieht auch.
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Das Schüren eines diesbezüglichen Generalverdachts
gegen die Bundeswehr ist allerdings infam, zumal deutsche Soldaten in ihrer Mission im Ausland unter zum
Teil außerordentlich schwierigen Bedingungen und bei
Einsatz von Leib und Leben einen allseits anerkannten
Dienst zum Schutz von Menschenrechten und der internationalen Wertegemeinschaft leisten.
({5})
Das ändert aber nichts daran, dass es auch Probleme
gibt - und die nicht zu knapp. Das Parlament als Auftraggeber des Wehrbeauftragten hat Anspruch darauf, zu
erfahren, wie es um seine Bundeswehr und seine Soldaten nach den Wahrnehmungen des Wehrbeauftragten im
Berichtsjahr bestellt ist.
Hierzu die wichtigsten Hinweise: Erstens. Der Bundeswehr zu Hause machen die Auswirkungen der Einsätze sehr zu schaffen. Soldaten weisen vermehrt auf
Doppel-, ja Mehrfachbelastungen hin, die die Folge einsatzbedingter Abwesenheit anderer Soldaten sei. Immer
wieder wird vorgetragen, dass der Übungs- und Ausbildungsbetrieb Schaden nehme. Die Schwächen werden
mit fehlenden Ausbildern, Mangel an geeignetem Material und erforderlichen Mitteln erklärt. Es verstärkt sich
der Eindruck, dass die Bundeswehr in einigen Bereichen
die Grenzen der Möglichkeiten erreicht hat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien die Nöte der Fernmelder
sowie von Spezialisten generell und die Schwierigkeiten
beim Sanitätswesen erwähnt. Das Fehlen von Chirurgen,
Anästhesisten und Orthopäden belastet die Funktionsfähigkeit von Bundeswehrkrankenhäusern zulasten der
Soldaten. Perspektivisch ist zu berichten, dass das Interesse am Dienst des Sanitätsoffiziers nachlässt. Die Zahl
der Bewerber dafür wird kleiner. Mögliche negative Folgen zulasten des Sanitätswesens sind absehbar. Es besteht Handlungsbedarf.
Zweitens. Die rasche Folge tief greifender Veränderungen in der Bundeswehr verunsichert Soldaten, weil
damit auch Planungsverlässlichkeit für den persönlichen
Bereich, für Frau und Kinder, betroffen sein kann. Hinzu
kommt, dass Unsicherheiten über den Fortbestand von
Einheiten und Standorten Soldaten zusätzlich belasten.
Immer wieder wird von erfahrenen, wohlmeinenden Soldaten vorgebracht, dass das Riesenunternehmen Bundeswehr bei einander überlappenden Veränderungsprozessen grundlegender Art nicht zurechtkommen könne.
Drittens. Gerade bei wiederholten Einsätzen stellt
sich für Soldaten immer drängender die Frage nach Sinn
und Zweck ihres Dienstes, wenn sie nach ihren Wahrnehmungen keine politischen Fortschritte ausmachen
können. Die Soldaten wollen nicht Besatzungsmacht
oder Lückenbüßer für nicht stattfindende politische Veränderungen sein. Mit anderen Worten: Sie erwarten
Konsequenzen aus dem Primat der Politik.
Viertens. Bei Bundeswehr im Einsatz ist es unumgänglich, an die immer noch ausstehende Novellierung
des soldatischen Versorgungsrechts zu erinnern, die doch
schon seit knapp einem Jahr zugesagt und begonnen
worden ist. Die Soldaten begreifen es nicht, dass dies so
lange dauert, hingegen über jeden zusätzlichen Einsatz
sehr zügig Entscheidungen getroffen werden.
Sie können es übrigens auch nicht begreifen, dass ihr
zunehmend gefährlicher werdender Dienst zeitgleich
von Einschnitten in Besoldung und Versorgung begleitet wird. Es sei nur an die angekündigte Kürzung des
Weihnachts- und Urlaubsgeldes erinnert. Das würde die
Bundeswehr gerade bei den unteren Besoldungsgruppen
breit erreichen. Unterhalb der Besoldungsgruppe A 7
leisten über 130 000 Soldaten Dienst. Das sind allesamt
Einkommensbezieher mit Bruttogrundgehältern zwischen 1 445 und maximal 2 131 Euro; dabei sind die Abschläge der Ostbesoldung noch nicht eingerechnet.
Gerade die Bundeswehr im Einsatz belastet es nach
wie vor, dass die Lücke zwischen der Ost- und der Westbesoldung immer noch nicht geschlossen ist. Unmissverständlich gesagt: Befürchtete Konsequenzen für die
Haushalte von Ländern und Gemeinden im Osten und
für das Weiterbestehen der Tarifgemeinschaft von Bund,
Ländern und Gemeinden taugen als Argument für weiteres Zögern und Zagen nicht.
({6})
Der Bund ist allein für militärische Angelegenheiten
und damit auch allein für Bundeswehr im Einsatz zuständig. Dann ist der Bund auch allein für die Beschaffenheit der Armee verantwortlich. Deren Verfassung
nimmt Schaden, wenn nicht endlich diese zulasten der
ostdeutschen Soldaten diskriminierend wirkenden, die
Armee der Einheit spaltenden Einkommensunterschiede
aufgehoben werden.
({7})
Was andere Mängel in der Bundeswehr und die Sorgen der Soldaten angeht, muss es mit einem Hinweis auf
den Bericht sein Bewenden haben. Ich will nur noch ein
paar Stichworte nennen, was die Soldaten belastet und
was in der Bundeswehr rumort:
Mit seiner neuen Laufbahn wird das Unteroffizierskorps weiterhin nicht richtig fertig. Die „alten“ Unteroffiziere sehen sich auf dem Wege zum Abstellgleis und
ihre Interessen auf Beförderung nicht zureichend berücksichtigt.
Die Infrastruktur in vielen Kasernen des westlichen
Deutschlands lässt zu wünschen übrig. Dagegen hat das
Programm „Kaserne 2000“ für den Osten erfreulicherweise voll gegriffen.
Damit auch dies gesagt sei: Klagen über Unzulänglichkeiten gerade bei der Bearbeitung von Personalangelegenheiten mit negativen Konsequenzen für die Betroffenen werden mehr und mehr. Ich erwähne als Quellen
für Schwächen, ohne dass das eine Schuldzuweisung
bedeutet, die Zentren für Nachwuchsgewinnung, die
Stammdienststellen, aber auch Knotenpunkte in der
Truppe selbst.
Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner
Der Verteidigungsausschuss wird in seinem Bemühen
nicht locker lassen, Verbesserungen durchzusetzen; darin bin ich mir sicher. Er wird zu Beginn des nächsten
Jahres beim Bundesministerium der Verteidigung wegen
notwendiger Veränderungen wieder förmlich vorstellig
werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das hat der Bundestag immer wieder erklärt. Das wissen auch die Soldaten.
Sie wissen auch, dass das Parlament damit für die Bundeswehr eine besondere Verantwortung übernommen
hat.
Schönen Dank für Ihre Geduld.
({8})
Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Heß, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Der 44. Bericht des Wehrbeauftragten spiegelt ein ehrliches Bild der inneren Lage
der Bundeswehr wider. Da es sich um einen Mängelbericht handelt, zeigt er vor allem deutlich auf, welche Defizite innerhalb der Truppe bestehen.
Die Anzahl der Eingaben stieg im Jahr 2002 um rund
32 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Dieser Anstieg ist
darin begründet, dass sich die Bundeswehr im umfangreichsten Reformprozess seit ihrem Bestehen befindet
und gleichzeitig mehr Soldaten in Auslandseinsätzen ihren Dienst verrichten als jemals zuvor in der Geschichte
der Bundesrepublik. Die Bundeswehr hat bewiesen, dass
sie den erhöhten Anforderungen gewachsen ist. Dennoch ist es nicht zu vermeiden, dass es in bestimmten
Bereichen Defizite gibt. Diese Defizite werden erkannt
und wo immer möglich gelöst.
Das Beispiel des Feldlazarettes Rajlovac in der Nähe
von Sarajevo zeigt, dass der Verteidigungsausschuss und
das Verteidigungsministerium mit Kritik vonseiten des
Wehrbeauftragten und der Soldaten sehr verantwortungsvoll umgegangen sind und weiterhin umgehen. Der
aktuelle Bericht des Wehrbeauftragten weist deutlich auf
die unzulängliche Infrastruktur im Feldlazarett
Rajlovac hin. Die Kritik war bekannt. Es gab aber finanzpolitische Bedenken, ein neues Feldlazarett zu
bauen. Dank der geschlossenen Haltung des Verteidigungsministers und des gesamten Ausschusses konnten
diese Bedenken zu guter Letzt ausgeräumt werden. Inzwischen ist der erste Spatenstich erfolgt. Im nächsten
Jahr wird das Feldlazarett mit einer modernen Infrastruktur unseren Soldaten, aber auch den Soldaten anderer Nationen, den Hilfsorganisationen und der Zivilbevölkerung zur Verfügung stehen.
Ein wesentlicher Anlass zur Beschwerde im Sanitätsdienst war die individuelle Einsatzbelastung der Sanitäter. Auch hier wurde reagiert. Man hat das Splittingverfahren für das sanitätsdienstliche Fachpersonal
konsequent beibehalten. Sicher kommt es noch immer
zu einer hohen Einsatzbelastung der Spezialisten. Das
Sanitätsführungskommando ist aber angehalten, die Soldatinnen und Soldaten nach Möglichkeit so einzuplanen,
dass sie in einem Zeitraum von 30 Monaten nur bis zu
sechs Monate ihren Dienst in einem Einsatzland versehen müssen. Mit diesen Vorgaben wird die Einsatzbelastung gleichmäßig und auf möglichst vielen Schultern
verteilt.
Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass der Sanitätsdienst unter einem Mangel an medizinischem
Fachpersonal leidet; der Fachpersonalmangel trifft übrigens auch den zivilen Sektor. Umso höher möchte ich
das bisherige Engagement der Sanitätsdienstler der Bundeswehr, aber auch unserer Reservisten bewerten sowie
die überwiegend sehr gute zivil-militärische Zusammenarbeit hervorheben.
Zu Recht wird im Bericht des Wehrbeauftragten auf
die über 200 Eingaben im Zusammenhang mit den
neuen Laufbahnen hingewiesen. Insgesamt reagiert die
Truppe positiv auf die neuen Laufbahnen, da hiermit
auch die Möglichkeit verbessert wurde, Beruf und Familie in Einklang zu bringen, und die Bundeswehr besonders auch für junge Menschen attraktiver wird.
Durch die neuen Laufbahnen ergeben sich für die jungen Zeitsoldaten sehr rasche Aufstiegsmöglichkeiten,
was teilweise dazu führt, dass ältere Soldaten vom
Dienstgrad her überholt werden. Dies führt bei manchen
altgedienten und lebensälteren Soldaten zu Vorbehalten
gegen die neuen Laufbahnen. Das Verteidigungsministerium hat gehandelt und durch zusätzliche Planstellen
eine Entspannung erreicht. Wir sind hier noch nicht am
Ende. Ich denke aber, es wird auch in Zukunft so weitergehen.
Die unterschiedliche Besoldung in Ost und West
sorgt seit Jahren für Unmut in der Truppe. Die Mitglieder des Verteidigungsausschusses und Minister Struck
sind sich darin einig, dass es zu einer schnellen Angleichung kommen muss. Wir alle wissen aber, dass es kein
spezielles Besoldungsrecht für die Bundeswehr geben
wird
({0})
und die Länder und Kommunen dieser Angleichung zustimmen müssten. Diese haben bereits signalisiert, dass
es vor 2007 nicht dazu kommen wird. Deshalb appelliere
ich von dieser Stelle aus an die Länder, zu prüfen, ob
nicht bereits früher eine schrittweise Angleichung realisiert werden kann. Schließlich ist die Bundeswehr eine
Armee der Einheit und außerdem vielfach eine Armee
im Einsatz.
({1})
Die Einsätze im Ausland sind oft mit großen Gefahren verbunden. Wir haben noch die schrecklichen Geschehnisse in Kabul vor Augen. Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt, dass vor Ort notwendige Maßnahmen
ergriffen werden, um den Schutz der Soldaten zu optimieren. Die Auslandseinsätze machen aber auch deutPetra Heß
lich, dass unsere Soldatinnen und Soldaten Anspruch auf
die beste Ausrüstung haben. Nur dann sind sie den unterschiedlichen Gefahrenpotenzialen gewachsen. Dieser
Anspruch hat bei Neubeschaffungen absolute Priorität.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die Entwicklung und Beschaffung der neuen Einsatzfahrzeuge Spezialisierte
Kräfte. Hier wird deutlich, dass kontinuierlich an Verbesserungen zum Schutz der Soldaten gearbeitet wird.
Bereits im nächsten Jahr werden die ersten ESK-Fahrzeuge in die Einsatzgebiete gelangen. Ich denke, das ist
ein gutes Signal an die Truppe, aber auch an ihre Angehörigen.
Im Sommer dieses Jahres habe ich alle 23 thüringischen Bundeswehrstandorte besucht. Nicht nur im Bericht des Wehrbeauftragten, sondern in jedem dieser
Standorte wurde von den Soldaten das Versorgungsrecht im Auslandseinsatz angesprochen. Die bisherige
Unterteilung in qualifizierten und nicht qualifizierten
Dienstunfall wird als höchst unbefriedigend empfunden.
Dem kann ich mich nur nachdrücklich anschließen. Dankenswerterweise gibt es einen einstimmigen Beschluss
des Verteidigungsausschusses und eine gute Vorlage des
Ministeriums, die weit reichende Verbesserungen für die
Soldaten beinhaltet. Diese Vorlage befindet sich zurzeit
zur Ressortabstimmung und ich erwarte - das sage ich
an dieser Stelle mit allem Nachdruck -, dass die Änderungen noch in diesem Jahr verabschiedet und mit einer
angemessenen Rückwirkung in Kraft treten werden.
({2})
Das sind wir den Soldaten, ihren Familien und ihren Angehörigen, die die Einsätze mittragen, schuldig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend
möchte ich feststellen, dass ich den steigenden Zahlen an
Eingaben durchaus auch Positives abgewinnen kann.
Dies zeigt, dass Soldaten Vorkommnisse nicht auf sich
beruhen lassen oder ihre Vorgesetzten diese unter den
Teppich kehren, sondern dass sie diese unter Einbeziehung des Wehrbeauftragten ansprechen und publik machen. Damit unterstreichen sie, dass unsere Soldaten verantwortungsvolle Staatsbürger in Uniform sind.
({3})
Nur so können Fehlentwicklungen und Mängel in der
Bundeswehr rechtzeitig erkannt und Konsequenzen gezogen werden.
Abschließend möchte ich dem Wehrbeauftragten
Dr. Penner und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
für den kritischen, umfangreichen und fairen Bericht
danken. Mein Dank gilt aber auch den Soldatinnen und
Soldaten für einen Dienst, den sie in einer sehr schwierigen Phase in hervorragender Weise tun.
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, danke ich für
Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Anita Schäfer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Sehr geehrter Herr Penner, ich
danke Ihnen im Namen meiner Fraktion für Ihren Bericht. Unser Dank gilt natürlich ebenso auch Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen.
In diesem Jahresbericht 2002 haben Sie, sehr geehrter Herr Dr. Penner, auf zahlreiche Defizite in der Bundeswehr hingewiesen. Das ist eben die Natur eines
Mängelberichts. Die neue, von der Bundesregierung beschlossene Reduzierung der Truppenstärke und die damit verbundene dritte Reform der zweiten Reform der
ersten Reform werden die Anzahl der Eingaben wohl
auch in den nächsten Jahren auf einem hohen Niveau
halten.
Bedauerlicherweise wird von einer Reform in die
nächste gestolpert. Es fehlt Planungssicherheit; das
spüren die Soldaten. Die Truppe braucht mehr innere
Kontinuität, um ihre vielen und gefährlichen Aufträge zu
erfüllen. Ich wünsche mir, dass mit den jüngsten Strukturentscheidungen die Phase der Stabilisierung erreicht
wird. Die Soldaten im Einsatzland dürfen bei ihrem
wichtigen und gefährlichen Einsatz nicht durch eine ungewisse Lage in der Heimat verunsichert werden.
({0})
Der Gesamteindruck des Berichtes ist aber der einer verunsicherten Truppe, die in einem sehr schwierigen Umbruch steckt.
Sehr geehrter Herr Dr. Penner, leider vermeiden Sie
es, aus den Elementen Ihres Berichtes ein Gesamtbild zu
zeichnen. In der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung Ihres Berichtes ging Ihre Analyse weiter. Zu Recht
forderten Sie von der politischen Führung Berechenbarkeit und Führungsverantwortung. Das möchte ich nachdrücklich unterstreichen; denn genau das fordere ich
auch. Das erwarten ebenso die Menschen in der Bundeswehr. Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt
sich einer politischen Führung ausgesetzt, die ihren Teil
an der Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten
nicht ernst genug nimmt.
({1})
Viele Probleme der Soldaten entstehen an der Schnittstelle zwischen Militär- und Zivilleben, zum Beispiel in
Besoldungs- und Versorgungsfragen oder - das ist ganz
wichtig - im Familienleben der Soldaten, die sich in
Auslandseinsätzen befinden. Die Folgen der Trennung
von der Familie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. Viele Beziehungen geraten in die Krise, Ehen
scheitern. Besonders junge Partnerschaften stehen vor
großen Problemen. Die dienstlichen Belastungen haben
für viele Zeit- und Berufssoldaten ein solches Ausmaß
erreicht, dass sie vor der Frage „Dienst oder Familie?“
stehen.
({2})
Anita Schäfer ({3})
Dazu darf es niemals kommen. Das dienstliche Umfeld muss so gestaltet sein, dass Familie nicht nur möglich ist, sondern bei unseren Soldatinnen und Soldaten
auch gefördert wird. Ich fordere daher den Bundesminister der Verteidigung auf, mit allen Mitteln zu verhindern,
dass eine hohe Trennungs- und Scheidungsquote zum
Kennzeichen für das Berufsbild des Soldaten wird.
({4})
Es muss klar sein, dass nicht nur Angebote der Bundeswehr bestehen. Familienbetreuung heißt, aktiv auf die
Angehörigen zuzugehen und sich um sie zu kümmern.
Dafür trägt die politische Leitung eine hohe Verantwortung.
Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dass
die Grenzen der materiellen wie auch der ideellen Belastbarkeit der Streitkräfte erreicht sind. Die Kunde von
dieser starken Belastung im Dienst dringt nach außen.
Sie wird von der Gesellschaft wahrgenommen. Diese
hohe Belastung schreckt wohl viele junge Menschen
vom Dienst in der Bundeswehr ab. Wenn aus Kostengründen zu wenig gepanzerte Fahrzeuge im Einsatzland
sind, dann werden die eingesetzten Soldaten unnötigen
Gefahren ausgesetzt.
({5})
Der Anschlag in Kabul hat die Eingaben zu diesem Problem aus dem Jahr 2002 in schrecklicher Weise bestätigt. Das Verteidigungsministerium darf nicht zulassen,
dass die Sicherheit der Soldaten gefährdet wird, weil
Ausbildung und Materialerhaltung zu kurz kommen.
Einsätze müssen sich an den vorhandenen Ressourcen
ausrichten. Sie müssen sich aber auch an politischer
Machbarkeit orientieren.
({6})
Zahlreiche Soldatinnen und Soldaten, die auf dem
Balkan im Einsatz waren, haben erhebliche Zweifel am
langfristigen politischen Ziel bekommen. Ähnliches
zeichnet sich jetzt mit der Mission in Kunduz ab. Die politische Glaubwürdigkeit des Mandates steht und fällt
mit der Lösung der inneren Probleme Afghanistans. Ich
nenne beispielhaft die Drogenproblematik. Wie lange
sollen unsere Soldaten dem Anbau von Drogen noch zusehen? Was passiert, wenn nicht mittelfristig afghanische Polizei den Drogenanbau bekämpft?
Die Rechtssicherheit der Soldatinnen und Soldaten
ist nur ein weiteres Feld, das die Soldaten mit Sorge zu
Eingaben an den Wehrbeauftragten veranlasst. Die Bundesregierung muss ihre Hausaufgaben zur Rechtssicherheit der Soldaten machen. Es darf nicht sein, dass Soldaten ohne klare Rechtsgrundlage in den Einsatz gehen.
Ebenso ist die Anpassung des Soldatenversorgungsgesetzes kein Privileg, sondern eine zwingende Notwendigkeit. Wenn der Tod und die Verwundung im Einsatzland fast immer zum Rechtsstreit führen, dann verliert
die Truppe ganz das Vertrauen in die politische Führung.
Ich unterstreiche das noch einmal: Am Umgang mit unseren im Einsatz gefallenen und verwundeten Soldaten,
am Umgang mit ihren Angehörigen zeigt sich das wahre
Gesicht unseres Landes, das die Soldatinnen und Soldaten gerne im Sinne des Wortes als Vaterland sehen. Das
dürfen wir nicht kleinkarierten, untergeordneten Behörden überlassen. Das muss die Sorge des Parlaments sein.
Die Bundeswehr ist eine Armee im Bündnis. Während meiner Truppenbesuche bei multinationalen Verbänden mit dem Herrn Wehrbeauftragten habe ich mit
deutschen Soldaten gesprochen, die gemeinsam mit Soldaten anderer Länder ihren Dienst leisten. Der volkstümliche Spruch „andere Länder, andere Sitten“ gilt auch für
Armeen. Besonders die Rolle der einfachen Soldaten,
der Mannschaftsdienstgrade, in manchen Armeen muss
nachdenklich stimmen.
Nach vielen Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten aus multinationalen Verwendungen kann ich sagen:
Innere Führung als Markenzeichen deutscher Streitkräfte muss erhalten bleiben.
({7})
Mehr noch, es muss im Zuge einer Europäisierung unserer Streitkräfte auch eine Europäisierung der Grundsätze
der inneren Führung stattfinden. Bei der deutsch-französischen Brigade konnte ich feststellen, dass innere Führung nach mehr als zehn Jahren in der Brigade keine
unbekannte Größe mehr ist. Innere Führung, das Bekenntnis zum Staatsbürger in Uniform ist nicht Zeichen
einer schwachen Führung, ist keine Sache nur für Innendienst und Manöver. Der Soldat im Einsatz muss als
Staatsbürger seinem Land dienen, er darf nicht zum
Söldner werden.
Zu einem ernsten Kapitel im Bericht des Wehrbeauftragten ist etwas positiv zu bemerken: Die Anzahl der
Vorfälle mit einem Verdacht auf rechtsextremistischen
Hintergrund ist deutlich zurückgegangen. Ich zitiere: „In
allen berichteten Vorfällen haben die Vorgesetzten
schnell, umfassend und richtig reagiert.“ So weit die
Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zum Bericht des Wehrbeauftragten. Es gibt wohl keinen Bereich
in der Gesellschaft, in dem Rechtsradikalismus und
Rechtsextremismus so konsequent verfolgt werden wie
in der Bundeswehr.
({8})
Verglichen mit dem Anteil junger Männer in der Gesamtbevölkerung ist die Anzahl extremistischer Vorfälle
in der Bundeswehr kein Grund zur Sorge, wenn auch jeder einzelne Vorfall einer zu viel ist. Der in der Presse
erhobene Vorwurf, dass rechtsradikales und antisemitisches Denken bis in die Spitzen der Streitkräfte verbreitet sei, kann nicht stehen gelassen werden und sollte
nicht erhoben werden. Wer diesen Vorwurf unberechtigt
und pauschal erhebt, beschädigt das Ansehen der Bundeswehr. Dann kennt er die Bundeswehr nicht.
({9})
Anita Schäfer ({10})
Wenn jedoch einem Soldaten eine solche Verfehlung
vorgeworfen wird, dann müssen Vorgesetzte selbstverständlich schnell und konsequent reagieren, aber auch
korrekt und rechtlich einwandfrei.
Ich komme zum Schluss. Der 44. Bericht des Wehrbeauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Kluft zwischen politischem Anspruch, den vielen Aufträgen und
der Lage in der Truppe immer größer wird. Das gilt vor
allem für die nicht ausreichende Ausstattung mit Haushaltsmitteln, sowohl für die gefährlichen Einsätze im
Ausland als auch für den Dienst in der Heimat. Es bleibt
zu hoffen, dass die bevorstehenden Reformen endlich
eine klare und langfristige Perspektive für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr schaffen.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Marianne Tritz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Penner! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Brigadegeneral Reinhard
Günzel hat der Bundeswehr mit seinem unsäglichen Unterstützungsbrief für den CDU-Abgeordneten Hohmann
Schaden zugefügt. Die sofortige Entlassung Günzels
durch den Bundesverteidigungsminister war die einzig
mögliche, folgerichtige Konsequenz ({0})
eine Konsequenz, die wir bei Ihnen, meine Damen und
Herren von der CDU, im Umgang mit Ihrem Kollegen
Martin Hohmann leider eine unerträglich lange Zeit
schmerzlich vermissen mussten.
