Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/13/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass aus dem Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl als stellvertretendes Mitglied ausscheidet und an seine Stelle der Kollege Stephan Mayer ({0}) treten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Stephan Mayer in das Kuratorium der Stiftung entsandt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu Plänen, eine Ausbildungsplatzabgabe einzuführen ({1}) 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des MAD-Gesetzes ({3}) - Drucksache 15/1959 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1975 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6}) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten - Drucksache 15/1653 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({8}) - Drucksache 15/2009 - Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Klaus-Peter Flosbach Hubert Ulrich Carl-Ludwig Thiele b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({10}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses - Drucksachen 15/1094, 15/2002 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({11}) Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto ({12}) 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({13}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({14}), Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur - Drucksache 15/1973 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({15}) Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes - Drucksachen 15/1861, 15/1965 ({16}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({17}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur wirksamen Bekämpfung organisierter Schleuserkriminalität ({18}) - Drucksache 15/1560 ({19}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({20}) - Drucksache 15/2005 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Günter Baumann Dr. Max Stadler b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen - Drucksachen 15/1328, 15/2005 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Günter Baumann Dr. Max Stadler Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - so- weit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem ist vereinbart, die Tagesordnungspunkte 19 - EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie - und 24 b - Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See - abzusetzen. Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ({23}) - Drucksache 15/1974 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Energiespeicherforschung vorantreiben Höchsttechnologien für die Speichertechnik entwickeln - Drucksache 15/1605 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({25}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Birgit Homburger, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Perspektiven für eine marktwirtschaftliche Förderung erneuerbarer Energien - Drucksache 15/1813 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament Nukleare Sicherheit im Rahmen der Europäischen Union KOM ({28}) 605 endg.; Ratsdok. 15875/02 - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie ({29}) des Rates zur Festlegung grundlegender Verpflichtungen und allgemeiner Grundsätze im Bereich der Sicherheit kerntechnischer Anlagen Vorschlag für eine Richtlinie ({30}) des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle KOM ({31}) 32 endg.; Ratsdok. 8990/03 - Drucksachen 15/503 Nr. 1.3, 15/1153 Nr. 2.20, 15/1781 Berichterstattung: Abgeordnete Horst Kubatschka Dr. Rolf Bietmann Birgit Homburger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile dem Kollegen Horst Kubatschka, SPDFraktion, das Wort. ({32})

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zuerst mit den Richtlinienvorschlägen der EU-Kommission zur Sicherheit kerntechnischer Anlagen und zur Entsorgung abgebrannter Brennelemente auseinander setzen. Sie sind für uns ein Trojanisches Pferd, mit dem sich Brüssel zusätzliche Kompetenzen im Bereich der Energiepolitik aneignen will. Die Weichen zugunsten der Atomenergie sollen neu gestellt werHorst Kubatschka den. Unter dem Etikett der Verbesserung der Sicherheit sollen erhebliche Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden. Sie sollen den Einzelstaaten entzogen werden. Aber: Ein Oberkontrolleur aus Brüssel ist nicht notwendig. Die Pro-Atom-Haltung der zuständigen Generaldirektion Energie und Verkehr der EU-Kommission wird von uns nicht geteilt. Sie ist mit unserer Politik der Beendigung der Atomkraftnutzung und der Modernisierung unserer Energieversorgung nicht deckungsgleich. ({0}) Die Zeichen der Nachhaltigkeit werden nicht erkannt. Wir werden die Rückgängigmachung des Atomausstiegs durch die Brüsseler Hintertür nicht mitmachen. ({1}) Vielmehr ist es unsere Aufgabe, auf einen europäischen Konsens beim Ausstieg aus der Kernenergie hinzuwirken. In der heutigen Europäischen Union ist nur eine Minderheit für die weitere Nutzung der Kernenergie. Die Mehrheit der heutigen EU-Staaten ist in die Nutzung der Atomenergie nicht eingestiegen bzw. plant den Ausstieg. Daraus müsste die EU eigentlich die notwendigen Konsequenzen ziehen. Hinzu kommt, dass die Vorschläge der Kommission kaum materielle sicherheitstechnische Verbesserungen bringen. Vielmehr ist zu befürchten, dass der Status quo festgeschrieben werden soll. Damit ist eine dynamische Weiterentwicklung des Standes von Wissenschaft und Technik nicht mehr ausreichend berücksichtigt. Die Vorgaben der Kommission zur Entsorgung radioaktiver Abfälle sind angesichts der weiterhin bestehenden Kontroverse über geeignete Endlagerstätten unrealistisch. Schlimmer: Sie sind geeignet, falsche Erwartungen zu wecken. Es besteht auch die Gefahr, dass es zu unzureichenden Lösungen kommt. Wir wollen nicht die Option zur Errichtung europäischer Endlager. Sie hebelt den Grundsatz der Betreiberverantwortung aus. Unsere Position war bisher - das galt eigentlich parteiübergreifend -: Die Entsorgung radioaktiver Abfälle muss in nationaler Zuständigkeit erfolgen. Wir stehen nach wie vor zu dem Primat der nationalen Entsorgungsverantwortung. Einen europäischen Atommülltourismus wird es mit uns nicht geben. ({2}) Die SPD-Fraktion will ebenfalls den Vorrang der nicht nuklearen Energieforschung in der Gemeinschaft erreichen. Die nukleare Energieforschung soll auf die Fragen des Gesundheitsschutzes, der Sicherheit sowie der Zwischen- und der Endlagerung begrenzt werden. Die mittel- und osteuropäischen Länder sollen weiterhin bei der Verbesserung der Sicherheit der bestehenden Anlagen unterstützt werden. Dies gilt auch für die Entsorgung. Die SPD-Fraktion bzw. die rot-grüne Koalition lehnt die Richtlinienvorschläge der EU-Kommission in der zurzeit vorliegenden Fassung ab. Wir sehen keine Notwendigkeit für eine Ausweitung der atompolitischen Kompetenzen der EU-Kommission. ({3}) Morgen wird ein erstes sichtbares Zeichen des Atomkonsenses gesetzt: Das Atomkraftwerk Stade geht vom Netz. ({4}) Per Knopfdruck wird der mittelfristige Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland eingeleitet. Das Atomkraftwerk Stade wird abgeschaltet, weil die rot-grüne Koalition am 12. Dezember 2001 das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität - in Kurzform: Atomkonsens - beschlossen hat. Nach ausführlichen und nicht einfachen Verhandlungen mit der Atomwirtschaft wurde dieser Konsens erreicht. Wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir uns einen anderen und vor allem einen schnelleren Ausstieg gewünscht haben. Der Atomkonsens war sozusagen keine Liebesheirat. Er war ein Kompromiss zwischen den Beteiligten. Wir stehen aber zu diesem Konsens. Auf unsere Politik und auf die mit uns geschlossenen Vereinbarungen ist Verlass. Ich appelliere mit allem Nachdruck an alle Beteiligten, sich auch ihrerseits an den Atomkonsens zu halten, und zwar auch im Geiste. ({5}) Eon nennt wirtschaftliche Gründe für die Abschaltung des Kernkraftwerkes Stade. Das zeigt wieder einmal, wie wenig Verlass auf die Aussagen der EVUs ist und wie sie ihre Argumentation nach der jeweiligen Interessenlage ausrichten. Als vor vier Jahren die ersten Gespräche begannen, wurden erhebliche Schadensersatzforderungen der Betreiber für den Fall angedroht, dass Rot-Grün die Atomkraftwerke per Gesetz und ohne Zustimmung der EVUs abschalten werde. Genannt wurde eine wirtschaftliche Lebensdauer von 60 Jahren, die den Schadensersatzberechnungen zugrunde gelegt wurde. Jetzt wird das Atomkraftwerk Stade nach 31 Betriebsjahren abgeschaltet. Nach Angaben der Betreiber geschieht das, weil es sich nicht mehr rechnet. Ist das glaubwürdig? ({6}) Natürlich hat die Stilllegung der Kernkraftwerke Auswirkungen auf die Arbeitsplätze, auf die Arbeitnehmer. Beim allmählichen Ausstieg aus der Kernenergie hat die Arbeitsplatzfrage für uns Sozialdemokraten immer eine wichtige Rolle gespielt. Als Berichterstatter für Kernenergie der SPD-Fraktion habe ich selbstverständlich Gespräche mit meiner Fraktionskollegin Dr. Margrit Wetzel geführt und sie hat mir versichert: Die Lichter gehen nicht aus! Der Konsens zum Kernenergieausstieg hat vielmehr das Ende der Kernkraftwerke berechenbar gemacht. Das gilt für alle Kernkraftwerke. Es gibt auch keine Auswirkungen auf die energieintensive Industrie der betroffenen Region. Für die Mitarbeiter in den Kernkraftwerken ist die Zukunft durch den Konsens planbar. Außerdem bleibt das Kernkraftwerk Stade noch viele Jahre als Arbeitgeber erhalten. Der Rückbau beschäftigt die Hälfte der Mitarbeiter für die nächsten zehn Jahre. Wer wollte, konnte an andere Standorte innerhalb des Konzerns versetzt werden. Laut Aussage der Eon-Sprecherin Petra Uhlmann wird sich für die 300 Beschäftigten voraussichtlich fast nichts ändern. Sie sagte wörtlich: Die Mitarbeiter werden am Samstag ganz normal zur Schicht gehen. Wir erleben eigentlich eine merkwürdige Situation: Das AKW Stade wird abgeschaltet; gleichzeitig führen einige Stromkonzerne eine halb öffentliche Diskussion über eine Verlängerung der Laufzeiten der Reaktoren. Ich frage mich: Passt das zusammen? Der badenwürttembergische Wirtschaftsminister Döring fordert als treu sorgender Vertreter der Interessen der heimatlichen EnBW eine Verlängerung der Laufzeit auf 50 Jahre, damit das AKW Obrigheim nicht 2005, sondern erst 2018 vom Netz geht, und droht mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Eon-Vorstandsvorsitzende setzt noch einen drauf und verlangt gleich eine Verlängerung auf 60 Jahre, womit die Meiler seines Unternehmens noch länger laufen dürften, als sie schon in Betrieb sind. Auch der RWEVorstand Maichel lässt in seiner Eigenschaft als Präsident des Deutschen Atomforums keine Gelegenheit ungenutzt, den Atomausstieg als Unsinn zu bezeichnen. ({7}) Wenn sich diejenigen Stromkonzerne, die den Atomkonsens mit ausgehandelt und unterzeichnet haben, direkt oder indirekt aus der Vertragstreue stehlen und den Konsens zur Disposition stellen, dann halte ich das für unverantwortlich und für eine nicht hinnehmbare Provokation. ({8}) Das geht gegen den Geist des Konsenses. Es gibt auch Spekulationen über eine deutsche Beteiligung an Atomkraftwerken in Frankreich. Diese Spekulationen wurden von den Stromkonzernen zwar zurückgewiesen; ich möchte trotzdem klar sagen: Eine Beteiligung der deutschen EVUs an den Kernkraftwerken in Frankreich würden wir als ein Bekenntnis zum Wiedereinstieg in die Kernenergie auslegen. Dies würde sicherlich ein erneutes Nachdenken über den Konsens erforderlich machen. Dietmar Kuhnt, einer der vier Unterzeichner des Atomkonsenses seitens der EVUs, hat vor kurzem eine zum Teil beachtenswerte Rede gehalten, als er von der Kerntechnischen Gesellschaft zum Ehrenmitglied ernannt wurde. Er hat in der Höhle des Löwen ausgeführt, dass die Nutzung der Kernenergie mit erheblichen Problemen verbunden sei, die man nüchtern und selbstkritisch analysieren sollte. Die Nutzung der Kernenergie sei nicht mehrheitsfähig. Es mangele an gesellschaftlichem Vertrauen in den sicheren Betrieb von Kernkraftwerken. Diese kritischen Töne sollten sich die EVUs zu Eigen machen. Blicken wir nicht zurück, blicken wir voraus! Im Energiebereich liegen immense Aufgaben vor uns. Das EEG ist nur ein Schritt auf dem Weg zu einem nachhaltigen Umbau der Energiesysteme in Deutschland. Unsere heutige Energieversorgung muss kritisch hinterfragt werden. Zentrale Großeinheiten, bei denen bis zu zwei Drittel der eingesetzten Energie als Abwärme anfallen und damit verschwendet werden, sind nicht zukunftsfähig. Es sei auch ganz deutlich gesagt: Große OffshoreWindkraftwerke allein sind kein Ersatz für die Atomenergie. Sie sind ein wichtiger Bestandteil eines vielfältigen und vernetzten Systems innovativer und überwiegend dezentraler Energietechnik. Ein anderer Baustein ist die Nutzung der Erdwärme in der Grundlast. Ich will hier die verschiedenen Bausteine nicht weiter aufführen, weil mir dafür die Zeit fehlt; der Herr Präsident ermahnt mich. Die Zukunft liegt auf jeden Fall in einem innovativen, vernetzten, dezentralen System, das wir für unsere Kinder und Kindeskinder vorbereiten müssen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im August dieses Jahres hat der Umweltminister seinen Referentenentwurf zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorgelegt. Seitdem konnten wir einen langen Streit zwischen Umwelt- und Wirtschaftsminister mitverfolgen, einen Streit, der die Branche der erneuerbaren Energien stark verunsichert, Investitionen behindert und Arbeitsplätze gefährdet hat, einen Streit, der aber auch die Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung in der Klimaschutz- und Energiepolitik deutlich gemacht hat. ({0}) Nach wie vor fehlt es der rot-grünen Bundesregierung an einem in sich schlüssigen Energieprogramm für die nächsten 30 Jahre. ({1}) Dies stellt sich gerade jetzt als ein großes Versagen der Regierung heraus. ({2}) Wenn wir über die zukünftige finanzielle Förderung der erneuerbaren Energien diskutieren, dann kann dies sinnvollerweise nur auf der Grundlage eines breiten energiepolitischen und Klimaschutzkonzepts erfolgen. Wir könDr. Peter Paziorek nen den Stellenwert und die Größenordnung der erneuerbaren Energien nicht losgelöst von einer solchen Grundsatzentscheidung betrachten. Wir fordern von Ihnen seit Jahren die Vorlage eines solchen energiewirtschaftlichen Konzepts. Sie leisten dies nicht. Der ehemalige Wirtschaftsminister Müller hat noch vor kurzem hier in Berlin erklärt, dass bisher, also auch zu seiner Zeit als Minister, alle Versuche gescheitert sind, in der rot-grünen Koalition einen solchen energiepolitischen Rahmen zu verabschieden. Eine Klimaschutz- und Energiepolitik, die heute etwas zum Atomausstieg, morgen etwas zu den erneuerbaren Energien und irgendwann auch zu der Erneuerung des konventionellen Kraftwerkparks beschließt, ohne letztlich zu prüfen, wie das eigentlich zusammenpasst, wird scheitern. Die Folgen Ihrer Streitigkeiten, die Folgen Ihrer Konzeptionslosigkeit treten heute offen zutage. ({3}) Sie haben die Branche der erneuerbaren Energien zutiefst verunsichert. ({4}) Das von Ihnen verursachte Durcheinander hat zu einer Gefährdung der Existenz bestimmter Branchen wie Photovoltaik, Biomasse und Biogas geführt. In diesen Bereichen sind die Märkte fast vollständig zusammengebrochen und Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet. ({5}) Das haben Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ganz allein zu verantworten. ({6}) Es ist auch nicht akzeptabel, wie bei den absehbar unterschiedlichen Positionen der beiden Minister für Umwelt und Wirtschaft in dieser Koalition der Abstimmungsprozess stattgefunden hat. Sie hätten dafür sorgen müssen, dass Sie rechtzeitig zu vernünftigen Entscheidungen kommen. So wie Sie in die Beratungen zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes hineingestolpert sind, darf man in der Umweltpolitik nicht agieren. Das spüren immer mehr Menschen in Deutschland, die sich für Umweltpolitik einsetzen. ({7}) Inzwischen wird das von Ihnen wohl auch so gesehen. Anders ist der heute hier vorliegende Entwurf eines Vorschaltgesetzes zur Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gar nicht zu verstehen. Sie unternehmen damit jetzt den Versuch, die Versäumnisse und Fehler Ihrer Politik aus den letzten Wochen und Monaten zumindest bei der Photovoltaik zu heilen. Wir sehen, wozu die Handlungsunfähigkeit in den letzten Wochen geführt hat. In einem Hauruckverfahren soll das Vorschaltgesetz zur Photovoltaik jetzt durch das Parlament gepeitscht werden, um so ein In-Kraft-Treten zum 1. Januar 2004 zu ermöglichen und um so der betroffenen Wirtschaft noch rechtzeitig ein positives Signal zu geben. ({8}) Richtig wäre es gewesen, die hier heute zu diskutierende Frage einer Förderung der Photovoltaik umfassend im Rahmen der jetzt anstehenden EEG-Novelle zu erörtern. Es stellt sich auch die Frage, warum nur die Regelung zur Photovoltaik vorgezogen wird. Sprechen Sie einmal mit den interessierten Verbänden! Die Situation bei der Photovoltaik ist nicht einzigartig. Die gleiche katastrophale Lage ist bei Biogas gegeben. Der gesamte Auftragsbestand ist zusammengebrochen. Im Bereich der Biomasse gibt es Zurückhaltung, weil Ihre Grundsatzentscheidungen zu spät gekommen sind. ({9}) Darüber hinaus hat der Minister die Chuzpe gehabt - das muss man einmal deutlich sagen -, sich vor dem Brandenburger Tor hinzustellen und zu erklären: „Wir haben uns hervorragend geeinigt“, in seiner Rede aber nicht zu sagen, wie die Einigung für Biomasse und Biogas aussieht. Für diese Bereiche soll unter der rot-grünen Regierung der Förderzeitraum von 20 auf 15 Jahre reduziert werden. Die Eckpunkte, die Sie vereinbart haben, führen zu dem Ergebnis, dass Biomasse und Biogas in Deutschland keine Chance haben. Da kann man nur sagen: Sie fahren die Politik für die erneuerbaren Energien vor die Wand. ({10}) Wie lange wissen Sie denn schon von dem Auslaufen des 100 000-Dächer-Programms für Photovoltaik? ({11}) Die Tatsache war schon seit Juni dieses Jahres bekannt. Aber Sie haben das Problem nicht angepackt und es versäumt, rechtzeitig entsprechende Nachfolgeregelungen auf den Weg zu bringen. Sie haben einfach die Dinge schleifen lassen und greifen nun zum Notnagel Vorschaltgesetz, weigern sich aber, uns zu erläutern, ob nicht eventuell auch ein anderes Förderprogramm in der Nachfolge des 100 000-Dächer-Programms möglich gewesen wäre. ({12}) Sie haben die Angelegenheit vor die Wand gefahren und rufen nun das Parlament um Hilfe an. Sie sind inzwischen zu Vertretern einer völlig konzeptionslosen Umweltpolitik geworden. Peinlich, peinlich, kann man da nur sagen. ({13}) Es ist ja nicht das erste Mal - das sage ich, weil Sie laufend dazwischenrufen -, dass Sie so verfahren. Ich erinnere nur an das überstürzte Vorgehen bei der Härtefallregelung im vergangenen Jahr. Jetzt wollen Sie bei der Photovoltaik das Gleiche wiederholen. Was Sie, meine Damen und Herren, bei den erneuerbaren Energien betreiben, ist reine Flickschusterei. ({14}) In diesem Zusammenhang möchte ich für die Union grundsätzlich feststellen: Das beschleunigte Verfahren mithilfe eines Vorschaltgesetzes werden wir aufgrund der besonderen Situation der Photovoltaikbranche in diesem Fall akzeptieren. ({15}) Die Photovoltaikbranche darf nicht zum Opfer Ihrer falschen und verfehlten Politik werden. ({16}) Bei der großen Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz wird es aber ein Durchpeitschen mit uns nicht geben. In dem Zusammenhang ist auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen: Es war ja schon interessant, wie die Arbeitsteilung zwischen dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium in den letzten Wochen und Monaten verlaufen ist. ({17}) Während der Umweltminister bei Umweltverbänden und Vertretern der erneuerbaren Energien eine bessere Förderung versprochen hat, sagte der Wirtschaftsminister bei den Wirtschaftsverbänden genau das Gegenteil. So berichtet die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 31. Oktober 2003 von einer Vortragsveranstaltung der Handelskammer Deutschland-Schweiz, an der auch Wirtschaftsminister Clement teilgenommen hat. Da wird wie folgt über den Minister geschrieben - ich darf zitieren, Herr Präsident -: Andererseits geißelte der Superminister der rot-grünen Regierung jedoch die ständig neuen Auflagen im Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, denen die Industrie genügen muss … Das, Herr Müntefering, wäre ein berechtigter Anlass für einen Zwischenruf; aber ich sehe ja an Ihrem Gesicht, dass Sie völlig konsterniert und entgeistert schauen. ({18}) Das ist genau das Problem Ihrer Politik: Sie reden so, wie es Ihrer Klientel gerade passt. ({19}) Deshalb kann ich Ihnen für meine Fraktion ausdrücklich sagen: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich zum Verdopplungsziel der Europäischen Union bei den erneuerbaren Energien. Wir bekennen uns damit auch zu dem Teilziel, das Deutschland innerhalb der Europäischen Union bis zum Jahre 2010 erreichen soll, nämlich den Anteil der erneuerbaren Energien auf 12,5 Prozent beim Stromverbrauch zu erhöhen. Genauso deutlich sage ich aber auch: Jetzt schon bei den erneuerbaren Energien verbindliche Ziele zu formulieren, die über das Jahr 2010 hinausgehen, halten wir für falsch. ({20}) Wir sollten uns erst einmal darauf konzentrieren, die bestehenden Ziele zu erreichen. Nachdem Sie, Herr Kelber, ja gerade so laut „Aha!“ gerufen haben, erlaube ich mir zu entgegnen: Ich habe das bewusst vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Klimaschutzdebatte der letzten Tage und Wochen gesagt. Wir haben da einschlägige Erfahrungen mit Ihnen gesammelt. Von Ihnen werden nämlich laufend neue Ziele formuliert, während Sie sich gleichzeitig von den alten Zielvorgaben klammheimlich verabschieden. ({21}) Seit 1998 - übrigens auch in mehreren Koalitionsvereinbarungen - wurde von Rot-Grün das Ziel der Regierung Kohl, den CO2-Ausstoß bis 2005 um 25 Prozent zu verringern, mehrfach bekräftigt. Jetzt aber, wo absehbar ist, dass Sie dieses Ziel mit Ihrer Politik nicht erreichen können, wird von Ihnen so getan, als ob Sie damit nichts zu tun hätten. ({22}) Deshalb ist Ihre Klimaschutzpolitik so unredlich: Sie formulieren Ziele bis 2050, ({23}) sind aber noch nicht einmal in der Lage, selbst gesteckte Ziele bis 2005 zu erreichen. Das muss man Ihnen vorhalten. ({24}) Für uns stehen bei einer Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes die folgenden vier Ziele im Vordergrund: erstens die Förderung einer nachhaltigen Klimaschutzpolitik, zweitens die Schaffung effizienter Anreize, die zu einer weiteren Verbesserung der einzelnen Technologien und zu einer Senkung der Produktionskosten führen, drittens die Begrenzung der Kostenbelastung durch die EEG-bedingte Förderung für die Stromverbraucher, insbesondere aber auch für stromintensive Unternehmen, und viertens die Schaffung von Wettbewerbsfähigkeit und damit auch von Exportfähigkeit der erneuerbaren Energien. Die Förderung der erneuerbaren Energien dient dazu, möglichst schnell deren Marktreife zu erreichen - ein Grundsatz übrigens, der für alle Förderinstrumente gilt. Daraus folgt natürlich auch, dass die Förderung zeitlich begrenzt sein muss und dass sie vom Gesamtrahmen her nicht aus dem Ruder laufen darf. Aber noch haben die erneuerbaren Energien die Marktreife nicht erreicht, auch wenn in den letzten Jahren erhebliche technische Fortschritte und Effizienzsteigerungen erreicht werden konnten. ({25}) Dieser Prozess muss beschleunigt werden. Deshalb sage ich für meine Fraktion sehr deutlich: Wer jetzt die Förderung der erneuerbaren Energien so beschneiden will, dass sie in ihrer Existenz gefährdet werden, wird bei der Union keine Unterstützung finden. ({26}) Denn eines muss man in diesem Zusammenhang hervorheben: Wir fördern hier eine junge Industrie, deren Geschäftsfelder sich international gesehen erst entwickeln. Wir gehen davon aus, dass auf diesem Gebiet zukünftig große Chancen im Export liegen werden. ({27}) Wir möchten nicht, dass, wenn in einigen Jahren neue Geschäftsfelder erschlossen werden - wie im Offshorebereich, im Repowering, also bei der Leistungssteigerung der Windkraft, oder bei Biomassekraftwerken, die mit nachwachsenden Rohstoffen arbeiten -, diese dann von ausländischen Anbietern besetzt werden und wir - wie schon in anderen Bereichen - das Nachsehen haben. Wir müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze bei uns geschaffen werden, dass deutsche Unternehmen auf den Weltmärkten bestehen können, dass die Technologie bei uns entwickelt wird. Aber dafür muss ein klarer Zeithorizont vereinbart werden. Eine Dauerförderung lehnen wir ab. Verbindliche Zielvorstellungen, die über 2010 hinausgehen, sind ohne ein energiepolitisches Gesamtkonzept, das festlegt, wo wir insgesamt hinwollen, ein völlig falsches Signal. Wir, die Unionsfraktion, wollen die Unsicherheit in der Photovoltaikbranche beseitigen und für die Unternehmen Rechts- und Planungssicherheit und damit Investitionssicherheit schaffen. Der heute hier vorgelegte Gesetzentwurf findet nur deshalb unsere Unterstützung, weil wir uns unserer Verantwortung für die Photovoltaikbranche und die vielen Tausend Arbeitsplätze bewusst sind. Entscheidend für unser Abstimmungsverhalten in der nächsten Sitzungswoche wird aber sein, ob die angedachten Fördersätze in dieser Höhe eine Überförderung bedeuten oder nicht. Eine Überförderung, wie es sie zum Teil bei der Windkraft gab, darf nicht erneut bei der Photovoltaik auftreten. So stellt sich zum Beispiel die Frage, warum in Ihrem Gesetzentwurf der Degressionssprung von heute 45,7 auf 43,4 Cent pro Kilowattstunde im Jahre 2004 nicht mehr auftaucht. Sie planen damit eine Erhöhung gegenüber der im EEG vorgesehenen Regelung. Auch müssen die Zuschläge in ihrer Wirkung überprüft werden: Ein Zubauen von Freiflächen in großem Umfang durch Photovoltaikanlagen wäre unter den Gesichtspunkten des Landschaftsund Naturschutzes kontraproduktiv. Die entscheidende Frage wird für uns bei der Prüfung somit sein: Wie werden sich die Zuschläge auswirken? Meine Damen und Herren, wir wollen bei diesem Vorschaltgesetz zu einer ökonomisch und ökologisch sinnvollen Lösung kommen, die der Photovoltaikbranche neue Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen dazu beitragen, dass Ihre Fehlentscheidungen in diesem Bereich korrigiert werden. Wenn dies gewährleistet ist, können wir zustimmen. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Dieser Tag wird von zwei großen Ereignissen eingerahmt: Morgen geht das AKW Stade vom Netz. Damit beginnt ganz konkret der Atomausstieg, für den besonders wir Grüne lange gekämpft haben. ({0}) Gestern wurde in Neustadt-Glewe das erste Erdwärmekraftwerk eingeweiht. Wenn auch das eine das andere nicht konkret ersetzt, so sind diese beiden Ereignisse doch Ausdruck der rot-grünen Energiepolitik. ({1}) Ein Eckpunkt der zukünftigen Energieversorgung steht, nämlich das gemeinsame Ziel der Minister für Wirtschaft und für Umwelt sowie der beiden Fraktionen, dass wir bis zum Jahr 2020 20 Prozent der Stromversorgung durch erneuerbare Energien bereitstellen wollen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU das mittelfristige Ziel, bis 2010 einen Anteil von 12 Prozent zu erreichen, unterstützt. Damit ist klar, dass all diejenigen, die in der Sommerpause und auch jetzt Fundamentalopposition hinsichtlich der erneuerbaren Energien betrieben haben, keine Chance haben, ihre Position durchzusetzen. Es gibt im Parlament und in der Gesellschaft eine breite Mehrheit, die für die Förderung der erneuerbaren Energien ist. ({2}) Die erneuerbaren Energien kommen aus der Ökonische heraus; denn sie werden ein substanzieller Bestandteil der zukünftigen Energieversorgung sein. Es gibt die verlogene Debatte, Windkraft sei keine wertvolle Energie. Vor dem Hintergrund, dass in Dänemark die Windenergie einen Anteil von 22 Prozent hat und es dort keine Probleme damit gibt, und vor dem Hintergrund, dass wir einen schwankenden Verbrauch haben und die Energieversorger auch mit einer schwankenden Energieproduktion umgehen könnten - sie müssen nur wollen und einen entsprechenden Kraftwerkspark schaffen; Pumpspeicherwerke, die durch den Ausstieg aus der Atomenergie frei werden, könnten genutzt werden -, muss ich sagen, dass der Ausbau der Windenergie absolut machbar und finanzierbar ist. ({3}) Deswegen sage ich: Diese Diskussion ist reine Propaganda. ({4}) Das EEG ist ein reines Innovationsgesetz. Wir haben in der letzten Zeit eine Kostenreduktion von 60 Prozent erreicht. Herr Paziorek, Sie blasen die Backen so dick auf für einen Erfolg der erneuerbaren Energien. Ich freue mich darüber. Trotzdem muss ich sagen: Zum einen haben Sie beim ersten Mal gegen das EEG gestimmt; ({5}) wir haben es gegen Ihren Widerstand durchsetzen müssen. Zum anderen werden wir sehen, ob Ihre Backen immer noch aufgeblasen sind, wenn es zur Abstimmung über das Gesetz kommt. Ich hoffe, dass Sie es diesmal unterstützen. ({6}) Wir jedenfalls wollen die breite Entwicklung der erneuerbaren Energien. Wir wollen eine Perspektive für Offshore-Windparks, aber auch für den weiteren Ausbau im Binnenland. Wir wollen eine dynamische Entwicklung im Bereich der Biomasse. Wenn die Vergütungssätze nicht ausreichen, werden wir in diesem Punkt nachbessern. Wir wollen eine dynamische Entwicklung bei der Nutzung der Erdwärme und die Modernisierung der Großen Wasserkraft. Wir sagen auch klar, dass sich das Land Baden-Württemberg positiv zum EEG verhalten muss. Denn es ist ein Widerspruch, auf der einen Seite die Ausgaben, die mit dem EEG verbunden sind, erhöhen zu wollen und auf der anderen Seite gegen das EEG zu sein. Das geht nicht! ({7}) Wir wollen auch eine dynamische Entwicklung bei der Kleinen Wasserkraft. Bei der Photovoltaik haben wir uns zu einem Vorschaltgesetz entschlossen. Wir wollen nämlich, dass die nächste Photovoltaiksaison schon genutzt werden kann. Die Menschen entscheiden sich im Frühjahr, wenn die Sonne wieder länger scheint, dass sie sich eine Anlage aufs Dach setzen. ({8}) Diese Branche braucht Rechtssicherheit. Deswegen bitte ich Sie, dass Sie das zügige Verfahren mittragen und dass wir zum Wohle der Photovoltaikindustrie mit dieser Beratung schnell vorankommen. Ein Wort zur FDP. Erstens. Sie sagen zwar immer, Sie seien für die erneuerbaren Energien. Auf der anderen Seite sagen Sie aber, dass Sie einen Wechsel wollen. Dieser Wechsel der Instrumentarien würde eine große Verunsicherung der Branche bewirken. Denn allein schon die Diskussion, die Herr Paziorek angeführt hat, verunsichert die Branche. Ein Wechsel des Modells hätte dramatische Folgen. So weit zu diesem Punkt. Zweitens. Ihr Modell wird in Großbritannien praktiziert; es führt aber zu keinem weiteren Ausbau der Windkraft. ({9}) Gleichzeitig sind die Vergütungssätze wesentlich höher als in Deutschland. Drittens. Sie sagen, Sie wollen Wettbewerb zwischen den Trägern der erneuerbaren Energien. Dann sagen Sie aber auch ganz ehrlich, dass Sie nur den Ausbau der Windkraft, aber keine Nutzung der Photovoltaik, der Biomasse und der Erdwärme wollen. ({10}) Denn in Konkurrenz zur Windkraft haben die anderen erneuerbaren Energien keine Chance - noch keine Chance. ({11}) Seien Sie also ehrlich! ({12}) Die Vision von einem Anteil in Höhe von 20 Prozent, perspektivisch von 50 Prozent - die Grünen sprechen von 100 Prozent - ist eine machbare und eine notwendige Vision; denn wir brauchen den Klimaschutz jetzt und in der Zukunft. Wir müssen die Abhängigkeit vom Öl reduzieren; wir dürfen nicht mehr am Tropf von fossilen Energieträgern aus Krisenregionen hängen. Wir sind auf einem guten Weg. Solange wir Grünen an der Regierung beteiligt sind, solange es eine rot-grüne Regierung gibt, werden wir diesen Weg unbeirrbar weiter beschreiten. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das von den Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Zweite Gesetz zur Änderung des EEG zeigt vor allem eines: Das neue Hätschelkind der erneuerbaren Energien soll die Solarenergie sein. Zur Kompensation des 100 000-Dächer-Programms wird mal eben schnell ein Vorschaltgesetz eingebracht. Das ist Klientelpolitik. ({0}) Entgegen jeder Vernunft und Logik soll damit die unwirtschaftlichste aller Regenerativenergien als erste bedient werden. Laut Aussagen des BSi, des Bundesverbandes Solarindustrie, wird Solarstrom erst am Ende des Jahrhunderts mit herkömmlichem Strom konkurrieren können. Das ist Schneckentempo. ({1}) - Das hat der BSi auf einem Kongress vor acht Tagen selbst gesagt. ({2}) Die Bedeutsamkeit des Anteils der Solarenergie an den erneuerbaren Energien insgesamt lässt sich auch an folgenden Zahlen ermessen: So wird durch Wasserkraft ein Anteil von 53,9 Prozent erzeugt, Windkraft erbringt einen Anteil von 37,9 Prozent, Biomasse immerhin 8 Prozent und weit abgeschlagen folgt die Solarenergie mit 0,2 Prozent. Da frage ich mich an dieser Stelle: Welchen nennenswerten Anteil kann die Solarenergie hier in Deutschland überhaupt zur Erreichung des Klimaziels erbringen? ({3}) Mit dem heute hier eingebrachten Vorschaltgesetz soll die Basisvergütung noch einmal angehoben werden. Es gibt eine Reihe von Aufschlägen zu den verschiedenen Installationsvarianten. Insgesamt ist es eine komfortable Verbesserung der Vergütungssätze. Auch Flächeninstallationen will man besonders forcieren. Eines ist merkwürdig: An anderer Stelle erteilt der Umweltausschuss dem TAB den Auftrag, zu untersuchen, wie man die Flächeninanspruchnahme zurückfahren könnte. ({4}) Meine Überzeugung ist: Die Solartechnologie sollte man vorwiegend in den Ländern installieren, die als sonnenreich bekannt sind, ({5}) vor allem auch in den Entwicklungsländern, in denen ein sehr großer Energiebedarf bislang nicht ausreichend gedeckt werden kann. ({6}) Ich möchte auch noch einmal auf folgende Kostenkonstellation hinweisen: Die Vermeidung einer Tonne CO2 mit Solarenergie kostet in Deutschland 500 Euro, in den Entwicklungsländern dagegen nur 5 Euro, ein Hundertstel. Das sollte man doch bitte einmal auf sich wirken lassen. ({7}) - Ja. Wir reden heute zu meiner großen Enttäuschung im Zusammenhang mit diesem Vorschaltgesetz nur über Photovoltaik. Ich sehe hier wieder einmal eine vertane Chance von Rot-Grün, Energie- und Klimapolitik miteinander zu verknüpfen und die Kioto-Instrumente wie CDM zu nutzen. Wir fordern, bei klimarelevanten Investitionsprojekten im Rahmen der technischen Entwicklungspolitik insbesondere auch den internationalen Zertifikatehandel zu forcieren. Ich komme zu unserem eigenen Antrag, der Perspektiven für eine marktwirtschaftliche Förderung der erneuerbaren Energien aufzeigt. In unserem Modell wollen wir das Klimaziel mit einem Mengenziel und durch Ausschreibungsverfahren erreichen. Die erneuerbaren Energien sind schnellstmöglich durch marktwirtschaftliche Förderung zur Wettbewerbsfähigkeit zu führen. ({8}) Wenn die erneuerbaren Energien darüber hinaus zukunftsfähig werden sollen, müssen sie grundlastfähig werden. Dabei darf die Netzeinspeisung bei weitem nicht die alleinige Option bleiben. Eine auf Energiespeicherung aufbauende Nutzung der erneuerbaren Energien hätte den Effekt, dass das Vorhalten von Regelenergie zunehmend entfiele. Beides vermeidet Kosten. Hier ist insbesondere an die Wasserstofftechnologie und die Brennstoffzelle gedacht. Nicht zuletzt geht es auch um eine Einbindung des Verkehrssektors in ein klimapolitisches Gesamtkonzept. In unserem Antrag zur Energiespeicherforschung, der heute mit beraten wird, fordern wir, hochleistungsfähige Energiespeicher zu entwickeln. Wir wollen hinausgehend über die derzeit praktizierte anwendungsorientierte Forschung, bei der es um die Marktfähigkeit und die Wirtschaftlichkeit von bereits bekannten Energiespeichersystemen - dies ist die so genannte Ressortforschung - geht, die Grundlagenforschung verstärken. In unserem Energiespeicherantrag wollen wir aber auch mit Blick auf eine zukunftsfähige Gesamtenergieversorgung die Bereiche Kernfusionsforschung und kerntechnische Sicherheitsforschung nicht vernachlässigt sehen. ({9}) Nur so kann sich Deutschland als Standort für die Entwicklung und den Export energiewirtschaftlicher Hochtechnologie bedeutsam positionieren. Meine Damen und Herren, angesichts dieser Handlungsmöglichkeiten und Herausforderungen ist der von Umweltminister Trittin vorgelegte Novellierungsentwurf eine - ich muss dieses Wort noch einmal aufgreifen - ideenlose Flickschusterei. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, den erneuerbaren Energien endlich eine langfristig tragfähige Perspektive zu eröffnen. Liberale Vorschläge liegen auf dem Tisch. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Michael Müller, SPDFraktion. ({0})

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selbst in der ökonomischen Debatte liegen Sie weit zurück. ({0}) Ich verweise auf einen Beitrag des „Economist“ in der vorletzten Woche. Darin wird deutlich herausgestellt, dass, wenn auf dem Energiesektor überhaupt eine Zukunftschance bestehen soll, dies nur die massive Förderung der Solarenergie und der erneuerbaren Energien sein kann. Bei Ihnen gibt es in diesem Zusammenhang einen zentralen Widerspruch. Sie sagen, Sie wollten diese Energien. Aber Sie wollen nichts dafür tun. Das geht nicht. ({1}) Da gibt es Konflikte und diese Konflikte muss man austragen. Das Grundproblem im Energiebereich ist, dass es hier um lange Nutzungszyklen und hohe Kapazitäten geht. Deshalb müssen am Anfang die notwendigen Weichen durch den öffentlichen Sektor, auch durch den Staat, gestellt werden - natürlich mit dem Ziel, dass sich die erneuerbaren Energien bald selbst tragen. Ohne eine Weichenstellung des Staates werden sie sich nicht durchsetzen. Genau um diesen Punkt drücken Sie sich herum. Aber an diesem Punkt kommen Sie nicht vorbei, wenn Sie es mit den erneuerbaren Energien ernst meinen. ({2}) Es ist gut, dass das Parlament eine Energiedebatte führt. Denn wir stehen wie kaum zuvor in einem Jahrzehnt mit grundlegenden Weichenstellungen im Energiebereich. Auf der einen Seite läuft eine alte Energiephilosophie aus. Diese alte Energiephilosophie war ausschließlich darauf ausgerichtet, hohe Kapazitäten zu schaffen und möglichst niedrige Erzeugerpreise zu gewährleisten. Dabei wurde aber nie darüber nachgedacht, ob das wirklich effizient und zukunftsfähig ist. Auf der anderen Seite müssen wir in diesem Jahrzehnt darüber entscheiden, wie die Energiepolitik der Zukunft aussieht. Deshalb ist es gut, dass wir im Bundestag intensiv darüber debattieren. Ich stelle fest: Mit den beiden zentralen Weichenstellungen, die Rot-Grün bisher vorgenommen hat - der Abschied von der verschwenderischen Atomenergie, mit der in der Tat keine Zukunft zu machen ist, und der Einstieg in mehr Effizienz und in die Solarenergie -, liegen wir auf der richtigen Seite - das ist bei aller Kritik im Einzelnen der entscheidende Punkt -, Sie aber stehen auf der falschen Seite. ({3}) Dabei muss man auch sehen, dass die Branche das völlig anders sieht, als Sie, Herr Paziorek, es hier behauptet haben. Sie haben gesagt, Rot-Grün habe die Solarenergie vor die Wand gefahren. Ich glaube, da werden Sie bei denjenigen, die damit tagtäglich umgehen, keine Unterstützung finden. Aber das ist Ihr Problem und nicht unser Problem. ({4}) Wir stehen vor einer grundlegenden Weichenstellung. Die Notwendigkeit dieser Weichenstellung ist in den letzten Monaten überall deutlich geworden, beispielsweise bei den großen Stromausfällen in Schweden, Nordamerika und Italien. Da hat man gesehen, dass im Strombereich der Markt allein, besonders wenn er nur auf die kurzfristige Sicherung von hohen Kapazitätsauslastungen ausgerichtet ist, keine Sicherheit geben kann. Der bisherige Weg ist heute ökonomisch, ökologisch und gesellschaftspolitisch fraglich. Diesen Weg, den Weg der Großkapazitäten im alten Sinne, werden wir nicht gehen. ({5}) Ein weiterer wesentlicher Punkt ist: Heute können wir durch die Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien dezentrale Energietechniken sehr viel besser miteinander verbinden. Wir brauchen nicht mehr die alte Philosophie, zu der immer größere Kraftwerke, immer größere Reserveleistungen und immer größere Entfernungen vom Kunden gehörten. Diese Chance müssen wir nutzen. Diese kleinteiligen Strukturen braucht die Energiepolitik der Zukunft. Auch da sind Sie auf der falschen Seite. Herr Teufel spekuliert nämlich darüber, ob es zu einem Neueinstieg in die Atomenergie kommt. Die Atomenergie wird nicht nur aus Sicherheitsgründen und wegen der Entsorgungsproblematik von uns abgelehnt, sondern auch weil sie einer modernen, effizienten und umweltverträglichen Energieversorgung im Wege steht. Das ist der entscheidende Punkt. Wir öffnen den Weg in die Zukunft und Sie hängen an der Vergangenheit. Das ist in der Energiepolitik deutlicher als in anderen Bereichen. ({6}) Klimaschutz werden wir nicht mit den ineffizienten Großstrukturen der Vergangenheit erreichen, bei denen zwei Drittel der Energie als Abwärme verloren gehen. Das ist nicht der Weg; das kann er nicht sein. Zur Energiepolitik der Zukunft gehören vielmehr Effizienz in der Erzeugung, Einsparen und Solarenergie. Diese drei Säulen bestimmen den Weg von Rot-Grün. Das ist der Weg der Modernisierung unserer Gesellschaft und Wirtschaft. ({7}) Ich komme auf den „Economist“ zurück. Wir müssen lernen, was die großen Abhängigkeiten von den fossilen Michael Müller ({8}) Energieträgern bedeuten. Die Abhängigkeit vom Uran ist übrigens mindestens genauso groß. Das wird immer verschwiegen. Was ist denn in der Golfregion passiert? Was passiert im Bereich des Kaspischen Meeres? Was passiert in großen Teilen der Welt? 2 Milliarden Menschen haben keinen guten Zugang zur Energieversorgung. Wir lösen dieses Konfliktpotenzial nur mit dezentralen, kleinräumigen, effizienten Strukturen. Wir stoßen hier einen Teil einer friedlichen Weltinnenpolitik an. ({9}) Wir führen keinen Glaubenskrieg über große und kleine Kraftwerke. Die entscheidende Frage ist: Wie innovativ, wie erneuerungsfähig, wie modern ist das Energiesystem? Die Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft ist unser Maßstab. ({10}) - Das ist Herr Kauder aus Baden-Württemberg, wo man zu 60 Prozent vom Atomstrom abhängt, aber vom vernünftigen Energiemix redet. Da fasst man sich doch an den Kopf. ({11}) Sie sind so sehr von einem Energieträger abhängig und reden von Modernität! ({12}) Hier kommen die Sünden der Vergangenheit heraus, wo Sie einseitig auf Atomkraft gesetzt haben, die erkennbar nicht zukunftsfähig ist. ({13}) Diese Sünden holen Sie ein. Das ist doch heute Ihr Problem. ({14}) - Wir haben auch bei der Biomasse mehr angestoßen als Sie in Ihren 16 Jahren Regierungszeit. So ist doch die Wirklichkeit. Das wissen Sie ganz genau. ({15}) Welche Fördersätze gab es denn zu Ihrer Zeit? - Die gab es doch gar nicht. ({16}) Meine Damen und Herren, den Anstoß zur verstärkten Nutzung erneuerbarer Energien hat diese Bundesregierung gegeben. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Da können Sie noch so toben. So ist es eben. Das sollten Sie zugestehen. Es ist auch eine Frage der Psychologie: Erst muss man aussprechen, was wahr ist; dann hat man eine Chance, etwas zu verändern. Sie sprechen aber nicht einmal aus, was wahr ist. Das ist Ihr Problem. ({17}) Lassen Sie mich noch einmal zum Thema kommen. Wichtig ist, dass wir einen Weg der ökologischen Modernisierung gehen. Das ist ein Innovationsmotor für eine bessere Zukunft. Energiepolitik ist ein zentraler Punkt für ein modernes Europa und eine moderne Gesellschaft. Wir wollen, dass sie eines der Markenzeichen der Modernisierungs- und Reformpolitik der Bundesregierung bleibt. Es geht eben nicht nur um den Umbau der Sozialsysteme, sondern auch um bessere Technologien und Innovationen. Es geht darum, die Idee der Nachhaltigkeit in allen Bereichen zu verwirklichen. Das gilt auch und gerade für die Energiepolitik, weil das ein Schlüsselbereich für die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Deshalb ist es gut, dass wir morgen mit dem Abschalten des Atomkraftwerks in Stade einen ersten wichtigen Schritt tun. Das ist ein unverzichtbares Zeichen dafür, dass wir einen anderen Weg gehen wollen. Das muss sich nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis niederschlagen. Wir glauben, dass auch die Betreiber der Atomenergie außer wenigen Hardlinern genau wissen, dass das der richtige Weg ist. Der Kollege Kubatschka hat hier zu Recht die Rede von Herrn Kuhn zitiert. Wenn wir diesen ersten Schritt gehen, müssen wir aber auch den zweiten Schritt gehen. Es geht nicht nur um Strom, sondern um die ökologische Modernisierung insgesamt: auch im Verkehrssektor oder im Wärmebereich. In der Vergangenheit hat man Energiepolitik einfach nur mit Strom gleichgesetzt und die Einweihung eines neuen Kraftwerks als große energiepolitische Tat gefeiert. Energiepolitik der Zukunft setzt aber vor allen Dingen auf die Vermeidung von unnötigen Energieeinsätzen. Das ist ein ganz anderer, aber sehr viel intelligenterer Ansatz, für den wir stehen. ({18}) - Wenn ich Sie immer höre, bedaure ich es wirklich, dass Herr Baum nicht mehr im Parlament ist. Mit dem konnte man über solche Fragen immer gut diskutieren. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich sehr viel geändert hat. ({19}) - Da war die FDP noch eine Partei der Umweltpolitik. Das war damals ein positiver Beitrag für unser Land. Wir wollen einen Kurswechsel erreichen. Die Förderung erneuerbarer Energien ist ein Fortschritt und ein Ansatz gegen die Einfallslosigkeit, die in der Vergangenheit geherrscht hat. Michael Müller ({20}) Wir debattieren heute über zwei wichtige Punkte, und zwar zum einen über den nationalen Allokationsplan, den wir gleich verhandeln, und zum anderen über das EEG. Die Novelle des EEG, über die das Parlament noch ausführlich beraten wird, ist ein Zeichen für Kontinuität und Weiterentwicklung. Ich danke Ihnen übrigens dafür, dass Sie uns entgegen Ihrer bisherigen öffentlichen Aussagen dabei helfen, jetzt so kurzfristig über die Frage der Photovoltaik zu entscheiden. Das ist positiv. Das erkenne ich auch an. ({21}) Hinsichtlich der zwei gerade angesprochenen Punkte bitte ich darum, dass wir zu mehr Gemeinsamkeit finden. Zum Thema Klimaschutz herrschte in diesem Land einmal große Gemeinsamkeit und das ist diesem Land gut bekommen. Bei der großen Aufgabe, die Energiesysteme zu erneuern, sollten wir wieder zu mehr Gemeinsamkeit finden, unbeschadet dessen, dass wir in Einzelpunkten immer wieder kontroverse Auffassungen haben werden. Es wird unserem Land aber gut tun, wenn wir Vorreiter bei einer neuen, effizienten und solaren Energieversorgung sein werden. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Joachim Pfeiffer, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Diskussion um erneuerbare Energien wird häufig ideologisch oder emotional oder gar mit einer Mischung aus beidem geführt, wie es ja hier heute Morgen wieder lebhaft vorgeführt wurde. Das ist aber falsch. Das Thema ist nüchtern und sachlich anzugehen. Und die Wahrheit ist immer konkret. Die erneuerbaren Energien haben ihre Berechtigung und sollen zukünftig eine verstärkte Rolle spielen. Der Kollege Paziorek hat vorhin ausgeführt, welche Position die Union dabei einnimmt. Aber die erneuerbaren Energien sind eben kein Allheilmittel. Bei aller Begeisterung über die erneuerbaren Energien ist deren Förderung vor allem an den finanziellen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu orientieren. Energiepolitik findet nicht im luftleeren Raum oder gar im Raumschiff „Enterprise" statt. Energiepolitik ist Standortpolitik. Dabei geht es um Arbeitsplätze, um Investitionen, um die Attraktivität des Standortes Deutschland. ({0}) Die Energiepolitik und insbesondere die Energiepreise sind wichtige Wettbewerbsfaktoren für unsere Unternehmen; ebenso sind günstige Energiepreise für den privaten Konsum wichtig. Wir brauchen in Deutschland Energiepreise, die im europäischen Maßstab wettbewerbsfähig sind. Wir als Union wollen eine langfristig kostengünstige, international wettbewerbsfähige und umweltverträgliche Energieversorgung für Unternehmen und Verbraucher. ({1}) Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen wir eine Energiepolitik aus einem Guss. Isolierte Aktivitäten in einzelnen Sektoren helfen nicht weiter: hier der Ausstieg aus der Kernenergie mit der nach wie vor ungelösten Entsorgungsfrage, dort die Aktivitäten zur CO2-Reduktion und der Einstieg in den Emissionshandel, dann Planungs- und Investitionsunsicherheit hinsichtlich des Ersatzbedarfs bei Kraftwerken - dies ist schon angesprochen worden; der Ausstieg aus der Kernenergie erfordert einen Ersatzbedarf in Höhe von 22 000 Megawatt, zusätzlich werden in den nächsten zehn, 15 Jahren 40 000 Megawatt bei konventionellen Kraftwerken benötigt -, die Entwicklung der erneuerbaren Energien usw. Überall sind zum Teil hektische Aktivitäten zu verzeichnen, ohne dass ein Gesamtkonzept erkennbar wäre oder gar angestrebt würde. ({2}) Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt, die Wahrheit sei immer konkret. Wie sieht die konkrete Bilanz in Euro und Cent nach fünf Jahren rot-grüner Energiepolitik aus? ({3}) Ich greife exemplarisch den Stromsektor heraus. Die staatlich verursachte Belastung aller Stromkunden hat sich seit 1998 verfünffacht. Ich wiederhole, meine sehr geehrten Damen und Herren: verfünffacht! ({4}) Ich erläutere Ihnen das im Einzelnen: Sie haben die Ökosteuer beim Strom neu eingeführt, die Konzessionsabgaben sind gestiegen, die Belastung durch die erneuerbaren Energien ist geradezu explodiert und Sie haben das KWK-Gesetz neu eingeführt. Im Jahre 1998 betrug die Belastung der Stromkunden in Deutschland 2,28 Milliarden Euro. Diese Belastung ist in den letzten fünf Jahren über 4 Milliarden Euro, 7 Milliarden Euro, 8,5 Milliarden Euro und 9,5 Milliarden Euro in diesem Jahr auf 12,6 Milliarden Euro angestiegen. Das Ergebnis rot-grüner Energiepolitik ist also eine Verfünffachung der Belastung gegenüber dem Jahr 1998. ({5}) Bei diesen Zahlen wird einem schwindelig. Wenn man jetzt noch die Ökosteuer auf Kraftstoffe dazunimmt, dann sind wir wirklich in Absurdistan. Rot-Grün verfährt hier aber offensichtlich nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert. ({6}) Bei der Neuverschuldung für das Jahr 2003 waren im Haushalt zunächst 18,9 Milliarden Euro veranschlagt, am Ende werden es 43,3 Milliarden Euro sein. ({7}) - Die kommen gleich. - Bei der Maut fehlen 1 bis 2 Milliarden Euro. Sie rechnen offenbar damit, dass bei Ihrem Chaos die Milliarden bei der Energie irgendwie mit untergehen. Bisher - das muss ich Ihnen in der Tat attestieren - ist Ihre Rechnung aufgegangen. Die Abzocke im Energiebereich ist in der politischen und in der öffentlichen Diskussion untergegangen. Das werden wir ändern, meine sehr geehrten Damen und Herren. Jetzt werde ich noch konkreter: Was bedeutet diese Belastung - die Milliarden sind ja immer nur sehr virtuell und für den einzelnen Bürger nicht so greifbar - für den einzelnen Bürger, die Familien und die Unternehmen in diesem Land? Wir haben einmal ausgerechnet, was Ihre Politik, Ihre Beschlüsse für eine Familie mit zwei Kindern, einer Wohnung mit 100 Quadratmetern, einem durchschnittlichen Stromverbrauch von 5 000 Kilowattstunden im Jahr, einem Heizölverbrauch von 2 500 Litern pro Jahr sowie einem PKW mit einem Durchschnittsverbrauch von 8,9 Litern auf 100 Kilometer und einer durchschnittlichen Fahrleistung von 12 700 Kilometern im Jahr bedeuten. Sie belasten diese Familie im Jahr 2003 mit staatlich verursachten Abgaben in Höhe von 421,33 Euro. ({8}) Zum Vergleich: Das Vorziehen der dritten Stufe Ihrer vermurksten Steuerreform von 2005 auf 2004 bringt brutto eine Entlastung von einmalig 16 Milliarden Euro. Wenn man das umrechnet, kommt man zu dem Ergebnis, dass für den einzelnen Bürger gerade einmal ein Bruchteil dessen übrig bleibt, was Sie ihm über die Energieund Stromabrechnung auf subtile Weise aus der Tasche ziehen - Prinzip „rechte Tasche, linke Tasche“! Das ist moderne Wegelagerei und nichts anderes. ({9}) In der Wirtschaft sieht es nicht anders aus. Sie beeinträchtigen auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Ich kann Ihnen ein konkretes Beispiel aus meinem Wahlkreis in der Region Stuttgart nennen ({10}) - ich spreche gerade über die Zukunft Ihrer Energiepolitik -: Ein mittelständisches Unternehmen aus dem Automobilzuliefererbereich hat eine Investitionsentscheidung nicht zuletzt aufgrund der explodierenden Stromkosten gegen Deutschland gefällt. Das werden wir nicht weiter mitmachen. Verbraucher und Wirtschaft sind nicht unbegrenzt belastbar. Jetzt zum EEG. Wie hat sich das EEG im Detail entwickelt? Am Anfang stand das Stromeinspeisungsgesetz, das zu Beginn der 90er-Jahre übrigens nicht von Ihnen, sondern von der Union eingeführt wurde. ({11}) - Richtig, zusammen mit der FDP. - Das Vergütungsvolumen betrug 50 Millionen DM pro Jahr. In diesem Jahr wird das Vergütungsvolumen eine Höhe von 2,7 Milliarden Euro erreichen. Mir ist klar, dass man den Wert des eingesparten Stroms entsprechend abzuziehen hat, aber auch dann bleibt noch immer ein Subventionsvolumen von knapp 2 Milliarden Euro übrig, das die Verbraucher und die Wirtschaft zu tragen haben. Wenn Sie das mit der bisherigen Dynamik so weitertreiben, dann kommen wir im Jahr 2010 auf ein direktes Vergütungsvolumen von bis zu 7 Milliarden Euro allein aus dem EEG. ({12}) Hinzu kommen die Kosten für den Netzausbau und die Regelenergie. Das ist nicht zu schultern. Die Union wird daher in den nächsten Wochen ein Konzept vorlegen, wie wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben und gleichzeitig die Belastung für Wirtschaft und Verbraucher begrenzen und das gesamte System effizienter machen können. ({13}) Zum Photovoltaik-Vorschaltgesetz: Die Photovoltaik ist unstrittig eine interessante und zukunftsträchtige Technologie, und zwar nicht nur begrenzt auf den Einsatz in Deutschland, sondern vor allem auch für den Export. Auf diesem Feld wollen wir Technologieführer, Marktführer bei der Produktion und im Verkauf sein. Die Photovoltaik ist bei der regulären Stromerzeugung und der Einspeisung in das Netz - das gilt zumindest für Mitteleuropa - noch weit von der Wettbewerbsfähigkeit entfernt. Wir befinden uns in der Entwicklungs-, bestenfalls in der Versuchs- und Demonstrationsphase. Es geht in absehbarer Zeit also nicht, wie bei anderen erneuerbaren Energien, um die Markteinführung oder gar um die Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Energieträgern aus fossilen oder erneuerbaren Energiequellen, sondern vor allem um Technologieforschung. Das wird auch an den von Ihnen vorgeschlagenen Vergütungssätzen deutlich. Diese reichen von 45,7 Cent pro Kilowattstunde bis 62,4 Cent pro Kilowattstunde. Damit bewegen wir uns, was die Kosten gegenüber anderen Energieträgern angeht, im Bereich von Faktor 10. Die Photovoltaik ist heute aber bereits für den Inselbetrieb und vor allem für die Nutzung in anderen, sonnigeren Länder interessant. Um Märkte erschließen und exportieren zu können, sind Größendegressionseffekte bei der Fertigung zu erzielen. Die Frage ist nur: Soll die Exportförderung - das frage ich Sie ernsthaft - der eh schon über Gebühr belastete Verbraucher zahlen? Ist die Exportförderung nicht vielmehr Aufgabe von Forschungs- und Technologieförderung oder von Außenwirtschaftsförderung? Ihr Vorschlag ist insofern systemfremd. ({14}) Kommen Sie mir nicht mit der Haushaltslage. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Bei der Förderung der Zukunftstechnologie Photovoltaik geht es um einige hundert Millionen Euro. Das ist zwar viel Geld, aber Sie sind auch nicht bereit, diese Mittel zur Verfügung zu stellen. Herr Müller, Sie haben gerade dampfplaudernd über viele Bereiche gesprochen, den Bereich Steinkohle haben Sie aber vergessen. Ich will Ihnen in Erinnerung rufen: In dieser Woche hat Ihr Kanzler in den öffentlichen Haushalten en passant 17 Milliarden Euro für die Steinkohle bereitgestellt. Sie haben wertvolle Zeit verplempert und die gesamte Branche verunsichert. Spätestens seit Frühjahr dieses Jahres wissen Sie dies. Nachdem Sie ein halbes Jahr nichts unternommen haben, können Sie jetzt nicht andere für Ihre Fehler verantwortlich machen. Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben und beantworten Sie die gestellten Fragen, damit wir für diese und für andere Branchen Planungs- und Investitionssicherheit erreichen können! ({15}) Lassen Sie mich abschließend noch zu einem anderem Thema, das in dieser verbundenen Debatte auch aufzurufen ist, einige Sätze sagen. Es geht um das „Nuklearpackage“. Wir lehnen - auch meine Vorredner haben das gesagt - den Eingriff in originäre nationale Zuständigkeiten ab. Die Rückstellungen der deutschen Energieversorgungsunternehmen gehören zu den wenigen Wettbewerbsvorteilen, die wir innerhalb Europas noch haben. ({16}) Für den Rückbau der Nukleartechnik und die Entsorgung in Deutschland haben die deutschen Energieversorgungsunternehmen Rückstellungen in einer Größenordnung von 30 Milliarden Euro getätigt. ({17}) In Frankreich, das im Bereich der Kerntechnik einen wesentlich höheren Anteil hat, sind es weniger als 20 Milliarden Euro. Andere haben noch viel geringere Rückstellungen gebildet. Wir lehnen die Sozialisierung dieser Rückstellungen innerhalb Europas, die einen Wettbewerbsvorteil für unsere Unternehmen darstellen, im nationalen Interesse ab und rufen die Bundesregierung auf, dies bei den jetzt anstehenden Beschlüssen zu verhindern, damit wir neben den anderen Benachteiligungen, die Sie uns mit Ihrer Politik schon auferlegt haben - ich habe es aufgeführt -, nicht auch noch in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten und den letzten Wettbewerbsvorteil innerhalb Europas verlieren. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. ({0})

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beneide die Kollegin Merkel nicht um ihre Aufgabe, die diversen Positionen, die es in der Union gibt, zusammenzuhalten. Heute muss sie den Herrn Pfeiffer und den Herrn Paziorek zusammenbinden. Herr Paziorek sagt, es gebe viel zu wenig für die Biomasse, und Herr Pfeiffer sagt, wir müssten mit der Förderung drastisch heruntergehen. Dies zusammenzubinden kann man nur im Pfeifferschen Drüsenfieber oder solange man auf der Oppositionsbank sitzt. ({0}) Morgen geht das Kernkraftwerk Stade vom Netz. Das ist der sichtbare Beleg dafür, dass die Atomenergie in Deutschland keine Zukunft hat. ({1}) In den USA sollen diese Altanlagen 60 Jahre laufen; wir halbieren die Laufzeit. Damit wird der Weg für eine sichere und zukunftsfähige Energiestruktur frei. Abgeschriebene und über Jahre hoch subventionierte Altanlagen dürfen die Investitionen in die Energiestruktur von morgen nicht länger blockieren. ({2}) Allein in Deutschland müssen wir Kraftwerkskapazitäten von 40 000 MW ersetzen; in ganz Europa sind es 200 000 MW. Die Mehrheit der Staaten in der Europäischen Union ist heute frei von Atomenergie oder auf dem Weg heraus aus der Atomenergie. Explizit nenne ich Belgien, Schweden und die Bundesrepublik; implizit trifft das auch auf das Vereinigte Königreich und die Niederlande zu. Kein Land steigt aber so schnell aus wie die Bundesrepublik Deutschland. Bis 2020 werden wir die Kraftwerke abgeschaltet haben. Das heißt, bis dahin gehen 30 Prozent der Kraftwerkskapazitäten allein aufgrund dieser Tatsache vom Netz. Für uns alle gemeinsam bedeutet das: Kein Land muss sich so schnell um Ersatzkapazitäten bemühen wie die Bundesrepublik Deutschland. Das geht nur mit einer Energiepolitik, die sich von allen Vereinseitigungen verabschiedet. Sie muss auf drei Säulen begründet sein: auf erneuerbare Energien, auf Effizienz und auf Energieeinsparung. Wir haben uns in der Koalition zusätzlich vorgenommen, bis 2020 40 Prozent der Treibhausgase in Deutschland einzusparen. Wenn wir dies bis 2020 erreichen wollen - Herr Paziorek, das ist der Grund für diese Maßzahl -, dann geht das nur mit konsequenter Energieeinsparung. Man kann nicht hier im Bundestag Energieeinsparung fordern und gleichzeitig alle dafür erforderlichen Instrumente bekämpfen. Aus der von Ihnen beschimpften Ökosteuer zahlen wir die 340 Millionen Euro für die CO2-Einsparungen im Bereich von Gebäuden. Sie haben dafür 12 Millionen Euro aufgewendet. ({3}) Wenn wir die Energieeffizienz wirklich verdoppeln wollen, brauchen wir einen ökonomischen Anreiz für effizientere Kraftwerke. Dafür gibt es das Instrument des Emissionshandels. Wir müssen den Ausbau erneuerbarer Energien forciert fördern. Das ist Zweck des Gesetzes. Deswegen haben wir in dem Gesetzentwurf quantifiziert, dass wir bis zum Jahre 2020 20 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugen wollen. Es spricht Bände, Herr Paziorek, wenn Sie immer betonen, Sie seien für die erneuerbaren Energien, sich aber gleichzeitig gegen diese Zweckbestimmung wenden. ({4}) Diese beiden Ziele, Steigerung der Energieeffizienz und Ausbau erneuerbarer Energien, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beides kann nur miteinander funktionieren. 20 Prozent zu erreichen ist das Ziel des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Aber wir wollen denjenigen, die in diesem Sektor tätig sind, klar machen: Am Ende muss für sie die Marktfähigkeit stehen. Deswegen haben wir die Degression durchgehend auch da festgeschrieben, wo es dem einen oder anderen wehtut, beispielsweise im Bereich der Biomasse, was Sie angesprochen haben. ({5}) Dabei müssen wir auch darauf achten, dass die Kosten für die erneuerbaren Energien die Haushalte nicht übermäßig belasten. Deswegen haben wir dafür Sorge getragen, dass beispielsweise nicht nur große, sondern auch mittlere Unternehmen von der Härtefallregelung profitieren können, aber gleichzeitig eine Deckelung vorgenommen: Wenn heute der Klimaschutz durch die Förderung erneuerbarer Energien 1 Euro pro Haushalt und Monat kostet, dann darf das künftig nur 1,10 Euro sein. Das ist Politik mit Augenmaß: Förderung der erneuerbaren Energien und Beachtung der Kostenseite, aber keine Umgestaltung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in eine reine Konsumentenumlage! ({6}) Die Koalitionsfraktionen beschließen heute ein Vorschaltgesetz für die Photovoltaik, das die Mindestvergütung für Strom aus diesen Anlagen auf 45,7 Cent pro Kilowattstunde festschreibt. Ich will darauf verweisen, dass wir die bürokratische Deckelung bei den großen Anlagen abschaffen und dass die Fördersätze für die Installation an Gebäuden, insbesondere für den Einsatz von Photovoltaik in Fassaden - das ist eine der wesentlichen Zukunftsfragen -, erhöht werden. Damit wird künftig die Förderung der Photovoltaik, die in Deutschland inzwischen dazu geführt hat, dass wir in Europa Spitzenreiter bei der Anwendung der Photovoltaik sind, allein durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz getragen. Das ist jedoch nicht nur eine umwelt- und klimapolitische Frage. Ich war letzte Woche bei Solar-World in Freiberg in Sachsen. Dort wird die gesamte Wertschöpfungskette, von der Siliziumproduktion bis zur Fertigung der Module, in einer Fabrik abgearbeitet. Dort sind aus 120 Arbeitsplätzen im Jahr 2000 inzwischen 425 Arbeitsplätze geworden. Der Wirtschaftszweig der erneuerbaren Energien hat schon heute eines erreicht: Mit mehr als 130 000 Menschen arbeiten in dieser Branche mehr als in der Kohle- und Nuklearindustrie zusammen. Dies verteilt sich sehr unterschiedlich auf das Bundesgebiet. Ein Schwerpunkt sind die nördlichen Bundesländer - Neustadt-Glewe ist bereits angesprochen worden -, im Osten der Republik tut sich einiges. Aber im Süden, in Bayern und Baden-Württemberg, gibt es noch gallische Dörfer, wo die Landesregierung nichts anderes zu tun hat, als jede Anlage von erneuerbaren Energien mit allen bürokratischen Mitteln zu schikanieren und zu verhindern. ({7}) Reden Sie mal mit den Investoren von Ostwind, reden Sie mit denen, die beispielsweise nicht nur Windanlagen, sondern auch Biomasseanlagen in Bayern genehmigen lassen wollten! Dann wissen Sie, was bayerische Regelungswut und bayerische Bürokratie alles bewirken kann, nämlich die Verhinderung von Investitionen und der Schaffung von Arbeitsplätzen. ({8}) Das passt nicht mit den Reden über erneuerbare Energien zusammen. ({9}) - Über das Dosenpfand brauchen Sie mir nichts zu erzählen. Ich habe gegen die Bayerische Staatsregierung die Vernichtung der bayerischen mittelständischen und kleinen Brauereien verhindert. Das sehen die genauso. ({10}) Zu der Frage der Energieeffizienz in der Energiepolitik.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Trittin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Bitte schön, Herr von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, da Sie eben selber das Dosenpfand angesprochen haben, ({0}) darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, dass mittlerweile eine eidesstattliche Erklärung von acht Personen, allesamt Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter - von Beruf sind diese Linienführer, Dreher, Maschinist, Industriemeister, Maschinenschlosser, Maschinenführer, Elektroniker -, vorliegt, die an einem Gespräch mit Ihrem Staatssekretär teilgenommen haben, ({1}) wonach auf die sinngemäße Feststellung eines Betriebsrats, dass die Einwegindustrie und die Arbeitsplätze den Bach heruntergingen, Ihr Staatssekretär, Herr Baake, gesagt habe: „Ja, meine Herren, dies ist politisch auch so gewollt.“ ({2}) Sie haben hier vor dem Deutschen Bundestag genau das Gegenteil behauptet. Ich darf Sie bitten, zu dieser eidesstattlichen Erklärung Stellung zu nehmen. ({3})