({1})
Der vorliegende Jahresbericht 2002 verdeutlicht die
ganz besondere Bedeutung, die der Berichterstattung des
Wehrbeauftragten als Stimmungsbarometer und Problemindikator für die Bundeswehr zukommt. In dem Bericht für das Jahr 2002 heißt es, dass 111 besondere Vorkommnisse mit Verdacht auf rechtsextremistischen oder
fremdenfeindlichen Hintergrund gemeldet wurden. Damit ist das niedrigste Meldeaufkommen seit 1997 erreicht.
Das ist ein Erfolg der vielfältigen präventiven, aber
auch repressiven Maßnahmen innerhalb der Bundeswehr. Der Fall Günzel ist in diesem Zusammenhang
auch ein erneutes klares Signal an alle innerhalb und außerhalb der Bundeswehr: Rechtsextremismus hat in unserer Gesellschaft keinen Platz. Wer dieses Signal nicht
beachtet, verliert seinen Platz in den Streitkräften.
({2})
Die Unverträglichkeit von Rechtsextremismus und
Bundeswehr begründet sich auch aus einem anderen Zusammenhang. In Zeiten der Modernisierung und Umstrukturierung der Streitkräfte bei gleichzeitiger Internationalisierung von Aufträgen und Einsätzen verändert
sich das Anforderungsprofil von Soldatinnen und Soldaten. Kommunikative und interkulturelle Kompetenz
gehören neben dem Beherrschen von Fremdsprachen
immer mehr zur grundlegenden Qualifikation der Soldatinnen und Soldaten von heute und morgen. Fremdenfeindliche Einstellungen unter Angehörigen der Bundeswehr würden somit die erfolgreiche Durchführung von
multinationalen Einsätzen unmöglich machen. Mit dem
Bericht können wir all denjenigen überzeugende Fakten
entgegenhalten, die jetzt vor dem Hintergrund des Falles
Günzel versuchen, die Bundeswehr insgesamt als einen
Hort des Rechtsextremismus zu diffamieren.
Ein für mich sehr wichtiges Ergebnis des Jahresberichtes ist, dass sich das Prinzip der inneren Führung
auch bei Auslandseinsätzen bewährt hat. Das Leitbild
der Staatsbürgerin und des Staatsbürgers in Uniform ist
Markenzeichen und Erfolgsgarant der Bundeswehr. Es
muss bei allen Veränderungen der Strukturen und Anforderungen an die Bundeswehr beibehalten werden.
Der Jahresbericht dokumentiert außerdem die erheblichen Fortschritte bei der Integration von Soldatinnen
in die Bundeswehr. Der Frauenanteil ist zwar im
Berichtszeitraum leicht gestiegen, liegt jedoch mit
3,97 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten zu niedrig.
Es bedarf weiterer Anstrengungen, den Bundeswehrdienst für Frauen attraktiver zu gestalten, auch und gerade was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht. Darüber hinaus ist es notwendig, die existierenden
Probleme zu bekämpfen, zum Beispiel die in einzelnen
Fällen auftretenden frauenfeindlichen Äußerungen und
Übergriffe weiter zu minimieren.
Die steigende Zahl der Auslandseinsätze führt zu einem Sinken der Familien- und Beziehungsverträglichkeit
des Soldatenberufs insgesamt. Die Länge der Auslandseinsätze ist ein erhebliches Hindernis bei der Nachwuchsgewinnung von Soldatinnen und Soldaten. Die bereits vorgenommene Flexibilisierung ist ein erster Schritt
zur notwendigen Überwindung des Dogmas der sechsmonatigen Stehzeit. Höchst begrüßenswert ist in diesem
Zusammenhang die Verbesserung und Aufstockung der
bestehenden 19 Familienbetreuungszentren für Angehörige von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz
sowie die Einrichtung weiterer neun solcher Zentren.
Sehr interessant ist der Vermerk des Wehrbeauftragten über Klagen wegen mangelnder Wehrgerechtigkeit
und geäußerten Zweifeln am Sinn der allgemeinen
Wehrpflicht. Wie Sie wissen, setzen sich die Grünen für
die Abschaffung der Wehrpflicht ein und werden, wie in
unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt, im Lauf dieser Legislaturperiode eine Überprüfung der Wehrverfassung durchführen.
({3})
Wir werden uns mit allen Mitteln für die Abschaffung
der Wehrpflicht einsetzen.
({4})
Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des Wehrbeauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Bundeswehr
bei allen sich erheblich verändernden Bedingungen und
ernsthaften Problemen ihre Aufgabe meistert. Die Soldatinnen und Soldaten wirken durch ihre vermehrten Eingaben als mündige Staatsbürger und Staatsbürgerinnen
in Uniform über die Institution des Wehrbeauftragten aktiv an der Gestaltung der Bundeswehr mit. Für Ihre
wichtige und hervorragende Arbeit möchte ich Ihnen,
Herr Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen meiner Fraktion herzlich danken.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Helga Daub für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Dr. Penner! Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal debattieren wir heute über den
Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002. Gerne
wiederhole ich den Dank an Dr. Penner und seine Mitarbeiter für die Erstellung dieses Berichts und vor allem
für den Hinweis, dass die Bundeswehr kein Hort des
Rechtsradikalismus ist und dass dafür in der Bundeswehr kein Platz ist.
({0})
Zu Recht werden in jeder Rede auch der Leistungswille und die Leistungsfähigkeit unserer Soldaten angesprochen. Umso wichtiger ist es, sich endlich den Problemen zu stellen, die im Bericht des Wehrbeauftragten
angesprochen werden. Wir entscheiden morgen in diesem Haus über die Verlängerung des Mandats für die
Operation Enduring Freedom. Damit sind wir bei einem
Schwerpunktthema der Eingaben an den Wehrbeauftragten. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird
der Handlungsbedarf besonders deutlich. Die Einsatzdauer ist mit sechs Monaten zu lang. Der dreiwöchige
Urlaub ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und löst
letztlich nicht das Problem.
({1})
Die Abstände zwischen den Einsätzen sind viel zu kurz.
Der zugesagte Mindestabstand von zwei Jahren kann
nicht eingehalten werden, auf gar keinen Fall bei den
Spezialisten.
Die Soldaten klagen des Weiteren über die mangelnde
Planungssicherheit, die ein hohes Konfliktpotenzial auch
für das familiäre Umfeld mit sich bringt. Natürlich weiß
der Zeit- und der Berufssoldat, dass er mobil und flexibel sein muss. Dass das jedoch nicht überstrapaziert werden sollte, zeigt zum Beispiel Folgendes: Wegen der
Dauer und der zunehmenden Häufigkeit der Auslandseinsätze wird nach Ablauf der Verpflichtungszeit von einer Weiterverpflichtung Abstand genommen, die Dienstzeit verkürzt oder auf eine Übernahme als Berufssoldat
verzichtet. Das ist ein alarmierendes Signal für die
Attraktivität der Bundeswehr. Das können wir uns
überhaupt nicht leisten, egal ob man für eine Berufsarmee plädiert - ich danke Ihnen, Frau Tritz; hätten Sie
doch unserem Antrag zugestimmt ({2})
oder ob man eine Wehrpflichtarmee will.
Damit komme ich zu den Petenten, die zu Recht die
Wehrungerechtigkeit beklagen. Wenn behauptet wird,
dass 96 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs
erfasst würden - diese Zahl steht im Bericht des Wehrbeauftragten; in der Fernsehversion war sogar von
98 Prozent die Rede -, dass also die Wehrgerechtigkeit
im Vergleich zur Vergangenheit zugenommen habe,
dann muss man die Fakten klarstellen.
Lassen Sie mich das an folgendem Beispiel erläutern:
Wenn sich eine Polizeibehörde entschließt, säumige
Zahler von Bußgeldern bis zu 15 Euro nicht mehr zu
mahnen, so wird sie anschließend mit Fug und Recht behaupten können, dass die Zahlungsmoral enorm gestiegen sei - und das mit einem bürokratischen Federstrich
und ohne einen Euro mehr in der Kasse!
({3})
Wenn man die Tauglichkeitskriterien für die Wehrpflichtigen immer weiter heraufsetzt, dann bekommt
man zwar nicht mehr Wehrpflichtige, aber die beeindruckende Zahl von 96 Prozent.
({4})
- Ich habe noch ein anderes Beispiel, Herr Dr. Struck.
Wenn ich das aber nennen würde, wäre meine Redezeit
überschritten.
({5})
Als im April dieses Jahres das erste Mal über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002 debattiert
wurde, habe ich - wie meine Kollegen aus der FDPFraktion schon oft zuvor - über den Missstand bei der
Versorgung gesprochen. Zum Beispiel haben alle Fraktionen im Januar dieses Jahres in einer Sitzung des
Verteidigungsausschusses angemahnt, die zynische Unterscheidung zwischen qualifizierten und nicht qualifizierten Unfällen abzuschaffen. Das Jahr ist nun fast um
und dankenswerterweise gibt es inzwischen zumindest
eine großzügige Handhabung zugunsten der Betroffenen. Aber eine gesetzliche Regelung, die letztlich das
Einzige ist, was den Soldaten eine wirkliche Sicherheit
bietet, steht noch aus. Es kann doch nicht sein, dass zwar
immer mehr Einsatz im wahrsten Sinne des Wortes gefordert wird, aber in einer so wichtigen Frage keine Einigung in der Regierung erzielt werden kann. Ich fordere
Sie auf, dieses Thema weiter hartnäckig zu verfolgen
und zu einem guten Abschluss zu bringen.
({6})
Natürlich kann ich aufgrund der kurzen Redezeit
nicht auf alles eingehen, was an den Wehrbeauftragten
herangetragen wurde.
({7})
Es gibt ja auch qualitative Unterschiede zwischen den
Eingaben. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Soldat
durchaus ohne ein Piercing leben kann. Aber zurück
zum nötigen Ernst: Lassen Sie uns zumindest die dringendsten Probleme lösen, die sich aus den neuen Anforderungen an die Bundeswehr ergeben. Wenn es um das
Wohl der Soldaten und Soldatinnen geht, haben Sie uns
auf Ihrer Seite.
({8})
Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Kolbow das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sprecherinnen der Fraktionen haben Ihnen, sehr geehrter
Herr Dr. Penner, dem Wehrbeauftragten, sowie Ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Recht gedankt. Ich
darf mich diesem Dank, auch im Namen des anwesenden Bundesministers der Verteidigung, anschließen. Wir
danken Ihnen auch für die Art und Weise, wie Sie in diesem Bericht die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten im In- und Ausland herausstellen und würdigen.
Unverzichtbar ist auch, Ihnen dafür zu danken, wie Sie
die Mängel, die es in dieser großen Institution immer
wieder gibt, ansprechen und wie Sie uns nachdrücklich
zum Beseitigen derselben anhalten.
Mein besonderer Dank gilt denjenigen, die im vergangenen Jahr durch ihr Wirken und durch ihre Leistungen
zum positiven Erscheinungsbild der Bundeswehr nach
innen wie nach außen beigetragen haben. Besonders
bitte ich Sie, mit mir derer zu gedenken, die im Auftrag
des Bundestages und damit im Dienst für unser Land ihr
Leben verloren haben. Ihnen, ihren Angehörigen und all
denen, die im Einsatz zu Schaden gekommen sind, gilt
unser aufrichtiges Mitgefühl und unsere besondere Anteilnahme. Was Sie, Frau Kollegin Schäfer, in diesem
Zusammenhang ausgeführt haben, möchte ich ausdrücklich unterstreichen.
Das Bundesministerium der Verteidigung ist wie in
den Vorjahren bemüht, die wertvollen Anregungen und
Hinweise des Wehrbeauftragten aufzugreifen und im
Rahmen der Möglichkeiten unverzüglich umzusetzen.
Wir arbeiten mit aller Kraft an der Beseitigung der aufgezeigten Mängel. Dies gilt besonders für die im Bericht
genannten Bereiche Attraktivitätsprogramm, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Dauer der Auslandseinsätze
und Ausbau der Familienbetreuung. Dies gilt ebenso für
die Bereiche Material- und Ersatzteillage, Gestaltung
des Auslandsverwendungszuschlags und für die zweifellos notwendigen Verbesserungen im Versorgungsrecht,
gerade mit Blick auf die notwendige soziale Absicherung bei Einsatzunfällen.
An der auch vom Wehrbeauftragten so eindringlich
angemahnten Novellierung des Versorgungsrechts arbeiten wir mit Nachdruck. Wir wollen sie unverzüglich
zum Abschluss bringen. Wir danken für die Willensbekundungen aus den Reihen der Fraktionen. Wir werden
die Willensbekundungen in die interministeriellen Abstimmungen mitnehmen. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen: Es wird das Institut des Einsatzunfalles
geben. Es wird auch beim Status - Zeitsoldaten, Berufssoldaten oder freiwillig Wehrdienstleistende - keinen
Unterschied mehr geben; wir werden gleich entschädigen.
({0})
Wie auch dieser Bericht des Wehrbeauftragten deutlich herausstellt, ist es eindeutig der Fall, dass der
Transformationsprozess der Bundeswehr die zivilen
wie die militärischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
vor große Herausforderungen stellt. Zugleich weist der
Bericht des Wehrbeauftragten aber auch unmissverständlich darauf hin, dass es zu diesem Prozess in der
Bundeswehr keine ernsthafte Alternative gibt. In diesem
Zusammenhang muss ehrlich gesagt werden, dass den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Uniform und ohne
Uniform auch weiterhin Flexibilität abverlangt wird.
Im Hinblick auf das unumgängliche Gebot der Wirtschaftlichkeit und der militärischen Effizienz werden
auch zusätzliche Standorte zur Disposition stehen. Wir
haben keine andere Wahl und wir werden noch eine geraume Zeit Anpassungsprozessen, zu denen es keine Alternative gibt, ins Auge zu sehen haben. Frau Kollegin
Schäfer, wir stolpern dabei in der Tat nicht in etwas hinein, sondern wir bereiten konzeptionell vor, setzen
kommunikativ um und zählen dabei auch auf die Professionalität unserer Soldatinnen und Soldaten sowie unserer zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
({1})
Auf deren Professionalität können wir uns verlassen.
Wir wissen auch, dass die Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Anspruch haben, sich auf uns, auf den Minister sowie seine
sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr, verlassen zu können.
({2})
Bei der Bundeswehrreform stand von Beginn an der
Mensch im Mittelpunkt. Wir haben sozialverträglich
umgestaltet. Wir haben versucht, Mängel, die dabei aufgetreten sind - das kommt immer wieder vor -, rechtzeitig und nachhaltig zu beseitigen.
Das spiegelt sich auch in der jüngsten Weiterentwicklung des Attraktivitätsprogramms wider. Das Attraktivitätsprogramm konnte im letzten Jahr erfolgreich umgesetzt und auch weiterentwikkelt werden:
Trotz des plafondierten Haushalts in den Jahren 2002
bis 2004 werden wir mehr als 46 500 Planstellenverbesserungen erreichen, aus denen mehr als 64 000 Beförderungen und Besoldungsverbesserungen folgen. Der Beförderungsstau konnte damit abgebaut werden. Zu den
umgesetzten Maßnahmen gehören unter anderem die
Anhebung der Eingangsbesoldung für Mannschaften sowie die Besoldung der Kompaniechefs und Offiziere in
vergleichbarer Dienststellung nach der Besoldungsgruppe A 12. Die seit April 2002 neu gestaltete Laufbahn der Unteroffiziere führte zu einer Reduzierung der
Mindestzeiten für eine Beförderung sowie zu einer Bündelung von Dienstposten. Über diejenigen, die nun nicht
befördert werden konnten, die also weiter anstehen müssen, haben wir am Mittwoch im Verteidigungsausschuss
gesprochen. Frau Kollegin Heß hat schon erwähnt, dass
wir weitere Planstellen zur Verfügung stellen und so in
schwieriger Zeit zu Erleichterungen kommen werden.
Auch bei der Schaffung eines Soldatengleichstellungsgesetzes sowie bei der Ausgestaltung von Teilzeitdienst sind wir vorangekommen und schaffen damit zusätzliche Attraktivität.
Der Wehrbeauftragte hat in seiner heutigen Rede die
Kürzung des Weihnachtsgeldes erwähnt. Das war aus
seiner Sicht selbstverständlich. Aus der Sicht von uns,
die wir damit umzugehen haben, ist die Kürzung unumgänglich. Ich darf aber darauf hinweisen, dass die geplante Kürzung für die unteren Besoldungsgruppen in
enger Abstimmung mit dem Deutschen BundeswehrVerband und mit den Fraktionen im Verteidigungsausschuss sozial abgefedert wird. Das bedeutet für Empfänger mit Grundgehalt nach den Besoldungsgruppen A 2
bis A 8 eine Erhöhung der gekürzten Sonderzahlung um
einen Festbetrag von 100 Euro. Von dieser Regelung
profitieren in der Bundeswehr mehr als 150 000 zivile
und militärische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
({3})
Herr Staatssekretär, denken Sie bitte an die Zeit.
Lassen Sie mich zum Schluss in Kürze zusammenfassend noch etwas zu den aktuellen Dingen sagen. Wie der
Wehrbeauftragte formuliert hat - wer könnte es besser
sagen als er? -, ist die Bundeswehr - das kann ich auch
aus meiner Erfahrung nachdrücklich unterstreichen eine Armee in der Demokratie und für die Demokratie.
Sie ist eine Armee der Toleranz. Sie schützt die Rechte
Andersdenkender. Mit diesem Beispiel ist sie in unserem
Geist im Ausland und im Innern tätig. Dafür danken wir.
So wollen wir weiterarbeiten.
({0})
Ich erteile der Abgeordneten Petra Pau das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute den Bericht des Wehrbeauftragten. Wir
debattieren heute nicht über die Militärstrategie der Bundesrepublik und nicht über die Versuche der Bundesregierung, in diesem Zusammenhang geltendes Recht zu
unterlaufen. Ich stelle das trotzdem voran; denn nach
geltendem Recht ist der Einsatz von deutschen Krisenunterstützungskräften im Irak rechtswidrig.
({0})
Es ist sittenwidrig, wenn ein General der Bundeswehr
bei antisemitischen Ausfällen von Amts wegen salutiert.
Damit bin ich bei einem zentralen Punkt. Bundesverteidigungsminister Struck hat den KSK-Chef Günzel
suspendiert, nachdem dessen rechtsextremistisches Gedankengut Schlagzeilen gemacht hatte.
({1})
Herr Verteidigungsminister, Sie haben prompt gehandelt, allemal schneller als die CDU/CSU im Fall
Hohmann. Das respektiere ich.
Mich irritiert in diesem Zusammenhang etwas anderes. Sie haben Ex-General Günzel beschrieben als einen
untypischen Einzelgänger, der den Irrsinn eines Irren
wirr kommentiert habe. Mit dieser Begründung haben
Sie sich zwischen Günzel und das eigentliche Problem
gestellt. Ich habe Sie für weitsichtiger gehalten.
Wenn Ihre These zutrifft, wonach die Bundeswehr ein
Spiegelbild der Gesellschaft ist, dann haben wir es auch
mit der Tatsache zu tun, dass in eben dieser Gesellschaft
20 Prozent der Menschen für rechtsextremistisches und
antisemitisches Gedankengut anfällig sind. Das ist der
gesellschaftliche Befund. Deshalb meine ich: Wenn
Günzel hier zum Einzeltäter erklärt wird, dann verdrängen wir. Genau das sollte weder Rot-Grün noch der Bundestag insgesamt tun.
({2})
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Noch immer tragen Kasernen die Namen von Wehrmachtsgenerälen.
Der Wehrbeauftragte hat von der Anziehungskraft gesprochen, die teilweise Waffen, Rituale und andere
Dinge auf junge, rechtsextremem Gedankengut nahe stehende Soldaten ausüben. Noch immer pflegen Einheiten
der Bundeswehr enge Kontakte zu Traditionsvereinen
der Wehrmacht. Genau dieses Erbe holt Rot-Grün nun
auch mit der CDU-Affäre Hohmann ein.
({3})
Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wollten dieses Erbe nie annehmen, aber Sie haben es auch
nach 1998, also seitdem Sie Verantwortung tragen, nicht
ausgeschlagen; so haben Sie zum Beispiel keine Namen
von Kasernen geändert.
({4})
Deshalb finde ich: Das schlichte Gebot im Bericht des
Bundeswehrbeauftragten - Rechtsextremismus darf nirgendwo eine Heimstatt finden - muss allgemeiner Auftrag bleiben.
({5})
Da sollten wir auch bei diesen symbolischen Dingen beginnen.
Schließlich will ich aus dem Bericht des Wehrbeauftragten kurz ein drittes Problem aufgreifen, welches hier
heute schon eine Rolle spielte, nämlich die Tatsache,
dass Ostdeutsche im Jahr 13 der Einheit noch immer
benachteiligt werden, auch in der Bundeswehr, selbst im
Kriegseinsatz. Das beginnt beim abgesenkten Sold und
endet längst nicht bei niedrigeren Renten. Sie wissen,
dass die PDS kein Freund von Militäreinsätzen ist und in
dem Fall auch nicht die Existenz der Bundeswehr verteidigt. Hierbei geht es aber um soziales Unrecht; dagegen
sind wir. Bei der Beseitigung dieses Unrechts findet der
Wehrbeauftragte auch bei uns Verbündete.
({6})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch unser Dank gilt zunächst dem Wehrbeauftragten. Herr
Dr. Penner, Sie leisten eine verdienstvolle Arbeit im
Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten. Bei der Diskussion Ihres Berichtes stellt sich ja auch die Frage nach
dem Stellenwert der Bundeswehr in unserer Gesellschaft. Wir schauen da nicht nur in Richtung der
Generäle - ich sehe gar keinen -,
({0})
sondern insbesondere in Richtung der Mannschaftsdienstgrade und der Unteroffiziere, also derjenigen, die
vor Ort ganz massiv gefordert und gefragt sind.
Meine Damen und Herren, wenn ich sage, dass es
auch um den Stellenwert der Bundeswehr in unserer Gesellschaft geht, dann lassen Sie mich auch festhalten: Sicherheit ist die wichtigste Leistung, die die Bürgerinnen
und Bürger von ihrem Staat verlangen. Wir alle wissen,
dass sich die Bedrohungslage seit dem 11. September
2001 dramatisch verändert hat. Deshalb müsste natürlich
auch dieser Bericht Anlass dazu sein, eine Debatte in unserer Gesellschaft über den Stellenwert unserer Soldatinnen und Soldaten, über den Stellenwert der Bundeswehr
und über die Leistungen, die sie für diese Gesellschaft
erbringen, anzustoßen.
({1})
Sie müssten auch einmal dringend eine Antwort darauf geben, welche Rolle unser Land in einer neuen
Weltarchitektur überhaupt noch spielt. Hier vermissen
wir jede nachvollziehbare Definition der Rolle unseres
Landes in einem sich wandelnden Bündnis und in einer
nach Finalität suchenden EU. Die Zukunft liegt nicht in
der neuen Achse zwischen Paris, Berlin und Moskau, die
Sie begründen wollen. Die Zukunft liegt auch nicht in
neuen Kommandostrukturen, die außerhalb der NATO
installiert oder gar gegen die NATO gerichtet werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nein, die Zukunft kann nur in einer neuen Dimension der Zusammenarbeit innerhalb der NATO liegen, in der wir selbstbewusster Freund und Partner der USA sind.
({2})
Der Auftrag und die Zielsetzung des Dienstes in der
Bundeswehr müssen klar sein. Ich rufe Sie angesichts
dieser Ausgangslage dazu auf: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass die Soldatinnen und Soldaten auch den entsprechenden Stellenwert und die Anerkennung in unserer Gesellschaft bekommen. Wir alle müssen definieren,
wie viel uns unsere Sicherheit wert ist. Ich meine, die
Bundesregierung tut zu wenig für den Erhalt einer funktions- und einsatzfähigen Bundeswehr. Die derzeitige
Politik gegenüber der Bundeswehr wird der Sicherheitslage nicht gerecht.
({3})
Auf der einen Seite gibt es eine Rückführung des Verteidigungshaushalts, eine personelle und materielle Auszehrung der Truppe, und auf der anderen Seite befiehlt
Rot-Grün eine noch nie dagewesene Zahl von Auslandseinsätzen. Das passt nicht zusammen.
({4})
Kollegin Schäfer hat sehr deutlich darauf
hingewiesen - auch Dr. Penner hat dies angedeutet; ich
hätte in diesem Jahresbericht ein bisschen mehr Mut
erwartet -, was diese neuen Belastungsproben für die
Bundeswehr und die Familien der Soldaten bedeuten;
die Truppe und ihre Familien seien an die Belastungsgrenze gestoßen. Ich meine, dass wir inzwischen weit
darüber hinausgegangen sind.
Es gibt einen Eingabenzuwachs von 31 Prozent, insbesondere bei Soldaten im Auslandseinsatz. Der Auslandseinsatz wird zwischenzeitlich zum Normalfall. Der
Mindestabstand von zwei Jahren zwischen zwei Auslandseinsätzen wird häufig nicht mehr eingehalten.
Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Steh- und
Abwesenheitszeiten von 180 Tagen haben sich zwischenzeitlich auf 250 Tage verlängert. Die Soldatinnen
und Soldaten riskieren für 92 Euro pro Tag ihr Leben für
unsere Sicherheit. Auslandsverwendungszuschläge dürfen deshalb nicht weiter abgesenkt werden. Das Versorgungsrecht und die Versorgungsleistungen für Soldaten
und deren Familien in Auslandseinsätzen müssen - Frau
Schäfer hat dies dargestellt - dringend verbessert werden.