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr von Klaeden, Sie können sich ganz schnell wieder hinsetzen. Ich habe der Feststellung - die ich hier schon gemacht habe -, dass mein Staatssekretär diese Unterstellung schon mehrfach zurückgewiesen hat, nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen. ({0}) - Bevor Sie sich hinsetzen, ({1}) möchte ich Sie fragen - dann ist die Frage abschließend beantwortet, Herr Parlamentarischer Geschäftsführer -, ob es mit den Regeln, die sich dieses Haus gegeben hat, vereinbar ist, Debatten zu Themen auf diese Weise zu gebrauchen, um nicht das Wort „missbrauchen“ zu verwenden. ({2}) Das müssen die Parlamentarischen Geschäftsführer untereinander klären; dafür fehlt mir die Beurteilung. ({3}) Wir kommen zum Thema zurück: Wie sieht die Energieversorgung von morgen aus? - Es bedarf auch der Effizienz. Was knapp ist, wird sorgsam und kosteneffizient bewirtschaftet. Für die Knappheit gibt es ein Instrument, nämlich den Vertrag von Kioto. Bis 2010 dürfen Industrie, Energiewirtschaft, Gewerbe, private Haushalte und Verkehr in Deutschland nicht mehr als 841 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Das ist die Obergrenze und diese Obergrenze gilt ohne Ausnahme. Damit bekommt der CO2-Ausstoß einen Preis, der in Tonnen gemessen wird. Künftig kostet übermäßige Klimabelastung den Verursacher Geld. ({4}) Einsparungen aber kann man überall in Europa verkaufen. Grundlage für die Vergabe dieser Mittel wird der CO2-Emissionshandel sein. Das Einsparziel der deutschen Industrie von 45 Millionen Tonnen ist maßgebend, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie werden sich mit dem zugrunde liegenden Gesetz, das heißt mit der Frage der wesentlichen Regeln, auf deren Basis wir diese Emissionsrechte verteilen, hier im Bundestag beschäftigen müssen. Die Bundesregierung wird im Dezember das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz verabschieden und danach haben Sie zu entscheiden. Sie haben danach nicht nur über diese allgemeinen Regeln zu entscheiden, sondern Sie werden sich untereinander - auch zwischen den Positionen von Herrn Pfeiffer und Herrn Paziorek - zu einigen haben. ({5}) Sie werden sich über die Frage zu einigen haben, wie viele Millionen Tonnen CO2 die privaten Haushalte, wie viele Millionen Tonnen CO2 der Verkehr, wie viele Millionen Tonnen CO2 die Energiewirtschaft, die Industrie und das Gewerbe emittieren dürfen, und zwar bis 2020, spezifiziert nach nachrechenbaren Tonnen. ({6}) Ich bin sehr gespannt, ({7}) ob Sie das Vorgehen, das Sie hier an den Tag legen - nämlich die von Ihnen selbst bewirkte Verfehlung klimapolitischer Ziele zu bejammern, aber gleichzeitig jede konkrete Maßnahme zur Erreichung dieser Ziele im Bundestag zu blockieren -, auch weiter durchhalten werden. ({8}) Ich bin der festen Überzeugung: Der Emissionshandel bietet eine Chance für die deutsche Wirtschaft; er erleichtert ihr übrigens auch den Klimaschutz. Mehr Effizienz ist eine der Säulen der Versorgungssicherheit von morgen. Effizienz, erneuerbare Energien und Energiesparen bilden die Grundlage für die VersorBundesminister Jürgen Trittin gungssicherheit, aber auch für einen vernünftigen Klimaschutz auch und gerade im Interesse künftiger Generationen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute ein sehr wichtiges Thema. Herr Minister Trittin, Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, der Ausstieg aus der Kernenergie sei der Einstieg in eine sichere und zukunftsfähige Energieversorgung. Dem muss ich entgegenhalten: Ohne ein konkretes Energiekonzept für den Wirtschaftsstandort Deutschland ({0}) ist der Ausstieg aus der Kernenergie noch lange kein Einstieg in eine sichere Energieversorgung. Ein solches Konzept fehlt, Herr Trittin! ({1}) Deswegen möchte ich für meine Fraktion betonen: Wir wollen ein Energiekonzept, das auf der einen Seite die Versorgungssicherheit für dieses Land gewährleistet, das aber auf der anderen Seite einen neuen Energiemix beinhaltet, der Unabhängigkeit von politisch instabilen Regionen schafft. Angesichts der beim Erdöl und Erdgas bestehenden Abhängigkeit von Ländern, die politisch bei weitem nicht stabil sind, ist ein umfassendes Energiekonzept geboten. Dazu gehören aber mehrere Komponenten, nämlich das Energiesparen und die Energieeffizienz. ({2}) Einzubeziehen ist nicht nur der Strommarkt, sondern sind auch der Wärmemarkt und - Herr Müller hat es angesprochen - der Verkehrsbereich. Wenn Sie das alles mit einbeziehen wollen, dann müssen Sie den Mut aufbringen, in moderne Technologien - auch in die Speichertechnologie - einzusteigen. Nur dann werden Sie es schaffen, den erneuerbaren Energien eine Zukunft zu geben. ({3}) Das hat zum einen damit zu tun, dass die Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien zum Teil sehr schwankt. Sie müssen zum anderen auch berücksichtigen, dass beim Netzausbau und dem Vorhalten der Regelenergiereserve Kosten entstehen. Deswegen ist es dringend erforderlich - aus diesem Grunde haben wir unseren Antrag zum Thema Speichertechnologie vorgelegt -, die Netzunabhängigkeit der erneuerbaren Energien zu erreichen. ({4}) Nur so können wir ihnen in Deutschland eine riesige Zukunftsperspektive geben. ({5}) Im Zusammenhang mit den beiden in Ihren Vorlagen zum Thema Atomenergie erwähnten Richtlinien der Europäischen Union, über die wir heute auch beraten, möchte ich Ihnen eines sagen: Wir sind uns in einigen Punkten durchaus einig, aber Sie nutzen das wieder für eine ideologische Kundgebung. Das kann ich nicht nachvollziehen. Wenn wir über die sichere Energieversorgung dieses Landes diskutieren, dann geht es nicht um heute und morgen. Es geht vielmehr um eine Perspektive für die nächsten 50 Jahre oder mehr. Wenn wir in solchen Perspektiven denken, dann geht es nicht an, den Vorrang von nicht nuklearer Energieforschung in Europa festzuschreiben, wie Sie das wollen. Wir müssen vielmehr die Chance ergreifen, mit dem internationalen Projekt ITER die Fusionsforschung in Europa zu halten und die Bundesrepublik Deutschland daran zu beteiligen. ({6}) Ich möchte noch etwas zu der Feststellung der Kollegin Hustedt anmerken, dass die Energieversorger durchaus in der Lage seien, schwankende Energiemengen zu handhaben. Ich möchte Ihnen nur eines sagen, Frau Hustedt: Technisch ist das möglich. Aber Sie müssen auch die finanziellen Auswirkungen einplanen. Wir sind der Meinung, dass wir, wenn wir die Zukunftsfähigkeit der erneuerbaren Energien sicherstellen wollen, eine intelligente Verknüpfung der Photovoltaik - über den Entwurf eines entsprechenden Vorschaltgesetzes reden wir ja heute morgen - mit dem Emissionshandel brauchen. Herr Minister Trittin, Sie haben gesagt, dass Sie das machen wollen. Aber warum haben Sie das nicht schon längst getan? Das ist doch die Frage, die Sie sich stellen lassen müssen. ({7}) Ich sage klar und deutlich: Wir können durch die Verknüpfung mit dem Emissionshandel Exportmöglichkeiten und riesige Chancen für die Photovoltaik eröffnen; das will die FDP. Wenn wir den erneuerbaren Energien nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine Zukunft geben wollen, dann müssen wir das Ganze effizient organisieren und Kostensenkungspotenziale realisieren. Das sind wir den Menschen in diesem Lande schuldig. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Marco Bülow, SPDFraktion. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange Zeit haben konservative Kräfte geleugnet, dass die Erde um die Sonne kreist. Doch sie konnten den Fortschritt nicht aufhalten. Dieses Phänomen scheint sich nun zu wiederholen. Vehement leugnen heute andere starke Kräfte, dass bereits in absehbarer Zeit ein Großteil des Energiehungers mit der Kraft der Sonne gestillt werden kann. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich der Fortschritt erneut durchsetzen wird. ({0}) Diesmal steht allerdings mehr auf dem Spiel und wir haben deutlich weniger Zeit. Der bildliche Satz „Nach mir die Sintflut!“ könnte zur grausigen Realität werden. Damit das nicht Realität wird, reicht nicht nur die Erkenntnis aus - diese haben auch einige aus der Opposition -, dass wir große Potenziale der erneuerbaren Energien, insbesondere der Sonnenenergie, nutzen können. Das muss vielmehr auch in die Tat umgesetzt werden und darf auf keinen Fall verhindert werden. Dem ist die rot-grüne Koalition mit zahlreichen Initiativen und Gesetzen nachgekommen. Das wohl wichtigste - und auch sehr erfolgreiche - Gesetz war das Erneuerbare-Energien-Gesetz, kurz EEG. Ich hoffe, dass auch in der Opposition in zunehmenden Maße die Erkenntnis wächst - ich weiß, dass das bei einigen Abgeordneten bereits der Fall ist -, dass es notwendig ist, mehr als nur vollmundige Lippenbekenntnisse zu den erneuerbaren Energien abzuliefern. Dafür bieten die anstehenden Beratungen über die Entwürfe einer Novelle zum EEG und eines Photovoltaik-Vorschaltgesetzes eine hervorragende Möglichkeit. Ich wollte heute eigentlich eine friedensstiftende Rede halten, die uns zusammenbringt. Doch einige Meinungsbekundungen von der Opposition veranlassen mich, ein, zwei Sätze zu sagen, die nicht in diesem Sinne sind. Herr Paziorek, Sie spielen sich heute als Retter der erneuerbaren Energien auf. Dabei gibt es viele in der Union - das ist auch heute wieder deutlich geworden -, die die erneuerbaren Energien eigentlich lieber verteufeln. Welchen Stand Sie in der Branche haben, haben Sie selbst auf der von Ihnen erwähnten Demonstration erlebt. Der Applaus für Sie war nicht besonders groß. ({1}) Ich erinnere nur an 1998, als viele aus der Branche gesagt haben: Wir haben Angst vor einem Regierungswechsel. Deswegen bleiben uns die Kunden weg. - Das ist die Realität in diesem Land. Die Branche weiß genau, was sie an Rot-Grün hat und was sie mit Ihnen bekommen würde. ({2}) - Angesichts Ihrer Zurufe möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Sie von der Union nehmen die Umweltschutzund die Energiepolitik so ernst, dass Sie Herrn Hohmann in den Umweltausschuss strafversetzen! ({3}) Herr Pfeiffer, überprüfen Sie bitte Ihre Kostenberechnungen. In 14 Minuten haben Sie keinen einzigen Vorschlag gemacht, aus dem hervorgeht, wie Sie eine Erneuerbare-Energien-Politik machen wollen. Sie sind doch noch viel zu jung, um ein Dinosaurier zu sein. ({4}) Über den Entwurf der EEG-Novelle wollen wir mit allen Fraktionen intensiv beraten und dann möglichst zügig beschließen; denn die Branche braucht Planungssicherheit. Es darf in diesem innovativem Bereich zu keinem Fadenriss kommen. Ich weiß, dass es an einigen Stellen, beispielsweise in der Biogasbranche - hier gebe ich Ihnen Recht -, trotzdem sehr eng werden wird. Das Auslaufen des erfolgreichen 100 000-DächerProgramms würde aber selbst bei einem reibungslosen Novellierungsverfahren zumindest für einen Teil der Photovoltaikbranche zu spät kommen. Ich habe eine Liste mit Firmen, die schon jetzt mehr als nur zu kämpfen haben. Beispielsweise hat einer der größten deutschen Solarzellenproduzenten in den neuen Ländern wegen der unsicheren politischen Lage für 2004 noch keinen einzigen festen Auftrag. Das ist ein Novum. Wenn wir jetzt nicht handeln, dann sind über 10 000 zukunftsfähige Arbeitsplätze gefährdet, und das in einer jungen Branche mit großem Potenzial. Ich brauche hier nicht zu erklären, dass eine junge Branche natürlich keine großen Rücklagen gebildet haben kann, um in einem solchen Fall darauf zurückzugreifen. ({5}) Wir gefährden unsere gute Position auf dem Weltmarkt. Mithilfe des 100 000-Dächer-Programms hat sich die deutsche Photovoltaikwirtschaft in einer Zukunftstechnologie an die internationale Spitze katapultiert. Dem ging ein Gesetz voraus, das Rot-Grün auf den Weg gebracht hat. Außerdem gefährden wir das Erreichen unserer Klimaziele. Wir begrüßen es deshalb, dass sich das Bundesumweltministerium dem Vorschlag der Koalitionsfraktionen nach einem Photovoltaik-Vorschaltgesetz angeschlossen hat. ({6}) Die Förderbeiträge des vorliegenden Vorschaltgesetzes sollen bereits am 1. Januar 2004 ihre Wirkung entfalten. Schon im Vorschaltgesetz sind die Änderungen enthalten, die sich später in der großen Novelle wiederfinden. Statt einer Vergütungsstufe plädieren wir für eine Basisvergütung und eine mögliche Zusatzvergütung. Dies ermöglicht eine zielgenauere Förderung und eine Bevorzugung von Anlagen auf Fassaden, Dächern und Lärmschutzwänden. Für Anlagen auf Freiflächen ist die Basisvergütung vorgesehen, sie unterliegen aber dem Geltungsbereich des Bebauungsplans. Die Förderung von Photovoltaik ist ein gutes Beispiel für unsere Idee der Gesamtförderung der erneuerbaren Energien. Durch die Maßstäbe, die wir anlegen, tragen wir dazu bei, auch beim Klimaschutz Rücksicht auf den örtlichen Umweltschutz zu nehmen. Wir bringen die Interessen der Ökologie und der Ökonomie zusammen, sodass beide profitieren. Außerdem setzen wir auf eine immer effizientere Förderung. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Die Degression bei Photovoltaik beträgt 5 Prozent; das heißt, die Förderung wird jedes Jahr um 5 Prozent zurückgefahren. Hinzu kommt die Inflation. Wir haben von Anfang an, auch beim ersten Gesetz, auf die Wirtschaftlichkeit der erneuerbaren Energien gesetzt. Es wäre äußerst wohltuend, wenn diese harten Auflagen beispielsweise bei der Atomenergie gegolten hätten. Wenn das der Fall gewesen wäre, dann hätten wir in diesem Land einige Probleme weniger. Gerade diejenigen, die bei den erneuerbaren Energien mehr Abstriche fordern, drükken bei den herkömmlichen Energieressourcen gerne beide Augen zu. Dies ist unangemessen und ungerecht. Die Diskussion über die Kosten der erneuerbaren Energien war vom ersten Tag an eine einzige Farce. Ich hoffe, wir werden die folgenden Diskussionen sachlicher und fairer führen. ({7}) Dabei ist es keine Frage, dass einige ErneuerbareEnergien-Branchen schon in absehbarer Zeit wettbewerbsfähig sind. Deren Innovationskraft und Effizienzsteigerung - Frau Brunkhorst, hören Sie gut zu! - geben uns dazu einen guten Anhaltspunkt. Hinzu kommt, dass ein großer Teil des fossilen Kraftwerksparks erneuert werden muss. Dies geht nicht zum Nulltarif. Selbst die vorsichtige Schätzung von RWE Schott Solar besagt, dass die Wettbewerbsfähigkeit von Solarstrom in zehn Jahren in Südeuropa und in weiteren zehn Jahren in Mitteleuropa erreicht wird. Das ist die Realität. ({8}) Die Kostenschere zwischen den erneuerbaren und den herkömmlichen Energien wird sich schließen, selbst ohne Einbeziehung der externen Kosten, also beispielsweise ohne Einbeziehung der Umweltkosten, die auf der Stromrechnung niemals ihren Niederschlag finden, obwohl wir und vor allen Dingen die nachfolgenden Generationen sie zu tragen haben. Die Energiewende hin zu mehr Effizienz und einer Steigerung des Anteils der erneuerbaren Energien ist keine Utopie. Anders als uns einige immer weismachen wollen, ist sie vor allen Dingen kein Luxus, den man sich nur leisten kann, wenn man genug Geld dazu hat. Luxus ist vielmehr, die Chancen von heute verstreichen zu lassen. Dies würden uns unsere Kinder niemals verzeihen. ({9}) Die Energiewende ist unser nachhaltigstes Projekt überhaupt: Sie schafft Arbeitsplätze, sichert unsere Lebensgrundlage und ist die Basis unserer Wirtschaft. Der Freidenker Ludwig Uhland hat einmal gesagt: Umsonst bist du von edler Glut entbrannt, wenn du nicht sonnenklar dein Ziel erkannt. Wir haben unser Ziel erkannt. Dieses Ziel heißt: Auf zur Nutzung „der edlen Glut“ der Sonne! Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Doris Meyer, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Doris Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Photovoltaikbranche wird heute vermutlich aufatmen und vorsichtigen Optimismus an den Tag legen, Optimismus, weil ihr geholfen werden kann. ({0}) Nach dem Wegfall des 100 000-Dächer-Programms Mitte dieses Jahres verspürte sie keine oder nur noch geringe Motivation, in neue Anlagen zu investieren. Es musste Abhilfe geschaffen werden. Abhilfe verspricht man sich nun von dem heute vorliegenden Vorschaltgesetz, dem 2. EEG-Änderungsgesetz. Bereits das 1. Änderungsgesetz zum EEG sollte Abhilfe schaffen. Die durch das EEG bedingten Schmerzen der besonders energieintensiven Unternehmen sollten damit beseitigt werden. Beseitigt werden sollten aber auch wieder einmal handwerkliche Fehler der rot-grünen Koalition. ({1}) Die rot-grüne Koalition hat sich in den Diskussionen über das Für und Wider einer Härtefallregelung verheddert. In einem Schnellschussverfahren hat sie die Härtefallregelung in Gesetzesform gegossen. Genauso ist es nun mit dem Vorschaltgesetz zur Photovoltaik. Das schon erwähnte Förderprogramm ist Mitte dieses Jahres ausgelaufen. Nun stellt sich heraus: Die Photovoltaik kommt nicht mehr vorwärts. Die Solarindustrie ist in ihrer Existenz bedroht. Bereits Mitte August wurde mit dem Referentenentwurf des BMU die neue Runde der EEG-Novellierung eingeläutet. Sie ist bei den Ressortabstimmungen oder, besser gesagt, bei den Streitereien zwischen dem Umweltminister Jürgen Trittin und seinem Kollegen Wirtschaftsminister Wolfgang Clement unter die Räder gekommen. ({2}) Doris Meyer ({3}) Wer von den beiden den Streit angezettelt hat, vermag schon niemand mehr zu sagen. Hat nun der eine das zum Energiegipfel hochstilisierte Treffen beim Kanzler ohne Beteiligung des anderen stattfinden lassen oder hat der andere seinen Referentenentwurf noch kurz vorher vorgelegt, um den einen zu ärgern? ({4}) Es fällt schwer, unter den beiden einen Verantwortlichen auszumachen. ({5}) Das Problem bei solchen Streitereien unter den Ressortchefs ist die Verzögerung, die sich daraus unweigerlich ergibt. Sie lähmt die dringend notwendige Sacharbeit. Ob einem der beiden geholfen ist, wenn er über seinen Kollegen obsiegt, interessiert vielleicht noch die rot-grüne Koalition, aber nicht die von den Gesetzen betroffenen Unternehmen. Die interessiert, wie sich die Gesetze für sie und auf ihre Pläne in den nächsten Jahren auswirken. Ergebnis dieser Streitereien ist das Herauslösen bzw. Vorziehen der Regelung zur Photovoltaik. Nach der Härtefallregelung ist das heute vorliegende Vorschaltgesetz also ein zweiter Schnellschuss. Wir als verantwortungsbewusste Parlamentarier müssen uns gegen diese Art und Weise des Zustandekommens vehement wehren. ({6}) Dem Änderungsgesetz können wir von den Unionsfraktionen zwar grundsätzlich zustimmen; zu den einzelnen Vergütungssätzen besteht aber noch Diskussionsbedarf. ({7}) Die Erhöhung der Mindestvergütungen für die so genannten gebäudeintegrierten Fassadenanlagen geht in die richtige Richtung. Wir dürfen die Flächenversiegelung nicht forcieren. Die Solaranlagen müssen konsequent in die Gebäudeflächen einbezogen werden. Solaranlagen an oder auf Gebäuden und baulichen Anlagen sind eindeutig solchen auf Freiflächen vorzuziehen. Das bislang erzielte Abstimmungsergebnis zwischen den beiden Ministerien kann wieder nur eine Grundlage bilden, auf der wir verhandeln. Wir müssen alles im Einzelnen genau betrachten. Mit Einführung des Stromeinspeisungsgesetzes Anfang der 90er-Jahre war fraktionsübergreifend die Zielrichtung klar. Die meisten Energieträger sind endlich. Deshalb musste im Sinne der Nachhaltigkeit eine Änderung herbeigeführt werden. Langfristig kann somit nur ein Mix aus herkömmlichen und regenerativen Energien helfen, die Energieversorgung zu sichern. Dies sollten gelegentlich auch die Gegner der einen oder anderen Energieart einmal bedenken. ({8}) Alle wissen um diese Notwendigkeiten, aber nur die wenigsten handeln danach. Die meisten sind immer noch alten Denkstrukturen verhaftet. Das führt uns eines Tages in die energiepolitische Sackgasse, meine Damen und Herren. ({9}) Besser ist es, Chancen und Potenziale zu nutzen, die die verschiedenen Energiearten bieten, und deren Vorteile miteinander zu kombinieren. Die Wasserkraft beispielsweise ist eine jahrhundertealte Energieart. Dem jüngsten Gutachten von Professor Ripl ist zu entnehmen, wie positiv sich Kleinwasserkraftwerke auf die Natur auswirken. Dieses Werk kann ich allen Skeptikern zur Lektüre empfehlen. Die so genannte kleine Wasserkraft aber durch noch strengere Vorgaben als die der Wasserrahmenrichtlinie und der Naturschutzgesetze zu hemmen ist unsinnig. ({10}) Bei der Biomasse das gleiche Spiel: Gerade die Betreiber kleinerer Anlagen brauchen ein deutliches Signal, wohin die Reise gehen soll. Ist wirklich eine dezentrale Energieversorgung gewünscht oder nicht? Wir müssen uns entscheiden, meine Damen und Herren: Es ist unverantwortlich, die Dauer des Mindestvergütungsanspruchs bei Strom aus Biomasse auf 15 Jahre herunterzufahren, statt sie bei den 20 Jahren zu belassen, die für alle anderen Stromarten gelten. ({11}) Eine solche Maßnahme gibt ein falsches Signal an die Anlagenbetreiber und -bauer. Wir von der Union wollen bei der EEG-Novelle kein Hauruckverfahren wie jetzt bei der Photovoltaik-Förderung, sondern genügend Zeit für Beratungen. ({12}) Wir halten am Ziel fest, den Anteil der erneuerbaren Energien bis 2010 auf 12,5 Prozent zu steigern. Wir wollen eine nachhaltige Klimaschutzpolitik. Wir wollen effiziente Anreize zur Verbesserung der Technologien schaffen. Wir wollen Anreize zur Senkung der Produktionskosten geben. Wir wollen den Standort Deutschland für die erneuerbaren Energien erhalten. Schließlich wollen und müssen wir die regenerativen Energien zur Wettbewerbsfähigkeit führen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1974, 15/1605 und 15/1813 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Präsident Wolfgang Thierse auf Drucksache 15/1781 zu zwei Unterrichtungen durch die Bundesregierung über EU-Vorlagen zur nuklearen Sicherheit. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtungen durch die Bundesregierung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, Marie-Luise Dött, Dr. Klaus W. Lippold ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Nationalen Allokationsplan als Parlamentsgesetz gestalten - Drucksache 15/1791 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eine kurze Vorbemerkung machen, bevor ich zum Sachthema komme. Ich habe gerade erlebt, wie Sie, Herr Trittin, im Zusammenhang damit, dass Sie, wie Ihr Staatssekretär gesagt hat, durch die Verpackungsverordnung mutwillig Arbeitsplätze vernichten, wiederum ausweichend geantwortet und faktisch so getan haben, als sei die eidesstattliche Erklärung der acht Betriebsräte infrage zu stellen. Ich sage ganz offen: Ich habe für Ihre Haltung kein Verständnis. ({0}) Es passt aber zu Ihrer Grundhaltung, Herr Trittin. Denken wir nur an die Verlautbarung Ihres Pressesprechers, dass Sie die Abschaltung des Kernkraftwerkes Stade - die Vernichtung von Arbeitsplätzen - mit einem Empfang, einer Fete mit Musik und allem Drum und Dran, verbinden. Das ist doch zynisch, Herr Trittin. Dass Sie in Ihrem Ministerium die Vernichtung von Arbeitsplätzen feiern und zu dieser Feier alte Kampfgefährten einladen ({1}) das kann ich so nicht akzeptieren. ({2}) Das wäre ein Punkt, an dem wir einmal über die Streichung von Haushaltsmitteln in Ihrem Etat nachdenken müssten. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Klimaschutz ist eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Das ist ein Punkt, über den zwischen allen Fraktionen dieses Hauses Einvernehmen herrscht. Ich glaube, dass die Klimakatastrophe nicht nur entschiedenes nationales, sondern auch internationales Handeln erfordert. Mit dem Kioto-Protokoll machen wir einen Versuch, aber noch ist das Kioto-Protokoll nicht ratifiziert. Deshalb ist der Versuch der Europäischen Union, verschiedene Instrumente zum Klimaschutz zu aktivieren, damit wir die Situation verbessern, zu begrüßen. Insofern begrüßen wir die Richtlinie zum Emissionszertifikatehandel. Ich glaube, auch das ist ein Punkt, in dem wir uns einig sind. Allerdings - das sage ich ganz deutlich wollen wir festhalten, dass wir ein Verfahren wählen, das unbürokratisch und flexibel ist. ({4}) Es gibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, einen Punkt, den man sich klar machen muss: Das Kernstück der Richtlinie ist der nationale Allokationsplan. Mit dem Allokationsplan wird die Gesamtmenge der in einer Handelsperiode zuzuteilenden Emissionsberechtigungen festgelegt. Das klingt sehr abstrakt - was bedeutet das? Wir legen fest, wie viel CO2 ein Unternehmen emittieren darf, also wie viel Energie es verbrauchen darf. Wir legen fest, wie viel Energie ein Sektor der Wirtschaft verbrauchen kann. Wir legen fest, wie die Verteilung der Emissionen auf die Sektoren der Wirtschaft vorgenommen wird. Da bleiben im Moment noch eine ganze Reihe von zentralen Fragen zu stellen. Warum? Mit der Zuteilung von Energie ist auch die Zuteilung von Chancen oder das Versagen von Chancen verbunden. Wenn jemandem zu wenig Emissionsberechtigungen zugeteilt werden, muss er seine Produktion einschränken, Arbeitsplätze zurückfahren, Arbeitsplätze abbauen. Wenn ich diese Fragen behandle, muss ich wissen, wie es weitergehen soll: Treffe ich eine Regelung, die für den Betrieb, die für den Sektor adäquat ist? Wir sind in einer von dieser rot-grünen Regierung mit zu verantwortenden rezessiven Phase. Es stellt sich die Frage, was geschieht, wenn eine wirtschaftliche Erholung - trotz Ihrer Politik - eintritt. Die Aufwärtsentwicklung in den USA könnte ja der Anlass dafür sein, dass die Wirtschaft auch bei uns anspringt, dass die Wirtschaftler sagen: Die weltweite Entwicklung überspielt die katastrophale Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. - Was wird dann mit den einzelnen Unternehmen? Haben wir die nötigen Reserven, um den Unternehmen dann mehr Emissionsberechtigungen zuzuteilen? ({5}) Schließlich sollen sich trotz der Politik dieser Bundesregierung auch neue Unternehmen gründen können. Dr. Klaus W. Lippold ({6}) Diesen neuen Unternehmen müssen wir Emissionsberechtigungen kostenlos zuteilen können, denn wenn sie sie nicht kostenlos erhalten, werden sie unter Umständen überlegen, ob sie einen anderen Standort wählen. Die Arbeitsplätze würden dann an einem anderen Standort entstehen. Das kann nicht angehen. ({7}) Es ist auch eine Frage, wie es aussieht, wenn Sie - was nicht eintreten wird, aber was ja sein könnte - den Ausstieg aus der Kernenergie wirklich durchsetzen. Dafür ist - das war heute schon zu hören - ein völlig emissionsfreier Ersatz nicht möglich. Es kann doch nicht sein, dass die Wirtschaft, die Haushalte und auch der Verkehrssektor dafür bestraft werden, dass Sie eine falsche Entscheidung treffen. Es müssen vielmehr Vorkehrungen getroffen werden, mit denen sichergestellt wird, dass die zusätzlichen Emissionen aus einer Reserve, die die Bundesrepublik Deutschland und niemand anders bereitstellt, abgedeckt werden. All diese Fragen, die sich in der derzeitigen Situation ergeben, sehe ich überhaupt noch nicht geregelt. Ich sage ganz deutlich: Die Antworten auf diese Fragen sind für den Arbeitsmarkt und für die zukünftige Entwicklung von Ausbildungsplätzen - mit der Ausbildungsplatzabgabe werden Sie das Gegenteil bewirken so wichtig, dass sie nicht en passant von der Bundesregierung allein beantwortet werden können. Über diese Fragen muss im Parlament diskutiert werden; sie sind zu wichtig, als dass die Regierung allein darüber entscheiden kann. ({8}) Dass in unserem Antrag - ich sage das einmal so ein gewisses Misstrauen gegenüber der Bundesregierung und ihren Ansätzen mitschwingt, ({9}) ist wohl mehr als berechtigt. Es ist schade, dass Herr Trittin im Moment nicht auf der Regierungsbank sitzt; ich hoffe aber, dass er im Saal anwesend ist. ({10}) - Das könnte durchaus sein. - Ich sehe bislang nicht, dass sich der Minister für Umwelt und die Spitze seines Hauses bewegen und entsprechende Positionen artikulieren. Diese zentrale Frage kann nicht unter der Hand geregelt werden. Hier muss das Parlament entscheiden. Eine ähnliche Korrektur haben wir schon früher in anderen Bereichen erlebt. Nachdem wir das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz verabschiedet hatten, haben wir festgestellt, dass wesentliche politische Inhalte nicht im Gesetz selber, sondern in Verordnungen geregelt sind. Daraufhin hat dieses Haus beschlossen, die wesentlichen Verordnungen zum Kreislaufwirtschaftsund Abfallgesetz zustimmungspflichtig zu machen. Damit wurde die Entscheidung in das Parlament zurück verlagert, wo sie auch hingehört. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Auch hinsichtlich des nationalen Allokationsplans sollte dieses Haus so handeln. ({11}) Ich möchte gerne wissen, wie hierzu der Stand der Diskussion ist und welche Verteilungsmengen für die Sektoren Verkehr, Haushalte, Industrie und Gewerbe vorgesehen sind. ({12}) Um dieses Thema von der anderen Seite politisch aufarbeiten zu können, möchte ich von Ihnen auch gerne wissen, wie Überschreitungen der Mengen in einem Sektor ausgeglichen werden sollen. Auch da kann ich nicht erkennen, dass Sie eine entsprechende Vorsorge betreiben. Es gibt noch einen anderen Punkt. Durch Ihre Verkehrspolitik wird kein reibungsloser Ablauf des Verkehrs ermöglicht; durch Ihre Verkehrspolitik werden Stauemissionen und Emissionen auf der Straße vergrößert. Das lässt sich alles im Einzelnen nachweisen. Wie sollen diese erhöhten Emissionen ausgeglichen werden? Ich sehe nicht, dass hierfür schon Abhilfe vorgesehen ist. Ich fasse zusammen. Lassen Sie uns die Diskussion in diesem Hause führen. Lassen Sie uns Antworten auf die Frage gemeinsam erarbeiten, wie wir im Falle einer wirtschaftlichen Erholung, im Falle von Existenzgründungen und bei der Erweiterung von Produktion verfahren. ({13}) Dazu gehört auch die Frage, wie es mit der Kernenergie weitergeht. Lassen Sie uns in Ergänzung dazu darüber diskutieren, wie wir auf die internationale Politik Einfluss nehmen können, damit das Kioto-Protokoll ratifiziert wird und in Kraft treten kann und wir die Instrumente Clean Development Mechanism und Joint Implementation nutzen können. Ich bin dafür, dass wir hier keine Caps setzen oder zumindest nur solche, die wesentlich oberhalb der derzeitigen Caps liegen. Ich glaube, das ist eine richtige Vorgehensweise. ({14}) Sie vergeben sich nichts, wenn Sie unserem Antrag zustimmen. Wir können die Auseinandersetzung in der Sache führen, aber wir sollten sie hier und öffentlich führen. Wir sollten diese Diskussion nicht in die Arbeit von Kommissionen oder in die Verhandlungen einzelner Ministerien verlagern, wie es in anderen Politikbereichen - ich erinnere an den Nachhaltigkeitsrat - bedauerlicherweise der Fall ist. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung. Unsere Kooperation in dieser Grundsatzfrage ist Ihnen gewiss. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Jürgen Trittin das Wort zu einer Kurzintervention.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will gern - auch für diejenigen, die vorhin vielleicht nicht ganz richtig zugehört haben oder eventuell nicht da gewesen sind - das wiederholen, was ich vorhin gesagt habe, weil mir sehr daran gelegen ist, die gemeinsame Kooperation an dieser Stelle zu pflegen. ({0}) Die Bundesregierung wird Ihnen einen Gesetzentwurf zum Handel mit Emissionszertifikaten vorlegen, ({1}) der beinhalten wird, dass der Gesetzgeber über die wesentlichen Regeln - das ergibt sich übrigens schon aus dem Grundgesetz, Wesentlichkeitstheorie - bei der Verteilung der Emissionsrechte entscheidet und dass er eine Verordnungsermächtigung für die Einzelverteilung hat. Das ist, glaube ich, eine sinnvolle Arbeitsteilung. Insbesondere wird er den Gesetzgeber in die Lage versetzen, über die Verteilung auf die einzelnen Makrosektoren zu entscheiden. Ich wiederhole: Wir dürfen im Jahre 2010 - genauer gesagt, zwischen 2008 und 2012 - im Jahresmittel nicht mehr als 846 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen. Das ist kein erfundener Cap, das ist die absolute Grenze im Kioto-Protokoll, dem Sie und wir alle zugestimmt haben. Dieses Haus hat über die Verteilung der daraus resultierenden Emissionsreduktionen auf die einzelnen Sektoren der Gesellschaft zu entscheiden. Das wird der Punkt sein, über den der Bundestag zu entscheiden hat. Ich habe vorhin gesagt, um auf Ihren Zwischenruf zu antworten, liebe Frau Dött: Die Bundesregierung wird noch im Dezember nach der Anhörung der Verbände, die zurzeit stattfindet, also noch vor Weihnachten, über diesen Gesetzentwurf entscheiden und ihn Ihnen zuleiten. Wir werden ihn zustimmungsfrei gestalten. Wir werden ihn aber so gestalten, dass der Bundesrat in der Sitzung im Februar seine Stellungnahme dazu abgeben kann. Ich vermute, es wird eine parallele Einbringung geben. Das heißt, die Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates sind in vollem Umfang erfüllt. Insofern können Sie sich jeden Verdacht sparen, wir wollten die Rechte des Parlaments einschränken. Wir sind in dieser Frage sehr an Ihrer Kooperation und konstruktiven Haltung interessiert. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lippold, Sie haben die Chance zur Reaktion, bitte.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Trittin, ich habe Ihnen sowohl vorhin wie auch jetzt sehr aufmerksam zugehört und dabei ist mir aufgefallen, dass Sie eine Teilmenge meiner Fragen in die Parlamentsdiskussion einbeziehen wollen. Sie haben aber weder etwas zur Frage der notwendigen Reservebildung noch dazu gesagt, wie Sie die Abgrenzung zu anderen Instrumenten, die ich vorhin aus Zeitgründen nicht erwähnt habe, wie zum Beispiel Ökosteuer, KWKVerpflichtungen und eine ganze Reihe anderer Fragen, regeln wollen. Uns geht es auch um diese Fragen, weil sie von genauso zentraler Bedeutung sind, gerade die Frage der Reservebildung. Wenn wir uns darauf einigen könnten, Herr Trittin, dass Sie auch diese Punkte mit in das Gesetz aufnehmen, ist das etwas anderes. Wenn diese Punkte jedoch außen vor bleiben sollten, bleibt unser Antrag nach wie vor aktuell. Danke. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kelber, SPD-Fraktion, das Wort.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland ist Spitzenreiter beim Klimaschutz und wir müssen auch einfach einmal selbstbewusst sagen: Kein anderes großes Industrieland hat ähnliche Erfolge beim Klimaschutz vorzuweisen wie Deutschland. Wir haben unsere Verpflichtungen aus den internationalen Klimaschutzvereinbarungen schon fast erfüllt. Dabei ist die Erreichung der Ziele in diesen Vereinbarungen erst für das Jahr 2010 vorgesehen und wir haben noch sieben weitere Jahre vor uns, in denen wir erfolgreich Politik machen können. Zunehmend zeigt sich, dass Klimaschutz eben nicht nur ein moralisches und ökologisches Erfolgsthema für Deutschland ist, sondern dass Klimaschutz auch ein wirtschaftlicher Knüller für unser Land ist. Wir verkaufen weltweit die Technologien für Emissionsminderung, für Energieeffizienz und für erneuerbare Energien. In all diesen Bereichen sind wir seit 1998 Weltmarktführer geworden. Eine kleine Anlehnung an die vorherige Debatte: Wenige Monate vor dem Regierungswechsel im September 1998 hatte der letzte Hersteller von Solarzellen das Land verlassen, weil die Politik der Vorgängerregierung aus CDU/CSU und FDP keine Grundlage mehr bot, hier mit der Herstellung von Technologien für erneuerbare Energien Geld verdienen zu können. ({0}) Außerdem werden die deutschen Firmen, die am Emissionshandel teilnehmen werden, ab dem Jahr 2005 an Firmen in anderen EU-Ländern Emissionsrechte verkaufen dürfen, weil die Firmen in anderen EU-Ländern ihre Klimaschutzvereinbarungen nicht eingehalten haben. Klimaschutz ist damit zum Innovationsmotor für Deutschland geworden; gerade der Emissionshandel zeigt dies.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kelber, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, Sie haben eben gesagt, dass vor dem Regierungswechsel die letzten Solarzellenhersteller das Land verlassen haben. Ist Ihnen bekannt, dass der damalige Bundesforschungsminister Rüttgers sowohl in Nordrhein-Westfalen, in Gelsenkirchen, als auch in Bayern mithilfe von Bundesmitteln zwei Solarzellenfirmen mit auf den Weg gebracht hat und bei der Grundsteinlegung anwesend war? Wie bewerten Sie die Tatsache, dass die alte Bundesregierung zwei Solarzellenfabriken in Deutschland initiiert hat?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst weiß ich, dass Jürgen Rüttgers der Minister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie war, der als Erster in der Geschichte der Republik die Mittel für diesen Etat gekürzt hat, was danach wieder geändert wurde. ({0}) Entscheidend ist aber die Frage, welchen Stand wir auf dem Weltmarkt im Jahre 1998 hatten und welchen wir heute haben. Damals lagen wir bei der Photovoltaik am Ende der Skala. Heute sind wir hinter den Japanern die Nummer zwei. ({1}) Bei den anderen Technologien sind wir vorne. Der entscheidende Punkt ist dabei: Es wird ein marktwirtschaftliches Instrument angewandt; die Investitionen tragen nämlich heute die Unternehmen selbst. ({2}) Der Bundestag debattiert heute ausführlich über einen ganz bestimmten Aspekt des Emissionshandels: über den nationalen Allokationsplan. Der Bundestag zeigt damit - das ist wichtig -, für wie wichtig er die Maßnahme des Emissionshandels im Rahmen des Klimaschutzes hält; denn er ergänzt andere erfolgreiche Maßnahmen. Ich nenne als Beispiele die Förderung der erneuerbaren Energien, die Energieeinsparverordnung und die Ökosteuer. Wir können festhalten: Deutschland ist heute beim Klimaschutz auf einem guten Weg. Wir werden alle internationalen Vereinbarungen voll erfüllen. Dabei sollten wir uns nicht davon abbringen lassen, bereits jetzt über neue, noch ehrgeizigere Ziele für die Zeit nach 2010 nachzudenken. Durch den Verkauf von Klimaschutztechnologie und von Emissionsrechten wird der Emissionshandel für Deutschland zum wirtschaftlichen Gewinn. Voraussetzung ist ein vernünftiges Emissionshandelssystem innerhalb der EU. Es ist vor allem wichtig - Herr Lippold hat dies angesprochen; dies ist ein Nachklapp aus einer Debatte der letzten Woche -, bei der Anrechnung von Billigstmaßnahmen im Ausland, die den Klimaschutz zu Hause ersetzen sollen, eine Obergrenze einzuhalten. Diese Obergrenze wollen CDU/CSU und wohl auch - wenn ich an den damaligen Applaus denke - die FDP streichen, obwohl sich alle Umweltgruppen, die meisten Wirtschaftsverbände, die Wissenschaft, die Mehrheit des Bundestages, die Gesamtheit des Bundesrates sowie die Bundesregierung für die Beibehaltung dieser Obergrenze aussprechen - und dies aus guten Gründen: Die Aufhebung dieser Obergrenze wäre schlecht für den Klimaschutz und für unsere Wirtschaft. ({3}) Denn dann könnten sich die Klimasünder in Europa, die bisher nichts getan haben, billig davonstehlen, anstatt mit den gleichen Technologien arbeiten zu müssen, mit denen wir unsere Erfolge an dieser Stelle erreicht haben. Auch diese Wahrheit gehört zur Debatte über den nationalen Allokationsplan. Man kann nach außen eine gewisse Beruhigung hinsichtlich Ihres Planes signalisieren: Gott sei Dank haben ihn Ihre eigenen Parteifreunde im Bundesrat bereits abgelehnt. Die nationalen Regeln des Emissionshandels bestimmt der nationale Allokationsplan: Welcher Sektor der Volkswirtschaft soll welche Verpflichtungen übernehmen? Mit welchen Klimaschutzprogrammen sind diese Ziele real hinterlegt? Welche Vorgaben erhalten die einzelnen Branchen? Dabei muss man immer berücksichtigen, welche Emissionsminderungen sie physikalisch wirklich noch herausarbeiten können. Wie sieht nach Bedarfs- oder Effizienzgrad die Erstausstattung betroffener Anlagen aus? Wie wird mit dem Atomausstieg umgegangen? Wie sieht es mit einer Reserve aus? Wie wird mit neuen Anlagen umgegangen, wie mit Stilllegungen? Welchen Schutz bekommen getätigte Investitionen? All das müssen wir am Ende im nationalen Allokationsplan regeln. ({4}) Damit wird der Klimaschutz Bestandteil von Börsenbewertungen und Bestandteil der Finanzrechnung von Unternehmen. Wenn wir sagen, der Emissionshandel mache Deutschland zu einem wirtschaftlichen Gewinner, dann wird der nationale Allokationsplan natürlich darüber entscheiden, welche Branchen innerhalb Deutschlands zu den Gewinnern gehören und welche Branchen besondere Anstrengungen unternehmen müssen. Deswegen muss der nationale Allokationsplan selbstverständlich im Parlament beraten und beschlossen werden: seine Eckpunkte, die wichtigsten Regelungen. ({5}) An dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht keinen Unterschied zwischen den Meinungen von Abgeordneten der Koalition und der Opposition. Vielen Dank, Herr Bundesminister, dass Sie klargestellt haben, dass die Kernpunkte des nationalen Allokationsplans, dass die wesentlichen Regelungen in einem Gesetz festgelegt werden, das im Parlament beraten wird. Sie sind damit nicht nur der antragstellenden Opposition entgegengekommen, sondern auch den eindringlichen Forderungen der Koalitionsabgeordneten. ({6}) Dass die Regelungen des nationalen Allokationsplans als Gesetz diskutiert werden, hat aber nicht nur mit dem Selbstverständnis des Parlaments zu tun. Die Diskussion über den nationalen Allokationsplan ist auch der Augenblick, wo im Klimaschutz einmal Butter bei die Fische muss. An dieser Stelle kann man sich nicht mehr hinter Sonntagsreden verstecken. Die Klimaschutzvereinbarungen der Europäischen Union geben eine klare Obergrenze für die Emissionen eines jeden Staates vor. Diese Verpflichtung muss auf Sektoren aufgeteilt werden: private Haushalte, Wirtschaft, Verkehr, Energieerzeugung. Die vom Emissionshandel betroffenen Anlagen bekommen weitere Reduktionsziele vorgegeben; die anderen Sektoren müssen dann den Rest erfüllen. Damit das zu einem echten Ergebnis führt, müssen die Staaten ihre nationalen Allokationspläne von der Europäischen Union sozusagen genehmigen lassen. Hinter den Zielen müssen auch reale Programme stehen: kein Wolkenkuckucksheim, kein „Wir haben doch vor“, kein „Wir wollen doch fördern“, sondern ganz konkrete Programme, die bewertet werden können. Damit wird die Luft für die Klimasünder in der Europäischen Union dünner. Diese Verpflichtung zu konkreten Programmen und Zahlen hat aber auch für Deutschland Folgen. Jede Tonne CO2, die nicht in Industrie und Energieerzeugung eingespart werden soll, müssten private Haushalte und Verkehr zusätzlich erbringen. Schutzzäune, die die Opposition für bestimmte Industrien und Energieerzeuger aufstellen will, führen zu Mehrbelastungen anderer Unternehmen und der privaten Haushalte. ({7}) Wer den Vorschlag der Bundesregierung zur Aufteilung auf die Sektoren und Branchen ändern will, muss sagen, mit welchen Mitteln er das tun möchte und wen er mehr als vorher belasten will. Das ist das Schöne für die Koalition: Für die Opposition ist das Ende der Worthülsen in der Klimaschutzdebatte gekommen. Bisher haben Sie nämlich einfach alle konkreten Maßnahmen abgelehnt. Jetzt kommt diese neue Pflicht dazu. Ablehnen reicht nicht mehr. Jetzt braucht die Opposition eigene Vorschläge. Dann kann Herr Pfeiffer nicht noch einmal 14 Minuten von einem Thema zum anderen springen, ohne einen einzigen eigenen Vorschlag vorzutragen. Dann muss Butter bei die Fische. ({8}) Bei der Debatte über den nationalen Allokationsplan und die technischen Fragestellungen rund um den Emissionshandel darf man nicht vergessen: Der Emissionshandel ist kein Selbstzweck. Er ist ein Mittel, um die Emission von Treibhausgasen zu reduzieren. Der Emissionshandel soll den Innovationsmotor Klimaschutz unterstützen. Der Emissionshandel sorgt dafür, dass Anstrengungen und Investitionen für den Klimaschutz sich noch schneller wirtschaftlich amortisieren. Dadurch bekommen verfügbare effiziente Technologien bessere Marktchancen. Ein einfaches Beispiel: Veraltete Kraftwerke werden durch den Emissionshandel für den Besitzer zu einer finanziellen Belastung. Die Investition in neue, effizientere Technologien lohnt sich. Also werden wir die Modernisierung schneller bekommen als ohne Emissionshandel. Das ist ein einfacher Vorteil, den man belegen kann. Da der Emissionshandel aber auch langfristige Perspektiven öffnet, wird sich die Entwicklung neuer Technologien beschleunigen - vorausgesetzt, Deutschland und die Europäische Union setzen sich auch für die Zeit nach 2010, nach 2012 anspruchsvolle Klimaschutzziele. Mit diesen neuen Technologien könnten wir erreichen, dass über Energieeinsparungen und den Ausbau erneuerbarer Energien die Strommenge ersetzt wird, die bis 2020 durch den notwendigen Ausstieg aus der Atomenergie wegfallen wird. Die Modernisierung des Kraftwerksparks und ein klimafreundlicherer Verkehr ermöglichen weitere Emissionsminderungen. Zwei Punkte, die in der Energiedebatte fast schon wieder in Vergessenheit geraten sind, nämlich „Negawatt statt Megawatt“ und Least-Cost-Planning, werden mit dem Emissionshandel zu einer Renaissance finden. Sie waren gute Instrumente und sind in einer rein an Betriebskosten - nicht volkswirtschaftlichen Kosten orientierten Debatte fast in Vergessenheit geraten. Voraussetzung für diese positive Vision von einer energieeffizienten Zukunft sind weitere ambitionierte Ziele im Klimaschutz für die Zeit nach 2010. Nur wenn die Marschrichtung klar ist, kann die Effizienzrevolution auch kommen. Wir brauchen quantitative Ziele für die Jahre 2020 und 2050 und auch für das Jahr 2100. Deswegen ist es richtig, sich eine Emissionsminderung bei den Treibhausgasen um 40 Prozent bis zum Jahre 2020 vorzunehmen, wenn sich gleichzeitig die EU auf eine Senkung um 30 Prozent einlässt. Es ist keine Zeit, bis 2010 abzuwarten. Es ist aber der neue Trend der Opposition, zu sagen: Wir warten einmal ab. Klare Vorgaben zum richtigen Zeitpunkt sind die beste Methode, die Effizienz aus der Industrie, aus den privaten Haushalten und aus der Forschung herauszukitzeln. Wir sind in der Lage, die Emissionen bis zum Jahre 2050 um 80 Prozent zu reduzieren. Wir sind in der Lage, noch in diesem Jahrhundert vollständig auf eine Solarwirtschaft umzusteigen. Das ist nicht nur ökologisch vernünftig. Spätestens seit dem Bericht der EnqueteKommission wissen wir, dass dies auch wirtschaftlich für Deutschland eine riesige Chance bietet: neue Produkte, neue Dienstleistungen und damit auch neue Jobs durch den Klimaschutz. ({9}) Für diese Ziele brauchen wir einen funktionierenden Emissionshandel, aber auch ergänzende Maßnahmen, so etwa den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Hier haben wird die Weltmarktführerschaft gewonnen und die lassen wir uns auch nicht wieder nehmen. Auch im Verkehrsbereich müssen wir weitere Fortschritte erzielen. Wir sind das erste Industrieland, das es in den letzten drei Jahren geschafft hat, den Trend hin zu immer mehr CO2-Emissionen im Verkehr zu stoppen und umzudrehen. Jetzt aber kommt die große Herausforderung durch die EU-Osterweiterung mit dem zusätzlichen Güterverkehr auf uns zu. Gerade in diesem Zusammenhang ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass sich die europäischen Automobilhersteller von ihrer Selbstverpflichtung zum Klimaschutz verabschieden wollen. Nach meiner Information stehen an der Spitze übrigens die deutschen Automobilbauer. ({10}) Wenn diese Selbstverpflichtung nicht eingehalten wird, muss aus meiner Sicht eine gesetzliche Obergrenze für den Flottenverbrauch her. Wenn sich die Automobilindustrie von dem Klimaschutzziel verabschieden will, können wir das nicht akzeptieren. Wir können die bisher im Verkehrsbereich erzielten Erfolge beim Klimaschutz nicht wieder zunichte machen lassen. ({11}) Für die Zeit nach 2010 müssen wir uns um neue internationale Ziele im Klimaschutz bemühen. Es reicht nicht, allein nationaler Vorreiter zu sein. Eine stärkere Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer ist nur dann möglich, wenn wir im eigenen Land mit gutem Beispiel vorangehen. Dafür sind ein konsequenter nationaler Allokationsplan und ein funktionierendes Emissionshandelssystem eine gute Voraussetzung. Wir brauchen allerdings auch andere Maßnahmen. Für diese anderen konkreten Maßnahmen wünsche ich mir das gleiche Engagement der Opposition wie beim nationalen Allokationsplan und beim Emissionshandel. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über ein ganz zentrales Instrument des Klimaschutzes: über den Emissionshandel und damit verbunden über den nationalen Allokationsplan. Am Beginn einer solchen Debatte steht immer die Frage nach Zielen. Herr Kelber, Sie haben völlig Recht, wenn Sie sagen, wir müssten uns ehrgeizige Ziele setzen. Ich möchte Sie aber auf eines hinweisen: Wir, die FDPCDU/CSU-Koalition, haben uns in der Klimapolitik ehrgeizige Ziele gesetzt und damit die Klimapolitik in Deutschland angeschoben. ({0}) Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Wir halten am nationalen Emissionsminderungsziel von 25 Prozent bis zum Jahre 2005 fest. ({1}) Wir halten auch am europäischen Klimaschutzziel und am europäischen Burden-Sharing fest. Sie können sich nicht hier hinstellen und en passant sagen: Dieses Ziel wird erreicht, deswegen setzen wir jetzt neue Ziele. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass Ihnen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung mehrfach - zuletzt in diesem Jahr - deutlich gesagt hat, dass Sie das nationale CO2-Minderungsziel nicht erreichen werden. ({2}) Bevor Sie über neue Ziele reden, reden Sie erst einmal darüber, wie Sie die jetzigen Ziele erreichen wollen. Da ist noch sehr viel zu tun. Angesichts dessen kann man nur feststellen, dass Sie die ganze Diskussion und vor allen Dingen die Notwendigkeit, dafür in Deutschland Regelungen zu schaffen, schlicht verschlafen haben. ({3}) Wir haben im Deutschen Bundestag den Emissionshandel mehrfach diskutiert, nicht aber auf Antrag von SPD und Grünen und auch nicht deswegen, weil diese glorreiche Bundesregierung irgendetwas vorgelegt gehabt hätte; wir haben über diese Fragen im Wesentlichen deshalb diskutiert, weil die FDP-Bundestagsfraktion mehrere Anträge dazu vorgelegt hatte. Daher werden wir das Emissionshandelsgesetz, das Sie jetzt im Deutschen Bundestag vorlegen wollen, ganz intensiv und kritisch begleiten. Wir nehmen uns das Recht dazu heraus, weil wir die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag sind, die schon vor Jahren einen Antrag vorgelegt hatte, in dem vorgeschlagen wurde, wie die Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft beim Klimaschutz mit dem internationalen Emissionshandel verknüpft werden kann. Damals haben wir Sie aufgefordert, beizeiten die nötigen Regelungen zu schaffen. Sie haben es nicht getan. Deswegen sind wir jetzt unter Druck und in Schwierigkeiten. ({4}) Trotzdem werden wir uns jetzt daran beteiligen und uns das Recht herausnehmen, Herr Kelber, an den Stellen, an denen die Vorlage nichts taugt, es auch deutlich zu machen. ({5}) Es spricht Bände, dass der Herr Bundesminister Trittin in dieser Debatte nicht ans Rednerpult tritt. Er hat sich hier in einer kurzen Erklärung dahin gehend geäußert, er wolle die Rechte des Parlaments schon irgendwie wahrnehmen. Wenn man aber die Rechte des Parlaments wahrnehmen will, meine Damen und Herren von der Koalition, dann muss man den Gesetzentwurf rechtzeitig vorlegen. Sie wissen, dass bis Ende dieses Jahres das Gesetz beschlossen sein muss. Bis heute ist es weder im Kabinett beschlossen noch dem Deutschen Bundestag vorgelegt. Wir sollen bis Ende März nächsten Jahres den Allokationsplan zu Ende beraten haben. Dafür fehlt aber die Grundlage, das Gesetz. Deswegen sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Sorgen Sie dafür, dass die Vorlage schnell eingebracht wird, damit wir wirklich genug Zeit haben, darüber zu diskutieren. Nur dann werden die Rechte des Parlaments tatsächlich wahrgenommen werden können. ({6}) Der nationale Allokationsplan ist das Herzstück dieses Emissionshandels. In ihm geht es um die Anfangszuteilung von Emissionsrechten; insofern ist er für die Anlagen betreibenden Unternehmen von zentraler, herausragender Bedeutung. Daher ist die Feststellung in dem Antrag, den wir heute diskutieren, zutreffend, dass die erforderlich werdende staatliche Zuteilung von Emissionsrechten sowohl die Freiheit der Berufsausübung als auch das Grundrecht auf Eigentum wesentlich berührt. Die Forderung, bei so weit reichenden Eingriffen die Parlamente maßgeblich einzubeziehen, ist meines Erachtens selbstverständlich. Das betrifft sowohl die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages als auch die der Länderkammer, des Bundesrates. In diesem Punkt teilt die FDP die Einschätzung des vorliegenden Antrages. Allerdings ist die Schlussfolgerung, die daraus gezogen wird, dass der nationale Allokationsplan als formelles Gesetz rechtlich eigenständig ausgestaltet werden solle, meines Erachtens nicht zwingend; darüber sollten wir noch einmal reden. Dabei ist es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, worum es bei dem nationalen Allokationsplan geht: um die konkrete Festlegung der Zuteilungsmengen für jede einzelne der 4 000 bis 5 000 Anlagen in Deutschland, um die Spezifizierung bestimmter Technologien, um die rechtsverbindliche Beschreibung von Tätigkeiten in Bezug auf Neuanlagen und Anlagenerweiterungen, um Regelungen zu Anlagenstilllegungen und Ersatzanlagen, über die Kostenpflichtigkeit der Zuteilung und ihre nachträgliche Korrektur sowie ihre Überführung in die nachfolgende Zuteilungsperiode und vieles andere mehr. Ich habe dies deswegen hier aufgezählt, weil ich deutlich machen will, dass es sich um die Festlegung einer Fülle technischer Details handelt. Hier wäre nach meiner Meinung die Rechtsverordnung der Weg, der für solche Dinge aus guten Gründen üblicherweise gewählt wird. Deshalb schlagen wir vor, diese Details auch im Rahmen einer Rechtsverordnung zu regeln. Das muss aber noch lange nicht am Parlament vorbeigehen. Wir haben sowohl im Abfallrecht als auch nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz heute schon die Möglichkeit, bei Verordnungen eine Zustimmungspflicht von Bundestag und Bundesrat vorzusehen. Dafür haben wir beispielsweise in § 48 b Bundes-Immissionsschutzgesetz ein Verfahren festgelegt, das hier Anwendung finden könnte. Wir wollen also eine Beteiligung des Parlaments, aber es muss nicht unbedingt im Rahmen eines Gesetzes sein, wie es von der CDU/CSU vorgeschlagen wurde. ({7}) In höchstem Maße ärgerlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung nach wie vor kein Gesetz zum Emissionshandel eingebracht hat. Wir sind spät, eigentlich schon zu spät dran. Die Wirtschaft wird sich nicht mehr darauf einstellen können. Ein großes Problem ist vor allem, dass im Referentenentwurf eines Emissionshandelsgesetz, der bekannt wurde - ein Gesetzentwurf liegt dem Deutschen Bundestag noch nicht vor -, eine Regelung zu wesentlichen Fragen bisher schlichtweg fehlt. Ich nenne einige Beispiele: Es muss eine Regelung in das Emissionshandelsgesetz aufgenommen werden, die die Vorausleistungen der deutschen Wirtschaft im Klimaschutz bei der Zuteilung der Emissionsrechte berücksichtigt. Wir brauchen eine Regelung der Frage, wie Neuanlagen, die nach 2005 in Betrieb gehen, behandelt werden sollen. Es bedarf im Gesetz auch einer grundsätzlichen Regelung der Frage einer nationalen Reserve bei den Emissionshandelsrechten. Das sind die Punkt an denen sich entscheidet, ob das Emissionshandelsgesetz ein Erfolg oder ein Desaster werden wird. Regelungen hierzu fehlen zurzeit und sind auch nicht vorgesehen. Wir fordern, sie aufzunehmen; Art. 80 des Grundgesetzes erfordert das geradezu. Der Referentenentwurf von Minister Trittin wird sowohl den rechtlichen Grundsätzen wie auch den inhaltlichen Notwendigkeiten in dieser Hinsicht in keiner Weise gerecht. ({8}) Bei der Ausgestaltung des Gesetzes ist natürlich auch die Frage der Mitwirkungsrechte der Länder zu klären. Wir müssen darüber nachdenken, wer den Emissionshandel in Deutschland vollziehen soll, also ob es einen Zentralvollzug des Emissionshandels gibt oder einen Vollzug, an dem die Länder beteiligt sind. Das ist eine Fachfrage, die sehr intensiv diskutiert werden muss. Denn es kann nicht sein - das sage ich an dieser Stelle ausdrücklich -, dass die Handelsrechte vom Bund vergeben werden und die Länder den Vollzug vorzunehmen haben. Wenn es dann nämlich zu Streitigkeiten und womöglich zu Klagen kommt, sind die Länder die Beklagten. Eine solche Konstruktion halte ich für nicht akzeptabel und für unfair. ({9}) Ich freue mich auf die inhaltliche Diskussion über Fachfragen. Ich hoffe, dass die Verantwortung, die hierbei besteht, von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag gleichermaßen wahrgenommen wird. Wir müssen dieses Thema im Parlament beraten. Auch könnte das Parlament mal wieder einen Änderungsantrag formulieren. ({10}) Das haben wir lange Zeit nicht mehr gemacht. Sie von Rot-Grün sind nämlich dazu übergegangen, alles, was die Bundesregierung einbringt, im Schweinsgalopp durchzuwinken, ohne darüber nachzudenken. ({11}) Das können wir uns bei einer solch zentralen Frage nicht leisten. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass der Emissionshandel ein Erfolg wird, wenn er entscheidend zur Reduzierung von CO2-Emissionen in Deutschland und der Welt sowie zur Realisierung von Kostensenkungspotenzialen im Klimaschutz beitragen soll. Wenn wir das schaffen, haben wir ein großes Ziel erreicht. Das müssen wir aber auch erreichen; denn wenn dieses Instrument durch Missmanagement dieser Regierung an die Wand gefahren wird, dann stehen wir klimapolitisch ziemlich nackt da. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer Kritik an der Sprache beginnen, die an uns alle gerichtet ist. Wenn man die Debatte verfolgt, dann hört man Begriffe wie Allokation, Innovation, Effizienz, Grenzkosten, Mikroplan oder Makroplan. Wir müssen aufpassen, dass wir dieses Thema so darstellen, dass die Öffentlichkeit es nachvollziehen kann. ({0}) Denn wenn es um Klimaschutz geht, ist es wichtig, zu erklären, warum wir diese Regelungen vorsehen und welche Ziele wir damit verfolgen. Das darf man nicht vergessen; denn sonst gleitet diese Diskussion in eine Technokratendiskussion ab, die vielleicht nur eine Hand voll Leute verfolgen kann, die aber niemanden wirklich noch erreicht. Wir unternehmen diese Anstrengung, weil Klimaschutz eine der größten globalen Herausforderungen unserer Zeit und ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit ist und weil die Kosten unterlassenen Handelns im Klimaschutz wesentlich größer sein können, als wir alle erwarten. Das sind die Motive. ({1}) Wir unternehmen diese Anstrengung aber auch, weil wir glauben, dass ökologischer Strukturwandel ein wichtiger Beitrag zur Lösung unserer wirtschaftlichen Probleme und der Beschäftigungsprobleme ist. Wir in der Bundesrepublik, wir in Europa müssen zeigen, dass wirtschaftliche Prosperität auf der einen Seite und das Verfolgen ökologischer Ziele auf der anderen Seite Hand in Hand gehen können. Dafür ist der Emissionshandel ein ganz wichtiger Beitrag. ({2}) Wir tun das übrigens auch, weil das ein Beitrag zur Glaubwürdigkeit ist. Das knüpft ein wenig an das an, was Uli Kelber gesagt hat. Es geht natürlich darum, dass man auf dem internationalen Parkett bei den Klimaverhandlungen und anderswo wirklich nur dann glaubwürdig agieren kann, wenn man seine Hausaufgaben erledigt und zeigt, dass es geht. Dieser Zusammenhang ist ganz klar. Bei aller Freundschaft zum CDM und zur Joint Implementation, also dem Recht, die Maßnahmen auch außerhalb des Landes durchführen zu können, ist zu sagen: Es ist schön und gut, dass man flexibel ist, wichtig ist aber, dass wir zeigen, dass es geht, dass wir unsere technologische und ökonomische Kompetenz in dieser Richtung weiterentwickeln und dass wir keinen Innovationsdruck aus dem Kessel herausnehmen, sondern ihn aufrechterhalten. Das ist der Sinn und Zweck des Emissionshandels. ({3}) Ich komme zum Verfahren. Frau Kollegin Homburger, ich muss schon sagen: Das, was Sie sagen, ist einfach nicht richtig. Das Europaparlament hat im Juli in abschließender Lesung entschieden. Seit Oktober ist es in Kraft. Wenn ich es richtig sehe, haben wir jetzt November. Das heißt, die Bundesregierung ist bei der Bearbeitung rasend schnell. ({4}) Es ist allerdings ganz klar, dass wir ein Dilemma haben: Die Exekutive muss handeln - es geht um die Erarbeitung eines nationalen Allokationsplans -, ohne dass es dafür eine Grundlage gibt, nämlich ein Gesetz, legislatives Handeln. Dieses Defizit werden wir sehr bald beheben. Ich gehe davon aus, dass das Kabinett im Dezember beschließen wird und dass wir uns, nachdem wir wieder zusammengekommen sind, im Januar oder Februar mit dem Thema beschäftigen können. Insofern kann man hier überhaupt nicht den Vorwurf erheben, das Verfahren werde verschleppt oder es sei zu langsam. Es ist ganz wichtig zu sagen: Wir sind in time. Ich komme zu den Zielen. Bei dem Beitrag des Kollegen Paziorek in der letzten Debatte habe ich eine gewisse Inkonsistenz festgestellt. Einerseits haben Sie gesagt, wir brauchten endlich ein Konzept, das weit über den Tag hinausweist, damit alle Investoren Planungssicherheit haben. Dazu kann ich nur sagen: Jawohl, das dauert aber; hierfür muss man eine Perspektive von 20, 30 oder auch 50 Jahren ins Auge fassen. Andererseits haben Sie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz beklagt, dass man sich auf gar keinen Fall Ziele über das Jahr 2010 hinaus vornehmen sollte. ({5}) Das passt einfach nicht zusammen, das ist nicht logisch. ({6}) Deswegen sagen wir: Wir brauchen mittel- und langfristige Ziele - zum Beispiel die Reduktion bis zum Jahre 2020 um 40 Prozent -, damit wir ein klares Investitionsfenster haben. Das ist der Korridor, in dem Investitionen getätigt werden können und auch willkommen sind. Das ist unsere Botschaft. ({7}) Mit den langfristigen Zielen stehen wir keineswegs alleine. Großbritannien hat sich vor kurzem das Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2050 60 Prozent seiner Emissionen zu reduzieren. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Ich gebe Ihnen allerdings Recht: Mit dem Verweis auf morgen und übermorgen kann man nicht begründen, weshalb man die Ziele von heute leider nicht erreichen kann. Wir müssen aufpassen, dass wir uns kurz-, mittelund langfristige Ziele setzen. Wenn wir bestimmte Ziele, wie zum Beispiel das 2005-Ziel, nicht erreichen - es sieht ja danach aus, dass wir vielleicht bei 20 Prozent und nicht bei 25 Prozent liegen werden -, dann müssen wir genau analysieren, warum das so ist und was geändert werden muss, damit wir den Zielen näher kommen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, um einmal ganz ehrlich zu sein: So ganz glaube ich Ihnen Ihre Krokodilstränen bezüglich des Verfehlens des 25-Prozent-Ziels nicht. Sie haben gegen die ökologische Steuerreform, gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz, gegen das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien, gegen das 100 000-DächerProgramm bei der Photovoltaik, gegen das Altbausanierungsprogramm und gegen das KWK-Gesetz gestimmt. Das passt nicht zusammen. Man kann nicht einerseits über das Verfehlen des Ziels klagen und andererseits immer fordern: weniger, weniger, weniger. Sie haben hier eine echte Glaubwürdigkeitslücke. Das haben Sie bei der letzten Wahl ja auch gemerkt. ({8}) Ich komme jetzt zu einem Aspekt, der mir sehr wichtig ist. Ich glaube, dass der Emissionshandel ein wunderbarer Beitrag auch zum Bürokratieabbau ist, wenn wir ihn richtig aufziehen; das ist ganz zentral. Beim Emissionsschutzrecht und der ganzen Bürokratie können wir zu deutlichen Reduzierungen kommen, wenn wir in den Emissionshandel einsteigen; das muss man einmal sagen. Wir können die Ziele ökologische Effizienz und Bürokratieabbau gut miteinander verbinden. Beim Emissionshandel reduziert der Staat seine Rolle im Prinzip darauf, die Ziele zu setzen und den Rahmen vorzugeben. Innerhalb dieses Rahmens sind die Akteure bei der Entscheidung, wie sie diese Ziele erreichen, vollständig frei. Der Staat kommt am Anfang, wenn er die Emissionsrechte ausgibt, und am Ende vor, wenn er schaut, ob die Ziele auch tatsächlich erreicht worden sind. All das, was dazwischen stattfindet, also Handel, Zertifizierung und verschiedene Dienstleistungsaktivitäten, sind neue Wirtschaftsaktivitäten, aus denen sich der Staat völlig heraushält. Ich glaube, das passt sehr gut in die aktuelle Debatte über Bürokratieabbau. Vor allen Dingen entstehen auch viele neue strategische Geschäftsfelder. Ich komme jetzt zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich kann ganz klar sagen: Zu 50 Prozent können wir ihm zustimmen und zu 50 Prozent nicht. ({9}) Wir können dem Antrag der CDU/CSU in dem Punkt zustimmen, dass Sie ein transparentes Verfahren unter größtmöglicher Beteiligung der interessierten Öffentlichkeit fordern. Wir brauchen im Gesetz eine Festlegung der Ziele und der Prinzipien. Das unterstützen wir. Wir wollen vor allen Dingen auch, dass die Umweltverbände in diesem Dialogprozess in angemessener Weise berücksichtigt werden; denn sie besitzen sehr große Kompetenz. Darum geht es uns. Dazu können wir uneingeschränkt Ja sagen. Den Teil jedoch, in dem Sie fordern, dass der nationale Allokationsplan im Parlament behandelt werden soll, können Sie nicht ernst meinen. Es geht hier um Emissionsrechte für 5 000 Anlagen. Wir sind keine Beamte, sondern Politiker. Unser Werkzeug ist das Argument, nicht der Rechenschieber. Darüber möchte ich hier im Parlament im Einzelnen wirklich nicht diskutieren. ({10}) Ich komme kurz zu einzelnen Punkten. Erstens. Unsere Position ist, angemessene absolute Reduktionsziele kurz- und mittelfristig umzusetzen. Ich habe schon gesagt, es muss erkennbar sein, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Zweitens. Wir erwarten von der Industrie, dass sie die zugesagte Reduktion des Kohlendioxidausstoßes von 45 Millionen Tonnen bis 2010 gegenüber 1998 tatsächlich erbringt. Wir haben immer klar gemacht: Die Industrie muss sich keine Sorgen machen. Im Rahmen des Emissionshandels verlangen wir von der Industrie nicht mehr als das, was sie im Zuge der freiwilligen Selbstverpflichtung in der ersten Verpflichtungsperiode bis 2010 zugesagt hat. Wir halten unser Wort. Wir erwarten aber von der Industrie, dass auch sie ihr Wort hält. Das ist eindeutig. Es darf nicht zu einer Querabwälzung kommen. Die Industrie darf ihre Kosten nicht anderen aufbürden, sodass den privaten Haushalten und dem Verkehr überproportionale Kosten entstehen. Es muss schon eine gewisse intersektorale Gerechtigkeit herrschen. Dafür werden wir uns einsetzen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie das berücksichtigt. Drittens. Natürlich muss es einen Reservefonds geben; das ist völlig klar. Es wird hoffentlich neue Akteure und neue Unternehmen geben. Aufgrund der Konjunktur und des Strukturwandels entstehen viele Unwägbarkeiten. Insofern brauchen wir einen Reservefonds. Wir betrachten es jedoch nicht als Aufgabe des Staates, diesen Reservefonds bereitzustellen, sondern dieser muss aus dem gesamten Emissionsbudget aufgebracht werden. Am Ende des Tages wird sowohl im Rahmen der EULastenteilung, des Burden Sharing, als auch des KiotoProtokolls abgerechnet, um zu sehen: Was haben wir insgesamt erreicht? Wir können nicht einfach Geld zur Verfügung stellen; das geht nicht. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen berühmten Oggersheimer Philosophen zitieren: Entscheidend ist, was hinten herauskommt. Genau das ist die Frage. ({11}) Wichtig sind für uns auch Privilegien für die KraftWärme-Kopplung; denn sie ist mit die effizienteste Form der Energieerzeugung. Das heißt, wir wollen bei der Kraft-Wärme-Kopplung eine wie auch immer geartete Form der Bonuszuteilung. Für die Kernenergie lehnen wir eine pauschale Kompensation ab. Es kann nicht sein, dass den Unternehmen der Kernenergieausstieg extra bezahlt wird. Vor allen Dingen wollen wir - das sagte ich schon - den Emissionshandel mit Bürokratieabbau verbinden, also weniger Ordnungsrecht und mehr moderne, effiziente Umweltinstrumente mit einem größtmöglichen Freiheitsgrad für die Akteure zur Erreichung der Ziele. Ich bin zuversichtlich, dass wir das schaffen werden. Ich freue mich, dass die Opposition hier Zusammenarbeit signalisiert hat. Danke schön. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marie-Luise Dött von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden bald eine neue Währung bekommen, eine Währung für den Klimaschutz, eine Währung für Kohlendioxidemissionen. In wenig mehr als einem Jahr wird der europaweite Emissionshandel auch in Deutschland Wirklichkeit. Die Einführung dieser neuen Klimaschutzwährung ist in ihren Auswirkungen durchaus mit der Einführung des Euro vergleichbar. Immerhin steht uns ein grundlegender Systemwechsel bevor: vom traditionellen Ordnungsrecht hin zu einem marktwirtschaftlichen Steuerungsinstrument. Starttermin ist der 1. Januar 2005. Bereits vorher, schon in fünf Monaten, hat die Bundesregierung der Europäischen Kommission den nationalen Allokationsplan vorzulegen. Es ist also langsam an der Zeit, die Bürger und vor allem die Unternehmen darüber zu informieren, was sie erwarten wird. Tatsächlich aber ist genau das Gegenteil der Fall: Es macht sich gerade bei der Bundesregierung und im Umweltministerium erschreckende Ahnungslosigkeit breit. Bisher hat das Umweltministerium lediglich einen Referentenentwurf für das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz vorgelegt. Doch in diesem Gesetz steht nichts Substanzielles. Die wesentlichen Punkte werden auf den wenigen Seiten, die der Entwurf umfasst, nicht angesprochen. Der Gesetzentwurf trifft keine Aussage zur Berechnung der zuzuteilenden Zertifikatmengen, keine Aussage zur Einbeziehung von Vorleistungen, keine Aussage zur Kostenpflichtigkeit der Zuteilung, keine Aussage zu Anlagenerweiterungen, keine Aussage zu Anlagenstilllegungen, ({0}) keine Aussage zu Neuanlagenzulassungen und auch keine Aussage zu Reservebildungen und Puffern. ({1}) - Wenig. - Stattdessen finden sich in nur 23 Paragraphen insgesamt zehn Verordnungsermächtigungen. ({2}) Auch das Herzstück der nationalen Umsetzung, die Regeln der Allokation, sollen in einer Rechtsverordnung und nicht in einem Gesetz stehen. Herr Trittin, ich verstehe, dass Sie die alleinige Entscheidungsgewalt in Ihrem Haus behalten wollen. Sie umgehen damit aber die Beteiligung des Parlaments. ({3}) Diese Praxis ist verfassungsrechtlich bedenklich. Namhafte deutsche Verfassungsrechtler stimmen mir in dieser Aussage zu, zum Beispiel Professor Eckard Rehbinder von der Universität Frankfurt. Es besteht die Gefahr, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz der Anlagenbetreiber beschränkt wird, wenn die Zuteilungsentscheidung zunächst auf der Grundlage eines Planes und erst später als Verwaltungsakt getroffen wird. Wichtiger im Zusammenhang mit unserem Antrag erscheint mir jedoch die Entscheidung der Bundesregierung, auch die Regeln der Zuteilung ohne Beteiligung des Parlaments festzusetzen. Es ist Ausdruck unseres RechtsMarie-Luise Dött staatssystems, dass solche wesentlichen Entscheidungen durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber getroffen werden. Dieser Gedanke liegt dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes zugrunde. Der Grundsatz verlangt, dass sich das gesetzliche Programm nach Zweck, Art und Umfang aus der Verordnungsermächtigung ergibt. Um es einfacher zu sagen: Wenn ein Bürger in das TEHG schaut, muss er dem Gesetz entnehmen können, mit welcher Tendenz und mit welchem Inhalt das Bundesministerium für Umwelt von der Befugnis Gebrauch machen kann, den nationalen Allokationsplan zu erstellen. ({4}) Unter diesem Gesichtspunkt birgt die Verlagerung der Regelungsgewalt auf die Exekutive zweierlei Probleme. Zum einen kommt der angesprochene Systemwechsel im TEHG nicht mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck. Zum anderen ist aus dem Gesetzentwurf nicht zu erkennen, wie die Frage der Zuteilung der Zertifikate durch den Verordnungsgeber angegangen werden soll. Das Gesetz lässt also völlig offen, wie der nationale Allokationsplan aussehen soll. Die zentralen Fragen der Erstzuteilung, der Behandlung von early actions und des Marktzugangs für Neuanlagen sind in dem Entwurf zum TEHG nicht hinreichend bestimmt. Da keine aussagekräftigen Kriterien genannt werden, ist nicht erkennbar, in welcher Richtung die Regelung durch das Umweltministerium erfolgen soll. Dabei entscheidet der nationale Allokationsplan über Wohl und Wehe der betroffenen Unternehmen. Er legt fest, welches Unternehmen wie viele Zertifikate bekommt. Damit werden den Betrieben wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten direkt zugestanden oder aber auch versagt. Wir fordern Sie daher auf, die wesentlichen Fragen der nationalen Ausgestaltung nur mit Beteiligung des Parlaments zu treffen. Sie, Herr Minister Trittin, scheinen auch so langsam zu dieser Einsicht zu kommen. Der von der Rechtsprechung entwickelte Wesentlichkeitsgrundsatz verpflichtet Sie dazu. Verlagern Sie die wesentlichen Entscheidungen nicht auf die Verordnungsebene, sondern gestalten Sie den nationalen Allokationsplan als formelles Gesetz! Ich bin gespannt auf Ihren Gesetzentwurf, den Sie für Dezember angekündigt haben. Aber erlauben Sie mir, in dieser Sache sehr skeptisch zu sein. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Professor Ernst Ulrich von Weizsäcker von der SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Ulrich Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ich suche zunächst einmal nach den gemeinsamen Punkten. Das heutige Beratungsziel ist die Überweisung an die zuständigen Ausschüsse. Darin sind wir uns sicherlich einig. Dieses Ziel werden wir erreichen. Das ist schon einmal ein gutes Symbol. Darüber hinaus - das sehe ich ähnlich wie Herr Loske sind wir uns darüber einig, dass das Parlament intensiv beteiligt werden muss. Eine andere Frage ist, ob wir großen Spaß daran finden, über 5 000 oder 6 000 einzelne Anlagen zu beraten und in das Feilschen über die Startlizenzen einzutreten. Das wäre ziemlich abwegig. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass dies das Ziel Ihres Antrags ist, Herr Dr. Paziorek. ({0}) Wenn das der Fall wäre, dann müssten wir darüber streiten. Denn es entspricht nicht dem, was wir im Bundestag mit der Klimapolitik beabsichtigen. Bei der Klimapolitik handelt es sich - das haben schon viele Redner festgestellt - um eine sehr langfristige Aufgabe. Sie erfordert eine größere Gemeinsamkeit und einen stärkeren Willen zur Gemeinsamkeit, als es bisher vielleicht zum Ausdruck gekommen ist. Unseren Enkeln wird es ziemlich egal sein, wer im Jahr 2003 im Bundestag die schönere Rede gehalten hat. Es wird ihnen aber sehr darauf ankommen, was in der Praxis wirklich geschieht. In einem solchen Zeitraum wechseln auch schon einmal die Mehrheiten. Man sollte nicht darauf bauen, dass sich eine bestimmte Doktrin 50 Jahre lang hält. Insofern ist auch Flexibilität erforderlich. Ich sehe den eigentlichen Charme des Emissionshandels darin, dass der Markt hinsichtlich der höchsten Effizienz immer wieder neu justiert werden kann. Es sind nicht ständig neue Entscheidungen notwendig. Wenn ich es richtig verstanden habe, liegt die Logik des bisherigen Referentenentwurfs zum Teil darin, Frau Dött, dass nicht alles von vornherein festgelegt wird. ({1}) - Für die Planungssicherheit ist der mit der Senkung der Emissionen auf 846 Millionen Tonnen CO2 eingezogene Deckel notwendig. Der Markt erlaubt keine wirkliche Planungssicherheit; das ist der Sinn der Marktwirtschaft. ({2}) Darüber kann man sich nicht beim Ministerium beklagen. Ich bin aber sehr froh darüber, dass zum Beispiel Herr Lippold die Festlegungen durch das Kioto-Protokoll und die EU-Richtlinie ausdrücklich begrüßt hat, dass sich Herr Paziorek in der Diskussion zum vorhergehenden Tagesordnungspunkt zum Anwalt der erneuerbaren Energien gemacht hat - das ist sehr erfreulich - und dass Frau Homburger die Rolle der FDP bei der Entwicklung des Grundgedankens des Emissionshandels herausgestellt und die Notwendigkeit der Effizienztechnologien und - im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien - auch der Speichertechnologien betont hat. Ich habe den Eindruck, dass es einen breiten Spielraum für eine Einigung gibt. Konkret werden wir den Antrag in den zuständigen Ausschüssen einschließlich des Umweltausschusses beraten. Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Beratungen zu einer Stärkung des Parlaments in den Grundsatzfragen führen. Der Emissionshandel ist insgesamt ein Novum. Das hat Frau Dött sehr zutreffend dargestellt. Gleichzeitig stehen wir unter einem von außen erzeugten enormen Zeitdruck. Das impliziert für den Gesetzgeber und das Ministerium, sich zunächst pragmatisch auf das zu beschränken, was wenigstens einigermaßen einfach und durchschaubar ist. Darin liegt der Sinn des nationalen Allokationsplanes, den auch die anderen europäischen Länder erstellen müssen. Das stellt eine in pragmatischer Hinsicht unvermeidliche Selbstbeschränkung auf einen Bereich des Klimaschutzes dar, in dem man es mit wenigen großen Akteuren zu tun hat. 5 000 Akteure sind relativ wenig. Auf die Dauer wird aber der Klimaschutz nicht kostengünstig möglich sein, wenn nicht auch die Millionen von kleinen Akteuren berücksichtigt werden, die bisher nichts von einer Verwirklichung des nationalen Allokationsplanes haben. Es muss den Bundestag auf die Dauer interessieren, wie wir den Strukturwandel über die großen Akteure hinaus ausdehnen und den Preis, der den CO2Emissionen jetzt zugewiesen wird, transparent machen können. Das muss zum Teil mit anderen Instrumenten als mit einem nationalen Allokationsplan geschehen. Aber das muss jedenfalls im Visier der Energiepolitik sein. Heute früh ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir in diesem Jahrzehnt vor grundlegenden energiepolitischen Entscheidungen stehen und dass es in den kommenden Jahren - vielleicht anderthalb Jahrzehnten - notwendig sein wird, etwa 40 000 Megawatt der heutigen Kraftwerkskapazität zu ersetzen, weil zahlreiche Kraftwerke aus Altersgründen vom Netz genommen werden müssen. Die entscheidende Frage ist, wie diese Kapazitäten ersetzt werden sollen. Eine Möglichkeit ist - diese wird von den Kraftwerksbetreibern ständig propagiert -, effizientere Kraftwerke, zum Beispiel GasDampf-Kombinationskraftwerke, zu bauen. Hier ist die Arena für den Emissionshandel nach dem nationalen Allokationsplan; das ist auch richtig so. Nach meiner Vision können so aber nur 40 Prozent der 40 000 Megawatt ersetzt werden. Weitere 20 Prozent kann man durch die Nutzung erneuerbarer Energiequellen abdecken; auch das ist in der Zielsetzung. Die restlichen 40 Prozent sollten durch die Steigerung der Endnutzereffizienz erzielt werden, die bisher kaum im Gespräch ist. Das betrifft also die Haushalte und den Verkehr. Natürlich sind die großen Energieverbraucher in Industrie und Gewerbe schon jetzt einbezogen. Wir müssen uns also zusätzlich in eine andere große Arena begeben, wenn wir die energiepolitischen Entscheidungen dieses Jahrzehnts mit Vernunft und einer langfristigen Zielsetzung angehen wollen. Ich glaube, es war Herr Kelber, der darauf hingewiesen hat, dass es nicht angeht, dass sich eine große Branche, die in Deutschland einiges Ansehen genießt, stillschweigend von einer Selbstverpflichtung verabschiedet. Das ruft den Gesetzgeber geradezu auf den Plan, nun endlich feste Rahmenbedingungen - auch um der Planungssicherheit willen - zu setzen; denn wir können es uns nicht leisten, noch in zehn Jahren eine Dinosaurierautomobilflotte und entsprechende Gebäude zu haben. Wir müssen jetzt in die Energie sparende Technologie einsteigen. ({3}) Ich freue mich sehr auf die Debatte über den im Grundsatz sehr vernünftigen Antrag der CDU/CSUFraktion auf parlamentarische Beteiligung an der Erarbeitung eines nationalen Allokationsplans. Ich bin sehr erfreut und auch beruhigt über die Auskunft des Herrn Ministers, dass er selbstverständlich das Parlament, wie es sich gehört, im Zusammenhang mit der Ermächtigung für eine Verordnung in die Beratungen über den Entwurf eines Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes einbeziehen will. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Petzold von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Leider sind die Vorstellungen der Bundesregierung zur Umsetzung eines nationalen Emissionszuteilungsplanes - um das einmal so auszudrücken - noch sehr im Dunkeln und sorgen gerade in den neuen Bundesländern für erhebliche Unruhe. Immer wieder werden Fragen nach der Berücksichtigung von bereits erbrachten Emissionsminderungen, den so genannten early actions, und deren Vorhaltemöglichkeit an mich gerichtet. Wenn wir ohne Voreingenommenheit zurückblicken, dann stellen wir fest: Die beträchtlichen Minderungen beim CO2-Ausstoß, die Deutschland seit 1990 erreicht hat, wurden im Wesentlichen durch den schmerzlichen Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern erbracht. ({0}) Des Weiteren wurden dort Betriebe zum großen Teil nach dem neuesten Stand der Technik errichtet, sodass sie kaum noch über Minderungspotenziale bei Klimagasen verfügen. Durch eine restriktive Zuteilung von Emissionsrechten würde in den neuen Bundesländern ein Zustand verfestigt, der dort eine selbst tragende Wirtschaft auf Dauer verhindern und diese Länder zu dauerhaften Subventionsempfängern machen würde. Aus dieser Situation würden sie nicht wieder herauskommen. Es liegt bei der Zuteilung von Emissionsrechten daher im gesamtstaatlichen Interesse, die den Mitgliedstaaten von der Europäischen Union eingeräumten Ermessensfreiräume zu nutzen. Diese Freiräume bestehen zum Beispiel bei den als early actions bezeichneten Vorleistungen, bei einer für die wirtschaftliche Entwicklung notwendigen Zertifikatsreserve und beim Banking, also einem Ansparen von Emissionszertifikaten. Das Gutachten von Professor Arndt von der Universität Mannheim zeigt uns exemplarisch auf, wie weit wir bei der Gestaltung dieser verteilungspolitischen Aspekte in unseren nationalen Gesetzen und Verordnungen gehen können, um Verwerfungen in unserer Wirtschaft zu vermeiden. ({1}) Er greift unter anderem vier Problemfelder auf, auf denen sich die Bundesregierung im Hinblick auf ihr weiteres Handeln anscheinend noch unschlüssig ist und auf denen sie in streitiger Diskussion mit den betroffenen Ländern steht. Erstens. Der Zeitpunkt, ab dem early actions als Vorleistungen für den Klimaschutz angerechnet werden sollten, sollte sich eindeutig auf das Jahr 1990 beziehen. Wie könnte die Bundesrepublik eine CO2-Minderung bezogen auf das Jahr 1990 abrechnen, wenn man dieses Jahr nicht gleichzeitig als Basisjahr ihres nationalen Allokationsplanes festlegte? Zweitens. Professor Arndt fordert in seinem Gutachten geradezu einen Vertrauensschutz für early actions infolge der strikten Klimavorsorgeanforderungen in der Bundesrepublik an die Wirtschaft bereits seit Anfang der 90er-Jahre. Eine Gleichstellung von Vorreitern und Nachzüglern im Klimaschutz verbietet sich danach sogar in Anbetracht von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Eine Gleichbehandlung von Ungleichen würde jeden Vertrauensschutz und jede zukünftige Aktivität von Vorreitern torpedieren. Auch bereits erfolgte Stilllegungen müssten als Klimaschutzvorleistungen anerkannt werden, wenn Betreiber zukünftiger Stilllegungen mit ihren Zertifikaten handeln dürften. Im Zweifel müssten die Klimaschutzvorleistungen durch bereits erfolgte Stilllegungen einer Reserve der förderungsbedürftigen Länder zugeführt werden, die einer Ausstattung von Neuansiedlungen dient. Drittens. Ich trete der Auffassung energisch entgegen, dass beihilferechtliche Bestimmungen einer Zuteilung bei early actions entgegenstehen. Diese Zuteilungen erfolgen kostenlos und ohne Belastung des Staatshaushaltes. Damit sind wesentliche Voraussetzungen für die Bewertung als Beihilfe nicht gegeben. Außerdem bedeutet die Einführung des Zertifizierungsmodells für ein Unternehmen nicht von vornherein einen Vorteil, sondern ist eher eine Belastung, die von uns nicht künstlich zu einem Vorteil schöngeredet werden sollte. Viertens. Ein Banking, also eine Übertragung von Vorleistungen in eine nachfolgende Handelsperiode, sollte für uns - da es für spätere Phasen zwingend zugelassen wird - auch für den Übergang von der ersten zur zweiten Handelsperiode gelten. Es wäre unverständlich, wenn Unternehmen, die ihre Emissionen durch die Modernisierung von Anlagen um mehr als zwei Drittel gemindert haben, in ihrer Fähigkeit zum Wachstum gehemmt werden, indem sie für die Erweiterung ihrer Produktion nicht den Zeitraum nutzen können, der für sie wirtschaftlich am vorteilhaftesten ist. ({2}) Ich hoffe, es wurde deutlich, dass wir Parlamentarier genauso wie die betroffenen Bundesländer auf unserer Beteiligung an der Umsetzung der Richtlinie bestehen müssen; ansonsten werden wir in der Folgezeit nur den Reparaturdienst im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu leisten haben. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kanada hat verkündet, dass es aufgrund von Naturkatastrophen deutliche wirtschaftliche Einbußen hinnehmen musste. Mit Naturkatastrophen waren Dürren, Stürme und Katastrophen im Zusammenhang mit landwirtschaftlichen Fehlplanungen gemeint. Auch uns in Deutschland haben die Folgeschäden der Überschwemmungen und der Dürre getroffen. Diese Schäden sind wirtschaftlich keine Peanuts mehr, sondern kommen uns mittlerweile richtig teuer zu stehen. Wenn wir den Klimaschutz nicht ernst nehmen und wenn wir das Anwachsen des Treibhauseffekts nicht begrenzen können, dann hat das tatsächlich weitreichende wirtschaftliche Konsequenzen und kann auch Wirtschaftssysteme sehr stark gefährden. Deswegen ist Klimaschutz keine grüne Spielwiese - wir machen das nicht, um Menschen zu ärgern -, sondern Klimaschutz ist eine objektive Notwendigkeit. ({0}) Hier wird immer Planungssicherheit eingefordert, speziell im Emissionshandel, aber auch allgemein für die Zukunft. Wer dies fordert, muss die Grünen unterstützen, wenn sie sagen: Wir brauchen neue Klimaschutzziele über das Jahr 2010 bzw. 2012 hinaus. Nur dann, wenn wir Klimaschutzziele festlegen, gibt es Planungssicherheit. Ansonsten wird aufgrund der geschilderten objektiven Notwendigkeit, die sich Bahn brechen wird, jede Regierung ruckartig handeln müssen und dann entsteht das Gegenteil von Planungssicherheit. Wer Planungssicherheit einfordert, der muss sich also auch dafür einsetzen, dass wir uns auf nationale und auf europäische Klimaschutzziele über die jetzt bestehenden hinaus verständigen. Die Basis dafür kann natürlich die objektive Notwendigkeit sein. Die objektive Notwendigkeit ist, bis zum Jahr 2020 die Treibhausgasemissionen gegenüber dem Stand von 1990 um 40 Prozent zu reduzieren. Über einen Eckpunkt haben wir vorhin schon diskutiert: Die erneuerbaren Energien sollen zukünftig 20 Prozent der Energieversorgung sicherstellen. Es wurde darauf hingewiesen, dass es sehr notwendig ist, bis dahin eine absolute Energieeinsparung von mindestens 10 Prozent durchzusetzen. Wenn wir aus der Atomkraft ausgestiegen sein werden, wird für die fossilen Energieträger im Jahr 2020 ein Anteil von circa 70 Prozent bleiben. Das bedeutet: Wenn wir ambitionierte Klimaschutzziele durchsetzen wollen, dann müssen wir in dem Bereich eine drastische Effizienzsteigerung durchsetzen. Das entscheidende Instrument dafür ist der Emissionshandel. Jetzt müssen die Hälfte der Kraftwerkskapazitäten in Deutschland und 200 000 Megawatt in der Europäischen Union ersetzt werden. Da muss der Emissionshandel dafür sorgen, dass es im neuen Kraftwerkspark zu drastischen Einsparungen von CO2 kommt. Das ist auch möglich. Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk durch ein neues, kann man 30 Prozent CO2 einsparen. Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk durch ein Gaskraftwerk, kann man 50 Prozent CO2 einsparen. Ersetzt man ein altes Kohlekraftwerk gar durch ein Kraftwerk mit Auskopplung von Wärme, also durch ein Kraftwerk, bei dem man die Wärme für die Stromerzeugung nutzt, dann kann man 80 bis 90 Prozent der CO2Emissionen einsparen. Das heißt, das Ziel 40 Prozent CO2-Reduktion, also Klimaschutz, und der Atomausstieg sind miteinander vereinbar. Wir brauchen eine Vielfalt der Technologien in Deutschland. Wir brauchen Deutschland als Schaufenster auch für den Export. Weltweit wird der Energieverbrauch um 30 Prozent steigen. Angesichts dessen sind Technologien gefragt. Es müssen moderne Technologien sein. Moderne Technologien sind Klimaschutztechnologien. Da wollen wir alles im Einsatz haben: die KraftWärme-Kopplung, die Brennstoffzelle, die Mikroturbine, die Blockheizkraftwerke und die gesamte Palette der erneuerbaren Energien. Ein Problem wird sein, den Emissionshandel mit der Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung zu verzahnen. Auf gar keinen Fall darf es durch den Emissionshandel eine Benachteiligung der Kraft-Wärme-Kopplung geben. Was den Strom angeht, so sinkt der Effizienzgrad zwar etwas, insgesamt allerdings wird der Energieträger optimaler ausgenutzt. Eine spezielle KWK-Regelung ist unabdingbar. Sie muss Lösungen bringen, ohne dass es zu einer Überfrachtung des Systems kommt. Ein optimaler Weg wäre eine Befreiungsregelung für den Brennstoffeinsatz, der der Wärmeerzeugung zuzurechnen ist. Ob das im Rahmen der EU-Richtlinie machbar ist, muss man überprüfen. Wir werden uns das Ergebnis des Emissionshandels angucken und werden genau prüfen müssen, ob auch ein ausreichendes Signal gesetzt wird, Kraft-Wärme-Kopplung in diesem Land tatsächlich zu fördern. Wenn der Emissionshandel dazu nicht ausreicht, dann wird man nachgelagert im Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zusätzliche Anreize setzen müssen. Ich sage abschließend: Der Emissionshandel wird neben dem EEG zu einem zentralen Instrument werden, um eine zukunftsfähige Energieversorgung durchzusetzen. Zusammen mit dem Energiewirtschaftsgesetz bilden sie die drei zentralen Säulen einer zukünftigen Energieversorgung. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSU-Fraktion.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne die Gelegenheit nutzen, bevor ich mich mit dem nationalen Allokationsplan und der Klimapolitik im europäischen Kontext auseinander setze, hier festzuhalten, dass Sie, Herr Kelber, meiner Frage ausgewichen sind. Ich möchte hier auch für die Öffentlichkeit noch einmal deutlich machen, dass Ihre Behauptung, dass Produzenten von Solarzellen vor dem Regierungswechsel 1998 Deutschland den Rücken gekehrt haben, schlicht und einfach falsch ist. ({0}) Der damalige Minister Rüttgers hat nämlich noch kurz vor der Wahl die Grundsteinlegung von zwei Solarzellenfabriken begleitet. ({1}) Weiterhin haben Sie, Herr Kollege Kelber, auf die Erfolge der Klimaschutzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland abgehoben. Ich möchte Sie dabei auf folgende Dinge hinweisen: Erstens. An der Bilanz, die Sie jetzt vorlegen können, trägt die Klimaschutz- und Energiepolitik der Regierung Kohl und der CDU/CSU-FDP-Koalition einen erheblichen Anteil. Zweitens. Die internationalen Vereinbarungen, die die Grundlage für Kioto bildeten, sind eine Folge der international engagierten Entwicklungs- und Umweltpolitik von Helmut Kohl, Klaus Töpfer und Angela Merkel. Überhaupt nur auf diesen Fundamenten können Sie über heutige Erfolge in Deutschland reden. Sie bilden die Basis dafür, dass es überhaupt eine international verbindliche Klimaschutzpolitik geben kann. ({2}) - Ich sage das nur deswegen, weil Sie hier immer den Eindruck zu erwecken versuchen, die Ära der erneuerbaren Energien und der Klimaschutzpolitik hätte 1998 begonnen. ({3}) Wenn Sie das nicht ständig wider besseres Wissen wiederholten, bräuchte ich eine solche Bemerkung an dieser Stelle nicht zu machen. Drittens. Sie beklagen beredt die Haltung der europäischen Automobilwirtschaft und -industrie. Ich teile diese Einschätzung und kritisiere sie auch. Vielleicht setzen Sie aber an dieser Stelle einmal Ihren Autokanzler in Bewegung, der immer dann aufgetreten ist, wenn es darum ging, wirtschaftliche Belastungen von der Automobilindustrie fern zu halten. Das ist meine herzliche Bitte. Sie haben ja alle Möglichkeiten dafür, wenn ich mir bestimmte Habita des Herrn Bundeskanzlers anschaue. ({4}) Viertens. Ich habe zwar eine Reihe von Argumenten für die Energiepolitik dieser Koalition und der Bundesregierung gehört, aber ein schlüssiges Konzept dazu, wie der Ausstieg aus der Kernenergie ökonomisch vernünftig und CO2-neutral durchgeführt werden kann, haben Sie auch heute hier nicht vorgetragen. Das können Sie nämlich nicht. ({5}) In dieser Woche sind 17 Milliarden für die deutsche Steinkohle auf den Tisch gelegt worden. Frau Hustedt hat hier über 70 Prozent fossile Kraftwerke - vorgestern waren es noch 80 Prozent - geredet. Ich bin ja durchaus der Meinung, dass das eine der Möglichkeiten ist, möchte dazu aber zwei Anmerkungen machen: Wenn diese Kraftwerke den Anteil der Kernkraftwerke kompensieren sollen, dann müssen Sie zunächst sagen, dass dadurch mehr CO2 ausgestoßen wird. ({6}) - Aber natürlich. - Weiterhin sollten Sie sich in dieser Bundesregierung dann dazu entschließen, gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen ein modernes, hocheffizientes Kohlekraftwerk zu bauen. Das müssen wir ja überhaupt erst einmal erproben, denn wir haben in Deutschland auf diesem Sektor sozusagen einen Negativtrend, weil es in Deutschland keinen Kraftwerkshersteller mehr gibt. Wir müssen daher erst einmal Technologien für hocheffiziente Kohlekraftwerke erproben. ({7}) Im Haushalt sind für die Forschung zur Energiegewinnung aus Kohle nur 10 Millionen Euro vorgesehen. Das steht doch in keinem Verhältnis zu den 17 Milliarden Subventionen für die Steinkohle. Herr Minister Trittin sprach ja eben davon, dass seine Energiepolitik auf drei Säulen basiere: erneuerbare Energien, Einsparungen und Effizienzsteigerung. Ich will mich an der Stelle gar nicht mit der Frage der erneuerbaren Energien auseinander setzen, denn die Defizite Ihrer Politik liegen in den Punkten Effizienzsteigerung und Energieeinsparung. Das können Sie unter der Hand von jedem besseren Umweltverband in Deutschland hören. Ihr Kollege Müller hat vor dem Regierungswechsel 1998, als Sie noch in der Opposition waren, gesagt: Wenn wir an der Regierung sind, werden wir bis 2010 einen Rückgang der Emissionen um 30 Prozent erreichen; das schaffen wir locker. - Ihre Bilanz ist, gemessen an Ihren Ansprüchen und Versprechungen, jämmerlich. ({8}) Wir müssen uns über die Förderinstrumente unterhalten. Die KfW-Programme werden nicht akzeptiert. ({9}) - Lieber Herr Loske, wir haben uns gerade, auch im Beirat der Dena, über den Erfolg dieser Dinge unterhalten. Denken Sie bitte auch an die Situation im Hausbau. Wir müssen über den Gebäudebestand reden - das will ich überhaupt nicht bestreiten - und sicherlich mehr tun, als wir bis 1998 gemacht haben; das gebe ich freimütig zu. Die Versuche unserer damaligen Umweltgruppe, etwas mehr zu machen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Aber im Neubau setzen Sie - ich sage das nicht als Vorwurf; setzen wir, wenn Sie so wollen - die Energieeinsparverordnung nicht um. Nach den Untersuchungen zu diesem Bereich genügen maximal 40 Prozent der Neubauten dem Anspruchsbereich von Wärmeschutzverordnung und Energieeinsparverordnung. Deswegen müssen wir über das Ganze noch einmal nachdenken. Wir haben über den Export gesprochen. Gerade in diesen Tagen ist deutlich geworden, dass Ihre Exportpolitik gescheitert ist. ({10}) Wir haben Ihnen von dieser Stelle aus gesagt, dass das, was Sie planen, zu bürokratisch ist und nicht greift. Ich kann nur sagen: Wer will, dass erneuerbare Energien und andere Technologien aus Deutschland Exportschlager seien, der muss auch die Weichen dafür stellen, dass diese in der Welt akzeptiert und gekauft werden. ({11}) - Ich bin dabei, mich mit Ihren Argumenten auseinander zu setzen, Herr Kelber. Wenn Sie das nicht gemerkt haben, kann ich nichts dafür. ({12}) - Zu diesem Antrag ist hier vieles gesagt worden. Ich setze mich mit Ihren Argumenten auseinander. Aber vielleicht können Sie das ja nicht ganz begreifen. ({13}) Der Kioto-Prozess steht - deswegen ist es notwendig, dass wir uns im Parlament mit diesen Fragen auseinander setzen - möglicherweise vor dem Scheitern. Wenn aus den USA ähnliche Nachrichten gekommen wären, wie wir sie diese und letzte Woche aus Russland gehört haben, nämlich dass das russische Parlament das Kioto-Protokoll nicht ratifizieren will, dann hätten Sie sich heute Morgen an diesem Pult in Ihrer Kritik an Bush und den USA und der Verletzung der internationalen Verpflichtungen in der Klimapolitik überboten. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es bei der Frage, ob Russland das Kioto-Protokoll ratifiziert oder nicht, um mehr geht als um die Frage, ob ein Land ratifiziert: Es geht darum, ob diese Vereinbarung völkerrechtlich verbindlich wird oder nicht. Wenn wir in diesem Zusammenhang über die nationale Umsetzung europäischer Politik reden, müssen wir zwei Ereignisse berücksichtigen, die bedauerlicherweise passiert sind: Erstens. Auf dem deutsch-russischen Gipfel ist über das Kioto-Protokoll überhaupt nicht geredet worden. Zweitens. Wir haben mit Entsetzen festgestellt, dass Herr Berlusconi als Ratspräsident gegen alle Regeln verstoßen hat. Die Folge ist, dass in dem Protokoll von Russland und Europa das Wort Kioto überhaupt nicht auftaucht, geschweige denn die Ratifizierung dieses Protokolls durch Russland. Somit befinden wir uns in der katastrophalen Situation, dass wir zwar über eine Politik reden, die im Kern, auch bezüglich der marktwirtschaftlichen Komponenten, richtig angelegt ist - das will ich hier ausdrücklich betonen -, aber in eine Wettbewerbssituation geraten, die sich angesichts der außenwirtschaftlichen Entwicklung für die deutsche Wirtschaft negativ darstellt. Zudem wird dadurch auch die Frage der Entwicklungspolitik berührt; denn wenn das Kioto-Protokoll völkerrechtlich nicht verbindlich wird, werden Joint Implementation und CDM massiv berührt. ({14}) Deswegen müssen wir von dieser Stelle aus die russische Regierung, aber auch unsere Kollegen in der russischen Duma nachhaltig auffordern, die Ratifizierung nicht zu verweigern. Russland braucht - das weiß ich aus persönlicher Erfahrung - einen solchen Strategiewandel, und zwar vor dem Hintergrund dessen, was hier vorgetragen worden ist, nur umgekehrt: Die Russen haben offensichtlich geglaubt, sie könnten mit dem Verkauf von CO2-Emissionszertifikaten Geld verdienen. Jetzt aber gibt es in Russland Wirtschaftswachstum. Eine Nebenbemerkung: Wenn wir das Wachstum hätten, von dem Sie träumen, dann müssten wir über eine ganz andere CO2-Bilanz in diesem Lande reden. - Aufgrund ihres Wachstums benötigen die Russen ihren Emissionsanteil selber und können daher mit dem entsprechenden Handel von Zertifikaten kein Geld mehr verdienen. Wenn Joint Implimentation und CDM als ein Element der kostengünstigeren Emissionsbeseitigung ausfallen, dann schaffen wir ein ökonomisches Problem, was die Kosten der CO2-Politik in der Europäischen Union angeht. ({15}) Es war deshalb ausgesprochen gut, Herr Kollege von Weizsäcker, dass Sie deutlich gemacht haben, dass es zu einem Dialog im Umweltausschuss und in den anderen Gremien des Deutschen Bundestages kommen wird. Ich kann nur hoffen, dass unser Antrag die Basis dafür ist, das Parlament in dieser Frage angemessen zu beteiligen. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Hempelmann von der SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Man kann zum Ende dieser Debatte feststellen, dass sie - das gilt zumindest für den Zeitraum bis zur Rede des Kollegen Kurt-Dieter Grill -, weitgehend sachlich verlief. Viele haben sogar zum Thema gesprochen. ({0}) Auch ich will das versuchen und deshalb eine Änderung im Stil im Vergleich zum letzten Redebeitrag einführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Emissionshandel ist in der Tat ein völlig neues Instrument, das eine sehr große Chance bietet. Wenn dieses Instrument gut entwickelt wird - der Allokationsplan, über den heute gesprochen wird, ist da natürlich eine ganz entscheidende Weichenstellung -, dann haben wir eine große Chance, dass es ein sehr integratives Instrument sein kann. Ich jedenfalls glaube, dass wir im weiteren Verlauf - nicht am Anfang des Prozesses der Entwicklung dieses Instrumentes - die Möglichkeit haben, unser gesamtes energiepolitisches Instrumentarium daraufhin zu überprüfen, inwieweit nicht manches in Zukunft durch den Emissionshandel erledigt werden kann, was bisher mithilfe von Einzelinstrumenten erledigt werden musste. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass die SPD-Bundestagsfraktion einer Aufforderung, die von anderen Fraktionen gelegentlich an sie gestellt wurde, nachgekommen ist und eine energiepolitische Agenda formuliert hat. Damit wird der Versuch unternommen, die verschiedenen energiepolitischen Themen und Herausforderungen der nächsten Zeit miteinander zu verbinden und daraus ein ganzheitliches Konzept zu machen. ({1}) Dass wir im Instrument des Emissionshandels auch die Chance sehen, Themen miteinander zu verbinden, sehen Sie daran, dass der Emissionshandel in diesem Papier eine besondere Erwähnung findet. Ich will die entsprechende Stelle, die Ihre Forderung aufgreift, einmal vorlesen: Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zum Handel mit Treibhausgasemissionen werden wir die mit den flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls ermöglichten kostengünstigen CO2-Minderungsstrategien mit industrie- und strukturpolitischen Wertschöpfungsaspekten verbinden. Wir werden dieses potenziell hocheffiziente Instrument so einsetzen, dass gleichzeitig auch standortpolitische Aspekte sowie die nationalen Vorleistungen berücksichtigt und internationale Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. Dabei ist sicherzustellen, dass der Emissionshandel mit den weiteren existierenden bzw. vorgesehenen nationalen und internationalen Klimaschutzmaßnahmen so harmonisiert wird, dass ein optimaler Beitrag zur Bewältigung der globalen Aufgabe des Klimaschutzes geleistet wird. ({2}) Ich denke, hieran wird deutlich, dass vieles von dem, was von den verschiedenen Fraktionen zu Recht angesprochen worden ist, auch von uns als Aufgabe im Rahmen des Emissionshandels und seiner Entwicklung gesehen wird. Ich freue mich im Übrigen - auch das darf ich hier sagen -, dass auch der Koalitionspartner, die Grünen, ein Energiekonzept entworfen und in dieser Woche verabschiedet hat. Wir können dort, wie ich gehört habe, eine Vielzahl an Schnittmengen entdecken und werden versuchen, daraus etwas Gemeinsames zu entwickeln. Das Bundeswirtschaftsministerium hat uns gestern im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages mitgeteilt, dass auch die beiden bei Energiefragen federführenden Häuser, also das Wirtschaftsministerium und das Umweltministerium, sich über ein gemeinsames Energiekonzept abstimmen werden. Damit entspricht diese Bundesregierung einer lange formulierten Forderung sowohl aus dem Parlament als auch aus dem außerparlamentarischen Raum. Ich freue mich sehr darüber. ({3}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Emissionshandel soll die Kosten für den Klimaschutz, insbesondere in den Industrieländern, deutlich verringern. Das ist der eigentliche Grund, warum die Industrieländer, federführend die USA, dieses Instrument sozusagen erfunden haben. Und es ist schon interessant, dass auch große transnationale Konzerne dieses Instrument seit Jahren entwickeln und konzernintern ausprobieren. Wenn der Vorstand von BP Deutschland im Rahmen einer Sitzung des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages sagt, der Emissionshandel „erbringt klimapolitische Effizienz im volkswirtschaftlichen Schongang, spürbarer Klimaschutz zu spürbar geringeren Kosten“, sollte uns das jedenfalls insgesamt zuversichtlich stimmen und uns veranlassen, dieses Instrument jetzt auch bei uns zu entwickeln. Einige Redner haben darauf hingewiesen, dass wir im Zusammenhang mit dem Emissionshandel auch Joint Implementation und Clean Development Mechanisms integrieren müssen. Ich denke, das ist in der Tat auch eine große Chance dieses Instrumentes. Es ist eben nicht nur ein nationales, sondern es ist ein international angelegtes Instrument. Schon im Zusammenhang mit dem klassischen Umweltschutz kennen wir die Grenzkostenproblematik und wissen, dass die Vermeidung der letzten Prozente in der Größenordnung von Mikro- oder Nanogramm zu immensen Kosten führt. Insofern ist es sinnvoll, dass wir im Rahmen dieses Instruments auch die Chance suchen, eine Kostenoptimierung dadurch zu erzielen, dass wir insbesondere CO2-Reduzierungen dort vornehmen, wo sie kostengünstig zu erreichen sind. ({4}) Das heißt allerdings nicht, dass wir uns im nationalen Rahmen vor notwendigen CO2-Reduzierungen drücken dürfen. Diese beiden Dinge müssen zusammengebunden werden. ({5}) Einige Stichworte, die ich noch aufgreifen will, sind von verschiedenen Rednern aller Fraktionen hier ebenfalls genannt worden. Ich denke, es ist von zentraler Bedeutung, dass bei der Umsetzung des Allokationsplans eine ausgewogene Makro- und Mikroallokation gelingt. Ich will hier auch deutlich sagen: Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Parlament insbesondere bei der Makroallokation ein deutliches Wort mitzureden haben. Deswegen begrüße ich ausdrücklich die heutige Ankündigung von Minister Trittin, dass auch die Regierung die Auffassung teilt, insbesondere die wesentlichen Regeln des Emissionshandels seien durch den Gesetzgeber, also durch uns, zu definieren. Ich denke, das ist eine berechtigte Forderung, in der sich die Fraktionen in keiner Weise voneinander unterscheiden. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Emissionshandel und mit dem jetzt vorzulegenden Allokationsplan eröffnen wir vor allen Dingen Chancen für die deutsche Wirtschaft. Natürlich sind wir in einer Phase offener Fragen. Es gibt zurzeit den Dialog innerhalb der Branchen und den Dialog der Branchen mit der Bundesregierung. Sicherlich gibt es auch unterschiedliche Interessen innerhalb der deutschen Wirtschaft. Wer in Veranstaltungen, etwa mit dem BDI, über den Emissionshandel redet, spürt das. Es gibt nicht das homogene Interesse daran, wie denn der Emissionshandel und der Allokationsplan zu organisieren sind. Es geht hier um Verteilung. Deshalb gilt, was der Kollege Kelber eben gesagt hat: Wer dann, wenn ein Vorschlag zum Allokationsplan vorliegt, anderer Auffassung ist, muss nicht nur sagen, wo er jemanden entlasten will, sondern muss auch sagen, wo er dann belasten will. Das ist eine Forderung, die nicht nur den Koalitionsfraktionen, sondern allen Mitgliedern dieses Hauses gilt. Ich denke, das macht die Diskussion im Deutschen Bundestag in den nächsten Monaten besonders spannend. Die Opposition ist hier zu konstruktiver Mitarbeit aufgefordert. Ein bloßes Nein reicht nicht. ({7}) Ich glaube aber, in dieser Debatte einige Stimmen gehört zu haben, die deutlich machen: Es gibt - jedenfalls in Teilen der Opposition - durchaus Bereitschaft zur Mitarbeit. Abschließend ein Wort zu Russland: Es ist richtig, dass wir Besorgnis darüber haben müssen, dass in Russland - jedenfalls zurzeit - keine Bereitschaft zu erkennen ist, das Kioto-Protokoll und die Energiecharta zu unterzeichnen. Auch die deutsche Bundesregierung ist gefordert, im Dialog mit Russland deutlich zu machen, dass wir eine bestimmte Erwartung an Russland haben. Aber genauso falsch wäre es, daraus abzuleiten, dass wir im Deutschen Bundestag so lange die Hände in den Schoß legen, bis dieses Problem gelöst ist. ({8}) Eine „Arbeitsniederlegung“ im Deutschen Bundestag hilft uns in dieser Sache überhaupt nicht weiter. Insoweit ist es begrüßenswert, dass jetzt ein Entwurf vorliegt und wir bald sehr konkret über den Emissionshandel und den Allokationsplan in Deutschland diskutieren können. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1791 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 h sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 6. März 2002 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Republik Mosambik über die Förderung und den gegen- seitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/1845 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 6. August 2001 zwischen der Bundes- republik Deutschland und dem Königreich Marokko über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/1846 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 18. Oktober 2001 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und Bosnien und Herzegowina über die Förderung und den ge- genseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 15/1847 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Statistiken der Rohstoff- und Produktionswirtschaft einzelner Wirtschaftszweige ({0}) - Drucksache 15/1849 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes ({1}) - Drucksache 15/1854 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuss f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Finanzierung der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in der Bundesrepublik Deutschland ({2}) - Drucksache 15/1888 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Führung des Handelsregisters, des Genossenschaftsregisters, des Partnerschaftsregisters und des Vereinsregisters durch von den Ländern bestimmte Stellen ({4}) - Drucksache 15/1890 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung von Gender Mainstreaming in Wissenschaft und Forschung - Drucksache 15/720 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Änderung des MAD-Gesetzes ({7}) - Drucksache 15/1959 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1975 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Dem Entwurf eines Gesetz der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung rehabilitationsrechtlicher Vorschriften auf Drucksache 15/1975 ist die Fraktion der FDP als Initiant beigetreten. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 c bis 24 h sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 24 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung der Satzung des europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank - Drucksache 15/1654 ({10}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11}) - Drucksache 15/2008 Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Georg Fahrenschon Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2008, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Juli 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze im Grenzabschnitt „Salzach“ und in den Sektionen I und II des Grenzabschnitts „Scheibelberg-Bodensee“ sowie in Teilen des Grenzabschnitts „Innwinkel“ - Drucksache 15/1655 ({12}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({13}) - Drucksache 15/2006 Berichterstattung: Abgeordnete Petra Ernstberger Dr. Andreas Schockenhoff Claudia Roth ({14}) Dr. Rainer Stinner Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2006, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. September 2002 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, den Vereinten Nationen und dem Sekretariat des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten über den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens - Drucksache 15/1473 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) - Drucksache 15/1826 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Maria Flachsbarth Winfried Hermann Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/1826, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 24 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 74 zu Petitionen - Drucksache 15/1881 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 74 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 75 zu Petitionen - Drucksache 15/1882 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 75 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 76 zu Petitionen - Drucksache 15/1883 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 76 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 77 zu Petitionen - Drucksache 15/1884 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 77 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Zusatzpunkt 3 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten - Drucksache 15/1653 ({21}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({22}) - Drucksache 15/2009 Berichterstattung: Abgeordnete Ortwin Runde Klaus-Peter Flosbach Hubert Ulrich Carl-Ludwig Thiele Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2009, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten mit den Stimmen aller anderen Abgeordneten angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Zusatzpunkt 3 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({24}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses - Drucksachen 15/1094, 15/2002 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({25}) Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto ({26}) Zu diesem Tagesordnungspunkt liegen zwei Erklärun- gen nach § 31 der Geschäftsordnung der beiden Kol- leginnen Petra Pau und Gesine Lötzsch vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschlie- ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge- genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Kolleginnen angenommen. 1) Anlage 2 und 3 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag auf Drucksache 15/1094 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist wiederum mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der beiden fraktionslosen Kolleginnen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Die aktuelle Russlandpolitik der Bundesregierung Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für den Antragsteller der Kollege Dr. Friedbert Pflüger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist keine Frage: Russland hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Unter Präsident Putin hat es die strategische Grundsatzentscheidung getroffen, die Modernisierung des eigenen Landes über ein breites Engagement mit dem Westen zu erreichen. In der nach dem 11. September 2001 gebildeten Antiterrorallianz hat Moskau großes Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Putin gelang es ferner - anders als Schröder und Chirac -, ein Kunststück zu vollbringen, nämlich gegen den Irakkrieg zu sein und trotzdem ausgezeichnete Beziehungen zu Amerika zu pflegen. ({0}) Russland ist heute Teil der G 8, in Kürze Mitglied der WTO. Keine Frage: Putin hat die neuen Konstellationen nach dem 11. September 2001 geschickter als alle anderen genutzt. Nach Jahren des Chaos und des Niedergangs erscheint Russland heute wieder verlässlich und stabil. Diese Entwicklungen liegen in unserem Interesse. Für CDU und CSU sage ich deshalb: Wir wollen enge partnerschaftliche und vertrauensvolle Beziehungen zu Russland. ({1}) Wir sagen aber ebenso: Partnerschaft erfordert klare Worte vonseiten der Bundesregierung und der Europäischen Union, wenn in Russland rechtsstaatliche Prinzipien missachtet und Menschenrechte verletzt werden. ({2}) Wenn sich sogar der russische Ministerpräsident Kasjanow über die Verhaftung von Chodorkowski „sehr beunruhigt“ äußert, hätte das dann nicht auch die Bundesregierung tun müssen? Hätte es ihr nicht gut angestanden, in dieser Situation ein deutliches Wort der Kritik in Richtung Moskau auszusprechen? ({3}) Chodorkowski ist gewiss kein Säulenheiliger. Die Oligarchen sind in Russland in kurzer Zeit im Zuge der so genannten Raubtierprivatisierung zu extremem Reichtum gekommen. Chodorkowski hat aber als erster Oligarch seine Eigentumsverhältnisse offen gelegt. Ich kenne ihn aus der gemeinsamen Arbeit im Vorstand der International Crisis Group. Dort hat er großes internationales Engagement und großes Verantwortungsbewusstsein gezeigt. In Russland fördert er soziale Projekte im ganzen Land. Er unterstützt den mutigen Putin-Kritiker Jawlinski und dessen Jabloko-Partei. In einer Erklärung der Gesamtrussischen Konferenz zivilgesellschaftlicher Organisationen vom 28. Oktober dieses Jahres heißt es: Die Verhaftung Chodorkowskis ist kein Beweis für die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Es ist eine Demonstration der Gleichheit der Bürger vor der Willkür. Die Hauptaufgabe besteht heute darin, sich dem Zerfall der Demokratie und der Freiheit in unserem Land entgegenzustellen. Das sagen Menschenrechtler in Russland. Diese Menschenrechtler schauen auf die Bundesregierung und erwarten sich von uns im Westen, von der EU, von Deutschland, dass wir ihnen helfen und sie nicht allein lassen im Kampf gegen die autokratischen Tendenzen, die wir seit einiger Zeit in Russland wieder verstärkt beobachten. ({4}) Wir helfen weder den Menschen in Russland noch dem Präsidenten Putin, indem wir zu all diesen Vorgängen schweigen. Wir müssen diese Dinge ansprechen. Hier, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und der Regierungskoalition, hat die Bundesregierung kläglich versagt. Das Gleiche gilt für die Vorgänge und die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Was wir dort vonseiten der Bundesregierung gegenüber der russischen Regierung erleben, grenzt geradezu an Selbstverleugnung. In Tschetschenien wurden mehr als 100 000 Menschen getötet. 400 000 sind geflüchtet. Nicht Bagdad, Grosny liegt in Schutt und Asche! ({5}) Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Gewalt als in Tschetschenien. Vor diesem Hintergrund ist es schon etwas verwunderlich, dass Herr Schröder dazu schweigt und gar die Chuzpe hat, mit Russland eine Friedensachse gegen Amerika aufzubauen. ({6}) Herr Fischer, der jetzige Außenminister, sagte, wie ich finde, zu Recht: Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es kein Einmischungsverbot. Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es vielmehr nur eines: die Pflicht zur Wahrheit, Klarheit und zur öffentlich bekundeten klaren Position. Dies sagte er am 19. Januar 1995 hier im Deutschen Bundestag. Heute hört man von ihm solche Worte leider nicht mehr. Zu den Themen Russland und Menschenrechte sowie Russland und Tschetschenien gibt es keine Aussagen des Herrn Bundesaußenministers. ({7}) Sie in der grünen Fraktion sollten darüber einmal nachdenken und ein ernstes Wort mit ihm sprechen; denn Sie stehen doch auch für Menschenrechte und die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Sorgen Sie dafür, dass die Bundesregierung endlich ihr Schweigen bricht und dass wir hier im Deutschen Bundestag endlich eine Regierungserklärung von Herrn Schröder oder Herrn Fischer über die Vorgänge in Tschetschenien und Russland bekommen! ({8}) Wir wollen ein stabiles Russland, zu dem wir gute Beziehungen haben. Aber wir wollen auch ein freies Russland, in dem die Menschenrechte gelten. Wenn sich Russland dafür entscheidet, zum Westen zu kommen und seine Modernisierung mithilfe des Westens zu bewerkstelligen, dann muss Moskau es auch ertragen, dass wir bei aller Sympathie und Partnerschaft nachfragen und deutlich Kritik üben. Dazu muss auch die Bundesregierung endlich einen Beitrag leisten. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat Herr Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.