Es stimmt nachdenklich und es ist beschämend, dass,
wenn es zu Unfällen kommt, quälende Diskussionen
über die Versorgungsleistung für die Familien, die Angehörigen, stattfinden müssen. Das ist ein Indiz dafür, dass
wir nicht eindeutig hinter unseren Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz stehen. Wenn wir sie in gefährliche Auslandseinsätze befehlen, was Sie immer
mehr wollen, müssen auch die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden.
Wir sehen deshalb mit großer Sorge - Herr
Dr. Penner, Sie haben das aufgelistet -, dass nach Ablauf
der Verpflichtungszeiten kaum noch Weiterverpflichtungen erfolgen. Das Bewerberaufkommen für die Offizierslaufbahn ist erneut rückläufig. Es geht so weit, dass
wegen Facharztmangels - ich nehme einmal den Sanitätsdienst als Beispiel - Operationssäle geschlossen werden. Noch ganze 127 Verpflichtungen von Sanitätsärzten
gab es im vergangenen Jahr. Die innere Lage der Bundeswehr ist besorgniserregend.
Dennoch werden weitere Belastungen beschlossen,
als wäre dies alles nicht vorhanden. Der Bundesverteidigungsminister hat Standortschließungen in großem Umfang angekündigt. Das ist mit einer massiven Verunsicherung der Truppe verbunden. Es werden weitere
Reduzierungen des Personals durchgesetzt. Der neue
Einsatz in Kunduz, die Verlängerung von Enduring Freedom sowie die Bereitstellung und der Aufbau der
NATO-Response-Force sind neue Belastungen. Sie sagen nicht, wie die Soldatinnen und Soldaten dies bewältigen sollen.
({5})
Wenn Sie ein besonders hartes und exorbitantes Beispiel dafür genannt bekommen haben wollen, wie Sie
mit der Bundeswehr umgehen, dann muss ich auf das
Thema der Strahlenopfer zu sprechen kommen. Es hat
mich sehr nachdenklich gestimmt, dass nach 30 Jahren
Kampf der Betroffenen - die meisten sind zwischenzeitlich gestorben; eines der Strahlenopfer war bei mir im
Büro - nun das Bundesverteidigungsministerium entschieden hat, dass von 1 000 Geschädigten tatsächlich
150 mit einem Rentenversorgungsanspruch in Höhe von
etwa 150 Euro anerkannt werden.
Frau Kollegin von den Grünen, ein Wort zur Wehrpflicht: Sie waren und sind für die Abschaffung der
Wehrpflicht. Vor zehn Jahren waren Sie für die Abschaffung der Bundeswehr, für den Austritt aus der NATO
und Sie sind es natürlich nach wie vor. Sie treiben dies
innerhalb der Koalition voran. Durch die Hintertür, auf
sanfte Weise, erfolgt der Ausstieg aus der Wehrpflicht,
({6})
wenn Sie ankündigen, dass zukünftig nur noch
50 000 Wehrpflichtige eingezogen werden sollen. Wie
wollen Sie angesichts einer solchen Zahl noch Wehrgerechtigkeit verwirklichen? Dies sind der Weg und das
Gebot in Richtung Auswahlwehrdienst.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kolbow?
Gern.
Herr Kollege Müller, sind Sie bereit zur Kenntnis zu
nehmen, dass der Verteidigungsausschuss und das Bundesministerium der Verteidigung in enger Abstimmung
mit dem Bund der Radargeschädigten die Entschädigung
der Radaropfer vorangetrieben haben und dass bereits
etwa 150 Fälle anerkannt wurden? Sind Sie ferner bereit,
die Ergebnisse, die die Radarkommission erzielt hat, anzuerkennen? Man kann also sagen, dass es keinerlei
fahrlässigen oder vorsätzlichen Ausschluss von Anerkennungen gibt.
Ich nehme dies zur Kenntnis und stelle fest, dass Sie
meinen Ausführungen nicht gefolgt sind. Ich habe eben
die großartige Leistung des Bundesverteidigungsministeriums festgestellt - diese haben Sie gerade nochmals
bestätigt -, dass es Ihnen nach 30 Jahren gelungen ist,
nur 150 von noch 1 000 lebenden Radargeschädigten
- es sterben jährlich mehr Betroffene, als bisher als Opfer anerkannt wurden - eine angemessene Versorgung
zuzusprechen. Über die Höhe will ich überhaupt nicht
reden. Diese Situation macht deutlich, dass Sie eine Lösung des Problems nicht mit dem notwendigen Nachdruck vorantreiben.
({0})
Ich glaube, damit ist der Sachverhalt geklärt.
Ich möchte weiter Stellung zu dem Thema Wehrpflicht beziehen. Sie praktizieren den sanften Ausstieg
aus der Wehrpflicht. Sie verletzten damit ganz eklatant
das Gebot der Wehrgerechtigkeit. Wenn ich die Situation
von heute fünf oder zehn Jahre in die Zukunft projiziere,
dann muss ich sagen, dass Sie den Weg in Richtung
Berufsarmee konsequent beschreiten. Diesen von Ihnen
eingeschlagenen Weg wollen wir nicht gehen, weil wir
ihn für falsch halten. Er würde den Charakter der Bundeswehr und ihrer breiten Verankerung in der Gesellschaft nachhaltig und grundlegend verändern. Den von
Ihnen beschrittenen Weg halten wir für falsch.
({1})
Im vergangenen Jahr stellten 189 000 Wehrpflichtige
einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Dies ist ein
Höchststand. Dafür gibt es Gründe; einige habe ich
schon genannt.
Mit dem Ausstieg aus der Wehrpflicht und damit aus
dem Ersatzdienst gehen Sie einen falschen, einen verhängnisvollen Weg. Die Bundeswehr hat große Aufgaben zu bewältigen. Der Druck auf die Soldatinnen und
Soldaten - sowohl physisch als auch psychisch - wird
immer größer. Die Politik muss darauf reagieren, nicht
nur durch eine bessere Ausstattung und ausreichende
Finanzen. Sie muss mit mehr Anerkennung und Achtung
für unsere Soldatinnen und Soldaten reagieren.
Vielen Dank.
({2})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die
Kollegin Hedi Wegener, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Penner, ich will Ihnen
und Ihren Mitarbeitern ausdrücklich für diesen ausführlichen Bericht und für die klaren Worte, die Sie hier gefunden haben, danken.
Es werden konkrete Mängel in der Bundeswehr und
konkrete Beschwerden der Soldaten aufgeführt. Das
zeigt, dass es in Ihrem Hause viele Gespräche gegeben
hat. Viele Eingaben wurden mit Akribie und Beharrlichkeit bearbeitet und recherchiert. Ich kann das gut sagen,
weil es auch in meinem Wahlkreis immer wieder Anfragen gibt und ich die Betroffenen sehr ermutige, sich an
den Wehrbeauftragten zu wenden.
Es ist - dies haben schon meine Vorredner gesagt ein Mängelbericht und kein Gästebuch, in dem positive
Erlebnisse eingetragen werden. Ich teile die Ansicht der
Opposition, die sie im Ausschuss und auch hier geäußert
hat, überhaupt nicht, dass die Zahl der Mängel zugenommen hat. Für mich ist die gestiegene Anzahl der Einsprüche ein Zeichen dafür, dass es sich herumgesprochen
hat, wie intensiv sich der Wehrbeauftragte um die Anliegen der Soldaten kümmert, und dass es sich lohnt, sich
an diese Institution zu wenden. Diese Anfragen sind ein
Vertrauensbeweis.
({0})
Den größten Zuwachs gab es bei den Eingaben im
Zusammenhang mit Auslandseinsätzen, eine Steigerung von gut 100 Prozent. Die Zahl der Eingaben ist von
564 im Jahre 2001 auf 1 149 im Jahre 2002 gestiegen.
Das ist mehr als verständlich, weil doch immerhin fast
14 000 Soldaten im Einsatz waren.
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben in diesen
Jahren Herausragendes geleistet und tun es auch heute
noch. Ihnen und ihren Familien an dieser Stelle herzlichen Dank! Unsere Trauer gilt denen, die nicht nach
Hause gekommen sind. Ihnen und ihren Hinterbliebenen
an dieser Stelle noch einmal unser Mitgefühl!
Im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen gehe
ich auf einige Aspekte ein, weil sich zahlreiche Eingaben eben auf diese Einsätze bezogen. Eine Einsatzdauer von sechs Monaten ist einfach eine zu lange psychische Belastung für die Soldatinnen und Soldaten.
({1})
- Darauf komme ich noch, Herr Nolting. - Die Soldaten
leben zum Teil in sehr beengten Verhältnissen. Nach
sechs Monaten auf einer Fregatte - wir haben uns kürzlich davon überzeugen können - kennt man fast jede
Schraube. Die Soldaten sagen uns, nach einem halben
Jahr in Kabul bei Staub und Hitze seien sie auf Du und
Du mit dem Fitnessgerät. Auch davon konnten wir uns
in Kabul überzeugen. Noch am Tag des Abflugs nach
Kabul hatten wir hier im Reichstag ein langes Gespräch
mit vielen Frauen, Freundinnen und Eltern, die uns hautnah von ihren Problemen als Daheimgebliebene berichtet haben.
Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr
hat eine Untersuchung zu Auslandseinsätzen durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass für die Soldaten und
ihre Familien das Hauptproblem bei der Trennung nicht
die Einsatzdauer ist. Viele plädieren zwar für eine Verkürzung der Einsätze, aber ein Großteil der Soldaten und
der Familien leidet schon unter der Trennung als solcher,
ungeachtet der Dauer. Dazu sage ich Ihnen: Dass die
Soldaten unter der Trennung leiden, meine Herren,
spricht eigentlich eher für sie. Denn wer Familie und Beziehung nicht schätzt, bringt auch weniger Verständnis
für die Leiden der Bevölkerung der Länder auf, in denen
er Dienst tut. Daher würde ich mir viel mehr Sorgen machen, wenn unsere Soldaten in der Bundeswehr unter der
Trennung von ihren Familienangehörigen nicht litten.
In der schon erwähnten Studie wurde ermittelt, dass
15 Prozent der Beziehungen, überwiegend ohne Trauschein, nach dem Einsatz auseinander gehen und 3 Prozent der Ehen einen dauerhaften Knacks haben. Der Minister der Verteidigung hat bereits Maßnahmen zur
Flexibilisierung der individuellen Stehzeiten angeordnet,
Herr Müller.
({2})
Das Verfahren ist schon seit Juni in der Erprobung. Die
Soldaten können angeben, ob sie einen Einsatz splitten
wollen, und dann wird geprüft, ob ein Splittingpartner
zur Verfügung steht. Auch wenn das Verfahren erst in
der Erprobungsphase ist, ermutige ich Sie ausdrücklich,
Herr Minister, da weiterzumachen. Herr Müller, wenn
Sie immer von A bis Z im Ausschuss wären, wüssten Sie
das auch.
({3})
({4})
Darüber haben wir einige Male diskutiert, das Ministerium und der Minister haben berichtet. Es ist klar.
({5})
Frau Schäfer, Sie haben gesagt, das Ministerium
würde verantwortungslos mit dieser Frage umgehen. Ich
kann Ihnen versichern: Es geht schon verantwortungsbewusst damit um.
({6})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Von Herrn Nolting, ja.
Frau Kollegin, wenn es so ist, wie Sie es beschreiben,
und es ist ja so
({0})
- Moment, hören Sie erst einmal zu, Frau Merten -, warum brauchen wir dann eine Erprobungsphase? Wir haben Unterlagen des SOWI. Wir haben eine Anhörung im
Verteidigungsausschuss durchgeführt. Wir alle, die wir
Truppenbesuche machen, erfahren von den Soldatinnen
und Soldaten, dass die Einsatzzeiten zu lang und die Einsatzintervalle zu kurz sind, warum brauchen wir dann
noch eine Erprobungsphase?
Herr Nolting, erst einmal vorweg: Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr, das Sie angesprochen haben, hat sich in seiner Untersuchung ausdrücklich auf KFOR-Soldaten bezogen.
Es wird Regelungen geben, die eine Flexibilisierung
manifestieren bzw. möglich machen. Die Erprobung ist
Bestandteil dessen, was im Moment praktiziert wird.
({0})
Ob das nun Erprobung, Einführung oder wie auch immer
heißt: Es wird praktiziert.
({1})
Die Betreuung der und die Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind die eine Seite; die Familien zu Hause sind die andere. Neben den Sorgen der
Familien um ihre Angehörigen besteht das Problem der
praktischen Alltagsbewältigung. Aus diesem Grunde
begrüße ich es, dass im letzten Jahr zehn Betreuungszentren hinzugekommen sind. Allerdings besteht das Problem, dass in diesen Betreuungszentren nur vier hauptamtliche Frauen arbeiten. Wenn ich mir die Redebeiträge
heute vor Augen führe, ist es offensichtlich so, dass sich
die Frauen im Verteidigungsausschuss dieser Themen
besonders annehmen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn
es in den Betreuungszentren mehr Frauen gäbe. Denn sie
haben einen anderen Zugang zu den Problemen, die die
Familien vor Ort haben.
({2})
Eine ganz besondere Verantwortung tragen im Auslandseinsatz die Vorgesetzten. Ihr Führungsverhalten,
ihre soziale Kompetenz und ihr Verhältnis zu den Untergebenen sind besonders wichtig. Für umso dringlicher
halte ich es, dass sie bei diesen Fragen nicht allein gelassen werden und dass sie konstruktive Kritik und Beratung erfahren. Auf den besonderen Aspekt der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, die sich die
Frage stellen
Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!
- „Was passiert, dann?“ .
({0})
wurde schon eingegangen
Frau Pau, ich muss Ihnen sagen: Sie sind auf dem völlig falschen Dampfer.
({1})
Sie haben gesagt, Rechtsradikale hätten nirgendwo eine
Heimstatt. Sie haben Recht: Sie haben auch in der Bundeswehr keine Heimstatt.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu der Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2002 des
Wehrbeauftragten, Drucksachen 15/500 und 15/1837.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Stromrechnungen transparent gestalten
- Drucksache 15/761 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sobald Sie sich niedergelassen haben, möchte ich Ihnen kurz den Inhalt des
Antrags der FDP-Fraktion zum Thema „Transparenz
und Information bei Strompreisen“ erläutern. Wir wollen
Verbraucher in die Lage versetzen, ihr Recht auf Wahlfreiheit wahrzunehmen. Dieses Recht ist derzeit nur
schwer umzusetzen, weil es für den Normalverbraucher
sehr schwierig ist, zu unterscheiden, wer an welcher
Stellschraube an den Preisen dreht. Das ist in erster Linie
die Politik, wie ich Ihnen gleich erläutern werde.
Wir haben es aufgrund des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, der Kraft-Wärme-Kopplung, der KWK, und der
so genannten Einspeisungsvergütungen - ich meine die
Vergütungen, die die Netzbetreiber aufgrund der bestehenden Gesetze zu zahlen haben - mit enormen Überwälzungen von Kosten auf die Verbraucherpreise zu
tun. Zusammen mit der Ökosteuer sind die Strompreise
auf diese Weise schon heute zu 40 Prozent belastet und
die Gaspreise zu rund 30 Prozent politisch verursacht.
Aber über diese Tatsache weiß der Verbraucher nichts
oder nur sehr wenig.
Er weiß auch gar nichts darüber, dass im kommenden
Jahr im Rahmen der Novellierung des EEG
1,6 Milliarden Euro für die Förderung der Biomasse sowie die erst heute diskutierte Ausweitung der Subventionen für die Solarenergie hinzukommen - eine enorme
Kostenbelastung.
Wenn Sie heute Morgen die Debatten zu den Themen
„erneuerbare Energien“ und „Allokationsplan“ verfolgt
haben, haben Sie sicher auch mitbekommen, dass die
Einführung der Härtefallregelung eine weitere Problematik verursacht hat. Diese Regelung entlastet nur einen
Teil der Industrie. Der Verbraucher trägt wiederum die
Hauptlast.
Durch die Liberalisierung des Energiemarktes, die
1998 CDU/CSU und FDP initiiert haben, ergab sich eine
Kostenentlastung von 7,5 Milliarden Euro. Diese Kostenentlastung für die Verbraucher ist inzwischen völlig
weg. Die Strompreise liegen im Augenblick in etwa wieder auf gleicher Höhe wie vor der Liberalisierung. Das
ist alles andere als verbraucherfreundlich.
({0})
Nun hört man immer wieder, bei den EEG- und
KWK-Kosten handele es sich nicht um staatliche Subventionen. Das ist eine Mogelpackung. Es wird verschwiegen, dass die Stromverbraucher die Rechnung bekommen und den Aufpreis bezahlen. Hier herrscht
einfach eine sehr große Intransparenz. Allen denjenigen,
die immer für Verbraucherinformationen und Verbraucheraufklärung plädieren, sollte es eigentlich sehr leicht
fallen, dem Antrag der FDP-Fraktion zuzustimmen.
({1})
Wir fordern nämlich ganz einfach, dass auf Stromrechnungen künftig genau die Anteile der Mehrwertsteuer, der Ökosteuer, der Mehrkosten aufgrund des soeben genannten Erneuerbare-Energien-Gesetzes und der
Kraft-Wärme-Kopplung - KWK - sowie der Netznutzungsentgelte ausgewiesen werden. Wenn wir das
schafften - da müsste eigentlich das ganze Haus sehr einig sein -, dann brauchten wir kaum noch das häufig von
Frau Künast gefeierte Verbraucherinformationsgesetz.
Vielmehr hätten wir dann in Praxis Transparenz und
Verbraucherinformationen. Damit hätten wir den Verbraucher zu einem mündigen Bürger gemacht, der sich
seine Stromlieferanten aussucht, und zwar nach strengen
Kosten- und Effizienzkriterien und nicht nach ideologischen Vorgaben.
Ich glaube, das wäre ein großer und guter Schritt hin
zu mehr mündigen Verbrauchern. Ich gehe davon aus,
dass im Rahmen der Beratungen das gesamte Haus unserem Antrag zustimmt.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Berg, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die jüngsten Stromausfälle in den USA und
auch bei uns in Europa haben gezeigt, dass sich eine sichere Stromversorgung nicht allein über den Preis definiert. Dies sollte uns allen Warnung und Mahnung dazu
sein, die künftige Struktur der Stromversorgung nicht allein dem Markt zu überlassen. Denn der Markt fragt in
seiner heutigen Form allein nach den kostengünstigsten
Erzeugungsarten.
In ihrem Antrag, der übrigens schon in der letzten Legislaturperiode gestellt und abgelehnt wurde,
({0})
sagen die Kolleginnen und Kollegen von der FDP - das
scheint als Vorwurf gemeint zu sein -, der Strompreis sei
ein politischer Preis.
({1})
- Sie haben Recht; auch ich denke, es ist ein politischer
Preis.
Selbstverständlich ist der Strompreis ein politischer
Preis. Das war auch schon immer so. Es war stets im Interesse des Gemeinwohls, Energiebereitstellung und die
entsprechende Infrastruktur zu fördern. Beispiele, die
dies belegen, sind der Straßenbau bei der Einführung des
Automobils, die Kohleförderung, die es bis heute noch
gibt,
({2})
und der Bau von Atomkraftwerken. Ich habe auch ein
wunderschönes Beispiel aus der Jetztzeit: Bis gestern haben 13 000 Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz
den Transport von zwölf Castorbehältern von Frankreich nach Lüchow-Dannenberg gesichert.
({3})
Allein die deutschen Steuerzahler kostet das ungefähr
25 bis 30 Millionen Euro. In welcher Rechnung tauchen
denn diese Kosten auf?
({4})
Sie tauchen jedenfalls nicht bei den Verbrauchern auf der
Stromrechnung auf. Das sind indirekte Subventionen der
Atomkraft und damit politische Kosten. Schade eigentlich, dass Sie dagegen noch nie Ihre Stimme erhoben haben, wenn Sie doch so sehr für unverfälschte Märkte
sind.
({5})
Die Bereitstellung von Energie - ob für Industrialisierung, für Mobilität oder für Beschäftigung - ist der
erste Schritt jeder Wertschöpfungskette. Dieser Zusammenhang ist älter als wir alle zusammen. Ich gebe Ihnen
in dem Punkt Recht, dass der Wettbewerb auf dem
Strommarkt stockt. Ich gehe sogar noch weiter: Wirklicher Wettbewerb findet auf dem Strommarkt überhaupt
nicht statt. Das ist schlecht und falsch. Doch der Schluss,
den Sie daraus ziehen, ist leider auch falsch, dass wir
nämlich einen funktionsfähigen Wettbewerb allein dann
bekommen, wenn wir die Mehrwertsteuer oder die Kosten für Messen und Abrechnen auf der Stromrechnung
ausweisen. Daran glauben Sie doch ernsthaft selber
nicht. Ansonsten könnte ich im Prinzip im Restaurant
auch fragen, wie viel Prozent meines Rechnungsbetrages
eigentlich der Koch bekommt oder wie viel für die Miete
draufgeht. Mich als Restaurantbesucher sollte doch vielmehr interessieren, woher der Wirt seine Waren bezieht,
woher das Fleisch kommt und unter welchen Bedingungen das Gemüse angebaut wird. Belastet das Essen
meine Gesundheit oder gar die Umwelt, die nicht nur
mir, sondern allen gehört?
Genauso sollte es auch beim Strom sein. Beim Strom
sollte uns interessieren: Wird ein Teil des von mir verbrauchten Stroms durch Atomkraft gewonnen? Wie viel
Prozent werden in Braunkohlekraftwerken oder durch
die Nutzung erneuerbarer Energien hergestellt? Wie viel
CO2 wird dabei freigesetzt? All diese Informationen
werden wir ab dem 1. Juli kommenden Jahres auf unserer Stromrechnung finden, und zwar sowohl was klimaschädliche CO2-Emissionen betrifft, als auch was radioaktiven Abfall betrifft, der in unseren Atomkraftwerken
anfällt. Uns muss es doch um die strukturelle Sicherstellung eines wirklichen Marktes gehen. Gleichzeitig wollen und müssen wir uns auch künftig politische Steuerungsmöglichkeiten erhalten, schon allein aus dem
einfachen Grund, dass wir anderenfalls unseren internationalen Verpflichtungen bezüglich der CO2-Minderung
nicht nachkommen könnten.
Im Übrigen bestand auch in der Energie-EnqueteKommission - inklusive der FDP -, die in der letzten
Legislaturperiode getagt hat, Konsens darüber - das ist
auch im Bericht der Kommission nachzulesen -, dass für
die Realisierung einer langfristigen Umstrukturierung
der Energiewirtschaft ein aktiver Staat als Wettbewerbshüter und als Gestalter des Transformationsprozesses unverzichtbar ist.
({6})
So führen wir zum Beispiel durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz die erneuerbaren Energien langsam an
den Markt heran. Ohne das EEG hätten die erneuerbaren
Energien zurzeit keine faire Chance, da eine Internalisierung der Umweltkosten bei fossilen Energien nicht wirklich stattfindet. Ich bin davon überzeugt, dass sich die erneuerbaren Energien ganz ohne Förderung, also ohne
offene und versteckte Subventionen, wie es sie bei
Kohle, Öl oder Atomkraft gibt, durchsetzen würden.
({7})
- Jawohl, Frau Sehn. Ich glaube, auch die Windenergie
würde sich ohne Förderung problemlos auf dem Markt
durchsetzen, wenn die anderen Energieformen, die Konkurrenzenergieformen, nicht versteckt und direkt subventioniert würden.
({8})
Meine Damen und Herren, das Hauptargument gegen
die erneuerbaren Energien wird oft in der mangelnden
Wirtschaftlichkeit gesehen. Dabei wird aber nur auf die
Kosten im betriebswirtschaftlichen Sinne Bezug genommen. Die gesamtgesellschaftlichen und sozialen Kosten
- hierbei denke ich insbesondere an die später notwendig
werdenden Umweltreparaturkosten, die vor allem auf
die nächsten Generationen zukommen - werden völlig
vernachlässigt. Das weltweite Energiesystem wird sich
nur dann in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln, wenn
die Energiepreise auch eine ökologische Wahrheit abbilden.
({9})
Ich gebe allerdings zu, dass dies methodisch nicht einfach ist.
Darum ist es letztlich gerechtfertigt, Strom aus erneuerbaren Energien durch das EEG mit einer erhöhten Einspeisevergütung zu versehen. Um den Effizienzdruck
zu erhöhen und damit sich die Erzeuger von erneuerbaren Energien nicht allzu wohl fühlen, ist eine degressive
Vergütung eingerichtet worden. So haben wir ein Instrument installiert, das den Strom aus erneuerbaren Energien immer billiger macht. Auch wir befürworten doch
eine ganz starke Transparenz am Energiemarkt. Ich begrüße ausdrücklich, dass die uns nun vorliegende EEGNovelle, über die wir heute Vormittag debattiert haben,
darauf in § 15 in ganz besonderem Maße eingeht. Dabei
geht es um die Glaubwürdigkeit des Wettbewerbs, um
die Verbesserung der Wahlrechte der Kunden. Ganz entscheidend ist uns die Stärkung einer Politik für eigenverantwortliche Verbraucher. Verbraucherschutz heißt doch
für uns und für Sie hoffentlich auch, dass auch an die
Verbraucher der Zukunft gedacht wird.
({10})
Es gibt durchaus eine gewisse Übereinstimmung mit
dem liberalen Lager in der Einschätzung der Lage am
Strommarkt, doch wir sehen die Lösung woanders. Für
die Versorgungssicherheit und die Versorgungszuverlässigkeit spielt die Ausgestaltung der Energiemarktliberalisierung eine ganz wichtige Rolle. Der Versuch, es der
Energiewirtschaft selbst zu überlassen, Spielregeln für
einen fairen Handel festzulegen, kann als gescheitert betrachtet werden. Auch Jahre nach der Liberalisierung
kann von echtem Wettbewerb keine Rede sein. Diejenigen, die zu Monopolzeiten das Sagen hatten, bestimmen
auch heute den Wettbewerb.
Angesichts dieser Entwicklung auf den Energiemärkten - ich meine hier vor allem die Konzentrationstendenzen hin zu wenigen großen Energiekonzernen - sollte
nun zügig die Verbesserung der Marktzutrittsbedingungen für neue Akteure betrieben werden. Für die
Gewährleistung von Versorgungssicherheit und Durchsetzung eines fairen Wettbewerbs in Deutschland sind
nach unserer Auffassung das konsequente Unbundling
der Netze von anderen Energiemarktaktivitäten - Stromerzeugung, Stromnetze und Stromvertrieb sollen also unabhängig voneinander koexistieren -,
({11})
die Verbesserung des Netzzugangs und damit die Absicherung einer ausreichenden Akteursvielfalt in der
Stromerzeugung, die Etablierung einer kostenorientierten Netzregulierung, die gleichzeitig verbindliche Standards für Netzinvestitionen setzt, sowie die Schaffung
einer durchsetzungsfähigen Regulierungsbehörde erforderlich. Mit Letzterem sind wir gerade befasst. Von einer
solchen Regulierungsbehörde erwarten wir, dass sie dem
Missbrauch von Marktmacht entgegenwirkt. Wir erwarten die Durchsetzung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs mit preisgerechten und nachvollziehbaren Netznutzungsgebühren. Vor allem an diesem Punkt werden
wir auf Transparenz drängen.
Ziel unserer Politik bleibt eine sichere, nachhaltige
und ökonomische Versorgung mit Energie. Das ist für
uns Grundlage für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und
Beschäftigung. Auch nach der Liberalisierung überlassen wir es nicht dem Markt allein, über den künftigen
Energiemix zu entscheiden. Beispielsweise ist es uns
gelungen, den Anteil der erneuerbaren Energien an
der gesamten Stromerzeugung in den letzten Jahren
enorm zu steigern. Dies wäre sicherlich nicht passiert,
wenn man den Markt allein alles hätte regeln lassen.
Durch das EEG haben wir eine Steigerung der erneuerbaren Energien auf über 8 Prozent erreicht. Dagegen haben Sie doch hoffentlich auch nichts, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({12})
- Klar, das kann manche stören.
Wir müssen auch weiterhin ein verlässliches, wirtschaftliches und vor allem nachhaltiges Energieversorgungssystem gewährleisten. Ein großer Teil der alten
Stein- und Braunkohlekraftwerke wird in den nächsten
20 Jahren ersetzt werden müssen. Die Leistung der
Atomkraftwerke, die heute knapp 30 Prozent des deutschen Stroms erzeugen, wird ebenfalls ersetzt werden
müssen. Im Vorgriff auf die Entwicklung der Erzeugungskapazitäten müssten wir jetzt die Pflöcke einschlagen. Das bedeutet einen weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Die zentralisierten Angebotsstrukturen
sind durch dezentrale Optionen zu ergänzen. Die Marktdurchdringung von Kraft-Wärme-Kopplung ist durch die
Sicherung eines fairen Marktzutritts zu fördern. Des
Weiteren müssen wir an der Stärkung der Energieeffizienz arbeiten.
Diesen Herausforderungen wollen wir uns stellen.
Wir alle sollten diesen Umstand auch als Chance begreifen, die Energiewende voranzubringen und zu befestigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr
Antrag unterstützt durchaus die Bemühungen der Bundesregierung und der Regierungskoalition. Sein Neuigkeitswert ist logischerweise begrenzt, da Sie ihn schon
einmal vor zwei Jahren eingebracht haben.
({13})
Durch die in der Zwischenzeit erfolgte Entwicklung ist
Ihr schöner Antrag zum großen Teil überholt. Ökologische Aspekte, mit denen sich vor allem die Nachwelt
herumschlagen muss, blendet die FDP in traditioneller
Manier leider einfach aus. Allein deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber
Herr Berg, einiges von dem, was Sie gerade angesprochen haben, haben Sie bereits gestern im Ausschuss gesagt. Es ist typisch: Sie wollen dem Verbraucher keine
Klarheit geben und ihm nicht sagen, was wirklich hinter
den Stromrechnungen steckt. Deswegen werde ich im
Einzelnen darauf eingehen.
Ich fordere für den Verbraucher: Klartext auf der
Stromrechnung! Das ist angesichts des nunmehr seit fünf
Jahren liberalisierten Strommarktes für mich ein dringliches Anliegen.
({0})
An jeder Tanksäule können Sie lesen, wie hoch der
Staatsanteil beim Kraftstoff ist. Warum soll das so nicht
auch beim Strom sein? Wir müssen dem Bürger sagen,
was Sie ihm aus der Tasche ziehen. Das könnte zu Revolten führen. Davor haben Sie Angst. Das ist ein Effekt,
den Sie sich nicht wünschen; davon bin ich überzeugt.
Deswegen wollen Sie keine Klarheit herbeiführen.
({1})
Der Wettbewerb stockt vielerorts. Den Bürgern fällt
es mangels Information schwer, das preisgünstigste Angebot auszuwählen. Die Kollegin Kopp hat vollkommen
Recht: Wir müssen endlich dafür sorgen, dass der Wettbewerb durch den Verbraucher angestoßen werden
kann. Das wünsche ich mir jedenfalls sehr. Wenn die
Stromrechnung nach Netznutzungskosten, Kosten für
Erzeugung und Vertrieb und für Messung und Abrechnung, Öko- und Mehrwertsteuer sowie Umlagen aus
KWKG und EEG aufgeschlüsselt wäre, hätte das die
Auswirkung, dass der Bürger automatisch völlig anders
reagieren würde.
Bei diesem Thema geht es um die Schaffung von
mehr Wettbewerb - das ist das zentrale Ziel - und damit
um die Wiederbelebung der in Unionszeiten erfolgreich
begonnenen Strom- und Gasmarktliberalisierung.
({2})
Der Anstoß hierzu war 1997/1998 die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie der EU. Wir haben am 24. April
1998 ein vernünftiges Energiewirtschaftsgesetz verabschiedet, das durch eine Absenkung der Preise zu einem
vernünftigen Preisniveau geführt hat.
({3})
Diese Absenkung, meine Damen und Herren von der
Koalition, haben Sie rückgängig gemacht.
({4})
Doch wegen der mangelnden Preistransparenz
stockt jeglicher Wettbewerb. Die Verbraucher können
die Preise und die Tarifgestaltung nicht mehr nachvollziehen. Sie werden deswegen auch nicht dafür sorgen,
dass es zu einem ausreichenden Wettbewerb kommt. Nur
Wettbewerb schafft Transparenz; das ist eine Tatsache,
die Sie auf allen Märkten der Welt nachvollziehen können. Nur Transparenz wiederum schafft günstigere
Preise für den Verbraucher. Ich habe aber das Gefühl,
dass Sie das gar nicht wollen.
({5})
Es kann nicht sein, dass nur 3 Prozent der privaten
Haushalte durch Wechsel des Stromlieferanten vom
Wettbewerb profitieren. Woran liegt das? Das liegt daran, dass keine Informationen verfügbar sind.
({6})
Diese zur Verfügung zu stellen müsste ein gemeinsames
Ziel und im Interesse der Verbraucherschützer sein, zumal die Grünen häufig über Verbraucherschutz sprechen.
Dabei sehe ich den Kollegen Winkler an, der in meinem
Wahlkreis permanent davon erzählt.
Redet man von Netznutzungskosten, so muss natürlich berücksichtigt werden, dass die Stromnetze natürliche Monopole darstellen und dass dadurch der Wettbewerb teilweise eingeschränkt wird.
({7})
Wir sind deswegen sehr gespannt, Frau Hustedt, wann
die Bundesregierung endlich den Vorschlag für den
neuen Entwurf des Energiewirtschaftsgesetzes vorlegt,
in dem die Regulierung des Netzzuganges so vorgesehen
ist, dass es für jeden verständlich ist. Sie haben durchaus
Zeit gehabt und viele Mitarbeiter in den Ministerien stehen Ihnen zur Verfügung. Geschehen ist bis jetzt aber
nichts.
Wir wissen, warum die Bundesregierung zögerlich
vorgeht. Dass diese Wettbewerbsnachteile von den einzelnen Bürgern nicht verstanden werden, liegt für mich
an den Verfehlungen der rot-grünen Energiepolitik. Sie
wollen diese Transparenz natürlich nicht.
({8})
Der Liberalisierungseffekt von 1998 ist in den fünf Jahren interventionistischer Energiepolitik konterkariert
worden. Die Investitionen in Deutschland bleiben aus
und seit 1998 steigen die Steuern und Abgaben kontinuierlich. Herr Berg, Sie haben eben gesagt, dass Sie das
auch wollen. Dann wollen wir das den Bürgern auch klar
machen.
({9})
Die Staatsbelastung der Energiepreise führt heute
dazu, dass Investitionsentscheidungen des produzierenden Gewerbes gegen den Standort Deutschland ausfallen.
({10})
Der Kollege Laumann hat aus seinem eigenen Wahlkreis
ein Textilunternehmen benannt, bei dem genau das geschieht. Die Investitionsentscheidungen fallen dort eben
nicht mehr für den Standort Deutschland aus, wodurch
Arbeitsplätze gefährdet werden. Energiepolitik ist Arbeitsmarktpolitik - das müssen wir im Zusammenhang
sehen.
Als Beispiel kann man auch die Diskussion über den
Chemiestandort Wilhelmshaven nennen, der sich etablieren sollte. Nichts ist passiert. Ein einziges Unternehmen hat das Ganze einmal durchgerechnet. Für dieses
Unternehmen hätte nur die EEG-Umlage Mehrkosten
beim Strom in Höhe von 2,5 Millionen Euro bedeutet.
Die Folge war: Der Standort wurde nicht aufgebaut, er
befindet sich mittlerweile im Ausland. Das ist die Folge
Ihrer verfehlten Energiepolitik; das müssen wir sagen.
Das muss deutlich werden. Deswegen bin ich auch dafür, dass wir dies in jedem Bereich klar machen.
({11})
- Frau Hustedt, diese verfehlte rot-grüne Energiepolitik
führt dazu, dass der Standort Deutschland nicht mehr
wahrgenommen wird. Für die privaten Verbraucher ist
das aber nicht so einfach. Sie können den Standort nicht
einfach wechseln; sie sind an den Standort gebunden.
Für sie muss die Belastung deshalb klar und deutlich
werden. Ich wünsche mir, dass jeder dieser privaten Verbraucher das auch erkennt.
({12})
Ich habe mir Stromrechnungen angeschaut. Auf den
meisten stehen zum Beispiel lediglich der KWh-Verbrauch, die Stromsteuer und die Kosten für den Eintarifzähler. Die wirklichen Kosten, die Sie verursachen, nennen Sie den Verbrauchern nicht. Diese Aufklärung
möchte ich haben. Deswegen stimmt meine Fraktion
dem Antrag der FDP-Fraktion voll und ganz zu.
({13})
Gegenüber 1998 hat sich die durch den Staat verursachte Belastung der Strompreise ohne Berücksichtigung der Mehrwertsteuer - sie kommt ja immer noch
obendrauf - von 2 Milliarden Euro auf heute 12 Milliarden Euro erhöht.
({14})
Die Stromkunden werden 2003 mehr als fünfmal so
hoch belastet wie noch vor fünf Jahren. Das ist für den
Verbraucher katastrophal und er sollte das auch wissen.
Im Einzelnen sind folgende Belastungen zu erkennen: Die Stromsteuer beläuft sich pro Jahr auf rund
7,65 Milliarden Euro, die Umlagen aus dem KWKG ergeben 688 Millionen Euro und bei den Einspeisungsvergütungen nach dem EEG sind wir mittlerweile bei
2,75 Milliarden Euro angekommen. Das kosten uns Ihre
Windmühlen, die Deutschland in eine Mega-Spargellandschaft verwandeln.
({15})
Die Gewinne, die durch die Liberalisierung der Energiemärkte entstanden, schöpft diese rot-grüne Bundesregierung somit beim Verbraucher ab.
({16})
Das Schlimme ist: Er weiß das noch nicht einmal, Herr
Schlauch.
({17})
Ich bin der Meinung, dass Sie wenigstens den Mut haben
sollten, ihnen das zu sagen.
({18})
„Strom so teuer wie zu Beginn der Marktöffnung“ so oder so ähnlich sind heute die Schlagzeilen in den
Zeitungen. Von einem weiteren Anstieg der staatlichen
Belastungen in den nächsten Jahren ist auszugehen.
Die Bundesregierung hat den Ausbau der erneuerbaren Energien lauthals angekündigt. Ohne gesetzliche Änderungen, also ohne dass beim EEG jetzt etwas geschieht, würden nach wissenschaftlichen Berechnungen
bis zum Jahre 2010 schon wieder 5 Milliarden Euro zusätzlich anfallen. Die Kosten, die durch das EEG entstünden, wären dann fast doppelt so hoch wie die Kosten
für die Steinkohle.
({19})
Das sollten wir einmal ganz deutlich sagen.
Es bleibt also abzuwarten, Herr Berg, welche konkreten Vorschläge die Bundesregierung für die anstehende
Novelle zum EEG vorlegt und was das für uns alle
volkswirtschaftlich bedeutet. Es ist kein Geheimnis, dass
die Finanzierung der Förderung erneuerbarer Energien
durch eine Umlage auf die Strompreise und nicht über
die öffentlichen Haushalte erfolgt. Dazu möchte ich
deutlich sagen: Bundesminister Trittin hat verkündet,
das seien keine Subventionen. Schade, dass er jetzt
nicht da ist. Er hat anscheinend gar nicht begriffen, was
eine Subvention ist. Es ist doch völlig egal, ob die Finanzierung über den Haushalt des Staates oder direkt aus der
Tasche des Stromverbrauchers erfolgt. In beiden Fällen
ist es eine Subvention! Seien wir doch ehrlich!
({20})
Die Förderung erneuerbarer Energien enthält noch
eine Zusatzsubvention, Herr Berg, die auch Sie kennen.
Sie wissen, dass Sonderabschreibungsmöglichkeiten
nichts anderes als Steuersubventionen sind. Auch sie gehören dazu. Hier wird also doppelt subventioniert, einmal über den Strompreis, dann über Sonderabschreibungsmöglichkeiten. Es ist für mich keine verbraucherund schon gar keine wettbewerbsorientierte Energiepolitik, wenn über Förderungen zu viel Fördergeld für die
Betreiber bereitgestellt wird, wodurch Mitnahmeeffekte
und Fehlallokationen entstehen. An einigen Standorten
von Windanlagen dreht sich das Rad fast nie. Das sind
die Folgekosten dieser verfehlten Energiepolitik.
({21})
- Der Verbraucher trägt sie; das ist die Antwort auf Ihre
Frage. Damit bin ich nicht einverstanden.
({22})
Der einzige Trost beim EEG - für mich ist das ein Investitionsverhinderungsgesetz -, so könnte man meinen,
ist die Härtefallregelung. Aber auch sie verfälscht nur.
Sie führt dazu, dass manche Unternehmen profitieren.
Andere Unternehmen müssen das dann bezahlen. Das
kann nicht richtig sein. Obendrein ist dies noch mit erheblicher Bürokratie verbunden.
Daher fordern wir ganz klar einen Umbau des EEG.
Ziel muss es sein, Anreize zur Weiter- und Neuentwicklung erneuerbarer Energien zu schaffen. Gleichzeitig
muss das Gesetz von Wirtschaftlichkeit geprägt sein.
Dann kann man es als ein Gesetz zur Wettbewerbsfähigkeit bezeichnen. Aber das hat bei Ihnen nicht die höchste
Priorität.
({23})
Neben EEG und Ökosteuer sind es dann noch die
KWKG-Umlagen, die private Verbraucher auf ihrer
Stromrechnung unbedingt einsehen sollten. Dann würde
ihnen nämlich klar, was das für ein Unsinn ist. Das
KWKG von Rot-Grün ist gescheitert. Im letzten Jahr
wurden nur 6 - in Worten: sechs - von 3 221 Anlagen,
also 0,19 Prozent der bestehenden Anlagen, modernisiert bzw. ersetzt, 99,8 Prozent nicht. Dafür haben Sie im
Etat immerhin 668 Millionen Euro bereitgestellt. Zukunftsträchtige Brennstoffzellen dagegen erhielten 2002
einen Zuschuss von nur 20 000 Euro.
({24})
Nicht in die Zukunft wird hier investiert, sondern in
die Vergangenheit. „Das KWKG ist ein Flop.“ Das ist
nicht nur meine Meinung, Frau Hustedt, sondern das ist
ein Zitat Ihres Kollegen Loske. Das sagte er kurz vor der
Sommerpause. Für 668 Millionen Euro pro Jahr muss
man mehr erwarten können als solche Flops.
({25})
Die Strompreisoffenlegung ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Tatsache, dass Rot-Grün zulasten der
Verbraucher in der Energiepolitik für mich alles vermissen lässt, was nachhaltig, zukunftsorientiert und vor allen Dingen effizient ist. Seit 1998 ist nicht erkennbar,
wie diese nachhaltige Energiepolitik aus der Sicht der
Bundesregierung aussehen soll. Stattdessen ist Kurzsichtigkeit das Hauptmerkmal dieser rot-grünen Energiepolitik. Ein durchdachtes Gesamtkonzept liegt leider nicht
vor. Dosenpfand und LKW-Maut lassen grüßen.
Ich frage Sie hier ganz direkt: Wie stellen Sie sich die
Zukunft deutscher Energieversorgung vor? Welche
Stromquellen sollen denn den Wegfall der Atomenergie
CO2-neutral ersetzen?
({26})
- Frau Hustedt, hören Sie zu, dann verstehen Sie es
auch. - Ich habe gestern im Wirtschaftsausschuss Herrn
Staatssekretär Schlauch intensiv zugehört, aber er hat
keine Antwort auf diese Frage gegeben.
({27})
Er weiß auch keine Antwort. Die zurzeit mit jährlich
2,75 Milliarden Euro - in 2010 sollen es 5 Milliarden Euro sein - geförderte erneuerbare Energie kommt
ernsthaft wohl kaum in Frage. So viel Wind kann noch
nicht einmal diese Bundesregierung machen.
({28})
Ich fürchte, der von den Grünen bejubelte Atomausstieg - wir werden morgen wahrscheinlich die Jubelarien
von Herrn Trittin erleben - ist Ihnen zu Kopf gestiegen.
Die Frage des realisierbaren Ersatzstroms ist aber zu
ernst, als dass wir einfach darüber hinweggehen könnten.
Bereits von 2008 bis 2012 werden weitere jährliche Emissionen von 25 Millionen Tonnen CO2 erwartet. Wenn
dann im Jahre 2012 die meisten Kernkraftwerke vom
Netz gehen, dann werden wir eine zusätzliche CO2-Belastung von 135 Millionen Tonnen pro Jahr haben. Ich
hätte gerne eine Antwort von Ihnen darauf, wie Sie das
verhindern und wie Sie organisieren wollen, dass dieses
nicht passiert. Mit erneuerbaren Energien, so wie Sie es
bis jetzt versuchen, wird es nicht funktionieren.
({29})
Im Haushalt von Herrn Clement haben Sie
10 Millionen Euro für die Energieeinsparberatung eingestellt. Das ist gerade einmal das Doppelte der Summe,
Herr Kollege Schlauch, die Sie für Öffentlichkeitsarbeit
in diesem Haushalt eingestellt haben.
Die Union fordert daher die Bundesregierung auf,
eine nachhaltige Energiepolitik zu organisieren.
({30})
Es gilt, einen ausgewogenen Energiemix hinzubekommen. Dabei ist allein auf den jeweiligen energetischen
Wirkungsgrad, auf die Emissionsbilanz und vor allen
Dingen auf die Kosten für die deutsche Wirtschaft zu achten. Staatlich fixierte, ideologiegesteuerte Vorgaben haben hier nichts zu suchen. Sonst wird aus Mix schnell nix.
({31})
Bitte nehmen Sie den Antrag der Kollegen und Kolleginnen von der FDP ernst. Ich möchte, dass der deutsche
Verbraucher weiß, woran er ist. Ich möchte, dass man
ihm sehr deutlich mitteilt, was ihn Ihre verfehlte Energiepolitik kostet. Anders kann nämlich nichts mehr in
diesem Lande geändert werden.
({32})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten heute Morgen drei Stunden lang eine
Energiedebatte.
({0})
Wenn Sie keine Redezeit abbekommen haben, dann tut
es mir für Sie Leid. Hier geht es um den Antrag der FDP,
Stromrechnungen transparent zu gestalten. Darauf
möchte ich mich konzentrieren. Denn ich durfte im Gegensatz zu Ihnen heute Morgen in der Kerndebattenzeit
zum EEG und Strommix meine Meinung zweimal sagen.
({1})
Transparente Stromrechnungen - das ist völlig okay.
Aber ich frage mich, warum die FDP eigentlich da aufhört, wo es spannend wird. Denn das, was Sie mit der
Begründung von mehr Wettbewerb fordern, würde nur
funktionieren, wenn die Transparenz dazu führt, dass der
Kunde die Wahl hat. Ich frage Sie: Wenn die Netznutzungskosten, die Durchleitungskosten, auf der Rechnung
stehen, welche Wahl hat dann der Kunde? Die Netznutzungskosten sind hoffentlich, so wir denn eine funktionierende Regulierung schaffen, für alle gleich. Das ist
das Prinzip.
Wenn auf der Rechnung die Kosten für Messungen
und Abrechnungen stehen, welche Wahl hat dann der
Kunde? Okay, wenn Sie unsere Forderung unterstützen
würden, dass das Mess- und Zählwesen aus dem Netzbetrieb herausgelöst wird, es hier Wettbewerb gibt und man
einen anderen Dienstleister wählen kann, der eine billigere Leistung anbietet, dann macht das Sinn. Aber ich
habe diese Forderung von Ihnen noch nicht gehört. Bisher waren die Grünen die einzigen, die diese Forderung
in diesem Zusammenhang vertreten haben.
({2})
Es geht Ihnen nicht um mehr Transparenz und in der
Konsequenz um Wahlmöglichkeit.
({3})
Ihre ganzen Reden haben doch gezeigt,
({4})
dass es Ihnen um ein Instrument geht, um Ihre Politik
mit Hilfe der Stromrechnungen fortzusetzen. Dafür sind
die Reden, die Sie beide hier gehalten haben, ein Beleg.
Sie haben nicht über Transparenz und Kosten gesprochen, sondern von Energiepolitik und davon, dass Sie einen Hinweis in Form eines Sternchens auf der Stromrechnung mit dem Text haben wollen: Bitte die Rede von
Herrn Fuchs lesen, dann wissen Sie Bescheid.
({5})
Wir verstecken die Kosten für das EEG überhaupt
nicht. Ich sage es in dieser Rede, so wie ich es in jeder
Rede sage: Das kostet den Haushalt 1 Euro pro Monat.
Wenn wir eine Härtefallregelung für die energieintensive
Industrie machen, dann kostet es 1,10 Euro pro Monat.
Jetzt schaue ich die Besucher auf der Tribüne an und
frage sie: Ist 1 Euro pro Monat für die erneuerbaren
Energien,
({6})
für eine zukunftsfähige Energieversorgung ein Preis, den
man zahlen kann und den man für die Bewahrung unserer Lebensgrundlage zahlen muss?
({7})
Die aktuellen Umfragen machen deutlich, dass zwei
Drittel der Bevölkerung die erneuerbaren Energien gutheißen und dafür sind, dass dieser Weg weiterhin beschritten wird.
({8})
Das ist euer Problem.
Wenn Sie „Ihre“ Windkraftanlagen sagen und damit
uns meinen, dann empfehle ich Ihnen, einmal mit Ihren
Kollegen zu diskutieren. Denn in der Kernzeitdebatte
heute Morgen hat sich das ganz anders angehört: Ihr
Kollege Paziorek hat uns in dieser Debatte aufgefordert,
die Windkraft noch ein bisschen stärker zu fördern und
uns zum Beispiel verstärkt der Biomasse zuzuwenden.
({9})
Die Baden-Württemberger bestürmen uns, die großen
Wasserkraftanlagen in das EEG mit aufzunehmen.
({10})
All das führt ebenfalls zur Erhöhung der mit dem EEG
zusammenhängenden Kosten. Insofern repräsentiert die
Rede, die Sie in der Nacht halten,
({11})
sicherlich nicht die Mehrheit Ihrer Fraktion.