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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland in der Mitte Europas hat ein überragendes und langfristiges Interesse an einem stabilen Russland, mit dem wir in einem Raum gemeinsamer Werte leben und mit dem wir gemeinsam internationale Herausforderungen annehmen und lösen können. Im Mittelpunkt steht für uns das Wohl der Menschen in Deutschland und Russland, die Festigung von Frieden, Sicherheit und Stabilität im gemeinsamen europäischen Raum, die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten und Marktwirtschaft in Russland sowie, damit verbunden, die weitere Annäherung Russlands an die EU als Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft. Unsere bilateralen Beziehungen ruhen auf vier Pfeilern: erstens auf einem intensiven und vertrauensvollen politischen Dialog, in dem auch kritische Punkte wie die Lage in Tschetschenien offen angesprochen werden. Zweitens. Auch aufgrund der Rolle Deutschlands als wichtigster Handels- und Investitionspartner Russlands und dessen Bedeutung als größter Energielieferant für Deutschland beobachtet die Bundesregierung Entwicklungen wie die Ermittlungen gegen die Firma Jukos und Herrn Chodorkowski sehr aufmerksam. Die Bundesregierung erwartet, dass bei den laufenden Verfahren rechtsstaatliche Grundsätze beachtet werden. Rechtssicherheit ist eine wesentliche Voraussetzung für die weitere Integration Russlands in die internationale Wirtschaft, für eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und für ausländische Investitionen in die russische Wirtschaft. Drittens. Die deutsch-russischen Kulturbegegnungen 2003/04 sind ein besonders gut sichtbares aktuelles Beispiel für den weit entwickelten kulturellen Austausch. In bisher einmaliger Dichte und Breite präsentiert Russland seine Kultur 2003 in Deutschland, wir präsentieren im Gegenzug die deutsche Kultur 2004 in Russland. Viertens. Eine lebendige und freie Zivilgesellschaft ist wie auch eine freie Presse wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft. Die Bundesregierung unterstützt deshalb den Aufbau eines aktiven Bürgerengagements in Russland und fördert entsprechende Kontakte. Dies gilt insbesondere für den Petersburger Dialog als regierungsunabhängiges, öffentlich sichtbares Forum, das Gelegenheit zu einem offenen Gedankenaustausch auch über schwierige Themen bietet. Schließlich gestalten wir die Russlandpolitik der Europäischen Union aktiv mit. Allerdings kommt hier der jeweiligen EU-Präsidentschaft und der Kommission eine zentrale Rolle zu. So wurden beim jüngsten EURussland-Gipfel in Rom mit Russland auch die für uns wichtigen kritischen Themen wie die Lage in Tschetschenien oder die Ratifizierung des Kioto-Protokolls diskutiert. Deshalb bedauert es die Bundesregierung umso mehr, dass es in den Gesprächen zwischen der EU und Russland nicht gelungen ist, bei diesen Themen zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Wir hätten uns gewünscht, dass diese Themen in der gemeinsamen Erklärung deutlich angesprochen worden wären. Ungeachtet dessen wird die Bundesregierung weiter darauf drängen, dass Russland so bald wie möglich das Kioto-Protokoll ratifiziert. In der Tschetschenien-Frage hat die Bundesregierung die russische Seite wiederholt aufgefordert, ihr Möglichstes zur Förderung eines wirklichen politischen Prozesses beizutragen und ihre Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen, insbesondere mit der OSZE, zu verstärken. Insgesamt konnten beim Gipfel eine Reihe von Fortschritten erzielt werden, so beispielsweise bei dem wesentlich auf deutsche Initiative zurückgehenden und auf dem Gipfel in Sankt Petersburg vereinbarten Konzept der „vier Räume“ in den Bereichen Wirtschaft, innere Sicherheit, äußere Sicherheit sowie Forschung und Kultur. Einigkeit besteht auch bei dem Wunsch, Erleichterungen bei der Visaerteilung zu erreichen. Dieser Wunsch wie auch die bilateralen deutsch-russischen Bemühungen um Visaerleichterungen sind darauf gerichtet, den Austausch zwischen unseren beiden Gesellschaften zu fördern und damit auch die Zivilgesellschaften zu stärken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur ein intensiver und vertrauensvoller bilateraler wie multilateraler Dialog mit Russland ermöglicht es, unsere Ziele und Anliegen zum Tragen zu bringen, sowohl bei Themen, bei deStaatsminister Hans Martin Bury nen wir uns einig sind und gemeinsame Ziele verfolgen, als auch bei den Themen, bei denen das nicht der Fall ist. So kann eine wirkliche Annäherung Russlands an Europa gelingen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir machen uns sehr große Sorgen um die gegenwärtige Entwicklung in Russland. Deshalb ist es gut, dass heute im Deutschen Bundestag eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema angesetzt ist. ({0}) Die Festnahme Chodorkowskis, das nicht öffentliche Verfahren, die viel zu lange U-Haft, die Durchsuchung von Anwaltskanzleien sowie die Beschlagnahmung der Jukos-Aktien sind Ereignisse, die angesprochen werden müssen. Dass die russischen Oligarchen keine Engel sind, darin gebe ich Ihnen völlig Recht, Herr Pflüger. ({1}) Wenn in Russland gegen Korruption wirklich Front gemacht und die Abwicklung dunkler Geschäfte wirklich bekämpft werden würde, dann könnte man nur schwerlich etwas dagegen sagen. Aber gerade das Herauspicken Chodorkowskis, die Singularität dieses Vorgehens und die gesamte Jukos-Affäre werfen ein mehr als zweifelhaftes Licht auf die jüngsten Vorgänge in Russland. Denn sie ereignen sich ja nicht im luftleeren Raum, sondern finden kurz vor wichtigen Parlamentswahlen statt und richten sich gegen einen mächtigen Ölmagnaten, der angefangen hatte, sich politisch einzumischen und oppositionelle Kräfte zu stärken. Diese Vorgänge werden von massiven Eingriffen in die Pressefreiheit begleitet. Sie stehen darüber hinaus im Zusammenhang mit der Entwicklung in Tschetschenien, der Wahl, die dort stattgefunden hat - diese Wahl war eine echte Farce -, und mit den noch immer stattfindenden schlimmen Menschenrechtsverletzungen. Herr Bury, ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihrem Bericht auch auf dieses Thema eingegangen wären und nicht nur über die russischen Kulturwochen gesprochen hätten. ({2}) All das lässt massiven Zweifel aufkommen, ob in Russland bei den Parlamentswahlen am 7. Dezember und bei den Präsidentschaftswahlen im April alles mit rechten Dingen zugehen wird. Woran es in Russland heute vor allem fehlt, sind Transparenz, Berechenbarkeit und Offenheit. Michail Gorbatschow hat das Ende der 80er-Jahre als Glasnost bezeichnet, das Kernelement der Perestroika. Russland war in dieser Hinsicht schon weiter. Nun aber sehen wir gefährliche Tendenzen hin zu einem Rückfall auf den Stand vergangener Zeiten. Mit dieser Affäre schadet sich Russland selbst am allermeisten. Die Oligarchen verlassen fluchtartig das Land und nehmen ihr für den Aufbau Russlands so wichtiges Kapital mit. Investitionen aus dem Ausland werden ausbleiben. Der stellvertretende Außenhandelsminister Dworkowitsch warnt ausdrücklich, dass das Risiko bestehe, dass die Sünden der Vergangenheit wieder aufgenommen werden, und rät sogar von Investitionen in Russland ab. Der russische Innenminister Gryslow wird im Zusammenhang mit der Jukos-Affäre mit der Aussage zitiert: „Die Rohstoffe gehören dem Volk“. Da müssen doch alle Alarmglocken schrillen; denn Gryslow stellt so die Existenz der Privatwirtschaft, die gerade in Russland jetzt erst richtig entsteht, fundamental infrage. Angesichts solcher Äußerungen muss man sich fragen, ob Russland überhaupt dazu fähig ist, in die WTO, in die Welthandelsorganisation, aufgenommen zu werden. Man fragt sich auch, was ein Land, das eine so unsichere Wirtschaftspolitik betreibt, eigentlich in der G 8 zu suchen hat. Was tut die Bundesregierung in dieser Situation? Sie, Herr Erler - Sie sind Koordinator der Regierung für die deutsch-russischen Beziehungen -, haben Anfang November gesagt, dass der Schaden durch die Jukos-Affäre überschaubar sei, solange es sich mit Chodorkowski nur um einen Einzelfall handelt. Ich sage Ihnen: Genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade dieses Herauspicken von Chodorkowski, also eines Einzelnen, lässt doch den Verdacht aufkommen, dass hinter der Affäre politische Motive stehen: Ein zu mächtig werdender Mann soll mundtot gemacht werden. ({3}) Ohne die stillschweigende Unterstützung von Präsident Putin wäre das sicherlich so nicht gelaufen; ich glaube, darin sind wir uns alle einig. ({4}) Putin versucht sehr geschickt, die weltpolitischen Verwerfungen um den Irakkrieg und den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu missbrauchen, um für sein Vorgehen in Tschetschenien Verständnis und Akzeptanz zu erhalten. Unser Bundeskanzler geht ihm dabei auf den Leim. Er hat seine Männerfreundschaft zu Putin ja erst entdeckt, als er einen Verbündeten im Kampf gegen den Irakkrieg suchte. Seitdem funktioniert die deutsch-russische Achse wunderbar. Die Bundesregierung hat sich dabei aber offensichtlich von den bisherigen Zielen der deutschen Russlandpolitik verabschiedet. Bislang galt, dass man Russland als Partner, als Freund, aber durchaus auch als kritischer Mahner auf seinem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft nach Kräften unterstützen wollte. Jetzt gilt offensichtlich nur noch, dass man in Moskau einen stabilen Partner für eigene weltpolitische Ambitionen sucht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Leibrecht, denken Sie bitte an die Zeit.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Meine Damen und Herren, wir meinen, die deutschrussischen Beziehungen sind wichtig. In einer guten politischen Freundschaft, unter Freunden, muss man sich aber auch unangenehme Dinge sagen können. Ich fordere unseren Bundeskanzler auf, auf Präsident Putin einzuwirken und ihn auf die Jukos-Affäre und auch auf die furchtbaren Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien anzusprechen. Ich denke, damit wäre uns schon sehr geholfen. Ich hoffe, dass die deutsch-russischen Beziehungen von unserer Bundesregierung wieder auf eine ehrliche Basis gestellt werden. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Claudia Roth vom Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Russland ist auch ohne die EU-Mitgliedschaft ein großes europäisches Land. Seine und die Geschichte der Beziehungen zu anderen Ländern Europas - auch zu Deutschland - haben gezeigt, dass es uns alles andere als gleichgültig sein kann, was dort geschieht. Lieber Friedbert Pflüger, es ist uns auch alles andere als gleichgültig, was dort geschieht. Schon seit Gorbatschow 1985 Perestroika und Glasnost verkündete, keimte im Westen, aber vor allem auch in der russischen Gesellschaft die Hoffnung auf eine freiere Gesellschaft, auf Rechte für jeden und jede auf, darauf, dass nicht jeder Mensch wie selbstverständlich Eigentum des Staates ist. Jede Entwicklung zu Wohlstand - auch das ist etwas Neues für die meisten Menschen in Russland - setzt eine funktionierende Wirtschaft voraus. Dazu gehören die Anerkennung ökonomischer Gesetze und die Respektierung der individuellen Unabhängigkeit und Integrität, kurz: der Menschenrechte und des Rechtsstaates. Auch das alles ist in Russland neu. Seit Gorbatschow - fortgesetzt durch Jelzin und Putin - begann all das Bedeutung zu erlangen und immer mehr Menschen in Russland begannen, ihre Rechte ernst zu nehmen, sie selbstbewusst einzuklagen und sich so zu verhalten, wie es Menschen mit ihren unveräußerlichen Rechten eben zu Recht tun. Nach außen - auch in unsere Richtung - versicherten die Mächtigen ihr Bestreben, die politisch-bürgerlichen Freiheitsrechte und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte zu verwirklichen und zu garantieren, um damit die russische Gesellschaft bzw. Russland überhaupt zukunftsfähig zu machen. Wir sollten sie darin ernst nehmen. Wir sollten sie beim Wort nehmen. Deshalb stimme ich der Kritik der EU-Kommission an den unakzeptablen Äußerungen Berlusconis anlässlich des EU-Russland-Gipfels ausdrücklich zu: ({0}) Russland ist noch längst kein Rechtsstaat. Die Tschetschenienpolitik der russischen Regierung ist falsch. Die dortigen Wahlen waren eine Farce. Nicht nur tschetschenische Terroristen, sondern auch russische Sicherheitskräfte verüben dort Verbrechen. Wer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, wer die bedrückende Situation der Flüchtlinge, wer die Realität in Tschetschenien, die Menschenrechtsverletzungen, als Märchen der Medien diskreditiert, verhöhnt die Opfer und zeigt sein gespaltenes Verhältnis zur Unabhängigkeit der Presse. ({1}) Eine Farce ist aber keine politische Lösung. Die scheinbare Übertragung der Verantwortung für eine falsche Politik auf eingesetzte Kollaborateure entbindet die russische Regierung nicht von ihrer Verantwortung und der Notwendigkeit einer politischen Lösung, die die Menschen in Tschetschenien einbezieht, um überhaupt Aussicht auf Erfolg zu haben. Es ist tatsächlich im ureigenen Sinne Russlands, politische Lösungen zu suchen, weil dieser Krieg das ganze Land verändert. Der Zusammenhang zwischen Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechten und Wirtschaft spielt im heutigen Russland und für die gegenwärtigen Vorgänge um den Oligarchen Chodorkowski eine wichtige Rolle. Der für uns eher merkwürdige Vorgang eines gemeinsamen offenen Briefes an Putin von mehreren, auch mittelständischen Wirtschaftsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen - von Menschenrechtsgesellschaften wie MEMORIAL bis zu Verbraucherschutzverbänden zeigt das. Was aber verbündet diese hierzulande traditionell eher in distanziertem Misstrauen zueinander stehenden Interessengruppen? Natürlich ist der bisherige JukosChef ein Oligarch. Zweifellos hat er seinen Reichtum nicht nur legal erworben. Niemand, so sagt der Vorsitzende der Gesellschaft MEMORIAL, kann in Russland die Steuergesetze einhalten, auch MEMORIAL nicht. Für ihn stellen sie ein ganz spezielles politisches Instrument dar, das Missbrauch Tür und Tor öffnet und jede juristische Person erpressbar machen und unter Druck setzen kann. Nicht zuletzt mit ihrer Anwendung wurde allen unabhängigen elektronischen Medien die Existenzgrundlage entzogen. ({2}) Nicht jedoch um die Rechtfertigung des Milliardärs Chodorkowski geht es. Auch den Menschenrechtsgruppen in Russland ist er nicht besonders sympathisch. Es geht um etwas anderes. Es geht um den Kampf um das Recht, vom Staat und seinem Willen unabhängig handeln zu können. ({3}) Claudia Roth ({4}) Dafür, das getan zu haben, dafür, dass er soziale Aufgaben als Pflicht eines Unternehmers ansah und dass er andere Parteien als die der Macht unterstützte, ({5}) wurde der Bürger Chodorkowski verhaftet, begleitet von gefährlich antisemitischen Tönen. Niemand bestreitet das ernsthaft in Russland. ({6}) Das ist der Grund für das Bündnis zwischen Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Russland. Ihr gemeinsames Ziel ist ein Gesellschaftsvertrag zwischen ihnen und der politischen Macht, der die Unternehmen auf Gesetzestreue und soziale Verantwortung verpflichtet und die Respektierung der Rechte des Einzelnen garantiert. ({7}) Putin hat den Vorschlag für einen Gesellschaftsvertrag bisher leider schlichtweg abgelehnt. Wir jedoch sollten diesen Vorschlag ausdrücklich unterstützen. Er enthält den Kern unserer Vorstellungen vom Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Eine solche soll und muss Russland werden. Auf diesem Weg wird Russland all unsere Unterstützung bekommen. Am Konzept einer so genannten gelenkten Demokratie haben wir dagegen erhebliche Zweifel; denn dies ist im Grunde die modernisierte Variante des autoritären Staates, der in Russland schon eine lange und verhängnisvolle Tradition hat. Das laut zu sagen ist unsere demokratische Verantwortung. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Frau Kollegin Roth, Sie haben mir in weiten Teilen Ihrer Rede aus der Seele gesprochen. Ich bin außerordentlich dankbar, dass Sie sich so eindeutig geäußert haben. Der Grund, weshalb unsere Fraktion diese Aktuelle Stunde beantragt hat, war, dass es unser Wunsch ist, dass sich Vertreter der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, nämlich der Herr Bundeskanzler und der Herr Außenminister, ähnlich deutlich und eindeutig hier vor dem Deutschen Bundestag artikulieren. ({0}) Als der Kollege Pflüger gerade festgestellt hat, wie sehr ihm das Schweigen der Regierung auffällt, hat der Kollege Volmer geantwortet: Ja, wären Sie einmal in den Menschenrechtsausschuss gekommen. ({1}) - Aber es ist aus Ihrer Ecke gekommen. Vielleicht gibt es bei Ihnen jemanden, der sich dazu bekennt, das gesagt zu haben. Ich habe es deutlich gehört. Ich kann Ihnen dazu sagen: Wir wünschen uns einen Bundeskanzler oder einen Außenminister, der in die Öffentlichkeit tritt und das dort klar macht und nicht unbedingt das relativ abgeschlossene Gremium eines parlamentarischen Ausschusses braucht, um dort zu sagen, was er eigentlich denkt. Das ist nicht das Wesen unserer Demokratie. ({2}) Dass wir stabile Beziehungen zu Russland brauchen und diese freundschaftlich und konstruktiv sein sollen, ist nicht alleine aufgrund unserer engen Verbindungen im energiepolitischen Bereich notwendig. Jeder, der mit offenen Augen die Geschichte des 20. Jahrhunderts gesehen hat, muss zu der Erkenntnis kommen, dass ein großer Teil der Probleme in Deutschland, die wir heute haben, dadurch verursacht worden ist, dass die Beziehungen zu Russland lange Zeit das zuvor erwähnte Attribut gerade nicht verdient haben. Es ist die Abwesenheit eines Verhältnisses zu den Menschenrechten und die Abwesenheit der Rechtsstaatlichkeit in Russland gewesen, die in Ostdeutschland die Probleme verursacht hat, die wir heute haben. ({3}) Daraus folgt, dass wir ein existenzielles Interesse daran haben, solche Verhältnisse, wie sie sich im Augenblick in Russland andeuten, und solche Signale politisch zu bewerten. Dass Sie das können, haben Sie uns mehrfach bewiesen. Die Regierung war außerordentlich schnell bei der Hand, als es darum ging, das kleine Österreich infolge eines Wahlergebnisses, das ihr nicht in den Kram passte, ({4}) mit einer grotesken Strafaktion zu überziehen, die sie später selbst als Fehler erkannt hat und zurücknehmen musste. ({5}) In Russland legt man völlig andere Maßstäbe an. ({6}) Ich kann Ihnen sagen, welcher Fall sich erst in der letzten Woche ereignet hat. Da war eine Menschenrechtsdelegation unter Führung von Herrn Ponomarjow in Berlin. Außerdem waren der Duma-Abgeordnete Babuschkin von Jabloko und die Rechtsanwälte des inhaftierten Unternehmers Chodorkowski dabei. Sie haben hier in Berlin mit einigen für Außenpolitik verantwortlichen Kollegen der Fraktionen des Deutschen Bundestages gesprochen, aber dem Auswärtigen Amt wurde von der Regierung selbst jeder hochrangige Kontakt mit dieser Gruppe untersagt. ({7}) Dabei hatte diese Gruppe zu berichten, dass man inzwischen in Russland so weit gegangen ist, die Büros der Anwälte Chodorkowskis durchsuchen zu lassen und so sein Recht auf Verteidigung anzutasten. Wenn Sie von einer Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft sprechen, Herr Kollege Bury, dann frage ich Sie: Ist das die Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft, die Sie sich vorstellen, oder müssen Sie dagegen Einspruch erheben? Oder betrachten Sie es als den richtigen Weg, diejenigen, die diese Wertegemeinschaft einklagen, in Berlin abzuweisen? ({8}) Das sind Handlungsweisen, die wir von einer deutschen Bundesregierung nicht erwarten und die wir scharf kritisieren müssen. Ich bin gespannt, was Sie dem Deutschen Bundestag zur Erklärung dieses Verhaltens vorzutragen haben. ({9}) Wenn durch die Menschenrechtsverletzungen in Russland weiter der Eindruck erweckt wird, dass die Demokratie dort einem langsamen Zerfallsprozess ausgesetzt ist, dann sind wir hier in Deutschland an erster Stelle für diese Entwicklung mit verantwortlich, wenn wir schweigen. Aus diesem Grunde fordere ich uns alle auf, eine klare Sprache zu sprechen, ohne den Boden der freundschaftlichen und konstruktiven Auseinandersetzungen zu verlassen. Beides zu beherrschen ist eine Grundanforderung, die an einen deutschen Außenminister und Bundeskanzler zu stellen ist. Es genügt nicht, Artigkeiten auszutauschen. Dabei ist politische Substanz gefragt und die vermissen wir. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mit vielem einverstanden, was aus der analytischen Beobachtung heraus vorgetragen worden ist. Aber ich möchte an die rechte Seite des Hauses gewandt, auf der viele Kollegen aus der deutsch-russischen Parlamentariergruppe sitzen, die noch in diesen Tagen mit mir und auch mit russischen Journalisten sehr offene Worte gewechselt haben, die Frage richten: Ist der Umgang mit diesem Thema, indem Sie die Bundesregierung, die Fragen stellt und sich zu dem Thema äußert, auffordern, etwas lauter zu reden, eigentlich angemessen? Ich glaube nicht, dass das dem Problem, das wir in diesem Zusammenhang haben, angemessen ist. ({0}) Wir sind sehr besorgt über das, was hier vorgeht, weil es den langen Weg der russischen Politik, den wir kollegial und partnerschaftlich begleitet haben und an dessen guten Resultaten wir gemeinsam interessiert sind, möglicherweise infrage stellt. In Russland ist ein wichtiger Unternehmer - der reichste Mann Russlands, aber auch ein Mann des öffentlichen Lebens mit einer sehr wirksamen, großen Stiftung, der Stiftung „Offenes Russland“ verhaftet worden, wobei kein einziger Russe glaubt, dass das kein politischer Vorgang war. Daher brauchen auch wir das nicht zu glauben, Herr Leibrecht; das ist völlig richtig. Sie haben aber auch Boris Grislow, den Vorsitzenden der putinschen Reformpartei, zitiert: Die russischen Bodenschätze gehören dem russischen Volk. In diesem Zusammenhang stellt sich sofort die Frage, ob es hierbei um ein Strafverfahren geht oder ob sich damit eine Revision der Politik der 90er-Jahre ankündigt, in denen, wie wir alle wissen, eine mehr oder weniger gesetzlose und oft wilde Aneignung von Volksvermögen stattgefunden hat. Soll das revidiert werden? Aber unsere russischen Kollegen stellen ferner eine andere Frage, die ich noch gravierender finde. Sie fragen danach, ob vielleicht nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politisch-gesellschaftliche Revision bevorsteht. Der uns allen bekannte liberale Politiker Grigorij Jawlinskij hat festgestellt: Von der gesteuerten Demokratie Putins bleibt im Augenblick nur noch die Steuerung übrig. Noch deutlicher hat sich Gleb Pawlowskij - keineswegs jemand, der verdächtigt ist, ein Kritiker des Kreml zu sein - geäußert: Es ist klar, dass es sich um die Vorbereitung eines politischen Schauprozesses handelt. ({1}) Boris Nemcow - auch er ist als ehemaliger Gouverneur von Nischnij Novgorod in Deutschland gut bekannt - hat zu dem Zusammenhang und den Veränderungen an der Kremlspitze am 28. Oktober in der „Nezavisimaja Gazeta“ Folgendes festgestellt: Ein Sieg der Silaviki, - das ist die Machtgruppe aus den Diensten die auf die wirtschaftlichen Interessen des Landes pfeifen, ist eine feste Wendung in Richtung Diktatur. Schauprozess, Diktatur, möglicherweise eine völlige Veränderung innerhalb der russischen Gesellschaft - das sind keine von uns gewählten Begriffe, sondern sie wurden von unseren Kollegen in Russland verwendet. Ich glaube, das macht deutlich, um welche Dimension es hierbei geht. Man muss sich sehr genau überlegen, wie man damit umgeht. Es geht nicht darum, sich gegenseitig vorzuwerfen, dass der eine zu leise und der andere zu laut redet. Ich meine, wir haben sehr ernste Fragen zu stellen. Dabei sollten wir immer im Blick behalten, was unsere Interessen sind. Unsere Interessen sind, dass all die Befürchtungen, die unsere Kollegen aus Russland - vielleicht auch angespornt durch den Wahlkampf, der begonnen hat - vortragen, nicht eintreten. Wir sind an eiGernot Erler nem Erfolg des russischen Transformationsprozesses und auch der wichtigen Reformen interessiert, die sich mit dem Namen Putin und seinen letzten vier Regierungsjahren verbinden. Wir müssen bei allem, was wir hier tun, abwägen, ob es dazu beiträgt oder nicht. Ich hoffe sehr, dass unsere Debatte - wenn sie in diesem Ton geführt wird; es ist das gute Recht nicht nur der Regierung, sondern auch des Parlaments, das zum Ausdruck zu bringen; deswegen finde ich es gut, dass Sie von der CDU/CSU diese Aktuelle Stunde beantragt haben; das findet meine Unterstützung - der russischen Seite unsere Erwartung deutlich macht, bald befriedigende und auch zutreffende Antworten auf unsere ernsten Fragen - wir erfinden das Thema nicht; es ist vielmehr ein Thema der russischen Gesellschaft - zu bekommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Melanie Oßwald. ({0})

Melanie Oßwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003641, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der schwierigen Situation in Tschetschenien sind wir uns eigentlich einig - Frau Roth, Sie haben das bereits ausgeführt -: Wir verurteilen die Anschläge tschetschenischer Terroristen. Wir wollen, dass Russland die Menschenrechte einhält. Wir setzen uns vehement für die tschetschenische Zivilbevölkerung ein. Wir wollen das Leid der Flüchtlinge beenden, die immerhin fast die Hälfte des tschetschenischen Volkes ausmachen und erheblichen Diskriminierungen in der Russischen Föderation ausgesetzt sind. Wir wollen verhindern, dass sich der Konflikt auf den ganzen Kaukasus oder sogar auf ganz Russland ausweitet. Das unendliche und ungerechte Leid des Tschetschenienkrieges muss nicht nur im Namen der CDU/CSU-Fraktion ein Ende haben. Die Tschetschenen haben ein Recht, in Frieden und Würde zu leben. Auch die jungen russischen Soldaten haben Anspruch auf eine politisch durchdachte und vernünftige Lösung des Bürgerkrieges. Es besteht weiterhin dringendster Handlungsbedarf seitens der Bundesregierung. Besorgnis alleine reicht nicht aus; denn Tschetschenien ist keinesfalls, wie in der russischen Öffentlichkeit oft behauptet wird, weitgehend befriedet und nun in der Lage, legitime Institutionen zu schaffen, und zwar auch nicht nach dem Referendum und den Präsidentschaftswahlen, die - auch darin sind wir uns einig - eine reine Farce des Kremls waren. Diese Wahlen waren im wahrsten Sinne des Wortes ein Urnengang. Die letzte Hoffnung auf Frieden wurde begraben. Ich frage Sie: War das die politische Lösung, die wir gefordert haben und die Hilfe bringen sollte? Ich sage Ihnen: Nein! Wir Abgeordnete haben völlig zu Recht die Wahlbeobachtung verweigert, um keine Legitimation zu ermöglichen. ({0}) Ich frage Sie aber: Wo sind die Konsequenzen daraus gezogen worden? Es liegt eigentlich in der Verantwortung einer deutschen Regierung, in einer europäischen Gemeinschaft einem Nachbarstaat aus einer anscheinend ausweglosen Situation herauszuhelfen. Es geht nicht nur darum, von der Russischen Föderation zu fordern, sondern zu vermitteln und ihr zu helfen, ein demokratischer Staat zu bleiben. Die besten Voraussetzungen dafür sind ja gegeben. Noch nie waren laut Herrn Bury die deutschrussischen Beziehungen - wenn auch im Kulturbereich so eng. Doch die Bundesregierung schafft es ja nicht einmal - das ist gerade wieder deutlich geworden -, das Thema jenseits verschlossener Türen ausführlicher als in einem Satz anzusprechen. Stabile deutsch-russische Beziehungen sind gut und notwendig. Aber der Schmusekurs Schröders gegenüber Putin muss bei den Menschenrechten endlich ein Ende haben. Setzen Sie sich dafür ein, dass Hilfsorganisationen wieder ohne Gefahr in der Krisenregion arbeiten können! Ich erinnere nur an den entführten Arjan Erkel von „Ärzte ohne Grenzen“ - ich habe das bereits in meiner ersten Rede erwähnt -, der nach anderthalb Jahren noch immer nicht befreit ist. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, Russland dazu zu drängen, Hilfe vonseiten des Europarates, der OSZE und der Vereinten Nationen zu akzeptieren. Außerdem muss sie sich schnellstens dafür einsetzen, dass das Mandat der OSZE wieder zustande kommt. ({1}) Der Tschetschenienkrieg ist nicht nur für Russland eine Schande, sondern auch für Deutschland und die Welt, vor deren Augen unter dem Deckmantel der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ein ganzes Volk seines Landes und seiner Lebensmöglichkeiten beraubt wird. Die westlichen Demokratien dürfen dieser einseitigen Logik der russischen Führung nicht folgen. Wir müssen darum gemeinsam eine internationale Friedenslösung anstreben. Von deutscher wie auch von europäischer Seite muss dringend ein fundiertes Konzept zum Tschetschenienkonflikt erarbeitet werden. Die Suche nach Auswegen aus einer derart komplizierten Konfliktsituation ist sehr schwer: Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann bis zur Stunde zwei Beschwerdeführer nicht auffinden. Diese Ankläger müssen geschützt werden. Menschenrechtsverletzungen müssen konsequent aufgeklärt und die Täter müssen bestraft werden. Außerdem müssen in Tschetschenien eine effektive Verwaltung und eine effektive Justiz geschaffen werden. ({2}) Es reicht nicht, zu hoffen und besorgt zu sein; denn es dürfen nicht noch mehr unschuldige Menschen ihr Leben lassen. Eine friedliche politische Lösung in Tschetschenien muss schnellstens angestrebt werden. Sie können sicher sein: Dafür werde ich weiter kämpfen, wenn ich im Dezember als Wahlbeobachterin in Moskau bin. Ich appelliere an Sie: Schauen Sie nicht weg, wenn einem freiheitsliebenden Volk die Lebensgrundlage entzogen wird! ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Ludger Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, dass die Debatten über Russland, die wir hier seit Jahren führen, an zwei sich gegenseitig ergänzenden Vereinseitigungen leiden: Entweder haben wir Menschenrechtsverletzungen und den Demokratiemangel im Visier und kritisieren Russland massiv und öffentlich - dabei vergessen wir aber die Notwendigkeit der Kooperation, die uns nach dem Ende des Kalten Krieges als Chance zugewachsen ist - oder wir thematisieren die Sicherheitspolitik sowie die Wirtschaftspolitik und neigen dazu, Menschenrechtsverletzungen und den Demokratiemangel aus den Augen zu verlieren. Die heutige Debatte ist vielleicht eine rühmliche Ausnahme. Man hat hier nämlich versucht, diese beiden Punkte zusammenzubringen. Im Hinblick auf unsere Russlandpolitik ist es notwendig, die Friedensdividende, die wir uns 1989/90 mit dem Ende des Warschauer Pakts eingehandelt haben, auch zur Verbesserung unserer Sicherheit zu nutzen. Da Demokratie und Menschenrechte in Russland eine Funktion der Sicherheit sind, dürfen wir sie aus der Debatte nicht ausschließen. ({0}) Wir brauchen Russland nach wie vor als verlässlichen Kooperationspartner für die Sicherheit in Europa. Wir brauchen Russland für eine kooperative Sicherheitspolitik bezogen auf Regionalkonflikte. Ich denke etwa an die Kooperation im Nahostkonflikt - Stichwort Roadmap -, wo es übrigens keine deutsch-russische Achse gegen die USA gibt; vielmehr handeln wir zusammen mit den USA und mit der UNO. Die Zusammenarbeit mit Russland in Sachen Irak war gut und sinnvoll. Das ist auch dann so, wenn Sie, Herr Pflüger, dies als „Achse“ bezeichnen. Wir brauchen Russland auch im Kampf gegen den Terror. Wir können aber nicht akzeptieren, dass Menschenrechte in Tschetschenien unter dem Label „Kampf gegen den Terrorismus“ massiv verletzt werden. ({1}) Wir sollten grundsätzlich für eine Kooperation auch auf wirtschaftlichem Gebiet eintreten, die die Thematisierung der Menschenrechts- und der Demokratiefrage nicht ausschließt. Eine solche Kooperation kann geradezu als Medium benutzt werden, um diese Frage immer wieder systematisch anzusprechen. Ich habe übrigens nicht den Eindruck, dass die Bundesregierung diese Fragen nicht anspricht, nur weil sie es nicht durch öffentliche Proklamationen tut. Man kann sich zwar wünschen, dass hin und wieder ein lautes Wort fällt; aber ich weiß aus eigener Beobachtung, dass dieses Thema immer wieder angesprochen wird. Das geschieht allerdings so, wie es Diplomaten gern tun, wenn sie befürchten, dass Interessen wie diejenigen, die ich gerade beschrieben habe, durch eine falsche Tonlage in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. ({2}) Wir kritisieren die Verhaftung von Chodorkowski - Claudia Roth und andere haben es eben getan - nicht, weil wir meinen, dass Oligarchen wie in der Vergangenheit agieren sollen. Oligarchie ist das Gegenteil von Demokratie und nicht deren Erfüllung. ({3}) Der Liberalismus der Oligarchen ist kein Liberalismus in unserem - demokratischen - Sinne. Deshalb gibt es ein gewisses berechtigtes Interesse, da-rauf zu achten, dass die Liberalisierung in Russland nicht so weit geht, dass die strategischen Rohstoffe des Landes an internationale Konzerne ausverkauft werden. ({4}) Ich weiß nicht, worin der Vorteil für uns bestehen soll, wenn die russische Oligarchie durch die Oligarchie der internationalen Ölkonzerne ausgetauscht wird. Das kann nicht die Alternative sein. ({5}) Wenn wir ein Interesse daran haben, dass Russland seine Öl- und Gasreserven insbesondere mit uns austauscht - so könnten wir unsere einseitige Abhängigkeit von der Golfregion endlich verlieren; so würde aber auch zu einer Beruhigung im Mittleren Osten beigetragen -, dann sollten wir parallel zu allen Diskussionen und Verhandlungen über eine Gaspipeline durch die Ostsee systematisch mit thematisieren, dass die Oligarchie langsam, aber sicher in Demokratie überführt wird. Das sind zwei Elemente in der Politik, die unmittelbar zusammengehören. In der Soziologie gibt es eine harte These: Demokratie ist die Regierungsform der bürgerlichen Gesellschaft. In dieser Striktheit finde ich die These falsch. Aber als weiche These finde ich sie richtig: Die Existenz einer bürgerlichen Gesellschaft befördert die Entwicklung von Demokratie. Nun frage ich, wie es um die demokratische Gesellschaft bzw. um die bürgerliche Gesellschaft in Russland bestellt ist. Nach all den Transformationsprozessen der letzten zehn, 15 Jahre können wir sagen: Sie ist immer noch viel zu schwach. Es gibt ein Bürgertum im Wirtschaftsbereich, das auf der einen Seite durch die Oligarchen geprägt ist - das ist alles andere als demokratisch - und auf der anderen Seite durch einen Bodensatz, den man nur als mafios bezeichnen kann; auch das ist alles andere als demokratisch. Was wir im Auge haben - das politische Bürgertum, den Mittelstand, die sozialen Mittelschichten der urbanen Welt -, ist noch sehr schwach. Auch die Zivilgesellschaft ist leider noch viel zu schwach. Wenn wir wollen, dass sich in Russland Demokratie entwickelt, dann müssen wir den staatlichen Diskurs führen und müssen auch mit Putin und anderen deutlich darüber reden. Wir sollten aber gleichgewichtig zum Ausbau unserer wirtschaftlichen Beziehungen unsere gesellschaftlichen Dialoge mit dem kleinen Kern von Demokratie, mit der Keimzelle von Demokratie, verstärken, das heißt unsere Zusammenarbeit insbesondere mit der Zivilgesellschaft und mit den Reformern im gesellschaftlichen Bereich intensivieren. Danke. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Hermann Gröhe.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eine Vorbemerkung machen. Wir alle betonen immer wieder, dass Menschenrechtspolitik eine Querschnittsaufgabe ist. Aber im Durchschnitt ist die Regierungsbank bei Menschenrechtsdebatten ziemlich leer. ({0}) Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt: Wir dürfen hier keine Arbeitsteilung machen nach dem Motto: Hier sind die, die über die Menschenrechtsfragen reden, und dort sind die, die über Sicherheits- oder Wirtschaftspolitik reden. Die Abwesenheit jedes Bundesministers entlarvt, dass genau dies die Arbeitsteilung von Rot-Grün ist. ({1}) - Wir haben das auch in den letzten Menschenrechtsdebatten so erlebt, Herr Schmidt. Schreien Sie doch nicht auf, nur weil sie erwischt worden sind! Wir haben das in all den letzten Menschenrechtsdebatten genau so erlebt. ({2}) Zu der Wahlfarce in Tschetschenien und zu den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen ist Deutliches gesagt worden. Die Menschenrechtsverletzungen werden von den Sicherheitskräften wie von den Rebellen begangen. Für den Dialog mit der russischen Regierung ist entscheidend, dass das zutrifft, was der Kollege Bindig das Klima der Straflosigkeit genannt hat. Die russische Regierung hat ihr Versprechen, dass auch Menschenrechtsverletzungen, die von staatlichen Sicherheitskräften begangen werden, geahndet werden, bis heute nicht eingelöst. Die wenigen Strafverfahren, die es gegeben hat, entsprechen in keiner Weise dem Umfang der begangenen Menschenrechtsverletzungen. Einigkeit besteht doch wohl darüber, zumindest unter den Menschenrechtspolitikern, dass es eine nicht akzeptable Leisetreterei der europäischen Regierungschefs gibt. So erklärte die Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Christa Nickels, im Vorfeld der Wahlen in Tschetschenien - ich zitiere wörtlich -: Im Vorfeld der Wahl hört man von den europäischen Regierungschefs nichts. ({3}) Kollege Bindig kritisierte vor einigen Tagen bei einer Veranstaltung des Deutschen Instituts für Menschenrechte den Einsatz westlicher Staats- und Regierungschefs - ich zitiere wörtlich - als nicht hinreichend. Die schlimmen Äußerungen des italienischen Regierungschefs sind hier schon erwähnt worden. Da kann man gen Rom nur rufen: Si tacuisses! - Wenn du doch nur geschwiegen hättest! ({4}) Aber auch Bundeskanzler Schröder hat durch fragwürdige Äußerungen zu dem Eindruck beigetragen, dass mit dem Kampf gegen den Terrorismus eine größere Nachsicht gegenüber der russischen Politik im Kaukasus verbunden ist. So sprach er unmittelbar nach den schrecklichen Terroranschlägen vom 11. September 2001 von der Notwendigkeit einer „Neubewertung“ der Lage in Tschetschenien. Ja, im Vorfeld des seinerzeitigen Referendums in der Kaukasusrepublik lobte er sogar „gute Ansätze“ in der russischen Tschetschenienpolitik. Welche Verbitterung solche beschönigenden Formulierungen vor allem bei den Menschenrechtsorganisationen in Russland auslösen, die unter schwierigsten Bedingungen für Menschenrechte in ihrem Land und vor allen Dingen für eine politische Lösung im Kaukasus eintreten, macht die Äußerung von Oleg Orlow, dem Vorsitzenden von Memorial - auf die wertvolle Arbeit von Memorial hat ja Kollegin Roth zu Recht hingewiesen -, deutlich. Oleg Orlow erklärte wörtlich: „Entweder ist Schröder ein Zyniker oder er zeichnet sich durch Inkompetenz aus.“ ({5}) Längst haben sich Befürchtungen bewahrheitet, der Wille der russischen Regierung, den Konflikt gewaltsam zu lösen, werde sich als schleichendes Gift gegen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auch in der übrigen Russischen Föderation auswirken. Zunehmende Einschränkungen der Meinungsfreiheit sind zu beobachten: Das Fernsehen ist weitgehend wieder unter Kontrolle der politischen Machthaber. Als ich im Oktober die Büros von Memorial in Moskau und St. Petersburg besuchte, lag ein Einbruch Unbekannter im Büro von Memorial in St. Petersburg erst wenige Wochen zurück. Wichtige Unterlagen und alle Computer waren dabei entwendet worden. Wie selbstverständlich ging man in beiden Büros davon aus, durch Sicherheitskräfte abgehört zu werden. Vor wenigen Wochen durchsuchten Staatsanwälte die Werbeagentur der liberalen Jabloko-Partei und beschlagnahmten Geld, Computer und zentrale Wahlkampfunterlagen. Der Vorsitzende dieser Partei spricht vom „Kapitalismus mit stalinistischem Gesicht“. Seine Partei befürchtet zu Recht, dass ein fairer Wettbewerb nicht möglich ist, wenn der politische Gegner die zentralen Ideen für den eigenen Wahlkampf, die Strategien und das Programm erhält. Meine Damen und Herren, nicht Lautstärke ist gefordert, verehrter Herr Kollege Erler; vielmehr muss endlich Klartext gesprochen werden. Dazu leisten viele Abgeordnete aus allen Fraktionen dieses Hauses einen Beitrag. Die Bundesregierung ist aufgefordert, endlich diesem Beispiel zu folgen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Mützenich.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland trägt maßgeblich zur Unterstützung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in Russland bei. Es ist offenkundig: Das ist ein schwieriger Balanceakt. Wir haben ein Interesse an einem stabilen Russland. Stabilität und Verlässlichkeit sind ohne Rechtsstaatlichkeit aber nicht denkbar. Darauf wirken wir ein; das macht die heutige Debatte deutlich. Ich bin gegen Schwarzweißmalerei. Wir müssen klug und behutsam für die Demokratie in Russland arbeiten. Den Demokraten in Russland ist aber nicht mit Lautstärke geholfen. Wir müssen vielmehr die Rahmenbedingungen beeinflussen, um die Strukturen und die Grundlagen der Demokratie zu stabilisieren. Daran arbeitet diese Bundesregierung. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Thema ist die deutsche Russlandpolitik. Deshalb möchte ich gerne auf drei Aspekte aufmerksam machen, die bisher noch keine Rolle gespielt haben: Erstens. Die USA, Russland und Deutschland haben im Juni 2002 eine Initiative zur Beseitigung von militärischen Altlasten in Russland angestoßen. Ziel des mehrjährigen Programms ist eine globale Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und -materialien. Zu den vorrangigen Anliegen der globalen Partnerschaft gehören die Zerstörung chemischer Waffen, die Demontage von außer Dienst gestellten U-Booten, die Entsorgung spaltbaren Materials und die Beschäftigung früherer Rüstungsforscher. Auch dies trägt, wie ich denke, dazu bei, dass wir Russland stabilisieren und ihm auf dem Weg zur Demokratie helfen. Deshalb bin ich der Bundesregierung für ihr Engagement in diesem Bereich dankbar. Denn diese Initiativen können sich sehen lassen. ({1}) Sie unterstreichen unser Interesse an Sicherheit und Stabilität. Die Programme sind ein wichtiger Beitrag, damit die schrecklichen Hinterlassenschaften aus dem OstWest-Konflikt nicht in die Hände von Terroristen gelangen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte auf einen zweiten Aspekt aufmerksam machen, der die Bedeutung der deutschen Russlandpolitik unterstreicht. Die Bundesregierung setzt sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle ein. Wir brauchen in einem vereinten Europa keine großen Armeen mehr. Ein Meilenstein dabei ist der Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Europa, kurz: KSE-Vertrag. Das Abkommen ist für Frieden, Stabilität und Sicherheit an den Grenzen Russlands von großer Bedeutung. Wir müssen daher alles dafür tun, dass der angepasste KSE-Vertrag so schnell wie möglich in Kraft tritt. Die erfolgreichen Anstrengungen Russlands, seine Streitkräfte auf die im Art. V des Vertrages vereinbarten Obergrenzen zu reduzieren, verdient Anerkennung; gleichwohl brauchen wir eine Klärung der noch offenen Fragen zwischen Russland und Georgien. Hier hat die Bundesregierung geholfen, Vertrauen und Verständigung zu fördern. Auch dies ist ein Aspekt, auf den wir, wenn wir über deutsche Russlandpolitik sprechen, hinweisen müssen. Erst vor kurzem hat eine georgische Delegation auf Einladung der Bundesregierung in Deutschland an einem Seminar über die Lage im Südkaukasus und den angepassten KSE-Vertrag teilgenommen. Auch wenn sich der erwartete vollständige Abzug russischer Truppen aus Moldau weiter verzögert, besteht die Hoffnung, dass Russland die vollständige Erfüllung dieser Verpflichtungen bis Ende 2003 erreichen kann. Ich bin mir daher sicher, dass die Bundesregierung diesen Prozess im Rahmen der OSZE weiter fördern wird. Die Erfüllung der noch offenen Istanbuler Verpflichtungen bezüglich Georgien und Moldau wird die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Mitgliedsländer des Bündnisses und andere Vertragsstaaten die Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrags weiterführen können und dieser in Kraft treten kann. Dies ist die Voraussetzung für weitere, mutige Abrüstungsschritte in Europa. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die Gelegenheit nutzen, um ein drittes Thema anzusprechen: Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist eine schwierige Aufgabe. Militärische Mittel sind dabei nur begrenzt hilfreich und angemessen. Leider müssen wir beobachten, dass im Windschatten dieser Aufgabe neue Unsicherheiten zwischen Staaten provoziert werden. Dazu zählt die Absicht, ohne Beachtung des Völkerrechts Gewalt in Form von militärischer Prävention einzusetzen. Vor einem Monat wurden Teile der neuen russischen Militärdoktrin bekannt. Auch darin sind offenbar Präventivschläge gegen Staaten und Regionen vorgesehen, von denen „eine Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands ausgeht“. Darüber hinaus wurde die Aufstellung neuer Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen angekündigt. Dies sind Entwicklungen, die uns beunruhigen müssen. ({2}) Die SPD-Fraktion bekräftigt, dass das offenbar von immer mehr Staaten in Anspruch genommene Recht zu Präventivschlägen nicht der richtige Weg sein kann, um die internationale Politik zu gestalten. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die USA, sondern auch für Russland. ({3}) Ich bitte daher die Bundesregierung, mit Russland über die Folgen einer neuen Militärdoktrin zu sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte hat deutlich gemacht: Die Bundesregierung unterstützt die Reformen von Präsident Putin. Wir brauchen ein stabiles und demokratisches Russland. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und soziale Sicherheit sind Voraussetzungen für den Frieden in Europa. Wir müssen Russland weiterhin als kooperativen Partner in die internationale Politik einbinden. Ich ermutige die Bundesregierung, diesen Weg weiterzugehen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Und wir, lieber Herr Kollege Mützenich, gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten Rede hier im Plenum. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bury, Sie haben für die Regierung gesprochen. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in der Debatte niemand auf Sie eingegangen ist. Womit hängt das zusammen? Das hängt damit zusammen, dass sich niemand mehr daran erinnern kann, was Sie vorgetragen haben. Es war eine belanglose Erklärung, die allem ausgewichen ist, worum es hier eigentlich geht. Herr Kollege Erler, es geht nicht darum, jetzt großmännisch gegenüber Russland aufzutreten, überhaupt nicht. Aber es geht auch nicht, dass die Regierung nur ausblendet, ignoriert, wegsieht und ein gutes Klima verbreitet. Denn jeder, der jetzt schweigt, vergrößert den Spielraum derer, die die russische Gesellschaft wieder autoritär umgestalten wollen. Deshalb besteht jetzt die Notwendigkeit, angemessen, aber deutlich zu sagen, was wir von der möglichen Entwicklung halten. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung; dieser weicht sie aber aus, was in dieser Situation falsch ist. Angesichts der sich verschlechternden Verhältnisse für ausländische Investoren in Russland fragt man sich, worauf man sich noch verlassen kann. Man muss wieder Eigenheiten der russischen Bürokratie beachten, von denen man glaubte, dass sie ausgeräumt seien. Man muss wieder Kreml-Astrologen befragen. Diese Zeit sollte Russland eigentlich hinter sich haben. Stabilität und Berechenbarkeit sind gefragt. Deshalb kommt der Frage der Unabhängigkeit der Justiz und der Pressefreiheit eine so enorme Bedeutung zu. ({0}) Die Bedenken, ob die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt ist, zeigen, wie ernst diese Probleme in der Zusammenarbeit mit Russland genommen werden. Ein Gesetz mit dem Titel „Gesetz gegen Agitation im Wahlkampf“ zeigt mir, wie die Verhältnisse in Russland sind. ({1}) Es geht um die Unterbindung demokratischer Freiheiten. Es wird der Versuch unternommen, eine uniforme Gesellschaft wiederherzustellen. All diejenigen, die es mit Russland gut meinen und die an einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit sowie an der Entwicklung gemeinsamer Ideen für den Bau des Hauses Europa - ich will diesen alten Begriff einmal verwenden - interessiert sind, müssen jetzt Farbe bekennen. ({2}) Ich will daher sagen, dass sich der Beitrag von Frau Roth so angenehm von dem unterscheidet, was vonseiten der Bundesregierung vorgetragen worden ist. Deutschland ist mit einem Anteil von 10 Prozent am Gesamthandel der größte Außenhandelspartner Russlands. Der bilaterale Handel liegt bei knapp 25 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2003 stiegen unsere Exporte nach Russland um 4,7 Prozent. Die deutschen Investitionen in Russland liegen bei 4 Milliarden Dollar. Damit ist Deutschland der größte Investor in Russland. Auch für die Zukunft zeichnet sich ein großes Potenzial ab - aber nur dann, wenn es gelingt, die Vorhaben, die jetzt in der Pipeline sind, in einem störungsfreien Umfeld weiter voranzutreiben. Daneben muss eine Struktur in Russland entwickelt werden, die einen Handel auf Gegenseitigkeit ermöglicht und nicht auf dauernde Rohstoffabhängigkeit setzt. Das Ziel der russischen Führung muss es sein, das Vertrauen der ausländischen Investoren zu erhalten bzw. wiederzugewinnen. Ohne zusätzliche Auslandsinvestitionen und ohne verlässliche Rahmenbedingungen ist der Beitritt Russlands zur WTO im nächsten Jahr sehr infrage gestellt. ({3}) Am Beispiel China kann man nachvollziehen, wie enorm die Anstrengungen sein müssen, um den Prozess der Angleichung an die Verhältnisse der WTO-Mitgliedsländer zu schaffen. In Russland geschieht hinsichtlich der Vorbereitungen auf diesen Beitritt genau das Gegenteil. Das ist schlecht für beide Seiten: Das ist schlecht für unsere Wirtschaftsbeziehungen und das ist auch schlecht für die Möglichkeit Russlands, selbst voranzukommen. Dass noch viel Vertrauen gewonnen werden muss, zeigt auch ein Vergleich mit Polen. Während es in Russland im Jahr 2002 Auslandsinvestitionen in Höhe von 23 Milliarden Euro gegeben hat, waren es in Polen und China immerhin schon 45 Milliarden Euro. Daran sieht man, welchem Land man bei vergleichbaren politischen Verhältnissen mehr zutraut, dass die Richtung stimmt und dass eine einheitliche Entwicklung, die zu einer stabilen Rahmenordnung führt, möglich ist. ({4}) - Nein, genau das habe ich nicht gesagt, Herr Meckel. Das Vertrauen, dass die Entwicklung in die richtige Richtung geht, ist im Falle Chinas größer. Viele wissen nämlich im Augenblick nicht, wohin der Weg Russlands geht. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon abgelaufen. Sie können jetzt keine Dialoge mehr führen.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin. Ich will zum Schluss noch das Wort von der Bürgergesellschaft aufgreifen, das Herr Volmer gebraucht hat. Natürlich ist es das Problem Russlands, dass sich eine demokratisch strukturierte Gesellschaft in seiner 70-jährigen Geschichte nicht entwickeln konnte. Aber umso mehr muss jetzt natürlich alles dafür getan werden, dass diejenigen nicht hoffnungslos werden, die auf dem Weg sind, genau eine solche Gesellschaft zu bilden. ({0}) Deshalb vielen Dank für Ihre Beiträge. Deshalb aber auch weiterhin die Kritik an der Regierung: So geht es nicht, meine Damen und Herren. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jelena Hoffmann.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei meinen politischen Gesprächen in Moskau im September wurde mir klar, dass die Verbindung zwischen Politik und Oligarchen in Russland zu einem Wahlkampfthema gemacht wird, und zwar von fast allen Parteien. Und nun beschäftigen wir uns im Bundestag mit der Verhaftung des Oligarchen Chodorkowski - auch ich musste lernen, den Namen auszusprechen - und den eventuellen Folgen dieser Verhaftung auf die deutschrussische Politik. Ich möchte davor warnen, die Beziehungen zu Russland und Russland als Land auf diesen Vorfall zu reduzieren. Es liegt der Verdacht nahe, dass die Opposition gerade mit diesem Ziel die Aktuelle Stunde beantragt hat. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten sich nichts vormachen und in der sicherheitspolitischen Realität von heute ankommen. Wir brauchen einen starken - ich betone ausdrücklich: einen starken Partner Russland, der mit uns, Europa und den USA zusammenarbeitet. Ohne Russland wird es auf Dauer keinen Frieden in Europa geben. Deshalb unterstützt Deutschland Russlands Annäherung an die NATO und die Europäische Union und vor allem auch die Mitgliedschaft Russlands in der WTO. Natürlich müssen wir von beiden Seiten des Parlaments vieles von dem aufzählen, was in Russland unserem Demokratieverständnis nicht entspricht. Das tun wir auch heute mit dieser Debatte. Doch wir sollten uns vor Augen führen, welche gewaltigen Reformen Russland in den letzten Jahren durchgeführt hat. Das Gesellschaftssystem, die Staatsstrukturen, die Wirtschaftsordnung, ja auch Kultur und Wissenschaft haben einen gewaltigen Umbruch und Wandel erfahren. Und dieser Prozess ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Im Jahr 2002 hat die Modernisierungsstrategie Putins größere Erfolge erzielt. Die drei wichtigsten Säulen der Wirtschaftspolitik, Energie, Rüstung und Transportwesen, konnten als Grundlage für die Entwicklung des Landes erhalten werden. Leider wurde die schon oft verschobene Bankenreform erneut auf das Jahr 2005 verschoben und die bitter notwendigen Gesetze zur Unterstützung des Mittelstands wurden kaum durchgesetzt. Doch die russische Wirtschaft entwickelt sich, vor allen Dingen auch aus unserer Sicht, mit 4 bis 6 Prozent Zuwachs ziemlich gut, und zwar nicht nur aufgrund des Ölpreises. Man sollte nicht vergessen, dass die EU Russland im letzten Jahr den marktwirtschaftlichen Status zuerkannt hat. Diese Tatsache wird auch durch die Intensivierung der Tätigkeit deutscher Unternehmen in Russland dokumentiert. Anfang der 90er-Jahre konnte man einem Unternehmen kaum empfehlen, nach Russland zu gehen. Es existierten keine an der Marktwirtschaft orientierten Gesetzesgrundlagen. Die Gesetze änderten sich schneller, als sie gedruckt waren, und wenn Gesetze da waren, hat man sich an die Gesetze nicht gehalten. Doch jetzt sind Jelena Hoffmann ({0}) über 1 200 Repräsentanzen deutscher Unternehmen in Russland tätig. Deutschland als Handelspartner der Russischen Föderation nimmt mit einem Anteil von etwa zehn Prozent am gesamten Handelsvolumen den ersten Platz ein. Russland hat ein hohes Wirtschaftswachstum und ist ein Markt der Zukunft. Daraus ergeben sich Chancen, die man nutzen sollte. Vor kurzem haben in Jekaterinenburg die deutsch-russischen Regierungskonsultationen stattgefunden. Sie haben eindrucksvoll die erfolgreiche Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten bestätigt. Der Bundeskanzler wurde von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation begleitet, was das große Interesse der deutschen Wirtschaft an einer Verstärkung der Zusammenarbeit mit Russland beweist. Die deutsche und die russische Bahn haben vereinbart, den bilateralen Personen- und Güterverkehr auszubauen. Touristen sollen von Berlin über Kaliningrad nach Sankt Petersburg fahren können. Der deutsche Energiekonzern Eon beabsichtigt, gemeinsam mit russischen Partnern ein hochmodernes Gaskraftwerk nicht weit von Moskau zu bauen und zu betreiben. Ein Abkommen zur Entsorgung der russischen Atom-U-Boote sowie zahlreiche Vereinbarungen und Verträge zwischen Unternehmen, vor allem auch zwischen Unternehmen aus dem mittelständischen Bereich, sind unterzeichnet worden. Die Gespräche in Jekaterinenburg haben gezeigt, dass die von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin im Jahr 2000 ins Leben gerufene deutsch-russische Strategiearbeitsgruppe zu einem bewährten Instrument in den bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen geworden ist. Insgesamt sind diese Beziehungen von einer steigenden Dynamik geprägt und besitzen große Potenziale. Natürlich verläuft die Entwicklung nicht immer reibungslos und für unsere Unternehmen nicht schnell genug. Dennoch kommen viele deutsche Unternehmen gut voran. Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition, als Echo der amerikanischen Presse rufen Sie immer nach Sanktionen oder politischen Rügen gegenüber Russland. Hören Sie doch lieber, was der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Herr Mangold, über den Jukos-Fall gesagt hat - ich erlaube mir, zu zitieren -: Dies in aller Klarheit: Die Jukos-Affäre ist weder der Anfang vom Rückfall in alte Zeiten noch das Ende von Reformen und Privatisierung. Zur Reformpolitik Russlands gibt es nämlich keine Alternative. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin!

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine letzten Sätze, Frau Präsidentin. Auch wir beobachten die Entwicklung Russlands kritisch. Aber dieses Land muss die Chance erhalten, Vertrauen zu erwerben und mit internationalen Partnern wie Deutschland eine langfristige Perspektive zu entwickeln. Deshalb können und müssen wir die Bundesregierung in ihrer Russlandpolitik unterstützen. Danke. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt möchte ich das noch einmal für alle klären: Eine Aktuelle Stunde ist eigentlich so gedacht, dass man einen ganz kurzen, freien Redebeitrag zu dem aktuellen Punkt macht. Lange Redebeiträge bzw. eine Rede von sieben Minuten entsprechen eigentlich nicht dem Stil. Ich bitte, dass das die Nächsten bedenken. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. - Es ist gut und richtig, dass sich die Bundesregierung um gute Beziehungen zu Russland bemüht. Das gebietet nicht nur die deutsche Geschichte, sondern allein schon die Vernunft. Aber gute Beziehungen sollten auch eine kritische Sicht auf die Politik des anderen beinhalten. Aus dieser kritischen Sicht sollten Schlussfolgerungen gezogen werden. ({0}) Wir haben erlebt, dass in der Frage der Menschenrechte schon immer eine unterschiedliche Messlatte angelegt worden ist. Ich darf Sie an die Ereignisse im vergangenen Jahr im Dubrowka-Theater, dem Theater „Nord-Ost“, erinnern. Tschetschenen hatten in diesem Moskauer Theater einen Saal voller Menschen als Geiseln genommen. Das ist ein Verbrechen, das nicht zu rechtfertigen ist. Es ist aber auch ein Verbrechen gewesen, das aus Verzweiflung geboren war. Wie wurde reagiert? - Die russischen Behörden leiteten Nervengas in das Theater, richteten die Geiselnehmer per Genickschuss hin und nahmen darüber hinaus den Tod von unschuldigen Geiseln in Kauf. Wie war die internationale Reaktion? - Die internationale Öffentlichkeit hielt sich zurück. Wie groß wäre der Aufschrei gewesen, hätte - sagen wir es einmal ganz allgemein - jemand, der sowieso als unberechenbarer Diktator gilt, Nervengas in ein Theater geleitet? Wir kritisieren die Zurückhaltung der Bundesregierung in der Tschetschenienfrage außerordentlich. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, damit unterscheidet sie sich nicht wesentlich von der Vorgängerregierung. ({1}) Bereits zum vierten Mal wird gegen das tschetschenische Volk ein Ausrottungskrieg geführt. Der erste endete nach 30 Jahren im Jahre 1859 mit der Flucht, der Ermordung und dem Tod Tausender Menschen. ({2}) - Ihr Zwischenruf, Herr Volmer, war mehr als unqualifiziert. ({3}) Der zweite Krieg gegen die Tschetschenen war die Deportation des tschetschenischen Volkes durch Stalin. - Ich weiß nicht, was die Grünen da zu lachen haben. - Bei dieser Deportation nach Mittelasien ist ein Viertel des tschetschenischen Volkes ermordet worden. Und Herr Volmer sitzt hier und grinst. Der dritte Krieg gegen das tschetschenische Volk wurde von 1994 bis 1996 unter Jelzin geführt. Der vierte Krieg begann im September 1999 unter Putin. ({4}) Ich möchte gerne wissen, warum die Bundesregierung ihre guten Beziehungen zu Russland nicht nutzt, um hier mehr Einfluss zu nehmen. Ich möchte gerne wissen, warum diese Verletzung der Menschenrechte geduldet wird. Warum hat die Bundesregierung nicht schärfer auf die Wahlfarce im März und im Oktober reagiert? ({5}) Warum wurde zum Beispiel auf eine mündliche Anfrage, die ich hier gestellt habe, mehr als ausweichend reagiert? Ich möchte für die Besucherinnen und Besucher erklärend hinzufügen, dass bei diesen Wahlen im März und im Oktober die Besatzungssoldaten in Tschetschenien mit abstimmen durften. Die Rede von Frau Roth wurde hier von mehreren Kolleginnen und Kollegen sehr gelobt. Frau Roth, als Sie noch nicht Menschenrechtsbeauftragte des Deutschen Bundestages waren, haben Sie vor der russischen Botschaft Reden gegen den Krieg in Tschetschenien gehalten. ({6}) Leider haben Sie heute in Ihrer Rede nicht dargestellt, was Sie in Ihrer Funktion als Menschenrechtsbeauftragte konkret getan haben. Sie haben uns auch nicht berichtet, wann Sie das letzte Mal mit Verantwortlichen in Russland über diese Frage gesprochen haben. Das hätte mich sehr interessiert. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Bindig.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es richtig und wichtig, dass wir bei unserer Debatte über unsere Beziehungen zur Russischen Föderation die Menschenrechte ins Zentrum der Argumentation stellen. ({0}) Hier ist ein breites Spektrum von Aufgaben zu bewältigen. Dabei geht es um wichtige Reformen in vielen Politikfeldern: die Reform des Justizwesens, die Übertragung des Strafvollzugssystems vom Innenministerium auf das Justizministerium, die Reform der Staatsanwaltschaft, die Anwendung der neuen Strafprozessordnung, das Angehen gegen die Verletzungen der Menschenrechte Wehrpflichtiger, den alternativen Militärdienst, die Praxis der Religions- und der Medienfreiheit. Vorhin ist kritisiert worden, dass es ein Gesetz über die Begrenzung der Medien in Wahlkämpfen gibt. Es ist ein ermutigendes Zeichen, dass ein Gericht dieses Gesetz zwischenzeitlich aufgehoben hat. ({1}) Das zeigt, dass die Justiz anfängt, sich von der Gängelung durch die zentrale Administration zu lösen. Es geht auch um die Errichtung eines menschenrechtlichen Ombudsmannsystems. Es geht um die Lage im Strafvollzug. Vor 14 Tagen habe ich in der Fernostregion der Russischen Föderation eine Strafkolonie für Frauen und zwei Untersuchungsgefängnisse besucht und dort teilweise unakzeptable Zustände angetroffen. Wichtig ist es, dann immer klar zu kritisieren, was vom europäischen Standard abweicht, klar zu sagen, was verändert werden muss, aber auch anzuerkennen, wenn der Koloss sich bewegt, wenn es in Teilbereichen Fortschritte gibt. ({2}) Ohne Zweifel ist die Menschenrechtslage in Tschetschenien der größte Problembereich. Praktisch täglich kommt es zu neuen schweren Menschenrechtsverletzungen vonseiten russischer Sicherheitskräfte und der Rebellen, aber zunehmend auch von den neu aufgebauten so genannten Sicherheitskräften des amtierenden tschetschenischen Präsidenten Kadyrow. Das Verfassungsreferendum ist durchgedrückt worden. Die so genannten Präsidentenwahlen waren Scheinwahlen. Das Klima der Straflosigkeit dauert weiter an. Erschreckend ist auch der krasse Gegensatz zwischen der Darstellung der Politik in Tschetschenien durch die russischen offiziellen Stellen, die sagen, man habe die Lage stabilisiert und die Sicherheitsprobleme weitgehend überwunden, und der praktischen Realität, die vor Ort vorzufinden ist. Verschleppungen und Folter von seiten der Behörden bleiben an der Tagesordnung. Die Menschenrechtslage in Tschetschenien und in Inguschetien hat sich verschlechtert. Nach den Aussagen von Memorial hat sich die Menschenrechtssituation insgesamt nicht verbessert. Vielmehr hat sich das Problem verlaRudolf Bindig gert. Die früheren groß angelegten Säuberungen sind durch kleine, gezielte, in der Summe aber gleich bleibende Aktionen ersetzt worden. Die Anzahl der verschwundenen Personen ist so hoch wie vor eineinhalb Jahren. Das muss sich ändern. ({3}) Wir müssen mit unseren Möglichkeiten überall auf eine Veränderung hinwirken. Es ist notwendig, dass diese Frage bei allen Gesprächen, die auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs sowie der Außenminister geführt werden, angesprochen wird. Ich sage durchaus: Wenn der Eindruck entsteht, das würde dort nicht intensiv angesprochen und debattiert - wobei wir allerdings hören, dass das Thema immer angesprochen wird -, muss man eben klarer sagen, was denn dort angesprochen worden ist, um das für die Öffentlichkeit transparent zu machen. ({4}) Ich weiß, dass der Regierungskoordinator für die Beziehungen zur Russischen Föderation, Gernot Erler, dieses Thema anschneidet, wenn er in Moskau Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft und den Offiziellen führt. Auch ich habe im Auftrag des Europarates eine Reihe von Berichten angefertigt und durch diese Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen die Informationslage in Europa mit beeinflussen können. Leider muss ich allerdings sagen, dass ich in der letzten Zeit durch die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion, ein Pairing-Abkommen für internationale parlamentarische Verpflichtungen abzuschließen, bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe behindert werde. ({5}) Sie sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken, ob man das nicht ändern kann. ({6}) Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kritik an der Menschenrechtssituation in Tschetschenien gegenüber den russischen Politikern weitergeführt und noch verstärkt werden muss. ({7}) Die Misshandlungen und Tötungen von Menschen in Tschetschenien müssen aufhören. Die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Für den Tschetschenienkrieg muss eine politische Lösung gefunden werden, die nicht darin bestehen kann, mit Gewalt ein einseitig moskauorientiertes Konzept durchzusetzen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisher herrschte in der deutschen Russlandpolitik weitgehend Übereinstimmung. Wir wollten und wollen die Reformen dort, die Transformation zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft sowie zur Wahrung der Menschenrechte unterstützen, entsprechende Anstrengungen fördern und natürlich auch kritisieren, wenn von diesem Weg abgewichen wird. Vor diesem Hintergrund haben Sie, Herr Kollege Erler, die Frage gestellt, ob es angemessen sei, die Bundesregierung zu lauterem Reden aufzufordern. Es geht um die auffälligen Unterschiede in der Lautstärke bei dem, was die Bundesregierung macht. Denken Sie zum Beispiel an die Reaktionen auf die Entwicklung in Österreich und Italien. Zu den aktuellen Vorfällen in Russland stellen wir jetzt ein eher beredtes Schweigen fest; das kann ja einen eigenen Symbolgehalt bekommen. Dabei müssten wir gemeinsam Sorge um Russland haben; denn wenn ich die Debatte richtig verfolge, teilen auch Sie diese Einschätzung ein wenig. Herr Kollege Volmer, Sie haben gesagt, die Bundesregierung spreche die Fragen der Menschenrechtsverletzungen und der Demokratieentwicklung nicht offen, sondern eher diplomatisch an. Dann wäre es ein schönes diplomatisches Signal gewesen, das auch sicherlich registriert worden wäre, wenn die Bundesregierung diese Aktuelle Stunde zum Anlass genommen hätte, auf der Kabinettsbank entsprechend mit Ministern vertreten zu sein. ({0}) Herr Kollege Erler, Sie haben die russischen Kollegen zitiert, die von drohenden Schauprozessen und von möglichen Entwicklungen hin zu einer Diktatur sprechen. Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Bindig haben beide - dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken klare und deutliche Worte zu den Menschenrechtsverletzungen und zur Lage in Tschetschenien sowie zu den Vorfällen um Chodorkowski gefunden. In diesem Punkt sind wir uns einig. Aber, Herr Bury, solche klaren Worte hätten wir gern von der Bundesregierung gehört. ({1}) Stattdessen haben Sie davon gesprochen, dass Sie die Entwicklung aufmerksam beobachteten und ein rechtsstaatliches Verfahren erwarteten. Als hätte der bisherige Gang des Verfahrens nicht längst das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit bewiesen! Dazu kein Wort von der Bundesregierung! ({2}) Der liberale Politiker Boris Nemzow beschreibt die gegenwärtige Situation wie folgt: „Russland wird nur selten glücklich, aber wir hatten eine Chance. Jetzt verlieren wir sie.“ Was hätten unsere Kollegen wie Grigori Jawlinski, Nemzow oder Ryschkow gesagt, wenn sie Ihren Erklärungen heute hier im Deutschen Bundestag hätten zuhören können? Ich glaube, sie wären entsetzt und enttäuscht gewesen, weil sie sich von einem wichtigen Partner Russlands im Stich gelassen gefühlt hätten, der zu den Vorfällen, die sie bitter besorgt machen, einfach schweigt und eine so blasse und nichts sagende Erklärung abgibt, wie Sie es heute für die Bundesregierung getan haben. ({3}) Man muss die Besorgnis haben, dass es so etwas wie einen westlichen Deal, an dem ja nicht nur die Bundesregierung beteiligt ist, gibt, der besagt: Wir schweigen zur Entdemokratisierung Russlands, dafür garantiert Putin dort Stabilität. Wir kritisieren die Tschetschenienpolitik nicht länger, dafür macht Russland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus mit. Wir sind Russland beim Zugang zu den globalen Wirtschaftsorganisationen behilflich, dafür können wir Öl und Gas importieren und in Sibirien investieren. Eine solche Rechnung würde aber nicht aufgehen, wenn man sie denn machte: Auf längere Sicht könnte der Westen bei einem Sieg der Silowiki nicht sicher sein, ob nicht der alte imperiale Staat, die alte aggressive, antiwestliche Supermacht, wiederbelebt würde. Dies sagt nicht jemand, der aus dem kalten Krieg übrig geblieben ist, sondern das hat unser Kollege Wladimir Ryschkow, Mitglied der Duma, in einem Interview der „Zeit“ zum Ausdruck gebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles sollten wir ernst nehmen. Deshalb ein paar ganz klare Forderungen zum Schluss: Leisetreterei hilft dem Westen nicht. Wir müssen für die Liberalisierer in Russland klar Partei ergreifen. ({4}) Unsere Forderungen müssen lauten: wirklich freie Parlamentswahlen im Dezember, private Fernsehstationen, eine unabhängige Justiz, freies Unternehmertum, Bürgerrechtsvereinigungen und Zivilgesellschaft. Nicht Putin, meine Damen und Herren, sondern nur ein demokratischeres Russland kann auf Dauer Stabilität garantieren. Für diejenigen, die vor allem an Wirtschaftsfragen interessiert sind, füge ich hinzu: Nur ein demokratischeres Russland kann in Zukunft auch den steten Fluss von Öl und Erdgas garantieren. Diese Forderungen sind nicht weltfremde Illusionen, sondern echte Realpolitik im Interesse unseres Landes. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. - Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren ({0}) - Drucksache 15/1976 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Joachim Stünker.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Opfer einer Straftat kann die Durchführung des daraus resultierenden Strafverfahrens eine eminent große Belastung bedeuten. Es ist deshalb Aufgabe eines sozialen Rechtsstaates, nicht nur darauf zu achten, dass die Straftat aufgeklärt und Schuld oder Unschuld des Beschuldigten in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt wird, sondern ebenso darauf, dass die Belange des Opfers gewahrt bleiben. Die mit dem vorliegenden Opferrechtsreformgesetz vorgeschlagene Reform verfolgt daher das Ziel, in dem Strafverfahren die Interessen der Opfer noch stärker zu berücksichtigen. Die Reform setzt daher die mit dem Opferschutzgesetz aus dem Jahre 1986 begonnene Gesetzgebung, die mit dem Zeugenschutzgesetz im Jahre 1998 und der Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs im Jahre 1999 ergänzt worden ist, zur Verbesserung der Rechte der Verletzten fort. Mit dem genannten Opferschutzgesetz erfolgte seinerzeit die Abkehr von der bis dahin gängigen Betrachtungsweise im Strafprozess, wonach die Opfer im Strafverfahren vornehmlich die Stellung als Zeuge und damit letztlich als Beweismittel innehatten. Der Ihnen jetzt vorliegende Entwurf eines Opferrechtsreformgesetzes nimmt zudem Impulse auf, die der Rahmenbeschluss der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. März 2001 für die nationale Gesetzgebung entwickelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole, was ich bereits am 8. Mai dieses Jahres in diesem Hohen Hause gesagt habe: Lassen Sie uns die Aufgabe der Verbesserung des Opferschutzes gemeinsam angehen. Sie ist es wert - im Interesse der Opfer von Straftaten -, dass sie gemeinsam gelöst wird. ({0}) Alle Fraktionen des Hohen Hauses stimmen darin überein, dass wir die Rechte der Opfer von Straftaten im Strafverfahren verbessern wollen. Die Unionsfraktion hatte bereits im Mai dieses Jahres - ich habe darauf hingewiesen - ein entsprechendes Opferschutzgesetz eingebracht. Die Regierungskoalition und die Bundesregierung folgen nunmehr mit dem vorliegenden Opferrechtsreformgesetz. Wir stimmen, wie ich denke, aber auch darin überein, dass es kein Urheberrecht auf den Opferschutzgedanken gibt. Ich appelliere daher - wie schon vor einigen Monaten - an Sie: Lassen Sie uns eine angemessene sachliche Debatte führen, eine Debatte frei von Gezänk und politischer Rechthaberei. Die Aufgabe, die wir zu lösen haben, ist anspruchsvoll; darauf werde ich noch zurückkommen. Wir sollten daher gemeinsam nach der besten Lösung suchen. Lassen Sie mich in der ersten Lesung kurz die drei zentralen Ansatzpunkte unseres Entwurfes zusammenfassend skizzieren: Erstens. Wir wollen die Belastungen für das Opfer durch das notwendige Strafverfahren so gering wie möglich halten. Wir wollen, dass die Verfahrensrechte des Opfers im Strafverfahren gestärkt werden. Zu diesem Zweck sollen wiederholte Vernehmungen des Opfers, die ganz besondere Belastungen hervorrufen können, so weit wie möglich vermieden werden. Dem Opfer soll eine stärkere aktive Teilnahme am Verfahren ermöglicht werden. Hierzu dienen insbesondere die vorgeschlagenen Verbesserungen bei der Nebenanklage und beim Opferanwalt. Zweitens. Wir wollen für das Opfer, das ja zugleich Verletzter ist, die Möglichkeit verbessern, bereits im Strafverfahren vom Angeklagten Ersatz für den aus der Straftat entstandenen Schaden zu verlangen und diesen gleichzeitig durchzusetzen. Der Entwurf enthält daher in einem, wie ich finde, in sich geschlossenen Konzept die notwendigen Regelungsvorschläge für eine spürbare Verbesserung und Stärkung des in der Strafprozessordnung bereits heute möglichen Verfahrens, das aber wenig angewendet wird. Hierdurch werden zugleich die Ressourcen der Justiz effizienter genutzt; denn wenn das Opfer als Verletzter bereits im Strafverfahren einen vollstreckbaren Titel erlangt, wird ein nachfolgender Zivilprozess überflüssig. Drittens. Wir wollen eine verbesserte Information des Opfers als des Verletzten über seine Rechte und den Ablauf des Strafverfahrens. Hierzu dienen weit gehende Mitteilungen über eine Einstellung des Verfahrens, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens, den Sachstand des Verfahrens einschließlich des Termins der Hauptverhandlung sowie über freiheitsentziehende Maßnahmen. Weiter wird die Verpflichtung zur Unterrichtung des Opfers über seine Schutz-, Beistands-, Informations- und Verfahrensrechte erheblich ausgebaut. Die Quintessenz ist: Der Verletzte als Opfer einer Straftat soll, wenn es für das Verfahren nicht notwendig ist, dem Täter im Strafverfahren nicht wieder begegnen müssen, wenn er nicht will. Warum ist die Implementierung eines verbesserten Opferschutzes in die Strafprozessordnung - ich habe es bereits mehrfach angedeutet - so kompliziert, schwierig und problembehaftet? Ich möchte auf die Beantwortung dieser Frage mein Augenmerk lenken. Die Schwierigkeiten liegen darin begründet, dass die Strafprozessordnung in ihrer seit Jahrzehnten fortentwickelten Grundkonzeption vornehmlich die Interessen des Beschuldigten und das Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung austariert. Die Strafprozessordnung wird zu Recht als die Magna Charta des Beschuldigten bezeichnet. Dem widerstreiten folgerichtig in vielen Bereichen der einzelnen Verfahrensabschnitte eines Strafverfahrens die, wie wir alle wissen, berechtigten Interessen des durch die Straftat Verletzten. Der Deutsche Anwaltverein weist in seiner Stellungnahme daher zu Recht darauf hin, dass auch bei einer zunehmend größeren Bedeutung des Opferschutzes die grundlegenden Prozessrechte eines Beschuldigten, insbesondere die Unschuldsvermutung und der Anspruch auf ein rechtsstaatliches und faires Verfahren, in ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden dürfen. ({1}) Ebenso zutreffend weist der Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme darauf hin, dass durch die Stärkung der Beteiligungsrechte des Opfers am Strafverfahren die Kernaufgabe der Justiz, nämlich schnellstmöglich unter eigener Überzeugungsbildung zu einer Entscheidung zu gelangen, die vom Täter und vom Opfer akzeptiert werden kann, nicht beeinträchtigt werden darf. Ich stimme auch zu, dass gerade die konsequente und zeitnahe Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches als solchen einen präventiven Opferschutz gewährleistet und damit letztendlich zugleich auch eine Genugtuungsfunktion erfüllt wird. Ich denke, das alles dürfen wir, wenn wir in den vor uns liegenden Wochen und Monaten in den Ausschussberatungen über Opferschutz reden, angesichts der Systematik der Strafprozessordnung nicht aus den Augen verlieren. Ich komme nun zu der Frage, die uns alle umtreibt und die ich eben auch schon angesprochen habe: Wie lösen wir das Problem der Umsetzung, dass das Opfer einer Straftat bereits im Strafprozess einen Schadensersatzanspruch, einen Strafanspruch, realisieren kann? In einer grundlegenden Entscheidung hat der Bundesgerichtshof bereits vor einigen Jahren Ausführungen dazu gemacht, die ich hier zitieren darf. Dort heißt es nämlich: Es ist zu vermeiden, dass sich ein Angeklagter - zumal nach einem Geständnis -, um keine Zweifel an seiner Einsicht, Reue und seinem Wiedergutmachungswillen aufkommen zu lassen, gedrängt sieht, einen in diesem Verfahren verfolgten Anspruch - auch wenn ihm die Höhe der Forderungen zweifelhaft erscheint - unbedingt anzuerkennen. Der Richter darf daher auch nicht den Anschein eines unsachlichen Drucks auf den Angeklagten, zum Beispiel zum Abschluss eines Vergleichs, entstehen lassen. Indem ich das zitiere, möchte ich verdeutlichen, in welchem Spannungsverhältnis diejenigen, die mit dem Gesetz hinterher zu arbeiten haben - sprich: Staatsanwaltschaft, Justiz, die entsprechenden Organisationen, die im Bereich des Täter-Opfer-Ausgleichs arbeiten, und andere -, stehen. Deshalb müssen wir ihnen ein Instrumentarium an die Hand geben, mit dem sie in diesem Spannungsverhältnis, das dort nun einmal gegeben ist, arbeiten können. All diese mahnenden, aber, wie ich meine, doch sehr prononciert ausgesprochenen Hinweise werden wir jetzt in den Beratungen zur Gesetzgebung im Ausschuss und insbesondere auch in der Sachverständigenanhörung sowie in den Berichterstattergesprächen zu beachten haben. Wir müssen dabei den gemeinsam als richtig erkannten Mittelweg zu dem gemeinsam als richtig erkannten Ziel finden und diesen einschlagen. Zusammengefasst kann man sagen: Die Wahrung der rechtsstaatlichen Rechte des Täters, die berechtigten Interessen des Opfers und die Durchsetzung des Strafanspruch des Staates müssen miteinander kompatibel gemacht und vereinbart werden. Ich bin davon überzeugt, dass wir diesen Mittelweg mit der entsprechenden Unterstützung der Fachöffentlichkeit in den Beratungen hier im Parlament finden und auch gehen werden. Wenn man die beiden jetzt vorliegenden Gesetzentwürfe, die ich genannt habe - den der Union vom Mai, und den, den wir jetzt vorgelegt haben -, nebeneinander legt und miteinander vergleicht, dann stellt man fest, ({2}) dass die rechtspolitische Philosophie, die darin zum Tragen kommt, identisch ist und dass die einzelnen Regelungsvorschläge, die dort gemacht werden, nicht tief greifend oder gar unüberbrückbar differieren. Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass es eigentlich nur zwei oder drei Punkte gibt, die wirklich sehr unterschiedlich gesehen werden. Ansonsten gibt es hier eine weitgehende Übereinstimmung. Wir haben ja auch seit Jahren an diesem Themenbereich gearbeitet. Ich habe bereits im Mai auf unser Eckpunktepapier - es ist mittlerweile drei Jahre alt - hingewiesen. Lassen Sie mich unter dem Eindruck der gestrigen Sachverständigenanhörung - einige waren dabei - auf einen Sachverhalt hinweisen, der mir etwas Sorge macht und worüber wir nachdenken müssen. Uns liegen mittlerweile insgesamt vier Gesetzentwürfe zur Änderung der Strafprozessordnung vor: das Justizmodernisierungsgesetz, das Justizbeschleunigungsgesetz und zwei Entwürfe eines Opferrechtsreformgesetzes. In absehbarer Zeit wird als fünfter Entwurf - das habe ich Ihnen schon angekündigt; dieser Entwurf wird noch in diesem Herbst eingebracht - ein umfassender Gesetzentwurf zur Änderung der Strafprozessordnung als solcher vorliegen. Dies kann im Ergebnis Verwirrung schaffen. Deshalb wird es unsere Aufgabe sein, diese Änderungen zusammenzuführen. Ich hoffe, dass wir diese Arbeiten gemeinsam möglichst zügig abschließen können: im Interesse des Rechtsstaates, im Interesse des rechtsstaatlichen Schutzes der Opfer, aber auch im Interesse der Strafverfolgung in unserem Land. Schönen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Kauder.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als ich zum Rednerpult ging, bekam ich auf den Weg mit: Das alles können Sie wohl nur noch loben. Keiner in diesem Haus will, dass Opfer von Gewalt und Straftaten nicht zu ihrem Recht kommen. Jeder von uns will, dass die Belastungen von Opfern im Strafverfahren möglichst gering sind. Aber, Herr Stünker, erlauben Sie mir einen Hinweis: Es kann nicht angehen, dass Sie sich immer wieder als opferpolitischer Bedenkenträger outen. ({0}) Man muss Opferschutz nicht nur wollen, sondern ihn auch so umsetzen, dass er zu einem abgeschlossenen System wird, damit man den Opfern nicht Steine statt Brot gibt. ({1}) Die Frau Bundesjustizministerin hat auf der Homepage ihres Ministeriums am 5. November veröffentlicht: Der Oppositionsentwurf beinhaltet kein abgeschlossenes Gesamtkonzept und greift bei einzelnen Regelungen zu kurz. ({2}) Sie haben aus unserem Entwurf - zu Recht - die Regelungen zum Hinterbliebenenanwalt übernommen. Hier werden wir zustimmen. Das ist ein weiterer Vorteil für die Hinterbliebenen von Tatopfern. Sie haben von uns auch übernommen, dass Bild-Ton-Aufzeichnungen der Vernehmungen von Tatopfern für den Beschuldigten gesperrt werden. Sie haben unsere Idee übernommen, dass das Adhäsionsverfahren, also das Verfahren, mit dem Opfer in Strafverfahren Entschädigung bekommen, reformiert werden muss. Aber Sie haben es so gemacht, dass es nicht praktikabel ist. Sie wollen das Adhäsionsverfahren kaputtsanieren. ({3}) - Herr Kollege Stünker, auch Sie werden es vielleicht noch verstehen. Wenn nicht, verweise ich Sie auf einen Siegfried Kauder ({4}) wissenschaftlichen Beitrag, den ich demnächst veröffentliche. In Ihrem Vorschlag wird der Rechtsmittelweg, den Sie im Adhäsionsverfahren eröffnen, aufgespalten: Ein Teil landet zum Beispiel beim Oberlandesgericht, ein anderer Teil beim Landgericht. Dabei wurde noch übersehen, dass § 305 StPO korrigiert werden muss, weil sich sonst ein Widerspruch im Ablauf ergibt. So, wie Sie das Adhäsionsverfahren sanieren und reformieren wollen, wird es in der Praxis nicht gehen. Ich weiß, dass man im Ministerium darüber nachdenkt, wie man diesen Mangel beheben kann. ({5}) Wenn Sie schon davon sprechen, dass Ihr Entwurf ein abgeschlossenes Gesamtkonzept sei, dann hätte ich erwartet, dass Sie sich Gedanken nicht nur zum Erwachsenenstrafverfahren machen, sondern insbesondere über die Stellung des Opfers im Jugendstrafverfahren nachdenken. Das gehört zu einem abgeschlossenen Konzept dazu. ({6}) Die Nebenklage im Jugendstrafverfahren ist nicht zugelassen. ({7}) Überlegen Sie sich, welche fatalen Folgen das für das Opfer hat! Das Opfer im Jugendstrafverfahren bekommt keinen Opferanwalt auf Staatskosten wie ein Kind als Zeuge im Erwachsenenstrafverfahren, ({8}) sondern nur einen Zeugenbeistand. Diesen Zeugenbeistand muss das Opfer aus eigenen finanziellen Mitteln bezahlen. Ist es das, was Sie beim Opferschutz wollen, oder ist es das nicht? Im Jugendstrafverfahren erhält der Zeugenbeistand nicht einmal uneingeschränkte Akteneinsicht, weil diese nach § 406 e StPO beschränkt werden kann. Die Nebenklage gegen Heranwachsende ist zugelassen, ({9}) das heißt: volle Opferrechte im Verfahren gegen 18- bis 21-Jährige. Aber das Adhäsionsverfahren - also die Möglichkeit, Schmerzensgeld geltend zu machen - ist nur dann zugelassen, wenn sich am Ende des Prozesses herausstellt, dass man Erwachsenenstrafrecht anwendet. Wird Jugendstrafrecht angewendet, steht das Opfer schutzlos da. ({10}) Mit einem Problem scheinen Sie sich nicht befassen zu wollen, weil es so schwierig ist, Herr Stünker - schwierige Probleme klammert man lieber aus, als dass man sie löst -: ({11}) Machen Sie sich einmal Gedanken, welche Position das Opfer einer Straftat im so genannten verbundenen Verfahren hat! Das verbundene Verfahren ist ein Strafverfahren gegen Heranwachsende, gegen Jugendliche und gegen erwachsene Straftäter. Wenn diese drei Gruppen eine Straftat gemeinsam begangen haben, wird das Tatopfer so behandelt, als wenn es sich um ein nicht öffentliches Verfahren gegen einen Jugendlichen handelte. Das heißt also, im verbundenen Strafverfahren steht das Tatopfer schlechter da, als wenn nur ein Verfahren gegen einen Erwachsenen durchgeführt werden würde. Das Tatopfer ist in diesem verbundenen Verfahren völlig schutzlos; seine Rechte werden nicht berücksichtigt. Sie sehen also, meine Damen und Herren: Opferschutz wollen ist die eine Seite, ihn aber konsequent und in einem geschlossenen Konzept umzusetzen ist die andere Seite. Das ist Ihnen mit Ihrem Entwurf nur insoweit gelungen, als Sie Vorstellungen aus unserem Entwurf übernommen haben. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der die Belange der Opfer im gesamten Strafprozessverfahren umfassend verbessert, ohne dabei berechtigte Interessen der Angeklagten zu vernachlässigen. Die Menschen, um die es geht, meist Frauen und Kinder, haben schlimme Gewaltverbrechen erlitten, grausamste Verletzungen an Körper und Seele, sexualisierte Gewalt, Zwangsprostitution. An den Folgen der Taten tragen sie meist noch Jahre später, oft sogar ein Leben lang. Darum ist es notwendig, die Folgen einer Tat für die Opfer verstärkt in das Blickfeld zu rücken, um das gesamte Ermittlungs- und Strafverfahren so zu gestalten, dass es für sie ohne zusätzliche Verletzungen abläuft und sie die Tat nicht doppelt erleben müssen. Für viele Opfer - insbesondere die Kinder stellt die nochmalige Konfrontation mit den Tätern im Ermittlungsverfahren oder als Zeuge bzw. Zeugin vor Gericht eine unzumutbare Belastung dar. Darum wollen wir eine Vernehmung insbesondere der kindlichen Opfer aus einem Nebenraum heraus per Videostandleitung ermöglichen. Zum Teil wird das jetzt schon gemacht, aber wir stellen das jetzt auf eine andere Grundlage. Darin sind wir uns auch hier im Hause einig. Allerdings sieht unser Vorschlag vor, dass der oder die Vorsitzende im Gerichtssaal verbleibt und nur das Kind außerhalb des Sitzungssaales vernommen wird. Wir ziehen dieses Verfahren dem Mainzer Modell vor, das Sie, meine Damen und Herren von der CDU, in Ihrem Gesetzentwurf präferieren, wonach der Richter oder die Richterin und das Opfer außerhalb des Gerichtssaals sind. Wir glauben, dass es für die Unmittelbarkeit des Verfahrens in der Hauptverhandlung besser ist, wenn der Richter oder die Richterin im Saal bleibt. Ich persönlich bin sehr froh, dass die Herausgabe von Videobändern über die Vernehmung von Kindern an die Täter nicht erfolgt und nur den zur Akteneinsicht Berechtigten diese Aufzeichnungen überlassen werden. Das verhindert, dass sich Täter jederzeit an dem durch sie verübten Leid auch noch ergötzen können. Daneben wollen wir besonders schutzbedürftige Zeuginnen und Zeugen wie zum Beispiel Opfer von Sexualverbrechen vor Belastungen durch mehrfache Vernehmungen zum gleichen Gegenstand bewahren. So kann künftig direkt beim Landgericht Klage erhoben werden, anstatt wie bisher zunächst beim Amtsgericht und dann erst in zweiter Instanz beim Landgericht. Damit ersparen wir den Opfern die nochmalige Vernehmung in einer etwaigen zweiten Tatsacheninstanz. Wir stärken mit diesem Gesetzentwurf - dabei sollte auch mit der Zustimmung der Opposition zu rechnen sein - konsequent die Rechte aller Opfer von schweren Straftaten im gesamten Verfahren. Prostituierte zum Beispiel, die durch einen Zuhälter ausgebeutet wurden, können sich damit einem Strafverfahren gegen diesen mit der Nebenklage anschließen. Ich glaube, das ist ein großer Erfolg. Die CDU/CSU sieht in ihrem Entwurf lediglich ein Fragerecht von Staatsanwalt und Verteidiger für Straftaten nach § 181 StGB vor. Den Zuhälter zu stärken und ihm mehr Rechte zu geben als seinen Opfern, den Prostituierten - das wollen wir nicht. ({0}) Prostituierte schlechter zu behandeln als alle anderen Opfer - das ist durch nichts zu legitimieren. Was die körperliche Untersuchung angeht, so haben wir geändert, dass nicht nur bei Frauen die Untersuchung von Personen gleichen Geschlechts vorgenommen wird, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen. Auch Männer können ein Schamgefühl haben, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. Bei berechtigtem Interesse - ich denke dabei gerade an kleine Jungen, die von Männern missbraucht wurden kann es auch wichtig sein, dass das Opfer das Geschlecht der untersuchenden Person selbst bestimmen kann. Das ist Opferschutz, der sich an der Realität orientiert. ({1}) Daneben besteht das grundsätzliche Recht, sich durch eine Person seines Vertrauens in Vernehmungen begleiten zu lassen. Außerdem - Herr Kollege Kauder, Sie haben das schon erwähnt - werden nahe Angehörige von Getöteten künftig im Strafverfahren Anspruch auf die kostenlose Beiordnung eines Opferanwalts - Sie nennen ihn Hinterbliebenenanwalt - haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur wer informiert ist, kann seine Rechte wahrnehmen und sich schützen. Darum werden die Verletzten künftig nicht nur besser über ihre Rechte, sondern auch über den Ablauf des Strafverfahrens informiert, zum Beispiel über Verfahrenseinstellung, Eröffnung der Hauptverhandlung, Haft, Unterbringung, Vollzugslockerungen und - was ich sehr wichtig finde - die Entlassung des Täters. Dies gilt nicht nur auf Antrag, wie Sie es vorsehen, sondern dieses Recht besteht von vornherein. Gerade Opfer von Gewaltverbrechen wollen wissen, ob und wann sich ihr Peiniger auf freiem Fuß befindet. Versetzen Sie sich doch einmal in die Situation einer vergewaltigten Frau, die sich aufgrund des verhängten Strafmaßes sicher fühlt und den Täter in Haft vermutet, diesen aber plötzlich in der Nähe ihrer Wohnung trifft! Ich meine, es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass bei ihr die Angst und das Gefühl von Unsicherheit sofort zurückkehren. Darum ist es wichtig, dass diese Opfer auch über den Termin der Haftentlassung Bescheid wissen. Wir wollen den Opfern schwerer Straftaten zukünftig solche Situationen ersparen. Ich komme zum Schluss zu einem weiteren für die Opfer wichtigen Bereich, dem Ausgleich des Schadens. In den allermeisten Fällen wird durch die Straftat auch ein Schaden verursacht. Gegenwärtig ist es in der Praxis die Regel, dass über die meisten Schadensersatzansprüche der Opfer in einem weiteren zivilrechtlichen Verfahren entschieden wird. Damit sind für die Opfer eine weitere Klageerhebung und wiederum Ladung und Aussagen vor Gericht verbunden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verbessern wir die Möglichkeiten, gleich im Strafverfahren auch Ersatz des aus der Straftat entstandenen Schadens festsetzen zu lassen. Durch die Möglichkeiten eines insofern erweiterten so genannten Adhäsionsverfahrens kann eine zusätzliche Klage vor einem Zivilgericht erspart werden. In Frankreich ist das bereits üblich. Herr van Essen hat in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der CDU/CSU darauf hingewiesen. Ich glaube, das ist ein guter Vorschlag, der zudem sicherlich die Justiz entlasten wird. ({2}) Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung: Der vorliegende Gesetzentwurf enthält so viele Verbesserungen zugunsten der Opfer von Straftaten, dass man mit allem Recht von einer umfassenden Reform der Opferrechte sprechen kann, Herr Kauder. Das Gesetz, das wir jetzt auf den Weg bringen, ist dabei ein wichtiger Schritt im Rahmen der bevorstehenden Gesamtreform der StrafIrmingard Schewe-Gerigk prozessordnung; der Kollege Stünker hat vorhin darauf hingewiesen. Wir haben vereinbart, dass im Dezember eine Sachverständigenanhörung über die einzelnen Punkte, insbesondere über die Regelungen im Adhäsionsverfahren, stattfindet. Es würde mich sehr freuen, wenn wir gerade bei diesem Thema, in dem wir bekanntermaßen in vielen Fragen übereinstimmen, gemeinsam zum Wohle der Opfer und zugunsten eines besseren Opferschutzes entscheiden könnten. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen, FDP.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir unter dem liberalen Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig Ende der 90er-Jahre einige, wie ich finde, wesentliche Fortschritte bei der Stärkung der Opferrechte erzielt haben, gab es leider eine Phase von vier Jahren, in der kaum etwas geschehen ist. Der Täter-Opfer-Ausgleich ist in dieser Zeit nur geringfügig verbessert worden. Trotz vieler Initiativen meiner Fraktion, aber auch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geschah nicht wirklich etwas. Deshalb freue ich mich ganz außerordentlich, Frau Ministerin - ich finde, dass es kein Mangel ist, wenn ein Oppositionspolitiker etwas Positives anspricht -, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf, der unter Federführung Ihres Justizministeriums erarbeitet wurde, wieder einen ganz wesentlichen Schritt nach vorne tun. Die heutige Debatte zeigt, dass wir ein ganzes Stück weiter sind. Alle Fraktionen sind der Auffassung, dass die Rechte der Opfer weiter gestärkt werden müssen und dass wir von dem wegkommen müssen, was beispielsweise die Strafrechtsdiskussion der 70er-Jahre ausschließlich bestimmt hat, nämlich die Rolle des Täters im Strafverfahren. Natürlich müssen wir auch die Rolle des Täters im Strafverfahren berücksichtigen. Herr Stünker hat deutlich gemacht, dass Beschuldigtenrechte nicht eingeschränkt werden dürften. Aber ich sage ganz ehrlich: Wenn ich mir die verschiedenen Möglichkeiten, die Position des Opfers zu stärken, anschaue, dann stelle ich fest, dass es nur ganz wenige Punkte gibt, in denen überhaupt die Gefahr besteht, dass Beschuldigtenrechte eingeschränkt werden. Die Stärkung der Opferrechte bedeutet nicht gleichzeitig die Einschränkung von Beschuldigtenrechten. Die Rechte der beiden Gruppen sollten wir nicht gegenüberstellen. ({0}) Selbstverständlich will niemand Beschuldigtenrechte einschränken, die notwendig sind. Aber wir wollen die Stärkung der Opferrechte. Frau Schewe-Gerigk hat einen Aspekt angesprochen, der auch für mich im Mittelpunkt steht: das Adhäsionsverfahren. Frankreich ist ja nur ein Beispiel dafür, dass das in unseren Nachbarländern ganz selbstverständlich funktioniert. Die deutsche Justiz - ich selbst komme ja aus diesem Bereich - will es aber einfach nicht annehmen. Deshalb werden wir Druck machen müssen, Frau Ministerin, dass dieses Verfahren auch in deutschen Gerichtssälen Praxis wird. Ein weiterer Punkt, bei dem ich Sorge habe, dass er längst nicht so angenommen worden ist, wie wir uns das wünschen, ist die Videovernehmung. Die Videovernehmung und der Gebrauch von aufgezeichneten Vernehmungen können natürlich dazu führen, dass das Opfer nicht noch einmal aussagen muss. Eine einmal auf Video festgehaltene Vernehmung dient dann allen weiteren Vernehmungen als Grundlage. Das ist gerade bei Kindern eine ganz erhebliche Hilfe; denn sie können nach einer einmaligen Vernehmung vergessen und werden nicht mehr durch ständige Vernehmungen an schlimme Taten erinnert. Auch hier werden wir Druck auf die Justiz ausüben müssen, im Interesse der Opfer öfter davon Gebrauch zu machen. Ich weiß, dass über ein paar Punkte noch einmal diskutiert werden muss. Dazu gehören für mich in erster Linie - das möchte ich auch deutlich machen - die Fragen betreffend das Jugendrecht. Ich wiederhole das, was ich bereits während der ersten Lesung des CDU/CSU-Gesetzentwurfes gesagt habe und worauf der Kollege Kauder vorhin aufmerksam gemacht hat: Ich halte es nicht für einen Widerspruch zu dem pädagogischen Ansatz des Jugendrechts, dass sich der bzw. die jugendliche Beschuldigte mit dem Opfer auseinander setzen muss und auch damit, dass das Opfer gegebenenfalls eigene Rechte geltend macht. ({1}) In diesem Punkt halte ich den vorliegenden Gesetzentwurf für dringend nachbesserungsbedürftig. Auch Jugendliche müssen mit dem Opfer und dessen Rechten konfrontiert werden. Ich vermisse sehr - darauf habe ich mehrfach hingewiesen; ich würde mich freuen, wenn hier eine Nachbesserung möglich ist - eine Regelung im Opferentschädigungsgesetz, wonach die psychologische Betreuung der Opfer staatlich getragen wird. Wer die Nach- und Auswirkungen insbesondere eines Mordes an einem Kind in einer Familie kennt, weiß, dass die betroffene Familie lange darunter leidet und dass sie deshalb dringend der Betreuung bedarf. Eine entsprechende Regelung müssen wir in das Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Die Opferschutzverbände wie der Weiße Ring weisen uns darauf ständig und nachdrücklich hin. Ich denke, da muss in den Beratungen nachgebessert werden. ({2}) Ich wiederhole im Namen der Fraktion der FDP: Wir halten das Ganze für eine gute Beratungsgrundlage. Wir alle sollten uns einbringen, um Folgendes zu erreichen: Die Opfer sollen im Strafverfahren nicht das Gefühl haben, noch einmal Opfer zu sein. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Daniela Raab.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist gerade einmal ein halbes Jahr vergangen, seitdem die Unionsfraktion im April den Entwurf eines zweiten Opferschutzgesetzes hier eingebracht hat und schon liegt prompt - so möchte man meinen ein fast gleich lautender Entwurf der Regierungsfraktionen vor. Man freut sich natürlich über so viel Einsicht - das ist ungewöhnlich - von Ihrer Seite. ({0}) - Sie brauchen mich nicht schon jetzt zu unterbrechen. Man liest dieses Werk, freut sich und stellt erstaunt fest: Es wurde abgeschrieben, und das auch noch schlecht. ({1}) Der von der CDU/CSU-Fraktion im April vorgelegte Gesetzentwurf und der Entwurf des Bundesrates aus dem Jahr 2000 haben eigentlich schon frühzeitig den richtigen Weg aufgezeigt. Dies gilt im Übrigen für so vieles, das von uns im Bereich Opferschutz schon früher umgesetzt wurde. Anstatt jetzt aus unserem Entwurf abzuschreiben, hätten Sie damals gleich zustimmen können. ({2}) Warum haben Sie sich überhaupt noch die Mühe gemacht, aus unserem praxisnahen und vor allem opferorientierten Entwurf ein solches Stückwerk zu machen? ({3}) Ich habe noch immer die Hoffnung, dass Sie sich spätestens bei der für Dezember geplanten Expertenanhörung davon überzeugen lassen, dass Sie auch noch die letzten Punkte aus unserem Entwurf in Ihren übernehmen oder Ihre Fehler korrigieren. Zum Adhäsionsverfahren ist schon vieles gesagt worden. Auch in diesem Punkt war unser Entwurf weitreichender und besser; ({4}) aber auch dieser Punkt ist Ihrer halbherzigen Abkupferung zum Opfer gefallen. ({5}) Ich möchte jedoch nicht nur über das sprechen, was Sie schlecht abgeschrieben haben, ({6}) sondern auch über das, was Sie - aus welchem Grund auch immer - gar nicht übernommen haben. ({7}) - Vielen Dank. ({8}) - Das macht ja nichts, Herr Stünker. Wir wissen schon, dass Sie sich schnell aufregen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Stünker, bitte! ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nach Ihrem Entwurf können weiterhin Kopien von Bild- und Tonaufzeichnungen einer Opfervernehmung an den Verteidiger herausgegeben werden. Unser Entwurf sah ganz klar die notwendige Zustimmung des Opfers vor; denn in dessen Persönlichkeitsrecht wird damit nun einmal massiv eingegriffen. Die von Ihnen hier vorgeschlagene Formulierung des § 58 a StPO ist in meinen Augen unklar und beseitigt in keiner Weise die noch immer vorhandenen Missstände. Lesen Sie also besser noch einmal in unserem Entwurf nach! Dann wird es besser! Wir haben außerdem vorgeschlagen - auch Kollegin Noll wird darauf eingehen -, dass kindliche Opferzeugen in einem Prozess vom Vorsitzenden in einem separaten Raum vernommen werden können. Das halten wir für sehr wichtig; denn erste praktische Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz aus dem Jahre 1998 zeigen uns, dass bei der noch immer gängigen Vernehmungspraxis insbesondere den Belangen kindlicher Opferzeugen nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Auch hier gilt: Unser Entwurf beseitigt Lücken, Ihrer nicht. Sie hätten bei Ihren eigenen Ideen durchaus darauf verzichten können, die Normierung eines Rechts- und Kooperationsgesprächs zwischen allen Verfahrensbeteiligten - zum Beispiel im Ermittlungsverfahren - vorzunehmen. Es erscheint beinahe grotesk, die vollkommen unterschiedlichen Interessen quasi an einem runden Tisch schon zu solch einem frühen Zeitpunkt zusammenführen zu wollen. Wozu soll das führen? Der Täter möchte immer im besten Licht erscheinen, um eine für ihn günstige Entscheidung herbeizuführen. Sein Verteidiger wird ihn dabei unterstützen. Staatsanwaltschaft und Gericht sollen die objektive Wahrheit herausfinden und ein materiell richtiges Urteil fällen. Das Opfer erwartet in erster Linie Gerechtigkeit und Genugtuung. In meinen Augen sind das Interessen, die sich kaum zusammenführen lassen. Wieso führt man dann solch eine Sollvorschrift ein? Sie ist in meinen Augen überflüssig. Es ist in der Praxis gängig, dass solche Gespräche - zum Beispiel über die Reduzierung des Verfahrensstoffes - geführt werden. Auch diese Vorschrift ist im Prinzip unnötig. Auch wenn es Herrn Stünker wieder ärgert: Abschreiben ist zwar schön und gut; aber es fällt früher oder späDaniela Raab ter auf. Es ist uns jetzt aufgefallen. Sie haben noch versucht, Ihren Entwurf durch das Einbringen eigener Ideen von unserem unterscheidbar zu machen. Der Versuch ist Ihnen, wenn Sie so wollen, gelungen; denn die Unterschiede sind praxisfern, irrelevant und schlicht unbrauchbar. Zuletzt möchte ich Ihnen aber doch noch ein Lob aussprechen - Sie werden sich wundern -: Sie halten es in diesem Fall wie die Schüler. Sie schreiben von den Besseren ab. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus gegebenem Anlass möchte ich jetzt doch einmal sagen, dass ich insbesondere bei jungen weiblichen Abgeordneten den Zwischenruf „Wer hat Ihnen denn die Rede aufgeschrieben?“ etwas chauvinistisch finde. ({0}) Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Brigitte Zypries. ({1})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Ich kann Ihnen sagen, wer mir das aufgeschrieben hat, wenn Sie es wissen möchten. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt schon mehrfach betont worden, dass wir mit diesem Gesetz die Position der Opfer im Strafprozess eindeutig verbessern. Bei allem Streit, der noch zu Einzelheiten besteht, sollten wir uns in dieser Gesamteinschätzung einig sein und versuchen, den Streit ein bisschen tiefer zu hängen; denn Gegenstand des Entwurfs und Gegenstand der Aussprache sind Menschen und die Rechte der Menschen, die Opfer von Straftaten geworden sind und die im Strafprozess als Opfer einem Beschuldigten, einem Angeklagten gegenüberstehen. Es sind Menschen, denen Leid an Körper, an Seele oder Besitz zugefügt wurde. Sie können erwarten, dass sich der Staat ihrer mit Würde und Respekt annimmt. ({1}) Deswegen meine Bitte: Lassen Sie uns trotz aller noch bestehenden Unterschiede eine angemessene, sachliche Debatte führen und uns bemühen, die Profilierung hintanzustellen. Der Weiße Ring hat in seiner letzten Presseerklärung so schön formuliert: Der Weiße Ring fordert nach der Kabinettsentscheidung für eine nachdrückliche Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren die zügige und konsequente Umsetzung der lange überfälligen Reformen. „Das Thema Opferschutz ist weder regional aufteilbar, noch darf es parteipolitischem Kalkül ausgesetzt werden“ … Dem kann ich mich nur anschließen. ({2}) Es geht um vier wesentliche Punkte, die hier schon genannt worden sind: Erstens. Die Belastungen der Verletzten sollen verringert werden, das heißt, Mehrfachvernehmungen sollen vermieden werden. In dem Entwurf der CDU/CSU ist eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes dahin gehend, dass gleich Anklage beim Landgericht erhoben werden kann, nicht vorgesehen. Wir glauben aber, dass es in bestimmten Fällen ein erheblicher Opferschutz sein kann, wenn wir nur eine einmalige Vernehmung vorsehen. Mit der Revision zum Bundesgerichtshof bleibt auch dann ein Rechtsmittel erhalten. Damit tun wir einen entscheidenden Schritt. So erreichen wir, dass die nochmalige Vernehmung von Opfern vermieden wird. ({3}) Auch in den Fällen, die ihren Ausgang beim Amtsgericht nehmen, werden wir zu einer Reduzierung der Zahl der Vernehmungen kommen. Die Ergebnisse sollen nicht mehr wie bisher nur schriftlich protokolliert werden, sondern wir wollen eine Aufzeichnung auf Tonträger insgesamt, sodass das Ganze auch wieder abgehört werden kann. Zum Streitpunkt „Mainzer Modell, ja oder nein?“. Ich habe schon in der Befragung der Bundesregierung gesagt, dass das 1998 ausdrücklich und sehr umfänglich diskutiert worden ist. Es gab damals gute Gründe, das Modell nicht einzuführen. Diese Gründe bestehen meines Erachtens fort. Insofern gibt es eben ein Dilemma. Auf der einen Seite ist die vertrautere Verhandlungsposition, die Sie auch hervorheben - der Richter sitzt mit dem Kind in einem Raum und kann anders auf das Kind eingehen, wobei ich in Klammern hinzufüge: so er das kann; das muss nicht immer so sein -, und auf der anderen Seite gibt es die rechtsstaatlichen Bedenken, dass nämlich der Vorsitzende die Verhandlung nicht richtig leiten kann, weil er nicht mehr im Saal ist. Es stellt sich die Frage, ob man dem Anspruch der Strafprozessordnung, dass das Gericht aus der Hauptverhandlung heraus urteilen muss, überhaupt noch gerecht werden kann. Das waren die rechtsstaatlichen Bedenken, die seinerzeit gegen das Mainzer Modell sprachen. Wir wollen jetzt etwas anderes einführen. Mir scheint es so zu sein, dass die Länder damit einverstanden sind. Zumindest haben wir von keinem Bundesland die Rückmeldung bekommen, dass es statt unseres Vorschlags lieber das Mainzer Modell will. Es spricht also doch einiges dafür, dass die Länder das inzwischen als richtig erkannt haben. Der zweite Punkt ist die Stärkung der Verfahrensrechte von Verletzten. Der Opferanwalt ist erwähnt worden. Frau Schewe-Gerigk hat auch schon darauf hingewiesen, dass wir die Nebenklagemöglichkeiten für Frauen, die zum Beispiel Opfer von Prostitution oder Zuhälterei geworden sind, erweitern werden. Das ist, wie ich glaube, ebenso wichtig wie die Erweiterung der Rechte ausländischer Opfer. Dies soll dadurch geschehen, dass nebenklageberechtigte Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, Anspruch darauf haben, unentgeltlich einen Dolmetscher zu erhalten, und zwar nicht nur auf Nachfrage. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Möglichkeit, eine Person des Vertrauens in das Verfahren einzuführen, die auch schon bei den Ermittlungsgesprächen als Stütze dabei sein darf. Das kann jemand aus der Familie sein, jemand Befreundetes oder eine Person, die psychologische Beratung wahrnimmt. Da muss dann jede und jeder für sich selber entscheiden, wer es sein wird. Das stellt eine deutliche Verbesserung gegenüber der jetzigen Rechtslage dar. Im Moment ist es ja so, dass derjenige, der die Vernehmung leitet, darüber entscheidet und nicht das Opfer selbst. Diesen Grundsatz drehen wir also um. ({4}) Drittens werden wir die Möglichkeiten des Adhäsionsverfahrens verbessern. Damit wollen wir den Verletzten den zusätzlichen Gang vor das Zivilgericht ersparen. Auch das ist schon mehrfach erwähnt worden. Entgegen der bisherigen Praxis sehen wir eine Art Umkehrung vor, die übrigens in Ihrem Entwurf fehlt. Vielleicht lesen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das noch einmal nach. Unser Ziel ist es, die bisherigen Entscheidungsformen über den zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch hinaus zu erweitern. Wir wollen noch ein Anerkenntnisurteil einführen und auch einen vollstreckbaren Vergleich über die Ansprüche des Verletzten aus der Straftat ermöglichen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Ja, in der Hoffnung, dass ich sie beantworten kann. Falls wieder streitige Absätze zitiert werden, kann ich das nicht garantieren.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Justizministerin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir eine Entscheidung des Gerichts über die Zulassung des Adhäsionsverfahrens nicht brauchen, weil wir bei besonders schweren Straftaten eine besondere Verletztheit des Opfers unterstellen und unser Entwurf in diesen Fällen das Adhäsionsverfahren zwingend vorsieht? Ich bitte auch zur Kenntnis zu nehmen, dass wir deshalb das Problem bezüglich des Rechtsmittelweges, das Sie in Ihrem Entwurf nicht gelöst haben, nicht haben. Ich habe inzwischen selbst Überlegungen angestellt. Es ist außerordentlich schwer, den Rechtsmittelweg in den Griff zu bekommen. ({0}) - Ich kann Sie, Herr Kollege Stünker, beruhigen: Wenn Sie sich vertrauensvoll an mich wenden, werde ich Ihnen die Lösung des Problems nennen. ({1})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Kauder, ich halte es für sehr schwierig, dem Opfer - und damit dem zivilrechtlich Geschädigten - eine bestimmte Verfahrensart aufzuzwingen. ({0}) - Das ist das, was Sie vorsehen; das haben Sie eben referiert. Sie haben gesagt, in bestimmten Fällen muss das Adhäsionsverfahren durchgeführt werden. Das heißt nichts anderes, als dass das - ({1}) - Jetzt kann ich auch noch einmal ausreden. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Justizministerin.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Okay, auf Antrag muss es durchgeführt werden. Deswegen brauchen Sie keine Rechtsmittel. Das ist eine Möglichkeit, die man erwägen kann. Wir meinen, dass das Rechtsmittelproblem lösbar ist, wenngleich ich Ihnen zugestehe, dass wir daran noch arbeiten müssen. Wir haben aber inzwischen vom Deutschen Richterbund die Stellungnahme erhalten, dass er mit diesem Vorgehen sehr einverstanden ist und es für einen richtigen Weg hält, um das Adhäsionsverfahren besser handhabbar werden und häufiger zur Anwendung kommen zu lassen. Das fehlt uns ja im Moment. Wir können in der Anhörung gerne darüber diskutieren, ob wir mit Ihrem Vorschlag weiterkommen oder ob wir es schaffen, die Rechtsmittelfrage so zu regeln, dass der von Ihnen zitierte doppelte Gang zum Gericht nicht erfolgt. Als vierten Punkt würde ich gerne noch die Information der Opfer über ihre Rechte im Strafverfahren und über den Ablauf desselben erwähnen. Wir wollen künfBundesministerin Brigitte Zypries tig informieren über die Einstellung eines Verfahrens, über die Entscheidung der Eröffnung einer Hauptverhandlung, den Sachstand des Verfahrens und auch über die Folgeentscheidungen, das heißt: Wann rückt der dann Verurteilte in Haft ein? Gibt es Vollzugslockerung? Wann wird er entlassen? Das ist ein Punkt, der übrigens auch in Ihrem Gesetzentwurf fehlt, wenn ich das nicht übersehen haben sollte. Aufgrund der Punkte, die ich jetzt genannt habe, meine ich, Herr Kauder, dass man nicht mit einer so pauschalen Kritik sagen kann, dass unser Entwurf nicht umfassender sei als Ihrer. ({0}) Ich glaube, es ist schon richtig, wenn wir sagen, dass wir einige Punkte mehr geregelt haben. ({1}) - Zum Jugendstrafrecht kommt gleich noch etwas. Wir halten die Informationspflicht für wichtig, weil es für die Opfer eine furchtbare Situation sein kann, wenn sie unvorbereitet auf der Straße ihrem früheren Peiniger entgegentreten müssen. Diese Situation wollen wir künftig gerne vermeiden. Wir verbessern also insgesamt die Lage der Opfer. Dabei wahren wir - wie Herr Stünker richtig gesagt hat die Verfahrensrechte der Angeklagten und den Charakter des Strafverfahrens; denn im Vordergrund steht - auch darauf hat Herr Stünker hingewiesen -, den Strafanspruch des Staates durchzusetzen. Auch aus diesem Grund kann dem Opfer durch das Strafverfahren nicht unbedingt geholfen werden, wenngleich es für manche Opfer sicherlich auch zur Verarbeitung der Straftat gehört, den Strafprozess mit zu durchleben. Ich möchte noch auf einige Punkte außerhalb der Gesetzgebung eingehen, die für die Opfer wichtig sind. Das ist zum Beispiel die Betreuung von Zeugen vor und während eines Strafprozesses. Während dieser Zeit sind persönliche Ansprache und Zuwendung ganz besonders wichtig. Das gilt natürlich in besonderem Maße für Opfer von sexueller Gewalt sowie für kindliche und jugendliche Opferzeugen. Diese verdienstvolle Arbeit wird in Deutschland durch Zeugenbetreuungsstellen und Einrichtungen der Opferhilfe in privater und öffentlicher Trägerschaft geleistet. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, all denen, die mit viel Engagement und Idealismus und sehr oft ehrenamtlich daran beteiligt sind, für ihren Einsatz ganz herzlich zu danken und ihnen unsere Anerkennung auszusprechen. ({2}) Danken möchte ich auch den Ländern, die mit finanziellem und organisatorischem Einsatz bei der Einrichtung oder Förderung von Zeugenberatungsstellen sehr viel geleistet haben. Ich ermutige sie, trotz der knappen öffentlichen Haushalte in ihren Bemühungen nicht nachzulassen. Wir haben, um Opfer zu informieren, eine Opferfibel herausgegeben, bundesweit verfügbar und jetzt bereits in zweiter Auflage erschienen. Sie ist auch über das Internet abrufbar. Die Nachfrage nach dieser Opferfibel war sehr groß. Aufgrund der guten Erfahrungen möchte ich nun eine spezifische Opferfibel für kindliche Opfer erarbeiten lassen, die sich damit auseinander setzt: Wie kann man Kindern Strafverfahren näher bringen? Wie kann man ihnen erklären, was dabei auf sie zukommt und worauf sie sich einstellen müssen? Welche Rechte haben sie in diesem Verfahren? Viele kindliche Opferzeugen haben schließlich Hemmungen, über das Erlebte zu sprechen; sie wissen nicht genau, was sie erwartet. Dieses Projekt haben wir in Angriff genommen. Bei der Justizministerkonferenz letzte Woche habe ich die Länder eingeladen, sich daran zu beteiligen - nicht finanziell, sondern an der Erarbeitung der Texte. ({3}) Meine Damen und Herren, ich bin sicher, dass wir mithilfe der Sachverständigenanhörung, die für den 10. Dezember anberaumt ist, einige der noch offenen Punkte klären können. Dann werden wir auch darüber zu diskutieren haben, ob und in welcher Form es einer Nebenklage im Jugendstrafprozess bedarf. Dazu habe ich, ehrlich gesagt, in Ihrem Gesetzentwurf nichts gefunden. Vielleicht habe ich es ja übersehen. ({4}) - Ich habe es als Vorwurf empfunden, dass wir Ihre Texte nicht übernommen hätten. Aber wenn dieser Aspekt in Ihrem Text gar nicht steht, kann ich auch nicht darauf eingehen. ({5}) Wir können gerne darüber diskutieren. Bei den spezifischen Fällen, die Sie, Herr Kauder, genannt haben, müsste man im Zweifel immer Rücksicht auf das schwächste Glied und damit auf den jugendlichen Angeklagten nehmen. Bei der Dreierkombination, die Sie dargestellt haben, sehe ich, ehrlich gesagt, kein Problem; da kann ich Ihre Worte auch nicht als Kritik anerkennen. Ob das generell erforderlich und möglich ist, darüber sollten wir diskutieren. Sie wissen, dass es in der Wissenschaft gewichtige Stimmen gibt, die das aus dem Grundgedanken des Erziehungsanspruchs im Jugendstrafrecht nicht für richtig halten. Von daher werden wir die Sachverständigen brauchen, um in dieses kontrovers debattierte Themenfeld etwas Licht zu bringen. Das wird uns gelingen. Ich kann Ihnen versichern, dass es wie bei allen anderen Gesetzesvorhaben ist: Wir haben ein Interesse an sachgerechten Lösungen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Koalition wird von der CDU/CSU-Fraktion sowohl mit Erleichterung als auch mit Enttäuschung aufgenommen. Die Erleichterung folgt aus der Tatsache, dass eine jahrelange Verweigerungshaltung von SPD und Grünen auf dem Gebiet des Opferschutzes nunmehr beendet ist. Die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes, über das wir heute debattieren, ist über vier Jahre alt; sie hat 1999 begonnen. Sie haben die gesamte vergangene Legislaturperiode vertan, was zur Folge hatte, dass dieser Gesetzentwurf dem Prinzip der Diskontinuität zum Opfer gefallen ist. Auf dem Gebiet des Opferschutzes saßen Sie vier Jahre lang im Bremserhäuschen. Auch darüber muss heute geredet werden. ({0}) Es muss nicht deswegen darüber geredet werden, weil wir das Bedürfnis haben, Recht zu bekommen, sondern deswegen, weil in den vergangenen vier Jahren die Opfer nicht in den Genuss der Rechte und Möglichkeiten gekommen sind, die wir heute fast übereinstimmend für notwendig halten. Die Opfer sind die Verlierer Ihrer Untätigkeit, meine Damen und Herren von Rot-Grün. ({1}) Das muss heute einmal gesagt werden. ({2}) - In den 16 Jahren davor - ich habe das in der letzten Debatte zu diesem Thema gesagt; Herr Kollege van Essen hat es heute angesprochen - ist sehr viel auf dem Gebiet des Opferschutzes geschehen. ({3}) 1994 wurde das Opferschutzgesetz verabschiedet und 1998 gab es die Regelungen zum Zeugenschutz. Lesen Sie es nach! CDU/CSU und FDP waren immer die führenden Fraktionen auf dem Gebiet des Opferschutzes. ({4}) Bis auf Kleinigkeiten haben Sie bislang nichts getan. Das ist die reine Wahrheit. ({5}) Opferschutz ist immer eines unserer Hauptthemen gewesen. Wir freuen uns wirklich, dass Sie dieses Thema entdeckt haben. Bei aller Freude muss ich dennoch sagen, dass auch Enttäuschung mitschwingt. Es ist schon angesprochen worden: Seit über einem halben Jahr liegt ein umfassender Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vor. Diesen Gesetzentwurf, den wir nie der Diskussion entziehen wollten, haben wir nicht erarbeitet. Er stammt aus dem Bundesrat, initiiert von der sozialdemokratischen Justizsenatorin PeschelGutzeit. Daran schloss sich eine breite Debatte im Bundesrat an. Die Frage ist, warum Sie so lange gebraucht haben, sich dieser breiten Koalition für mehr Opferschutz anzuschließen. Sie regen sich gelegentlich auf, wenn wir Sie kritisieren. Ich will deshalb die Regierung zu Wort kommen lassen. Angesichts dieser Äußerung ist es völlig unverständlich, warum so lange nichts passiert ist. Ich zitiere Frau Zypries aus der Regierungsbefragung vom 5. November 2003: Es liegt zum Beispiel ein Entwurf der CDU/CSUFraktion vor, dessen wesentliche Punkte sich in unserem Gesetzentwurf wiederfinden …

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stünker?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte sehr.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Röttgen, da ich mich sehr erregt habe, als es vorhin um das Thema Abschreiben ging - die Frau Präsidentin hat mich wegen meiner Reaktion gerügt; aber das ist ein anderes Thema -, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mir zu, dass Grundlage Ihres Gesetzentwurfs, den wir im Mai diskutiert haben, der Gesetzentwurf der Freien und Hansestadt Hamburg gewesen ist, der in der 14. Legislaturperiode eingebracht worden ist? Sie haben also diesen Entwurf nur übernommen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich freue mich sehr über diese Frage und möchte darauf in zweierlei Hinsicht antworten. Erstens. Ich habe vorhin ausdrücklich erklärt, dass wir für unseren Gesetzentwurf kein Urheberrecht in Anspruch nehmen. Auch bei der Einbringung im Mai habe ich darauf hingewiesen, dass unser Beitrag in Bezug auf diesen Gesetzentwurf darin liegt, dass wir ihn sozusagen aus der Diskontinuitätsfalle herausgeholt haben und ihn wieder eingebracht haben. ({0}) Ich habe ausdrücklich gesagt, das Positive an diesem Gesetzentwurf ist, dass er von einer breiten Koalition getragen wird. Sozialdemokratisch regierte Länder haben ihn unterstützt. Ich habe in diesem Zusammenhang Frau Peschel-Gutzeit erwähnt, die nicht Mitglied unserer Partei ist. ({1}) - Zum Thema Abschreiben komme ich noch. - Ich habe ferner gesagt, dass darin die Chance liegt, einen Konsens zu finden. ({2}) - Ich bin mit der Beantwortung Ihrer Frage noch nicht fertig. Ich darf Sie also bitten, stehen zu bleiben. - Ich komme gleich darauf zu sprechen, wie Sie auf dieses Angebot reagiert haben. Zweitens. Sie haben der Kollegin Raab in Ihrer Erregung - das habe ich nicht anders erwartet - nicht richtig zugehört. Denn der primäre Vorwurf der Kollegin Raab an Sie war nicht, dass Sie unsere Vorschläge übernommen haben, dass Sie abgeschrieben haben. Unsere Vorschläge werden dadurch nicht falsch, dass Sie sie übernehmen. Der Vorwurf ist, dass Sie schlecht abgeschrieben haben, meine Damen und Herren. Sie haben eine schlechte Kopie erstellt. ({3}) Das ist unser Vorwurf, den wir Ihnen machen, und das ist auch das Enttäuschende. ({4}) - Doch, Sie schaffen es immer wieder, schlecht abzuschreiben. An sich ist das relativ schwer, da gebe ich Ihnen Recht, Herr Kollege.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Röttgen, würden Sie mir bestätigen, dass ich bereits im Mai hier vorgetragen und darauf hingewiesen habe - Sie können das im Protokoll der Sitzung nachlesen; mich erbost der Vorwurf des Abschreibens, weil er in der Tat einfach falsch ist -, dass alle Punkte, die jetzt in Ihrem Entwurf stehen, auch Gegenstand des Eckpunktepapiers sind, das Rot-Grün in der 14. Legislaturperiode vorgelegt hat? ({0}) Können Sie das bestätigen?