Wenn es Ihnen wirklich um Transparenz im Sinne
von mehr Wettbewerb und damit um einen größeren Informationsgehalt der Stromrechnung geht, um den Kunden tatsächlich Wahlmöglichkeiten zu bieten, dann haben wir eine völlig andere Aufgabe. In diesem Fall muss
in der Stromrechnung aufgeführt werden - das interessiert die Kunden in der Tat -, wie sich der Strom zusammensetzt, wie er produziert wird, wie hoch der Anteil
des Atomstroms ist, wie viel Müll durch den Atomstrom
anfällt, wie hoch jeweils die Anteile des Braunkohle-,
Kohle- und importierten Stroms
({12})
sowie der erneuerbaren Energien sind. Danach differiert
die Stromrechnung in der Tat und anhand dieser Kriterien will der Kunde den Stromerzeuger auswählen.
Insofern finde ich es verwunderlich, dass diese Art
von Transparenz in Ihrem Antrag „Stromrechnungen
transparenter gestalten“ nicht vorkommt. Woran liegt
das? Vielleicht liegt es daran, dass Sie genau wissen,
dass Ihre Art von Energiemix - Atom, Atom, Atom beim Kunden nicht ankommt.
({13})
Der Kunde möchte vielmehr einen Energiemix erhalten,
bei dem der Anteil der erneuerbaren Energien möglichst
hoch ist.
Deswegen halte ich den Weg, den wir beschreiten
- das werden wir auch bei der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz umsetzen -, nämlich hinsichtlich der Zusammensetzung des Stromes Transparenz zu schaffen
und damit dem Kunden eine echte Wahlmöglichkeit zu
bieten, für richtig. Deswegen müssen wir Ihren Antrag
ablehnen.
Danke schön.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
Sechster Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - 2003
- Drucksache 15/1530 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es
gleich vorwegzunehmen: Ich war nach der Lektüre des
Sechsten Tätigkeitsberichts der Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik beeindruckt.
Was in der Zentralstelle und in den 14 Außenstellen ihrer
Behörde in den neuen Ländern geleistet wurde, ist enorm.
Ich möchte dafür folgende Beispiele nennen:
Seit 1992 sind bei der Behörde 2 Millionen Anträge auf
Akteneinsicht von Bürgerinnen und Bürgern, 3 Millionen Ersuchen im Rahmen von Überprüfungen im öffentlichen Dienst, Rehabilitierungen oder Rentenangelegenheiten und 14 000 thematisch breit gefächerte Anträge
von Forschern und Medienvertretern eingegangen.
Darüber hinaus wurden telefonische und persönliche
Bürgerberatungen durchgeführt und Publikationen verfasst. Im Berichtszeitraum sind die Veröffentlichungen
zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953
von besonderem Interesse gewesen. In diesem Zusammenhang darf auch die Fachtagung zum selben Thema,
an der sich Experten aus dem In- und Ausland beteiligt
haben, nicht unerwähnt bleiben.
Auch in den Außenstellen wurden beachtliche Forschungsprojekte realisiert, so zum Beispiel das Forschungsprojekt „Spitzbart, Bauch und Brille...“ - die
Vollendung dieses Satz, nämlich „... sind nicht des Volkes Wille“, dürfte dem einen oder anderen noch bekannt
sein - in Halle, das mit Fotos ergänzt werden konnte, die
40 Jahre verschollen waren. Mit Ausstellungen erreichte
die Behörde Präsenz in der Fläche und erfüllte damit
zielstrebig und vorbildlich ihren Auftrag der Unterrichtung der Öffentlichkeit, so zum Beispiel auch mit der
Wanderausstellung „Staatssicherheit - Garant der SEDDiktatur“, die vorwiegend für die alten Länder bestimmt
war. Die Gemeinschaftsausstellung „Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR“, getragen vom Bürgerkomitee Leipzig e. V., führte noch einmal eindrucksvoll vor Augen, dass zum Beispiel täglich
bis zu 90 000 Briefe und 60 000 Pakete geöffnet und
kontrolliert wurden. Das macht auch im Nachhinein
noch immer wütend.
Politische Bildungsarbeit nimmt immer größeren
Raum ein und wird nicht selten mit Partnern geleistet,
wie zum Beispiel mit der Bundeszentrale für politische
Bildung oder in den Außenstellen mit einer der Landeszentralen. Unter den vielfältigen Aufgabenstellungen
sind Internetpräsentationen der Behörde, Archivierung
sowie Erschließung und Bewertung von Unterlagen
schon fast als Routinearbeiten zu bewerten. Deshalb darf
nicht vergessen werden: Hinter all diesen vielfältigen
Aktivitäten stehen sehr viel Engagement, Erfahrung und
große Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Behörde. Davon konnte ich mich auch bei meinem
jüngsten Besuch im Archiv überzeugen.
Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion danke ich
Frau Birthler, der Leiterin der Behörde, und all ihren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich. Sie
können sicher sein, dass wir sie wie bisher auch in Zukunft unterstützen und konstruktiv ihre Arbeit begleiten
werden. Die Aufarbeitung der Stasiunterlagen hat nämlich nichts an Aktualität verloren. Das wurde nicht nur
aus Anlass des 10. Jahrestages der Verabschiedung des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes deutlich, sondern zeigt sich
vor allem auch an dem nicht nachlassenden Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dazu, dass das so ist, hat auch
die Birthler-Behörde mit all ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern mit ihrer intensiven Arbeit entscheidend
beigetragen.
In diesem Zusammenhang möchte ich besonders hervorheben, was für junge Menschen gemacht wird. So
werden zum Beispiel Projekttage sowohl in der Zentrale
als auch in den Außenstellen durchgeführt. Haus- und
Facharbeiten werden betreut. Kontakte zu Schulen werden aufgebaut. Die Anfertigung von unterrichtsbegleitenden Materialien halte ich ebenfalls für besonders
wichtig. Dass sich die Behörde in diesem Jahr sogar am
Girls’Day beteiligt hat und dort interessierten Schülerinnen Einblicke in die berufliche Tätigkeit einer ArchivaBarbara Wittig
rin, einer Restauratorin oder einer Fotolaborantin geboten hat, war zwar neu für mich, aber ich fand diese
Initiative sehr gut. Warum hebe ich dieses Engagement
für junge Menschen hervor? Ich meine, dass sich über
die Auseinandersetzung mit der Geschichte des MfS
auch das Verständnis für grundlegende demokratische
Fragen entwickeln lässt. Auf diesem Wege muss fortgeschritten werden.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Behörde ist aber
nach wie vor, dazu beizutragen, dass Bürger, die durch
das DDR-System Unrecht erlitten haben, rehabilitiert
werden können. Hier nehme ich Bezug auf die rehabilitierungsrechtlichen Vorschriften, auf deren Grundlage
ehemals politisch Verfolgte oder Systemgegner Anträge
stellen können. Die Fristen für die Antragstellung nach
dem Strafrechtlichen, dem Verwaltungsrechtlichen und
dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wurden dreimal verlängert. Am 31. Dezember 2003 sollten sie endgültig auslaufen. Die von den Ländern erstellten Statistiken weisen aber eindeutig nach, dass noch immer eine
sehr große Anzahl von ehemals politisch Verfolgten
nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, einen
Antrag zu stellen. Deshalb haben die Fraktionen des
Deutschen Bundestages heute gemeinsam einen Gesetzentwurf eingebracht.
({0})
Ich gehe ganz kurz auf den Inhalt ein - ich will das
nicht weiter ausführen, weil das einen anderen Gegenstand betrifft -: Es werden nicht nur die Antragsfristen
bis 2007 - also um vier Jahre - verlängert, sondern auch
die Ausgleichszahlungen nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz erhöht.
Ich komme zurück zum Tätigkeitsbericht. Während in
den Tätigkeitsberichten 1 bis 5 insbesondere die Erfahrungen der Behörde mit der Arbeit in den ersten zehn
Jahren dargestellt wurden, stellt es sich beim Sechsten
Tätigkeitsbericht schon ein bisschen anders dar. Beim
Studium der gesamten Berichte ist es immer besonders
eindrucksvoll, dass kein einziger Fall bekannt geworden
ist, in dem jemand auf eigene Faust Vergeltung geübt
hat. Ich meine, das kann als Beweis dafür gewertet werden, wie verantwortungsbewusst und besonnen die Menschen mit der manchmal doch sehr schmerzlichen Wahrheit umgehen. Meine Hochachtung dafür!
({1})
In dem nunmehr Sechsten Tätigkeitsbericht wird
nicht nur auf die Arbeit der letzten zwei Jahre zurückgeblickt, sondern der Bericht widmet sich auch den
mittel- und langfristigen Entwicklungen, die der Behörde bevorstehen. In diesem Zusammenhang sind
meines Erachtens folgende Sachverhalte zu erwähnen:
erstens der Umgang mit den Rosenholz-Unterlagen;
zweitens die Änderungen des § 32 StUG, die wir am
6. September 2002 beschlossen haben; drittens die Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Zukunft der Außenstellen“;
viertens die Rekonstruktion vorvernichteter Unterlagen.
Zum Umgang mit den Rosenholz-Unterlagen wird
nachher noch meine Kollegin Marga Elser sprechen.
Ich möchte noch ganz kurz auf die anderen Punkte eingehen.
Die Bearbeitung von Forschungs- und Medienanträgen ist im Berichtszeitraum ins Stocken geraten. Mit
den Änderungen des § 32 StUG haben wir es durch die
Einführung eines Verfahrens zur Benachrichtigung der
betroffenen Personen ermöglicht, dass die Bearbeitung
fortgesetzt werden kann. In ähnlicher Form wurde dies
bereits seit Frühjahr 2001 praktiziert, und zwar zunächst
auf der Grundlage einer internen Richtlinie.
Bis August 2002 konnten 122 Personen der Zeitgeschichte, Amts- und Funktionsträger über die Absicht
der Behörde informiert werden, im Rahmen von Forschungs- und Medienanträgen gemäß § 32 ff. Unterlagen
über sie herauszugeben. Alle diese Verfahren und auch
die nachfolgenden sind - entsprechend der gesetzlichen
Regelung - einvernehmlich abgeschlossen worden.
Diese Beispiele zeigen: Die Novellierung war wichtig
und richtig.
({2})
Auch ich stimme der Einschätzung der Behörde zu,
dass die meisten der gesetzlich vorgegebenen Aufgaben
langfristig bestehen bleiben, wenn auch die Überprüfung
von Personen bezüglich der früheren Tätigkeit bei der
Stasi 2006 auslaufen wird. Das heißt, dass der folgende
Forschungsauftrag erhalten bleibt: „Aufarbeitung der
Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes durch Unterrichtung über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des
Staatssicherheitsdienstes.“ Wir müssen uns auch in diesem Zusammenhang mit den Außenstellen befassen. Das
werden wir im Innenausschuss tun. Ein Konzept ist vorgelegt worden. Darüber wird zu reden sein.
Wenn man an der Rekonstruktion vorvernichteter
Unterlagen - zur Erinnerung: 16 250 Säcke mit circa
600 Millionen Schnipseln harren der Dinge - im gleichen Tempo weiter arbeitete, würde man bis zur Vollendung - das wissen wir alle - 600 Jahre brauchen.
Dazu muss man sagen: Dank der fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese Arbeit geleistet haben,
konnten im Berichtszeitraum immerhin 41 000 Seiten
rekonstruiert werden.
Das Bundesministerium des Innern prüft zurzeit die
kürzlich von der BStU vorgelegte Machbarkeitsstudie
zur IT-gestützten Rekonstruktion vorvernichteter Unterlagen. Ich bin gespannt auf die Einschätzung des ITKonzepts mit Kosten für Hard- und Software, der technischen Machbarkeit und darauf, welche Erfolgsaussichten das Bundesministerium des Innern für eine IT-gestützte Rekonstruktion prognostiziert. Das sind wichtige
Aspekte, die wir im Zusammenhang mit diesem Sechsten Tätigkeitsbericht besprechen müssen. Dazu haben
wir im Innenausschuss ausreichend Zeit.
Ich kann für meine Fraktion hier sagen: Was machbar
ist, wollen wir auch machen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Büttner,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leeres
Haus!
({0})
Joachim Gauck sprach mit Blick auf die Zusammenarbeit von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen in Fragen
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes von einer Koalition der
Vernunft. Diese Koalition der Vernunft ist im vergangenen Jahr durch eine stürmische und strittige Diskussionsphase gegangen. Ich bin froh darüber, dass wir nach den
gegensätzlichen Meinungen zur Verwendung von Unterlagen zu Personen des öffentlichen Lebens wieder zu der
lange praktizierten guten Zusammenarbeit zurückgekehrt sind.
({1})
Ich finde die Zusammenarbeit der vier Fraktionen
- vielleicht hat sich mancher gewundert, dass wir auch
geklatscht haben, als jemand von den Sozialdemokraten
gesprochen hat - so wichtig, weil ich glaube, dass hierin
einer der Hauptgründe für die große Akzeptanz des
Stasi-Unterlagen-Gesetzes bei der Bevölkerung liegt.
Nach Geist und Buchstaben ist das Stasi-UnterlagenGesetz ein Öffnungs- und ein Opfergesetz.
({2})
Dem Einzelnen soll Klarheit über das Einwirken des
MfS auf seinen Persönlichkeitsbereich gegeben werden.
Die Chance, die eigene Biografie in Ordnung zu bringen,
haben mittlerweile mehr als 2 Millionen Menschen genutzt. Sie haben Einsicht in ihre Akte genommen.
Der Tätigkeitsbericht und vor allem die wieder nach
Deutschland zurückgekommenen Rosenholz-Unterlagen zeigen uns deutlich, dass das unselige Wirken des
Ministeriums für Staatssicherheit kein reines DDRThema, sondern ein gesamtdeutsches Thema war.
({3})
Wir wissen jetzt, dass die Aussage „Opfer gab es in Ost
und West, aber der Stasitäter kam ausschließlich aus
Deutschland Ost“ nicht nur zu undifferenziert, sondern
einfach falsch ist.
({4})
Im Laufe der Jahre haben 20 000 bis 30 000 Westdeutsche als inoffizielle Mitarbeiter für das MfS gearbeitet. Hoffentlich wird manch ein westdeutscher Redakteur
angesichts dieser Zahlen etwas demütiger, wenn er sich
an seine reißerische Berichterstattung über die Stasiverseuchung im Osten Deutschlands erinnert. Diese einseitige Betrachtungsweise hat nicht nur das Selbstwertgefühl der Menschen aus den neuen Bundesländern hart
getroffen; es hat auch dazu beigetragen, den Graben in
den Herzen und Hirnen der Deutschen zu vertiefen.
Diese Sicht ließ auch keinen Raum für die Wahrheit.
Auch in der DDR waren die Menschen, die Anstand behielten und Zivilcourage zeigten, in der Mehrheit.
({5})
Trotz schwierigster Umstände in einer Diktatur scheiterten drei von fünf Anwerbeversuchen des Staatssicherheitsdienstes. In Westdeutschland wurde eine Stasimitarbeit zumeist freiwillig erklärt - ohne die vielfältigen
Repressionen des SED-Staats. Geld und das politische
Ziel, den Sozialismus in allen Teilen Deutschlands voranzubringen, stand bei den meisten westdeutschen IM
im Vordergrund. Frau Birthler nannte es in einem Interview mit der „taz“ vom 14. September - ich zitiere „bemerkenswert, wenn Menschen der Demokratie den
Rücken kehren und mit dem Geheimdienst einer Diktatur zusammenarbeiten“. Ich kann ihr in der Schlussfolgerung nur zustimmen, wenn sie sagt, gerade die Geschichte der West-Linken könne schon etwas an
Aufarbeitung vertragen.
({6})
- Jetzt bitte auf der linken Seite des Hauses klatschen!
Besonders in diesem politischen Bereich können
mögliche zusätzliche Erkenntnisse aus den so genannten
Rosenholz-Unterlagen noch sehr hilfreich sein. Die
Rückholung der Datenträger mit den Kopien der mikroverfilmten Karteikarten der Hauptverwaltung Aufklärung ist ebenfalls ein gutes Beispiel für das positive Wirken der Koalition der Vernunft. Jahrelang haben wir uns
bemüht, die Datensätze zurückzubekommen. Die Berichterstatter der vier Fraktionen haben die Bundesregierung mit vielfältigen Aktivitäten in dem Ziel unterstützt,
dass die amerikanische Einstufung „Geheim“ zurückgenommen wird. Jetzt können wir die Rosenholz-Unterlagen so behandeln wie alle anderen Stasiunterlagen auch.
Eigentlich sind die Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes völlig ausreichend, damit die Behörde neu
auftauchende Erkenntnisse der zuständigen Stelle mitteilen kann, ohne dass ein Ersuchen vorliegt. Nur, für die
Beschäftigten in der Behörde ist es praktisch sehr
schwierig, die auftauchenden Namen einer zuständigen
Stelle richtig zuzuordnen. Aus diesem Grund unterstütze
ich nachdrücklich einen Beschluss meiner Fraktion,
nach dem wir uns als Abgeordnete unserer Vorbildfunktion bewusst sein müssen und uns erneut freiwillig überprüfen lassen sollten.
({7})
Deshalb habe auch ich einen Antrag unterschrieben, um
mich ein viertes Mal auf Stasi-Mitarbeit überprüfen zu
lassen. Ich bin gespannt, was diesmal dabei herauskommt.
({8})
Hartmut Büttner ({9})
Ich finde es ebenfalls gut, dass FDP und Grüne dieses
Thema ebenso offensiv angegangen sind und den
Mitgliedern ihrer Fraktionen eine erneute Überprüfung
empfohlen haben. Positiv im Sinne des vereinten
Deutschlands ist es auch, dass nicht nur die Landtagsabgeordneten der östlichen Bundesländer, sondern auch die
Abgeordneten zumindest einiger westdeutscher Landtage sich überprüfen lassen wollen. Ich möchte hier beispielhaft Niedersachsen, Hamburg und Baden-Württemberg nennen.
({10})
Umso mehr fällt auf, dass die Sozialdemokraten in
Bund und Ländern zögerlich bis ablehnend an diese
Frage herangehen.
({11})
Ich will es mir mit Blick auf unsere gerade wiederhergestellte gemeinsame Aktionsfähigkeit versagen, dies hier
weiter zu vertiefen. Ansonsten könnte ich Ihnen schon
einen sehr bunten Strauß von Zitaten zahlreicher SPDKollegen hierzu vortragen.
({12})
Es wäre aber wohl, wie ich denke, ein Akt politischer
Hygiene und ein Wahrnehmen des Vorbildcharakters,
wenn auch die SPD-Bundestagsfraktion wie die anderen
Fraktionen dieses Hauses entsprechende Beschlüsse fassen und Empfehlungen aussprechen würde.
({13})
Mein Appell, erneut einen Antrag zu stellen, richtet
sich an alle Bundestagskollegen, egal, wo sie politisch
stehen und aus welcher Region sie kommen.
Herr Kollege Büttner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Selbstverständlich.
Geschätzter Kollege Büttner, sind Sie nicht der Meinung, dass Sie den wichtigen Aspekt von Freiwilligkeit
diskreditieren, wenn Sie mit solchen Einlassungen durch
die Hintertür irgendeine Art von Druck ausüben? Sehen
Sie, Sie haben jetzt zum vierten Mal und ich zum dritten
Mal freiwillig einen Antrag gestellt. Ich hätte ein großes
Problem damit, wenn man mich dazu zwingen würde,
aber freiwillig tue ich das so gerne, wie auch Sie es vermutlich getan haben. Meinen Sie nicht, dass man das
Prinzip Freiwilligkeit von Anfang bis Ende ernst nehmen sollte und es einfach so im Raum stehen lassen
sollte? Im Parlament sitzen erwachsene Menschen, die
für sich eine Entscheidung treffen können. Der Prozess
ist noch nicht abgeschlossen. Meinen Sie nicht, dass man
sich die Parteipolitik in kleiner Münze an dieser Stelle
schenken sollte?
({0})
Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe vor der Freiwilligkeit und der Souveränität der Abgeordneten hohen
Respekt. Eine andere Möglichkeit gibt es auch gar nicht.
Aber es ist schon ein Unterschied, ob Fraktionen nichts
dazu sagen oder ob sie wie die FDP-Fraktion, die Fraktion der Grünen oder die CDU/CSU-Fraktion ihren Mitgliedern empfehlen - bei einer Enthaltung haben wir
diese Empfehlung einstimmig ausgesprochen -, sich
bitte noch einmal freiwillig überprüfen zu lassen. Ich
denke, das ist ein Akt der Solidarität.
({0})
Ich hätte normalerweise hier kein Salz in die Wunde gestreut. Ihre und die Äußerungen anderer, die ich hier in
den Unterlagen habe, sind bemerkenswert genug.
Sie wissen auch, dass ich versuche, die Zusammenarbeit aller Bundestagsfraktionen überall zu pflegen. Sie
ist mir gerade deshalb so wichtig, weil wir gemeinsam
aktionsfähig bleiben müssen. Als sich die letzten Tage
der DDR abzeichneten, ergriff die damaligen Machthaber und ihre Vasallen nämlich Panik. Alles, was an belastendem Material vorhanden war, sollte vernichtet
werden. Vieles wurde auch endgültig vernichtet, aber
nicht alles. In Zirndorf, in Bayern - Sie haben es erwähnt, Frau Wittig -, lagern derzeit circa 600 Millionen
Schnipsel in 16 250 Säcken - und das sind nur die zerrissenen Unterlagen. In mühsamer Handarbeit gelang es in
den letzten Jahren einer Projektgruppe von 40 Mitarbeitern, circa 550 000 Einzelblätter wieder zusammenzusetzen. Die Dimension ist wahrlich gigantisch. Wenn die
Geschwindigkeit von heute beibehalten wird, dann haben wir die Chance, in 375 Jahren mit dieser Arbeit fertig zu werden. Diese Puzzlearbeit ist wie das Ausschöpfen des Ozeans mit einem Teelöffel.
Häufig sind es aber nur diese zusammengesetzten
Seiten, die den Tätern von gestern auch heute noch zum
Verhängnis werden. So wurde hierdurch beispielsweise
ein Professor Bress aus Kassel enttarnt. Bress hatte
länger als 30 Jahre für ein Agentenhonorar von
350 000 DM für die Stasi im Westen spioniert. Ebenso
fanden sich entscheidende Beweise gegen den Thüringer
Landesbischof Braecklein oder den Literaten Anderson
in den Säcken mit den vorvernichteten Unterlagen. Aber
es wurden nicht nur Täter enttarnt. Es wurden auch
wichtige Unterlagen über Stasiopfer entdeckt, zum Beispiel Akten über Bärbel Bohley oder Werner Fischer.
Es gibt jetzt neue technische Möglichkeiten; Frau
Wittig hat sie angesprochen. Es war erneut ein gemeinsamer Antrag und Parlamentsbeschluss vom Dezember
2000, mit dem wir die Ablösung des manuellen Verfahrens durch eine IT-gestützte Lösung gefordert haben.
Hartmut Büttner ({1})
Der Deutsche Bundestag forderte in seinem Beschluss
die Bundesregierung auf, diese Bemühungen im Rahmen des finanziell Vertretbaren zu unterstützen. Aus
13 verschiedenen Anbietern ist in einer europaweiten
Ausschreibung ein Anbieter ausgesucht worden.
Eine Machbarkeitsstudie, die den Rekonstruktionszeitraum auf fünf Jahre abkürzen würde, liegt uns derzeit
zur Entscheidung vor. Allein durch dieses Verfahren sind
die erheblichen Mittel, die wir dazu brauchen, bereits
ziemlich zusammengeschrumpft. Es sind aber immer
noch, Herr Wiefelspütz, knapp 58 Millionen Euro, die
wir in fünf Jahren zu schultern haben. Wir haben in ersten Bewertungen gemeinsam mit Mitgliedern des Haushaltsausschusses versucht, diese Summe noch etwas zu
drücken. Auch wollen wir Verwerfungen wie bei anderen privat-staatlichen Kooperationen - ich nenne hier
nur die LKW-Maut - gar nicht erst entstehen lassen.
Jetzt wird sich auch erweisen, was an Ihren vollmundigen Erklärungen dran ist, Herr Wiefelspütz. Sie haben
bei der Ablehnung eines recht bescheidenen Haushaltsantrages meiner Fraktion zu diesem Bereich im letzten
Jahr argumentiert: Herr Büttner, wenn diese Lösung umsetzungsreif ist und wir Geld in die Hand nehmen müssen, werden wir für die notwendigen finanziellen Mittel
sorgen.
({2})
Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Unsere Unterstützung hierfür haben Sie.
Danke schön.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre
schön, wenn Sie weiter zuhören und nicht so viel Unruhe
in den ersten Reihen verbreiten würden. Herr Kollege
Wiefelspütz, setzen Sie sich doch einfach auf Ihren
Platz.
({0})
Der neue Bericht von Marianne Birthler zeigt, wie unverzichtbar die Arbeit der Behörde nach wie vor ist.