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde jetzt nicht wieder durch die Beantwortung Ihrer Frage Redezeit in Anspruch nehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich Sie aus der Debatte am 8. Mai gleich zu Wort kommen lassen. Ich werde die Kritik vortragen, die Sie damals an unserem Entwurf geübt haben, von dem Sie jetzt behaupten, er sei im Wesentlichen identisch mit Ihrem heutigen Entwurf. Ich werde zitieren, wie Sie ihn damals kritisiert haben; denn das ist die Kritik, die Sie eigentlich an dem Entwurf der Bundesministerin üben. Ich betone es noch einmal. Die Bundesministerin sagt, wesentliche Punkte seien identisch. Mit welchen Gründen haben Sie, obwohl die Gesetzentwürfe in wesentlichen Punkten identisch sind, unseren Entwurf damals zurückgewiesen? Von den Gründen haben Sie sich heute nicht distanziert, sondern Sie haben sie gerade sogar wieder vorgetragen. Darum will ich jetzt einmal Stünker zitieren. Der Adressat ist allerdings heute nicht mehr Röttgen, sondern Zypries, weil das Gesetz im Wesentlichen gleich ist. Es geht auch um den Einwand an der Methode, denn Sie haben ja nicht nur den Inhalt, sondern auch die Methode kritisiert. Sie haben nämlich gesagt, man könne das Ganze nicht punktuell machen. Jetzt zitiere ich Stünker aus der Debatte: … denn eine Strafprozessordnung können Sie nicht stückweise ändern, - wie Zypries es jetzt macht sonst passt nachher nichts mehr zusammen … wir werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine umfassende Novellierung der Strafprozessordnung … vorlegen. Meine Damen und Herren, ich frage: Wo ist die umfassende Novellierung der Strafprozessordnung? Die haben Sie nicht vorgelegt. Sie haben sie angekündigt und haben es wieder nicht geschafft. ({0}) Ich zitiere weiter Stünker. ({1}) - Ich zitiere gleich auch Sie, Kollege Montag. Stellen Sie sich schon einmal darauf ein. - Jetzt zitiere ich aber Stünker und richte das damit an Frau Zypries: Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis Steine statt Brot. Das ist blinder Aktionismus, Rechtspolitik, die nicht durchdacht ist und nur tagespolitisch opportun erscheint … Das ist die Kritik, die Sie im Mai 2003 an einem Gegenstand geübt haben, der zu 80 Prozent identisch ist mit dem, was Sie jetzt selber einbringen, meine Damen und Herren. Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem in dieser Frage. ({2}) Auch der Kollege Montag hat Ihnen zugestimmt. Ich zitiere auch ihn: Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so gemacht werden, wie der Kollege Stünker es skizziert hat. Diesen Gesetzentwurf - der im Wesentlichen identisch ist 6474 werden wir mit Ihnen sicherlich nicht weiterverfolgen. Herr Montag, jetzt sind Sie doch bei der Verfolgung dabei. Sie haben ein massives Erklärungsproblem im Hinblick auf die Aussagen, die Sie noch vor einem halben Jahr gemacht haben. Das ist das, was ich kritisiere. Der Ton in der heutigen Debatte, den alle Koalitionsredner angeschlagen haben - sensibel, sachlich, die Opfer betonend -, steht in einem völligen Gegensatz zu dem Ton, den Sie in der Debatte angeschlagen haben, in der wir unseren Gesetzentwurf vorgelegt haben. Das ist Ihr Problem, das haben Sie zu verantworten. ({3}) - Ich bin nicht beleidigt. - Hier geht es um die Art und Weise, wie Rechtspolitik gemacht wird. Das ist meine letzte Bemerkung, mit der ich Kritik üben möchte. Es geht um die Art und Weise, wie Sie Rechtspolitik machen, und die müssen Sie ändern. Es immer das gleiche rot-grüne Muster: Erstens. Die CDU/CSU macht einen Vorstoß. In diesem Fall waren Sie völlig unvorbereitet. Zweitens. Bei besonders guten Initiativen sehen Sie sich veranlasst, besonders heftig zurückzuweisen, und zwar nicht mit Argumenten, sondern mit der Ankündigung eines großes Vorhabens. Dritte Stufe: Sie arbeiten an diesem großen Vorhaben - das nehme ich Ihnen ab - und Sie scheitern daran. Sie haben es doch in Wahrheit wieder nicht geschafft, eine umfassende Novellierung zu erreichen. Sie haben daran gearbeitet, aber Rot und Grün waren sich wieder nicht einig. Viertens. Es kommt am Ende die schlechte Kopie der CDU/CSU-Entwürfe. ({4}) Meine Damen und Herren, hören Sie auf, so Rechtspolitik zu machen. Nehmen Sie nicht immer nur schlechte Kopien, nehmen Sie die besseren Originale der CDU/CSU, wir werden Sie da weiterhin antreiben. Dann wird bei Ihrer Rechtspolitik am Ende wenigstens noch ein bisschen herauskommen. Sie selber kriegen ja nichts hin. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Opferschutz ist eine Thematik, die uns allen wirklich am Herzen liegt. In diesem Punkt besteht, glaube ich, Konsens in diesem Haus. Nur, der entscheidende Anstoß zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren - da können Sie sich drehen und wenden, wie Sie wollen - ist von uns gekommen. Dankenswerterweise haben Sie das selber - Frau Ministerin, jetzt muss ich Sie ansprechen - in der Regierungsbefragung der letzten Woche eingeräumt. Sie haben nämlich wörtlich gesagt - das hat gerade auch mein lieber Kollege Röttgen betont -: ({0}) Es liegt … ein Entwurf der CDU/CSU-Fraktion vor, dessen wesentliche Punkte sich in unserem Gesetzentwurf wiederfinden … Da muss ich Sie fragen: Sie haben sechs Monate dafür gebraucht, um einen ähnlichen Entwurf vorzulegen? Aber ich sage immer: Nicht die Hoffnung aufgeben, besser spät als nie! Leider sind Sie auch in diesem Entwurf in wesentlichen Punkten hinter unseren Forderungen zurückgeblieben; vieles davon haben meine Kollegen bereits erwähnt. Liebe Frau Ministerin, ich lasse nicht locker, wenn es um das Mainzer Modell geht. Ich glaube, niemand in diesem Hohen Hause wird in Abrede stellen, dass die Durchführung eines Strafverfahrens für jedes Opfer eine große Belastung ist. Bei erwachsenen Zeugen ist es hinnehmbar - da stimme ich zu -, dass der Vorsitzende im Gerichtsaal bleibt und die Vernehmung des Zeugen gegebenenfalls über Videotechnik erfolgt. Aber etwas anderes muss gelten, wenn es sich um kindliche Opferzeugen handelt. Ich möchte erneut - deswegen stehe ich heute wieder an dieser Stelle - für diese Personengruppe das Wort ergreifen; denn dort hat der Staat eine besondere Schutzpflicht. Meine Forderung lautet: das so genannte Mainzer Modell durch eine Änderung des § 247 a StPO in die Strafprozessordnung aufnehmen! Ziel ist es, ein persönliches Gespräch mit dem Kind fernab vom Täter durchführen zu können. Das heißt, Richter und Kind gehen in ein separates Vernehmungszimmer. Per Videotechnik wird die richterliche Vernehmung zeitgleich in den Sitzungssaal übertragen. Erst diese menschliche Nähe und diese persönliche Ansprache schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre für das Kind, die es überhaupt in die Lage versetzt, auszusagen. ({1}) Versetzen Sie sich einmal ganz kurz in folgende Lage - oben auf der Tribüne sitzen sehr viele unbescholtene Bürger; davon gehe ich jetzt einmal aus -: ({2}) Sie bekommen per Hauspost ein Schreiben vom Gericht. Darin steht dann: Termin zur Ladung am … Gerichtstermine gehören für die Menschen, die dort oben sitzen, nicht unbedingt zum Alltagsgeschäft. Hier unten unter den Kollegen sitzen Richter und Staatsanwälte - natürlich auch andere Bundestagsabgeordnete -, ({3}) für die das Routine ist. Jetzt seien Sie einmal ganz ehrlich und stellen Sie sich ein achtjähriges Mädchen vor, das Opfer von sexuellem Missbrauch geworden ist, sich nun in einem fremden Umfeld mit vielen Menschen in schwarzen Roben befindet, oftmals lange Wartezeiten während des Verhandlungstermins aushalten muss, in einem separaten Raum sitzt und auf sich gestellt ist. In einer solchen Situation soll das Kind über seine furchtbaren Erlebnisse in eine Kamera sprechen? Ich sage Ihnen klipp und klar: Das ist lebensfremd. ({4}) Das hat nichts mit einer versteckten Kamera aus dem Samstagnachmittagsprogramm zu tun. Das ist für das Kind eine schwierige Situation. Manche Kinder - da gebe ich Ihnen Recht - schaffen das. Aber schwache Kinder werden dazu nicht in der Lage sein. Das ist und bleibt eine große Belastung für kindliche Opferzeugen. Etwas mehr Sensibilität und Feingefühl sind wir den kindlichen Opferzeugen schuldig. Meine Forderung lautet nach wie vor: Eine erneute Traumatisierung durch die Vernehmung muss verhindert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, steter Tropfen höhlt den Stein; ich bleibe am Ball. Denn Opferschutz für Kinder muss heißen: am Wohl des Kindes orientiert. Wer das Kindeswohl ernst nimmt, muss sich unserer Forderung nach Einführung des Mainzer Modells anschließen. Es gibt einen weiteren Bereich, zu dem ich sage: Da geschieht wenig. Das ist das Jugendstrafverfahren. Hier findet kein Opferschutz statt. Ich finde in Ihrem Entwurf nicht eine Zeile dazu. Glauben Sie allen Ernstes, dass es für eine 21-jährige Frau einen Unterschied macht, ob sie von einem Jugendlichen oder von einem Erwachsenen brutal vergewaltigt worden ist? Ich sage: Nein. Die Tatfolgen sind für das Opfer die gleichen. Fakt ist nur, dass die Täter immer brutaler und immer jünger werden. 30 Prozent aller Tatverdächtigen sind Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Alle Abgeordneten bekommen die Tageszeitung „Berliner Morgenpost“ ins Büro. Darin steht in der Überschrift ganz groß: „Polizei ermittelt gegen 1 000 Kinder“. Darunter heißt es: Ein 14-Jähriger erregt die Gemüter der Hauptstadt. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Jungen … vor, er habe seine 21-jährige Freundin zum Teil mit brutaler Gewalt gezwungen … Das ist Realität. Wir müssen also etwas tun. Auch diese Opfer bedürfen des Schutzes durch die Rechtsordnung. Nachdem mein Kollege Herr Kauder Ihnen bereits die handwerklichen Fehler im Adhäsionsverfahren vorgehalten hat, wird es uns vielleicht jetzt gelingen, gemeinsam das Adhäsionsverfahren aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Sehr geehrte Damen und Herren, ich denke, in der Sache sind wir nah beieinander. ({5}) Lassen Sie uns gemeinsam in die kommenden Gesetzesberatungen gehen. Wir werden es gemeinsam schaffen. Wir werden gemeinsam etwas für den Opferschutz tun. ({6}) - Dann sind Sie auf dem falschen Weg. Es tut mir Leid. Ich stehe hinter den Opfern und hinter den Schwachen in der Gesellschaft. Unnachgiebig wiederhole ich meine Forderung: Opfer dürfen nicht erneut zu Opfern werden. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1976 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auf den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und die öffentlichen Finanzen - Drucksache 15/758 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir uns heute mit dem Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse auf den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherung und die öffentlichen Finanzen befassen, so sprechen wir über ein sehr gutes, durchaus beschäftigungswirksames und sozialpolitisch erfolgreiches Reformwerk. ({0}) Wie sah es denn vor 1999 aus? Über 4 Millionen geringfügige Jobs mit steigender Tendenz, ohne soziale Sicherung und ohne wirksame Kontrolle, gepaart mit zunehmender Gefährdung der Vollzeitjobs durch Aufspaltung. Das war damals die Realität. Die Realität war aber auch eine CDU/CSU/FDP-Koalition, die sich nicht in der Lage sah und nicht die Kraft hatte, diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen. ({1}) Mit dem Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hat die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen der weiteren Erosion sozial gesicherter Arbeit und der Flucht aus der Sozialversicherung eine deutliche Grenze gesetzt. ({2}) Unsere Ziele waren die soziale Absicherung der bis dahin ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, die finanzielle Stabilisierung der Sozialkassen, ein Stopp der Aufspaltung von Vollzeitverhältnissen und ein Meldeverfahren, das Übersicht ermöglicht und Schutz vor Missbrauch möglich macht. Ich stelle fest: Mit den verschiedenen Reformschritten haben wir diese Ziele erreicht. Erstmals wurden gut 4 Millionen geringfügige Jobs in die Systeme der sozialen Sicherung einbezogen. Durch das Gesetz selbst konnte die Rentenversicherung jährlich gut 1,9 Milliarden Euro an Mehreinnahmen verzeichnen. Für die gesetzliche Krankenversicherung gab es 2000 und 2001 allein aufgrund der ausschließlich geringfügig Beschäftigten Mehreinnahmen von rund 1,2 Milliarden Euro. Mehr noch: Die unzureichende soziale Absicherung von Frauen, die vor der Reform besonders benachteiligt waren, wurde beseitigt. ({3}) Denn wir haben die Möglichkeit eingeführt, freiwillig in die Rentenversicherung einzuzahlen und auf volle Pflichtbeiträge aufzustocken. Damit haben wir die Chance eröffnet, Lücken in Erwerbsbiografien durch Pflichtbeitragszeiten zu schließen. Es wurde die Gelegenheit eröffnet, Ansprüche auf Rehabilitationsmaßnahmen, Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und vorgezogene Altersrente zu erwerben. Von dieser Möglichkeit machen inzwischen weit mehr als 140 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Gebrauch. ({4}) Gut zwei Drittel davon sind Frauen. Das ist ein Erfolg. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Staatssekretär, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb zu?

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Ich würde sagen, Sie warten noch einen kleinen Moment, dann können Sie die Prozente selbst ausrechnen. ({0}) Das zeigt: Mit der Reform von 1999 ist ein solides Fundament gelegt worden, das durch die Neuregelungen des letzten Jahres, durch Hartz II und durch das Zusammenbringen verschiedener Vorstellungen auch hier aus diesem Hause modernisiert und weiterentwickelt worden ist. ({1}) Mit Hartz II wurde die Arbeitsentgeltgrenze für alle geringfügigen Beschäftigungen von 325 Euro auf 400 Euro monatlich angehoben. Wir haben Neuregelungen für Privathaushalte geschaffen und für die Arbeitgeber - privat wie unternehmerisch - wurde das Beitragsund Meldeverfahren ganz entscheidend vereinfacht und damit entbürokratisiert. Die zentrale Meldestelle bei der Bundesknappschaft erfüllt ihre Arbeit in hervorragender Weise. Sie ist bürgernah und kundenorientiert. Das hilft der Wirtschaft und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gleichermaßen. Und sie gibt uns einen guten Überblick. Seit dem In-Kraft-Treten der Neuregelungen ist ein kräftiger und deutlicher Zuwachs von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zu verzeichnen. ({2}) Basierend auf den Daten der Bundesknappschaft konnte deren Erster Direktor, Herr Georg Greve, am 4. November 2003 bekannt geben, dass die Zahl der gemeldeten Jobs inzwischen auf 5,9 Millionen angestiegen ist. Damit sind in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr gut 1 Million neue Jobs, in den letzten drei Monaten gar 260 000 neue Jobs entstanden. ({3}) Es sind 6,7 Millionen Jobs gemeldet, wenn man die kurzfristigen Jobs und die in den privaten Haushalten hinzunimmt. Es freut uns, von Herrn Greve zu hören, dass eine Aufspaltung regulärer Arbeitsverhältnisse in Minijobs nicht stattgefunden hat. ({4}) Mit den Regelungen für die Jobs in der Gleitzone zwischen 400 und 800 Euro mit gestaffelten SozialversiParl. Staatssekretär Franz Thönnes cherungsabgaben haben wir deutlich gemacht, wie sozial verantwortbar Beschäftigung im unteren Einkommensbereich gestaltet werden kann. Damit ist klar: Es ist uns gelungen, diesen Bereich der Beschäftigungspolitik in seiner gesamten Bandbreite unter Wahrung des notwendigen sozialen Schutzes zukunftsfähig zu machen. Angemerkt sei auch, dass sich allein die Beschäftigungsverhältnisse in Privathaushalten noch nicht so entwickeln, wie wir uns das vorgestellt haben. Gleichwohl sind inzwischen 33 000 Minijobs in Privathaushalten gemeldet. Das sind immerhin schon 6 000 mehr. Auch hier machen sich das einfache Haushaltsscheckverfahren sowie die steuerliche Förderung positiv bemerkbar. Gleichwohl müssen wir an dieser Stelle zusätzliche Anstrengungen unternehmen, müssen mehr über die Optionen informieren und damit auch gleichzeitig einen Weg aus illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit aufzeigen. ({5}) Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang die Erleichterungen im Bereich des Ehrenamtes. Das wird allzu häufig vergessen. So wurde die bekannte Übungsleiterpauschale von 2 400 Euro auf 3 600 Euro im Jahr angehoben ({6}) und damit eine langjährige Forderung, insbesondere aus dem Bereich des Sports, erfüllt. ({7}) Hinzu kommt die erweiterte Steuerfreistellung ehrenamtlicher Tätigkeiten sowie für Aufwandsentschädigungen, die aus öffentlichen Haushalten geleistet werden. Hier sind bis zu 300 Euro im Monat steuerfrei. Aufbauend auf der ersten Reform der so genannten Minijobs durch die SPD-geführte Bundesregierung hat sich durch die Vorschläge der Hartz-Kommission, durch die Aufnahme der Kritiken und der Erfahrungen aus der Praxis und die Einbeziehung politischer Initiativen aus diesem Haus bis hin zu den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses nun eine gute gesetzliche Grundlage für die Regelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse entwickelt. Sie gewährleistet weiterhin die soziale Absicherung einstmals ungesicherter Arbeitsverhältnisse. Sie stärkt Beschäftigungsoptionen im Bereich der geschaffenen Gleitzone, also im unteren Einkommensbereich. Sie ist nutzerfreundlich für die Wirtschaft und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die wachsenden Zahlen belegen das eindeutig. Sie grenzt Missbrauch ein. Sie stärkt das Ehrenamt und ist damit alles in allem ein gutes Fundament für die sozialverträgliche Gestaltung flexibler Beschäftigungsformen. Dies ist und wird auch künftig der Gradmesser für die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung sein. Die Weichen für mehr Beschäftigung sind auf diesem wichtigen Streckenabschnitt der Arbeitsmarktpolitik in die richtige Richtung gestellt. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Thönnes, der vorliegende Bericht ist symptomatisch für die letzten fünf Jahre RotGrün. Hier muss die Bundesregierung wieder einmal einräumen, dass ihre Politik in einem weiteren wichtigen Bereich gescheitert ist. Ich mache eine kurze Zeitreise vier Jahre zurück: Nach der Bundestagswahl im Jahr 1998 erklärte die Bundesregierung die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mit der 630-Mark-Job-Regelung zum großen Reformprojekt. Dieses Projekt wurde in unserem Land über vier Jahre getestet. ({0}) Was war geschehen? In der Hauptsache wurden die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse wie auch die geringfügigen Nebenbeschäftigungen sozialversicherungspflichtig gemacht. Für geringfügig Beschäftigte hatte der Arbeitgeber 10 Prozent an die gesetzliche Krankenversicherung und 12 Prozent an die gesetzliche Rentenversicherung abzuführen. Ziel der Regierung war es, diesen Beschäftigungsbereich abzubauen und den Sozialkassen mehr Einnahmen zu verschaffen. Der Erfolg hielt, was versprochen war, wenn auch nicht von der Bundesregierung, sondern von etlichen Verbänden: Allein innerhalb des ersten Quartals 1999 ist die Zahl der geringfügig Beschäftigten um rund 700 000 auf 5,8 Millionen zurückgegangen. Dies bedeutete einen Rückgang um 10 Prozent im ersten Schritt. Ebenso ging die Zahl der Nebenbeschäftigten in diesem Zeitraum um 600 000 auf 1,1 Millionen Personen zurück. Was im Koalitionsvertrag von 1998 angestrebt war, ist also eingetroffen. Man muss folglich der Bundesregierung zu diesem Erfolg gratulieren, so möchte man im ersten Moment meinen. Aber diese Gratulation fällt bitter aus, wenn man die Folgen für den Arbeitsmarkt, die Wirtschaft und das Ehrenamt betrachtet. Hier zeigt sich, was Rot-Grün vor lauter falsch verstandener Sozialromantik und Ideologie übersehen hat. ({1}) Kanzler Schröder meinte, auf die Opposition nicht hören zu müssen. Mit eiskalter Arroganz verkündete er 1999 im Plenum des Deutschen Bundestages: „Wir brauchen die Opposition nicht zum Regieren.“ Der einzige Erfolg, wie wir heute wissen, war ein unübersichtlicher Berg an Reformplänen - fünf Jahre ruhige Hand. Schnell machte der Spruch „Es gilt das gebrochene Wort“ die Runde. ({2}) Kritische Stimmen aus den eigenen Reihen, etwa von Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis oder dem damaligen Sozialminister Florian Gerster, wurden schlicht ignoriert. Auch die Unionsfraktion hatte bis zum Schluss massiv auf die verheerenden Auswirkungen dieser Neuregelung vom 1. April 1999 - man könnte hier an einen Aprilscherz denken - hingewiesen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, einzelne Branchen sind von dem Prinzip der geringfügigen Beschäftigung geradezu abhängig. Sie brauchen flexible, oftmals zeitlich begrenzte Arbeitsplätze. Dementsprechend groß war auch der Aufschrei in den einzelnen Verbänden: vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, dem Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger und dem Bundesverband Deutscher Anzeigenblätter bis hin zur Land- und Forstwirtschaft und dem gesamten Sozialbereich. Geringfügige Beschäftigung wurde so weit verteuert, dass sie für die Verbände im Endeffekt abgeschafft worden ist. Die zusätzliche Belastung durch die Sozialabgaben wurde nicht durch eine entsprechende Steuerentlastung ausgeglichen. Die Folge waren Zehntausende von Kündigungen allein im Zeitungs- und Anzeigenwesen. ({3}) Somit war eine der großen Hoffnungen der Bundesregierung, es käme zu mehr Festanstellungen, wie eine Seifenblase zerplatzt. Das Institut der deutschen Wirtschaft stellte damals fest, die Neuregelung der so genannten 630-DM-Jobs habe im Jahr 1999 kaum zu festen Stellen geführt. Im Gegenteil, die Auswirkungen für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt waren verheerend. ({4}) Kanzler Schröder wollte sich nach seiner Wahl 1998 am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen. Stattdessen brachte er es zu immer neuen historischen Rekorden, wie wir auch derzeit wieder sehen. Ob nun beim Wirtschaftswachstum oder beim Abbau der Arbeitslosigkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland war stets das Schlusslicht der EU. Es ist schon fast faszinierend, dass die Bundesregierung Probleme zwar erkennt, aber stets falsche Lösungsansätze bringt. ({5}) Richtig erkennt die Bundesregierung in ihrem Bericht, der uns vorliegt, auf Seite 13, dass geringfügige Beschäftigung speziell im Hinblick auf das Alter eine Brücke in den Arbeitsmarkt sei. Als richtig stellt sie auch fest, dass Schüler und Personen mit geringer bis gar keiner Qualifizierung den größten Anteil der geringfügig Beschäftigten ausmachen. Also gerade die Gruppen sind betroffen, die am schwierigsten in den Arbeitsmarkt zu vermitteln sind und somit am ehesten von Arbeitslosenund Sozialhilfe abhängig sind. Angesichts dessen frage ich mich, warum bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen Einschnitte erfolgen sollten. Eine Beschneidung bei diesen Beschäftigungsverhältnissen zwingt diese Gruppen förmlich in die Arbeitslosigkeit. Nicht umsonst forderte Arbeitgeberpräsident Hundt ein Jahr nach Einführung dieser Regelung, sie rückgängig zu machen. Denn die Neuregelung hat zu höheren Kosten für die Unternehmen, zu mehr Bürokratie und zum Verlust von Arbeitsplätzen geführt. Es liegt dabei auf der Hand, dass sich die ehemals geringfügig Beschäftigten zu einem Teil in die Schwarzarbeit geflüchtet haben. Damit haben sie dem Staat, der Wirtschaft, aber auch den Sozialversicherungen, die laut Bundesregierung von der Neuregelung profitieren sollten, beträchtliche Summen entzogen. Auch für die Ehrenamtlichen und die Sportvereine stellte die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse damals geradezu einen Anschlag dar. So wurden ehrenamtlich Tätige bei der Feuerwehr, in Sportvereinen und in Kirchen bis hin zu den Versichertenältesten immer öfter als sozialversicherungspflichtig eingestuft. Freiwilliges Engagement, Fleiß und Arbeitsbereitschaft wurden damals mit Füßen getreten. ({6}) Es stellt sich also die Frage, was die Neuregelung bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen für die Sozialversicherungen und die Haushaltskasse gebracht hat. Sie hat zum einen zu gewissen Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungen geführt, zum Beispiel zu Mehreinnahmen der Rentenkasse von etwa 1,9 Milliarden DM im Jahr 1999 ({7}) bzw. circa 2,85 Milliarden DM in den Folgejahren sowie zu Mehreinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung von 1,5 Milliarden DM bzw. 2,25 Milliarden DM in den Folgejahren. Diesen Mehreinnahmen stehen jedoch kassenmäßige Steuermindereinnahmen einschließlich des Solidaritätszuschlages zum Beispiel von allein 1,37 Milliarden DM im Jahr 1999 gegenüber. Das macht rund 625 Millionen DM für den Bund, 553 Millionen DM für die Länder und 195 Millionen DM für die Gemeinden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bereits in den Jahren 1999 und 2000 haben ich und meine Kollegen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Bundestag auf dieses Ungleichgewicht hingewiesen. Die Haushalte und kleinen Unternehmen werden übermäßig belastet, während sich große Unternehmen beim Energieverbrauch selbst entlasten können. Mein Fazit lautet: Schröder ist als umgedrehter Robin Hood aufgetreten - er schont die Großen und plündert die Kleinen. ({8}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich seit der Einführung der Neuregelung im Jahr 1999 stets um Verbesserungen bemüht, angefangen vom Antrag „630-DMGesetz und Neuregelung der Scheinselbstständigkeit zurücknehmen“ und die Anträge „Kurzfristige Beschäftigungen im Rahmen des 630-DM-Gesetzes entlasten“ und „Arbeitnehmer entlasten - Vorfahrt für mehr Beschäftigung“ in der 14. Wahlperiode bis zum Entwurf des „Kleine-Jobs-Gesetzes“ in der 15. Wahlperiode. Stets kamen von Rot-Grün zuerst Bedenken. Doch letztlich hat sich die Union beim Bereich Minijobs durchgesetzt. Mittlerweile gilt, dass bis zu einer Einkommensgrenze von 400 Euro im Monat der Arbeitnehmer bei einer gering entlohnten Beschäftigung brutto für netto erhält. Das gilt auch für Nebenverdienste. Der Arbeitgeber zahlt einen Pauschalbetrag von 25 Prozent an eine zentrale Einzugsstelle, die die Gelder an die Sozialversicherungen weitergibt. Es gibt daher keine umständlichen Meldeverfahren mehr wie vorher. Vor allem gibt es in den Krankenkassen keine unterschiedlichen Ansprechpartner mehr. Bis zu einem Monatseinkommen von 800 Euro werden die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer schrittweise bis zum vollen Beitrag angehoben. Für fast 1 Millionen Arbeitswillige gibt es damit neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Durch die neue Regelung sind inzwischen 5,8 Millionen Minijobs gemeldet worden. Rechnet man die kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse und die Tätigkeiten in den privaten Haushalten hinzu, so kommt man auf 6,4 Millionen Beschäftigte im Niedriglohnbereich. Hinzu kommt noch, dass nun jedermann, auch den rund 2 Millionen Menschen mit geringer Qualifikation, die bislang ohne Job waren, der Weg in einen unbürokratischen Niedriglohnsektor offen steht. Auch für die Unternehmen rechnen sich die Minijobs. Nach Berechnungen des Unternehmermagazins „Impulse“ können Arbeitgeber und Mitarbeiter mit dem Minijob-Gesetz bis zu 434 Euro pro Mann und Monat sparen. So lohnt sich auch niedrig entlohnte Arbeit wieder; denn sie ist unbürokratisch, flexibel und rentabel. Nur so kann man den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft wieder auf den richtigen Kurs bringen und den Menschen in unserem Land eine Perspektive aufzeigen. ({9}) Die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist dazu ein Schritt. Am Schluss meiner Rede möchte ich sagen: ({10}) Ich bin nur froh, dass der Schutt, den uns der ehemalige Arbeitsminister Walter Riester bei den Minijobs hinterlassen hat, seit diesem Jahr endlich ausgeräumt ist; denn nun ist der Weg für mehr Beschäftigung wenigstens in diesem Bereich frei. Ein Anfang ist getan. Um unser Land wegen der Globalisierung und der EU-Osterweiterung zukunftsfähig zu machen, müssen nun weitere Schritte im Allgemeinen sowie im sozialen, wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bereich folgen. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Herrn Strebl hört und konstatiert, dass fast die Hälfte der Redezeit einer Geschichtsstunde entsprach, in der das Jahr 1999 behandelt wurde, dann kann man nur zu dem Schluss kommen, ({0}) dass wir bei der Reform der Minijobs, an der auch Sie mitgewirkt haben, so erfolgreich waren, dass Sie sich scheuen, über die Perspektiven und Aussichten im Bereich der geringfügigen Beschäftigung zu reden. Ich habe wirklich gedacht, dass Sie darüber reden würden; denn Minijobs und die geringfügige Beschäftigung sind in Ergänzung zu voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen wichtige Bausteine in der Arbeitswelt. ({1}) Arbeitslose können durch ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis den Kontakt zum Arbeitsleben halten und über den so genannten Klebeeffekt unter Umständen sogar den Einstieg in einen regulären Job schaffen. Nach wie vor gibt es bei uns - das ist der Unterschied zu Ihrer Regierungszeit bis 1998 - die Sozialversicherungspflicht und die Möglichkeit, Zeiten anzurechnen. Durch die Reform haben wir jetzt in der Tat erreicht, dass Jobs, in denen schwarz gearbeitet wurde, in sozialversicherungspflichtige Minijobs überführt worden sind. ({2}) Ich bin mir ganz sicher: Wir werden diesen Erfolg fortsetzen und auch bei den haushaltsnahen Dienstleistungen durchsetzen, da das dort Erreichte in der Tat noch nicht zufriedenstellen kann. Daher müssen wir Informationen verbreiten. Ich freue mich, dass die Bundesknappschaft von einer Kampagne spricht, um den Bereich der Minijobs bis zu den haushaltsnahen Dienstleistungen auszuweiten. Ich freue mich auch darüber, dass es Initiativen wie die in Nordrhein-Westfalen gibt. Dort werden zum Beispiel verschiedene Minijobverhältnisse über Dienstleistungspools zusammengefasst und im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen perspektivisch in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse überführt. Wir müssen aber auch sehen, dass Minijobs vorwiegend zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse zu regulären Arbeitsverhältnissen sind. Sie stellen einen Zuverdienst zum Arbeitslosengeld oder zum Haushaltseinkommen dar, der in der Regel von Hausfrauen erarbeitet wird. Die Bundesanstalt für Arbeit schätzt den realen Arbeitsmarkteffekt bislang nur auf circa 80 000. Ich denke, das sollten wir natürlich berücksichtigen. Da zieht das Argument nicht, dass der Arbeitsmarkt durch die Minijobs insgesamt belebt werden kann. Bei aller Freude über die Akzeptanz der Minijobs und bei aller Genugtuung darüber, dass dies offensichtlich nicht zu dem auch von mir - das gebe ich zu - befürchteten Einbruch bei den Einnahmen der Sozialversicherung geführt hat, sehen wir, dass dies nur eine ergänzende Beschäftigungsform ist. Sie erwecken - auch darüber muss man im Rahmen dieser Debatte einmal reden - den Eindruck - Sie haben von der Globalisierung gesprochen -, eine Niedriglohnund Minijobökonomie eröffne den Weg zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit oder gar Vollbeschäftigung. ({3}) - Das behaupten Sie doch permanent. In der Debatte um Hartz IV hat hier Herr Koch von Stundenlöhnen in Höhe von 4 Euro gesprochen und als Vergleich die Tschechische Republik angeführt. Er hat behauptet, über niedrige Löhne könnten wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen. Aber auch wenn Sie diese Behauptung wiederholen, wird sie dadurch nicht richtiger. ({4}) Insbesondere im internationalen Wettbewerb steht Deutschland in einem Wettbewerb um Produktivität, Qualität, Produkt- und Prozessinnovation. Die Lohnkosten für sich betrachtet stellen nicht den entscheidenden Wettbewerbsvorteil dar. Entscheidend sind die Lohnstückkosten. Hier liegen deutsche Unternehmen im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht. Entscheidend ist auch, ob Produkte und Dienstleistungen über ein Alleinstellungsmerkmal und Innovationsvorsprünge verfügen. Man fragt sich, ob Sie die Theorie der komparativen Kostenvorteile des Ökonomen David Ricardo - ein klassischer Ökonom des 19. Jahrhunderts - überhaupt kennen. ({5}) Seine Theorie ist das Rüstzeug jedes Studenten der Volkswirtschaft. Offensichtlich haben Sie einen Grundkurs nötig. Diese Theorie der komparativen Kostenvorteile besagt, dass jede Volkswirtschaft im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung ihre besondere Ausstattung mit Produktionsfaktoren wie etwa Arbeitskräften, Rohstoffen, Wissen und Fertigungskapazitäten so ausrichtet, dass sie sich auf die günstigste Kombination vergleichbarer Kostenvorteile spezialisiert. Die Lohnkosten sind in einer Ökonomie wie Deutschland mit Sicherheit nicht der komparative Kostenvorteil, den es zu kultivieren gilt. ({6}) Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein Drei-Sterne-Restaurant, das in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, wird sich auf eine Weise bestimmt nicht retten können, nämlich indem es seine Köche als Minijobber zu McDonald’s-Löhnen und -Arbeitsbedingungen beschäftigt. Es wird auch nicht erfolgreich sein, wenn es nur noch Frikadellenbrötchen statt Haute Cuisine anbietet. Diese beiden Produkte stehen nämlich überhaupt nicht in Konkurrenz zueinander. In diesem Sinne ist ein Fortschreiten der internationalen Arbeitsteilung ein ganz normaler Prozess. Es ist völlig normal, wenn etwa Produktionen mit geringer Wertschöpfung ins Ausland verlagert werden. Diese Entwicklung werden wir auch durch Minijobs nicht aufhalten können. Eine Debatte über Niedriglöhne anzuzetteln bedeutet in diesem Sinne auch, dass Sie die Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland in die völlig falsche Richtung lenken. Sie lenken mit der Lohnhöhe die Aufmerksamkeit auf einen Wettbewerbsfaktor, bei dem Deutschland letzten Endes gar nicht gewinnen kann. Wo soll denn der Lohnwettbewerb enden, den Sie immer wieder propagieren? ({7}) Sind Sie zufrieden, wenn wir das Niveau der durchschnittlichen Stundenlöhne der Tschechischen Republik erreicht haben? ({8}) Oder fangen Sie dann an, über die Lohnhöhe in China oder Bangladesch zu philosophieren? ({9}) Es ist traurig, dass Binsenweisheiten in der politischen wie öffentlichen Diskussion auch von manchem Wirtschaftsforschungsinstitut wie dem Ifo-Institut hartnäckig ignoriert werden. Es ist dringend notwendig, dass wir von ideologischen Fiktionen wegkommen und zu einer tatsachenbezogenen Politik zurückfinden. ({10}) Von Ihrem ökonomischen Verständnis her befinden Sie sich zum Teil auf dem gleichen Niveau wie die Weber des 19. Jahrhunderts, die meinten, durch Maschinenstürmerei dem unvermeintlichen Produktivitätsfortschritt zu entkommen. ({11}) Ein Vergleich der Bauindustrie Japans und Deutschlands zeigt schon heute, dass eine Verengung des Wettbewerbs nur auf die Lohnhöhe den Produktivitätsfortschritt hemmt und die Wettbewerbsfähigkeit letztlich gefährdet; denn in der Bauindustrie Japans ist die Automatisierung schon sehr weit fortgeschritten, während sich auf deutschen Baustellen unterbezahlte Arbeitskräfte aus Osteuropa gegenseitig im Weg stehen. In diesem Sinne bieten Minijobs, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, eine ergänzende, quasi Lücken füllende und unterstützende Funktion an. Sie können in gewissen Bereichen Brücken in den ersten Arbeitsmarkt bauen. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, die Diskussion zu entideologisieren, ({12}) die Lohnhöhe zu akzeptieren, angemessen Löhne und Produktivitätsfortschritt zu fördern und zu steigern. Beides muss in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gesetzt werden. Genau dazu ist Rot-Grün angetreten. Das werden wir auch durchsetzen. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDPFraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schlage vor, Herr Kollege Kurth, dass wir uns jetzt aus dem Soziologieseminar wieder zurück in die Realität bewegen. Da sehen die Dinge schon ganz anders aus. ({0}) Die Geschichte der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse unter Rot-Grün ist - das sage ich auch an die Adresse des Staatssekretärs - alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Sie ist bestenfalls eine Tragikkomödie, die 1999 im Chaos begann und die sich durch Zutun der Opposition zu Beginn dieses Jahres zum Erfolgsmodell gewandelt hat. Das ist die Wahrheit, was die geringfügige Beschäftigung anbelangt. ({1}) Ich will mich gar nicht lange bei der Vergangenheit aufhalten, denn es gilt das Sprichwort: Wer immer nur in den Rückspiegel guckt, fährt zwangsläufig gegen die Wand. Das ist ja Ihr Problem in der letzten Legislaturperiode gewesen. Es genügt, wenn man einen Hinweis auf das Waterloo gibt, das Sie 1999 mit den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen erlebt haben. Das ist Ihnen alles noch in bester Erinnerung. ({2}) - Wenn Sie wollen, können Sie sich das wieder in Erinnerung rufen. Es genügt auch ein Hinweis auf das Zustandekommen der Minijob-Regelung im Rahmen von Hartz II. Fragen Sie meinen Kollegen Dirk Niebel. Ihm ist noch bestens in Erinnerung, wie damals Herrn Stiegler die Zigarre aus der Hand fiel, als Herr Clement der Opposition die jetzige Minijob-Regelung zugestanden hat. So ist es nämlich gewesen. Blicken wir nach vorne. Das Beschäftigungspotenzial, das alle bekannten Sachverständigen und Experten im Niedriglohnbereich insgesamt verorten, muss aus unserer Sicht stärker ausgeschöpft werden, wenn wir im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit Erfolge erzielen wollen. Es geht nicht an, dass Sie sagen, die Regelung habe nur 80 000 Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt gebracht. Herr Kollege Kurth, wir müssen auch die gesamtwirtschaftlichen Umstände bedenken, die Sie zu verantworten haben. In einer Phase wieder anziehender Konjunktur - die wird irgendwann kommen, spätestens nach der nächsten Bundestagswahl - werden wir die volle Durchschlagskraft der geringfügigen Beschäftigung erleben können. Wir haben der Regelung über die Minijobs nicht zugestimmt; nicht weil wir die Ansätze für falsch gehalten hätten, sondern weil wir der Meinung waren, dass noch entschiedener hätte gehandelt werden müssen. Wir sehen uns in unserer damaligen Auffassung auch durch den Bericht der Bundesregierung und die Berichte der Knappschaft bestätigt. Der Arbeitsmarkt schreit regelrecht nach Erleichterungen und Freiraum. ({3}) Schon kleine Spielräume werden vom Markt dankbar honoriert und in Beschäftigung umgesetzt. Das ist es, was man diesen Berichten entnehmen kann. ({4}) Wenn man sich jetzt die Entwicklung der Minijobs anschaut, dann wird deutlich, dass 1 Million Minijobs zusätzlich entstanden sind. Das ist ziemlich genau die Größenordnung, die Sie 1999 mit dem blindwütigen Einschlagen auf die alte 630-Mark-Regelung vernichtet haben. Man muss sich das einmal ansehen, Herr Thönnes. Sie haben ja keine Zwischenfragen zugelassen. ({5}) Ich habe die Krokodilstränen noch in Erinnerung. Das waren eigentlich alles unzumutbare Beschäftigungsverhältnisse, ({6}) weil dort Menschen tätig sind, die keine Chance haben, eine Altersvorsorge aufzubauen. Das wollten Sie ändern. ({7}) Jetzt sind es 160 000 Menschen von 6,7 Millionen, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe; weniger als 2,5 Prozent aller geringfügig Beschäftigten, die von Ihrem Angebot Gebrauch machen, zusätzliche Beiträge zu leisten und sich damit eine weiter gehende Altersversorgung aufzubauen. Sie wollten damals ein Problem lösen, das aus der Sicht der Menschen überhaupt nicht bestand. Das ist die Wahrheit, Herr Staatssekretär. ({8}) Weil es Beschäftigungseffekte gibt, muss man jetzt auch durchstarten und die Schwelle von 400 Euro auf mindestens 630 Euro erhöhen. ({9}) Das ist ungefähr das Existenzminimum im Monat. Dadurch entsteht zusätzliche reguläre Beschäftigung, Herr Kollege Dreßen. Arbeitnehmer können dann netto mehr verdienen und Arbeitgeber können flexibler und unbürokratischer disponieren. Was die Situation in den Haushalten anbelangt, vertreten Sie das Prinzip Hoffnung. Das wird nicht ausreichen. Notwendig ist vielmehr die steuerliche Anerkennung des Privathaushalts als Arbeitgeber. Bis 2002 war es Privathaushalten möglich, jährlich 9 203 Euro für sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im Haushalt abzusetzen. Das haben Sie Ende des Jahres 2002 gestrichen. Die FDP hat in ihrem Berliner Entwurf eines Einkommensteuergesetzes, den der Kollege Solms vorgelegt hat, vorgeschlagen, dass für die Tätigkeit in privaten Haushalten, zum Beispiel die Kinderbetreuung, zukünftig bis zu 12 000 Euro abgesetzt werden können. ({10}) Ich meine, eine solche Förderung der Beschäftigung in Privathaushalten ist gerade auch im Hinblick auf die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf - das sollte unser gemeinsames Anliegen sein - dringend geboten. Wenn ein Elternteil zusätzlich arbeiten kann, weil eine sozialversicherungspflichtig beschäftigte Tagesmutter die Kinder betreut, dann verschafft das dem Staat doppelte Einnahmen. Wenn die Förderung der Beschäftigung in Privathaushalten ausbleibt, dann können zwei reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht zustande kommen. Ich meine, gerade auch im Hinblick auf die demographische Entwicklung in sieben oder acht Jahren ist es notwendig, die Frauenerwerbsquote zu erhöhen. Deswegen haben wir unter dem Titel „Tagespflege als Baustein zum bedarfsgerechten Betreuungsangebot“ einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich bitte Sie, unseren Antrag ernst zu nehmen und der Erhöhung der absetzbaren Summe von derzeit 2 400 Euro auf bis zu 12 000 Euro zuzustimmen. Abschließend sollten wir auch nicht übersehen, dass viele Haushalte die Beschäftigungsverhältnisse gerne legalisieren wollen, dass sie dies aber nicht können, weil der oder die Beschäftigte keine Arbeitserlaubnis oder gar Aufenthaltserlaubnis hat. ({11}) - Ja, natürlich ist das illegal. Aber dann müssen wir dafür sorgen, Herr Kollege Dreßen, dass der Nachfrage aufseiten der Haushalte ein legales Arbeitskräfteangebot gegenübersteht. Dieses Thema sollten wir auch in den Beratungen über das Zuwanderungsgesetz offen und ideologiefrei diskutieren. Wir sind dazu bereit. Die Minijobregelung ist ein guter Ansatz. Sie ist aber durch mutiges Handeln noch deutlich ausbaufähig. Sie sollten Ihrem Herzen einen Stoß geben und über die Hürde springen, indem Sie mit uns gemeinsam darüber nachdenken, wie man diesem Sektor eine größere Dynamik verschaffen kann. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Peter Dreßen, SPDFraktion. ({0})

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte eingangs zwei Punkte ansprechen. Herr Strebl, ich glaube, Sie haben die frühere Situation im Zusammenhang mit den 630-Mark-Jobs vergessen. Ist Ihnen nicht mehr geläufig, dass bei der Überprüfung solcher geringfügig Beschäftigten herauskam, dass über 2000 von ihnen schon lange auf dem Stuttgarter Friedhof lagen? ({0}) Sie haben uns doch seinerzeit ein Chaos hoch drei hinterlassen. Ich denke auch an das Thema Scheinselbstständigkeit. Sie haben diejenigen, die als Scheinselbstständige arbeiten mussten, in die Armut getrieben, weil sie völlig unzulänglich abgesichert waren. Ihre eben vorgetragene Argumentation, dass in Fällen illegalen Aufenthalts und illegaler Beschäftigung eine Legalisierung erfolgen sollte ({1}) - so haben Sie das eben formuliert -, verstehe ich so, dass wir, wenn jemand wegen schweren Raubes verurteilt wird, beschließen sollten, dass alle Hausbesitzer ihr Haus offen lassen müssen, damit die Tat zukünftig nur noch als einfacher Raub gilt. Das ist doch schizophren.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn die Uhr angehalten wird. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dreßen, ich bedanke mich ausdrücklich dafür. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das nicht so gemeint habe, wie Sie es dargestellt haben? Ich meine natürlich nicht denselben Personenkreis. Es ist völlig klar, dass solche illegalen Handlungen nicht legalisiert werden können. ({0}) Ich habe gesagt: Wir müssen im Rahmen der Beratungen über ein Zuwanderungsgesetz auch daran denken, dass der offensichtlich vorhandenen Nachfrage von Privathaushalten nach legaler Beschäftigung entsprochen wird und Personengruppen ins Land kommen können, die diese Nachfrage der Haushalte auf legale Weise zufriedenstellen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich das in diesem Sinne gemeint habe?

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie das so interpretieren, dann akzeptiere ich das. Ich akzeptiere auch, dass wir mit dem Zuwanderungsgesetz die eine oder andere bestehende Ungerechtigkeit beseitigen sollten. Dann müssen Sie aber an Ihre Kollegen neben Ihnen appellieren, damit wir ein Stück weiterkommen. ({0}) Auf Wunsch der Opposition diskutieren wir heute über den Bericht der Bundesregierung über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Dieser Bericht wurde dem Bundestag im März dieses Jahres zugeleitet. Angesichts der derzeitigen Konzeptionslosigkeit der Opposition bin ich etwas verwundert darüber, dass Sie nichts Besseres zu tun haben, als sich mit veralteten Arbeitsmarktdaten zu beschäftigen. Sie wollen heute über Zahlen und einen Bericht sprechen, die auf dem Stand vom März 2003 sind und deren praktische Bedeutung verloren gegangen ist; denn wir haben mit Hartz II - das wurde schon erwähnt - zum 1. April dieses Jahres die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse neu geregelt. Im Unterschied zu damals sind jetzt für die Minijobs Sozialbeiträge abzuführen. Ich freue mich trotzdem aus zwei Gründen, dass wir Gelegenheit haben, über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zu sprechen. Erstens können wir noch einmal betonen, welche Verbesserungen wir für die soziale Absicherung geringfügig Beschäftigter erzielt haben. Zweitens haben wir die Gelegenheit, über die Neuerungen bei den Minijobs im Rahmen der ersten Hartz-Gesetze zu sprechen. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär, dass sich hier schon einiges getan hat. Zum ersten Punkt: Was haben die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition für die geringfügig Beschäftigten getan? ({1}) - Aber sicher! - Die Bundesregierung macht Sie in ihrem Bericht noch einmal auf die Verbesserungen für geringfügig Beschäftigte aufmerksam, die wir am 1. April 1999 eingeführt haben. So leisten seit diesem Zeitpunkt auch die Arbeitgeber ihren Beitrag zur Kranken- und zur Rentenversicherung für geringfügig Beschäftigte. Seit der Neuregelung können des Weiteren geringfügig Beschäftigte durch Aufstocken Leistungsansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erwerben. Wenn es jetzt 140 000 bis 160 000 geringfügig Beschäftigte gibt, dann bedeutet das, dass nun tatsächlich mehr in die Rentenkasse eingezahlt wird und dass diese Beschäftigten zusätzliche Rentenansprüche haben. Wir müssen vielleicht noch werben, damit es mehr werden. Zum zweiten Punkt: Bei der Verabschiedung von Hartz II waren wir auf Ihre Unterstützung angewiesen und mussten uns nolens volens darauf einlassen, die Geringfügigkeitsgrenze von 325 Euro auf 400 Euro anzuheben. ({2}) Herr Kolb fordert sogar eine Erhöhung auf 600 Euro. ({3}) Sie haben nur vergessen, zu erwähnen, wie Sie die Lücke in der Sozialversicherung, die dann aufgrund fehlender Beiträge entstehen würde, schließen wollen. Mich interessiert, wie Sie das machen wollen. Zusätzlich wurde im Vermittlungsausschuss über die Einführung einer Gleitzone entschieden. Ich habe meine Zweifel, dass durch die von uns zugestandene Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze tatsächlich mehr Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Wir müssen aber erst die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit abwarten. Ausfälle im Sozialversicherungssystem sind jedenfalls der Preis gewesen, den wir für die Umsetzung unserer Vorstellungen im Vermittlungsausschuss zahlen mussten. Wir wollten in Anlehnung an die Vorschläge der Hartz-Kommission illegale Beschäftigungsverhältnisse im Bereich der haushaltsnahen Dienstleistungen legalisieren. Verhaltensänderungen setzen sich jedoch nur langsam durch. Im Bereich der Haushaltshilfen ist trotz der Neuregelung die Schwarzarbeit leider noch immer der Normalfall. Von den geschätzten 2 Millionen bis 3 Millionen Personen, die in privaten Haushalten arbeiten, sind lediglich 36 000 in angemeldeten Beschäftigungsverhältnissen tätig, und das, obwohl wir mit einer Reihe von Anreizen versucht haben, die Situation zu ändern. Der Haushaltsscheck ist einfacher geworden, wodurch die bürokratischen Hemmnisse beseitigt worden sind. Dieser Scheck umfasst zwölf Fragen und ist im Internet unter www.minijob-zentrale.de abzurufen. Ich kann nur jedem empfehlen, sich diese Internetseite anzuschauen. Es gibt auch eine gute Erläuterung zur Beantwortung der zwölf Fragen. Es ist wirklich sehr einfach. Eine pauschale Abgabe für den Arbeitgeber in Höhe von 10 Prozent und eine steuerliche Abzugsfähigkeit bis zu 510 Euro sollen Anreize schaffen, haushaltsnahe Dienstleistungen bei der Bundesknappschaft anzumelden. Außerdem haben wir uns dafür eingesetzt, bürokratische Abläufe rigoros zu vereinfachen. Wir haben die 15-Stunden-Grenze für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aufgehoben. Die Berechnungen für kurzfristige Minijobs wurden erheblich vereinfacht. Damit sind wir vor allem den Bedürfnissen der Arbeitgeber entgegengekommen. Unternehmen müssen nun nicht mehr wie bisher komplizierte Berechnungen über die Dauer einer Beschäftigung im Jahr anstellen. Es reicht einfach die Prüfung, ob ein Beschäftigter weniger als zwei Monate bzw. weniger als 50 Tage pro Kalenderjahr beschäftigt ist. Arbeitgeber profitieren außerdem davon, dass sie nicht mehr rückwirkend in Haftung genommen werden, wenn ein Arbeitnehmer zu Unrecht gleichzeitig mehreren Minijobs nachgeht und so die Sozialversicherungspflicht umgeht. Über die quantitativen Auswirkungen der Neuregelung der Minijobs und der eingeführten Gleitzone werden wir sprechen, sobald die Zahlen der Bundesanstalt vorliegen. Ich hoffe, dass Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, nach dem Vorliegen dieser Daten nicht erneut ein halbes Jahr Zeit zum Lesen brauchen. Wenn das der Fall ist, dann könnte die nächste Beurteilung der geringfügigen Beschäftigung etwas zeitnäher und aktueller ausfallen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Redner ist der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich sehr darüber, dass alle Redner in der heutigen Debatte gesagt haben, das jetzige Gesetz zur Regelung der 400-Euro-Jobs sei in Ordnung. ({0}) Um der Wahrheit Genüge zu tun, möchte ich darauf hinweisen, dass dieses Gesetz kein Bestandteil von Hartz I oder Hartz II war. ({1}) Es wurde davon gar nicht berührt. Wegen Hartz II ist damals der Vermittlungsausschuss angerufen worden; ich selbst habe an den entsprechenden Sitzungen teilgenommen. Damals haben wir gesagt: Wir müssen auch über die Minijobs reden; wir brauchen eine Reform der verkorksten Regelung der Riester-Rente. Clement war gerade im Amt und hat das eingesehen. Dann ist im Grunde genommen das, was im Wahlprogramm von CDU und CSU stand, Gesetz geworden. ({2}) Mittlerweile loben es alle. Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Was im Wahlprogramm von CDU und CSU stand, war gut und es hat sich bewährt, was im Gesetzblatt steht. ({3}) - Ich bin von 1990 bis 2002 im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung gewesen. Mittlerweile gehöre ich dem Ausschuss für Arbeit und Wirtschaft an. Ich beschäftige mich mit dem Arbeitsmarkt also schon ein paar Tage. ({4}) - Frau Kollegin Barnett, das, was Sie zwischen 1994 und 1998 im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung vertreten haben, und das, was Sie jetzt tun, verhalten sich zueinander ungefähr so wie Feuer und Wasser. ({5}) Wie war es denn früher mit den 630-DM-Jobs? ({6}) Die Konstruktion des entsprechenden Gesetzes hatte im Grunde einen Fehler: Die Einnahmen aus der Pauschalbesteuerung in Höhe von 20 Prozent flossen in den Staatshaushalt und damit fiel das Arbeitsvolumen, das in diesem Bereich bestand, als Grundlage für die Finanzierung der Sozialversicherung weg. Nach Ihrem Wahlsieg 1998 haben Sie beschlossen, alle in die Sozialversicherung zu drängen, die 630-DM-Jobs sozialversicherungspflichtig zu machen und Scheinselbstständigkeit abzuschaffen. Dann haben Sie festgestellt, dass das auf dem Arbeitsmarkt keinen Erfolg hat, weil viele Menschen in die Schwarzarbeit geflüchtet sind. ({7}) Nicht nur die 400-Euro-Jobs, sondern auch die Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit war ein Erfolg von Hartz II. Insofern war alles, was damals gemacht worden ist, vernünftig und richtig. Dass es mit den 400-Euro-Jobs jetzt so gut klappt und sie uns so wenige Beschwerden bereiten, liegt ganz einfach daran, dass die Belastung der Arbeitgeber mit 25 Prozent genauso hoch oder sogar etwas höher ist als die Belastung der Arbeitgeber, die im Rahmen eines regulären Beschäftigungsverhältnisses Sozialversicherungsbeiträge abführen müssen. Ich habe in den damaligen Vermittlungsgesprächen der entsprechenden Arbeitsgruppe im BMWA immer gesagt: Es darf für die Arbeitgeberseite keine Anreize geben, das zu machen, und deswegen muss die mit einem solchen Arbeitsverhältnis verbundene Abgabenlast genauso hoch wie die bei einem regulären Arbeitsverhältnis sein. ({8}) Dass das Geld seitdem in die Sozialkassen und nicht in den Staatshaushalt fließt, führt natürlich dazu, dass sich der Verdrängungswettbewerb in Bezug auf Arbeitsstunden - es geht darum, ob sie in dem einen oder in dem anKarl-Josef Laumann deren Bereich anfallen - auf die Sozialkassen nicht auswirkt. ({9}) Deswegen finde ich, dass das, was wir da gemacht haben, vernünftig und richtig ist. ({10}) Es hat dazu geführt, dass zusätzlich 1 Million oder 800 000 Menschen illegale Arbeitsverhältnisse verlassen haben - ich behaupte, die allermeisten haben schon vorher Geld dazuverdient - und in ein legales Arbeitsverhältnis zurückgekehrt sind. Das erhöht wahrscheinlich insbesondere die Kaufkraft derjenigen Familien, die auf mehr Geld dringend angewiesen sind. Die Wahrheit ist doch: Es gibt ganz viele Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, durch Karrieresprünge mehr Geld zu verdienen. Wenn sie in einer bestimmten Lebenssituation einmal mehr Geld brauchen, dann haben sie in der Firma oder in der Verwaltung, in der sie arbeiten, oft nicht die Möglichkeit, ihr Einkommen durch Überstunden zu steigern. Ihre einzige Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen, besteht darin, einen Zweitjob auszuüben. Wir von der Union haben für diese Leute sehr viel Sympathie. ({11}) Der Fleiß muss sich eben auch lohnen. Da ist auch etwas aufgegangen. Ich war mir damals gar nicht so sicher, dass es aufgehen würde. Fast alle Minijobs werden nebenbei gemacht. Es ist also nicht zu einer Aufspaltung von normalen Arbeitsverhältnissen in Minijobs gekommen. Der Minijobber ist zum Beispiel jemand, der schon eine Rente erhält. Wie wir in dem Bericht lesen konnten, ist der Anteil der über 55-Jährigen relativ hoch. Auch Hausfrauen machen Minijobs. Es ist eben etwas, was nebenbei gemacht wird. Ich bin also sehr damit zufrieden, wie das gelaufen ist. Wie sieht es mit den Beschäftigungen im Haushalt aus? Was den Haushalt angeht - steuerliche Absetzbarkeit, relativ einfaches Verfahren -, so haben wir damals, finde ich, im Grunde nichts falsch gemacht. ({12}) Trotzdem meldet nur ein verschwindend geringer Teil der Menschen eine solche Beschäftigung an. Dabei wissen wir alle, dass es in Deutschland ganz viele Haushaltshilfen gibt. Das liegt einfach daran, glaube ich, dass es insofern gar kein Unrechtsbewusstsein gibt. Leute wie wir, die im öffentlichen Leben stehen, müssen natürlich aufpassen und werden so etwas anmelden, ({13}) aber jeder Privatmann denkt sich doch: Mein Gott, ich zahle das aus meinem Portemonnaie. Außerdem kann man im Haushalt sowieso nicht kontrollieren. Der Haushalt genießt ja starken Schutz vor staatlichen Kontrollen. ({14}) Wir streiten im Bundestag darüber, ob Privatwohnungen zum Zwecke der Verbrechensverfolgung abgehört werden dürfen. Eine Sozialversicherung kann im Haushalt überhaupt nicht kontrollieren. Das ist die Wahrheit. Deswegen ist die Geschichte so, wie sie ist. Wir können das nur lösen, wenn Sie jetzt auf uns hören, so wie Sie bei den Minijobs richtigerweise auf uns gehört haben. ({15}) Wir müssen den Schritt tun, dass der private Haushalt ein ganz normaler Arbeitgeber wird, so wie es Friedrich Merz vorschlägt. ({16}) Damit bin ich bei einer Baustelle, die uns in den nächsten Tagen sehr beschäftigen wird: Wie machen wir das mit dem Arbeitslosengeld II, mit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe? Dabei geht mir Folgendes am meisten durch den Kopf: Mit den Familienangehörigen sind immerhin 4,3 Millionen Leute betroffen. Wir müssen uns das einmal vorstellen: In Deutschland sind 4,3 Millionen Menschen - diejenigen, die keine Arbeit haben, und ihre Familienangehörigen in der Grundsicherung. Von den arbeitsfähigen Erwachsenen haben 50 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung. Von folgender Aussage lasse ich mich nicht abbringen: Es gibt Menschen, für die wir eine einfach strukturierte Arbeit brauchen. Die können nicht das leisten, was in der modernen Industrie- und Wissensgesellschaft allgemein verlangt wird. Für diese Menschen könnte der Haushalt eine Beschäftigungsperspektive sein. Wenn wir das auf breiter Front wollen, dann muss der Haushalt seine Beschäftigten genauso wie ein normaler Arbeitgeber brutto bezahlen können. ({17}) Wir bekommen das doch nachher über Sozialversicherungsbeiträge und Steuern wieder und die Menschen haben Beschäftigung. Ich bin mir sicher, dass die Frage, wie wir es erreichen, dass in Akademikerhaushalten wieder mehr Kinder geboren werden, auch mit der Kinderbetreuung zusammenhängt. Ich stelle mir dazu vor, dass die Kinderbetreuung nicht nur in Gemeinschaftseinrichtungen des Staates oder der Kirchen erfolgt, sondern auch durch Haushaltshilfen organisiert werden kann. ({18}) Wir wissen nicht, wie wir in der Industrie Arbeitsplätze für die von mir eben beschriebenen Menschen finden sollen. Das Wirtschaftswachstum kann noch so groß werden, für diese Menschen werden keine Arbeitsplätze entstehen. Für sie wird es auch in der Wissensgesellschaft keine Arbeitsplätze geben; allenfalls ein paar im Dienstleistungsbereich. Lassen Sie uns doch den Schritt tun, für diese Menschen im Haushalt eine Beschäftigungsperspektive zu eröffnen! Ich bin ganz sicher, dass dann auch all diese Beschäftigungsverhältnisse legal bestehen werden. In dem Haushalt, der einstellt, wird man sich nämlich sagen: Ich muss das jetzt offiziell machen, ({19}) weil ich mir die Steuervorteile nicht entgehen lassen will. Punkt. ({20}) Dann haben wir das im Griff und werden sehen: Wir werden Hunderttausende oder Millionen von zusätzlich Beschäftigten in Deutschland haben. Wir werden Schwarzarbeit bekämpft haben. Wir werden auch von der Statistik und den Einnahmen her wesentlich besser dastehen als heute. Weil es offizielle Arbeitsverhältnisse sind, werden die Menschen ({21}) auch besser geschützt sein als heute. Ich spreche da einmal als Sozialpolitiker und denke an unsere Herkunft, lieber Peter. Der Schwarzarbeiter ist ja überhaupt nicht geschützt, höchstens ein bisschen über Gerichtsurteile. Gehen Sie doch diesen Weg mit uns! Machen Sie es wie bei den 400-Euro-Jobs: Hören Sie auf das, was wir sagen! Auch wir haben nicht immer Recht, aber wir haben ganz bestimmt auch nicht immer Unrecht. In der Arbeitsmarktpolitik haben wir zur Zeit einfach die besseren Konzepte, ({22}) weil wir seit 1998 viel darüber nachgedacht haben. Wir sollten uns aber darüber freuen, dass wenigstens eine Sache, die im letzten Jahr auf den Weg gebracht wurde, geklappt hat. Die Bilanz bei allen anderen Arbeitsmarktinstrumenten - von der PSA bis hin zur IchAG - ist eher traurig. Gehen Sie deshalb auf dem jetzt eingeschlagenen Weg weiter und geben Sie sich einen Stoß, dass wir bei den Gesprächen über Hartz IV, die morgen beginnen, zu einem solchen Konzept kommen. ({23}) Ich kann Ihnen nur sagen: Die Zusammenführung geht nur, wenn wir erst einmal darüber reden, wo wir Beschäftigungsfelder für diese Menschen finden. Dazu noch einmal: Lasst uns den Haushalt als Arbeitgeber genau ins Visier nehmen! Lassen Sie uns weiterhin vernünftig miteinander darüber reden, welche Arbeit zumutbar ist. Auch wir Christdemokraten wollen nicht, dass die Leute für einen Appel und ein Ei arbeiten. Auch wir sind für einen gerechten Lohn. ({24}) - Das sage ich auch Herrn Koch. Er sieht das übrigens genauso wie ich. - Allerdings kann die Festschreibung auch nicht lauten: orts- und tarifüblich. Wir haben gesehen, was Sie mit einer solchen Festschreibung angerichtet haben, als Sie die Zeitarbeit in die Tarifbindung gezwungen haben. Jahrelang hat die Zeitarbeit als einziges Segment des Arbeitsmarktes in Deutschland Zuwächse verzeichnet. Seitdem Sie zwingend die Tarifbindung vorgeschrieben haben, verliert sie an Bedeutung. Lassen Sie uns auch ganz vernünftig darüber reden, wie wir in Deutschland Menschen, für die nur eine einfach strukturierte Arbeit infrage kommt, im Niedriglohnbereich fördern. Ich will keine Regelung für ganze Branchen, aber eine Lösung für Einzelfälle. Ich will Entscheidungsstrukturen, damit solchen Menschen wieder eine Beschäftigungsperspektive gegeben werden kann. Es ist allemal besser, wenn sie eine Aufgabe finden und einen Teil ihres Lebensunterhalts durch eigene Arbeit verdienen. Weil wir denken, dass jemand, der acht Stunden am Tag arbeitet, besser als ein Sozialhilfeempfänger leben soll, müssen wir die Löhne dann eben ein bisschen aufstocken. Gehen Sie auch diesen Weg mit uns! Wenn wir diese drei Punkte am Freitag und in den kommenden Tagen einvernehmlich klären können, dann wird uns als vernünftigen Menschen - da bin ich mir ziemlich sicher - auch etwas dazu einfallen, wie wir von der Administration her die Trägerschaft so gestalten können, dass es dann auch funktioniert. ({25}) Ich hoffe sehr, dass wir hier eine ähnliche Regelung wie vor einem Jahr hinbekommen. Wir haben damals in der Adventszeit verhandelt, wir verhandeln auch jetzt wieder in der Vorweihnachtszeit. ({26}) Vielleicht führt ja das auch bei den Sozialdemokraten zu einem Verhalten, das etwas mehr an der Realität orientiert ist, als es das sonst im Allgemeinen ist. Schönen Dank. ({27})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer arbeitslos ist und nicht aufgibt, der greift nach jedem Strohhalm, egal, ob der Halm Minijob oder Ich-AG heißt. Gerade deshalb möchte ich uns allen den Film „Halbe Treppe“ von Andreas Dresen empfehlen. Er sucht nicht den Superstar. Er zeigt das wahre Leben, er zeigt Menschen mit ihren Sorgen und die alltägliche Liebe, also all das, was hier im Bundestag oft nur statistisch verwaltet wird. Das nimmt allerdings die Politik nicht aus der Verantwortung. Zur politischen Bilanz gehört: Die Anzahl der Minijobs hat zugenommen, aber die Massenarbeitslosigkeit hat nicht abgenommen, nicht einmal statistisch. Auch Hartz bietet keine Linderung in dieser Situation. Deshalb verbietet sich bei der Debatte über den vorliegenden Bericht jede Feierstunde. ({0}) Alle seriösen Untersuchungen belegen: Minijobs sind bestenfalls ein Pflaster für ungeheilte Wunden. Sie werden als Zubrot ergriffen. Mit Existenz sichernder Arbeit haben Sie nichts zu tun. Obendrein belegen die Statistiken: Dieses Manko wirkt im Osten noch gravierender als in den alten Bundesländern. Der Bedarf an Putzfrauen oder Dumpingsheriffs ist an der Oder offenbar geringer als mancherorts am Main. Aber Sie kennen ja meinen Vorwurf: Die Mehrheit des Bundestages guckt noch immer einäugig durch die Westbrille und bleibt so auch in dieser Frage ostblind. ({1}) Grundsätzlich geht es allerdings nicht um ein OstWest-Problem; es geht um die gesellschaftliche Frage: Wohin soll die Entwicklung in der Bundesrepublik gehen? In den viel zitierten USA kursiert ein Witz: Der Präsident lobt sich, er habe heute schon wieder fünf Minijobs geschaffen. „Stimmt“, sagt der Pizzafahrer, „vier davon habe ich.“ Von irgendetwas müsse man ja leben. Ich denke, das ist nicht die Perspektive, die wir für erstrebenswert halten sollten. Zu Beginn war Rot-Grün noch der Meinung: Minijobs unterlaufen die Sozialversicherungspflicht, sie gefährden das Renten- und das Gesundheitssystem. Das ist auch heute noch grundsätzlich richtig. Inzwischen verfolgt Rot-Grün allerdings das Gegenteil. Zwar spüren alle: Die Sozialsysteme - das Renten- und das Gesundheitssystem - krachen. Aber alle Fraktionen loben derweil eine Arbeitswelt, die genau das befördert; der Kollege Kurth war heute eine gewisse Ausnahme. Diese Kehrtwende von Rot-Grün ist nicht nur unlogisch, sie ist fundamental. Sie haben inzwischen das Prinzip preisgegeben, wonach die Wirtschaft für die Menschen da ist, aber nicht umgekehrt. Sie haben sich dem Irrglauben hingegeben: Alles wird gut, wenn die Wirtschaft nur regiert. Deshalb drängen Sie in billige Jobs statt auf gute Arbeit. Das ist aber keine Politik, sondern führt uns in die Sackgasse. Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich gönne jeder Kellnerin im Bayerischen Wald ihren kleinen Job und wünsche jedem Studenten auf dem Taxibock oder auch in irgendeinem Bundestagsbüro Erfolg. Nur, eine Lösung für die großen Herausforderungen - die Arbeitslosigkeit und die Reform der Sozialsysteme -, genau das sind die Minijobs nicht. Ganz im Gegenteil, sie sind Teil unseres Problems. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal eine Feststellung: Wir haben die geringfügige Beschäftigung aus der Schmuddelecke herausgeholt, ebenso seinerzeit die Leiharbeit. ({0}) Wir erkennen die Probleme und lösen sie gut, Herr Kolb. Beide Formen der Beschäftigung hatten und haben leider immer noch das Stigma, den Vollzeit- und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen unterlegen zu sein - im sozialen Ansehen und in der Wertigkeit; in der Lohnhöhe ja sowieso. Bis zu unserer ersten Reform 1999 waren die geringfügig Beschäftigten bei den Sozialversicherungssystemen außen vor. Das war ein Anschlag, Herr Strebl, aber von Ihnen! Die Folgen davon werden insbesondere die Frauen noch lange spüren, ({1}) trotz der Forderungen der Opposition, zum Beispiel nach eigenständiger Alterssicherung der Frauen. Sie hatten es 16 Jahre in der Hand, etwas zu ändern, die Lücken in den Rentenbiographien der Frauen zu schließen. Na ja, auch da räumen wir hinter Ihnen auf. Lieber Kollege Laumann, Sie haben es ja gesagt: Seit 1998 können Sie endlich kräftig nachdenken. Tun Sie das weiter so, dann nützen Sie der ganzen Republik. ({2}) Jeder von uns kennt doch etliche Frauen - Frauen machen immer noch den Großteil der Arbeitnehmer in dieser Beschäftigungsform aus -, die nach den Kindererziehungsjahren jahrelang geringfügig beschäftigt waren und keinerlei Anrechnung dieser Zeiten hatten, auch wenn sie es noch so gerne gewollt hätten und dafür sogar Beiträge gezahlt hätten. Mit den jetzt vorliegenden Möglichkeiten der geringfügigen Beschäftigung, den Minijobs und den Jobs in der Gleitzone, also den Midijobs, ist es doch endlich rentabel - neudeutsch: wir haben die Incentives gesetzt -, Personen aus der Schwarzarbeit in legale Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. Denn was sind diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse anderes als Teilzeitbeschäftigungen? ({3}) Sie sind auch versicherungspflichtig für den Arbeitgeber. Sie sagten es schon, Herr Laumann. Dazu kommt noch eine Pauschalsteuer von 2 Prozent. Damit haben wir das beibehalten, wofür wir zusammen mit den Gewerkschaften immer gekämpft haben: dass für den Arbeitgeber jede Arbeitsstunde bezüglich der Abgaben gleich teuer sein muss, egal, ob es eine geringfügige Beschäftigung oder eine Vollzeitbeschäftigung ist. Die Beschäftigten haben es ihrerseits in der Hand, echte Rentenanwartschaften aufzubauen: Mit eigenen Beiträgen können sie ihre Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung aufrechterhalten bzw. erwerben. Selbst wenn es sich um kleine Renten handelt, ist das immerhin etwas. Außerdem besteht dadurch die Möglichkeit, die staatlich unterstützte Zusatzrente zu bekommen. Das ist besonders für diese Beschäftigungsgruppe attraktiv, weil zum Beispiel eine allein erziehende Mutter von zwei Kindern bei einem relativ geringen Jahresbeitrag von circa 75 Euro ab 2008 mit einer Zulage von rund 500 Euro pro Jahr rechnen kann. Allerdings - das gebe ich zu - bedarf es hier noch vermehrter Aufklärung, ({4}) damit mehr Leute diese Möglichkeiten nutzen. Sie sehen: Wir haben an alle gedacht, gerade auch an diejenigen, die einer besonderen Unterstützung bedürfen. ({5}) Wir kümmern uns wirklich um die Schicksale der Frauen. Ob mit oder ohne Kinder - auf jeden Fall brauchen Frauen eine eigenständige Alterssicherung. Geringfügige Beschäftigung hat vielfältige Gründe: Die Arbeitnehmerin sucht eine solche zum Beispiel wegen der Kinderbetreuung; sie will darüber den Wiedereinstieg schaffen oder die Arbeit in der letzten Erziehungsphase langsam wieder aufnehmen. Vielleicht hat sie einen Hauptjob und will nebenher etwas verdienen. - In diesem Zusammenhang muss ich bemerken, dass die Zahl von 160 000 nicht ganz richtig ist, Herr Kolb. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es nicht unser Ziel ist, dass die Menschen mindestens zwei Jobs haben müssen, um sich über Wasser halten zu können. - Oder die Arbeitnehmerin will sich ihr Studium finanzieren. Auch der Rentner kann sich etwas dazu verdienen. Diese Möglichkeit haben wir geschaffen. Geringfügige Beschäftigung hat ein breites Spektrum. Wenn wir uns den Bericht der Knappschaft über die aktuelle Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung am Arbeitsmarkt ansehen, können wir feststellen, dass diese Beschäftigungsart nicht gering bezahlter, weil gering bewerteter Arbeit vorbehalten ist. In allen Wirtschaftszweigen und Betrieben finden wir diese Beschäftigungsform. ({6}) Arbeitgeber kann beispielsweise der Existenzgründer sein, der eine Stundenkraft zum Aufbau seiner Bürotechnik oder für die Computerbetreuung braucht. Auch ein kleiner Handwerksbetrieb braucht nur eine Stundenkraft und keine Buchhalterin, die ganztags oder halbtags beschäftigt ist. Arbeitsspitzen müssen abgefangen werden, wobei wir allerdings dem Missbrauch vorbeugen und darauf achten müssen, dass es keine Aufspaltung von Vollzeitarbeitsplätzen gibt. Arbeitgeber kann auch der Privathaushalt sein. Sie haben es bereits angesprochen. Natürlich werden auch viele Arbeitssuchende, die eigentlich Vollzeit arbeiten wollen, diese Jobs annehmen, weil es sonst im Augenblick kein anderes Angebot für sie gibt. Diese Tatsache verkenne ich nicht. Minijobs sollen nicht die Regel werden, sondern als Brücke dienen. Wir Sozialdemokraten und auch unser Koalitionspartner erwarten von den Arbeitssuchenden, dass sie ein solches Arbeitsplatzangebot nicht ablehnen; denn es ist nicht unbillig zu erwarten, dass diejenigen, die steuerfinanzierte Leistungen erhalten, das Ihre dazu beitragen, die Bedürftigkeit zu überwinden. Außerdem ist geringfügige Beschäftigung - ich komme zu einer weiteren wichtigen Feststellung - nicht gleichzusetzen mit Dumpinglöhnen. Wir werden das nicht tun. Ich habe Sie hoffentlich falsch verstanden, dass Sie geringfügige Beschäftigung mit Billiglohn gleichsetzen wollen. Denn die Bezahlung in dieser Beschäftigung hat sich - das ist unsere Auffassung - nach Tariflohn bzw. nach ortsüblichem Lohn zu richten. ({7}) Das haben wir in Hartz IV ganz klar geregelt. Helfen Sie jetzt bitte mit, dass diese Regelung im Vermittlungsausschuss nicht gekippt wird! ({8}) Damit kann das Arbeitsamt auch niemanden zwingen, unter diesem Niveau eine Arbeit anzunehmen. Ich sage das hier so deutlich, um einer Legendenbildung vorzubeugen. Zwischen geringer Entlohnung - das sind zum Beispiel 6,85 Euro pro Stunde, was einem Tariflohn für eine Reinigungskraft in einem Leiharbeitsunternehmen entspricht, gegenüber 8,02 Euro pro Stunde im Gebäudereinigerhandwerk - und Dumpinglöhnen zwischen 2 und 4 Euro pro Stunde, wie Sie sie fordern, ({9}) liegen Welten. Jetzt werden die ganz Wirtschaftsfreundlichen wahrscheinlich sagen: Wenn tarifungebundene Firmen Leute finden, die - sagen wir einmal - für 400 Euro 100 Stunden arbeiten, dann soll es recht sein. Nein, das darf uns nicht recht sein! Wir lassen doch nicht sehenden Auges zu, dass die funktionierende Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern kaputtgemacht wird, ({10}) dass die gewissenhaften Arbeitgeber von Menschenschindern, die die Notlage der Arbeitssuchenden rücksichtslos ausnutzen, an die Wand gedrückt werden. ({11}) Wir alle in diesem Hause haben die Pflicht, aufzuklären und Missbrauch zu verhindern. Selbst der FDP kann es doch nicht recht sein, wenn hier Schmutzkonkurrenz entsteht, die den Wettbewerb massiv verzerrt. Wenn Ihnen, wenn uns allen etwas am Mittelstand, den es jetzt noch gibt, liegt, dann haben wir alles zu tun, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und zu erhalten. Also: Hartz IV zustimmen! ({12}) Wir können weder Wildwest- noch Wildostmethoden dulden. Solchen Firmen darf die öffentliche Hand keine Aufträge mehr erteilen. In diesem Hause wird viel über die Dienstleistungsgesellschaft geredet. Wir gehen diesen Weg und haben dafür auch sozialverträgliche Instrumente zur Verfügung gestellt. Ich bin überzeugt, dass viele, die heute als Minijobber bei einem Existenzgründer arbeiten, morgen von ihm, wenn er sich etabliert hat, in Vollzeitbeschäftigung übernommen werden. Dazu geben wir beiden Seiten eine Chance. Mini- und Midijobs, also geringfügige Beschäftigung, gehören nicht in die Schmuddelecke; das hat weder der Würstchenverkäufer noch der PC-Spezialist verdient. Was sie trennt, sind die verschieden hohen Stundenlöhne. Was sie eint, ist, dass ihre Arbeit der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Das ist eine Errungenschaft, auf die wir Sozialdemokraten stolz sind. ({13}) Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes - Drucksache 15/1506 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({1}) - Drucksache 15/1958 Berichterstattung: Abgeordnete Gisela Hilbrecht Bernd Neumann ({2}) Claudia Roth ({3}) Hans-Joachim Otto ({4}) b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Bernd Neumann ({5}), Günter Nooke, Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Verbesserung der Rahmenbedingungen für den deutschen Film - Drucksachen 15/1034, 15/1554 Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein interfraktioneller Änderungsantrag vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Staatsministerin Christina Weiss.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der deutsche Film ist wieder in den Top Ten. Der deutsche Film hat sich zurückgemeldet, er macht wieder neugierig und - noch wichtiger - er beweist wieder Mut; eine günstige Ausgangslage also, um ein neues Filmförderungsgesetz auf den Weg zu bringen, das die Chancen des deutschen Films deutlich verbessern wird; eine Herausforderung zudem, endlich ein maßgeschneidertes Marketing für den deutschen Film zu entwerfen. Letztlich geht es nicht nur darum, den deutschen Film hierzulande erfolgreich in den Kinos zu halten; es geht auch darum, ihm den Weg in die internationale Arena zu ebnen. Bei der heutigen Abstimmung über das neue Filmförderungsgesetz ernten wir die Früchte eines Reformprozesses, der mit dem ersten Bündnis für den Film begann, der sich über fünf Runden hinzog, zahllose Einzelgespräche und Einzelverhandlungen verlangte und schließlich im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages ankam. Es war gut, dass wir lange und intensiv über die Zukunft des deutschen Films diskutiert und in konstruktiver Weise nach Chancen und Möglichkeiten gesucht haben. Dafür gebührt dem Kulturausschuss großer Dank. ({0}) Natürlich wird der deutsche Film nur so kühn und so wagemutig sein können, wie es die Künstler sind, die ihn produzieren. Die Politik aber hat die Frage zu beantworten, wie stabil oder wie morsch die Strukturen der Filmwirtschaft sind. Wer über Wirtschaft redet, der will Erfolg. Dazu will dieses Wirtschaftsgesetz auch beitragen, was nicht bedeutet, dass die Kunst dabei zerrieben wird. Wenn wir einen neuen Zeitgeist im deutschen Kino registrieren, dann wollen wir auch, dass die Filme von Regisseurinnen und Regisseuren wie Wolfgang Becker, Sönke Wortmann oder Christian Petzoldt dauerhaft ein breites Publikum finden, auch im deutschen Kino. ({1}) Wer bei den genannten Beispielen davon spricht, hier hätten die Regisseure Massengeschmack bedient, der beleidigt Macher, Aussagen und Talente. ({2}) Der deutsche Film besitzt ein wachsendes Potenzial. Er erreicht aber mit 11 bis 19 Prozent noch nicht den Zuschaueranteil, den er verdient. Wenn also die Zuschauer wegbleiben, die Produzenten nicht solvent genug sind und die Werbung zu bescheiden ausfällt, dann muss das System verbessert werden. Unser Ziel ist, neben und nach der Produktion das Marketing für die Filme verbessern zu können. Dazu braucht man mehr Geld. Es ist uns gelungen - und es kann in diesen Zeiten weiß Gott nicht oft genug betont werden, dass es ein Gelingen war -, das Fördervolumen um 40 Prozent zu erhöhen. ({3}) Rund 64 statt 46 Millionen Euro fließen in die Kassen der Filmförderungsanstalt. Niemand hätte daran zu Beginn dieses Jahres geglaubt. ({4}) Es geht aber nicht nur um Masse. Es geht auch darum, ein bestehendes System so zu verändern, dass es den Gesetzen der Kunst und nicht den Verordnungen der Bürokratie folgt. Es geht um vier Schlüsselfiguren: die Kreativen, die Produzenten, die Verleiher und die Kinobetreiber. Kein guter Film ohne einen guten Stoff, kein Ereignis ohne Begabung. Wenn wir nicht wollen, dass allein das Fernsehen die Talente ködert, dann bedürfen Autorinnen und Autoren sowie Regisseurinnen und Regisseure einer wirksameren Fürsorge. Das neue Gesetz enthält solche Anreize. Die Entwicklung des Drehbuches rückt stärker in den Fokus der Filmpolitik. Das künstlerische Urteil wird künftig in den Gremien der Filmförderungsanstalt wichtiger sein. Zweite Gruppe. Die Produzenten verfügen oft über ein zu geringes Eigenkapital. Das macht sie von Juryentscheidungen abhängig; das schwächt ihre unternehmerische Eigenverantwortung. Deshalb wollen wir die Rahmenbedingungen für das Beschaffen von Kapital verändern. In der Novelle ist die Möglichkeit von Bürgschaften durch die FFA vorgesehen, die den Produzentinnen und Produzenten eine Zwischenfinanzierung erleichtern sollen. Damit verbessern wir auch die rechtlichen Rahmenbedingungen für Filmproduzenten in Deutschland. Außerdem weiten wir die automatische Referenzfilmförderung aus. Erfolgreiche Produzenten, die ihre Tauglichkeit sowohl bei den Zuschauern als auch bei Festivaljuroren unter Beweis gestellt haben, können ohne ein weiteres Juryvotum mit einer Förderung rechnen. Wir haben es uns mit der Referenzfilmföderung gewiss nicht leicht gemacht. Das System brauchte eine ganze Reihe von Feinjustierungen, um am Ende wirksam werden zu können. Fest steht - das ist ganz neu in diesem Gesetz -: Wir setzen nicht nur auf Zuschauerbzw. Mainstream-Erfolge. Wir prämieren vielmehr auch den künstlerischen Wert eines Films. ({5}) Der gute Start auf einem Festival wird ebenso Anerkennung erfahren wie ein Preis. Nicht jeder Film erhält einen Preis auf einem Festival. ({6}) Wir wissen, dass Publikumsakzeptanz allein nicht ausreicht, um über Gewicht und Nachhaltigkeit eines Filmes zu urteilen. Gerade deshalb haben wir andere Kriterien aufgestellt, die vorher keinerlei Berücksichtigung fanden. Mit diesen Marken haben wir gezielt eine internationale Ausrichtung des deutschen Films verknüpft. Derzeit fließt ein Lizenzentgelt von rund 970 Millionen Euro in den Import. Dem steht eine magere Exportsumme von 64,7 Millionen Euro gegenüber. Deutschland ist also ein Filmimportland. Gerade deshalb ist der Erfolg des deutschen Films auf Festivals im Ausland ebenso wichtig wie die Resonanz im Inland, und zwar sowohl aus Exportgründen als auch aus kulturellen Gründen. Dies wird sich in einer handwerklich geschickteren Außenvertretung des deutschen Films beweisen müssen. Kommen wir zur dritten Gruppe, zu den Verleihern. Sie sind die Schaltstelle zwischen den Filmemachern und den Zuschauern. Aus diesem Grund heben wir die Absatzförderung für Verleiher und Videovertriebe deutlich an. Die Förderung wird um mehr als 100 Prozent auf rund 14,5 Millionen Euro steigen. Darin enthalten sind auch Medialeistungen der Privatsender. Dies ist eine enorme Anstrengung, die sich als effektive Werbung für deutsche Kinofilme im Fernsehen auszahlen wird. Wir können sicher sein, dass dies zu mehr Besuchern in unseren Kinos führen wird. Ein Wort zu den Kinobetreibern: Ich bin froh über die Vielfalt unserer Kinoszene, über das Angebot der Filmtheater. Das soll auch so bleiben. Daher wollen wir mit unserer Novelle vor allem kleine und mittlere Kinos, insbesondere Programmkinos, durch Investitionshilfen unterstützen. ({7}) Die Novelle soll auch Signalwirkung für die Filmwirtschaft haben. Den deutschen Unternehmen werden Wachstumsraten von jährlich 6,6 Prozent prophezeit. Über 8 000 Unternehmen beschäftigen rund 100 000 Arbeitnehmer und weitere 50 000 freie Mitarbeiter. Zwar spielt der Kinofilm im Hinblick auf den Gesamtumsatz eine untergeordnete Rolle, aber er ist ein umso größerer Imageträger für die Branche, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es war schon davon die Rede, dass es mich mit Freude erfüllt, in welcher Weise das finanzielle Aufkommen für den deutschen Film steigt. Das ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich, weil das Geld überall knapp ist. Dafür braucht es starke Partner und vor allem ein verändertes Bewusstsein für den deutschen Film. Beides war vorhanden. So dürfen wir heute davon sprechen, dass der Kraftakt gelungen ist. Zu verdanken haben wir dies den Fernsehveranstaltern, die ihre freiwilligen Leistungen an die FFA auf 22 Millionen Euro erhöhen und damit verdoppeln. Berücksichtigt man zugleich die Beteiligung der öffentlichrechtlichen Sender an den Filmförderungen der Länder - davon kann man nicht absehen -, dann ergibt sich ein doch beträchtlicher Beitrag der Sender für die deutsche Filmwirtschaft. Eine Gerechtigkeitslücke, wie sie von der Kinobranche geradezu kampagnenhaft beklagt wurde, vermag ich nicht zu erkennen. ({8}) Wie sehr ARD und ZDF, den großen Geldgebern der FFA, am Wohl des deutschen Films gelegen ist, beweist auch die Tatsache, dass sie nun auf einen Sitz im Vergabeausschuss verzichten, obwohl die Sitzverteilung unser Verhandlungsergebnis war. ({9}) Herr Otto, Verhandlungsergebnisse sind nach meiner Kenntnis bislang noch keine Erpressungsversuche. ({10}) ARD und ZDF signalisieren Gleichbehandlung mit den Privaten und ordnen eigene Interessen dem größeren Ziel unter. Das ist verdienstvoll und solidarisch und findet daher meinen Respekt. ({11}) Spätestens damit war nämlich der Weg zu einem fraktionsübergreifenden Solidarpakt für den deutschen Film frei. Wie Sie wissen, leistet auch die Kino- und Videowirtschaft ihren Beitrag, damit das Fördervolumen angehoben werden kann. Ab kommendem Jahr soll die gesetzliche Abgabe an die Filmförderungsanstalt durchschnittlich 2,7 Prozent des Bruttoumsatzes an der Kinokasse betragen. Weil es hier in der Vergangenheit immer wieder zu Protesten kam, will ich noch einmal deutlich beziffern, worum es tatsächlich geht. Wir streiten uns um eine Abgabe, die wir um genau 3 Cent pro verkaufte Kinokarte erhöht haben. Davon zahlen die Kinobetreiber nur etwa die Hälfte. Die andere Hälfte zahlen die Verleiher. 3 Cent mehr für die Zukunft des deutschen Filmes - zum Vergleich: In Frankreich beträgt die Abgabe 11 Prozent. Ich kann nachvollziehen, dass die Kinowirtschaft im ersten Halbjahr von Umsatzeinbrüchen geschlagen war und eine Abgabenerhöhung Unbehagen bereitet. Ich kann nicht nachvollziehen, dass unsere Abgabe gleich zu lebensgefährlichen Existenzkrisen führen soll, wie das von Verbänden behauptet wird. ({12}) Die Kampagnen, die die Novelle des Filmförderungsgesetzes begleitet haben, waren populistisch und irreführend und schadeten der gemeinsamen Sache. Der Protestnebel hat den Blick für das Ziel verhängt und außerdem einer falschen Strategie Vorschub geleistet. Denn je erfolgreicher der deutsche Film ist, umso voller sind die Kinos. So einfach ist das. Das Problem sind nicht die verkauften Kinokarten mit der Abgabe, das Problem sind die nicht verkauften Kinokarten. Darüber sollten wir an anderer Stelle reden. ({13}) Was wir derzeit am wenigsten brauchen können, sind Scharfmacherei und Egoismen. Das hat der deutsche Film in dieser Situation nicht verdient. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen Ausblick wagen. Lassen Sie es mich mit Sepp Herberger sagen: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Unsere Novelle liegt vor. Damit sind wir in Führung. Aber es geht weiter. Insbesondere im Urheber- und im Steuerrecht stehen Veränderungen an, die keinerlei Aufschub dulden und an denen wir jetzt schon arbeiten müssen, noch bevor das FFG beschlossen sein kann. Anlässlich der Vorlage dieser Novelle möchte ich allen Beteiligten für die wirklich konstruktive Unterstützung und Zusammenarbeit herzlich danken. Ich wünsche, dass wir mit dem Gesetz ein neues Marketing für den deutschen Film begleiten können. Ich danke Ihnen. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Neumann, CDU/CSU-Fraktion.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob es sich bis zur Bundesregierung herumgesprochen hat, Frau Weiss: Wir diskutieren hier zwei Tagesordnungspunkte, zum einen das Filmförderungsgesetz und zum anderen die Antwort auf unsere Große Anfrage zu den Rahmenbedingungen für den deutschen Film, die mindestens so entscheidend sind wie das Filmförderungsgesetz. Es ist bezeichnend, dass Sie dazu bis auf einen Halbsatz am Schluss nichts gesagt haben. Ich bedauere das schon zu Anfang. ({0}) Zur Lage des deutschen Films möchte ich einige wenige Bemerkungen machen. Licht und Schatten liegen eng beieinander. Positiv kann man die Erfolge - vor allem die internationalen Erfolge - einzelner deutscher Filme nennen: den Oscar für „Nirgendwo in Afrika“, den Goldenen Löwen für Katja Riemann in „Rosenstraße“, wie natürlich auch den insbesondere in Deutschland erfolgreichen Film „Good Bye, Lenin!“, der allerdings auch Bernd Neumann ({1}) international reüssiert. Einen deutschen Film, den in Frankreich mittlerweile mehr als 1 Million Zuschauer gesehen haben, hat es lange nicht mehr gegeben. ({2}) Das ist das Positive. Bedingt positiv ist der Marktanteil deutscher Filme in den deutschen Kinos. Im Jahre 2003 liegt dieser Marktanteil zurzeit bei 14,5 Prozent. Man kann nun sagen, dass das eine Steigerung gegenüber dem Marktanteil von 11,8 Prozent im Jahre 2002 ist. Dennoch ist dies sehr trügerisch; denn wenn Sie sich bei den deutschen Filmen den einen Erfolgsfilm „Good Bye, Lenin!“ wegdenken - das wollen an sich wir nicht tun -, dann liegen wir bereits bei einem Anteil von 7,8 Prozent. Das heißt, der Erfolg von „Good Bye, Lenin!“ macht 44 Prozent des Anteils deutscher Filme in den deutschen Kinos aus. Weil man nicht davon ausgehen kann, dass in jedem Jahr ein solcher Volltreffer gelingt, kann einem bei diesen Zahlen nicht ganz wohl sein. Auch dies muss gesagt werden. ({3}) Negativ ist die dramatische Entwicklung in den Kinos. Ich rede hier noch gar nicht von der Abgabe, Frau Weiss, aber Sie sollten diese Entwicklung zumindest zur Kenntnis nehmen; denn zum Film gehört das Kino. Wir haben in den letzten neun Monaten einen Umsatzrückgang von 90 Millionen Euro - das sind 13,3 Prozent - und einen Besucherrückgang um 12,1 Prozent, von 116 Millionen im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres auf 102 Millionen, zu verzeichnen. Sie wissen, dass sich viele Kinos, insbesondere kleine Kinos, in einer Existenzkrise befinden, die sich allerdings zunehmend nicht nur auf die kleinen, sondern auch auf die Multiplexkinos bezieht. Wenn Kinos um ihre Existenz ringen, habe ich schon Verständnis dafür, dass die Kinobetreiber sagen: Wir haben Bedenken, dass die Abgabe, die wir leisten müssen, erhöht wird. Immerhin soll sie von 21,3 Millionen Euro auf 25 Millionen Euro erhöht werden. Das ist schon ein gang schöner Brocken. Das würde ich nicht so abtun, wie Sie das gemacht haben. Nun zum Filmförderungsgesetz selbst. Wir stimmen ihm zu, weil die wesentlichen Forderungen von uns, die wir im Laufe des Verfahrens auch auf Grundlage des erfolgten Hearings gestellt haben, übernommen wurden und dadurch aus meiner Sicht der Regierungsentwurf an wichtigen Punkten entscheidend verbessert wurde. ({4}) Das neue Filmförderungsgesetz wird in der Tat, so glaube ich, zur Stärkung des deutschen Films einen Beitrag leisten. Dass wir dieses Gesetz einstimmig beschließen, ist heutzutage schon etwas Besonderes; bei anderen Gesetzentwürfen wissen wir gar nicht, wie sie am Ende aussehen werden. Diese Einstimmigkeit - das will ich an dieser Stelle sagen - hat auch etwas mit dem Klima zu tun, in dem man arbeitet. Ich möchte vorweg zwei Personen nennen, von denen ich glaube, dass sie entscheidend dazu beigetragen haben, dass es möglich war, ein solches Ergebnis zu erreichen: Das ist im Ministerium Ihr Mitarbeiter Hanten und das ist meine Kollegin Gisela Hilbrecht, früher Schröter. Nur durch diese Zusammenarbeit und durch das Entgegenkommen - das ist ja eine gute Sache - ist es gelungen, zu so einem Ergebnis zu kommen. Dafür sage ich Danke schön. ({5}) Was hat sich positiv verändert? Erstens. Das Gremiummonstrum Deutscher Filmrat, das Sie wollten, fällt weg weniger Gremien, weniger Bürokratie. ({6}) Die Kreativen sind gestärkt worden - in Gremien und durch die Mittel, die sie bekommen -; denn die beste Voraussetzung für einen stärkeren Erfolg des deutschen Filmes ist in erster Linie nicht die Summe der Förderung, sondern sind viel mehr bessere Filme. ({7}) Viel mehr bessere Filme bedeutet: Viel mehr tun für Kreative und sie unterstützen; denn sie bringen die Filme heraus. Nächster Punkt. Die hohe Schwelle von 150 000 Punkten, die notwendig ist für die Referenzförderung - von vielen Beteiligten aus der Branche so nicht akzeptiert -, haben wir reduziert bzw. haben deren Erreichbarkeit erleichtert, indem wir das Votum bzw. die Prädikate der Filmbewertungsstelle Wiesbaden wieder mit zusätzlichen 50 000 Punkten einbezogen haben, sodass diese Schwelle jetzt auch von vielen kleineren Filmen und deren Verantwortlichen erreicht werden kann. Der Verwaltungsrat ist verändert worden. An dieser Stelle hebe ich hervor, dass auf unseren Wunsch und im Gegensatz zu dem, was Sie wollten, nach wie vor beide Kirchen vertreten sind. ({8}) Ich halte es schon für wichtig, dass beiden Kirchen das Recht zugestanden wird, in einem kulturellen Gremium, das über 30 Mitglieder hat, vertreten zu sein. Wie der nächste Punkt gelaufen ist, ist schon etwas abenteuerlich, Gisela Hilbrecht. Sie sagen jetzt, der Erfolg bestehe darin, dass Sie sich mit einem Vertreter der öffentlich-rechtlichen Anstalten bescheiden, obwohl im Regierungsentwurf eine Verdoppelung auf zwei vorgesehen war. Dieses Hin und Her hätten Sie einfacher haben können, wenn Sie in der letzten Sitzung den Voten des FDP-Kollegen Otto und mir gefolgt wären. Gott sei Dank haben Sie nun eingelenkt, wenngleich nicht dank Ihrer Einsicht, sondern dank der Einsicht der öffentlichBernd Neumann ({9}) rechtlichen Rundfunkanstalten. Ich begrüße dies außerordentlich. ({10}) Meine Damen und Herren, im Regierungsentwurf werden Schutzbestimmungen zugunsten inländischer filmtechnischer Betriebe beseitigt, nicht aus Bösartigkeit, sondern weil wir Deutschen wie so häufig meinen, wir müssten im Gegensatz zu anderen, etwa den Franzosen, schnell europäisch handeln. Über den Ausschuss ist erreicht worden, dass Sie nach Abwarten dessen, was sich auf EU-Ebene tun wird, über eine Rechtsverordnung deutsche filmtechnische Betriebe schützen können. Nach meiner Auffassung müssen wir genau so deutsch handeln, wie die Franzosen französisch handeln. Wir wollten damit sicherstellen, dass wir alle zulässigen Quoten ausnutzen können, wenn es um die Interessen und die Arbeitsplätze unserer filmtechnischen Betriebe geht. ({11}) Nun komme ich zum letzten Punkt der zu bewertenden Sachverhalte, zur Mittelerhöhung; darauf bin ich schon in der ersten Lesung eingegangen. Sie sagen voller Stolz, es sei Ihnen gelungen, die Mittel um 40 Prozent zu erhöhen. So einfach geht es mit den Erfolgen der Bundesregierung nicht immer! Die Erhöhung ist dadurch möglich geworden, dass Sie die Abgaben erhöht haben, die andere leisten; Sie haben gar nichts dazu getan. Andere - die Videounternehmen, die Kinounternehmen, die Fernsehanstalten - müssen mehr zahlen. ({12}) Das haben Sie vereinbart oder gesetzlich festgelegt. Dass dies ein großartiger Erfolg der Bundesregierung sein soll, vermag ich nicht zu erkennen, auch wenn ich merke, dass Sie stolz darauf sind, wenn Sie Unternehmen mehr abknöpfen können, und dies als Meisterleistung ansehen. Ich unterstütze dies ja im Hinblick auf die Leistungen des Fernsehens. Angesichts des hohen Gebührenvolumens von 6,5 Milliarden Euro ist es nach wie vor sehr bescheiden, nur 11 Millionen Euro in die Filmwirtschaft zu stecken. ({13}) Aus meiner Sicht können sie in der Tat mehr leisten. Man muss aber darüber nachdenken, welche Folgen dies im Bereich der Filmtheater haben kann. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass im Regierungsentwurf eine Erhöhung um 18,74 Prozent von rund 21 Millionen auf 25 Millionen Euro vorgesehen ist. In der ersten Lesung, als Sie Ihren Entwurf vorstellten, sagte ich, wir würden in einer Zeit, in der ein Kinosterben stattfindet, nicht daran mitwirken, die Abgabe für Kinounternehmen zu erhöhen. Sie haben dann mit den Betroffenen Vereinbarungen getroffen. Richtig ist, dass die Filmwirtschaft der Abgabe zugestimmt hat, nachdem Sie sie erst einmal reduziert hatten. Im Ausschuss wurde dann noch auf unsere Initiative hin sichergestellt, dass alle Kinos gleich behandelt werden. Vorgesehen war nämlich, dass Kinos mit kleineren Umsätzen prozentual mehr bezahlen als Kinos mit höheren Umsätzen. Dies haben wir jetzt verändert; das ist gut so. Nun haben wir neueste Brandbriefe bekommen - das muss man hier fairerweise sagen -, in denen die Kinowirtschaft darum bittet, in Anbetracht ihrer existenziellen Schwierigkeiten die vorgesehene Erhöhung noch einmal um 0,2 Prozentpunkte zu reduzieren. Mittlerweile fürchten nicht mehr nur die kleinen Kinos, sondern auch schon die großen um ihre Existenz. Ich habe am Wochenende Kontakt mit Vertretern der Koalition aufgenommen und sie gefragt, ob man noch etwas tun könne. Mir ist signalisiert worden, dass Sie, Frau Weiss, nicht dazu bereit seien - das respektiere ich -, weil Sie der Meinung sind, dass alles zusammenbrechen könnte, wenn Sie das Fass noch einmal aufmachen. Das sehe ich nicht so. Ich bin der Meinung, wenn wir das noch ändern, würde es zum Filmförderungsgesetz nicht nur in diesem Hause Einstimmigkeit geben, sondern in der ganzen Branche. Das wäre doch großartig! Leider ist das nicht zu erreichen. Ich gebe zu: Das alles ist ein wenig spät gekommen. Trotzdem hat die Branche ein Recht darauf, dass wir das hier benennen. So weit zum ersten Teil der Debatte, auf den Sie, Frau Weiss, sich in Ihren Ausführungen beschränkt haben. Der zweite Teil der Debatte betrifft die Große Anfrage zu den sonstigen Rahmenbedingungen der Filmwirtschaft, auf die Sie eine umfangreiche Antwort vorgelegt haben. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr daran, verehrte Frau Staatsministerin Weiss, schließlich sind Sie nicht darauf eingegangen. So wichtig es auch ist, dass wir über das neue Filmförderungsgesetz den deutschen Film stärken; man darf die sonstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen die deutsche Filmwirtschaft auf europäischer und internationaler Ebene antreten muss, nicht vergessen. Das ist ebenso wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger. Hierzu will ich vier Punkte nennen, die in der Großen Anfrage eine wichtige Rolle gespielt haben. Der erste Punkt betrifft internationale Koproduktionen. Der im Januar 2001 vom BMF veröffentliche Medienerlass hat für deutsche Produzenten - das wissen Sie genauso gut wie ich - die Möglichkeit, sich an internationalen Koproduktionen zu beteiligen, dramatisch erschwert. Dabei kann man heute fast nur im Rahmen von Koproduktionen Filme machen. Die Zahl der Koproduktionen ist seitdem kontinuierlich zurückgegangen. Der zweite Punkt betrifft Medienfonds. Jährlich werden in Deutschland mehrere Milliarden Euro in so genannte Medienfonds investiert. 80 Prozent dieser Gelder, wenn nicht sogar noch mehr, fließen in Hollywood-Produktionen. Damit gehen für deutsche bzw. europäische Kinofilme beträchtliche Mittel verloren. Zugleich wirken sich die mit ihnen Fonds verbundenen Investitionen überwiegend nicht in Deutschland aus. Der dritte Punkt betrifft das Urheberrecht. Die Position der Produzenten wurde durch die Novellierung des Urhebervertragsrechts nicht, wie versprochen, gestärkt, Bernd Neumann ({14}) sondern eher geschwächt; fragen Sie in der Branche nach. Auch bei der jüngsten Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht in der Informationsgesellschaft wurde die begründete Forderung der Filmwirtschaft, eine generelle „Bereichsausnahme Film“ zu verankern, nicht ausreichend berücksichtigt. Der vierte Punkt betrifft steuerliche Präferenzen. Diese hat einer Ihrer Vorgänger angekündigt. Wie Sie wissen, messe ich Ihre Leistungen an den Ankündigungen. ({15}) - Das bedeutet für mich eine gewisse Seriosität. Herr Otto meint, das seien Unterstellungen und nicht mehr. Das stimmt nicht; ich nehme das ernst. ({16}) Ihr Vorgänger hat deutlich gemacht, dass es nötig sei, eine steuerliche Förderung einzuführen bzw. Anreize für Produktionen zu geben, wie das in vielen anderen Ländern üblich ist - deswegen müssten wir nachziehen -, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Films zu stärken. Meine Damen und Herren, bei diesen vier Forderungen sind wir und die BKM noch nicht einmal auseinander. Verehrte Frau Weiss, diese Punkte wurden von der Filmwirtschaft zusätzlich zur Novellierung des Filmförderungsgesetzes als ganz wichtig genannt. Zu diesem Ergebnis kam man im ersten Bündnis für den Film 1999 unter Ihrem verehrten, aber noch nicht vergessenen Vorgänger Naumann und auch unter seinem Nachfolger und Ihrem direkten Vorgänger Nida-Rümelin. Alle, auch Sie, haben immer wieder deutlich gemacht, dass diese Punkte wichtig sind und dass man sie auch umsetzen wolle. Vor diesem Hintergrund stellt sich die berechtigte Frage, wie weit Sie bei der Umsetzung fortgeschritten sind. Angesichts der Antwort auf die Große Anfrage, in der wir diese Punkte präzisiert haben, bestätigt sich, dass Sie keinen Schritt weitergekommen sind. Deswegen haben Sie auch nichts dazu gesagt. Meine Damen und Herren, nun kann man meinen, dass das nur die Opposition so kritisch sieht. Ich habe Ihre Antwort den verschiedenen Sachverständigen in der Filmbranche zugestellt und gefragt, wie sie dies sehen und ob sie damit einverstanden sind. Nehmen wir den ersten Punkt, den Medienerlass. Ich zitiere film 20 - die kundigen Thebaner wissen, dass dahinter potenzielle Kräfte der deutschen Filmwirtschaft stehen; mit einigen von ihnen haben Sie einen außerordentlich guten Kontakt, was letztlich auch zur Etablierung der Filmakademie geführt hat -: Der Medienerlass ist und bleibt eine Krux für die deutsche Filmwirtschaft … hat in den Feldern Nachweis der Herstellereigenschaft der Anleger, Behinderung von internationalen Koproduktionen zu Dauerirritation, Rechtsunsicherheit und drastischen Wettbewerbsnachteilen für die deutsche Filmwirtschaft gegenüber internationalen Wettbewerbern geführt. Es geht weiter, wobei es hier um die Frage der Koproduktion und darum geht, ob es zwei Betriebsstätten sind oder nicht; es ist eine steuerliche Frage: Die Betriebsstättenregelung ist bezogen auf die Doppelbesteuerung, die durch diesen Medienerlass droht, nach wie vor nicht aus der Welt. Wortwörtlich heißt es: „Nichts ist bis heute passiert.“ - Das war der Bereich der internationalen Koproduktion. Es wurde seit langem angekündigt, die Betriebsstättenregelung abzuschaffen; sie stellt ein großes Problem für die Filmwirtschaft dar. Nichts ist passiert. Ich komme zum zweiten Punkt, den Fonds. Es geht hier um die Herstellereigenschaft des Fonds. Ich nehme eine andere Stellungnahme, und zwar die der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm. Sie schrieb - Zitat -: Die Bundesregierung hat sich vor dieser Frage herumgedrückt, umso mehr, als die deutschen Fondsbetreiber angeboten hatten, eine 20-prozentige Mittelbindung für Deutschland einzuführen. Davon lese ich bei Ihnen überhaupt nichts. Man kann das ja positiv oder negativ bewerten, man sollte es aber zumindest erwähnen. Zu diesem Problem schreibt film 20: Was hat nun der neue BMF-Brief tatsächlich praktisch gebracht? Ein Beschäftigungsprogramm für Beiräte! Herstellereigenschaft erfordert die tatsächliche und wesentliche Einflussnahme auf das Produkt, weil Anleger das unmöglich leisten können und das massenhafte Mitreden - das ist die Folge dieses neuen Schreibens und der Interpretation des BMF der Filmproduktion nun auch tatsächlich total widerspricht - da sagt jeder Produzent, jeder Regisseur ganz laut „Nein, Danke!“… Das Ganze verteuert die Overheadkosten der Fonds, weniger Geld fließt in die Filme - und schon gar nicht in die Filmwirtschaft in unserem Land. Die Bilanz: Nebenkriegsschauplatz erweitert - Hauptproblem der Finanzierung von halb Hollywood mit deutschem Steuergeld nicht gelöst! Vernichtender als dieses Urteil der Filmwirtschaft kann doch gar nichts sein. Weiter heißt es von film 20 - dazu gehören ja Eichinger und Co, also all diejenigen, die die Filmakademie gegründet haben: Unsere Frage - hier wie nur zu oft: Wer küsst den Finanzminister wach? … Wenn der Fachminister - so sagen sie das nicht bringt - muss der Chef tätig werden. Meine Damen und Herren, es ist weiß Gott kein gutes Zeugnis für die verantwortliche Ministerin, wenn die Branche sagt, dass jetzt der Chef ran muss. Ja, vielleicht muss er ran. Ich bin der Auffassung, wir alle müssen ran; denn so, wie es ist, kann es nicht bleiben. Bernd Neumann ({17}) Lassen Sie mich nun zu einem wichtigen letzten Punkt kommen, der auch Gegenstand der Anfrage ist. Das Enttäuschendste war die Antwort der Bundesregierung auf eines der größten Probleme der Filmwirtschaft, nämlich die dramatisch schnelle Ausweitung des massenhaften Diebstahls im Spielfilmbereich. Es geht um Raubkopien von Kinofilmen und das illegale Herunterladen aus dem Internet, wodurch die Kino- und Videowirtschaft ihre Exklusivität und damit einen erheblichen Teil ihrer potenziellen Besucher und Käufer verliert. Wenn Sie sich die neuesten Untersuchungen der FFA dazu ansehen, dann erkennen Sie, dass wir es hier mit einer dramatischen Entwicklung zu tun haben. Im Zeitraum von Januar bis August 2003 wurden zum Beispiel 9,6 Millionen DVD-Rohlinge mit Kinofilmen bespielt. Bereits nach acht Monaten liegen diese Werte damit über dem Ergebnis des Gesamtjahres 2002. Ich muss dazu sagen: Dabei wird immer illegal gehandelt. Die anderen müssen Geld damit verdienen. ({18}) - Ich hätte es gleich gesagt, aber Sie greifen mir vor, Herr Kollege Otto. Deshalb unterbreche ich jetzt meinen Gedankenfaden. Es geht nicht darum, wen ich dafür verantwortlich mache. Natürlich ist Frau Weiss dafür nicht verantwortlich, es sei denn, sie lädt selbst Filme herunter, was ich nicht glaube. Aber die Bundesregierung ist verantwortlich, wenn sie sich nicht um dieses Problem kümmert. Wir müssen dieses Problem diskutieren und Initiativen ergreifen. Darum geht es. ({19}) Die Hälfte - 53 Prozent - der so genannten Filmbrenner gibt an, auch für Personen außerhalb des eigenen Haushaltes zu kopieren. Knapp 1 Million Personen besaßen eine Kopie des Filmes „Terminator 3“ schon einen Monat nach Kinostart, bevor er überhaupt in die deutschen Kinos kam. Circa 1,6 Millionen Personen verfügten bereits im Vorfeld der Videoveröffentlichung über eine Kopie von „Herr der Ringe“, circa 770 000 von „Good Bye, Lenin!“. Mit 13,3 Millionen downgeloadeten Spielfilmen bzw. Kinofilmen wurden in den ersten acht Monaten des Jahres 2003 bereits fast so viele Filme wie im Gesamtjahr 2002 aus dem Internet heruntergeladen. Damit Sie mich richtig verstehen: Ich sage dies nicht im Sinne einer Anklage, sonder vor dem Hintergrund eines großen Problems: Wenn dies so weitergeht, werden viele Existenzen in der Musik- und Filmbranche vernichtet. ({20}) Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Weiss. Sie weisen in Ihrer Antwort lapidar - lesen Sie es bitte selbst einmal nach - auf die gesetzliche Lage hin. Angeblich sei dadurch alles geregelt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Benneter? ({0})

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unter der Voraussetzung, dass die Uhr wie immer angehalten wird - eine Minute Redezeit brauche ich noch -, gern.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Neumann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns beispielsweise im Rechtsausschuss schon längst mit den Urheberrechten beschäftigen, um genau die Probleme anzugehen, die Sie eben angesprochen haben?

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme das zur Kenntnis. Ich finde es gut, dass Sie das tun. Haben Sie aber Verständnis dafür, ({0}) dass man enttäuscht ist - schließlich gibt es eine Staatsministerin für Kultur und Medien; das betrifft uns genauso wie die Arbeitsgruppe im Rechtsausschuss -, wenn auf die Frage, was die Regierung bei diesem Problem zu tun gedenkt, nur ein lapidarer Hinweis auf die derzeitige gesetzliche Lage erfolgt. Wenn es so ist, dass dies im Rechtsausschuss ein wichtiges Thema ist, begrüße ich dies. Ich unterstütze Sie. Es wäre sehr gut, Frau Weiss, wenn Sie sich mit einem ähnlich großen Engagement wie Ihre Kollegen im Bereich der Justiz - Sie sind inhaltlich für Medien zuständig; sonst brauchen wir keinen Staatsminister für diese Aufgabe - damit befassen. Ich glaube, darin sind wir uns einig, Kollege Benneter. Die Missachtung des geistigen Eigentums - ich habe das kurz angedeutet - führt zu Umsatzeinbrüchen, Arbeitsplatzverlusten und Steuerausfällen. Wir wollen diese verhängnisvolle Entwicklung im Interesse der Kreativwirtschaft in Deutschland und der Menschen, die für und von ihrer Kunst und Kreativität leben wollen, bremsen. Verehrte Staatsministerin, es ist Ihre Aufgabe, sich an dieser Diskussion federführend zu beteiligen, Fakten und Meinungen zu sammeln, die Gesetzgebung zu begleiten, sie sogar zu beeinflussen. In den USA beispielsweise hat der amerikanische Kongress ausschließlich zu dieser Thematik einen hochkarätigen Ausschuss mit Mitgliedern aller Parteien aus beiden Häusern eingesetzt, also Repräsentantenhaus und Senat, um Schutzmaßnahmen auf internationaler Ebene zu diskutieren und zu erarbeiten mit dem Ziel, die digitalen Film- und Musiktechnologien zu schützen. Sie gelten dort - ich glaube, Bernd Neumann ({1}) das gilt bedingt auch für Deutschland - als Schlüssel für amerikanisches Wirtschaftswachstum. Ich darf darauf hinweisen, dass meine Fraktion unter Leitung der Kollegen Kampeter und Krings just zu diesem Thema eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat. Ich komme zum Schluss. Sie sehen: Trotz einmütiger Verabschiedung eines ordentlichen Filmförderungsgesetzes bleibt politisch für den deutschen Film und seine Wirtschaft noch viel zu tun. Es wäre zu wünschen, dass wir - Frau Kollegin Hilbrecht und Frau Kollegin Roth, ich beziehe Sie ein; ich habe Sie vorhin deshalb nicht genannt, weil wir noch nicht so lange zusammenarbeiten auch die von mir genannten Fragen möglichst überparteilich im Konsens zügig bearbeiten. Dies täte dem deutschen Film außerordentlich gut. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Chefin Christina Weiss! ({0}) Alice sucht gemeinsam mit anderen Überlebenden nach einem Weg - hören Sie zu, das gefällt Ihnen bestimmt - aus dem zerstörten Biotechnologielabor. ({1}) - Das gefällt Ihnen, das weiß ich doch. - Dabei stößt sie auf eine Art Zombie, ({2}) der durch gefährliche Erreger zu einem mörderischen Monster mutiert ist und die gesamte Menschheit auslöschen will. Die Treffsicherheit der Menschheitsretterin Alice wird wieder einmal auf eine harte Probe gestellt. Warum ich Ihnen das erzähle? Erstens, um Herrn Otto eine Freude zu machen, ({3}) zweitens will ich Ihnen aber keine Angst machen, sondern verdeutlichen, wie vielfältig und global unsere deutsche Filmlandschaft inzwischen ist. Die beschriebene Szene stammt aus der Fortsetzung des Science-Fiction-Films „Resident Evil“, dem in den USA am erfolgreichsten gestarteten Film in der letzten Zeit. Es ist ein deutscher Film, der in Babelsberg und Adlershof gedreht wurde. Aber auch die nachdenkenswerten Stunden, die uns Joseph Fiennes, Alfred Molina, Bruno Ganz und vor allem Sir Peter Ustinov in dem Film „Luther“ geschenkt haben - ich habe viel darüber nachgedacht, zum Beispiel wie der Bauernkrieg beschrieben wird -, ({4}) stammen aus einem deutschen Film, gedreht in Europa, erstaufgeführt in den USA, mit einem kanadischen Regisseur und produziert von einem Team aus Berlin. Was mir sehr wichtig ist: Auch „Bernau liegt am Meer“, „Bungalow“, „Science-Fiction“ und „Die wilden Kerle“ sind deutsche Filme, die zu Recht den Weg in unsere Kinos finden. Was ich sagen will: Die Mischung macht’s. ({5}) - Die Mischung macht’s, Herr Otto. Die Milch macht‘s auch, aber das ist ein anderes Thema. Das kann ich Ihnen, da ich aus Bayern komme, gern mal erzählen. Die Filmförderung ist absolut notwendig für den deutschen Film und die deutsche Filmwirtschaft. Ohne Filmförderung würde kaum eine deutsche Produktion das Licht der Leinwand erblicken. Deshalb ist es auch so unheimlich wichtig, dass sich trotz der damit verbundenen Verhandlungsschwierigkeiten und Kompromisse auf allen Seiten die Fördersumme für den deutschen Film insgesamt um rund 40 Prozent erhöht hat. Herr Neumann, natürlich hat Christina Weiss an diesen Verhandlungen und an diesem Ergebnis einen ganz hohen Anteil. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. ({6}) Für diese Aufstockung möchte ich mich bei allen Geldgebern und Verhandlungspartnern und -partnerinnen nochmals ausdrücklich bedanken. Aber die Filmförderung ist immer ein - manchmal extremer - Spagat zwischen ökonomischer Förderung und kultureller Förderung. Ich finde - das sage ich an dieser Stelle nicht ganz ohne Stolz -, dass uns eben dieser Spagat zwischen kommerziellen und kulturellen Kriterien mit der Novellierung des Filmförderungsgesetzes mehr als gut gelungen ist. ({7}) Wir stärken zum einen die deutsche Produktionswirtschaft. Produzenten und Produzentinnen von Erfolgsfilmen bekommen in größerem Umfang Mittel zur Verfügung gestellt, die sie zur Stärkung ihres Eigenkapitals und auch für Nachfolgeprojekte verwenden können. Kinder-, Erstlings- und Dokumentarfilme werden mit einfacheren Kriterien an der so genannten Referenzfilmförderung partizipieren können, bei der auch kulturelle Aspekte zählen. Insbesondere Festivalnominierungen und -einladungen werden bei den Ausschüttungen berücksichtigt. Das finde ich sehr positiv. Aber so wichtig die Stärkung der Produzenten und der Produktionswirtschaft für den deutschen Film auch ist: Der künstlerisch-kreative Bereich darf nicht zu kurz kommen. Dazu haben wir mit diesem Gesetz ziemlich viel beigetragen. So werden zukünftig in den EntClaudia Roth ({8}) scheidungsgremien der Filmförderungsanstalt erstmals auch Drehbuchautoren und -autorinnen, Kurzfilmer und Regisseure vertreten sein. Zusätzlichen frischen Wind - ich glaube, das ist sehr wichtig für die kreative Fantasie - wird es in diesen Gremien durch eine von uns durchgesetzte Frauenquote geben. ({9}) Herr Neumann hat ihr zugestimmt. Er wird wissen, warum. Die Zeiten, in denen sich ausschließlich ältere männliche Herrschaften zum Zigarrerauchen versammelt haben - damit will ich niemandem zu nahe treten -, sind vorbei. ({10}) Das tut nicht nur den Nichtrauchern gut. „Die Elf von Bern spielte nie wieder zusammen“, heißt es bei Sönke Wortmann in dem wunderbaren Film „Das Wunder von Bern“ am Ende etwas melodramatisch und bedauernd. Unsere Elf spielte noch nie zusammen, stelle ich bezogen auf die neue, elfköpfige Vergabekommission der FFA optimistisch und hoffnungsfroh fest. Da eine Elf nun einmal elf Spieler hat, ist es zu begrüßen, dass ein Vertreter der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Ersatzbank stärkt. ({11}) Erstmals sind Regisseure, Drehbuchautoren, Kurzfilmer und Kurzfilmerinnen in der Vergabekommission mit festen Sitzen vertreten. Ich bin sicher, dass sie den filmischen Sachverstand in diesem wichtigen Gremium erweitern. Es gibt zahlreiche weitere Erfolge, die wir uns gemeinsam auf die Fahne schreiben können. Kurzfilme und Drehbücher werden mit 2 Prozent statt, wie geplant, mit 1,5 Prozent der FFA-Einnahmen gefördert. Analog zu der Praxis in den Filmhochschulen können Kurzfilme mit einer Länge von bis zu 45 statt 15 Minuten gefördert werden, sofern es sich um Erstlingswerke oder Hochschulfilme handelt. Den Deutschen Filmrat als zusätzliches Gremium wird es zu Recht nicht geben. Darin stimme ich Herrn Neumann explizit zu. Natürlich lassen sich - das habe ich gelernt - im Rahmen einer solchen Novellierung nicht alle sinnvollen Vorschläge sofort realisieren. Deshalb ist es uns sehr wichtig, dass wir in einer Resolution zum FFG bereits die Themen ansprechen, die bei der nächsten Novellierung eine Rolle spielen sollten, zum Beispiel die Computerspiele. Wir erleben die Synergien und Konvergenzen zwischen Computerspielen und Filmen beinahe täglich. So haben vor kurzem die Macher von „Matrix“ angekündigt, die Saga als Computerspiel fortzuführen. Ich glaube, dass Computerspiele endlich als Teil einer real existierenden Jugend- und Freizeitkultur betrachtet werden müssen. Ein wichtiger Schritt, den wir in diesem Zusammenhang prüfen wollen, ist - nach dem Vorbild Frankreichs und einiger deutscher Bundesländer - die Ausweitung der Kompetenzen der Filmförderungsanstalt auch auf die Bereiche Multimedia und Computerspiele. Des Weiteren hege ich große Sympathien für das so genannte „Schweizer Modell“, bei dem neben den Produzenten auch die Regisseure und Drehbuchautoren zu einem gewissen Prozentsatz direkt von der Erfolgsfilmförderung profitieren. Auch dieses Modell - das haben wir vereinbart - wollen wir einer genaueren Prüfung unterziehen. Doch nun wünsche ich erst einmal dem deutschen Film mit der jetzigen Novellierung des Filmförderungsgesetzes von ganzem Herzen alles Gute. Möge auf „Good bye, Lenin!“ ein „Hello Marx!“ kommen oder besser, um niemanden zu verprellen und auch keine Missverständnisse auszulösen, ein „long hello and no goodbye“ für den deutschen Film! Abschließend danke ich Ihnen nicht nur für Ihre Aufmerksamkeit, sondern auch für eine spannende und konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuss - das kann ich explizit feststellen -, bei der wir über Grenzen und Mauern hinweg diskutiert haben. Ich bedanke mich auch für die gute Zusammenarbeit mit Christina Weiss und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit den sich hoffentlich auch weiterhin aktiv und heftig einmischenden Filmschaffenden in diesem Land. Danke schön. ({12}) - Herrn Otto habe ich, glaube ich, genügend gewürdigt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Da dafür die Redezeit offenkundig nicht mehr reichte, hoffe ich in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich jetzt dem Kollegen Otto das Wort erteile, ausdrücklich verbunden mit dem nachgelieferten Dank der Kollegin Roth für die Mitwirkung an diesem bedeutenden Gesetzeswerk. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Roth, mir wird richtig warm ums Herz. ({0}) Ich kann Ihnen gleich eingangs versichern, dass auch wir als FDP-Fraktion dem vorliegenden Gesetzentwurf unsere Zustimmung erteilen. Es kommt nicht allzu häufig vor, dass wir in der Sache übereinstimmen. ({1}) Das ist aber bei diesem Gesetzentwurf der Fall. Deswegen ist es ein schöner Abend. ({2}) Hans-Joachim Otto ({3}) Dieses einstimmige Votum, wofür viele Kolleginnen und Kollegen - ich gebe offen zu: auch ich - manche Kröte schlucken mussten, betrachten wir als ein wichtiges Signal für den deutschen Film. Dieses einstimmige Votum soll nämlich deutlich machen: Der Deutsche Bundestag steht zum deutschen Film und will, dass er Erfolg hat. Deswegen haben wir uns zusammengerauft. Und das ist auch gut so. ({4}) Ich möchte genauso wie Frau Kollegin Roth - bei ihr waren es andere Punkte - nicht verhehlen, dass es einige Punkte gibt, an denen wir unsere Bedenken zurückgestellt haben. Der wichtigste Bedenkenpunkt ist nach meiner Meinung, dass die Gremien in unsinniger Weise aufgebläht worden sind. So sollen der Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt 33 Mitglieder - ein bisschen kleiner wäre besser - und die Vergabekommission immerhin 12 Mitglieder umfassen. Noch eine Bemerkung zur Vergabekommission: Frau Roth, es ist in der Tat gut, dass wir von ARD und ZDF nur einen auf dem Spielfeld gelassen und einen auf die Reservebank geschickt haben. Der Frau Staatsministerin, die das als ihren Erfolg verkauft, sage ich nur: Der Erfolg - so ist das immer im Leben - hat viele Väter und Mütter, so auch diesmal. Ich sage ganz selbstbewusst: Wenn ich nicht gemotzt hätte, dann wäre der Erfolg nicht eingetreten. Sie waren zwar sauer auf mich, dass ich Kritik geübt habe. Aber ohne die Kritik der FDPFraktion hätten sich ARD und ZDF nicht zurückgezogen. So haben wir letztlich doch an einem Strang gezogen, und zwar sogar in dieselbe Richtung. ({5}) Ich möchte noch etwas in Richtung Filmwirtschaft sagen. Es möge sich bitte jeder vor Augen halten, dass sich aus der jetzt vorgesehenen Erhöhung der Förderquote kein Automatismus für zukünftige Erhöhungen ergibt. Ob es nun 40 Prozent, wie Frau Weiss vorgerechnet hat, oder 25 Prozent sind, wie der Kollege Neumann behauptet hat, jedenfalls bedeutet die vorgesehene Erhöhung einen satten Zuwachs in einer Zeit, in der andere Einbußen hinnehmen müssen. Das Gesetz gilt bis zum 31. Dezember 2008. Wir haben ausdrücklich und einstimmig in unsere Beschlussempfehlung aufgenommen, dass es keinen Automatismus geben wird und dass wir die Aufstockung anhand der Ergebnisse in der Praxis evaluieren wollen. Die deutsche Filmwirtschaft möge sich bitte darauf einstellen, dass nicht immer aus dem Vollen geschöpft werden kann und dass jetzt Erfolge auf der nun geschaffenen gesetzlichen Basis erzielt werden müssen. Nachdem wir das Gesetzesvorhaben positiv abgeschlossen haben, möchte ich ebenso wie der Kollege Neumann den Blick nach vorne auf das richten, was noch zu tun ist. Ich möchte besonders einen Punkt ansprechen, den der Kollege Neumann nur tangiert hat, nämlich das Wirrwarr bzw. die mangelnde Koordination bei der Filmförderung durch die Länder und die Filmförderungsanstalt. Wir müssen hier zu einer besseren Koordination kommen. Die bisherige irrsinnige und hirnrissige Praxis der Filmförderung - derselbe Film erfährt eine Förderung von Schleswig-Holstein, weil in ihm ein Schauspieler aus Schleswig-Holstein mitspielt; er wird von Baden-Württemberg gefördert, weil dort eine Außenaufnahme gedreht worden ist, und er erfährt eine Förderung von Hessen, weil dort die Nachproduktion erfolgt - muss aufhören. Wir brauchen eine Koordination auf der Basis eines Bund-Länder-Staatsvertrages. Der Kollege Neumann hat völlig zu Recht darauf hingewiesen - auch ich setze hier einen Schwerpunkt -, dass die Rahmenbedingungen für den deutschen Film verbessert werden müssen. Die entsprechenden Stichworte sind schon gefallen. Es muss für Chancengleichheit im internationalen Wettbewerb gesorgt werden. Es muss internationale Standards bei den Finanzierungsund Förderinstrumenten geben. Der Medienerlass - er ist bereits angesprochen worden - ist geradezu eine Bremse für den deutschen Film und schadet ihm. Wir müssen uns ebenfalls darauf verständigen - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, die Abschreibungsbedingungen für erworbene Filmrechte zu ändern. Eine Regelung, wonach erworbene Filmrechte über 50 Jahre steuerlich abgeschrieben werden können, kann man schlicht und einfach vergessen. Diese Regelung - das ist keine Subvention für den deutschen Film - müssen wir an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen; denn kein Film kann über 50 Jahre verwertet werden. Ich nehme an, dass wir hier Einigkeit erzielen werden. Auch das Urhebergesetz muss geändert werden. Wir müssen das tun, was auch schon andere Länder gemacht haben, nämlich die Rechte der Produzenten auf diesem Gebiet stärken. ({6}) - Nein, das ist nicht einfach, Herr Kollege Benneter. Hier herrscht heute fast schon eine adventliche Stimmung. In der Tat sind alle Punkte, die angesprochen wurden, hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit schwierig. Wir haben in der Rede von Frau Weiss den Blick in die Zukunft ein wenig vermisst. Wir sollten uns jetzt nicht selbstzufrieden zurücklehnen, wenn wir das Filmförderungsgesetz verabschiedet haben. Dieses Gesetz allein wird - das ist meine Kernbotschaft - dem deutschen Film noch nicht auf die Beine helfen. Wir müssen hier im Deutschen Bundestag noch einiges andere regeln. Mit dem Filmförderungsgesetz muss eine große Etappe mit dem Ziel der Stärkung des deutschen Filmes beginnen. Langer Rede kurzer Sinn: Wo immer Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Hause sitzen, lassen Sie uns nicht die Hände in den Schoß legen! Wir haben in der Tat noch viel zu tun. Bei den Beratungen herrschte insgesamt - in diesem Punkt will ich die Kollegin Roth durchaus unterstützen - ein Klima, das auf Zusammenarbeit ausgerichtet war. Das war sehr erfreulich. Wenn wir das auch bei den Beratungen über die Felder, in denen jetzt noch Reformen durchgeführt werden müssen, zustande bringen, dann werden wir einen sehr guten BeiHans-Joachim Otto ({7}) trag dazu leisten können, den deutschen Film dauerhaft zu stärken. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Ziel. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor ich nun als krönenden Abschluss dieser Debatte der Kollegin Gisela Hilbrecht das Wort erteile, die den allermeisten - einschließlich des amtierenden Präsidenten - bis heute nur unter dem Namen Schröter bekannt war, nutze ich die Gelegenheit gerne, ihr zu ihrer Heirat vor wenigen Tagen herzlich zu gratulieren. ({0})

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident, vielleicht bin ich das erste Mitglied des Deutschen Bundestages, dem hier, vor dem Hohen Hause, solch ein Glückwunsch ausgesprochen wurde. Ich möchte das natürlich auch meinem Mann mit auf den Weg geben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich bin gespannt, ob das wie eine Androhung oder wie eine Verheißung wirkt. ({0})

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, jetzt haben Sie mich richtig nervös gemacht; ansonsten bin ich das nicht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Neumann, wir reden heute über die Novelle zum Filmförderungsgesetz und über die Rahmenbedingungen für das Filmschaffen in Deutschland insgesamt. Selbstverständlich löst die Novelle allein nicht die Probleme des deutschen Films. Die wirtschaftliche Förderung ist nur ein Faktor, der auf die Lage des deutschen Films Einfluss hat, aber - ich denke, da sind wir uns alle einig - ein ganz zentraler. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir hier den großen Erfolg dieses von allen Fraktionen gemeinsam getragenen Gesetzes nicht klein reden, zumal es hierbei um einen genuinen Regelungsbereich der Bundeskulturpolitik geht. Beim Medienerlass, beim Urheberrecht oder bei steuerlichen Subventionen für die Filmwirtschaft haben andere Ressorts - das Finanzministerium, das Justizministerium, das Wirtschaftsministerium, aber auch die Finanzminister der Länder - das Sagen. Dieses Problem ist uns genauso bewusst wie die Tatsache, dass die Regelungsgegenstände komplex und die Interessen der Beteiligten - wie könnte es anders sein? - sehr unterschiedlich sind. Das heißt: Wir müssen weiterhin ganz dicke Bretter bohren. ({0}) Lassen Sie mich ganz kurz auf den Medienerlass eingehen. Es gibt auch in meiner Fraktion immer wieder Anfragen dazu. Dieses Thema spielt immer wieder eine Rolle. Ich bin froh, dass wir mit dem neuen Medienerlass grundsätzlich die Möglichkeit einräumen, Filme mit privatem Geld zu finanzieren. Wir können deutsche Medienfonds aus ordnungspolitischen Erwägungen und nicht zuletzt wegen der im EU-Recht verankerten Kapitalverkehrsfreiheit nicht bevorzugen. Ich denke, dem kann eigentlich niemand widersprechen. Wir können aber dazu beitragen, dass der deutsche Film attraktiver wird. Das Filmförderungsgesetz legt dafür einen Grundstein. Der Filmproduktionsstandort Deutschland - ich denke, auch hier sind wir uns einig - muss attraktiver gemacht werden. „film 20“ hat in diesem Zusammenhang interessante Vorschläge gemacht. Allerdings stoßen solche Ansätze zurzeit - das überrascht nicht - haushaltsmäßig und steuerrechtlich auf enorme Schwierigkeiten. Das darf uns aber nicht abschrecken, weiterhin nach neuen Wegen zu suchen. Noch immer nicht geklärt ist die Betriebsstättenproblematik. Wir warten auf ein Ergebnis der Bund-Länder-Gespräche. Die Bedenken, die einer schnelleren Lösung im Wege stehen, kommen meines Wissens vonseiten der Länder. Ich selber habe im Bundesfinanzministerium nachdrücklich auf den großen Erwartungsdruck vonseiten der Filmwirtschaft hingewiesen. Wir sind wohl darüber einig: Wir brauchen endlich eine praktikable Lösung. Beim Urheberrecht - auch das ist angesprochen worden - ist die weitere Umsetzung der EU-Richtlinie angelaufen. Es geht jetzt um den so genannten zweiten Korb. Insbesondere von der Kinobranche wird völlig zu Recht auf das große Problem der Raubkopien hingewiesen. Ich habe bereits in meiner letzten Rede darauf hingewiesen, dass das Problem umgehend gelöst werden muss. Ich freue mich darüber, dass es im Rechtsausschuss thematisiert wird. Wir sind uns darüber einig, dass hier höchste Eile geboten ist. ({1}) Mit seinen Branchenabgaben und Fernsehbeiträgen ist das FFG vom Ansatz her ein Wirtschaftsförderungsgesetz. Bis zur Einrichtung eines Ausschusses für Kultur und Medien wurde das Gesetz federführend im Wirtschaftsausschuss behandelt und im Innenausschuss mitberaten. Ich finde es ganz wichtig, dass jetzt der Ausschuss für Kultur und Medien dafür zuständig ist. ({2}) Die Förderung der Filmwirtschaft macht aber nur Sinn, wenn zugleich auch das Produkt, um das es geht, nämlich der deutsche Kinofilm, in seiner Qualität gefördert wird. Gefördert wird - so heißt es in der neuen Fassung des § 1 - die kreativ-künstlerische Qualität des deutschen Films als Voraussetzung für seinen Erfolg im Inland und im Ausland. Ich bin froh darüber, dass das kein leeres Bekenntnis ist. Diese Einsicht in die Notwendigkeit des sachgerechten Ausgleichs zwischen wirtschaftlichen Interessen und kulturellem Anspruch, ohne dass man das eine dem anderen opfert, zieht sich durch das ganze Gesetz. ({3}) An dieser Stelle geht mein herzlicher Dank an alle Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss für die - wie sollte es anders sein? - wirklich sehr gute Zusammenarbeit. Ich danke auch der Ministerin sowie ihrer Fachabteilung, die in ganz vorbildlicher Art und Weise mit dem Parlament kooperiert haben. In aller Offenheit, sowohl vonseiten der Parlamentarier als auch vonseiten der Staatsministerin - das habe ich in meinen dreizehn Jahren in diesem Parlament so noch nicht erlebt -, ist ein Regelwerk im Dialog mit den Betroffenen aus der Filmbranche entstanden. Das ist, denke ich, Kulturpolitik im besten Sinne des Wortes, so wie man sie von Kulturpolitikern auch erwarten sollte. ({4}) - Nein, das war noch nicht das Schlusswort, Herr Otto. Sie müssen mir schon noch ein bisschen zuhören. ({5}) Festmachen kann man diesen Ausgleich zwischen wirtschaftlichem Interesse und kultureller Verantwortung an zwei Punkten des Gesetzes - ich fasse noch einmal zusammen -, erstens an der Einbeziehung kultureller Kriterien bei der Referenzfilmförderung und zweitens an der Einbeziehung der Kreativen bei der Besetzung der Gremien der FFA. Eine Anmerkung kann ich mir nicht verkneifen. Keineswegs gilt doch - darüber sind wir uns, denke ich, einig -: je größer ein Gremium, desto repräsentativer. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Kampf um die Gremienbesetzung für viele offensichtlich der wichtigste Punkt in der Debatte war. ({6}) Insofern unterscheidet sich die Filmbranche nicht von anderen Branchen. Noch ein Hinweis zur Vergabekommission. Drehbuchautoren, Regisseure und auch Kurzfilmer sind künftig neben Vertretern von Kino, Produktion, Verleih, Video, Fernsehen und Parlament mit dabei, wenn über die Förderung von Filmprojekten entschieden wird. Als Mitglied dieser Kommission bin ich gespannt, wie sich das auf die Förderpraxis auswirkt. Eine ganz persönliche Bemerkung: Ich als Politikerin verstehe mich durchaus auch als Kreative. Ich denke, dass auch Kreativität eine Voraussetzung für erfolgreiche Politik ist. ({7}) Ich hoffe, dass wir mit der Einbeziehung der Kreativen auch denen gerecht werden, die immer nach mehr Transparenz der Gremien gerufen haben. Aber ich möchte ausdrücklich anmerken: Transparenz gibt es nur dann, wenn alle Vertreter auch wirklich transportieren, was zum Beispiel im Verwaltungsrat läuft. Die FFG-Novelle, die wir heute beschließen, ist ein großer politischer Erfolg. Aber die Arbeit geht natürlich weiter. Wir, die Kulturpolitiker aller Fraktionen, haben in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag eine Agenda verabredet, die wir alle, wie ich denke, sehr ernst behandeln werden. Die Fußballsprache hat nach dem Wunder von Bern - wen wundert es? - auch unsere Debatte um das FFG erreicht. Also: Nach der Novelle ist vor der Novelle. ({8}) - Oh, Sie kennen sich im Fußball gut aus; ich auch. Ich halte fest: Die Aufmerksamkeit für den deutschen Film hat deutlich zugenommen und wird sich hoffentlich auch in Marktanteilen und Festivalerfolgen niederschlagen. Unsere Aufgabe als Kulturpolitiker wird es sein, diesen Erfolg nachhaltig zu stabilisieren; und das nicht nur, damit die deutsche Filmwirtschaft floriert, sondern auch, weil es sich beim Kinofilm um ein Kulturgut ersten Ranges handelt, ({9}) um ein Medium von größter gesellschaftlicher und identitätsstiftender Bedeutung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wann waren Sie das letzte Mal in einem deutschen Kinofilm? ({10}) Ich wünsche mir, dass wir alle und auch alle Gäste hier zu Botschaftern des deutschen Films werden. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache und lasse die Anregung einmal auf sich beruhen, ob wir demnächst regelmäßig abfragen, wer wann zuletzt in welchem Film war, obwohl das zum Unterhaltungswert dieser Debatten sehr beitragen könnte. ({0}) - Die könnten wir, Herr Kollege, kongenial mit einbeziehen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Wir kommen jetzt zu den erforderlichen Abstimmungen über den vorliegenden Gesetzentwurf bzw. die Entschließungsanträge. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Filmförderungsgesetzes auf der Drucksache 15/1506. Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1958, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegt ein interfraktioneller Änderungsantrag vor, über den wir zuerst abstimmen müssen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/1977? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist angenommen. ({1}) - Wenn es dem Glanz der Gesetzgebung dient, füge ich gerne hinzu, dass er einstimmig angenommen worden ist. Das ist für den Änderungsantrag ja nicht ganz so wesentlich wie für den Gesetzentwurf, über den wir jetzt anschließend dennoch abstimmen müssen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. ({2}) Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme eines Änderungsantrages in zweiter Beratung unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so vereinbart. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der Fall. Damit ist dieser Gesetzentwurf zur Änderung des Filmförderungsgesetzes vom Deutschen Bundestag einstimmig angenommen. Um das mehrfach bemühte Beispiel des Wunders von Bern aufzugreifen: Wenn das Zusammenspiel dieser Mannschaft so grandios war, wie alle Sprecher der Fraktionen wechselseitig gerühmt haben, wäre es schade, wenn diese Mannschaft zum letzten Mal so zusammengespielt hätte. ({3}) Wir kommen nun zu Buchstabe b der Beschlussempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 15/1958 mit der Empfehlung der Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand der Stimme? Dann ist auch diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer ({4}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU LKW-Sonntagsfahrverbot in Deutschland beibehalten - Drucksache 15/1876 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erteile ich der Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehe davon aus, dass es auch bei diesem Tagesordnungspunkt Gemeinsamkeiten gibt. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um eine Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots für schwere LKW zu verhindern. Denn Berichten zufolge will die EU dieses Fahrverbot aufweichen. Das Sonn- und Feiertagsfahrverbot für LKW in Deutschland hat sich bewährt und muss erhalten bleiben. ({0}) Deutschland wäre als Transitland Nummer eins in Europa von dieser Lockerung massiv betroffen. An Sonn- und Feiertagen gäbe es aufgrund des zeitgleich stattfindenden Freizeitverkehrs lange LKW-Kolonnen mit Staus, Lärm und Unfällen auf den ohnehin schon stark belasteten Autobahnen. Das ist den Anwohnern nicht zumutbar. Uns ist das Sonn- und Feiertagsfahrverbot für LKW heilig. Wir halten es für wichtig. ({1}) Verkehrsminister Stolpe darf allerdings nicht einknicken und nicht Europa Tür und Tor für den Schwerlastverkehr öffnen, der dann künftig auch sonntags über unsere Straßen lärmen würde. Wir wollen in Deutschland die Sonnund Feiertage nicht zu Werktagen degradieren und wir wollen auch nicht, dass LKW-Transporte an Wochenenden die Straßen verstopfen und den Freizeitverkehr einschränken. In der EU wachsen allerdings die Bestrebungen, den Sonn- und Feiertagsschutz mittelfristig einzuschränken bzw. langfristig abzuschaffen - mit der fadenscheinigen Begründung, den zunehmenden Güterverkehr auf der Straße besser abwickeln zu können. Zudem seien sonntägliche Wartezeiten an den Grenzen nicht zumutbar bzw. nicht hinnehmbar. Nach dem Willen der EU-Kommission sollen die Mitgliedstaaten zusätzliche Fahrverbote künftig nur noch mit ausdrücklicher Genehmigung der EU-Kommission verhängen dürfen. Wenn die grundsätzlichen Befugnisse erst einmal auf die EU übertragen worden sind, ist zu befürchten, ja sogar davon auszugehen, dass die bisherigen nationalen Vorschriften allenfalls Auslaufmodelle und erfahrungsgemäß nur noch von kurzer Haltbarkeitsdauer sind. Wir kennen doch die Regelungswut der EU bzw. das An-sich-Ziehen von Befugnissen. Es besteht die Gefahr, dass die Sonn- und Feiertagsfahrverbote Scheibchen für Scheibchen beschnitten werden. Das wäre auch im Hinblick auf die EU-Osterweiterung und den damit zu erwartenden Verkehr für Deutschland fatal. Im Übrigen beeinträchtigen die geltenden deutschen Regelungen den freien Warenverkehr nicht, da verderbliche Waren ohnehin schon von Fahrverboten ausgenommen sind. Allerdings müsste die Kennzeichnung „verderbliche Waren“ durch die zuständigen Behörden restriktiv ausgelegt und kontrolliert werden, damit die Umgehung des geltenden Rechts erschwert bzw. ganz verhindert wird. Bei manchem LKW, der an Sonn- und Feiertagen unterwegs ist, habe ich doch die Vermutung, dass keinesfalls verderbliche Waren gefahren werden, sondern man eher darauf vertraut, nicht kontrolliert zu werden bzw. die dann fällige Strafe durch den gewonnenen Transportvorteil locker bezahlen zu können. Eine Lockerung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots für LKW bedeutet zudem einen gravierenden Einschnitt in das Privatleben der Berufskraftfahrer und deren Familien. Eine generelle Fahrerlaubnis würde nicht nur die Fahrer, sondern auch sehr viele andere Arbeitnehmer belasten; denn es geht nicht nur um das Fahren, sondern auch um das Be- und Entladen der Fahrzeuge. Auch das deutsche Transportgewerbe lehnt die Aufhebung oder Aufweichung dieses Fahrverbots ab; denn es würde eine weitere Verschlechterung der Wettbewerbssituation im europäischen Vergleich entstehen, wenn die LKWs aus unseren Nachbarstaaten auch sonnund feiertags durch Deutschland fahren könnten. Besonders in Regionen, wo der Fremdenverkehr die einzig bedeutende Einnahmequelle ist, kann sich eine Aushöhlung des Fahrverbots an Sonn- und Feiertagen für LKWs negativ auf die Überlebenschancen der Fremdenverkehrsbetriebe auswirken. Dörfer und Städte müssten sich dann mit dem Aufstellen von Park- und Durchfahrtsverbotstafeln für LKWs befassen. Dies kann keinesfalls in unserem Sinne sein. Ich gehe davon aus, dass alle Fraktionen in diesem Hause für die Beibehaltung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots für LKWs in Deutschland sind; denn Deutschland wäre als Drehscheibe des Verkehrs in Europa von einer Lockerung dieses Verbots am stärksten betroffen. Dies können wir unserer Bevölkerung nicht zumuten. ({2}) Wir sollten nach dem Motto „Wehret den Anfängen!“ gemeinsam handeln und der Bundesregierung diesen gemeinsamen Auftrag mitgeben bzw. ihr den Rücken für Verhandlungen mit der EU stärken, damit wirklich alle Maßnahmen ergriffen werden können, um eine Aushöhlung des Sonn- und Feiertagsfahrverbots zu verhindern. Meine Kolleginnen und Kollegen, Pläne aus Brüssel zur Aufweichung des Fahrverbots gehören in den Papierkorb und müssen vom Parlament zurückgewiesen werden. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung hat nun die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens das Wort.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dieser Nachmittag entwickelt sich regelrecht zu einem Nachmittag der Harmonie. Das LKW-Sonntagsfahrverbot ist ein hochpolitisches Thema. In Ihrem Antrag kommt die Sorge zum Ausdruck, dass durch eine europäische Regelung das Sonnund Feiertagsfahrverbot gefährdet werden könnte. Die Bundesregierung teilt diese Sorge und sie teilt auch die Forderung nach einer Beibehaltung dieses Verbots. Immer wieder müssen wir uns in gewissen Abständen mit diesem Thema beschäftigen. Bisher ist es zusammen mit Frankreich, Österreich und Italien immer gelungen, Begehrlichkeiten der Kommission oder anderer Länder abzuwehren. Dass Italien als amtierende Ratspräsidentschaft den geänderten Richtlinienentwurf der Kommission auf die Agenda genommen hat, ist überraschend und nicht zu erklären. Der Richtlinienentwurf hat den irreführenden Titel „… über ein transparentes System harmonisierter Vorschriften zur Beschränkung des grenzüberschreitenden Güterverkehrs mit schweren Lastkraftwagen …“. Ich sage dazu: Ziel jeder EU-Richtlinie muss ein europäischer Mehrwert und eine europäische Harmonisierung sein. Ich kann aber weder den europäischen Mehrwert noch die Harmonisierung erkennen. Warum sollte - so muss ich im Umkehrschluss fragen - ein Land Fahrverbote eigentlich einführen, wenn es diese Fahrverbote aufgrund eines geringen Fahraufkommens gar nicht braucht? In der Bundesrepublik Deutschland haben wir seit 1956 ein Fahrverbot an Sonn- und Feiertagen. Dieses Verbot hat sich aus Gründen der Verkehrssicherheit und auch deshalb, weil es unserem Verständnis von Sonntagsruhe entspricht, bewährt. ({0}) Die Sonntagsruhe ist - das weiß vielleicht nicht jeder auch im Grundgesetz festgehalten. Übrigens kannte die DDR kein Sonntagsfahrverbot. Das lag vor allen Dingen daran, dass der übliche Transportweg die Schiene war. Die restliche Transportleistung war überschaubar. Dies ist aber in einem Transitland nicht der Fall. Als Transitland haben wir besondere Lasten zu tragen. Periphere Staaten kennen diese Situation nicht. Diese Lasten zu tragen ist eine schwere Aufgabe. Auch bei uns wird immer wieder die Diskussion darüber geführt, wie man das prognostizierte Verkehrsaufkommen bewältigen kann. Dazu gibt es mehr oder weniger gute Ratschläge. In einer Pressemitteilung des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels heißt es, wir müssten die Denkverbote überwinden und eine Diskussion führen über die Aufhebung von Sonntagsfahrverboten, über die Öffnung des Werksverkehrs für Transporte Dritter und auch über die Anhebung des zulässigen Gesamtgewichts für LKW’s auf bis zu 60 Tonnen. Ich stelle hier fest, dass diese Aufforderung zur Diskussion bis jetzt keine Resonanz gefunden hat, weder im politischen Bereich noch beim betroffenen Gewerbe. Ich hoffe, damit hat sich das erledigt. Wir haben eine Regelung, die sich bewährt hat und - was ja nicht so häufig vorkommt - die auch äußerst beliebt ist. ({1}) Wie geht es jetzt weiter in Europa? Wir werden weiterhin mit Nachdruck unsere ablehnende Haltung zum Richtlinienentwurf zum Ausdruck bringen. Wir werden weiterhin eng vor allen Dingen mit Frankreich zusammenarbeiten. Wir treffen aber Vorkehrungen, unser Ziel - es heißt: Fortbestand des Sonn- und Feiertagsfahrverbotes - auch dann zu erreichen, wenn wir überstimmt werden. In diesem Fall werden wir uns für einen dauerhaften Bestandsschutz der bestehenden nationalen Regelungen einsetzen. Wir haben immer sehr viel Verständnis für unsere Position gefunden. Wenn es allerdings hart auf hart geht - das betrifft auch Punkt II Ihres Antrages -, können wir von Großbritannien zwar Verständnis erwarten, aber Unterstützung ist schon ein bisschen problematischer. Großbritannien hat das uns gegenüber auch so zum Ausdruck gebracht. Mit Ihrer Forderung nach einer integrierten Verkehrspolitik rennen Sie bei uns nun wahrlich offene Türen ein ({2}) - ja, Scheunentore, größere Tore kann es gar nicht geben -, wenngleich wir uns in unserer Diskussion nicht auf die transeuropäischen Netze beschränken sollten und auch nicht wollen. Weil es in Ihrem Antrag so treffend formuliert ist, möchte ich mir vorbehalten, bei der nächsten Debatte, die wir über die Bahn führen, gegebenenfalls auf diese Formulierung zurückzukommen. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich für die FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei so viel Gemeinsamkeit wird es ja schon wieder interessant, eine andere Meinung zu haben, aber man muss sich das richtige Thema heraussuchen. Zunächst muss man sich fragen: Was hat eigentlich die EUKommission bewogen, ausgerechnet an dem Punkt anzufangen, über eine Harmonisierung in Europa laut nachzudenken? ({0}) Es gäbe eine ganze Palette von Themen, über die man mit dem Ziel der Beseitigung von Defiziten ernsthaft mit der EU diskutieren könnte. Eine solche Diskussion wäre zwar auch strittig, aber sie wäre sehr viel wichtiger, als jetzt das Thema Sonntagsfahrverbot aufzugreifen. ({1}) Ich denke an Themen wie Lenk- und Ruhezeiten, KfzSteuer, Mineralölsteuer sowie an andere Vorschriften und Ausnahmeregelungen ({2}) wie die nachträglich genehmigten steuerlichen Hilfen anderer Länder ab dem Jahr 2000 für ihr Transportgewerbe. ({3}) Diese Genehmigung erfolgte im Übrigen mit Zustimmung der Bundesregierung. Es gäbe also eine große Palette von Themen, über die man sich Gedanken machen könnte. Der Kollege Fischer fordert ja ständig ein Weißbuch der EU zur Beseitigung der Harmonisierungsdefizite. ({4}) Es wäre sicherlich interessant, das abzuarbeiten. Dazu braucht man aber kein Weißbuch; die Themen sind eigentlich bekannt. ({5}) Dass man jetzt ausgerechnet das Sonntagsfahrverbot in den Blick nimmt zeigt, dass man einen Sinn darin sieht, Horst Friedrich ({6}) das größte Transitland und das wirtschaftlich interessanteste Land innerhalb der EU noch stärker zu frequentieren - zwei Drittel des Gesamtverkehrs finden schon jetzt bei uns statt - und dass man deshalb jetzt auch das bestehende Fahrverbot von Sonntag 0 Uhr bis 22 Uhr aufheben will. Allerdings - das ist ja schon angeklungen, verehrte Kolleginnen und Kollegen - müssen wir natürlich auch selber aufpassen. Mittlerweile werden in den Regionen neben dem sowieso schon ausgenommenen Verkehr für so genannte lebensnotwendige Güter - flächendeckend mehr und mehr Ausnahmeregelungen erteilt, was dazu führt, - das zeigt ein Vergleich der täglichen Verkehrszahlen -, dass am Sonntag bereits jetzt schätzungsweise 20 Prozent des Schwerlastverkehrs, der durchschnittlich werktäglich unterwegs ist, auf Deutschlands Autobahnen fährt. Das ist natürlich überwiegend aufgrund von regionalen Ausnahmegenehmigungen möglich. Wer auf der einen Seite von sich aus deutlich macht: „Ich nehme das alles nicht allzu ernst“, darf sich umgekehrt nicht wundern ({7}) - wenn das Handy klingelt; ({8}) damit wären wir wieder beim Thema Film: „Immer wenn der Postmann zweimal klingelt“ -, ({9}) wenn man von der anderen Seite darauf angesprochen wird, in diesem Bereich zu harmonisieren. Wir werden uns im Ausschuss intensiv mit dem Antrag der Union befassen und sicherlich in sehr pragmatischer Weise ein gemeinsames Ergebnis erzielen. Ich freue mich auf die Fortsetzung der Debatte anlässlich der weiteren Behandlung dieses Antrages im Plenum. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Diejenigen Kollegen, die offenkundig Entzugserscheinungen haben, weil sie nicht Mitglied des Ausschusses für Kultur und Medien sind, mache ich darauf aufmerksam, dass nach unserer Geschäftsordnung jedes Mitglied des Bundestages berechtigt ist, an Sitzungen von Ausschüssen, in denen es kein Mitglied ist, teilzunehmen. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass dies heute ein so konsensualer, harmonischer Nachmittag ist. ({0}) Dies ist schon der zweite Tagesordnungspunkt, der offenbar die Einigkeit des Hauses in wichtigen Fragen dokumentiert. ({1}) Dies ist auch die zweite Verkehrsdebatte, die ich hier erlebe, bei der es in einem zentralen Punkt Übereinstimmung gibt. Beim ersten Thema ging es um den Börsengang der Bahn. Ich finde, hier waren wir mit unserem Aufsichtsratsbeschluss, der dieser Debatte unmittelbar folgte, erfolgreich. Das zweite Thema ist jetzt das Sonntags- und Feiertagsfahrverbot für schwere LKW’s. ({2}) - Das zeigt, dass wir dann Erfolg haben, wenn wir gemeinsam das Richtige wollen. ({3}) Noch gilt in Deutschland, in Frankreich, in Italien und in Österreich an Sonntagen und an bestimmten Feiertagen ein LKW-Fahrverbot. Das ist keine Willkür und auch kein Zufall. Denn diese Länder liegen nun einmal im Herzen Europas, wir in Deutschland ganz besonders: Wir sind das Transitland Nummer eins in der Mitte Europas. Ob Nord-Süd-Verkehr oder West-Ost-Verkehr, alle wälzen sich über unsere Straßen. Deshalb wäre es eine Horrorvorstellung, die LKWKolonne nun zeitgleich mit dem Freizeitverkehr am Wochenende auf die Straßen zu lassen. Das ist nicht nur eine Frage der Lebensqualität und der Überlastung unserer Bevölkerung, insbesondere der Anwohnerinnen und Anwohner, die diesem Lärm auch noch am Sonntag ausgesetzt wären. Das ist vielmehr auch eine Frage der Sicherheit. Denn am Sonntag den Freizeitverkehr zugleich mit dem Verkehr schwerer LKW’s auf die Straße zu lassen heißt: mehr Unfälle, mehr Staus und noch mehr Belastungen für die Anwohnerinnen und Anwohner. Das kann niemand verantworten, auch nicht wenn er in Brüssel sitzt. ({4}) - So ist es. Schon eine Lockerung des Sonntagsfahrverbots ist eine falsche Strategie. Denn sie führt natürlich dazu, dass ein solches Verbot nach und nach wie ein Schweizer Käse durchlöchert wird, bis es am Schluss mehr Löcher Albert Schmidt ({5}) als Käse hat. Deswegen freue ich mich, dass wir uns hier einig sind. Freizeitverkehr plus LKW-Lawinen, das überfordert nicht nur die Straßen, das überfordert auch die Menschen. Deswegen sind wir alle auf dem richtigen Weg, wenn wir in Richtung Brüssel und - auch das sage ich hier sehr deutlich - in Richtung Rom, in Richtung der gegenwärtigen Ratspräsidentschaft, ausdrücklich feststellen: Das Sonntagsfahrverbot für LKW’s ist für uns eine Frage der Lebensqualität. Wir im Deutschen Bundestag sollten gemeinsam und einmütig das Signal an Herrn Berlusconi senden: Er kann auf der nächsten Ratstagung Anfang Dezember treiben, was er will; ({6}) aber dieses Thema sollte er schleunigst von der Tagesordnung absetzen. ({7}) Denn niemand hier will eine Lockerung, noch nicht einmal das LKW-Gewerbe. Es ist schon gesagt worden, dass auch das deutsche Speditionsgewerbe eine Aufhebung dieses Fahrverbotes ablehnt, und zwar aufgrund der Befürchtung einer weiteren Verschlechterung der Wettbewerbsposition im europäischen Vergleich, nämlich dann, wenn die Trucks aus dem Ausland auch sonnund feiertags durch Deutschland donnern. Deshalb wird es höchste Zeit, dieses Signal zu geben. Denn wir befinden uns tatsächlich in einer Fünf-vorzwölf-Situation. Wir können vielleicht gerade noch den Zeiger anhalten, wenn wir dank der Einmütigkeit heute gemeinsam das richtige Signal setzen. Ich bin deshalb sehr dankbar für den vorliegenden Antrag, der uns den Anlass gibt, diese Debatte heute zu führen. ({8}) Irgendwann einmal - ich will es so salopp sagen muss der Tag sein, an dem ein leidenschaftlicher Autofahrer über die Autobahn brettern kann, ohne dass die LKW auf der rechten Spur ein Hindernis wie eine Mauer bilden. Ich denke an Persönlichkeiten wie Rezzo Schlauch, die auch einmal die Möglichkeit haben wollen, ihre Fahrzeuge auszufahren. ({9}) Man sollte nicht verschweigen, dass auch das eine Rolle spielen darf. ({10}) Für mich spielt aber noch ein anderer Punkt eine sehr wichtige Rolle, den ich abschließend ansprechen möchte. Wenn wir heute einen Stopp der Debatte um eine Aufweichung des Fahrverbots an Sonn- und Feiertagen fordern, geben wir auch ein Zeichen, dass eine totale Kommerzialisierung der Sonn- und Feiertage an eine Grenze stößt, bei der wir Halt sagen. Das ist auch eine kulturelle Frage, Herr Präsident. Es gibt noch andere Werte im Leben als die totale Kommerzialisierung, den permanenten Transport, das permanente Geschäft. Es gibt Werte wie Freizeit, Erholung, Ruhe und Familienleben. ({11}) Das wollen wir garantiert sehen. Deshalb sagen wir heute Nein zu diesen Plänen aus Brüssel, aus Rom oder woher immer sie kommen mögen. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Schorsch Brunnhuber, CDU/CSU-Fraktion. Falls auch er noch die kulturelle Bedeutung des Straßenverkehrs hervorhebt, ist mit dem Zuströmen der verschwundenen Kollegen aus dem einschlägigen Ausschuss zu rechnen. ({0})