Auch wenn die Zahl der Bürgeranträge auf Einsicht in
ihre Stasiakten langsam geringer wird, ist die Zahl viel
höher, als 1991 bei Erlass des Gesetzes vorhergesagt
wurde. Es ist erfreulich, dass die Wartezeiten für die Betroffenen kürzer werden. Über viele Jahre werden aber
noch Anträge in großer Zahl eingehen und abgearbeitet
werden müssen.
Das gilt auch für die Anfragen im Zusammenhang mit
den Rehabilitierungsverfahren nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen. Wir haben das hier angesprochen. Der Gesetzentwurf, der die Verlängerung der
Antragsfristen um vier Jahre enthält, wird hier morgen
parteiübergreifend eingebracht werden. Ich denke, wir
haben hier ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt. Bei
allen Streitereien haben wir unsere parteipolitischen Differenzen einmal beiseite gelegt und im Interesse der Opfer ein - wenn auch kleines und bescheidenes - immerhin gemeinsames Ergebnis zustande gebracht.
({1})
Weit über die persönliche Betroffenheit hinaus ist das
Interesse an der deutsch-deutschen Vergangenheit ungebrochen. Das hat die große öffentliche Aufmerksamkeit
am 50. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 gezeigt. Es gab nicht nur in den neuen Bundesländern sehr
viele Veranstaltungen, sondern die Erinnerung an diesen
17. Juni ist zu einem gesamtdeutschen Ereignis geworden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte und
mit diesem Datum fand bundesweit statt.
Auch das ist hier angesprochen worden: Gerade die
Bildungsarbeit der Birthler-Behörde wird in Zukunft
immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wir alle werden
dafür sorgen - das ist in den Redebeiträgen hier deutlich
gemacht worden -, dass die Arbeit dieser Behörde kein
Ostereignis ist, sondern dass zwölf Jahre nach der Einrichtung der Behörde die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit ein gesamtdeutsches Thema ist.
({2})
Meine Damen und Herren, die Rosenholz-Unterlagen sind schon angesprochen worden. 381 CDs sind,
nachdem sie leider lange Zeit in den USA „zwischengelagert“ waren - wie auch immer sie dorthin gekommen
sind -, jetzt wieder in deutscher Hand. Die technische
Aufbereitung dieser CDs ist sehr schwierig. Bis die Dateien zur Verfügung stehen, wird es also noch eine ganze
Weile dauern.
Ich finde es richtig, dass wir die Überlassung der Rosenholz-Akten zum Anlass nehmen, noch einmal einen
Appell an die Abgeordneten aller Fraktionen zu richten
- auch meine Fraktion hat das gemacht -, freiwillig „in
sich zu gehen“. Dies wäre ein Signal, dass es eben kein
reines Ostproblem, sondern auch ein Westproblem ist.
({3})
Im Intranet des Bundestages findet sich dazu ein einfaches Formular - es muss lediglich ausgedruckt und unterschrieben werden -, mit dem man sich damit einverstanden erklären kann, überprüft zu werden.
Auch das Problem der 14 Außenstellen der BirthlerBehörde wurde schon angesprochen. Es war richtig, die
Birthler-Behörde bei ihrer Einrichtung dezentral aufzubauen; aber wir alle wissen, dass wir die große Anzahl
an Außenstellen nicht aufrechterhalten können. Ich finde
es gut, dass die Birthler-Behörde nicht herumgejammert
hat, als das Parlament erklärt hat - es geht hier auch um
Eingrenzung der Arbeit und um die damit verbundenen
Reformen -, dass die Anzahl der Außenstellen nicht erhalten werden kann. Man hat sich zusammengesetzt und
ein Konzept erarbeitet. Meine Fraktion unterstützt dieses
Konzept und wir werden auch die Finanzierung des damit verbundenen Umbaus mittragen. Ich bin mir sicher,
dass wir auch in dieser Frage gemeinsam zu einer Lösung kommen werden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich habe leider nicht so
viel Redezeit wie die Redner der großen Fraktionen.
({5})
- Ja, es wäre wirklich schön, wenn ich meine Gedanken
hier einmal etwas länger ausführen könnte.
({6})
Lassen Sie mich aber noch die bereits erwähnten vielen Schnipsel ansprechen - Herr Wiefelspütz, das ist
wichtig -, in denen unendlich viele Informationen, insbesondere aus den 80er-Jahren, stecken. Wir haben ein
großes Interesse daran, die Schnipsel in absehbarer Zeit
zusammenzufügen, was jetzt technisch machbar ist.
Dazu müssen wir die entsprechende Finanzierung sicherstellen und das nötige Geld bereitstellen; denn es
handelt sich um Akten, die einen Teil der deutschen Geschichte ausmachen.
Zum Schluss möchte auch ich im Namen meiner
Fraktion den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der
Birthler-Behörde für ihre geleistete Arbeit danken.
({7})
Der Dank gilt natürlich auch der Leitung, Frau Birthler
und Herrn Direktor Altendorf. Ich bedanke mich auch
für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit allen Fraktionen dieses Hauses und wünsche mir, dass wir
diese in gleicher Weise fortsetzen.
Danke schön.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Sechste Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik setzt in
diesem Jahr einen wichtigen Schwerpunkt: Neben der
Rückschau auf die seit 2001 geleistete Arbeit wirft er
auch einen besonderen Blick auf die aktuelle Situation
der Behörde sowie auf künftige Herausforderungen und
Schwerpunkte.
Der Auftrag dieser Behörde, die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes aufzuarbeiten, hat sich über die
Jahre, zunächst unter der Leitung von Herrn Gauck und
nun unter der Leitung von Frau Birthler, sehr bewährt.
Ich hätte ihr gern persönlich gedankt, aber leider ist sie
nicht hier. Ebenso möchte auch ich mich natürlich bei
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken. Ich bin
sicher, dass jemand den kollektiven Dank des Plenums
weiterleiten wird.
({0})
In den letzten Jahren sind wichtige Schritte zur Aufarbeitung der Stasitätigkeit gegangen worden. Die Rückgabe der so genannten Rosenholz-Unterlagen - sie
wurde hier schon mehrfach angesprochen - ist ein solcher Schritt. Die jahrelangen Bemühungen dieser Behörde haben sicherlich maßgeblich dazu beigetragen.
Die Dateien sind insbesondere für die Erforschung der
Westarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit von
großem Interesse. Auch das ist hier schon gesagt worden.
Ich weise in diesem Zusammenhang aber noch einmal
besonders gern darauf hin, dass die FDP-Bundestagsfraktion sich als erste Fraktion für eine freiwillige Überprüfung auf eine Stasimitarbeit bei ihren Abgeordneten
und deren Mitarbeitern ausgesprochen hat.
({1})
Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass jetzt, da die
Verstrickungen auch in Westdeutschland besser beurteilt
werden können, mit zweierlei Maß gemessen wird.
({2})
Für die Legitimation als Volksvertreter ist es aus unserer
Sicht selbstverständlich, dass sich jeder Abgeordnete des
Bundestages, aber auch jedes Landtages, auf eine Stasimitarbeit überprüfen lässt.
({3})
Herr Kollege Wiefelspütz, bevor Sie eine Zwischenfrage
stellen,
({4})
kann ich Ihnen sagen, dass es aus meiner Sicht auch eine
Art kollektive Bitte bezüglich der Freiwilligkeit gibt.
Die würde ich mir auch bei Ihnen wünschen.
({5})
Wir als FDP und auch die anderen gehen mit gutem Beispiel voran.
({6})
An dieser Stelle möchte ich aber auch noch einmal
darauf hinweisen, dass für die FDP der Opferschutz ein
wichtiges Thema im Rahmen der Aufarbeitung von
DDR-Unrecht war. Dem wurde durch die Behörde bisher in aller Regel Rechnung getragen. Ich möchte aber
auch daran erinnern - jetzt darf ich meine Fraktion zum
zweiten Mal loben -, dass erst durch die Mitwirkung der
FDP-Bundestagsfraktion in der letzten Legislaturperiode
der Opferschutz ausreichend gewährleistet wurde.
({7})
- Ja. Da klatscht nur meine Fraktion. Das haben Sie jetzt
verpasst, Herr Wiefelspütz. Das kann ich leider auch
nicht ändern; es tut mir Leid für Sie.
Wenn wir jetzt einen Blick in die Zukunft werfen, so
kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass auch die
Birthler-Behörde den strukturellen Veränderungen nicht
entgehen kann. Beeinflusst durch die engen finanziellen
Spielräume, die Modernisierung der Verwaltung und die
Aufgabenentwicklung ist es notwendig geworden, über
neue Strukturen nachzudenken. Dies ist auch geschehen,
insbesondere mit dem Konzept zur Zukunft der Außenstellen. Dieses Konzept kommt zu dem Ergebnis, dass
nicht mehr alle Aufgabenbereiche in jeder Außenstelle
abgedeckt werden können. Darauf zu reagieren wird aus
unserer Sicht der erste Schritt sein. Erforderlich ist sicherlich eine bedarfsgerechte Strukturanpassung,
({8})
über die wir hier noch im Einzelnen werden beraten
müssen.
Weiter möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die vorvernichteten Akten richten. Auch darüber ist hier schon
im Detail gesprochen worden. Es kann unserer Meinung
nach nicht sein, dass diejenigen, deren Akten nicht zerrissen worden sind, zur Rechenschaft gezogen werden,
und diejenigen, die das Glück haben, dass ihre Akten
zerrissen wurden, nicht „verfolgt“ werden und sich der
Strafverfolgung entziehen können. Das ist aus unserer
Sicht nicht im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates. Deshalb haben wir immer darauf hingewiesen, dass
dieses Thema hier weiter aufgearbeitet werden muss.
({9})
In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Fristverlängerung bis zum Ende des Jahres 2007 zu sehen,
die jetzt erfolgt ist; denn dieses aufwendige Verfahren
macht nur Sinn, wenn man als Betroffener auch die
Möglichkeit zur Rehabilitierung bekommt oder Anträge
stellen kann. Sonst würde die Fristverlängerung ins
Leere laufen.
({10})
Die Kosten für die Wiederherstellung der Unterlagen
sollen allerdings erst im Jahr 2005 in den Bundeshaushalt eingestellt werden. Das ist aus unserer Sicht zu spät.
Herr Wiefelspütz, ich nehme Sie da beim Wort: Sie haben gesagt, das sei nicht das Schlupfloch dafür, dass wir
zu keinem Ergebnis kommen.
({11})
Ich kann mich erinnern: Sie haben versprochen, dass
dies im Jahr 2004 geschieht. Leider ist das nicht der Fall.
Wir werden Sie beim Wort nehmen und bei Gelegenheit
wieder zitieren, vielleicht dann auch länger; auf Ihren
Wunsch mache ich das gerne.
({12})
Zum Abschluss möchte ich mich bei allen Fraktionen
dieses Hauses für den Konsens bei der Erweiterung des
Beirates bedanken.
({13})
- Deshalb bedanke ich mich ja auch.
({14})
Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft bei diesem Thema
fraktionsübergreifend so gut zusammenarbeiten, ganz im
Sinne der „Koalition der Vernunft“.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marga Elser, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist eigentlich schade, dass wir über diesen Stasiunterlagenbericht zu relativ später Stunde diskutieren. Denn
ich denke schon, dass dieser Bericht in der Bevölkerung
einen Wert darstellt. Deshalb hätte darüber meines Erachtens zu einem besseren Zeitpunkt an diesem Tag debattiert werden müssen. - So weit, so gut.
({0})
Es ist ein gutes Zeichen für unsere Demokratie, dass
wir heute über den Sechsten Tätigkeitsbericht der Stasiunterlagenbehörde diskutieren. Dies ist auch deshalb
gut, weil die Bevölkerung die vormals Gauck- und jetzt
Birthler-Behörde angenommen hat. Es besteht sowohl
seitens der ehemaligen DDR-Bürger, der Bundesbürger
überhaupt und der Behörden als auch seitens der Wissenschaft ein großes öffentliches Interesse. Die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur ist noch lange
nicht abgeschlossen.
Mittlerweile 5 Millionen Anträge sind ein Zeichen
dafür, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz von der Bevölkerung akzeptiert wird. Das sind 1,6 Kilometer neu erschlossene Stasiunterlagen, monatlich 8 000 Anträge auf
Akteneinsicht, Kopienherausgabe und Decknamenentschlüsselung, 17 000 Überprüfungsersuchen der LuftMarga Elser
fahrtbehörden und weit mehr als 10 000 Überprüfungsersuchen des öffentlichen Dienstes.
Ich danke der Bundesbeauftragten Marianne Birthler
und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren
Einsatz. Sie verdienen ein großes Kompliment für die
hervorragende Arbeit, die manchmal auch eine Kärrnerarbeit ist. Die Birthler-Behörde ist ein fester und überaus
wichtiger Bestandteil der Aufarbeitung der DDR-Geschichte.
Das politische Gedenken an den 50. Jahrestag des
Volksaufstandes am 17. Juni 1953 zeigt mir, wie wichtig
die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes war.
Viele Forschungs- und Filmprojekte hätten sonst nur bedingt oder überhaupt nicht bearbeitet werden können.
({1})
Ich bin froh, dass uns nun Bücher, Filme usw. zur Verfügung stehen. Ich habe diese zum Beispiel an die Schulen
in meinem Wahlkreis weitergegeben. Sie sind auf sehr
großes Interesse gestoßen.
Der Sechste Tätigkeitsbericht widmet sich wieder einem ganz speziellen Thema: den Stasihandlungen in
der alten Bundesrepublik, vor allem den so genannten
Rosenholz-Dateien. Die Bundesregierung und der Bundestag haben sich mit Erfolg bemüht: Der US-Geheimdienst CIA hat diese Stasiunterlagen jetzt an uns zurückgegeben. Das trägt sicher dazu bei, dass ein ganz
bestimmter Arbeits- und Wirkungsbereich der Staatssicherheit durchleuchtet werden kann: Was hatte die
Stasi im Westen Deutschlands zu tun? Wen hat sie angeworben? Wie sind die Mühlen beschaffen, durch die unbescholtene Bürger verstrickt wurden? Von daher können wir die Rosenholz-Dateien für die geschichtliche
Aufarbeitung nur begrüßen.
Die Birthler-Behörde wird gewiss Jahre brauchen, alle
relevanten Informationen zusammenzutragen und einen
Gesamtzusammenhang herzustellen. Man muss deshalb
den Menschen immer wieder klar machen, dass wir mit
dieser Aufarbeitung erst am Beginn stehen und sie unter
Umständen Geduld haben müssen. Wir müssen doch nur
bedenken, dass auch die Aufarbeitung der NS-Zeit heute
noch nicht abgeschlossen ist und vermutlich nie abgeschlossen werden kann. Auch die Rosenholz-Dateien
werden uns bestimmt noch sehr lange beschäftigen.
Mit dem Auftauchen dieser Daten erleben wir zurzeit
eine etwas aufgeregte Debatte. Das ist vorhin schon diskutiert worden. Auch der Deutsche Bundestag hat sich
schon mit dieser Frage beschäftigt. Jeder Abgeordnete
kann freiwillig überprüfen lassen, ob in seinem Fall etwas vorliegt. Auch ich habe mich überprüfen lassen,
weil der Geschäftsführer unserer Fraktion Wilhelm
Schmidt uns einen Brief geschrieben hat,
({2})
in dem er uns darauf hingewiesen hat, dass wir uns überprüfen lassen können. Das ist freiwillig. Ich bin dafür.
({3})
Meiner Ansicht nach ist das eine gute Lösung, weil dadurch kein künstlich erzeugter Druck auf die Kollegen
ausgeübt wird. Es kann keinen Generalverdacht geben.
Stellen Sie sich doch einmal vor, dass die Gemeindeverwaltungen in meinem Wahlkreis in Baden-Württemberg sich ohne irgendeinen Anlass einer Generalüberprüfung unterziehen müssten! Dort, wo es angezeigt ist,
finden schon Überprüfungen statt. Deshalb sage ich
noch einmal: Einen Generalverdacht darf es nicht geben.
({4})
Für wichtig halte ich die Rekonstruktion und die Erschließung der vorvernichteten Unterlagen. Dazu ist
schon viel gesagt worden. Ich weiß, dass es eine Studie
gibt, mit der uns zu befassen wir im Innenausschuss Gelegenheit haben werden. Dann können wir die entsprechenden Entscheidungen fällen. Ich hoffe da auf allgemeine Zustimmung.
Über den Tag hinaus werden uns die Publikationen,
wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungen helfen,
unsere gemeinsame Geschichte transparent zu machen.
Ich möchte, dass wir jungen Menschen, Schülerinnen
und Schülern im Rahmen der politischen Bildung dabei
helfen, ein politisches Bewusstsein für dieses Thema zu
entwickeln. Das macht die Birthler-Behörde. Das ist eine
ganz wichtige Aufgabe, deren Bedeutung wir nicht hoch
genug einschätzen können.
Danke.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dorothee Mantel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den
vorgelegten Tätigkeitsbericht kann man durchaus als
eine Art politische Zwischenbilanz auffassen. Ohne Frau
Birthler einen Erfolg absprechen zu wollen: Das Wort
„Zwischenbilanz“ hört sie selbst vermutlich gar nicht
gerne. Denn meistens vermitteln Zwischenbilanzen das
Gefühl, ein guter Teil der Arbeit sei schon getan. Doch
sie selbst kann wahrscheinlich am besten erkennen, welche Arbeit noch vor ihr liegt.
Meinen Dank für die bisherige Arbeit möchte ich ihr
persönlich, ebenso aber allen Mitarbeitern aussprechen.
({0})
Ich denke, es ist gerechtfertigt, in diesem Zusammenhang von einer wirklich mühseligen Arbeit zu sprechen,
die sie leistet und noch zu leisten hat. Denn auch was die
Rekonstruktion der sprichwörtlichen Informationsschnipsel betrifft, liegt die Arbeit noch vor ihr. Das haben wir heute schon mehrmals gehört.
Eine politische Zwischenbilanz kann gut gezogen
werden. Die Leitfrage meiner Generation ist: Wie gehen
wir mit unserer jüngsten Vergangenheit um?
Die Konstruktion der ehemaligen Gauck-Behörde
und heutigen Birthler-Behörde hat sich zu einem deutschen Exportschlager entwickelt. Nicht nur die moralische Pflicht, in die Deutschland sich begeben hat, ist international vorbildlich; auch die organisatorische
Konstruktion der Behörde ist beispielhaft. Die Arbeit
findet international Anerkennung.
({1})
- Ihr Lob, Herr Wiefelspütz, tut gut.
({2})
Auf eine organisatorische Entwicklung möchte ich in
diesem Zusammenhang näher eingehen: die Zukunft
der Außenstellen.
Die Struktur der Behörde und damit die Zahl der Außenstellen ist, wie Sie wissen, in der historischen Struktur des Aufbaus des Ministeriums für Staatssicherheit
begründet. Die Außenstellen machen heute die Arbeit
der Behörde sichtbar und auch erlebbar. Sie sind sozusagen der Kontakt und die Öffnung zur Bevölkerung. Wie
dem Bericht der Arbeitsgruppe „Zukunft der Außenstellen“ zu entnehmen ist, wurden die Vorschläge für eine
künftige Struktur sehr sorgsam vorbereitet. Man kann
durchaus sagen, dass an die Vorbereitung dieser Entscheidung mustergültig herangegangen wurde.
({3})
Auch die Rolle von Frau Birthler, die mit sehr viel Sensibilität vorgeht, möchte ich hier nochmals lobend hervorheben.
({4})
Für einen speziellen Bereich der Arbeit sind die Außenstellen von großer Bedeutung, nämlich für die politische Bildung. Mir ist an der Arbeit der Birthler-Behörde
sehr wichtig, dass die politische Bildung zum Anspruch
und zum Selbstverständnis gehört. Es zeigt sich, dass die
Anstrengungen in diesem Bereich schon Früchte tragen.
Erfreulich ist auch die Tatsache, dass zwei Drittel der
Besucher des Dokumentationszentrums in Rostock Jugendliche waren. Auf die politische Bildung gerade für
Jugendliche und die Kooperation mit Schulen muss auch
künftig großer Wert gelegt werden;
({5})
denn auch das Wissen um die jüngste deutsche Geschichte gehört zur staatsbürgerlichen Bildung.
Meine Damen und Herren, wichtig ist mir, dass die
Bundesbeauftragte, Frau Birthler, erkennt, welche wichtige Stellung ihre Behörde in der politischen Bildung
schon mittelfristig einnehmen kann und auch einnehmen
muss. Die Birthler-Behörde kann einen wichtigen Bereich der politischen Bildung ausfüllen. Der Kontakt mit
Schulen und Angebote für Jugendliche müssen künftig
noch verstärkt werden; denn es zeigt sich, dass diese Angebote angenommen werden.
Meine Leitfrage nach dem Umgang mit unserer Vergangenheit ist in Bezug auf die politische Bildung demnach positiv zu bewerten. Aufarbeitung muss gerade
auch für die Generationen stattfinden, die keine eigenen
Erinnerungen an diese Vergangenheit haben. Dieses Bewusstsein ist vorhanden.
Die Inanspruchnahme der Behörde durch Bürger aus
Ost und West zeigt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit keine spezifisch ostdeutsche Angelegenheit ist.
Die Aufarbeitung betrifft ganz Deutschland.
({6})
Daher sollte es in ganz Deutschland Vorbilder geben, die
sich überprüfen lassen.
Ich möchte damit nochmals auf unsere Rolle als Abgeordnete zu sprechen kommen. Vielleicht hat es eine
andere Wirkung, wenn eine der jüngsten Abgeordneten
dazu etwas sagt. Vielleicht muss die Forderung, sich
freiwillig überprüfen zu lassen, gerade von den jungen
Abgeordneten ausgehen und vielleicht müssen es auch
gerade die jungen Abgeordneten sein, die den Finger auf
diese Wunde legen. Ich selbst habe auch einen Antrag
auf eine Überprüfung gestellt. Diesem Antrag wurde
nicht entsprochen, da ich zum Zeitpunkt der Auflösung
des Staatssicherheitsdienstes noch nicht volljährig war.
({7})
- Es heißt aber auch, dass man sich über die Eltern überprüfen lassen kann, da die Kinder in den Unterlagen über
die Eltern aufgeführt sind, Herr Kollege.
Damit möchte ich sagen, dass ich einen Antrag auf
Überprüfung gestellt habe, obwohl die Umstände offensichtlich waren. Das Zögern mancher Kollegen, sich
überprüfen zu lassen, ist aus meiner Sicht unverständlich.
({8})
Eines vielleicht noch als Antwort auf Ihre Zwischenfrage, die Sie vorhin gestellt haben, Herr Kollege
Wiefelspütz: Manchmal müssen Leute - das gilt auch für
Abgeordnete - zu ihrem Glück gezwungen werden.
({9})
- Herr Wiefelspütz, wir setzen uns einmal nach der Debatte zu zweit zusammen und dann erkläre ich Ihnen,
was ich damit gemeint habe.
({10})
Gerade die jungen Menschen in Deutschland, die
selbst wenig oder nichts vom Ende der DDR bewusst
miterlebt haben, sollten die Politik und auch uns Politiker als Vorbild wahrnehmen. Sie sollten wahrnehmen,
dass der Umgang mit der Vergangenheit nie ein theoretischer bleiben darf, sondern immer auch ein persönlicher
sein muss. Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit
um? - Meiner Einschätzung nach sehr verantwortungsbewusst. Die heute wieder hoch gelobte „Koalition der
Vernunft“ muss deshalb dafür sorgen, dass wir auch
künftig die politischen Rahmenbedingungen dafür erhalten.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1530 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten HansJoachim Otto ({1}), Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP
Errichtung einer Stiftung „Staatsoper Unter
den Linden“
- Drucksache 15/1790 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Bernd Neumann ({3}), Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten HansJoachim Otto ({4}), Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP
Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur
- Drucksache 15/1973 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Natürlich muss man sich bei Ihnen allen und
auch bei unseren Zuschauern herzlich bedanken, zu dieser Stunde überhaupt noch sprechen zu dürfen. Eigentlich sollten wir besser woanders sein, am besten in der
Oper.
({0})
Warum? Vor 24 Stunden waren einige von uns Zeuge
einer eindrucksvollen Veranstaltung im Kanzleramt, bei
der es um die schönen Künste ging.
({1})
- Sie war in der Tat sehr gut. - Ich bedanke mich für die
Einladung. Da das gesprochene Wort gilt, bekenne ich,
dass ein Satz von Ihnen bei mir besonders haften geblieben ist, Frau Ministerin Weiss. Sie sagten nämlich - darum geht es heute -, Kultur mache glücklich.
({2})
Niemand weiß so gut wie diejenigen, die sich mit den
schönen Künsten gern beschäftigen und sie auch genießen, dass es ein ganz besonderes Unglück ist, wenn Kultureinrichtungen kaputtgehen oder unnötig zugrunde gerichtet werden.
Wir haben gerade eine interessante Debatte über Hinterlassenschaften der ehemaligen DDR gehört. Zu einem weiteren, nicht immer rühmlichen Kapitel gehört
die Frage des Umgangs mit Kulturgütern - Museen, Orchestern, örtlichen Theatern - in den Ländern der ehemaligen DDR. Jeder weiß, wie viel Frust und Ärger hier
entstanden ist. So reden wir nun über eine Staatsoper, die
über viele Generationen hinweg als das bedeutendste
Opernhaus von ganz Deutschland galt und die in unseren
Tagen einer der wichtigsten Kulturorte des wiedervereinigten, europäischen Deutschlands ist: die Staatsoper
Unter den Linden.