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie kennen mich: Wenn alles schon gesagt ist, braucht man in einer Sache, bei der man sich wirklich einig ist, nicht alles zu wiederholen. Ich stelle deshalb erstens fest: Das Sonntagsfahrverbot für schwere LKW’s muss bleiben, weil es sich bewährt hat und weil wir den Sonntag als heilig wollen. Wir haben jetzt schon bis Samstag volle Arbeitszeit; deshalb muss der Sonntag absolut frei gehalten werden. Zweitens. Wir wollen nicht, dass ausländische Konkurrenz, die wir jetzt schon haben, das deutsche Verkehrsgewerbe im grenzüberschreitenden Verkehr permanent zurückdrängt: von 35 Prozent Anteil vor fünf Jahren auf jetzt unter 25 Prozent. Das muss verhindert werden. Drittens. All das, was von allen Kollegen gesagt worden ist, ist richtig. Ich bitte deshalb die Bundesregierung, unseren Antrag zu unterstützen. Umgekehrt können wir Ihnen versichern: In Brüssel haben Sie unsere volle Zustimmung. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Verehrter Kollege Brunnhuber, ich hätte es nicht für möglich gehalten, in meiner Amtszeit noch einmal eine so spektakuläre Unterschreitung der Redezeit erleben zu dürfen, wie das gerade der Fall war. ({0}) Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat der Kollege Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem meine Redezeit bereits von elf auf sechs Minuten heruntergekürzt worden ist, werde auch ich mich kurzfassen. Insofern hoffe ich, dass ich Ihr Wohlwollen verdiene. Als ich mich in den letzten Tagen wieder mit diesem Thema beschäftigte, fiel mir auf, dass man den Eindruck haben könnte, es handele sich um einen Evergreen, der alle vier Jahre hier im Parlament erörtert wird. 1998 und 1999 hat der Bundestag eindeutige Beschlüsse dazu gefasst. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass wir unterschätzen, was aus Europa kommt. Europa ist eine Mühle, die beständig mahlt. Sie produziert unaufhörlich immer neue Vorschläge, Entschließungen und Verordnungen. Man muss aufpassen, dass der nationale Wille dabei am Ende nicht fürchterlich unter die Räder kommt. Das droht in diesem Fall. Ich habe einmal nachgeschaut: Seit 1998 hat es auf europäischer Ebene 14 Befassungen mit diesem Thema gegeben. 23 Bulletins und ähnliche Schriften sind nur zu diesem Thema verfasst worden, ({0}) immer mit dem gleichen Ziel, an dieser Stelle etwas aufzubohren. Es ist gut und notwendig, dass dieses Parlament sich einmütig gegen diese Hydra wehrt, der, sobald man einen Kopf abgeschlagen hat, zwei neue nachwachsen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass das hier so einmütig passiert. Ich habe allerdings eine Bitte. Bei der Recherche haben wir festgestellt, dass SPD, CSU, ÖVP und SPÖ im Europäischen Parlament eine einheitliche Position haben, leider aber nicht die Abgeordneten der Christlich Demokratischen Union im Europäischen Parlament. Die haben mehrheitlich leider für den Kommissionsvorschlag gestimmt, was von einer leichten Verwirrung bei all denen zeugt, von denen man hätte annehmen müssen, dass sie um unsere nationale Debatte wissen. ({1}) Insofern ist das ein Arbeitsfeld, bei dem wir noch überzeugen müssen. Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Seitens der sozialdemokratischen Fraktion darf auch ich feststellen: Wir sind eindeutig der Meinung, dass wir an diesem Regelwerk nichts verändern wollen. Wir werden uns im Ausschuss bei der Beratung Ihres Antrages entsprechend verhalten. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1876 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2002 ({1}) - Drucksachen 15/500, 15/1837 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Merten Anita Schäfer ({2}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache 45 Minuten dauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Dr. Willfried Penner. Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine intakte Institution und in dieser Armee leisten Soldaten erstklassigen Dienst. Aus aktuellem Anlass füge ich hinzu: Die Bundeswehr ist eine demokratische Institution im demokratisch verfassten Staat und nicht etwa Gehäuse für Rechtsextremismus oder Rechtsextremisten. ({3}) Die Bundeswehr steht für Freiheit, steht für Toleranz und für Achtung der menschlichen Würde und nicht für das Gegenteil. Das ist Tatsache und nicht etwa beschwörende Leerformel. In der Bundeswehr wird innere Führung praktiziert und Soldaten sind Staatsbürger in Uniform. Mächtige Wirkkräfte sichern die demokratische Beschaffenheit der Bundeswehr ab: Ich nenne die ständige, fast uneingeschränkte Kontrolle durch die Öffentlichkeit, ich nenne die ständige parlamentarische Kontrolle und ich erwähne die besondere politische Verantwortlichkeit von Bundesverteidigungsminister und Bundeskanzler als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt. Da ist kein Platz für die Widerwärtigkeiten des Rechtsextremismus; das wird auch so bleiben. ({4}) Gewiss bedeutet dies keinen uneingeschränkten Schutz. Die Begehrlichkeiten des Rechtsextremismus in Richtung Bundeswehr im Hinblick auf deren hierarchische Ordnung, im Hinblick auf Waffen und den Umgang mit denselben, aber auch im Hinblick auf militärische Symbole und die Dienstkleidung werden bleiben. Dies ist aber eine andere Geschichte. Dagegen kann man sich wehren und das geschieht auch. Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner Das Schüren eines diesbezüglichen Generalverdachts gegen die Bundeswehr ist allerdings infam, zumal deutsche Soldaten in ihrer Mission im Ausland unter zum Teil außerordentlich schwierigen Bedingungen und bei Einsatz von Leib und Leben einen allseits anerkannten Dienst zum Schutz von Menschenrechten und der internationalen Wertegemeinschaft leisten. ({5}) Das ändert aber nichts daran, dass es auch Probleme gibt - und die nicht zu knapp. Das Parlament als Auftraggeber des Wehrbeauftragten hat Anspruch darauf, zu erfahren, wie es um seine Bundeswehr und seine Soldaten nach den Wahrnehmungen des Wehrbeauftragten im Berichtsjahr bestellt ist. Hierzu die wichtigsten Hinweise: Erstens. Der Bundeswehr zu Hause machen die Auswirkungen der Einsätze sehr zu schaffen. Soldaten weisen vermehrt auf Doppel-, ja Mehrfachbelastungen hin, die die Folge einsatzbedingter Abwesenheit anderer Soldaten sei. Immer wieder wird vorgetragen, dass der Übungs- und Ausbildungsbetrieb Schaden nehme. Die Schwächen werden mit fehlenden Ausbildern, Mangel an geeignetem Material und erforderlichen Mitteln erklärt. Es verstärkt sich der Eindruck, dass die Bundeswehr in einigen Bereichen die Grenzen der Möglichkeiten erreicht hat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien die Nöte der Fernmelder sowie von Spezialisten generell und die Schwierigkeiten beim Sanitätswesen erwähnt. Das Fehlen von Chirurgen, Anästhesisten und Orthopäden belastet die Funktionsfähigkeit von Bundeswehrkrankenhäusern zulasten der Soldaten. Perspektivisch ist zu berichten, dass das Interesse am Dienst des Sanitätsoffiziers nachlässt. Die Zahl der Bewerber dafür wird kleiner. Mögliche negative Folgen zulasten des Sanitätswesens sind absehbar. Es besteht Handlungsbedarf. Zweitens. Die rasche Folge tief greifender Veränderungen in der Bundeswehr verunsichert Soldaten, weil damit auch Planungsverlässlichkeit für den persönlichen Bereich, für Frau und Kinder, betroffen sein kann. Hinzu kommt, dass Unsicherheiten über den Fortbestand von Einheiten und Standorten Soldaten zusätzlich belasten. Immer wieder wird von erfahrenen, wohlmeinenden Soldaten vorgebracht, dass das Riesenunternehmen Bundeswehr bei einander überlappenden Veränderungsprozessen grundlegender Art nicht zurechtkommen könne. Drittens. Gerade bei wiederholten Einsätzen stellt sich für Soldaten immer drängender die Frage nach Sinn und Zweck ihres Dienstes, wenn sie nach ihren Wahrnehmungen keine politischen Fortschritte ausmachen können. Die Soldaten wollen nicht Besatzungsmacht oder Lückenbüßer für nicht stattfindende politische Veränderungen sein. Mit anderen Worten: Sie erwarten Konsequenzen aus dem Primat der Politik. Viertens. Bei Bundeswehr im Einsatz ist es unumgänglich, an die immer noch ausstehende Novellierung des soldatischen Versorgungsrechts zu erinnern, die doch schon seit knapp einem Jahr zugesagt und begonnen worden ist. Die Soldaten begreifen es nicht, dass dies so lange dauert, hingegen über jeden zusätzlichen Einsatz sehr zügig Entscheidungen getroffen werden. Sie können es übrigens auch nicht begreifen, dass ihr zunehmend gefährlicher werdender Dienst zeitgleich von Einschnitten in Besoldung und Versorgung begleitet wird. Es sei nur an die angekündigte Kürzung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes erinnert. Das würde die Bundeswehr gerade bei den unteren Besoldungsgruppen breit erreichen. Unterhalb der Besoldungsgruppe A 7 leisten über 130 000 Soldaten Dienst. Das sind allesamt Einkommensbezieher mit Bruttogrundgehältern zwischen 1 445 und maximal 2 131 Euro; dabei sind die Abschläge der Ostbesoldung noch nicht eingerechnet. Gerade die Bundeswehr im Einsatz belastet es nach wie vor, dass die Lücke zwischen der Ost- und der Westbesoldung immer noch nicht geschlossen ist. Unmissverständlich gesagt: Befürchtete Konsequenzen für die Haushalte von Ländern und Gemeinden im Osten und für das Weiterbestehen der Tarifgemeinschaft von Bund, Ländern und Gemeinden taugen als Argument für weiteres Zögern und Zagen nicht. ({6}) Der Bund ist allein für militärische Angelegenheiten und damit auch allein für Bundeswehr im Einsatz zuständig. Dann ist der Bund auch allein für die Beschaffenheit der Armee verantwortlich. Deren Verfassung nimmt Schaden, wenn nicht endlich diese zulasten der ostdeutschen Soldaten diskriminierend wirkenden, die Armee der Einheit spaltenden Einkommensunterschiede aufgehoben werden. ({7}) Was andere Mängel in der Bundeswehr und die Sorgen der Soldaten angeht, muss es mit einem Hinweis auf den Bericht sein Bewenden haben. Ich will nur noch ein paar Stichworte nennen, was die Soldaten belastet und was in der Bundeswehr rumort: Mit seiner neuen Laufbahn wird das Unteroffizierskorps weiterhin nicht richtig fertig. Die „alten“ Unteroffiziere sehen sich auf dem Wege zum Abstellgleis und ihre Interessen auf Beförderung nicht zureichend berücksichtigt. Die Infrastruktur in vielen Kasernen des westlichen Deutschlands lässt zu wünschen übrig. Dagegen hat das Programm „Kaserne 2000“ für den Osten erfreulicherweise voll gegriffen. Damit auch dies gesagt sei: Klagen über Unzulänglichkeiten gerade bei der Bearbeitung von Personalangelegenheiten mit negativen Konsequenzen für die Betroffenen werden mehr und mehr. Ich erwähne als Quellen für Schwächen, ohne dass das eine Schuldzuweisung bedeutet, die Zentren für Nachwuchsgewinnung, die Stammdienststellen, aber auch Knotenpunkte in der Truppe selbst. Wehrbeauftragter Dr. Willfried Penner Der Verteidigungsausschuss wird in seinem Bemühen nicht locker lassen, Verbesserungen durchzusetzen; darin bin ich mir sicher. Er wird zu Beginn des nächsten Jahres beim Bundesministerium der Verteidigung wegen notwendiger Veränderungen wieder förmlich vorstellig werden. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das hat der Bundestag immer wieder erklärt. Das wissen auch die Soldaten. Sie wissen auch, dass das Parlament damit für die Bundeswehr eine besondere Verantwortung übernommen hat. Schönen Dank für Ihre Geduld. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Heß, SPDFraktion.

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der 44. Bericht des Wehrbeauftragten spiegelt ein ehrliches Bild der inneren Lage der Bundeswehr wider. Da es sich um einen Mängelbericht handelt, zeigt er vor allem deutlich auf, welche Defizite innerhalb der Truppe bestehen. Die Anzahl der Eingaben stieg im Jahr 2002 um rund 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr an. Dieser Anstieg ist darin begründet, dass sich die Bundeswehr im umfangreichsten Reformprozess seit ihrem Bestehen befindet und gleichzeitig mehr Soldaten in Auslandseinsätzen ihren Dienst verrichten als jemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Bundeswehr hat bewiesen, dass sie den erhöhten Anforderungen gewachsen ist. Dennoch ist es nicht zu vermeiden, dass es in bestimmten Bereichen Defizite gibt. Diese Defizite werden erkannt und wo immer möglich gelöst. Das Beispiel des Feldlazarettes Rajlovac in der Nähe von Sarajevo zeigt, dass der Verteidigungsausschuss und das Verteidigungsministerium mit Kritik vonseiten des Wehrbeauftragten und der Soldaten sehr verantwortungsvoll umgegangen sind und weiterhin umgehen. Der aktuelle Bericht des Wehrbeauftragten weist deutlich auf die unzulängliche Infrastruktur im Feldlazarett Rajlovac hin. Die Kritik war bekannt. Es gab aber finanzpolitische Bedenken, ein neues Feldlazarett zu bauen. Dank der geschlossenen Haltung des Verteidigungsministers und des gesamten Ausschusses konnten diese Bedenken zu guter Letzt ausgeräumt werden. Inzwischen ist der erste Spatenstich erfolgt. Im nächsten Jahr wird das Feldlazarett mit einer modernen Infrastruktur unseren Soldaten, aber auch den Soldaten anderer Nationen, den Hilfsorganisationen und der Zivilbevölkerung zur Verfügung stehen. Ein wesentlicher Anlass zur Beschwerde im Sanitätsdienst war die individuelle Einsatzbelastung der Sanitäter. Auch hier wurde reagiert. Man hat das Splittingverfahren für das sanitätsdienstliche Fachpersonal konsequent beibehalten. Sicher kommt es noch immer zu einer hohen Einsatzbelastung der Spezialisten. Das Sanitätsführungskommando ist aber angehalten, die Soldatinnen und Soldaten nach Möglichkeit so einzuplanen, dass sie in einem Zeitraum von 30 Monaten nur bis zu sechs Monate ihren Dienst in einem Einsatzland versehen müssen. Mit diesen Vorgaben wird die Einsatzbelastung gleichmäßig und auf möglichst vielen Schultern verteilt. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass der Sanitätsdienst unter einem Mangel an medizinischem Fachpersonal leidet; der Fachpersonalmangel trifft übrigens auch den zivilen Sektor. Umso höher möchte ich das bisherige Engagement der Sanitätsdienstler der Bundeswehr, aber auch unserer Reservisten bewerten sowie die überwiegend sehr gute zivil-militärische Zusammenarbeit hervorheben. Zu Recht wird im Bericht des Wehrbeauftragten auf die über 200 Eingaben im Zusammenhang mit den neuen Laufbahnen hingewiesen. Insgesamt reagiert die Truppe positiv auf die neuen Laufbahnen, da hiermit auch die Möglichkeit verbessert wurde, Beruf und Familie in Einklang zu bringen, und die Bundeswehr besonders auch für junge Menschen attraktiver wird. Durch die neuen Laufbahnen ergeben sich für die jungen Zeitsoldaten sehr rasche Aufstiegsmöglichkeiten, was teilweise dazu führt, dass ältere Soldaten vom Dienstgrad her überholt werden. Dies führt bei manchen altgedienten und lebensälteren Soldaten zu Vorbehalten gegen die neuen Laufbahnen. Das Verteidigungsministerium hat gehandelt und durch zusätzliche Planstellen eine Entspannung erreicht. Wir sind hier noch nicht am Ende. Ich denke aber, es wird auch in Zukunft so weitergehen. Die unterschiedliche Besoldung in Ost und West sorgt seit Jahren für Unmut in der Truppe. Die Mitglieder des Verteidigungsausschusses und Minister Struck sind sich darin einig, dass es zu einer schnellen Angleichung kommen muss. Wir alle wissen aber, dass es kein spezielles Besoldungsrecht für die Bundeswehr geben wird ({0}) und die Länder und Kommunen dieser Angleichung zustimmen müssten. Diese haben bereits signalisiert, dass es vor 2007 nicht dazu kommen wird. Deshalb appelliere ich von dieser Stelle aus an die Länder, zu prüfen, ob nicht bereits früher eine schrittweise Angleichung realisiert werden kann. Schließlich ist die Bundeswehr eine Armee der Einheit und außerdem vielfach eine Armee im Einsatz. ({1}) Die Einsätze im Ausland sind oft mit großen Gefahren verbunden. Wir haben noch die schrecklichen Geschehnisse in Kabul vor Augen. Der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt, dass vor Ort notwendige Maßnahmen ergriffen werden, um den Schutz der Soldaten zu optimieren. Die Auslandseinsätze machen aber auch deutPetra Heß lich, dass unsere Soldatinnen und Soldaten Anspruch auf die beste Ausrüstung haben. Nur dann sind sie den unterschiedlichen Gefahrenpotenzialen gewachsen. Dieser Anspruch hat bei Neubeschaffungen absolute Priorität. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Entwicklung und Beschaffung der neuen Einsatzfahrzeuge Spezialisierte Kräfte. Hier wird deutlich, dass kontinuierlich an Verbesserungen zum Schutz der Soldaten gearbeitet wird. Bereits im nächsten Jahr werden die ersten ESK-Fahrzeuge in die Einsatzgebiete gelangen. Ich denke, das ist ein gutes Signal an die Truppe, aber auch an ihre Angehörigen. Im Sommer dieses Jahres habe ich alle 23 thüringischen Bundeswehrstandorte besucht. Nicht nur im Bericht des Wehrbeauftragten, sondern in jedem dieser Standorte wurde von den Soldaten das Versorgungsrecht im Auslandseinsatz angesprochen. Die bisherige Unterteilung in qualifizierten und nicht qualifizierten Dienstunfall wird als höchst unbefriedigend empfunden. Dem kann ich mich nur nachdrücklich anschließen. Dankenswerterweise gibt es einen einstimmigen Beschluss des Verteidigungsausschusses und eine gute Vorlage des Ministeriums, die weit reichende Verbesserungen für die Soldaten beinhaltet. Diese Vorlage befindet sich zurzeit zur Ressortabstimmung und ich erwarte - das sage ich an dieser Stelle mit allem Nachdruck -, dass die Änderungen noch in diesem Jahr verabschiedet und mit einer angemessenen Rückwirkung in Kraft treten werden. ({2}) Das sind wir den Soldaten, ihren Familien und ihren Angehörigen, die die Einsätze mittragen, schuldig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich feststellen, dass ich den steigenden Zahlen an Eingaben durchaus auch Positives abgewinnen kann. Dies zeigt, dass Soldaten Vorkommnisse nicht auf sich beruhen lassen oder ihre Vorgesetzten diese unter den Teppich kehren, sondern dass sie diese unter Einbeziehung des Wehrbeauftragten ansprechen und publik machen. Damit unterstreichen sie, dass unsere Soldaten verantwortungsvolle Staatsbürger in Uniform sind. ({3}) Nur so können Fehlentwicklungen und Mängel in der Bundeswehr rechtzeitig erkannt und Konsequenzen gezogen werden. Abschließend möchte ich dem Wehrbeauftragten Dr. Penner und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für den kritischen, umfangreichen und fairen Bericht danken. Mein Dank gilt aber auch den Soldatinnen und Soldaten für einen Dienst, den sie in einer sehr schwierigen Phase in hervorragender Weise tun. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Anita Schäfer, CDU/ CSU-Fraktion.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kollegen! Sehr geehrter Herr Penner, ich danke Ihnen im Namen meiner Fraktion für Ihren Bericht. Unser Dank gilt natürlich ebenso auch Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. In diesem Jahresbericht 2002 haben Sie, sehr geehrter Herr Dr. Penner, auf zahlreiche Defizite in der Bundeswehr hingewiesen. Das ist eben die Natur eines Mängelberichts. Die neue, von der Bundesregierung beschlossene Reduzierung der Truppenstärke und die damit verbundene dritte Reform der zweiten Reform der ersten Reform werden die Anzahl der Eingaben wohl auch in den nächsten Jahren auf einem hohen Niveau halten. Bedauerlicherweise wird von einer Reform in die nächste gestolpert. Es fehlt Planungssicherheit; das spüren die Soldaten. Die Truppe braucht mehr innere Kontinuität, um ihre vielen und gefährlichen Aufträge zu erfüllen. Ich wünsche mir, dass mit den jüngsten Strukturentscheidungen die Phase der Stabilisierung erreicht wird. Die Soldaten im Einsatzland dürfen bei ihrem wichtigen und gefährlichen Einsatz nicht durch eine ungewisse Lage in der Heimat verunsichert werden. ({0}) Der Gesamteindruck des Berichtes ist aber der einer verunsicherten Truppe, die in einem sehr schwierigen Umbruch steckt. Sehr geehrter Herr Dr. Penner, leider vermeiden Sie es, aus den Elementen Ihres Berichtes ein Gesamtbild zu zeichnen. In der Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung Ihres Berichtes ging Ihre Analyse weiter. Zu Recht forderten Sie von der politischen Führung Berechenbarkeit und Führungsverantwortung. Das möchte ich nachdrücklich unterstreichen; denn genau das fordere ich auch. Das erwarten ebenso die Menschen in der Bundeswehr. Die Mehrzahl der Soldatinnen und Soldaten fühlt sich einer politischen Führung ausgesetzt, die ihren Teil an der Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten nicht ernst genug nimmt. ({1}) Viele Probleme der Soldaten entstehen an der Schnittstelle zwischen Militär- und Zivilleben, zum Beispiel in Besoldungs- und Versorgungsfragen oder - das ist ganz wichtig - im Familienleben der Soldaten, die sich in Auslandseinsätzen befinden. Die Folgen der Trennung von der Familie oder dem Lebenspartner sind schwerwiegend. Viele Beziehungen geraten in die Krise, Ehen scheitern. Besonders junge Partnerschaften stehen vor großen Problemen. Die dienstlichen Belastungen haben für viele Zeit- und Berufssoldaten ein solches Ausmaß erreicht, dass sie vor der Frage „Dienst oder Familie?“ stehen. ({2}) Anita Schäfer ({3}) Dazu darf es niemals kommen. Das dienstliche Umfeld muss so gestaltet sein, dass Familie nicht nur möglich ist, sondern bei unseren Soldatinnen und Soldaten auch gefördert wird. Ich fordere daher den Bundesminister der Verteidigung auf, mit allen Mitteln zu verhindern, dass eine hohe Trennungs- und Scheidungsquote zum Kennzeichen für das Berufsbild des Soldaten wird. ({4}) Es muss klar sein, dass nicht nur Angebote der Bundeswehr bestehen. Familienbetreuung heißt, aktiv auf die Angehörigen zuzugehen und sich um sie zu kümmern. Dafür trägt die politische Leitung eine hohe Verantwortung. Viele Eingaben an den Wehrbeauftragten zeigen, dass die Grenzen der materiellen wie auch der ideellen Belastbarkeit der Streitkräfte erreicht sind. Die Kunde von dieser starken Belastung im Dienst dringt nach außen. Sie wird von der Gesellschaft wahrgenommen. Diese hohe Belastung schreckt wohl viele junge Menschen vom Dienst in der Bundeswehr ab. Wenn aus Kostengründen zu wenig gepanzerte Fahrzeuge im Einsatzland sind, dann werden die eingesetzten Soldaten unnötigen Gefahren ausgesetzt. ({5}) Der Anschlag in Kabul hat die Eingaben zu diesem Problem aus dem Jahr 2002 in schrecklicher Weise bestätigt. Das Verteidigungsministerium darf nicht zulassen, dass die Sicherheit der Soldaten gefährdet wird, weil Ausbildung und Materialerhaltung zu kurz kommen. Einsätze müssen sich an den vorhandenen Ressourcen ausrichten. Sie müssen sich aber auch an politischer Machbarkeit orientieren. ({6}) Zahlreiche Soldatinnen und Soldaten, die auf dem Balkan im Einsatz waren, haben erhebliche Zweifel am langfristigen politischen Ziel bekommen. Ähnliches zeichnet sich jetzt mit der Mission in Kunduz ab. Die politische Glaubwürdigkeit des Mandates steht und fällt mit der Lösung der inneren Probleme Afghanistans. Ich nenne beispielhaft die Drogenproblematik. Wie lange sollen unsere Soldaten dem Anbau von Drogen noch zusehen? Was passiert, wenn nicht mittelfristig afghanische Polizei den Drogenanbau bekämpft? Die Rechtssicherheit der Soldatinnen und Soldaten ist nur ein weiteres Feld, das die Soldaten mit Sorge zu Eingaben an den Wehrbeauftragten veranlasst. Die Bundesregierung muss ihre Hausaufgaben zur Rechtssicherheit der Soldaten machen. Es darf nicht sein, dass Soldaten ohne klare Rechtsgrundlage in den Einsatz gehen. Ebenso ist die Anpassung des Soldatenversorgungsgesetzes kein Privileg, sondern eine zwingende Notwendigkeit. Wenn der Tod und die Verwundung im Einsatzland fast immer zum Rechtsstreit führen, dann verliert die Truppe ganz das Vertrauen in die politische Führung. Ich unterstreiche das noch einmal: Am Umgang mit unseren im Einsatz gefallenen und verwundeten Soldaten, am Umgang mit ihren Angehörigen zeigt sich das wahre Gesicht unseres Landes, das die Soldatinnen und Soldaten gerne im Sinne des Wortes als Vaterland sehen. Das dürfen wir nicht kleinkarierten, untergeordneten Behörden überlassen. Das muss die Sorge des Parlaments sein. Die Bundeswehr ist eine Armee im Bündnis. Während meiner Truppenbesuche bei multinationalen Verbänden mit dem Herrn Wehrbeauftragten habe ich mit deutschen Soldaten gesprochen, die gemeinsam mit Soldaten anderer Länder ihren Dienst leisten. Der volkstümliche Spruch „andere Länder, andere Sitten“ gilt auch für Armeen. Besonders die Rolle der einfachen Soldaten, der Mannschaftsdienstgrade, in manchen Armeen muss nachdenklich stimmen. Nach vielen Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten aus multinationalen Verwendungen kann ich sagen: Innere Führung als Markenzeichen deutscher Streitkräfte muss erhalten bleiben. ({7}) Mehr noch, es muss im Zuge einer Europäisierung unserer Streitkräfte auch eine Europäisierung der Grundsätze der inneren Führung stattfinden. Bei der deutsch-französischen Brigade konnte ich feststellen, dass innere Führung nach mehr als zehn Jahren in der Brigade keine unbekannte Größe mehr ist. Innere Führung, das Bekenntnis zum Staatsbürger in Uniform ist nicht Zeichen einer schwachen Führung, ist keine Sache nur für Innendienst und Manöver. Der Soldat im Einsatz muss als Staatsbürger seinem Land dienen, er darf nicht zum Söldner werden. Zu einem ernsten Kapitel im Bericht des Wehrbeauftragten ist etwas positiv zu bemerken: Die Anzahl der Vorfälle mit einem Verdacht auf rechtsextremistischen Hintergrund ist deutlich zurückgegangen. Ich zitiere: „In allen berichteten Vorfällen haben die Vorgesetzten schnell, umfassend und richtig reagiert.“ So weit die Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zum Bericht des Wehrbeauftragten. Es gibt wohl keinen Bereich in der Gesellschaft, in dem Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus so konsequent verfolgt werden wie in der Bundeswehr. ({8}) Verglichen mit dem Anteil junger Männer in der Gesamtbevölkerung ist die Anzahl extremistischer Vorfälle in der Bundeswehr kein Grund zur Sorge, wenn auch jeder einzelne Vorfall einer zu viel ist. Der in der Presse erhobene Vorwurf, dass rechtsradikales und antisemitisches Denken bis in die Spitzen der Streitkräfte verbreitet sei, kann nicht stehen gelassen werden und sollte nicht erhoben werden. Wer diesen Vorwurf unberechtigt und pauschal erhebt, beschädigt das Ansehen der Bundeswehr. Dann kennt er die Bundeswehr nicht. ({9}) Anita Schäfer ({10}) Wenn jedoch einem Soldaten eine solche Verfehlung vorgeworfen wird, dann müssen Vorgesetzte selbstverständlich schnell und konsequent reagieren, aber auch korrekt und rechtlich einwandfrei. Ich komme zum Schluss. Der 44. Bericht des Wehrbeauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Kluft zwischen politischem Anspruch, den vielen Aufträgen und der Lage in der Truppe immer größer wird. Das gilt vor allem für die nicht ausreichende Ausstattung mit Haushaltsmitteln, sowohl für die gefährlichen Einsätze im Ausland als auch für den Dienst in der Heimat. Es bleibt zu hoffen, dass die bevorstehenden Reformen endlich eine klare und langfristige Perspektive für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr schaffen. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Marianne Tritz, Bündnis 90/Die Grünen.

Marianne Tritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003647, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Penner! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Brigadegeneral Reinhard Günzel hat der Bundeswehr mit seinem unsäglichen Unterstützungsbrief für den CDU-Abgeordneten Hohmann Schaden zugefügt. Die sofortige Entlassung Günzels durch den Bundesverteidigungsminister war die einzig mögliche, folgerichtige Konsequenz ({0}) eine Konsequenz, die wir bei Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, im Umgang mit Ihrem Kollegen Martin Hohmann leider eine unerträglich lange Zeit schmerzlich vermissen mussten. ({1}) Der vorliegende Jahresbericht 2002 verdeutlicht die ganz besondere Bedeutung, die der Berichterstattung des Wehrbeauftragten als Stimmungsbarometer und Problemindikator für die Bundeswehr zukommt. In dem Bericht für das Jahr 2002 heißt es, dass 111 besondere Vorkommnisse mit Verdacht auf rechtsextremistischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund gemeldet wurden. Damit ist das niedrigste Meldeaufkommen seit 1997 erreicht. Das ist ein Erfolg der vielfältigen präventiven, aber auch repressiven Maßnahmen innerhalb der Bundeswehr. Der Fall Günzel ist in diesem Zusammenhang auch ein erneutes klares Signal an alle innerhalb und außerhalb der Bundeswehr: Rechtsextremismus hat in unserer Gesellschaft keinen Platz. Wer dieses Signal nicht beachtet, verliert seinen Platz in den Streitkräften. ({2}) Die Unverträglichkeit von Rechtsextremismus und Bundeswehr begründet sich auch aus einem anderen Zusammenhang. In Zeiten der Modernisierung und Umstrukturierung der Streitkräfte bei gleichzeitiger Internationalisierung von Aufträgen und Einsätzen verändert sich das Anforderungsprofil von Soldatinnen und Soldaten. Kommunikative und interkulturelle Kompetenz gehören neben dem Beherrschen von Fremdsprachen immer mehr zur grundlegenden Qualifikation der Soldatinnen und Soldaten von heute und morgen. Fremdenfeindliche Einstellungen unter Angehörigen der Bundeswehr würden somit die erfolgreiche Durchführung von multinationalen Einsätzen unmöglich machen. Mit dem Bericht können wir all denjenigen überzeugende Fakten entgegenhalten, die jetzt vor dem Hintergrund des Falles Günzel versuchen, die Bundeswehr insgesamt als einen Hort des Rechtsextremismus zu diffamieren. Ein für mich sehr wichtiges Ergebnis des Jahresberichtes ist, dass sich das Prinzip der inneren Führung auch bei Auslandseinsätzen bewährt hat. Das Leitbild der Staatsbürgerin und des Staatsbürgers in Uniform ist Markenzeichen und Erfolgsgarant der Bundeswehr. Es muss bei allen Veränderungen der Strukturen und Anforderungen an die Bundeswehr beibehalten werden. Der Jahresbericht dokumentiert außerdem die erheblichen Fortschritte bei der Integration von Soldatinnen in die Bundeswehr. Der Frauenanteil ist zwar im Berichtszeitraum leicht gestiegen, liegt jedoch mit 3,97 Prozent aller Zeit- und Berufssoldaten zu niedrig. Es bedarf weiterer Anstrengungen, den Bundeswehrdienst für Frauen attraktiver zu gestalten, auch und gerade was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht. Darüber hinaus ist es notwendig, die existierenden Probleme zu bekämpfen, zum Beispiel die in einzelnen Fällen auftretenden frauenfeindlichen Äußerungen und Übergriffe weiter zu minimieren. Die steigende Zahl der Auslandseinsätze führt zu einem Sinken der Familien- und Beziehungsverträglichkeit des Soldatenberufs insgesamt. Die Länge der Auslandseinsätze ist ein erhebliches Hindernis bei der Nachwuchsgewinnung von Soldatinnen und Soldaten. Die bereits vorgenommene Flexibilisierung ist ein erster Schritt zur notwendigen Überwindung des Dogmas der sechsmonatigen Stehzeit. Höchst begrüßenswert ist in diesem Zusammenhang die Verbesserung und Aufstockung der bestehenden 19 Familienbetreuungszentren für Angehörige von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz sowie die Einrichtung weiterer neun solcher Zentren. Sehr interessant ist der Vermerk des Wehrbeauftragten über Klagen wegen mangelnder Wehrgerechtigkeit und geäußerten Zweifeln am Sinn der allgemeinen Wehrpflicht. Wie Sie wissen, setzen sich die Grünen für die Abschaffung der Wehrpflicht ein und werden, wie in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt, im Lauf dieser Legislaturperiode eine Überprüfung der Wehrverfassung durchführen. ({3}) Wir werden uns mit allen Mitteln für die Abschaffung der Wehrpflicht einsetzen. ({4}) Ich komme zum Schluss: Der 44. Bericht des Wehrbeauftragten hat deutlich gezeigt, dass die Bundeswehr bei allen sich erheblich verändernden Bedingungen und ernsthaften Problemen ihre Aufgabe meistert. Die Soldatinnen und Soldaten wirken durch ihre vermehrten Eingaben als mündige Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Uniform über die Institution des Wehrbeauftragten aktiv an der Gestaltung der Bundeswehr mit. Für Ihre wichtige und hervorragende Arbeit möchte ich Ihnen, Herr Penner, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen meiner Fraktion herzlich danken. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Helga Daub für die FDP-Fraktion.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Dr. Penner! Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal debattieren wir heute über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002. Gerne wiederhole ich den Dank an Dr. Penner und seine Mitarbeiter für die Erstellung dieses Berichts und vor allem für den Hinweis, dass die Bundeswehr kein Hort des Rechtsradikalismus ist und dass dafür in der Bundeswehr kein Platz ist. ({0}) Zu Recht werden in jeder Rede auch der Leistungswille und die Leistungsfähigkeit unserer Soldaten angesprochen. Umso wichtiger ist es, sich endlich den Problemen zu stellen, die im Bericht des Wehrbeauftragten angesprochen werden. Wir entscheiden morgen in diesem Haus über die Verlängerung des Mandats für die Operation Enduring Freedom. Damit sind wir bei einem Schwerpunktthema der Eingaben an den Wehrbeauftragten. Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr wird der Handlungsbedarf besonders deutlich. Die Einsatzdauer ist mit sechs Monaten zu lang. Der dreiwöchige Urlaub ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und löst letztlich nicht das Problem. ({1}) Die Abstände zwischen den Einsätzen sind viel zu kurz. Der zugesagte Mindestabstand von zwei Jahren kann nicht eingehalten werden, auf gar keinen Fall bei den Spezialisten. Die Soldaten klagen des Weiteren über die mangelnde Planungssicherheit, die ein hohes Konfliktpotenzial auch für das familiäre Umfeld mit sich bringt. Natürlich weiß der Zeit- und der Berufssoldat, dass er mobil und flexibel sein muss. Dass das jedoch nicht überstrapaziert werden sollte, zeigt zum Beispiel Folgendes: Wegen der Dauer und der zunehmenden Häufigkeit der Auslandseinsätze wird nach Ablauf der Verpflichtungszeit von einer Weiterverpflichtung Abstand genommen, die Dienstzeit verkürzt oder auf eine Übernahme als Berufssoldat verzichtet. Das ist ein alarmierendes Signal für die Attraktivität der Bundeswehr. Das können wir uns überhaupt nicht leisten, egal ob man für eine Berufsarmee plädiert - ich danke Ihnen, Frau Tritz; hätten Sie doch unserem Antrag zugestimmt ({2}) oder ob man eine Wehrpflichtarmee will. Damit komme ich zu den Petenten, die zu Recht die Wehrungerechtigkeit beklagen. Wenn behauptet wird, dass 96 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs erfasst würden - diese Zahl steht im Bericht des Wehrbeauftragten; in der Fernsehversion war sogar von 98 Prozent die Rede -, dass also die Wehrgerechtigkeit im Vergleich zur Vergangenheit zugenommen habe, dann muss man die Fakten klarstellen. Lassen Sie mich das an folgendem Beispiel erläutern: Wenn sich eine Polizeibehörde entschließt, säumige Zahler von Bußgeldern bis zu 15 Euro nicht mehr zu mahnen, so wird sie anschließend mit Fug und Recht behaupten können, dass die Zahlungsmoral enorm gestiegen sei - und das mit einem bürokratischen Federstrich und ohne einen Euro mehr in der Kasse! ({3}) Wenn man die Tauglichkeitskriterien für die Wehrpflichtigen immer weiter heraufsetzt, dann bekommt man zwar nicht mehr Wehrpflichtige, aber die beeindruckende Zahl von 96 Prozent. ({4}) - Ich habe noch ein anderes Beispiel, Herr Dr. Struck. Wenn ich das aber nennen würde, wäre meine Redezeit überschritten. ({5}) Als im April dieses Jahres das erste Mal über den Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2002 debattiert wurde, habe ich - wie meine Kollegen aus der FDPFraktion schon oft zuvor - über den Missstand bei der Versorgung gesprochen. Zum Beispiel haben alle Fraktionen im Januar dieses Jahres in einer Sitzung des Verteidigungsausschusses angemahnt, die zynische Unterscheidung zwischen qualifizierten und nicht qualifizierten Unfällen abzuschaffen. Das Jahr ist nun fast um und dankenswerterweise gibt es inzwischen zumindest eine großzügige Handhabung zugunsten der Betroffenen. Aber eine gesetzliche Regelung, die letztlich das Einzige ist, was den Soldaten eine wirkliche Sicherheit bietet, steht noch aus. Es kann doch nicht sein, dass zwar immer mehr Einsatz im wahrsten Sinne des Wortes gefordert wird, aber in einer so wichtigen Frage keine Einigung in der Regierung erzielt werden kann. Ich fordere Sie auf, dieses Thema weiter hartnäckig zu verfolgen und zu einem guten Abschluss zu bringen. ({6}) Natürlich kann ich aufgrund der kurzen Redezeit nicht auf alles eingehen, was an den Wehrbeauftragten herangetragen wurde. ({7}) Es gibt ja auch qualitative Unterschiede zwischen den Eingaben. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Soldat durchaus ohne ein Piercing leben kann. Aber zurück zum nötigen Ernst: Lassen Sie uns zumindest die dringendsten Probleme lösen, die sich aus den neuen Anforderungen an die Bundeswehr ergeben. Wenn es um das Wohl der Soldaten und Soldatinnen geht, haben Sie uns auf Ihrer Seite. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Kolbow das Wort.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sprecherinnen der Fraktionen haben Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Penner, dem Wehrbeauftragten, sowie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Recht gedankt. Ich darf mich diesem Dank, auch im Namen des anwesenden Bundesministers der Verteidigung, anschließen. Wir danken Ihnen auch für die Art und Weise, wie Sie in diesem Bericht die Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten im In- und Ausland herausstellen und würdigen. Unverzichtbar ist auch, Ihnen dafür zu danken, wie Sie die Mängel, die es in dieser großen Institution immer wieder gibt, ansprechen und wie Sie uns nachdrücklich zum Beseitigen derselben anhalten. Mein besonderer Dank gilt denjenigen, die im vergangenen Jahr durch ihr Wirken und durch ihre Leistungen zum positiven Erscheinungsbild der Bundeswehr nach innen wie nach außen beigetragen haben. Besonders bitte ich Sie, mit mir derer zu gedenken, die im Auftrag des Bundestages und damit im Dienst für unser Land ihr Leben verloren haben. Ihnen, ihren Angehörigen und all denen, die im Einsatz zu Schaden gekommen sind, gilt unser aufrichtiges Mitgefühl und unsere besondere Anteilnahme. Was Sie, Frau Kollegin Schäfer, in diesem Zusammenhang ausgeführt haben, möchte ich ausdrücklich unterstreichen. Das Bundesministerium der Verteidigung ist wie in den Vorjahren bemüht, die wertvollen Anregungen und Hinweise des Wehrbeauftragten aufzugreifen und im Rahmen der Möglichkeiten unverzüglich umzusetzen. Wir arbeiten mit aller Kraft an der Beseitigung der aufgezeigten Mängel. Dies gilt besonders für die im Bericht genannten Bereiche Attraktivitätsprogramm, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Dauer der Auslandseinsätze und Ausbau der Familienbetreuung. Dies gilt ebenso für die Bereiche Material- und Ersatzteillage, Gestaltung des Auslandsverwendungszuschlags und für die zweifellos notwendigen Verbesserungen im Versorgungsrecht, gerade mit Blick auf die notwendige soziale Absicherung bei Einsatzunfällen. An der auch vom Wehrbeauftragten so eindringlich angemahnten Novellierung des Versorgungsrechts arbeiten wir mit Nachdruck. Wir wollen sie unverzüglich zum Abschluss bringen. Wir danken für die Willensbekundungen aus den Reihen der Fraktionen. Wir werden die Willensbekundungen in die interministeriellen Abstimmungen mitnehmen. Wir sind ein gutes Stück vorangekommen: Es wird das Institut des Einsatzunfalles geben. Es wird auch beim Status - Zeitsoldaten, Berufssoldaten oder freiwillig Wehrdienstleistende - keinen Unterschied mehr geben; wir werden gleich entschädigen. ({0}) Wie auch dieser Bericht des Wehrbeauftragten deutlich herausstellt, ist es eindeutig der Fall, dass der Transformationsprozess der Bundeswehr die zivilen wie die militärischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor große Herausforderungen stellt. Zugleich weist der Bericht des Wehrbeauftragten aber auch unmissverständlich darauf hin, dass es zu diesem Prozess in der Bundeswehr keine ernsthafte Alternative gibt. In diesem Zusammenhang muss ehrlich gesagt werden, dass den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Uniform und ohne Uniform auch weiterhin Flexibilität abverlangt wird. Im Hinblick auf das unumgängliche Gebot der Wirtschaftlichkeit und der militärischen Effizienz werden auch zusätzliche Standorte zur Disposition stehen. Wir haben keine andere Wahl und wir werden noch eine geraume Zeit Anpassungsprozessen, zu denen es keine Alternative gibt, ins Auge zu sehen haben. Frau Kollegin Schäfer, wir stolpern dabei in der Tat nicht in etwas hinein, sondern wir bereiten konzeptionell vor, setzen kommunikativ um und zählen dabei auch auf die Professionalität unserer Soldatinnen und Soldaten sowie unserer zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. ({1}) Auf deren Professionalität können wir uns verlassen. Wir wissen auch, dass die Soldatinnen und Soldaten sowie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Anspruch haben, sich auf uns, auf den Minister sowie seine sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr, verlassen zu können. ({2}) Bei der Bundeswehrreform stand von Beginn an der Mensch im Mittelpunkt. Wir haben sozialverträglich umgestaltet. Wir haben versucht, Mängel, die dabei aufgetreten sind - das kommt immer wieder vor -, rechtzeitig und nachhaltig zu beseitigen. Das spiegelt sich auch in der jüngsten Weiterentwicklung des Attraktivitätsprogramms wider. Das Attraktivitätsprogramm konnte im letzten Jahr erfolgreich umgesetzt und auch weiterentwikkelt werden: Trotz des plafondierten Haushalts in den Jahren 2002 bis 2004 werden wir mehr als 46 500 Planstellenverbesserungen erreichen, aus denen mehr als 64 000 Beförderungen und Besoldungsverbesserungen folgen. Der Beförderungsstau konnte damit abgebaut werden. Zu den umgesetzten Maßnahmen gehören unter anderem die Anhebung der Eingangsbesoldung für Mannschaften sowie die Besoldung der Kompaniechefs und Offiziere in vergleichbarer Dienststellung nach der Besoldungsgruppe A 12. Die seit April 2002 neu gestaltete Laufbahn der Unteroffiziere führte zu einer Reduzierung der Mindestzeiten für eine Beförderung sowie zu einer Bündelung von Dienstposten. Über diejenigen, die nun nicht befördert werden konnten, die also weiter anstehen müssen, haben wir am Mittwoch im Verteidigungsausschuss gesprochen. Frau Kollegin Heß hat schon erwähnt, dass wir weitere Planstellen zur Verfügung stellen und so in schwieriger Zeit zu Erleichterungen kommen werden. Auch bei der Schaffung eines Soldatengleichstellungsgesetzes sowie bei der Ausgestaltung von Teilzeitdienst sind wir vorangekommen und schaffen damit zusätzliche Attraktivität. Der Wehrbeauftragte hat in seiner heutigen Rede die Kürzung des Weihnachtsgeldes erwähnt. Das war aus seiner Sicht selbstverständlich. Aus der Sicht von uns, die wir damit umzugehen haben, ist die Kürzung unumgänglich. Ich darf aber darauf hinweisen, dass die geplante Kürzung für die unteren Besoldungsgruppen in enger Abstimmung mit dem Deutschen BundeswehrVerband und mit den Fraktionen im Verteidigungsausschuss sozial abgefedert wird. Das bedeutet für Empfänger mit Grundgehalt nach den Besoldungsgruppen A 2 bis A 8 eine Erhöhung der gekürzten Sonderzahlung um einen Festbetrag von 100 Euro. Von dieser Regelung profitieren in der Bundeswehr mehr als 150 000 zivile und militärische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, denken Sie bitte an die Zeit.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Lassen Sie mich zum Schluss in Kürze zusammenfassend noch etwas zu den aktuellen Dingen sagen. Wie der Wehrbeauftragte formuliert hat - wer könnte es besser sagen als er? -, ist die Bundeswehr - das kann ich auch aus meiner Erfahrung nachdrücklich unterstreichen eine Armee in der Demokratie und für die Demokratie. Sie ist eine Armee der Toleranz. Sie schützt die Rechte Andersdenkender. Mit diesem Beispiel ist sie in unserem Geist im Ausland und im Innern tätig. Dafür danken wir. So wollen wir weiterarbeiten. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Abgeordneten Petra Pau das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Bericht des Wehrbeauftragten. Wir debattieren heute nicht über die Militärstrategie der Bundesrepublik und nicht über die Versuche der Bundesregierung, in diesem Zusammenhang geltendes Recht zu unterlaufen. Ich stelle das trotzdem voran; denn nach geltendem Recht ist der Einsatz von deutschen Krisenunterstützungskräften im Irak rechtswidrig. ({0}) Es ist sittenwidrig, wenn ein General der Bundeswehr bei antisemitischen Ausfällen von Amts wegen salutiert. Damit bin ich bei einem zentralen Punkt. Bundesverteidigungsminister Struck hat den KSK-Chef Günzel suspendiert, nachdem dessen rechtsextremistisches Gedankengut Schlagzeilen gemacht hatte. ({1}) Herr Verteidigungsminister, Sie haben prompt gehandelt, allemal schneller als die CDU/CSU im Fall Hohmann. Das respektiere ich. Mich irritiert in diesem Zusammenhang etwas anderes. Sie haben Ex-General Günzel beschrieben als einen untypischen Einzelgänger, der den Irrsinn eines Irren wirr kommentiert habe. Mit dieser Begründung haben Sie sich zwischen Günzel und das eigentliche Problem gestellt. Ich habe Sie für weitsichtiger gehalten. Wenn Ihre These zutrifft, wonach die Bundeswehr ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, dann haben wir es auch mit der Tatsache zu tun, dass in eben dieser Gesellschaft 20 Prozent der Menschen für rechtsextremistisches und antisemitisches Gedankengut anfällig sind. Das ist der gesellschaftliche Befund. Deshalb meine ich: Wenn Günzel hier zum Einzeltäter erklärt wird, dann verdrängen wir. Genau das sollte weder Rot-Grün noch der Bundestag insgesamt tun. ({2}) Hinzu kommt ein weiteres Problem: Noch immer tragen Kasernen die Namen von Wehrmachtsgenerälen. Der Wehrbeauftragte hat von der Anziehungskraft gesprochen, die teilweise Waffen, Rituale und andere Dinge auf junge, rechtsextremem Gedankengut nahe stehende Soldaten ausüben. Noch immer pflegen Einheiten der Bundeswehr enge Kontakte zu Traditionsvereinen der Wehrmacht. Genau dieses Erbe holt Rot-Grün nun auch mit der CDU-Affäre Hohmann ein. ({3}) Ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wollten dieses Erbe nie annehmen, aber Sie haben es auch nach 1998, also seitdem Sie Verantwortung tragen, nicht ausgeschlagen; so haben Sie zum Beispiel keine Namen von Kasernen geändert. ({4}) Deshalb finde ich: Das schlichte Gebot im Bericht des Bundeswehrbeauftragten - Rechtsextremismus darf nirgendwo eine Heimstatt finden - muss allgemeiner Auftrag bleiben. ({5}) Da sollten wir auch bei diesen symbolischen Dingen beginnen. Schließlich will ich aus dem Bericht des Wehrbeauftragten kurz ein drittes Problem aufgreifen, welches hier heute schon eine Rolle spielte, nämlich die Tatsache, dass Ostdeutsche im Jahr 13 der Einheit noch immer benachteiligt werden, auch in der Bundeswehr, selbst im Kriegseinsatz. Das beginnt beim abgesenkten Sold und endet längst nicht bei niedrigeren Renten. Sie wissen, dass die PDS kein Freund von Militäreinsätzen ist und in dem Fall auch nicht die Existenz der Bundeswehr verteidigt. Hierbei geht es aber um soziales Unrecht; dagegen sind wir. Bei der Beseitigung dieses Unrechts findet der Wehrbeauftragte auch bei uns Verbündete. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch unser Dank gilt zunächst dem Wehrbeauftragten. Herr Dr. Penner, Sie leisten eine verdienstvolle Arbeit im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten. Bei der Diskussion Ihres Berichtes stellt sich ja auch die Frage nach dem Stellenwert der Bundeswehr in unserer Gesellschaft. Wir schauen da nicht nur in Richtung der Generäle - ich sehe gar keinen -, ({0}) sondern insbesondere in Richtung der Mannschaftsdienstgrade und der Unteroffiziere, also derjenigen, die vor Ort ganz massiv gefordert und gefragt sind. Meine Damen und Herren, wenn ich sage, dass es auch um den Stellenwert der Bundeswehr in unserer Gesellschaft geht, dann lassen Sie mich auch festhalten: Sicherheit ist die wichtigste Leistung, die die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Staat verlangen. Wir alle wissen, dass sich die Bedrohungslage seit dem 11. September 2001 dramatisch verändert hat. Deshalb müsste natürlich auch dieser Bericht Anlass dazu sein, eine Debatte in unserer Gesellschaft über den Stellenwert unserer Soldatinnen und Soldaten, über den Stellenwert der Bundeswehr und über die Leistungen, die sie für diese Gesellschaft erbringen, anzustoßen. ({1}) Sie müssten auch einmal dringend eine Antwort darauf geben, welche Rolle unser Land in einer neuen Weltarchitektur überhaupt noch spielt. Hier vermissen wir jede nachvollziehbare Definition der Rolle unseres Landes in einem sich wandelnden Bündnis und in einer nach Finalität suchenden EU. Die Zukunft liegt nicht in der neuen Achse zwischen Paris, Berlin und Moskau, die Sie begründen wollen. Die Zukunft liegt auch nicht in neuen Kommandostrukturen, die außerhalb der NATO installiert oder gar gegen die NATO gerichtet werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nein, die Zukunft kann nur in einer neuen Dimension der Zusammenarbeit innerhalb der NATO liegen, in der wir selbstbewusster Freund und Partner der USA sind. ({2}) Der Auftrag und die Zielsetzung des Dienstes in der Bundeswehr müssen klar sein. Ich rufe Sie angesichts dieser Ausgangslage dazu auf: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass die Soldatinnen und Soldaten auch den entsprechenden Stellenwert und die Anerkennung in unserer Gesellschaft bekommen. Wir alle müssen definieren, wie viel uns unsere Sicherheit wert ist. Ich meine, die Bundesregierung tut zu wenig für den Erhalt einer funktions- und einsatzfähigen Bundeswehr. Die derzeitige Politik gegenüber der Bundeswehr wird der Sicherheitslage nicht gerecht. ({3}) Auf der einen Seite gibt es eine Rückführung des Verteidigungshaushalts, eine personelle und materielle Auszehrung der Truppe, und auf der anderen Seite befiehlt Rot-Grün eine noch nie dagewesene Zahl von Auslandseinsätzen. Das passt nicht zusammen. ({4}) Kollegin Schäfer hat sehr deutlich darauf hingewiesen - auch Dr. Penner hat dies angedeutet; ich hätte in diesem Jahresbericht ein bisschen mehr Mut erwartet -, was diese neuen Belastungsproben für die Bundeswehr und die Familien der Soldaten bedeuten; die Truppe und ihre Familien seien an die Belastungsgrenze gestoßen. Ich meine, dass wir inzwischen weit darüber hinausgegangen sind. Es gibt einen Eingabenzuwachs von 31 Prozent, insbesondere bei Soldaten im Auslandseinsatz. Der Auslandseinsatz wird zwischenzeitlich zum Normalfall. Der Mindestabstand von zwei Jahren zwischen zwei Auslandseinsätzen wird häufig nicht mehr eingehalten. Können Sie sich das überhaupt vorstellen? Steh- und Abwesenheitszeiten von 180 Tagen haben sich zwischenzeitlich auf 250 Tage verlängert. Die Soldatinnen und Soldaten riskieren für 92 Euro pro Tag ihr Leben für unsere Sicherheit. Auslandsverwendungszuschläge dürfen deshalb nicht weiter abgesenkt werden. Das Versorgungsrecht und die Versorgungsleistungen für Soldaten und deren Familien in Auslandseinsätzen müssen - Frau Schäfer hat dies dargestellt - dringend verbessert werden. Es stimmt nachdenklich und es ist beschämend, dass, wenn es zu Unfällen kommt, quälende Diskussionen über die Versorgungsleistung für die Familien, die Angehörigen, stattfinden müssen. Das ist ein Indiz dafür, dass wir nicht eindeutig hinter unseren Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz stehen. Wenn wir sie in gefährliche Auslandseinsätze befehlen, was Sie immer mehr wollen, müssen auch die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Wir sehen deshalb mit großer Sorge - Herr Dr. Penner, Sie haben das aufgelistet -, dass nach Ablauf der Verpflichtungszeiten kaum noch Weiterverpflichtungen erfolgen. Das Bewerberaufkommen für die Offizierslaufbahn ist erneut rückläufig. Es geht so weit, dass wegen Facharztmangels - ich nehme einmal den Sanitätsdienst als Beispiel - Operationssäle geschlossen werden. Noch ganze 127 Verpflichtungen von Sanitätsärzten gab es im vergangenen Jahr. Die innere Lage der Bundeswehr ist besorgniserregend. Dennoch werden weitere Belastungen beschlossen, als wäre dies alles nicht vorhanden. Der Bundesverteidigungsminister hat Standortschließungen in großem Umfang angekündigt. Das ist mit einer massiven Verunsicherung der Truppe verbunden. Es werden weitere Reduzierungen des Personals durchgesetzt. Der neue Einsatz in Kunduz, die Verlängerung von Enduring Freedom sowie die Bereitstellung und der Aufbau der NATO-Response-Force sind neue Belastungen. Sie sagen nicht, wie die Soldatinnen und Soldaten dies bewältigen sollen. ({5}) Wenn Sie ein besonders hartes und exorbitantes Beispiel dafür genannt bekommen haben wollen, wie Sie mit der Bundeswehr umgehen, dann muss ich auf das Thema der Strahlenopfer zu sprechen kommen. Es hat mich sehr nachdenklich gestimmt, dass nach 30 Jahren Kampf der Betroffenen - die meisten sind zwischenzeitlich gestorben; eines der Strahlenopfer war bei mir im Büro - nun das Bundesverteidigungsministerium entschieden hat, dass von 1 000 Geschädigten tatsächlich 150 mit einem Rentenversorgungsanspruch in Höhe von etwa 150 Euro anerkannt werden. Frau Kollegin von den Grünen, ein Wort zur Wehrpflicht: Sie waren und sind für die Abschaffung der Wehrpflicht. Vor zehn Jahren waren Sie für die Abschaffung der Bundeswehr, für den Austritt aus der NATO und Sie sind es natürlich nach wie vor. Sie treiben dies innerhalb der Koalition voran. Durch die Hintertür, auf sanfte Weise, erfolgt der Ausstieg aus der Wehrpflicht, ({6}) wenn Sie ankündigen, dass zukünftig nur noch 50 000 Wehrpflichtige eingezogen werden sollen. Wie wollen Sie angesichts einer solchen Zahl noch Wehrgerechtigkeit verwirklichen? Dies sind der Weg und das Gebot in Richtung Auswahlwehrdienst.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow?

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Müller, sind Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass der Verteidigungsausschuss und das Bundesministerium der Verteidigung in enger Abstimmung mit dem Bund der Radargeschädigten die Entschädigung der Radaropfer vorangetrieben haben und dass bereits etwa 150 Fälle anerkannt wurden? Sind Sie ferner bereit, die Ergebnisse, die die Radarkommission erzielt hat, anzuerkennen? Man kann also sagen, dass es keinerlei fahrlässigen oder vorsätzlichen Ausschluss von Anerkennungen gibt.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich nehme dies zur Kenntnis und stelle fest, dass Sie meinen Ausführungen nicht gefolgt sind. Ich habe eben die großartige Leistung des Bundesverteidigungsministeriums festgestellt - diese haben Sie gerade nochmals bestätigt -, dass es Ihnen nach 30 Jahren gelungen ist, nur 150 von noch 1 000 lebenden Radargeschädigten - es sterben jährlich mehr Betroffene, als bisher als Opfer anerkannt wurden - eine angemessene Versorgung zuzusprechen. Über die Höhe will ich überhaupt nicht reden. Diese Situation macht deutlich, dass Sie eine Lösung des Problems nicht mit dem notwendigen Nachdruck vorantreiben. ({0}) Ich glaube, damit ist der Sachverhalt geklärt. Ich möchte weiter Stellung zu dem Thema Wehrpflicht beziehen. Sie praktizieren den sanften Ausstieg aus der Wehrpflicht. Sie verletzten damit ganz eklatant das Gebot der Wehrgerechtigkeit. Wenn ich die Situation von heute fünf oder zehn Jahre in die Zukunft projiziere, dann muss ich sagen, dass Sie den Weg in Richtung Berufsarmee konsequent beschreiten. Diesen von Ihnen eingeschlagenen Weg wollen wir nicht gehen, weil wir ihn für falsch halten. Er würde den Charakter der Bundeswehr und ihrer breiten Verankerung in der Gesellschaft nachhaltig und grundlegend verändern. Den von Ihnen beschrittenen Weg halten wir für falsch. ({1}) Im vergangenen Jahr stellten 189 000 Wehrpflichtige einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Dies ist ein Höchststand. Dafür gibt es Gründe; einige habe ich schon genannt. Mit dem Ausstieg aus der Wehrpflicht und damit aus dem Ersatzdienst gehen Sie einen falschen, einen verhängnisvollen Weg. Die Bundeswehr hat große Aufgaben zu bewältigen. Der Druck auf die Soldatinnen und Soldaten - sowohl physisch als auch psychisch - wird immer größer. Die Politik muss darauf reagieren, nicht nur durch eine bessere Ausstattung und ausreichende Finanzen. Sie muss mit mehr Anerkennung und Achtung für unsere Soldatinnen und Soldaten reagieren. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat die Kollegin Hedi Wegener, SPD-Fraktion, das Wort.

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Penner, ich will Ihnen und Ihren Mitarbeitern ausdrücklich für diesen ausführlichen Bericht und für die klaren Worte, die Sie hier gefunden haben, danken. Es werden konkrete Mängel in der Bundeswehr und konkrete Beschwerden der Soldaten aufgeführt. Das zeigt, dass es in Ihrem Hause viele Gespräche gegeben hat. Viele Eingaben wurden mit Akribie und Beharrlichkeit bearbeitet und recherchiert. Ich kann das gut sagen, weil es auch in meinem Wahlkreis immer wieder Anfragen gibt und ich die Betroffenen sehr ermutige, sich an den Wehrbeauftragten zu wenden. Es ist - dies haben schon meine Vorredner gesagt ein Mängelbericht und kein Gästebuch, in dem positive Erlebnisse eingetragen werden. Ich teile die Ansicht der Opposition, die sie im Ausschuss und auch hier geäußert hat, überhaupt nicht, dass die Zahl der Mängel zugenommen hat. Für mich ist die gestiegene Anzahl der Einsprüche ein Zeichen dafür, dass es sich herumgesprochen hat, wie intensiv sich der Wehrbeauftragte um die Anliegen der Soldaten kümmert, und dass es sich lohnt, sich an diese Institution zu wenden. Diese Anfragen sind ein Vertrauensbeweis. ({0}) Den größten Zuwachs gab es bei den Eingaben im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen, eine Steigerung von gut 100 Prozent. Die Zahl der Eingaben ist von 564 im Jahre 2001 auf 1 149 im Jahre 2002 gestiegen. Das ist mehr als verständlich, weil doch immerhin fast 14 000 Soldaten im Einsatz waren. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben in diesen Jahren Herausragendes geleistet und tun es auch heute noch. Ihnen und ihren Familien an dieser Stelle herzlichen Dank! Unsere Trauer gilt denen, die nicht nach Hause gekommen sind. Ihnen und ihren Hinterbliebenen an dieser Stelle noch einmal unser Mitgefühl! Im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen gehe ich auf einige Aspekte ein, weil sich zahlreiche Eingaben eben auf diese Einsätze bezogen. Eine Einsatzdauer von sechs Monaten ist einfach eine zu lange psychische Belastung für die Soldatinnen und Soldaten. ({1}) - Darauf komme ich noch, Herr Nolting. - Die Soldaten leben zum Teil in sehr beengten Verhältnissen. Nach sechs Monaten auf einer Fregatte - wir haben uns kürzlich davon überzeugen können - kennt man fast jede Schraube. Die Soldaten sagen uns, nach einem halben Jahr in Kabul bei Staub und Hitze seien sie auf Du und Du mit dem Fitnessgerät. Auch davon konnten wir uns in Kabul überzeugen. Noch am Tag des Abflugs nach Kabul hatten wir hier im Reichstag ein langes Gespräch mit vielen Frauen, Freundinnen und Eltern, die uns hautnah von ihren Problemen als Daheimgebliebene berichtet haben. Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat eine Untersuchung zu Auslandseinsätzen durchgeführt. Dabei wurde deutlich, dass für die Soldaten und ihre Familien das Hauptproblem bei der Trennung nicht die Einsatzdauer ist. Viele plädieren zwar für eine Verkürzung der Einsätze, aber ein Großteil der Soldaten und der Familien leidet schon unter der Trennung als solcher, ungeachtet der Dauer. Dazu sage ich Ihnen: Dass die Soldaten unter der Trennung leiden, meine Herren, spricht eigentlich eher für sie. Denn wer Familie und Beziehung nicht schätzt, bringt auch weniger Verständnis für die Leiden der Bevölkerung der Länder auf, in denen er Dienst tut. Daher würde ich mir viel mehr Sorgen machen, wenn unsere Soldaten in der Bundeswehr unter der Trennung von ihren Familienangehörigen nicht litten. In der schon erwähnten Studie wurde ermittelt, dass 15 Prozent der Beziehungen, überwiegend ohne Trauschein, nach dem Einsatz auseinander gehen und 3 Prozent der Ehen einen dauerhaften Knacks haben. Der Minister der Verteidigung hat bereits Maßnahmen zur Flexibilisierung der individuellen Stehzeiten angeordnet, Herr Müller. ({2}) Das Verfahren ist schon seit Juni in der Erprobung. Die Soldaten können angeben, ob sie einen Einsatz splitten wollen, und dann wird geprüft, ob ein Splittingpartner zur Verfügung steht. Auch wenn das Verfahren erst in der Erprobungsphase ist, ermutige ich Sie ausdrücklich, Herr Minister, da weiterzumachen. Herr Müller, wenn Sie immer von A bis Z im Ausschuss wären, wüssten Sie das auch. ({3}) ({4}) Darüber haben wir einige Male diskutiert, das Ministerium und der Minister haben berichtet. Es ist klar. ({5}) Frau Schäfer, Sie haben gesagt, das Ministerium würde verantwortungslos mit dieser Frage umgehen. Ich kann Ihnen versichern: Es geht schon verantwortungsbewusst damit um. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Von Herrn Nolting, ja.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, wenn es so ist, wie Sie es beschreiben, und es ist ja so ({0}) - Moment, hören Sie erst einmal zu, Frau Merten -, warum brauchen wir dann eine Erprobungsphase? Wir haben Unterlagen des SOWI. Wir haben eine Anhörung im Verteidigungsausschuss durchgeführt. Wir alle, die wir Truppenbesuche machen, erfahren von den Soldatinnen und Soldaten, dass die Einsatzzeiten zu lang und die Einsatzintervalle zu kurz sind, warum brauchen wir dann noch eine Erprobungsphase?

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Nolting, erst einmal vorweg: Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr, das Sie angesprochen haben, hat sich in seiner Untersuchung ausdrücklich auf KFOR-Soldaten bezogen. Es wird Regelungen geben, die eine Flexibilisierung manifestieren bzw. möglich machen. Die Erprobung ist Bestandteil dessen, was im Moment praktiziert wird. ({0}) Ob das nun Erprobung, Einführung oder wie auch immer heißt: Es wird praktiziert. ({1}) Die Betreuung der und die Fürsorge für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind die eine Seite; die Familien zu Hause sind die andere. Neben den Sorgen der Familien um ihre Angehörigen besteht das Problem der praktischen Alltagsbewältigung. Aus diesem Grunde begrüße ich es, dass im letzten Jahr zehn Betreuungszentren hinzugekommen sind. Allerdings besteht das Problem, dass in diesen Betreuungszentren nur vier hauptamtliche Frauen arbeiten. Wenn ich mir die Redebeiträge heute vor Augen führe, ist es offensichtlich so, dass sich die Frauen im Verteidigungsausschuss dieser Themen besonders annehmen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn es in den Betreuungszentren mehr Frauen gäbe. Denn sie haben einen anderen Zugang zu den Problemen, die die Familien vor Ort haben. ({2}) Eine ganz besondere Verantwortung tragen im Auslandseinsatz die Vorgesetzten. Ihr Führungsverhalten, ihre soziale Kompetenz und ihr Verhältnis zu den Untergebenen sind besonders wichtig. Für umso dringlicher halte ich es, dass sie bei diesen Fragen nicht allein gelassen werden und dass sie konstruktive Kritik und Beratung erfahren. Auf den besonderen Aspekt der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, die sich die Frage stellen

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- „Was passiert, dann?“ . ({0}) wurde schon eingegangen Frau Pau, ich muss Ihnen sagen: Sie sind auf dem völlig falschen Dampfer. ({1}) Sie haben gesagt, Rechtsradikale hätten nirgendwo eine Heimstatt. Sie haben Recht: Sie haben auch in der Bundeswehr keine Heimstatt. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 2002 des Wehrbeauftragten, Drucksachen 15/500 und 15/1837. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Stromrechnungen transparent gestalten - Drucksache 15/761 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sobald Sie sich niedergelassen haben, möchte ich Ihnen kurz den Inhalt des Antrags der FDP-Fraktion zum Thema „Transparenz und Information bei Strompreisen“ erläutern. Wir wollen Verbraucher in die Lage versetzen, ihr Recht auf Wahlfreiheit wahrzunehmen. Dieses Recht ist derzeit nur schwer umzusetzen, weil es für den Normalverbraucher sehr schwierig ist, zu unterscheiden, wer an welcher Stellschraube an den Preisen dreht. Das ist in erster Linie die Politik, wie ich Ihnen gleich erläutern werde. Wir haben es aufgrund des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, der Kraft-Wärme-Kopplung, der KWK, und der so genannten Einspeisungsvergütungen - ich meine die Vergütungen, die die Netzbetreiber aufgrund der bestehenden Gesetze zu zahlen haben - mit enormen Überwälzungen von Kosten auf die Verbraucherpreise zu tun. Zusammen mit der Ökosteuer sind die Strompreise auf diese Weise schon heute zu 40 Prozent belastet und die Gaspreise zu rund 30 Prozent politisch verursacht. Aber über diese Tatsache weiß der Verbraucher nichts oder nur sehr wenig. Er weiß auch gar nichts darüber, dass im kommenden Jahr im Rahmen der Novellierung des EEG 1,6 Milliarden Euro für die Förderung der Biomasse sowie die erst heute diskutierte Ausweitung der Subventionen für die Solarenergie hinzukommen - eine enorme Kostenbelastung. Wenn Sie heute Morgen die Debatten zu den Themen „erneuerbare Energien“ und „Allokationsplan“ verfolgt haben, haben Sie sicher auch mitbekommen, dass die Einführung der Härtefallregelung eine weitere Problematik verursacht hat. Diese Regelung entlastet nur einen Teil der Industrie. Der Verbraucher trägt wiederum die Hauptlast. Durch die Liberalisierung des Energiemarktes, die 1998 CDU/CSU und FDP initiiert haben, ergab sich eine Kostenentlastung von 7,5 Milliarden Euro. Diese Kostenentlastung für die Verbraucher ist inzwischen völlig weg. Die Strompreise liegen im Augenblick in etwa wieder auf gleicher Höhe wie vor der Liberalisierung. Das ist alles andere als verbraucherfreundlich. ({0}) Nun hört man immer wieder, bei den EEG- und KWK-Kosten handele es sich nicht um staatliche Subventionen. Das ist eine Mogelpackung. Es wird verschwiegen, dass die Stromverbraucher die Rechnung bekommen und den Aufpreis bezahlen. Hier herrscht einfach eine sehr große Intransparenz. Allen denjenigen, die immer für Verbraucherinformationen und Verbraucheraufklärung plädieren, sollte es eigentlich sehr leicht fallen, dem Antrag der FDP-Fraktion zuzustimmen. ({1}) Wir fordern nämlich ganz einfach, dass auf Stromrechnungen künftig genau die Anteile der Mehrwertsteuer, der Ökosteuer, der Mehrkosten aufgrund des soeben genannten Erneuerbare-Energien-Gesetzes und der Kraft-Wärme-Kopplung - KWK - sowie der Netznutzungsentgelte ausgewiesen werden. Wenn wir das schafften - da müsste eigentlich das ganze Haus sehr einig sein -, dann brauchten wir kaum noch das häufig von Frau Künast gefeierte Verbraucherinformationsgesetz. Vielmehr hätten wir dann in Praxis Transparenz und Verbraucherinformationen. Damit hätten wir den Verbraucher zu einem mündigen Bürger gemacht, der sich seine Stromlieferanten aussucht, und zwar nach strengen Kosten- und Effizienzkriterien und nicht nach ideologischen Vorgaben. Ich glaube, das wäre ein großer und guter Schritt hin zu mehr mündigen Verbrauchern. Ich gehe davon aus, dass im Rahmen der Beratungen das gesamte Haus unserem Antrag zustimmt. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Berg, SPDFraktion.