({3})
Über dieses Thema wird heute nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern wurde heute auch im Berliner
Abgeordnetenhaus diskutiert. Sie wissen, dass der Kultursenator von Berlin, Herr Flierl, ein ganz bestimmtes
Konzept ausgearbeitet hat, das offensichtlich mit der
Bundesregierung abgestimmt ist. Über dieses Konzept
hat heute im Berliner Abgeordnetenhaus kein Vertreter
der CDU oder der FDP, sondern eine Vertreterin der
Grünen wie folgt geurteilt. Mir liegt hier eine Meldung
des „Deutschen Depeschen Dienstes“ von vor wenigen
Stunden vor, in der es heißt:
Grünen-Kulturexpertin Alice Ströver kritisierte im
Berliner Abgeordnetenhaus heute das Senatskonzept als Etikettenschwindel.
({4})
Die Behauptung der Koalition, wonach Berlin auf
Dauer drei Opern finanzieren könne, sei Augenwischerei.
({5})
Damit bestätigt diese Politikerin, was vor wenigen
Tagen in einem Interview des „Tagesspiegels“ mit Herrn
Holender, dem langjährigen Direktor der Wiener Staatsoper, zu lesen war. Herr Holender wurde als aktueller
Berater der Berliner Kulturszene gefragt, was hinter den
merkwürdigen Plänen des Senators stecke. Er antwortete, dahinter stecke „ein milder Weg zur Vereinigung“.
Damit ist gemeint, man wolle sich heute nicht bekennen
und nicht offen zugeben, dass man in Berlin keine drei
Opernhäuser halten könne.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden
sich wundern, warum sich hier ein Vertreter aus München des Anliegens der Erhaltung der Berliner Opernlandschaft annimmt. Ich glaube, dass diejenigen Recht
haben, die sagen, es sei allem Föderalismus zum Trotze
eine gesamtstaatliche Aufgabe
({6})
- ich habe dies immer getan und kann dafür auch Belege
nennen -, dass wir alle für Berlin als Kulturhauptstadt
des wiedervereinigten Deutschlands einen Beitrag leisten müssen.
({7})
Es gibt einen prominenten Bayern, August Everding,
der vor zehn Jahren in seiner Rede anlässlich der Protestveranstaltung des Deutschen Bühnenvereins in Berlin
zur Schließung des Schiller-Theaters, das zu Ihrer
Freude die andere politische Seite zu verantworten hatte,
Folgendes erklärt hat:
Hier soll ein Zeichen gesetzt werden - ein falsches.
Hier soll gespart werden - so nicht. Das hat Schiller
nicht verdient. Und Berlin auch nicht.
Er schließt:
Natürlich weiß ich um die Finanznöte in unserem
wiedervereinigten Land. Erst recht um die Notwendigkeit des Sparens, auch in der Kultur, auch im
Theater. Ich weiß aber auch, wie wichtig gerade in
diesen Zeiten fehlender Orientierung, materieller
Not und mangelnder Perspektiven die Kultur ist: ja,
auch als Lebenshilfe.
Ich halte es für ein Armutszeugnis, dass wir in unserem wiedervereinigten Land, in dem Geld in so vielen
Fällen unnötig rausgeschmissen wird - jede Politikerin
und jeder Politiker in diesem Rund kennt genügend Beispiele -, nicht die Kraft haben sollen, ein Opernhaus dieser Qualität zu unterstützen und seine Sache zu der unsrigen zu machen.
({8})
Es waren Sie, Frau Weiss, die geschrieben hat:
Wo Theater und Museen geopfert werden, nur weil
man nicht bereit ist, den steinigen Weg der Reformen zu gehen …
An einer anderen Stelle steht:
Schließungen sind immer nur das Ergebnis von
kunstfeindlicher Denkfaulheit.
Denkfaulheit steckt auch hinter Ihrer Vorgehensweise.
Man muss sich nur die einzelnen Konzepte ansehen, die
im Gespräch sind, um das zu erkennen.
Es geht um ein Opernhaus, in dem Sie jeden Abschnitt der deutschen Geschichte vor Augen geführt bekommen können. Der Vorsitzende des Freundeskreises
der Staatsoper, der frühere Außenminister Genscher,
({9})
hat zu Recht erklärt: Hätte sich die Staatsoper während
der Teilung Deutschlands in Westberlin befunden,
({10})
gäbe es keine Debatte darüber, dass der Bund über die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz seine Verantwortung
für dieses Haus wahrnimmt.
Es ist nicht zu verstehen, warum Italien, Österreich
oder Frankreich - ({11})
- Wenn Sie bei diesem Thema nur Gedanken an Weißwürste im Hinterkopf haben, dann müssen Sie nicht mir
ein schlechtes Zeugnis ausstellen, sondern sich selbst.
Herzliches Beileid, Herr Kollege! Jeder blamiert sich, so
gut er kann.
({12})
Es ist nicht einzusehen, warum sich andere Länder,
die eine viel schlechtere Finanzausstattung haben, eine
eigene Staatsoper leisten können, die Wirtschaftsmacht
Bundesrepublik Deutschland in ihrer Mitte aber nicht.
Sie haben die Länder angesprochen. Ein Stadtstaat
kann selbstverständlich keine drei Opernhäuser unterhalten. Ich frage Sie: Warum ist eigentlich keine Regelung
hinsichtlich der Staatsoper Unter den Linden in den Wiedervereinigungsvertrag aufgenommen worden? Zum einen sollte damals die Hauptstadtfrage nicht angetastet
werden. Das war damals Konsens zwischen allen Seiten
dieses Hauses; das wissen Sie ganz genau. Zum anderen
wurde die Frage nach dieser Oper als ganz kleines Detail
im riesengroßen Werk, das damals bewältigt werden
musste, von allen politischen Seiten schlicht und ergreifend übersehen.
Auch München oder Hamburg können keine drei
Opern unterhalten. Die Alternative lautet deswegen, dass
entweder die Oper geschlossen werden muss oder dass
wir bereit sind, dieses Anliegen auf unsere Fahnen zu
schreiben.
({13})
Die Übernahme der Staatsoper durch den Bund wäre ein
Zeichen dafür gewesen, dass wir nicht irgendwelche juristischen Konstruktionen schaffen und die Kulturpolitik
total verrechtlichen wollen, sondern dass wir sichtbar
machen, dass es uns ernst damit ist.
Herr Kollege Gauweiler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
Wenn das nicht von meiner Zeit abgeht, ja.
Ich möchte Ihnen folgende Frage stellen: Warum sagen Sie nicht offen, dass die Übernahme der Staatsoper
durch den Bund im Gegenzug bedeuten würde, die
Deutsche Oper in Westberlin zu schließen?
({0})
Ich sage offen, dass genau das nicht das Ergebnis
wäre. Das Gegenteil ist richtig. Sie versuchen mit dieser
Konzeption - übrigens im Widerspruch zu Ihren Parteifreunden im Berliner Abgeordnetenhaus - zu verdecken,
dass das Konzept des rot-roten Senats in Berlin darauf
hinausläuft, eine große Opernfusion durchzuführen.
({0})
Sie brauchen sich ja nur diesen GmbH-Salat anzuschauen, den Herr Flierl angerichtet hat. Es ist immer
verhängnisvoll, wenn Staatssozialisten einen auf marktwirtschaftlich machen.
({1})
- Das ist nicht die alte Kampflinie.
({2})
Es wurde heute erklärt, dass das Berliner Konglomerat ab dem 1. Januar 2004 seine Tätigkeit aufnehmen
könnte. Ich biete allen Anwesenden eine hohe Wette um
eine Einladung in die Staatsoper und danach zum
Abendessen an
({3})
- Herr Kollege, Sie bekommen eine Weißwurst von mir
persönlich überreicht -, dass bis zum 1. Januar 2004
keine einzige der GmbHs, die dann ihre Tätigkeit aufnehmen sollen, gegründet sein wird. Es geht hierbei um
eine Ballett-GmbH, eine Service-GmbH und weitere
GmbHs mit riesigen Führungsapparaten, in denen jede
Menge Politiker und Senatoren vertreten sein sollen,
aber kein einziger Musikdirektor, was übrigens kennzeichnend für das Weltbild ist, das hinter diesen Apparaten steckt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch etwas sagen. In der gestrigen Fragestunde ist zutage getreten, dass Frau Weiss in den nächsten Wochen
oder gar Tagen
({4})
eine Verwaltungsvereinbarung mit dem Berliner Senat
unterzeichnen will. Ich möchte Sie hier in aller Form bitten, davon Abstand zu nehmen.
({5})
Die Verwaltung kann eine Verwaltungsvereinbarung nur
dann unterzeichnen, wenn sie dazu befugt ist. Wird
durch eine Verwaltungsvereinbarung eine grundsätzliche
Vorfestlegung über die Verwendung von Haushaltsmitteln getroffen, so steht dies grundsätzlich unter dem
Haushaltsvorbehalt. Wir befinden uns mitten in den
Haushaltsberatungen des Deutschen Bundestages. Die
Haushaltsgesetze werden frühestens Anfang Dezember
verabschiedet sein.
({6})
Es ist absolut unzulässig, dass die Verwaltung in den
nächsten Tagen, mitten während der Haushaltsberatungen, im Wege der Vorfestlegung eine Vereinbarung
schließt, durch die die Beratungen des Parlaments letzten Endes überflüssig gemacht werden sollen, um hier
eine Art der politischen Vorwegbindung zu erreichen.
Ist es wirklich wahr - das müssen Sie ja besser wissen
als wir -, dass diese Verwaltungsvereinbarung nicht einmal einen Parlamentsvorbehalt enthält? Wenn das so
ist: Finden Sie als Parlamentarier, die Sie das Befürworten und das Ablehnen unseres Antrags, also das Für und
Wider, abwägen - wobei die Reihen bei Ihnen, wie Sie
selbst wissen, nicht so dicht sind, wie Sie immer behaupten -, das wirklich richtig?
Frau Weiss, Sie sprechen jetzt gleich zu uns. Ich bitte
Sie, die Gelegenheit zu nutzen, uns erstens zu erklären,
ob in den vorliegenden Entwurf ein Parlamentsvorbehalt
eingefügt wurde und uns zweitens zu versichern, dass
Sie die Bundesrepublik Deutschland ohne eine abschließende Behandlung in diesem Hause nicht in entsprechender Weise festlegen werden.
({7})
Alles andere wäre nicht nur politisch schädlich, sondern
auch rechtswidrig. Das sollten Sie nicht tun.
({8})
Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Christina Weiss.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich
das erste Mal von diesem Antrag hörte, über den wir
heute befinden, glaubte ich, irgendjemand hätte die Zeit
zurückgedreht.
({0})
Die Debatte über die Staatsoper und die herausragenden
Kultureinrichtungen der DDR gehört doch ins letzte
Jahrhundert, in eine Zeit, die mehr als zehn Jahre zurückliegt. Der damalige Bundeskanzler Kohl hatte die
Frage übrigens längst beantwortet: Er konnte sich weder
für die Berliner Kultur noch für eine Bundesoper erwärmen. Über die 28 Millionen DM, die er für die Berliner
Kultur zu erübrigen gedachte, wollen wir vornehm
schweigen; denn inzwischen finanzieren wir die Berliner
Kultur mit jährlich 407 Millionen Euro.
({1})
Viele Reförmchen und viele gescheiterte Reformen
später sind wir nunmehr dabei, der Berliner Opernlandschaft endlich zu einem tragfähigen Fundament zu verhelfen. Bitte rufen Sie sich in Erinnerung: Als wir im
letzten Jahr diese Debatte begonnen haben, war die
Bedrohung der Deutschen Oper in der Tat groß. Es
war meine Aufgabe als Staatsministerin für Kultur, die
Hauptstadt unseres Landes vor einer solchen Peinlichkeit zu bewahren.
Man hat ein wenig den Eindruck, dass Sie die ganze
Diskussion dieses Jahres verpasst haben und dass Sie
sich nun vor den Karren von Einzelinteressen spannen
lassen,
({2})
um im letzten Moment durcheinander zu bringen, was
längst auf einem guten Wege ist.
({3})
Uns geht es um Hilfe zur Selbsthilfe. Ich will es noch
einmal sagen: Der Bund beteiligt sich an der Opernreform indirekt, indem wir dem Land Berlin durch die
Übernahme der Akademie der Künste, der Stiftung Kinemathek und des Hamburger Bahnhofs den Spielraum
zur Reform geben.
({4})
Mit dem Geld, das im Berliner Kulturhaushalt verbleibt,
geben wir die Chance zu einer Reform.
Ich will gerne wiederholen, was gegen die Übernahme der Staatsoper spricht. Die drei Opernhäuser
brauchen wie jede Kulturinstitution dringend eine
Strukturreform.
({5})
Der Kauf eines nicht reformierten Opernhauses würde
die Probleme nur verschieben. Die Frage, was mit der
Deutschen Oper und der Komischen Oper passiert,
würde damit nicht beantwortet und die Bundesregierung
müsste als Erstes eine Theaterreform angehen.
Wichtiger - von der Opposition vielleicht absichtsvoll
verschwiegen - ist die Frage nach den Kosten. Derzeit
beteiligt sich der Bund mit 22 Millionen Euro zusätzlich
an der Berliner Kultur.
({6})
Zum Vergleich: Die Staatsoper benötigt jährlich 45 Millionen Euro. Hinzu kommen Sanierungskosten.
({7})
Die Opposition verlangt, in diesen schwierigen Zeiten
ein Mehrfaches auszugeben. Dass das nicht möglich ist,
ist nicht nur für diejenigen leicht zu erkennen, die sich mit
dem Haushalt befassen. Der Vorschlag der Union, für die
Staatsoper eine andere Institution zu opfern, ist fahrlässig
und unausgegoren. Stellen Sie sich das bitte einmal vor!
Das würde bedeuten, dass wir die Berlinale abschaffen
und den Etat des Jüdischen Museums kürzen würden.
({8})
45 Millionen Euro aus unserer Kulturförderung für Berlin herauszuschneiden ist nur durch Opferung mehrerer
Institutionen denkbar.
({9})
Ich darf noch etwas zu dem Thema sagen: „Eine Kulturnation leistet sich eine Oper.“ Deutschland als Kulturnation leistet sich etwa 80 Opern.
({10})
Es gibt in Deutschland nicht nur eine Staatsoper, sondern
es gibt auch welche in Hamburg, Hannover und München. Die Frage sollte erlaubt sein: Sind diese Häuser
der Staatsoper Unter den Linden nicht mehr als ebenbürtig? Wird nicht auch hier ein provokantes, häufig gelobtes Musiktheater geboten? Ich weiß, dass München eine
sehr gute Oper hat. Mich wundert eher, dass Sie von uns
nicht fordern, diese Oper zu übernehmen, weil es die
beste in Deutschland ist.
Soll der Bund alle Staatsopern sammeln? Darüber
können wir vielleicht verhandeln. Aber dann müssen wir
auch über die Kulturhoheit der Länder verhandeln.
({11})
- Ich wäre nicht unglücklich, wenn sich die Föderalismuskommission vernünftig mit dem Thema der Kulturhoheit befassen würde.
({12})
Der neue Hauptstadtkulturvertrag ist mit der Tinte
des Realismus geschrieben.
({13})
Wir haben uns für praktikable Lösungen, nicht für das
teuerste aller denkbaren Modelle entschieden.
({14})
Die drei Berliner Opernhäuser werden unter dem Dach
der Stiftung selbstständige GmbHs. Sie sind künstlerisch
und wirtschaftlich autonom. Sie erhalten Planungssicherheit und können Rücklagen bilden, um sich damit
für die Zukunft abzusichern.
Die Opernstiftung steht am Ende einer leidigen Debatte. Sie ist das Ergebnis der Vernunft und ein Beispiel
für modernes Theatermanagement. Wir wollen die Berliner Reform auch deshalb transparent und exemplarisch
machen, damit sie als Vorbild für andere Kulturinstitutionen gilt.
Herr Gauweiler, ich habe erlebt, dass Sparen für Kulturinstitutionen nur dann möglich ist, wenn sie eine
funktionsfähige Struktur haben. Es ist nicht möglich,
wenn sie als Riesenabteilungen von Behörden betrieben
werden.
({15})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gauweiler?
Ja.
Frau Ministerin, könnten Sie bitte noch auf die Frage
eingehen, ob in der Verwaltungsvereinbarung mit dem
Land Berlin, die Sie für die nächsten Tage angekündigt
haben, von Ihnen ein Parlamentsvorbehalt vorgesehen ist
oder nicht?
({0})
Ich bin Ihnen dankbar, Herr Gauweiler, weil Sie mir
jetzt die Brücke von dem einen Thema zum dem anderen
gebaut haben. Wir haben einen Hauptstadtkulturvertrag
unterschriftsreif vorliegen. Er ist paraphiert und, wenn
Sie so wollen, unterschrieben mit dem Vorbehalt, dass
der Senat am nächsten Dienstag zustimmen wird. Dort
zeichnet sich aber keine Ablehnung ab.
Der Hauptstadtkulturvertrag, Herr Gauweiler, muss
doch ein flexibles Instrument sein, das unser Miteinander
und auch den Vollzug der Opernstiftung regelt. Der Vertrag regelt in erster Linie die Übernahme der Institutionen und die Fortsetzung unserer alten Vereinbarungen.
Er hat aber einen Paragraphen, den § 5, mit dem sich die
Bundesregierung vorbehält, dem Land Berlin weniger
Geld zu geben, falls Berlin den Entwurf der Stiftung
nicht umsetzt oder erheblich verändert umsetzen wird.
({0})
Wir brauchen keine Zementierung in Form eines Staatsvertrages; wir brauchen ein flexibles Instrument.
({1})
- Wir haben einen Vorbehalt im Vertrag formuliert und
wir haben im Haushaltsausschuss zugesagt, dass wir mit
den Berichterstattern über jede Veränderung bei der
Umsetzung des Stiftungsentwurfs verhandeln.
Abg. Günter Nooke [CDU/CSU] und Abg.
Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] melden
sich zu einer Zwischenfrage - Monika
Griefahn [SPD]: Wir machen keine Podiums-
diskussion! - Gegenruf des Abg. Günter
Nooke [CDU/CSU]: Wir führen eine kulturelle
Debatte!)
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen gesagt,
dass wir keine zementierte Form brauchen. Es gibt in
solchen Fällen nie Staatsverträge. Es gibt Vertragsabschlüsse, die flexibel genug sind, um reagieren zu können, wenn sich die Situation ändert.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDPFraktion.
({0})
- Herr Kollege Otto, ich habe die Zwischenfrage deshalb
nicht zugelassen, weil die Redezeit weit überschritten
war und Sie der nächste Redner sind. Ich bitte Sie, jetzt
ans Rednerpult zu kommen und Ihre Rede zu halten.
({1})
- Dasselbe gilt für Herrn Nooke. Die Redezeit der Frau
Ministerin war überschritten.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staatsministerin Weiss, ich will Ihre letzten
Worte aufgreifen. Wir brauchen keine zementierte Regelung, wir brauchen eine flexible Regelung. Die Frage,
die ich Ihnen gerne stellen wollte und leider nicht stellen
durfte, lautet: Wenn Sie denn wirklich eine flexible Regelung wollen, weshalb machen Sie überhaupt eine Verwaltungsvereinbarung? Weshalb machen Sie vor allem
eine Verwaltungsvereinbarung, die gar nicht mehr kündbar ist und die laut § 8 dieses Vertrages die Beziehungen
zwischen dem Bund und dem Land Berlin abschließend
regelt?
Ich will es Ihnen in aller Klarheit sagen: Wir wollen
eine flexible Regelung. Wenn Sie aber jetzt eine Verwaltungsvereinbarung vorsehen, die nicht mehr kündbar ist
und durch die viele Hundert Millionen Euro pro Jahr
zwischen dem Bund und dem Land Berlin hin- und hergeschoben werden, dann bedeutet das eine klare Brüskierung dieses Parlamentes.
({0})
Das will ich Ihnen sagen, damit Sie wissen, woran Sie
sind. Sie werden von uns Widerstand und harte Kritik erfahren, wenn Sie diesen Vertrag abschließen, weil Sie
dem Parlament seine Rechte nehmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
sind auch Bundestagsabgeordnete. Wie darf ich es verstehen, dass eine zentrale Frage der Hauptstadtkultur unter Ausschluss der Beteiligung des Bundestages geregelt
wird? Das ist nicht akzeptabel; das ist nicht gut.
({1})
- Lieber Herr Schmidt, Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob es in Ordnung ist, dass ein Bundestagsabgeordneter sich selbst die Möglichkeit der Regelung
nimmt.
({2})
Wenn dieser Antrag heute abgelehnt wird, bedeutet das
eine Brüskierung des Parlaments.
Die Kürze der Redezeit erlaubt mir nur noch, kurz
und stichwortartig darauf einzugehen, warum wir für die
von uns vorgeschlagene Lösung einer eigenständigen
Stiftung sind. Viele Argumente sind bereits genannt
worden. Ich möchte noch kurz zwei Gründe hinzufügen:
Erstens. Dass dem Stiftungsrat der Stiftung, die Sie
neu einrichten wollen, nicht etwa nur der Kultursenator,
sondern auch der Finanzsenator angehören soll, wirft ein
Schlaglicht auf die Sache. Nachtigall, ick hör dir trapsen! Was passieren wird, wenn der Finanzsenator in den
Stiftungsrat aufgenommen und das gesamte Stiftungsgesetz unter Haushaltsvorbehalt gestellt wird, wissen wir
bereits. Das wäre ein schwerer Eingriff in die Unabhängigkeit der Bühnen und würde zu finanziellen Opfern
führen.
Zweitens. Wir alle haben einen Brief des Vereins der
Freunde und Förderer der Deutschen Staatsoper Berlin
bekommen, in dem sie sich für eine Bundeslösung ausgesprochen haben und den alle Beteiligten unterschrieben haben.
({3})
Die Beteiligten sprechen sich also für die Bundeslösung
aus. Nennen Sie mir doch einmal jemanden, der Ihre Lösung befürwortet! Das ist weder bei der Komischen Oper
noch bei der Deutschen Oper und schon gar nicht bei der
Staatsoper der Fall.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
mahnen immer, auf die Betroffenen und Beteiligten zu
hören. Hier äußern sich die Beteiligten! Sie sprechen
sich für eine andere Lösung aus.
({4})
- Stellen Sie mir eine Zwischenfrage; dann beantworte
ich sie. Denn meine Redezeit ist um.
({5})
Sehen Sie, so gehen Sie vor. Sie schneiden mir in einer Kulturdebatte die Frage ab. Sie erlauben mir keine
Frage an die Staatsministerin und Sie erlauben mir nicht,
Ihnen zu antworten.
({6})
Ich bin ziemlich empört darüber, wie Sie vorgehen. Wir
führen eine Kulturdebatte, aber Sie lassen es drei Minuten lang nicht zu, dass ich eine Frage stellen kann, und
Sie erlauben mir nicht, auf Ihre Frage zu antworten. Ich
muss Ihnen offen und in aller Klarheit sagen, dass ich
das nicht in Ordnung finde.
({7})
Herr Kollege Otto, Sie haben bereits vier Minuten geredet und damit praktisch die für eine Frage zur Verfügung stehende Zeit gehabt.
({0})
- Die Redezeit des Kollegen Otto ist bereits seit einer
Minute abgelaufen. Ich lasse keine weitere Zwischenfrage zu.
Wenn Sie das für überzeugend halten, dann machen
Sie so weiter. Angesichts dessen, was sich hier abspielt,
müssen Sie sich wirklich ein Armutszeugnis ausstellen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Monika Griefahn [SPD]: Stellen Sie das einmal im Ausschuss zur Diskussion! - Claudia
Roth [Augsburg] ({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Antje Vollmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Passen Sie auf, Herr Nooke! Kritik an der Präsidentin
ist nicht erlaubt. Ich meine damit nicht mich, sondern
Frau Kastner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die vorliegenden Anträge scheinen mir ein bisschen der
Parole „Lass verspätet tausend Blumen blühen“ zu folgen. Denn die beiden vorliegenden Anträge kommen zu
spät. Ich muss mich schon wundern. Wenn Ihnen die
Staatsoper Unter den Linden so wichtig gewesen wäre
- mir ist sie sehr wichtig -, dann bräuchte ich Sie nicht
daran zu erinnern, dass bereits seit mehr als fünf Jahren
intensiv darüber diskutiert wird.
Sie geben an dem Tag eine Presseerklärung ab, an
dem die gesamte Rettung der Opernlandschaft im Haushalt verankert worden ist.
({1})
Jetzt, nachdem alles geregelt ist, bringen Sie Ihren Antrag in den Bundestag ein. Schon das spricht nicht besonders für Seriosität.
({2})
Frau Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke?
({0})
Aber klar, Herr Kollege Nooke.
({0})
Liebe Kollegin Vollmer, stimmen Sie mit mir darin
überein, dass wir zurzeit bei den Haushaltsberatungen
sind - und zwar zwischen der ersten und zweiten Beratung des Haushaltes für 2004 -, dass heute im Abgeordnetenhaus zu Berlin zum ersten Mal über die Stiftungslösung für die drei Opern, die man unter einem
Generalintendanten fusionieren möchte, verhandelt
wurde und dass erst nächste Woche in Berlin eine Anhörung zu diesem Thema stattfinden wird, dass wir uns
also mitten in dieser Debatte befinden und damit noch
rechtzeitig kommen, um eine vernünftige Lösung auf
den Weg bringen zu können?
({0})
Stimmen Sie mit mir überein, lieber Herr Nooke, dass
über die Probleme der Berliner Kulturlandschaft schon
zu der Zeit, als Herr Stölzl noch Kultursenator war, diskutiert worden ist, dass Herr Stölzl damals ein Papier
vorgelegt hat, das dem, was wir verabschiedet haben, außerordentlich nahe gekommen ist, dass er es aber damals
nicht verstanden hat, dafür eine politische Mehrheit zu
organisieren, dass sich auch die CDU/CSU-Fraktion im
Berliner Abgeordnetenhaus für unser Modell ausgesprochen hat und dass Sie nun plötzlich - wie Zieten aus dem
Busch - ein alternatives Modell vorlegen, das auch von
Ihrer Parteivorsitzenden unterstützt wird? Ich wundere
mich, wofür Ihre Parteivorsitzende in diesen Tagen Zeit
hat.
({0})
Das Ganze ist schon sehr komisch. Ich bleibe dabei, dass
Sie Ihr Modell erst sehr spät vorgelegt haben.
({1})
- Darf ich jetzt weiterreden?
({2})
Erstens haben Sie, wie gesagt, Ihr Modell sehr spät
vorgelegt. Zweitens scheint es mir das Ergebnis eines
verzweifelten Lobbyismus zu sein. Herr Otto, Sie haben
gesagt, die Beteiligten sprächen sich für das in dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und FDP vorgeschlagene Modell aus. Wenn ich das richtig sehe, hat sich nur
ein beteiligtes Haus, in dem der Widerstand besonders
groß ist, dafür ausgesprochen. Das ist normaler Lobbyismus, normale Interessenvertretung, stellt aber keineswegs die breite Front der Betroffenen dar.
({3})
- Alle Vertreter, die an den langen Gesprächen teilgenommen haben, übrigens auch die der Staatsoper Unter
den Linden, die während der Verhandlungen sehr unterschiedliche Signale ausgesendet haben. Darauf muss
auch hingewiesen werden.
Drittens. Ich finde, dass Sie bei der Formulierung
Ihres Vorschlags außerordentlich reformfaul waren.
({4})
Da wir alle im Moment über die beste Reform streiten,
frage ich: Wo ist denn Ihr Reformvorschlag? Sie haben
lediglich den Finanzierungsvorschlag gemacht, die
Staatsoper Unter den Linden in die Zuständigkeit des
Bundes zu geben. Aber von Reformen ist in Ihrem Antrag nichts zu lesen. Ich weiß auch nicht, was es mit einer Reform zu tun hat, ein Haus in einen sicheren Hafen
zu bringen.
Frau Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Ja, gerne.
Ich bin ganz beglückt, dass ich jetzt eine Zwischenfrage stellen darf. - Verehrte Frau Kollegin Dr. Vollmer,
sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass justament heute
im Berliner Abgeordnetenhaus - dort gehört das auch
hin - der Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Bühnen von der FDP-Fraktion vorgelegt worden ist? Wissen Sie davon? Sie haben ja behauptet, dass wir reformfaul seien.
Ich muss leider zugeben, dass ich nicht wusste, dass
Sie einen Reformvorschlag gemacht haben. Das finde
ich schön. Er kommt trotzdem sehr spät. Wenn Sie ihn
mir zuschicken, werde ich ihn mir gerne anschauen.
({0})
Zu dem Vorschlag einer Berliner Oper in Bundeszuständigkeit möchte ich anmerken - das ist ein sehr schönes Beispiel -, dass der Bund bislang nur an der Oper in
Bayreuth beteiligt ist. Ich frage Sie ernsthaft: Möchten
Sie angesichts der Erfahrungen, die wir bei der Besetzung des Intendantenpostens in Bayreuth gesammelt haben, und der Reformfähigkeit der Oper in Bayreuth - ich
liebe dieses Haus genauso sehr wie Sie, Herr
Gauweiler -, dass der Bund auch noch für die Berufung
eines Intendanten an einer Berliner Oper zuständig ist?
Ich glaube, diese Mühe sollten wir uns von ganzem Herzen ersparen. Vor diesem Hintergrund finde ich, dass Ihr
Vorschlag ein bisschen lebensfern ist.
Ihre Vorstellung, dass sich der Bund zum Promoter eines Hauses machen soll, sollte aber auch Anlass geben,
gründlich darüber nachzudenken, ob der Lobbyismus
für ein einzelnes Haus - das kommt auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in der Theaterszene, immer wieder
vor - unserer heutigen Kulturlandschaft angemessen ist.
Wir brauchen nicht mehr das Recht des Stärkeren oder
- im Kulturbereich - das Recht des Genies, sich auf
Kosten anderer durchzusetzen. Wir brauchen vielmehr
auch im Kulturbereich das Engagement aller, um die
ganze Kulturlandschaft zu erhalten.
({1})
Die Frau Staatsministerin hat schon darauf hingewiesen, dass wir uns in einer ganz besonderen Situation befinden. Unser Land leistet sich nicht nur eine Oper, sondern 80 Opern. Und das eigentliche Signal für die
Kulturlandschaft in Deutschland besteht darin, dass es
die Hauptstadt schafft, sich unter diesem finanziellen
Druck drei Opern zu leisten, indem sie sie dazu bringt,
gemeinsam eine erfolgreiche Reform durchzuführen.
({2})
Von der Schließung einer Oper - genau das wäre dabei herausgekommen, wenn der Bund eine Oper übernommen hätte - wäre das Signal ausgegangen: So können auch andere Städte vorgehen. Genau dieses Signal
wollten wir nicht geben. Wir wollten vielmehr ein Signal der Solidarität geben: Alle sollten gemeinsam äußerste Anstrengungen unternehmen, um ihr Haus für die
neuen Zeiten fit zu machen.
Im Übrigen ist das für Berlin außerordentlich wichtig.
Alle wissen, dass Berlin auf lange Zeit kein Industriestandort mehr sein wird. In den drei Opern gibt es mindestens 3 000 Arbeitsplätze. Darüber hinaus gibt es im
Umfeld dieser Häuser jede Menge Arbeitsplätze im
Dienstleistungsbereich. Abgesehen davon muss man
einmal sehen, was es für die Zukunft Berlins bedeutet,
wenn man Kultur nicht nur als einen kulturellen, sondern
auch als einen wirtschaftlichen, einen sozialen und übrigens auch als einen psychologischen Faktor für diese
Stadt versteht.
Ich bin außerordentlich froh, dass wir diese Anstrengungen vollbracht haben. Ich bin froh, dass wir diese
Verwaltungsvereinbarung in vielen Gesprächen mit den
Beteiligten - man weiß, dass das mit Künstlern nie so
besonders einfach ist - zustande gebracht haben. Ich
kann nur alle auffordern, sich diesem Experiment nicht
zu verschließen. Ich sage ausdrücklich: Ich bitte auch die
Staatsoper, sich an diesem Experiment zu beteiligen. Ich
bitte den Kultursenator, sobald wie möglich dafür zu sorgen, dass die Deutsche Oper endlich einen Intendanten
bekommt, damit sie wieder mitreden kann.
Danke.
({3})
Ich gebe dem Kollegen Gauweiler das Wort zu einer
Kurzintervention.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich bin sowohl Frau
Weiss als auch Frau Vollmer eine kurze Entgegnung
schuldig. Frau Vollmer, ich kann zum einen nicht verstehen, warum Sie hier das Beispiel Bayreuth so ironisieren. Im Gegensatz zu Ihnen halte ich sowohl die finanziDr. Peter Gauweiler
elle Struktur als auch die Art und Weise der Aufteilung
der Verantwortung, in Bayreuth für sehr gelungen.
({0})
Ich denke, dass es all diejenigen im Haus, die mit Bundeskultur beschäftigt sind, für sinnvoll halten, Bayreuth
als Beispiel zu verstehen und nicht - nach dem Motto
„Koste es, was es wolle“ - die Durchsetzung eines anderen Konzepts, von dem alle Beteiligten nicht überzeugt
sind - dazu haben Sie nichts gesagt -, übers Knie zu brechen.
({1})
Frau Ministerin Weiss, ich stelle fest, dass Sie weder
auf meine Frage noch auf die Fragen aus der Mitte des
Parlaments noch auf die Anmerkung des Kollegen Otto
eingegangen sind. Wir haben Ihnen - jenseits des Für
und Wider dieser Anträge - vorgehalten, eine Verwaltungsvereinbarung ohne Parlamentsvorbehalt durch
Ihre Beamten treffen lassen zu wollen.
Ich habe Sie ausdrücklich danach gefragt, ob in dieser
Verantwortungsvereinbarung ein solcher Parlamentsvorbehalt enthalten ist. Sie haben dazu nur gesagt, dass es einen Vorbehalt zugunsten des Abgeordnetenhauses von
Berlin bzw. des Berliner Senats gebe, dass es aber, obwohl der Bundestag seine Haushaltsberatungen noch
nicht abgeschlossen hat, in dieser Verwaltungsvereinbarung, mit der Haushaltsangelegenheiten der nächsten
Jahre geregelt würden, keinen Parlamentsvorbehalt gebe.
In § 8 der Verwaltungsvereinbarung, die Sie treffen
wollen, heißt es ausdrücklich, dass damit eine abschließende Regelung seitens des Bundes getroffen sei. Ich
bitte Sie, in diesem Hause zu erklären, ob Sie bereit sind,
diesen Punkt dieser Vereinbarung zu ändern und dem
Parlament das Recht durch Parlamentsvorbehalt zu belassen. Andernfalls schließen Sie sehenden Auges einen
rechtswidrigen Vertrag.
Herr Kollege Gauweiler, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass eine Kurzintervention nur gestattet ist,
wenn man auf die vorherige Rednerin oder den vorherigen Redner eingeht. Sie aber haben auf die davor gehaltene Rede der Ministerin Bezug genommen. Das ist bei
einer Kurzintervention eigentlich nicht zulässig.
Bitte schön, Frau Kollegin Vollmer.
Herr Kollege Gauweiler, wenn Sie genau zugehört
hätten, dann hätten Sie sowohl den Respekt, den ich in
meiner Rede für die musikalische Leistung des Bayreuther Festspielhauses zum Ausdruck gebracht habe,
als auch die nachdenkliche Frage vernehmen können, ob
wir Bundespolitiker uns wirklich zumuten wollen, zum
Beispiel über Fragen wie die nach der Intendanz einer
Oper zu diskutieren. Derartige Fragen sollte man nicht
im Parteiengezänk behandeln.
({0})
Ich meine, dass man an dem Beispiel Bayreuth sieht
- das kann man durchaus auch mit einer gewissen
Chuzpe für die Person von Wolfgang Wagner sagen -,
dass die Politik in der Frage von Intendantenberufung
und Intendantenentlassung nicht besonders erfolgreich
ist. Nur in dem Zusammenhang habe ich das gesagt.
Da ich jetzt auf die Kurzintervention eingehen kann,
möchte ich noch etwas zu Ihrem Vorschlag sagen, die
Staatsoper der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu
übertragen. Sie bieten da jemandem ein Geschenk an,
der es gar nicht haben will. Wenn Sie Professor
Lehmann fragen würden, dann würde er sich herzlich
bedanken. Er versteht etwas von Sammlungen, Archiven
und Museen. Das entspricht der Aufgabe der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz. Er hat aber keine Kenntnisse
darüber, wie mit einer Oper verwaltungsmäßig umzugehen ist. Ihr Geschenk ist also sozusagen in die Luft gepustet. Der, für den Sie es gedacht haben, will es gar
nicht haben.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
Herrn Gauweiler, Herrn Nooke und Herrn Otto zugehört
und ich muss sagen: In der Oper habe ich schon schlechtere Inszenierungen erlebt als das, was sich hier abgespielt hat.
({0})
Der schlimmste Vorwurf, den man einer Opposition
machen kann, ist eigentlich der, dass sie Entwicklungen
verschlafen hat. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen,
sowohl betreffend die Opernstrukturreform als auch betreffend den Hauptstadtkulturvertrag.
Es ist schon mehrfach gesagt worden: Seit gut einem
Jahr, wahrscheinlich sogar noch länger, diskutieren wir
über die Opernhäuser. Wir haben das Thema schon im
Ausschuss behandelt. Darüber ist berichtet worden. Ich
habe mich gefragt: Was denkt eigentlich die Opposition?
({1}): Die ist im Gegensatz
zu Ihnen lernfähig!)
Ich wüsste bis heute nicht, was sie denkt, wenn nicht
plötzlich etwas passiert wäre, wovon ich doch ein bisschen überrascht worden bin. Da wird plötzlich wie Kai
aus der Kiste eine neue Stiftung nur mit der Staatsoper
hervorgeholt. Die ganze Geschichte wäre eigentlich eine
lustige Inszenierung; ich sage Ihnen jetzt aber einmal
ganz ernsthaft: Meine Sorge ist, dass Sie die Staatsoper,
die so wichtig und so gut ist, durch diese parteipolitischen Spielereien in Misskredit bringen.
({2}): Was hat das denn mit
Parteipolitik zu tun?)
Eckhardt Barthel ({3})
- Das habe ich Ihnen gerade gesagt. Nachdem das Ganze
schon in trockenen Tüchern war, sind Sie mit einem
neuen Modell gekommen. Ich will Ihnen das auch noch
einmal belegen.
({4}): Das habe ich vor
zwei Jahren auch schon probiert!)
Ich fand es bezeichnend, dass der Antrag nicht zuerst
im Parlament vorgestellt wurde, sondern - ich bekam
plötzlich eine Pressemitteilung - in der Staatsoper selbst,
wo ja die Betroffenen sind, die gern alles haben wollen.
Übrigens: Auch die Philharmoniker wollten schon mal
zum Bund. Alle wollen zum Bund. Dafür gibt es gute
Gründe. Da braucht man sich nur die Lage Berlins anzugucken.
Sie haben die Diskussion also nicht hier geführt, sondern in der Staatsoper. Dort saß Herr Genscher. Dem
nehme ich das übrigens nicht übel. Er ist Vorsitzender
des Vereins der Freunde und Förderer der Deutschen
Staatsoper Berlin. Er ist Oberlobbyist im positiven Sinne
für das Haus. Außerdem saßen dort die beiden Parteivorsitzenden. Herr Otto und auch Herr Gauweiler saßen daneben. Ich habe mich gefragt, in welchem Film ich mich
eigentlich befinde. Ich tue Frau Merkel bestimmt nicht
Unrecht, wenn ich sage: Frau Merkel versteht von der
Opernstrukturreform so viel wie ich von der Tiefseeforschung.
({5})
Was dort dazu gesagt wurde, wie die ganze Geschichte
laufen soll, ist eigentlich nicht lustig, finde ich, sondern
bedenklich für dieses Haus.
Ich will Ihnen den Hauptgrund für meine Bedenken
nennen. Es hängt alles immer mit dem Geld zusammen.
Die Frage war: Wie wollen Sie das bezahlen, wenn es
denn gemacht werden könnte? Die Zahlen sind schon
genannt worden. Frau Weiss hat es in diesen Zeiten geschafft, zur Unterstützung des Landes Berlin für die
Opernreform 22 Millionen Euro - jetzt muss ich aufpassen - zu bekommen. Das ist eine hervorragende Leistung für die Kultur in der Hauptstadt.
({6})
Jetzt wollen Sie die Staatsoper übernehmen. Dafür
müssten Sie nicht nur 22, sondern 43 Millionen Euro in
die Hand nehmen. Die Journalisten haben die Frage gestellt, wie das bezahlt werden soll. Die Antworten waren
spannend. Frau Merkel sagte: Dann müssen wir uns einmal die anderen Institutionen angucken, die der Bund in
Berlin finanziert. Jeder stellte sich sofort die Frage: Soll
das Jüdische Museum für dieses Modell abgegeben werden? Herr Otto hat das wohl gemerkt und gesagt: Nein,
wir sind mitten in der Haushaltsberatung. Wir müssen
sehen, etwas über den Haushalt zu bekommen. Nun haben wir im Kulturausschuss schon zwei Haushaltsdebatten geführt, aber bis heute liegt kein Vorschlag der FDP
vor, wie das haushaltsmäßig abgedeckt werden kann.
({7})
Deswegen meine ich, dass das, was Sie hier machen, unseriös ist.
({8})
Ulrich Eckhardt, der langjährige Chef der Berliner Festwochen, nannte die ganze Geschichte „Angelas Knallbonbon“. Ich glaube, damit trifft er es.
Meine Damen und Herren, wir unterscheiden uns in
Folgendem: Sie blicken nur auf die Staatsoper - auch ich
möchte sie weiß Gott erhalten und hoffe, sie blüht und
gedeiht weiter -, wir aber berücksichtigen mit unserer
Konzeption alle drei Opern in unserer Stadt. Da liegt der
Unterschied zwischen Ihren beiden Anträgen, die wir
hier vorliegen haben, und unserem Vorschlag.
Auch ich, Herr Gauweiler - da gebe ich Ihnen vollkommen Recht -, möchte nicht noch ein Theater schließen; denn ich habe erlebt, wie das Schiller-Theater geschlossen wurde. Ich möchte nicht, dass so etwas wieder
passiert.
({9})
Ich sehe aber keine Chance, die Theater- und Opernstruktur im gesamten Land, nicht nur in Berlin, zu erhalten, wenn wir nicht mit kräftigen Reformen an die Strukturen herangehen. Sonst bricht uns das alles weg. Die
Reformen, die in einer tollen strategischen Partnerschaft
zwischen der BKM und dem Berliner Senat auf den Weg
gebracht wurden, bieten die Chance - nicht mehr! -, unsere Kulturlandschaft im Theaterbereich zu unterhalten.
Eigentlich würde ich Sie jetzt bitten, wenn ich nicht
wüsste, dass das vergebene Liebesmühe ist: Unterstützen
Sie unsere Vorgehensweise zum Wohle der Kultur in diesem unseren Lande!
({10}): Frau Vorsitzende, eine Kurzinter-
vention! - Gegenruf des Abg. Wilhelm
Schmidt [Salzgitter] [SPD): Sie haben doch
Ihre Redezeit schon verdoppelt!)
Ich erteile dem Kollegen Otto das Wort zu einer Kurzintervention.
({0}): Das darf
doch nicht wahr sein!)
Lieber Kollege Barthel, Sie haben mir eben vorgeworfen, dass das, was wir hier beantragen, unseriös sei.
({0}): Jawohl!)
Diesen Vorwurf halte ich für massiv, deswegen ergreife
ich hier auch das Wort.
({1}): Sie haben keinen Deckungsvor-
schlag gemacht, Herr Otto!)
Hans-Joachim Otto ({2})
Ich möchte zunächst einmal darauf hinweisen, dass
dies die erste Debatte über die Berliner Opernstrukturreform ist; ein Thema, das Sie selbst für wichtig erachtet haben. Dabei ist der Bund durchaus zuständig für
Hauptstadtkultur.
Wir von der CDU/CSU und von der FDP haben reagiert, als wir gemerkt haben, welchen verheerenden
Gang die Entwicklung nehmen würde, wenn der Vorschlag des Berliner Senats Realität würde.
({3})
Es ist zwar wahr, dass die Debatte schon jahrelang läuft,
aber den konkreten Vorschlag zu einem Stiftungsgesetz
gibt es erst wenige Monate. Nachdem in der Debatte darüber die Schwierigkeiten deutlich wurden und wir gemerkt haben, dass niemand mit dieser Reform glücklich
ist,
({4})
weil die Verantwortlichkeiten verwischt werden und
Verlustausgleiche stattfinden, haben wir die Notwendigkeit gesehen, im Interesse der Berliner Kultur und aller
drei Opern - das füge ich hinzu - verantwortlich tätig zu
werden.
Ich verwahre mich gegen den Vorwurf der Unseriosität. Darauf entgegne ich: Wenn Sie diesen Punkt für so
wichtig erachten, dann dürfen Sie uns nicht die Möglichkeit nehmen, hier im Bundestag darüber zu diskutieren.
Wenn Sie jetzt aber unseren Antrag, der darauf hinausläuft, die Kulturbeziehungen zwischen Berlin und dem
Bund im Wege eines Staatsvertrages, also unter Beteiligung des Parlaments, zu regeln, ablehnen und keine
Überweisung zulassen, dann muss ich Ihnen den Vorwurf der Unseriosität zurückgeben, denn dann lassen Sie
es nicht zu, dass über diesen wichtigen Punkt hier im
Hause weiter debattiert wird. Das halte ich nicht für seriös.
({5})
Herr Kollege Barthel, bitte.
Es wird Sie nicht überraschen, dass ich den Vorwurf
der Unseriosität nicht zurücknehme, denn Sie haben die
Kritikpunkte, die ich in der kurzen Redezeit, die mir zur
Verfügung stand, genannt habe, nicht entkräftet. So lassen Sie mich noch einmal zu zwei Sachverhalten etwas
sagen:
Das Erste: Der Hauptstadtkulturvertrag - es handelt sich hierbei ja schon um den zweiten - steht in der
Kontinuität des ersten. Ich kann mich nicht erinnern,
dass irgendjemand von Ihnen, als wir den ersten Vertrag
geschlossen haben, jemals etwas Kritisches zu Form
oder Inhalt angemerkt hat. Auch während der Laufzeit
dieses Vertrages wurde diesbezüglich nichts gesagt.
({0}): Der war zeitlich begrenzt!)
Das Zweite - ich hoffe, ich bekomme das jetzt noch
alles zusammen - ist die Aussage: Keiner will das. - Es
gibt natürlich Partikularinteressen. Ich habe natürlich
Verständnis dafür, dass jemand, dem es gut geht, sagt,
dass die anderen es doch genauso machen sollen; dann
bekommen sie schon etwas vom Kuchen ab.
Ich möchte nur einmal eine Gruppe in Berlin nennen, die sich sehr stark mit diesen Fragen beschäftigt
hat: Sie heißt „Kultur für Berlin“. Der ehemalige Kultursenator von Berlin, Volker Hassemer, leitet sie. Das
ist eine Gruppe, deren Mitglieder - auch Herr Nooke ist
Mitglied; er hat das Papier gesehen, das sie jetzt geschrieben hat - aus breit gestreuten Bereichen kommen. Das sind keine Intendanten. Das sind die Leute,
über die man sagen würde: Das ist die Crème de la
Crème der Berliner Kulturszene. Die haben sich zu einzelnen Punkten durchaus kritisch geäußert. Das finde
ich korrekt. Aber zu sagen: „Das will keiner, weil Leute
aus dem eigenen Haus sich etwas Besseres versprechen“, ist nicht seriös.
({1})
Das Dritte: Sie behaupten, es gebe zwischen den Institutionen eine Querfinanzierung.
({2}): Ja!
Das ist sonnenklar!)
Ich bitte Sie, sich diesen Vertrag einmal anzuschauen
- wenn das übrigens Stiftungsgesetz würde, dann würde
das noch deutlicher -: Dieses ist ausgeschlossen.
({3})
Sie behaupten das, haben aber keinen Beleg dafür.
Insofern - Herr Otto, nehmen Sie es mir nicht übel nehme ich meinen Vorwurf nicht zurück.
Meine letzte Bemerkung: Sie haben selbst zugestanden, dass wir schon über ein Jahr darüber diskutieren.
Warum müssen Sie, wenn Sie das Thema für so wichtig halten, mit Ihren Vorschlägen warten, bis wir etwas
einbringen? Warum ergreifen Sie nicht selbst die Initiative?
({4}): Das
tun wir ja!)
Am Ende des Prozesses kommen Sie mit einem Papier.
({5}): Das ist
die erste Lesung in Berlin)
- Wir sprechen seit einem Jahr darüber. Sie hätten selbst
etwas in diese Debatte einbringen können. Sie haben es
nicht gemacht. Sie müssen immer erst angestoßen werden und dann benutzen Sie das für die Durchsetzung von
Partikularinteressen. Deswegen halte ich das für unseriös.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/1790 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zusatzpunkt 5: Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 15/1973 mit dem Titel „Staatsvertrag für
die Hauptstadtkultur“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP bei einer Enthaltung aus den
Reihen der Koalition abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg
Tauss, Eckhardt Barthel ({0}), Monika
Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje
Bettin, Volker Beck ({1}), Claudia Roth ({2}) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Chancengleichheit in der globalen Informationsgesellschaft sichern - VN-Weltgipfel zum
Erfolg führen
- Drucksache 15/1988 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Redner Jörg Tauss, Dr. Martina Krogmann,
Grietje Bettin und Hans-Joachim Otto haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1988 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christian Freiherr von Stetten, Marita Sehn,
Manfred Grund und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs ({4})
- Drucksache 15/513 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Die Redner Wolfgang Spanier, Veronika Bellmann,
Peter Hettlich und Marita Sehn haben ihre Reden zu Pro-
tokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. November 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.