Dr. Axel Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003036, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jüngsten Stromausfälle in den USA und auch bei uns in Europa haben gezeigt, dass sich eine sichere Stromversorgung nicht allein über den Preis definiert. Dies sollte uns allen Warnung und Mahnung dazu sein, die künftige Struktur der Stromversorgung nicht allein dem Markt zu überlassen. Denn der Markt fragt in seiner heutigen Form allein nach den kostengünstigsten Erzeugungsarten. In ihrem Antrag, der übrigens schon in der letzten Legislaturperiode gestellt und abgelehnt wurde, ({0}) sagen die Kolleginnen und Kollegen von der FDP - das scheint als Vorwurf gemeint zu sein -, der Strompreis sei ein politischer Preis. ({1}) - Sie haben Recht; auch ich denke, es ist ein politischer Preis. Selbstverständlich ist der Strompreis ein politischer Preis. Das war auch schon immer so. Es war stets im Interesse des Gemeinwohls, Energiebereitstellung und die entsprechende Infrastruktur zu fördern. Beispiele, die dies belegen, sind der Straßenbau bei der Einführung des Automobils, die Kohleförderung, die es bis heute noch gibt, ({2}) und der Bau von Atomkraftwerken. Ich habe auch ein wunderschönes Beispiel aus der Jetztzeit: Bis gestern haben 13 000 Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz den Transport von zwölf Castorbehältern von Frankreich nach Lüchow-Dannenberg gesichert. ({3}) Allein die deutschen Steuerzahler kostet das ungefähr 25 bis 30 Millionen Euro. In welcher Rechnung tauchen denn diese Kosten auf? ({4}) Sie tauchen jedenfalls nicht bei den Verbrauchern auf der Stromrechnung auf. Das sind indirekte Subventionen der Atomkraft und damit politische Kosten. Schade eigentlich, dass Sie dagegen noch nie Ihre Stimme erhoben haben, wenn Sie doch so sehr für unverfälschte Märkte sind. ({5}) Die Bereitstellung von Energie - ob für Industrialisierung, für Mobilität oder für Beschäftigung - ist der erste Schritt jeder Wertschöpfungskette. Dieser Zusammenhang ist älter als wir alle zusammen. Ich gebe Ihnen in dem Punkt Recht, dass der Wettbewerb auf dem Strommarkt stockt. Ich gehe sogar noch weiter: Wirklicher Wettbewerb findet auf dem Strommarkt überhaupt nicht statt. Das ist schlecht und falsch. Doch der Schluss, den Sie daraus ziehen, ist leider auch falsch, dass wir nämlich einen funktionsfähigen Wettbewerb allein dann bekommen, wenn wir die Mehrwertsteuer oder die Kosten für Messen und Abrechnen auf der Stromrechnung ausweisen. Daran glauben Sie doch ernsthaft selber nicht. Ansonsten könnte ich im Prinzip im Restaurant auch fragen, wie viel Prozent meines Rechnungsbetrages eigentlich der Koch bekommt oder wie viel für die Miete draufgeht. Mich als Restaurantbesucher sollte doch vielmehr interessieren, woher der Wirt seine Waren bezieht, woher das Fleisch kommt und unter welchen Bedingungen das Gemüse angebaut wird. Belastet das Essen meine Gesundheit oder gar die Umwelt, die nicht nur mir, sondern allen gehört? Genauso sollte es auch beim Strom sein. Beim Strom sollte uns interessieren: Wird ein Teil des von mir verbrauchten Stroms durch Atomkraft gewonnen? Wie viel Prozent werden in Braunkohlekraftwerken oder durch die Nutzung erneuerbarer Energien hergestellt? Wie viel CO2 wird dabei freigesetzt? All diese Informationen werden wir ab dem 1. Juli kommenden Jahres auf unserer Stromrechnung finden, und zwar sowohl was klimaschädliche CO2-Emissionen betrifft, als auch was radioaktiven Abfall betrifft, der in unseren Atomkraftwerken anfällt. Uns muss es doch um die strukturelle Sicherstellung eines wirklichen Marktes gehen. Gleichzeitig wollen und müssen wir uns auch künftig politische Steuerungsmöglichkeiten erhalten, schon allein aus dem einfachen Grund, dass wir anderenfalls unseren internationalen Verpflichtungen bezüglich der CO2-Minderung nicht nachkommen könnten. Im Übrigen bestand auch in der Energie-EnqueteKommission - inklusive der FDP -, die in der letzten Legislaturperiode getagt hat, Konsens darüber - das ist auch im Bericht der Kommission nachzulesen -, dass für die Realisierung einer langfristigen Umstrukturierung der Energiewirtschaft ein aktiver Staat als Wettbewerbshüter und als Gestalter des Transformationsprozesses unverzichtbar ist. ({6}) So führen wir zum Beispiel durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz die erneuerbaren Energien langsam an den Markt heran. Ohne das EEG hätten die erneuerbaren Energien zurzeit keine faire Chance, da eine Internalisierung der Umweltkosten bei fossilen Energien nicht wirklich stattfindet. Ich bin davon überzeugt, dass sich die erneuerbaren Energien ganz ohne Förderung, also ohne offene und versteckte Subventionen, wie es sie bei Kohle, Öl oder Atomkraft gibt, durchsetzen würden. ({7}) - Jawohl, Frau Sehn. Ich glaube, auch die Windenergie würde sich ohne Förderung problemlos auf dem Markt durchsetzen, wenn die anderen Energieformen, die Konkurrenzenergieformen, nicht versteckt und direkt subventioniert würden. ({8}) Meine Damen und Herren, das Hauptargument gegen die erneuerbaren Energien wird oft in der mangelnden Wirtschaftlichkeit gesehen. Dabei wird aber nur auf die Kosten im betriebswirtschaftlichen Sinne Bezug genommen. Die gesamtgesellschaftlichen und sozialen Kosten - hierbei denke ich insbesondere an die später notwendig werdenden Umweltreparaturkosten, die vor allem auf die nächsten Generationen zukommen - werden völlig vernachlässigt. Das weltweite Energiesystem wird sich nur dann in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln, wenn die Energiepreise auch eine ökologische Wahrheit abbilden. ({9}) Ich gebe allerdings zu, dass dies methodisch nicht einfach ist. Darum ist es letztlich gerechtfertigt, Strom aus erneuerbaren Energien durch das EEG mit einer erhöhten Einspeisevergütung zu versehen. Um den Effizienzdruck zu erhöhen und damit sich die Erzeuger von erneuerbaren Energien nicht allzu wohl fühlen, ist eine degressive Vergütung eingerichtet worden. So haben wir ein Instrument installiert, das den Strom aus erneuerbaren Energien immer billiger macht. Auch wir befürworten doch eine ganz starke Transparenz am Energiemarkt. Ich begrüße ausdrücklich, dass die uns nun vorliegende EEGNovelle, über die wir heute Vormittag debattiert haben, darauf in § 15 in ganz besonderem Maße eingeht. Dabei geht es um die Glaubwürdigkeit des Wettbewerbs, um die Verbesserung der Wahlrechte der Kunden. Ganz entscheidend ist uns die Stärkung einer Politik für eigenverantwortliche Verbraucher. Verbraucherschutz heißt doch für uns und für Sie hoffentlich auch, dass auch an die Verbraucher der Zukunft gedacht wird. ({10}) Es gibt durchaus eine gewisse Übereinstimmung mit dem liberalen Lager in der Einschätzung der Lage am Strommarkt, doch wir sehen die Lösung woanders. Für die Versorgungssicherheit und die Versorgungszuverlässigkeit spielt die Ausgestaltung der Energiemarktliberalisierung eine ganz wichtige Rolle. Der Versuch, es der Energiewirtschaft selbst zu überlassen, Spielregeln für einen fairen Handel festzulegen, kann als gescheitert betrachtet werden. Auch Jahre nach der Liberalisierung kann von echtem Wettbewerb keine Rede sein. Diejenigen, die zu Monopolzeiten das Sagen hatten, bestimmen auch heute den Wettbewerb. Angesichts dieser Entwicklung auf den Energiemärkten - ich meine hier vor allem die Konzentrationstendenzen hin zu wenigen großen Energiekonzernen - sollte nun zügig die Verbesserung der Marktzutrittsbedingungen für neue Akteure betrieben werden. Für die Gewährleistung von Versorgungssicherheit und Durchsetzung eines fairen Wettbewerbs in Deutschland sind nach unserer Auffassung das konsequente Unbundling der Netze von anderen Energiemarktaktivitäten - Stromerzeugung, Stromnetze und Stromvertrieb sollen also unabhängig voneinander koexistieren -, ({11}) die Verbesserung des Netzzugangs und damit die Absicherung einer ausreichenden Akteursvielfalt in der Stromerzeugung, die Etablierung einer kostenorientierten Netzregulierung, die gleichzeitig verbindliche Standards für Netzinvestitionen setzt, sowie die Schaffung einer durchsetzungsfähigen Regulierungsbehörde erforderlich. Mit Letzterem sind wir gerade befasst. Von einer solchen Regulierungsbehörde erwarten wir, dass sie dem Missbrauch von Marktmacht entgegenwirkt. Wir erwarten die Durchsetzung eines diskriminierungsfreien Netzzugangs mit preisgerechten und nachvollziehbaren Netznutzungsgebühren. Vor allem an diesem Punkt werden wir auf Transparenz drängen. Ziel unserer Politik bleibt eine sichere, nachhaltige und ökonomische Versorgung mit Energie. Das ist für uns Grundlage für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. Auch nach der Liberalisierung überlassen wir es nicht dem Markt allein, über den künftigen Energiemix zu entscheiden. Beispielsweise ist es uns gelungen, den Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Stromerzeugung in den letzten Jahren enorm zu steigern. Dies wäre sicherlich nicht passiert, wenn man den Markt allein alles hätte regeln lassen. Durch das EEG haben wir eine Steigerung der erneuerbaren Energien auf über 8 Prozent erreicht. Dagegen haben Sie doch hoffentlich auch nichts, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) - Klar, das kann manche stören. Wir müssen auch weiterhin ein verlässliches, wirtschaftliches und vor allem nachhaltiges Energieversorgungssystem gewährleisten. Ein großer Teil der alten Stein- und Braunkohlekraftwerke wird in den nächsten 20 Jahren ersetzt werden müssen. Die Leistung der Atomkraftwerke, die heute knapp 30 Prozent des deutschen Stroms erzeugen, wird ebenfalls ersetzt werden müssen. Im Vorgriff auf die Entwicklung der Erzeugungskapazitäten müssten wir jetzt die Pflöcke einschlagen. Das bedeutet einen weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Die zentralisierten Angebotsstrukturen sind durch dezentrale Optionen zu ergänzen. Die Marktdurchdringung von Kraft-Wärme-Kopplung ist durch die Sicherung eines fairen Marktzutritts zu fördern. Des Weiteren müssen wir an der Stärkung der Energieeffizienz arbeiten. Diesen Herausforderungen wollen wir uns stellen. Wir alle sollten diesen Umstand auch als Chance begreifen, die Energiewende voranzubringen und zu befestigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr Antrag unterstützt durchaus die Bemühungen der Bundesregierung und der Regierungskoalition. Sein Neuigkeitswert ist logischerweise begrenzt, da Sie ihn schon einmal vor zwei Jahren eingebracht haben. ({13}) Durch die in der Zwischenzeit erfolgte Entwicklung ist Ihr schöner Antrag zum großen Teil überholt. Ökologische Aspekte, mit denen sich vor allem die Nachwelt herumschlagen muss, blendet die FDP in traditioneller Manier leider einfach aus. Allein deshalb können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Berg, einiges von dem, was Sie gerade angesprochen haben, haben Sie bereits gestern im Ausschuss gesagt. Es ist typisch: Sie wollen dem Verbraucher keine Klarheit geben und ihm nicht sagen, was wirklich hinter den Stromrechnungen steckt. Deswegen werde ich im Einzelnen darauf eingehen. Ich fordere für den Verbraucher: Klartext auf der Stromrechnung! Das ist angesichts des nunmehr seit fünf Jahren liberalisierten Strommarktes für mich ein dringliches Anliegen. ({0}) An jeder Tanksäule können Sie lesen, wie hoch der Staatsanteil beim Kraftstoff ist. Warum soll das so nicht auch beim Strom sein? Wir müssen dem Bürger sagen, was Sie ihm aus der Tasche ziehen. Das könnte zu Revolten führen. Davor haben Sie Angst. Das ist ein Effekt, den Sie sich nicht wünschen; davon bin ich überzeugt. Deswegen wollen Sie keine Klarheit herbeiführen. ({1}) Der Wettbewerb stockt vielerorts. Den Bürgern fällt es mangels Information schwer, das preisgünstigste Angebot auszuwählen. Die Kollegin Kopp hat vollkommen Recht: Wir müssen endlich dafür sorgen, dass der Wettbewerb durch den Verbraucher angestoßen werden kann. Das wünsche ich mir jedenfalls sehr. Wenn die Stromrechnung nach Netznutzungskosten, Kosten für Erzeugung und Vertrieb und für Messung und Abrechnung, Öko- und Mehrwertsteuer sowie Umlagen aus KWKG und EEG aufgeschlüsselt wäre, hätte das die Auswirkung, dass der Bürger automatisch völlig anders reagieren würde. Bei diesem Thema geht es um die Schaffung von mehr Wettbewerb - das ist das zentrale Ziel - und damit um die Wiederbelebung der in Unionszeiten erfolgreich begonnenen Strom- und Gasmarktliberalisierung. ({2}) Der Anstoß hierzu war 1997/1998 die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie der EU. Wir haben am 24. April 1998 ein vernünftiges Energiewirtschaftsgesetz verabschiedet, das durch eine Absenkung der Preise zu einem vernünftigen Preisniveau geführt hat. ({3}) Diese Absenkung, meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie rückgängig gemacht. ({4}) Doch wegen der mangelnden Preistransparenz stockt jeglicher Wettbewerb. Die Verbraucher können die Preise und die Tarifgestaltung nicht mehr nachvollziehen. Sie werden deswegen auch nicht dafür sorgen, dass es zu einem ausreichenden Wettbewerb kommt. Nur Wettbewerb schafft Transparenz; das ist eine Tatsache, die Sie auf allen Märkten der Welt nachvollziehen können. Nur Transparenz wiederum schafft günstigere Preise für den Verbraucher. Ich habe aber das Gefühl, dass Sie das gar nicht wollen. ({5}) Es kann nicht sein, dass nur 3 Prozent der privaten Haushalte durch Wechsel des Stromlieferanten vom Wettbewerb profitieren. Woran liegt das? Das liegt daran, dass keine Informationen verfügbar sind. ({6}) Diese zur Verfügung zu stellen müsste ein gemeinsames Ziel und im Interesse der Verbraucherschützer sein, zumal die Grünen häufig über Verbraucherschutz sprechen. Dabei sehe ich den Kollegen Winkler an, der in meinem Wahlkreis permanent davon erzählt. Redet man von Netznutzungskosten, so muss natürlich berücksichtigt werden, dass die Stromnetze natürliche Monopole darstellen und dass dadurch der Wettbewerb teilweise eingeschränkt wird. ({7}) Wir sind deswegen sehr gespannt, Frau Hustedt, wann die Bundesregierung endlich den Vorschlag für den neuen Entwurf des Energiewirtschaftsgesetzes vorlegt, in dem die Regulierung des Netzzuganges so vorgesehen ist, dass es für jeden verständlich ist. Sie haben durchaus Zeit gehabt und viele Mitarbeiter in den Ministerien stehen Ihnen zur Verfügung. Geschehen ist bis jetzt aber nichts. Wir wissen, warum die Bundesregierung zögerlich vorgeht. Dass diese Wettbewerbsnachteile von den einzelnen Bürgern nicht verstanden werden, liegt für mich an den Verfehlungen der rot-grünen Energiepolitik. Sie wollen diese Transparenz natürlich nicht. ({8}) Der Liberalisierungseffekt von 1998 ist in den fünf Jahren interventionistischer Energiepolitik konterkariert worden. Die Investitionen in Deutschland bleiben aus und seit 1998 steigen die Steuern und Abgaben kontinuierlich. Herr Berg, Sie haben eben gesagt, dass Sie das auch wollen. Dann wollen wir das den Bürgern auch klar machen. ({9}) Die Staatsbelastung der Energiepreise führt heute dazu, dass Investitionsentscheidungen des produzierenden Gewerbes gegen den Standort Deutschland ausfallen. ({10}) Der Kollege Laumann hat aus seinem eigenen Wahlkreis ein Textilunternehmen benannt, bei dem genau das geschieht. Die Investitionsentscheidungen fallen dort eben nicht mehr für den Standort Deutschland aus, wodurch Arbeitsplätze gefährdet werden. Energiepolitik ist Arbeitsmarktpolitik - das müssen wir im Zusammenhang sehen. Als Beispiel kann man auch die Diskussion über den Chemiestandort Wilhelmshaven nennen, der sich etablieren sollte. Nichts ist passiert. Ein einziges Unternehmen hat das Ganze einmal durchgerechnet. Für dieses Unternehmen hätte nur die EEG-Umlage Mehrkosten beim Strom in Höhe von 2,5 Millionen Euro bedeutet. Die Folge war: Der Standort wurde nicht aufgebaut, er befindet sich mittlerweile im Ausland. Das ist die Folge Ihrer verfehlten Energiepolitik; das müssen wir sagen. Das muss deutlich werden. Deswegen bin ich auch dafür, dass wir dies in jedem Bereich klar machen. ({11}) - Frau Hustedt, diese verfehlte rot-grüne Energiepolitik führt dazu, dass der Standort Deutschland nicht mehr wahrgenommen wird. Für die privaten Verbraucher ist das aber nicht so einfach. Sie können den Standort nicht einfach wechseln; sie sind an den Standort gebunden. Für sie muss die Belastung deshalb klar und deutlich werden. Ich wünsche mir, dass jeder dieser privaten Verbraucher das auch erkennt. ({12}) Ich habe mir Stromrechnungen angeschaut. Auf den meisten stehen zum Beispiel lediglich der KWh-Verbrauch, die Stromsteuer und die Kosten für den Eintarifzähler. Die wirklichen Kosten, die Sie verursachen, nennen Sie den Verbrauchern nicht. Diese Aufklärung möchte ich haben. Deswegen stimmt meine Fraktion dem Antrag der FDP-Fraktion voll und ganz zu. ({13}) Gegenüber 1998 hat sich die durch den Staat verursachte Belastung der Strompreise ohne Berücksichtigung der Mehrwertsteuer - sie kommt ja immer noch obendrauf - von 2 Milliarden Euro auf heute 12 Milliarden Euro erhöht. ({14}) Die Stromkunden werden 2003 mehr als fünfmal so hoch belastet wie noch vor fünf Jahren. Das ist für den Verbraucher katastrophal und er sollte das auch wissen. Im Einzelnen sind folgende Belastungen zu erkennen: Die Stromsteuer beläuft sich pro Jahr auf rund 7,65 Milliarden Euro, die Umlagen aus dem KWKG ergeben 688 Millionen Euro und bei den Einspeisungsvergütungen nach dem EEG sind wir mittlerweile bei 2,75 Milliarden Euro angekommen. Das kosten uns Ihre Windmühlen, die Deutschland in eine Mega-Spargellandschaft verwandeln. ({15}) Die Gewinne, die durch die Liberalisierung der Energiemärkte entstanden, schöpft diese rot-grüne Bundesregierung somit beim Verbraucher ab. ({16}) Das Schlimme ist: Er weiß das noch nicht einmal, Herr Schlauch. ({17}) Ich bin der Meinung, dass Sie wenigstens den Mut haben sollten, ihnen das zu sagen. ({18}) „Strom so teuer wie zu Beginn der Marktöffnung“ so oder so ähnlich sind heute die Schlagzeilen in den Zeitungen. Von einem weiteren Anstieg der staatlichen Belastungen in den nächsten Jahren ist auszugehen. Die Bundesregierung hat den Ausbau der erneuerbaren Energien lauthals angekündigt. Ohne gesetzliche Änderungen, also ohne dass beim EEG jetzt etwas geschieht, würden nach wissenschaftlichen Berechnungen bis zum Jahre 2010 schon wieder 5 Milliarden Euro zusätzlich anfallen. Die Kosten, die durch das EEG entstünden, wären dann fast doppelt so hoch wie die Kosten für die Steinkohle. ({19}) Das sollten wir einmal ganz deutlich sagen. Es bleibt also abzuwarten, Herr Berg, welche konkreten Vorschläge die Bundesregierung für die anstehende Novelle zum EEG vorlegt und was das für uns alle volkswirtschaftlich bedeutet. Es ist kein Geheimnis, dass die Finanzierung der Förderung erneuerbarer Energien durch eine Umlage auf die Strompreise und nicht über die öffentlichen Haushalte erfolgt. Dazu möchte ich deutlich sagen: Bundesminister Trittin hat verkündet, das seien keine Subventionen. Schade, dass er jetzt nicht da ist. Er hat anscheinend gar nicht begriffen, was eine Subvention ist. Es ist doch völlig egal, ob die Finanzierung über den Haushalt des Staates oder direkt aus der Tasche des Stromverbrauchers erfolgt. In beiden Fällen ist es eine Subvention! Seien wir doch ehrlich! ({20}) Die Förderung erneuerbarer Energien enthält noch eine Zusatzsubvention, Herr Berg, die auch Sie kennen. Sie wissen, dass Sonderabschreibungsmöglichkeiten nichts anderes als Steuersubventionen sind. Auch sie gehören dazu. Hier wird also doppelt subventioniert, einmal über den Strompreis, dann über Sonderabschreibungsmöglichkeiten. Es ist für mich keine verbraucherund schon gar keine wettbewerbsorientierte Energiepolitik, wenn über Förderungen zu viel Fördergeld für die Betreiber bereitgestellt wird, wodurch Mitnahmeeffekte und Fehlallokationen entstehen. An einigen Standorten von Windanlagen dreht sich das Rad fast nie. Das sind die Folgekosten dieser verfehlten Energiepolitik. ({21}) - Der Verbraucher trägt sie; das ist die Antwort auf Ihre Frage. Damit bin ich nicht einverstanden. ({22}) Der einzige Trost beim EEG - für mich ist das ein Investitionsverhinderungsgesetz -, so könnte man meinen, ist die Härtefallregelung. Aber auch sie verfälscht nur. Sie führt dazu, dass manche Unternehmen profitieren. Andere Unternehmen müssen das dann bezahlen. Das kann nicht richtig sein. Obendrein ist dies noch mit erheblicher Bürokratie verbunden. Daher fordern wir ganz klar einen Umbau des EEG. Ziel muss es sein, Anreize zur Weiter- und Neuentwicklung erneuerbarer Energien zu schaffen. Gleichzeitig muss das Gesetz von Wirtschaftlichkeit geprägt sein. Dann kann man es als ein Gesetz zur Wettbewerbsfähigkeit bezeichnen. Aber das hat bei Ihnen nicht die höchste Priorität. ({23}) Neben EEG und Ökosteuer sind es dann noch die KWKG-Umlagen, die private Verbraucher auf ihrer Stromrechnung unbedingt einsehen sollten. Dann würde ihnen nämlich klar, was das für ein Unsinn ist. Das KWKG von Rot-Grün ist gescheitert. Im letzten Jahr wurden nur 6 - in Worten: sechs - von 3 221 Anlagen, also 0,19 Prozent der bestehenden Anlagen, modernisiert bzw. ersetzt, 99,8 Prozent nicht. Dafür haben Sie im Etat immerhin 668 Millionen Euro bereitgestellt. Zukunftsträchtige Brennstoffzellen dagegen erhielten 2002 einen Zuschuss von nur 20 000 Euro. ({24}) Nicht in die Zukunft wird hier investiert, sondern in die Vergangenheit. „Das KWKG ist ein Flop.“ Das ist nicht nur meine Meinung, Frau Hustedt, sondern das ist ein Zitat Ihres Kollegen Loske. Das sagte er kurz vor der Sommerpause. Für 668 Millionen Euro pro Jahr muss man mehr erwarten können als solche Flops. ({25}) Die Strompreisoffenlegung ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Tatsache, dass Rot-Grün zulasten der Verbraucher in der Energiepolitik für mich alles vermissen lässt, was nachhaltig, zukunftsorientiert und vor allen Dingen effizient ist. Seit 1998 ist nicht erkennbar, wie diese nachhaltige Energiepolitik aus der Sicht der Bundesregierung aussehen soll. Stattdessen ist Kurzsichtigkeit das Hauptmerkmal dieser rot-grünen Energiepolitik. Ein durchdachtes Gesamtkonzept liegt leider nicht vor. Dosenpfand und LKW-Maut lassen grüßen. Ich frage Sie hier ganz direkt: Wie stellen Sie sich die Zukunft deutscher Energieversorgung vor? Welche Stromquellen sollen denn den Wegfall der Atomenergie CO2-neutral ersetzen? ({26}) - Frau Hustedt, hören Sie zu, dann verstehen Sie es auch. - Ich habe gestern im Wirtschaftsausschuss Herrn Staatssekretär Schlauch intensiv zugehört, aber er hat keine Antwort auf diese Frage gegeben. ({27}) Er weiß auch keine Antwort. Die zurzeit mit jährlich 2,75 Milliarden Euro - in 2010 sollen es 5 Milliarden Euro sein - geförderte erneuerbare Energie kommt ernsthaft wohl kaum in Frage. So viel Wind kann noch nicht einmal diese Bundesregierung machen. ({28}) Ich fürchte, der von den Grünen bejubelte Atomausstieg - wir werden morgen wahrscheinlich die Jubelarien von Herrn Trittin erleben - ist Ihnen zu Kopf gestiegen. Die Frage des realisierbaren Ersatzstroms ist aber zu ernst, als dass wir einfach darüber hinweggehen könnten. Bereits von 2008 bis 2012 werden weitere jährliche Emissionen von 25 Millionen Tonnen CO2 erwartet. Wenn dann im Jahre 2012 die meisten Kernkraftwerke vom Netz gehen, dann werden wir eine zusätzliche CO2-Belastung von 135 Millionen Tonnen pro Jahr haben. Ich hätte gerne eine Antwort von Ihnen darauf, wie Sie das verhindern und wie Sie organisieren wollen, dass dieses nicht passiert. Mit erneuerbaren Energien, so wie Sie es bis jetzt versuchen, wird es nicht funktionieren. ({29}) Im Haushalt von Herrn Clement haben Sie 10 Millionen Euro für die Energieeinsparberatung eingestellt. Das ist gerade einmal das Doppelte der Summe, Herr Kollege Schlauch, die Sie für Öffentlichkeitsarbeit in diesem Haushalt eingestellt haben. Die Union fordert daher die Bundesregierung auf, eine nachhaltige Energiepolitik zu organisieren. ({30}) Es gilt, einen ausgewogenen Energiemix hinzubekommen. Dabei ist allein auf den jeweiligen energetischen Wirkungsgrad, auf die Emissionsbilanz und vor allen Dingen auf die Kosten für die deutsche Wirtschaft zu achten. Staatlich fixierte, ideologiegesteuerte Vorgaben haben hier nichts zu suchen. Sonst wird aus Mix schnell nix. ({31}) Bitte nehmen Sie den Antrag der Kollegen und Kolleginnen von der FDP ernst. Ich möchte, dass der deutsche Verbraucher weiß, woran er ist. Ich möchte, dass man ihm sehr deutlich mitteilt, was ihn Ihre verfehlte Energiepolitik kostet. Anders kann nämlich nichts mehr in diesem Lande geändert werden. ({32})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten heute Morgen drei Stunden lang eine Energiedebatte. ({0}) Wenn Sie keine Redezeit abbekommen haben, dann tut es mir für Sie Leid. Hier geht es um den Antrag der FDP, Stromrechnungen transparent zu gestalten. Darauf möchte ich mich konzentrieren. Denn ich durfte im Gegensatz zu Ihnen heute Morgen in der Kerndebattenzeit zum EEG und Strommix meine Meinung zweimal sagen. ({1}) Transparente Stromrechnungen - das ist völlig okay. Aber ich frage mich, warum die FDP eigentlich da aufhört, wo es spannend wird. Denn das, was Sie mit der Begründung von mehr Wettbewerb fordern, würde nur funktionieren, wenn die Transparenz dazu führt, dass der Kunde die Wahl hat. Ich frage Sie: Wenn die Netznutzungskosten, die Durchleitungskosten, auf der Rechnung stehen, welche Wahl hat dann der Kunde? Die Netznutzungskosten sind hoffentlich, so wir denn eine funktionierende Regulierung schaffen, für alle gleich. Das ist das Prinzip. Wenn auf der Rechnung die Kosten für Messungen und Abrechnungen stehen, welche Wahl hat dann der Kunde? Okay, wenn Sie unsere Forderung unterstützen würden, dass das Mess- und Zählwesen aus dem Netzbetrieb herausgelöst wird, es hier Wettbewerb gibt und man einen anderen Dienstleister wählen kann, der eine billigere Leistung anbietet, dann macht das Sinn. Aber ich habe diese Forderung von Ihnen noch nicht gehört. Bisher waren die Grünen die einzigen, die diese Forderung in diesem Zusammenhang vertreten haben. ({2}) Es geht Ihnen nicht um mehr Transparenz und in der Konsequenz um Wahlmöglichkeit. ({3}) Ihre ganzen Reden haben doch gezeigt, ({4}) dass es Ihnen um ein Instrument geht, um Ihre Politik mit Hilfe der Stromrechnungen fortzusetzen. Dafür sind die Reden, die Sie beide hier gehalten haben, ein Beleg. Sie haben nicht über Transparenz und Kosten gesprochen, sondern von Energiepolitik und davon, dass Sie einen Hinweis in Form eines Sternchens auf der Stromrechnung mit dem Text haben wollen: Bitte die Rede von Herrn Fuchs lesen, dann wissen Sie Bescheid. ({5}) Wir verstecken die Kosten für das EEG überhaupt nicht. Ich sage es in dieser Rede, so wie ich es in jeder Rede sage: Das kostet den Haushalt 1 Euro pro Monat. Wenn wir eine Härtefallregelung für die energieintensive Industrie machen, dann kostet es 1,10 Euro pro Monat. Jetzt schaue ich die Besucher auf der Tribüne an und frage sie: Ist 1 Euro pro Monat für die erneuerbaren Energien, ({6}) für eine zukunftsfähige Energieversorgung ein Preis, den man zahlen kann und den man für die Bewahrung unserer Lebensgrundlage zahlen muss? ({7}) Die aktuellen Umfragen machen deutlich, dass zwei Drittel der Bevölkerung die erneuerbaren Energien gutheißen und dafür sind, dass dieser Weg weiterhin beschritten wird. ({8}) Das ist euer Problem. Wenn Sie „Ihre“ Windkraftanlagen sagen und damit uns meinen, dann empfehle ich Ihnen, einmal mit Ihren Kollegen zu diskutieren. Denn in der Kernzeitdebatte heute Morgen hat sich das ganz anders angehört: Ihr Kollege Paziorek hat uns in dieser Debatte aufgefordert, die Windkraft noch ein bisschen stärker zu fördern und uns zum Beispiel verstärkt der Biomasse zuzuwenden. ({9}) Die Baden-Württemberger bestürmen uns, die großen Wasserkraftanlagen in das EEG mit aufzunehmen. ({10}) All das führt ebenfalls zur Erhöhung der mit dem EEG zusammenhängenden Kosten. Insofern repräsentiert die Rede, die Sie in der Nacht halten, ({11}) sicherlich nicht die Mehrheit Ihrer Fraktion. Wenn es Ihnen wirklich um Transparenz im Sinne von mehr Wettbewerb und damit um einen größeren Informationsgehalt der Stromrechnung geht, um den Kunden tatsächlich Wahlmöglichkeiten zu bieten, dann haben wir eine völlig andere Aufgabe. In diesem Fall muss in der Stromrechnung aufgeführt werden - das interessiert die Kunden in der Tat -, wie sich der Strom zusammensetzt, wie er produziert wird, wie hoch der Anteil des Atomstroms ist, wie viel Müll durch den Atomstrom anfällt, wie hoch jeweils die Anteile des Braunkohle-, Kohle- und importierten Stroms ({12}) sowie der erneuerbaren Energien sind. Danach differiert die Stromrechnung in der Tat und anhand dieser Kriterien will der Kunde den Stromerzeuger auswählen. Insofern finde ich es verwunderlich, dass diese Art von Transparenz in Ihrem Antrag „Stromrechnungen transparenter gestalten“ nicht vorkommt. Woran liegt das? Vielleicht liegt es daran, dass Sie genau wissen, dass Ihre Art von Energiemix - Atom, Atom, Atom beim Kunden nicht ankommt. ({13}) Der Kunde möchte vielmehr einen Energiemix erhalten, bei dem der Anteil der erneuerbaren Energien möglichst hoch ist. Deswegen halte ich den Weg, den wir beschreiten - das werden wir auch bei der Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz umsetzen -, nämlich hinsichtlich der Zusammensetzung des Stromes Transparenz zu schaffen und damit dem Kunden eine echte Wahlmöglichkeit zu bieten, für richtig. Deswegen müssen wir Ihren Antrag ablehnen. Danke schön. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Sechster Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - 2003 - Drucksache 15/1530 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich vorwegzunehmen: Ich war nach der Lektüre des Sechsten Tätigkeitsberichts der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik beeindruckt. Was in der Zentralstelle und in den 14 Außenstellen ihrer Behörde in den neuen Ländern geleistet wurde, ist enorm. Ich möchte dafür folgende Beispiele nennen: Seit 1992 sind bei der Behörde 2 Millionen Anträge auf Akteneinsicht von Bürgerinnen und Bürgern, 3 Millionen Ersuchen im Rahmen von Überprüfungen im öffentlichen Dienst, Rehabilitierungen oder Rentenangelegenheiten und 14 000 thematisch breit gefächerte Anträge von Forschern und Medienvertretern eingegangen. Darüber hinaus wurden telefonische und persönliche Bürgerberatungen durchgeführt und Publikationen verfasst. Im Berichtszeitraum sind die Veröffentlichungen zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 von besonderem Interesse gewesen. In diesem Zusammenhang darf auch die Fachtagung zum selben Thema, an der sich Experten aus dem In- und Ausland beteiligt haben, nicht unerwähnt bleiben. Auch in den Außenstellen wurden beachtliche Forschungsprojekte realisiert, so zum Beispiel das Forschungsprojekt „Spitzbart, Bauch und Brille...“ - die Vollendung dieses Satz, nämlich „... sind nicht des Volkes Wille“, dürfte dem einen oder anderen noch bekannt sein - in Halle, das mit Fotos ergänzt werden konnte, die 40 Jahre verschollen waren. Mit Ausstellungen erreichte die Behörde Präsenz in der Fläche und erfüllte damit zielstrebig und vorbildlich ihren Auftrag der Unterrichtung der Öffentlichkeit, so zum Beispiel auch mit der Wanderausstellung „Staatssicherheit - Garant der SEDDiktatur“, die vorwiegend für die alten Länder bestimmt war. Die Gemeinschaftsausstellung „Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR“, getragen vom Bürgerkomitee Leipzig e. V., führte noch einmal eindrucksvoll vor Augen, dass zum Beispiel täglich bis zu 90 000 Briefe und 60 000 Pakete geöffnet und kontrolliert wurden. Das macht auch im Nachhinein noch immer wütend. Politische Bildungsarbeit nimmt immer größeren Raum ein und wird nicht selten mit Partnern geleistet, wie zum Beispiel mit der Bundeszentrale für politische Bildung oder in den Außenstellen mit einer der Landeszentralen. Unter den vielfältigen Aufgabenstellungen sind Internetpräsentationen der Behörde, Archivierung sowie Erschließung und Bewertung von Unterlagen schon fast als Routinearbeiten zu bewerten. Deshalb darf nicht vergessen werden: Hinter all diesen vielfältigen Aktivitäten stehen sehr viel Engagement, Erfahrung und große Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörde. Davon konnte ich mich auch bei meinem jüngsten Besuch im Archiv überzeugen. Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion danke ich Frau Birthler, der Leiterin der Behörde, und all ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich. Sie können sicher sein, dass wir sie wie bisher auch in Zukunft unterstützen und konstruktiv ihre Arbeit begleiten werden. Die Aufarbeitung der Stasiunterlagen hat nämlich nichts an Aktualität verloren. Das wurde nicht nur aus Anlass des 10. Jahrestages der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes deutlich, sondern zeigt sich vor allem auch an dem nicht nachlassenden Interesse einer breiten Öffentlichkeit. Dazu, dass das so ist, hat auch die Birthler-Behörde mit all ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit ihrer intensiven Arbeit entscheidend beigetragen. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders hervorheben, was für junge Menschen gemacht wird. So werden zum Beispiel Projekttage sowohl in der Zentrale als auch in den Außenstellen durchgeführt. Haus- und Facharbeiten werden betreut. Kontakte zu Schulen werden aufgebaut. Die Anfertigung von unterrichtsbegleitenden Materialien halte ich ebenfalls für besonders wichtig. Dass sich die Behörde in diesem Jahr sogar am Girls’Day beteiligt hat und dort interessierten Schülerinnen Einblicke in die berufliche Tätigkeit einer ArchivaBarbara Wittig rin, einer Restauratorin oder einer Fotolaborantin geboten hat, war zwar neu für mich, aber ich fand diese Initiative sehr gut. Warum hebe ich dieses Engagement für junge Menschen hervor? Ich meine, dass sich über die Auseinandersetzung mit der Geschichte des MfS auch das Verständnis für grundlegende demokratische Fragen entwickeln lässt. Auf diesem Wege muss fortgeschritten werden. Eine der wichtigsten Aufgaben der Behörde ist aber nach wie vor, dazu beizutragen, dass Bürger, die durch das DDR-System Unrecht erlitten haben, rehabilitiert werden können. Hier nehme ich Bezug auf die rehabilitierungsrechtlichen Vorschriften, auf deren Grundlage ehemals politisch Verfolgte oder Systemgegner Anträge stellen können. Die Fristen für die Antragstellung nach dem Strafrechtlichen, dem Verwaltungsrechtlichen und dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wurden dreimal verlängert. Am 31. Dezember 2003 sollten sie endgültig auslaufen. Die von den Ländern erstellten Statistiken weisen aber eindeutig nach, dass noch immer eine sehr große Anzahl von ehemals politisch Verfolgten nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, einen Antrag zu stellen. Deshalb haben die Fraktionen des Deutschen Bundestages heute gemeinsam einen Gesetzentwurf eingebracht. ({0}) Ich gehe ganz kurz auf den Inhalt ein - ich will das nicht weiter ausführen, weil das einen anderen Gegenstand betrifft -: Es werden nicht nur die Antragsfristen bis 2007 - also um vier Jahre - verlängert, sondern auch die Ausgleichszahlungen nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz erhöht. Ich komme zurück zum Tätigkeitsbericht. Während in den Tätigkeitsberichten 1 bis 5 insbesondere die Erfahrungen der Behörde mit der Arbeit in den ersten zehn Jahren dargestellt wurden, stellt es sich beim Sechsten Tätigkeitsbericht schon ein bisschen anders dar. Beim Studium der gesamten Berichte ist es immer besonders eindrucksvoll, dass kein einziger Fall bekannt geworden ist, in dem jemand auf eigene Faust Vergeltung geübt hat. Ich meine, das kann als Beweis dafür gewertet werden, wie verantwortungsbewusst und besonnen die Menschen mit der manchmal doch sehr schmerzlichen Wahrheit umgehen. Meine Hochachtung dafür! ({1}) In dem nunmehr Sechsten Tätigkeitsbericht wird nicht nur auf die Arbeit der letzten zwei Jahre zurückgeblickt, sondern der Bericht widmet sich auch den mittel- und langfristigen Entwicklungen, die der Behörde bevorstehen. In diesem Zusammenhang sind meines Erachtens folgende Sachverhalte zu erwähnen: erstens der Umgang mit den Rosenholz-Unterlagen; zweitens die Änderungen des § 32 StUG, die wir am 6. September 2002 beschlossen haben; drittens die Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Zukunft der Außenstellen“; viertens die Rekonstruktion vorvernichteter Unterlagen. Zum Umgang mit den Rosenholz-Unterlagen wird nachher noch meine Kollegin Marga Elser sprechen. Ich möchte noch ganz kurz auf die anderen Punkte eingehen. Die Bearbeitung von Forschungs- und Medienanträgen ist im Berichtszeitraum ins Stocken geraten. Mit den Änderungen des § 32 StUG haben wir es durch die Einführung eines Verfahrens zur Benachrichtigung der betroffenen Personen ermöglicht, dass die Bearbeitung fortgesetzt werden kann. In ähnlicher Form wurde dies bereits seit Frühjahr 2001 praktiziert, und zwar zunächst auf der Grundlage einer internen Richtlinie. Bis August 2002 konnten 122 Personen der Zeitgeschichte, Amts- und Funktionsträger über die Absicht der Behörde informiert werden, im Rahmen von Forschungs- und Medienanträgen gemäß § 32 ff. Unterlagen über sie herauszugeben. Alle diese Verfahren und auch die nachfolgenden sind - entsprechend der gesetzlichen Regelung - einvernehmlich abgeschlossen worden. Diese Beispiele zeigen: Die Novellierung war wichtig und richtig. ({2}) Auch ich stimme der Einschätzung der Behörde zu, dass die meisten der gesetzlich vorgegebenen Aufgaben langfristig bestehen bleiben, wenn auch die Überprüfung von Personen bezüglich der früheren Tätigkeit bei der Stasi 2006 auslaufen wird. Das heißt, dass der folgende Forschungsauftrag erhalten bleibt: „Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes durch Unterrichtung über Struktur, Methoden und Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes.“ Wir müssen uns auch in diesem Zusammenhang mit den Außenstellen befassen. Das werden wir im Innenausschuss tun. Ein Konzept ist vorgelegt worden. Darüber wird zu reden sein. Wenn man an der Rekonstruktion vorvernichteter Unterlagen - zur Erinnerung: 16 250 Säcke mit circa 600 Millionen Schnipseln harren der Dinge - im gleichen Tempo weiter arbeitete, würde man bis zur Vollendung - das wissen wir alle - 600 Jahre brauchen. Dazu muss man sagen: Dank der fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese Arbeit geleistet haben, konnten im Berichtszeitraum immerhin 41 000 Seiten rekonstruiert werden. Das Bundesministerium des Innern prüft zurzeit die kürzlich von der BStU vorgelegte Machbarkeitsstudie zur IT-gestützten Rekonstruktion vorvernichteter Unterlagen. Ich bin gespannt auf die Einschätzung des ITKonzepts mit Kosten für Hard- und Software, der technischen Machbarkeit und darauf, welche Erfolgsaussichten das Bundesministerium des Innern für eine IT-gestützte Rekonstruktion prognostiziert. Das sind wichtige Aspekte, die wir im Zusammenhang mit diesem Sechsten Tätigkeitsbericht besprechen müssen. Dazu haben wir im Innenausschuss ausreichend Zeit. Ich kann für meine Fraktion hier sagen: Was machbar ist, wollen wir auch machen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Büttner, CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leeres Haus! ({0}) Joachim Gauck sprach mit Blick auf die Zusammenarbeit von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen in Fragen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes von einer Koalition der Vernunft. Diese Koalition der Vernunft ist im vergangenen Jahr durch eine stürmische und strittige Diskussionsphase gegangen. Ich bin froh darüber, dass wir nach den gegensätzlichen Meinungen zur Verwendung von Unterlagen zu Personen des öffentlichen Lebens wieder zu der lange praktizierten guten Zusammenarbeit zurückgekehrt sind. ({1}) Ich finde die Zusammenarbeit der vier Fraktionen - vielleicht hat sich mancher gewundert, dass wir auch geklatscht haben, als jemand von den Sozialdemokraten gesprochen hat - so wichtig, weil ich glaube, dass hierin einer der Hauptgründe für die große Akzeptanz des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bei der Bevölkerung liegt. Nach Geist und Buchstaben ist das Stasi-UnterlagenGesetz ein Öffnungs- und ein Opfergesetz. ({2}) Dem Einzelnen soll Klarheit über das Einwirken des MfS auf seinen Persönlichkeitsbereich gegeben werden. Die Chance, die eigene Biografie in Ordnung zu bringen, haben mittlerweile mehr als 2 Millionen Menschen genutzt. Sie haben Einsicht in ihre Akte genommen. Der Tätigkeitsbericht und vor allem die wieder nach Deutschland zurückgekommenen Rosenholz-Unterlagen zeigen uns deutlich, dass das unselige Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit kein reines DDRThema, sondern ein gesamtdeutsches Thema war. ({3}) Wir wissen jetzt, dass die Aussage „Opfer gab es in Ost und West, aber der Stasitäter kam ausschließlich aus Deutschland Ost“ nicht nur zu undifferenziert, sondern einfach falsch ist. ({4}) Im Laufe der Jahre haben 20 000 bis 30 000 Westdeutsche als inoffizielle Mitarbeiter für das MfS gearbeitet. Hoffentlich wird manch ein westdeutscher Redakteur angesichts dieser Zahlen etwas demütiger, wenn er sich an seine reißerische Berichterstattung über die Stasiverseuchung im Osten Deutschlands erinnert. Diese einseitige Betrachtungsweise hat nicht nur das Selbstwertgefühl der Menschen aus den neuen Bundesländern hart getroffen; es hat auch dazu beigetragen, den Graben in den Herzen und Hirnen der Deutschen zu vertiefen. Diese Sicht ließ auch keinen Raum für die Wahrheit. Auch in der DDR waren die Menschen, die Anstand behielten und Zivilcourage zeigten, in der Mehrheit. ({5}) Trotz schwierigster Umstände in einer Diktatur scheiterten drei von fünf Anwerbeversuchen des Staatssicherheitsdienstes. In Westdeutschland wurde eine Stasimitarbeit zumeist freiwillig erklärt - ohne die vielfältigen Repressionen des SED-Staats. Geld und das politische Ziel, den Sozialismus in allen Teilen Deutschlands voranzubringen, stand bei den meisten westdeutschen IM im Vordergrund. Frau Birthler nannte es in einem Interview mit der „taz“ vom 14. September - ich zitiere „bemerkenswert, wenn Menschen der Demokratie den Rücken kehren und mit dem Geheimdienst einer Diktatur zusammenarbeiten“. Ich kann ihr in der Schlussfolgerung nur zustimmen, wenn sie sagt, gerade die Geschichte der West-Linken könne schon etwas an Aufarbeitung vertragen. ({6}) - Jetzt bitte auf der linken Seite des Hauses klatschen! Besonders in diesem politischen Bereich können mögliche zusätzliche Erkenntnisse aus den so genannten Rosenholz-Unterlagen noch sehr hilfreich sein. Die Rückholung der Datenträger mit den Kopien der mikroverfilmten Karteikarten der Hauptverwaltung Aufklärung ist ebenfalls ein gutes Beispiel für das positive Wirken der Koalition der Vernunft. Jahrelang haben wir uns bemüht, die Datensätze zurückzubekommen. Die Berichterstatter der vier Fraktionen haben die Bundesregierung mit vielfältigen Aktivitäten in dem Ziel unterstützt, dass die amerikanische Einstufung „Geheim“ zurückgenommen wird. Jetzt können wir die Rosenholz-Unterlagen so behandeln wie alle anderen Stasiunterlagen auch. Eigentlich sind die Bestimmungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes völlig ausreichend, damit die Behörde neu auftauchende Erkenntnisse der zuständigen Stelle mitteilen kann, ohne dass ein Ersuchen vorliegt. Nur, für die Beschäftigten in der Behörde ist es praktisch sehr schwierig, die auftauchenden Namen einer zuständigen Stelle richtig zuzuordnen. Aus diesem Grund unterstütze ich nachdrücklich einen Beschluss meiner Fraktion, nach dem wir uns als Abgeordnete unserer Vorbildfunktion bewusst sein müssen und uns erneut freiwillig überprüfen lassen sollten. ({7}) Deshalb habe auch ich einen Antrag unterschrieben, um mich ein viertes Mal auf Stasi-Mitarbeit überprüfen zu lassen. Ich bin gespannt, was diesmal dabei herauskommt. ({8}) Hartmut Büttner ({9}) Ich finde es ebenfalls gut, dass FDP und Grüne dieses Thema ebenso offensiv angegangen sind und den Mitgliedern ihrer Fraktionen eine erneute Überprüfung empfohlen haben. Positiv im Sinne des vereinten Deutschlands ist es auch, dass nicht nur die Landtagsabgeordneten der östlichen Bundesländer, sondern auch die Abgeordneten zumindest einiger westdeutscher Landtage sich überprüfen lassen wollen. Ich möchte hier beispielhaft Niedersachsen, Hamburg und Baden-Württemberg nennen. ({10}) Umso mehr fällt auf, dass die Sozialdemokraten in Bund und Ländern zögerlich bis ablehnend an diese Frage herangehen. ({11}) Ich will es mir mit Blick auf unsere gerade wiederhergestellte gemeinsame Aktionsfähigkeit versagen, dies hier weiter zu vertiefen. Ansonsten könnte ich Ihnen schon einen sehr bunten Strauß von Zitaten zahlreicher SPDKollegen hierzu vortragen. ({12}) Es wäre aber wohl, wie ich denke, ein Akt politischer Hygiene und ein Wahrnehmen des Vorbildcharakters, wenn auch die SPD-Bundestagsfraktion wie die anderen Fraktionen dieses Hauses entsprechende Beschlüsse fassen und Empfehlungen aussprechen würde. ({13}) Mein Appell, erneut einen Antrag zu stellen, richtet sich an alle Bundestagskollegen, egal, wo sie politisch stehen und aus welcher Region sie kommen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Büttner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzter Kollege Büttner, sind Sie nicht der Meinung, dass Sie den wichtigen Aspekt von Freiwilligkeit diskreditieren, wenn Sie mit solchen Einlassungen durch die Hintertür irgendeine Art von Druck ausüben? Sehen Sie, Sie haben jetzt zum vierten Mal und ich zum dritten Mal freiwillig einen Antrag gestellt. Ich hätte ein großes Problem damit, wenn man mich dazu zwingen würde, aber freiwillig tue ich das so gerne, wie auch Sie es vermutlich getan haben. Meinen Sie nicht, dass man das Prinzip Freiwilligkeit von Anfang bis Ende ernst nehmen sollte und es einfach so im Raum stehen lassen sollte? Im Parlament sitzen erwachsene Menschen, die für sich eine Entscheidung treffen können. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Meinen Sie nicht, dass man sich die Parteipolitik in kleiner Münze an dieser Stelle schenken sollte? ({0})

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe vor der Freiwilligkeit und der Souveränität der Abgeordneten hohen Respekt. Eine andere Möglichkeit gibt es auch gar nicht. Aber es ist schon ein Unterschied, ob Fraktionen nichts dazu sagen oder ob sie wie die FDP-Fraktion, die Fraktion der Grünen oder die CDU/CSU-Fraktion ihren Mitgliedern empfehlen - bei einer Enthaltung haben wir diese Empfehlung einstimmig ausgesprochen -, sich bitte noch einmal freiwillig überprüfen zu lassen. Ich denke, das ist ein Akt der Solidarität. ({0}) Ich hätte normalerweise hier kein Salz in die Wunde gestreut. Ihre und die Äußerungen anderer, die ich hier in den Unterlagen habe, sind bemerkenswert genug. Sie wissen auch, dass ich versuche, die Zusammenarbeit aller Bundestagsfraktionen überall zu pflegen. Sie ist mir gerade deshalb so wichtig, weil wir gemeinsam aktionsfähig bleiben müssen. Als sich die letzten Tage der DDR abzeichneten, ergriff die damaligen Machthaber und ihre Vasallen nämlich Panik. Alles, was an belastendem Material vorhanden war, sollte vernichtet werden. Vieles wurde auch endgültig vernichtet, aber nicht alles. In Zirndorf, in Bayern - Sie haben es erwähnt, Frau Wittig -, lagern derzeit circa 600 Millionen Schnipsel in 16 250 Säcken - und das sind nur die zerrissenen Unterlagen. In mühsamer Handarbeit gelang es in den letzten Jahren einer Projektgruppe von 40 Mitarbeitern, circa 550 000 Einzelblätter wieder zusammenzusetzen. Die Dimension ist wahrlich gigantisch. Wenn die Geschwindigkeit von heute beibehalten wird, dann haben wir die Chance, in 375 Jahren mit dieser Arbeit fertig zu werden. Diese Puzzlearbeit ist wie das Ausschöpfen des Ozeans mit einem Teelöffel. Häufig sind es aber nur diese zusammengesetzten Seiten, die den Tätern von gestern auch heute noch zum Verhängnis werden. So wurde hierdurch beispielsweise ein Professor Bress aus Kassel enttarnt. Bress hatte länger als 30 Jahre für ein Agentenhonorar von 350 000 DM für die Stasi im Westen spioniert. Ebenso fanden sich entscheidende Beweise gegen den Thüringer Landesbischof Braecklein oder den Literaten Anderson in den Säcken mit den vorvernichteten Unterlagen. Aber es wurden nicht nur Täter enttarnt. Es wurden auch wichtige Unterlagen über Stasiopfer entdeckt, zum Beispiel Akten über Bärbel Bohley oder Werner Fischer. Es gibt jetzt neue technische Möglichkeiten; Frau Wittig hat sie angesprochen. Es war erneut ein gemeinsamer Antrag und Parlamentsbeschluss vom Dezember 2000, mit dem wir die Ablösung des manuellen Verfahrens durch eine IT-gestützte Lösung gefordert haben. Hartmut Büttner ({1}) Der Deutsche Bundestag forderte in seinem Beschluss die Bundesregierung auf, diese Bemühungen im Rahmen des finanziell Vertretbaren zu unterstützen. Aus 13 verschiedenen Anbietern ist in einer europaweiten Ausschreibung ein Anbieter ausgesucht worden. Eine Machbarkeitsstudie, die den Rekonstruktionszeitraum auf fünf Jahre abkürzen würde, liegt uns derzeit zur Entscheidung vor. Allein durch dieses Verfahren sind die erheblichen Mittel, die wir dazu brauchen, bereits ziemlich zusammengeschrumpft. Es sind aber immer noch, Herr Wiefelspütz, knapp 58 Millionen Euro, die wir in fünf Jahren zu schultern haben. Wir haben in ersten Bewertungen gemeinsam mit Mitgliedern des Haushaltsausschusses versucht, diese Summe noch etwas zu drücken. Auch wollen wir Verwerfungen wie bei anderen privat-staatlichen Kooperationen - ich nenne hier nur die LKW-Maut - gar nicht erst entstehen lassen. Jetzt wird sich auch erweisen, was an Ihren vollmundigen Erklärungen dran ist, Herr Wiefelspütz. Sie haben bei der Ablehnung eines recht bescheidenen Haushaltsantrages meiner Fraktion zu diesem Bereich im letzten Jahr argumentiert: Herr Büttner, wenn diese Lösung umsetzungsreif ist und wir Geld in die Hand nehmen müssen, werden wir für die notwendigen finanziellen Mittel sorgen. ({2}) Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Unsere Unterstützung hierfür haben Sie. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre schön, wenn Sie weiter zuhören und nicht so viel Unruhe in den ersten Reihen verbreiten würden. Herr Kollege Wiefelspütz, setzen Sie sich doch einfach auf Ihren Platz. ({0}) Der neue Bericht von Marianne Birthler zeigt, wie unverzichtbar die Arbeit der Behörde nach wie vor ist. Auch wenn die Zahl der Bürgeranträge auf Einsicht in ihre Stasiakten langsam geringer wird, ist die Zahl viel höher, als 1991 bei Erlass des Gesetzes vorhergesagt wurde. Es ist erfreulich, dass die Wartezeiten für die Betroffenen kürzer werden. Über viele Jahre werden aber noch Anträge in großer Zahl eingehen und abgearbeitet werden müssen. Das gilt auch für die Anfragen im Zusammenhang mit den Rehabilitierungsverfahren nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen. Wir haben das hier angesprochen. Der Gesetzentwurf, der die Verlängerung der Antragsfristen um vier Jahre enthält, wird hier morgen parteiübergreifend eingebracht werden. Ich denke, wir haben hier ein gutes Verhandlungsergebnis erzielt. Bei allen Streitereien haben wir unsere parteipolitischen Differenzen einmal beiseite gelegt und im Interesse der Opfer ein - wenn auch kleines und bescheidenes - immerhin gemeinsames Ergebnis zustande gebracht. ({1}) Weit über die persönliche Betroffenheit hinaus ist das Interesse an der deutsch-deutschen Vergangenheit ungebrochen. Das hat die große öffentliche Aufmerksamkeit am 50. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 gezeigt. Es gab nicht nur in den neuen Bundesländern sehr viele Veranstaltungen, sondern die Erinnerung an diesen 17. Juni ist zu einem gesamtdeutschen Ereignis geworden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit diesem Datum fand bundesweit statt. Auch das ist hier angesprochen worden: Gerade die Bildungsarbeit der Birthler-Behörde wird in Zukunft immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wir alle werden dafür sorgen - das ist in den Redebeiträgen hier deutlich gemacht worden -, dass die Arbeit dieser Behörde kein Ostereignis ist, sondern dass zwölf Jahre nach der Einrichtung der Behörde die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit ein gesamtdeutsches Thema ist. ({2}) Meine Damen und Herren, die Rosenholz-Unterlagen sind schon angesprochen worden. 381 CDs sind, nachdem sie leider lange Zeit in den USA „zwischengelagert“ waren - wie auch immer sie dorthin gekommen sind -, jetzt wieder in deutscher Hand. Die technische Aufbereitung dieser CDs ist sehr schwierig. Bis die Dateien zur Verfügung stehen, wird es also noch eine ganze Weile dauern. Ich finde es richtig, dass wir die Überlassung der Rosenholz-Akten zum Anlass nehmen, noch einmal einen Appell an die Abgeordneten aller Fraktionen zu richten - auch meine Fraktion hat das gemacht -, freiwillig „in sich zu gehen“. Dies wäre ein Signal, dass es eben kein reines Ostproblem, sondern auch ein Westproblem ist. ({3}) Im Intranet des Bundestages findet sich dazu ein einfaches Formular - es muss lediglich ausgedruckt und unterschrieben werden -, mit dem man sich damit einverstanden erklären kann, überprüft zu werden. Auch das Problem der 14 Außenstellen der BirthlerBehörde wurde schon angesprochen. Es war richtig, die Birthler-Behörde bei ihrer Einrichtung dezentral aufzubauen; aber wir alle wissen, dass wir die große Anzahl an Außenstellen nicht aufrechterhalten können. Ich finde es gut, dass die Birthler-Behörde nicht herumgejammert hat, als das Parlament erklärt hat - es geht hier auch um Eingrenzung der Arbeit und um die damit verbundenen Reformen -, dass die Anzahl der Außenstellen nicht erhalten werden kann. Man hat sich zusammengesetzt und ein Konzept erarbeitet. Meine Fraktion unterstützt dieses Konzept und wir werden auch die Finanzierung des damit verbundenen Umbaus mittragen. Ich bin mir sicher, dass wir auch in dieser Frage gemeinsam zu einer Lösung kommen werden. ({4}) Meine Damen und Herren, ich habe leider nicht so viel Redezeit wie die Redner der großen Fraktionen. ({5}) - Ja, es wäre wirklich schön, wenn ich meine Gedanken hier einmal etwas länger ausführen könnte. ({6}) Lassen Sie mich aber noch die bereits erwähnten vielen Schnipsel ansprechen - Herr Wiefelspütz, das ist wichtig -, in denen unendlich viele Informationen, insbesondere aus den 80er-Jahren, stecken. Wir haben ein großes Interesse daran, die Schnipsel in absehbarer Zeit zusammenzufügen, was jetzt technisch machbar ist. Dazu müssen wir die entsprechende Finanzierung sicherstellen und das nötige Geld bereitstellen; denn es handelt sich um Akten, die einen Teil der deutschen Geschichte ausmachen. Zum Schluss möchte auch ich im Namen meiner Fraktion den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Birthler-Behörde für ihre geleistete Arbeit danken. ({7}) Der Dank gilt natürlich auch der Leitung, Frau Birthler und Herrn Direktor Altendorf. Ich bedanke mich auch für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit allen Fraktionen dieses Hauses und wünsche mir, dass wir diese in gleicher Weise fortsetzen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz, FDPFraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sechste Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik setzt in diesem Jahr einen wichtigen Schwerpunkt: Neben der Rückschau auf die seit 2001 geleistete Arbeit wirft er auch einen besonderen Blick auf die aktuelle Situation der Behörde sowie auf künftige Herausforderungen und Schwerpunkte. Der Auftrag dieser Behörde, die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes aufzuarbeiten, hat sich über die Jahre, zunächst unter der Leitung von Herrn Gauck und nun unter der Leitung von Frau Birthler, sehr bewährt. Ich hätte ihr gern persönlich gedankt, aber leider ist sie nicht hier. Ebenso möchte auch ich mich natürlich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken. Ich bin sicher, dass jemand den kollektiven Dank des Plenums weiterleiten wird. ({0}) In den letzten Jahren sind wichtige Schritte zur Aufarbeitung der Stasitätigkeit gegangen worden. Die Rückgabe der so genannten Rosenholz-Unterlagen - sie wurde hier schon mehrfach angesprochen - ist ein solcher Schritt. Die jahrelangen Bemühungen dieser Behörde haben sicherlich maßgeblich dazu beigetragen. Die Dateien sind insbesondere für die Erforschung der Westarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit von großem Interesse. Auch das ist hier schon gesagt worden. Ich weise in diesem Zusammenhang aber noch einmal besonders gern darauf hin, dass die FDP-Bundestagsfraktion sich als erste Fraktion für eine freiwillige Überprüfung auf eine Stasimitarbeit bei ihren Abgeordneten und deren Mitarbeitern ausgesprochen hat. ({1}) Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass jetzt, da die Verstrickungen auch in Westdeutschland besser beurteilt werden können, mit zweierlei Maß gemessen wird. ({2}) Für die Legitimation als Volksvertreter ist es aus unserer Sicht selbstverständlich, dass sich jeder Abgeordnete des Bundestages, aber auch jedes Landtages, auf eine Stasimitarbeit überprüfen lässt. ({3}) Herr Kollege Wiefelspütz, bevor Sie eine Zwischenfrage stellen, ({4}) kann ich Ihnen sagen, dass es aus meiner Sicht auch eine Art kollektive Bitte bezüglich der Freiwilligkeit gibt. Die würde ich mir auch bei Ihnen wünschen. ({5}) Wir als FDP und auch die anderen gehen mit gutem Beispiel voran. ({6}) An dieser Stelle möchte ich aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass für die FDP der Opferschutz ein wichtiges Thema im Rahmen der Aufarbeitung von DDR-Unrecht war. Dem wurde durch die Behörde bisher in aller Regel Rechnung getragen. Ich möchte aber auch daran erinnern - jetzt darf ich meine Fraktion zum zweiten Mal loben -, dass erst durch die Mitwirkung der FDP-Bundestagsfraktion in der letzten Legislaturperiode der Opferschutz ausreichend gewährleistet wurde. ({7}) - Ja. Da klatscht nur meine Fraktion. Das haben Sie jetzt verpasst, Herr Wiefelspütz. Das kann ich leider auch nicht ändern; es tut mir Leid für Sie. Wenn wir jetzt einen Blick in die Zukunft werfen, so kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass auch die Birthler-Behörde den strukturellen Veränderungen nicht entgehen kann. Beeinflusst durch die engen finanziellen Spielräume, die Modernisierung der Verwaltung und die Aufgabenentwicklung ist es notwendig geworden, über neue Strukturen nachzudenken. Dies ist auch geschehen, insbesondere mit dem Konzept zur Zukunft der Außenstellen. Dieses Konzept kommt zu dem Ergebnis, dass nicht mehr alle Aufgabenbereiche in jeder Außenstelle abgedeckt werden können. Darauf zu reagieren wird aus unserer Sicht der erste Schritt sein. Erforderlich ist sicherlich eine bedarfsgerechte Strukturanpassung, ({8}) über die wir hier noch im Einzelnen werden beraten müssen. Weiter möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die vorvernichteten Akten richten. Auch darüber ist hier schon im Detail gesprochen worden. Es kann unserer Meinung nach nicht sein, dass diejenigen, deren Akten nicht zerrissen worden sind, zur Rechenschaft gezogen werden, und diejenigen, die das Glück haben, dass ihre Akten zerrissen wurden, nicht „verfolgt“ werden und sich der Strafverfolgung entziehen können. Das ist aus unserer Sicht nicht im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates. Deshalb haben wir immer darauf hingewiesen, dass dieses Thema hier weiter aufgearbeitet werden muss. ({9}) In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Fristverlängerung bis zum Ende des Jahres 2007 zu sehen, die jetzt erfolgt ist; denn dieses aufwendige Verfahren macht nur Sinn, wenn man als Betroffener auch die Möglichkeit zur Rehabilitierung bekommt oder Anträge stellen kann. Sonst würde die Fristverlängerung ins Leere laufen. ({10}) Die Kosten für die Wiederherstellung der Unterlagen sollen allerdings erst im Jahr 2005 in den Bundeshaushalt eingestellt werden. Das ist aus unserer Sicht zu spät. Herr Wiefelspütz, ich nehme Sie da beim Wort: Sie haben gesagt, das sei nicht das Schlupfloch dafür, dass wir zu keinem Ergebnis kommen. ({11}) Ich kann mich erinnern: Sie haben versprochen, dass dies im Jahr 2004 geschieht. Leider ist das nicht der Fall. Wir werden Sie beim Wort nehmen und bei Gelegenheit wieder zitieren, vielleicht dann auch länger; auf Ihren Wunsch mache ich das gerne. ({12}) Zum Abschluss möchte ich mich bei allen Fraktionen dieses Hauses für den Konsens bei der Erweiterung des Beirates bedanken. ({13}) - Deshalb bedanke ich mich ja auch. ({14}) Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft bei diesem Thema fraktionsübergreifend so gut zusammenarbeiten, ganz im Sinne der „Koalition der Vernunft“. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marga Elser, SPDFraktion.

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich schade, dass wir über diesen Stasiunterlagenbericht zu relativ später Stunde diskutieren. Denn ich denke schon, dass dieser Bericht in der Bevölkerung einen Wert darstellt. Deshalb hätte darüber meines Erachtens zu einem besseren Zeitpunkt an diesem Tag debattiert werden müssen. - So weit, so gut. ({0}) Es ist ein gutes Zeichen für unsere Demokratie, dass wir heute über den Sechsten Tätigkeitsbericht der Stasiunterlagenbehörde diskutieren. Dies ist auch deshalb gut, weil die Bevölkerung die vormals Gauck- und jetzt Birthler-Behörde angenommen hat. Es besteht sowohl seitens der ehemaligen DDR-Bürger, der Bundesbürger überhaupt und der Behörden als auch seitens der Wissenschaft ein großes öffentliches Interesse. Die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur ist noch lange nicht abgeschlossen. Mittlerweile 5 Millionen Anträge sind ein Zeichen dafür, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz von der Bevölkerung akzeptiert wird. Das sind 1,6 Kilometer neu erschlossene Stasiunterlagen, monatlich 8 000 Anträge auf Akteneinsicht, Kopienherausgabe und Decknamenentschlüsselung, 17 000 Überprüfungsersuchen der LuftMarga Elser fahrtbehörden und weit mehr als 10 000 Überprüfungsersuchen des öffentlichen Dienstes. Ich danke der Bundesbeauftragten Marianne Birthler und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren Einsatz. Sie verdienen ein großes Kompliment für die hervorragende Arbeit, die manchmal auch eine Kärrnerarbeit ist. Die Birthler-Behörde ist ein fester und überaus wichtiger Bestandteil der Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Das politische Gedenken an den 50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 zeigt mir, wie wichtig die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes war. Viele Forschungs- und Filmprojekte hätten sonst nur bedingt oder überhaupt nicht bearbeitet werden können. ({1}) Ich bin froh, dass uns nun Bücher, Filme usw. zur Verfügung stehen. Ich habe diese zum Beispiel an die Schulen in meinem Wahlkreis weitergegeben. Sie sind auf sehr großes Interesse gestoßen. Der Sechste Tätigkeitsbericht widmet sich wieder einem ganz speziellen Thema: den Stasihandlungen in der alten Bundesrepublik, vor allem den so genannten Rosenholz-Dateien. Die Bundesregierung und der Bundestag haben sich mit Erfolg bemüht: Der US-Geheimdienst CIA hat diese Stasiunterlagen jetzt an uns zurückgegeben. Das trägt sicher dazu bei, dass ein ganz bestimmter Arbeits- und Wirkungsbereich der Staatssicherheit durchleuchtet werden kann: Was hatte die Stasi im Westen Deutschlands zu tun? Wen hat sie angeworben? Wie sind die Mühlen beschaffen, durch die unbescholtene Bürger verstrickt wurden? Von daher können wir die Rosenholz-Dateien für die geschichtliche Aufarbeitung nur begrüßen. Die Birthler-Behörde wird gewiss Jahre brauchen, alle relevanten Informationen zusammenzutragen und einen Gesamtzusammenhang herzustellen. Man muss deshalb den Menschen immer wieder klar machen, dass wir mit dieser Aufarbeitung erst am Beginn stehen und sie unter Umständen Geduld haben müssen. Wir müssen doch nur bedenken, dass auch die Aufarbeitung der NS-Zeit heute noch nicht abgeschlossen ist und vermutlich nie abgeschlossen werden kann. Auch die Rosenholz-Dateien werden uns bestimmt noch sehr lange beschäftigen. Mit dem Auftauchen dieser Daten erleben wir zurzeit eine etwas aufgeregte Debatte. Das ist vorhin schon diskutiert worden. Auch der Deutsche Bundestag hat sich schon mit dieser Frage beschäftigt. Jeder Abgeordnete kann freiwillig überprüfen lassen, ob in seinem Fall etwas vorliegt. Auch ich habe mich überprüfen lassen, weil der Geschäftsführer unserer Fraktion Wilhelm Schmidt uns einen Brief geschrieben hat, ({2}) in dem er uns darauf hingewiesen hat, dass wir uns überprüfen lassen können. Das ist freiwillig. Ich bin dafür. ({3}) Meiner Ansicht nach ist das eine gute Lösung, weil dadurch kein künstlich erzeugter Druck auf die Kollegen ausgeübt wird. Es kann keinen Generalverdacht geben. Stellen Sie sich doch einmal vor, dass die Gemeindeverwaltungen in meinem Wahlkreis in Baden-Württemberg sich ohne irgendeinen Anlass einer Generalüberprüfung unterziehen müssten! Dort, wo es angezeigt ist, finden schon Überprüfungen statt. Deshalb sage ich noch einmal: Einen Generalverdacht darf es nicht geben. ({4}) Für wichtig halte ich die Rekonstruktion und die Erschließung der vorvernichteten Unterlagen. Dazu ist schon viel gesagt worden. Ich weiß, dass es eine Studie gibt, mit der uns zu befassen wir im Innenausschuss Gelegenheit haben werden. Dann können wir die entsprechenden Entscheidungen fällen. Ich hoffe da auf allgemeine Zustimmung. Über den Tag hinaus werden uns die Publikationen, wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungen helfen, unsere gemeinsame Geschichte transparent zu machen. Ich möchte, dass wir jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern im Rahmen der politischen Bildung dabei helfen, ein politisches Bewusstsein für dieses Thema zu entwickeln. Das macht die Birthler-Behörde. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, deren Bedeutung wir nicht hoch genug einschätzen können. Danke. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dorothee Mantel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den vorgelegten Tätigkeitsbericht kann man durchaus als eine Art politische Zwischenbilanz auffassen. Ohne Frau Birthler einen Erfolg absprechen zu wollen: Das Wort „Zwischenbilanz“ hört sie selbst vermutlich gar nicht gerne. Denn meistens vermitteln Zwischenbilanzen das Gefühl, ein guter Teil der Arbeit sei schon getan. Doch sie selbst kann wahrscheinlich am besten erkennen, welche Arbeit noch vor ihr liegt. Meinen Dank für die bisherige Arbeit möchte ich ihr persönlich, ebenso aber allen Mitarbeitern aussprechen. ({0}) Ich denke, es ist gerechtfertigt, in diesem Zusammenhang von einer wirklich mühseligen Arbeit zu sprechen, die sie leistet und noch zu leisten hat. Denn auch was die Rekonstruktion der sprichwörtlichen Informationsschnipsel betrifft, liegt die Arbeit noch vor ihr. Das haben wir heute schon mehrmals gehört. Eine politische Zwischenbilanz kann gut gezogen werden. Die Leitfrage meiner Generation ist: Wie gehen wir mit unserer jüngsten Vergangenheit um? Die Konstruktion der ehemaligen Gauck-Behörde und heutigen Birthler-Behörde hat sich zu einem deutschen Exportschlager entwickelt. Nicht nur die moralische Pflicht, in die Deutschland sich begeben hat, ist international vorbildlich; auch die organisatorische Konstruktion der Behörde ist beispielhaft. Die Arbeit findet international Anerkennung. ({1}) - Ihr Lob, Herr Wiefelspütz, tut gut. ({2}) Auf eine organisatorische Entwicklung möchte ich in diesem Zusammenhang näher eingehen: die Zukunft der Außenstellen. Die Struktur der Behörde und damit die Zahl der Außenstellen ist, wie Sie wissen, in der historischen Struktur des Aufbaus des Ministeriums für Staatssicherheit begründet. Die Außenstellen machen heute die Arbeit der Behörde sichtbar und auch erlebbar. Sie sind sozusagen der Kontakt und die Öffnung zur Bevölkerung. Wie dem Bericht der Arbeitsgruppe „Zukunft der Außenstellen“ zu entnehmen ist, wurden die Vorschläge für eine künftige Struktur sehr sorgsam vorbereitet. Man kann durchaus sagen, dass an die Vorbereitung dieser Entscheidung mustergültig herangegangen wurde. ({3}) Auch die Rolle von Frau Birthler, die mit sehr viel Sensibilität vorgeht, möchte ich hier nochmals lobend hervorheben. ({4}) Für einen speziellen Bereich der Arbeit sind die Außenstellen von großer Bedeutung, nämlich für die politische Bildung. Mir ist an der Arbeit der Birthler-Behörde sehr wichtig, dass die politische Bildung zum Anspruch und zum Selbstverständnis gehört. Es zeigt sich, dass die Anstrengungen in diesem Bereich schon Früchte tragen. Erfreulich ist auch die Tatsache, dass zwei Drittel der Besucher des Dokumentationszentrums in Rostock Jugendliche waren. Auf die politische Bildung gerade für Jugendliche und die Kooperation mit Schulen muss auch künftig großer Wert gelegt werden; ({5}) denn auch das Wissen um die jüngste deutsche Geschichte gehört zur staatsbürgerlichen Bildung. Meine Damen und Herren, wichtig ist mir, dass die Bundesbeauftragte, Frau Birthler, erkennt, welche wichtige Stellung ihre Behörde in der politischen Bildung schon mittelfristig einnehmen kann und auch einnehmen muss. Die Birthler-Behörde kann einen wichtigen Bereich der politischen Bildung ausfüllen. Der Kontakt mit Schulen und Angebote für Jugendliche müssen künftig noch verstärkt werden; denn es zeigt sich, dass diese Angebote angenommen werden. Meine Leitfrage nach dem Umgang mit unserer Vergangenheit ist in Bezug auf die politische Bildung demnach positiv zu bewerten. Aufarbeitung muss gerade auch für die Generationen stattfinden, die keine eigenen Erinnerungen an diese Vergangenheit haben. Dieses Bewusstsein ist vorhanden. Die Inanspruchnahme der Behörde durch Bürger aus Ost und West zeigt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit keine spezifisch ostdeutsche Angelegenheit ist. Die Aufarbeitung betrifft ganz Deutschland. ({6}) Daher sollte es in ganz Deutschland Vorbilder geben, die sich überprüfen lassen. Ich möchte damit nochmals auf unsere Rolle als Abgeordnete zu sprechen kommen. Vielleicht hat es eine andere Wirkung, wenn eine der jüngsten Abgeordneten dazu etwas sagt. Vielleicht muss die Forderung, sich freiwillig überprüfen zu lassen, gerade von den jungen Abgeordneten ausgehen und vielleicht müssen es auch gerade die jungen Abgeordneten sein, die den Finger auf diese Wunde legen. Ich selbst habe auch einen Antrag auf eine Überprüfung gestellt. Diesem Antrag wurde nicht entsprochen, da ich zum Zeitpunkt der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes noch nicht volljährig war. ({7}) - Es heißt aber auch, dass man sich über die Eltern überprüfen lassen kann, da die Kinder in den Unterlagen über die Eltern aufgeführt sind, Herr Kollege. Damit möchte ich sagen, dass ich einen Antrag auf Überprüfung gestellt habe, obwohl die Umstände offensichtlich waren. Das Zögern mancher Kollegen, sich überprüfen zu lassen, ist aus meiner Sicht unverständlich. ({8}) Eines vielleicht noch als Antwort auf Ihre Zwischenfrage, die Sie vorhin gestellt haben, Herr Kollege Wiefelspütz: Manchmal müssen Leute - das gilt auch für Abgeordnete - zu ihrem Glück gezwungen werden. ({9}) - Herr Wiefelspütz, wir setzen uns einmal nach der Debatte zu zweit zusammen und dann erkläre ich Ihnen, was ich damit gemeint habe. ({10}) Gerade die jungen Menschen in Deutschland, die selbst wenig oder nichts vom Ende der DDR bewusst miterlebt haben, sollten die Politik und auch uns Politiker als Vorbild wahrnehmen. Sie sollten wahrnehmen, dass der Umgang mit der Vergangenheit nie ein theoretischer bleiben darf, sondern immer auch ein persönlicher sein muss. Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit um? - Meiner Einschätzung nach sehr verantwortungsbewusst. Die heute wieder hoch gelobte „Koalition der Vernunft“ muss deshalb dafür sorgen, dass wir auch künftig die politischen Rahmenbedingungen dafür erhalten. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1530 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 5 auf: 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten HansJoachim Otto ({1}), Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Errichtung einer Stiftung „Staatsoper Unter den Linden“ - Drucksache 15/1790 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann ({3}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten HansJoachim Otto ({4}), Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur - Drucksache 15/1973 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({5}) Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion. ({6})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich muss man sich bei Ihnen allen und auch bei unseren Zuschauern herzlich bedanken, zu dieser Stunde überhaupt noch sprechen zu dürfen. Eigentlich sollten wir besser woanders sein, am besten in der Oper. ({0}) Warum? Vor 24 Stunden waren einige von uns Zeuge einer eindrucksvollen Veranstaltung im Kanzleramt, bei der es um die schönen Künste ging. ({1}) - Sie war in der Tat sehr gut. - Ich bedanke mich für die Einladung. Da das gesprochene Wort gilt, bekenne ich, dass ein Satz von Ihnen bei mir besonders haften geblieben ist, Frau Ministerin Weiss. Sie sagten nämlich - darum geht es heute -, Kultur mache glücklich. ({2}) Niemand weiß so gut wie diejenigen, die sich mit den schönen Künsten gern beschäftigen und sie auch genießen, dass es ein ganz besonderes Unglück ist, wenn Kultureinrichtungen kaputtgehen oder unnötig zugrunde gerichtet werden. Wir haben gerade eine interessante Debatte über Hinterlassenschaften der ehemaligen DDR gehört. Zu einem weiteren, nicht immer rühmlichen Kapitel gehört die Frage des Umgangs mit Kulturgütern - Museen, Orchestern, örtlichen Theatern - in den Ländern der ehemaligen DDR. Jeder weiß, wie viel Frust und Ärger hier entstanden ist. So reden wir nun über eine Staatsoper, die über viele Generationen hinweg als das bedeutendste Opernhaus von ganz Deutschland galt und die in unseren Tagen einer der wichtigsten Kulturorte des wiedervereinigten, europäischen Deutschlands ist: die Staatsoper Unter den Linden. ({3}) Über dieses Thema wird heute nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern wurde heute auch im Berliner Abgeordnetenhaus diskutiert. Sie wissen, dass der Kultursenator von Berlin, Herr Flierl, ein ganz bestimmtes Konzept ausgearbeitet hat, das offensichtlich mit der Bundesregierung abgestimmt ist. Über dieses Konzept hat heute im Berliner Abgeordnetenhaus kein Vertreter der CDU oder der FDP, sondern eine Vertreterin der Grünen wie folgt geurteilt. Mir liegt hier eine Meldung des „Deutschen Depeschen Dienstes“ von vor wenigen Stunden vor, in der es heißt: Grünen-Kulturexpertin Alice Ströver kritisierte im Berliner Abgeordnetenhaus heute das Senatskonzept als Etikettenschwindel. ({4}) Die Behauptung der Koalition, wonach Berlin auf Dauer drei Opern finanzieren könne, sei Augenwischerei. ({5}) Damit bestätigt diese Politikerin, was vor wenigen Tagen in einem Interview des „Tagesspiegels“ mit Herrn Holender, dem langjährigen Direktor der Wiener Staatsoper, zu lesen war. Herr Holender wurde als aktueller Berater der Berliner Kulturszene gefragt, was hinter den merkwürdigen Plänen des Senators stecke. Er antwortete, dahinter stecke „ein milder Weg zur Vereinigung“. Damit ist gemeint, man wolle sich heute nicht bekennen und nicht offen zugeben, dass man in Berlin keine drei Opernhäuser halten könne. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden sich wundern, warum sich hier ein Vertreter aus München des Anliegens der Erhaltung der Berliner Opernlandschaft annimmt. Ich glaube, dass diejenigen Recht haben, die sagen, es sei allem Föderalismus zum Trotze eine gesamtstaatliche Aufgabe ({6}) - ich habe dies immer getan und kann dafür auch Belege nennen -, dass wir alle für Berlin als Kulturhauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands einen Beitrag leisten müssen. ({7}) Es gibt einen prominenten Bayern, August Everding, der vor zehn Jahren in seiner Rede anlässlich der Protestveranstaltung des Deutschen Bühnenvereins in Berlin zur Schließung des Schiller-Theaters, das zu Ihrer Freude die andere politische Seite zu verantworten hatte, Folgendes erklärt hat: Hier soll ein Zeichen gesetzt werden - ein falsches. Hier soll gespart werden - so nicht. Das hat Schiller nicht verdient. Und Berlin auch nicht. Er schließt: Natürlich weiß ich um die Finanznöte in unserem wiedervereinigten Land. Erst recht um die Notwendigkeit des Sparens, auch in der Kultur, auch im Theater. Ich weiß aber auch, wie wichtig gerade in diesen Zeiten fehlender Orientierung, materieller Not und mangelnder Perspektiven die Kultur ist: ja, auch als Lebenshilfe. Ich halte es für ein Armutszeugnis, dass wir in unserem wiedervereinigten Land, in dem Geld in so vielen Fällen unnötig rausgeschmissen wird - jede Politikerin und jeder Politiker in diesem Rund kennt genügend Beispiele -, nicht die Kraft haben sollen, ein Opernhaus dieser Qualität zu unterstützen und seine Sache zu der unsrigen zu machen. ({8}) Es waren Sie, Frau Weiss, die geschrieben hat: Wo Theater und Museen geopfert werden, nur weil man nicht bereit ist, den steinigen Weg der Reformen zu gehen … An einer anderen Stelle steht: Schließungen sind immer nur das Ergebnis von kunstfeindlicher Denkfaulheit. Denkfaulheit steckt auch hinter Ihrer Vorgehensweise. Man muss sich nur die einzelnen Konzepte ansehen, die im Gespräch sind, um das zu erkennen. Es geht um ein Opernhaus, in dem Sie jeden Abschnitt der deutschen Geschichte vor Augen geführt bekommen können. Der Vorsitzende des Freundeskreises der Staatsoper, der frühere Außenminister Genscher, ({9}) hat zu Recht erklärt: Hätte sich die Staatsoper während der Teilung Deutschlands in Westberlin befunden, ({10}) gäbe es keine Debatte darüber, dass der Bund über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz seine Verantwortung für dieses Haus wahrnimmt. Es ist nicht zu verstehen, warum Italien, Österreich oder Frankreich - ({11}) - Wenn Sie bei diesem Thema nur Gedanken an Weißwürste im Hinterkopf haben, dann müssen Sie nicht mir ein schlechtes Zeugnis ausstellen, sondern sich selbst. Herzliches Beileid, Herr Kollege! Jeder blamiert sich, so gut er kann. ({12}) Es ist nicht einzusehen, warum sich andere Länder, die eine viel schlechtere Finanzausstattung haben, eine eigene Staatsoper leisten können, die Wirtschaftsmacht Bundesrepublik Deutschland in ihrer Mitte aber nicht. Sie haben die Länder angesprochen. Ein Stadtstaat kann selbstverständlich keine drei Opernhäuser unterhalten. Ich frage Sie: Warum ist eigentlich keine Regelung hinsichtlich der Staatsoper Unter den Linden in den Wiedervereinigungsvertrag aufgenommen worden? Zum einen sollte damals die Hauptstadtfrage nicht angetastet werden. Das war damals Konsens zwischen allen Seiten dieses Hauses; das wissen Sie ganz genau. Zum anderen wurde die Frage nach dieser Oper als ganz kleines Detail im riesengroßen Werk, das damals bewältigt werden musste, von allen politischen Seiten schlicht und ergreifend übersehen. Auch München oder Hamburg können keine drei Opern unterhalten. Die Alternative lautet deswegen, dass entweder die Oper geschlossen werden muss oder dass wir bereit sind, dieses Anliegen auf unsere Fahnen zu schreiben. ({13}) Die Übernahme der Staatsoper durch den Bund wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass wir nicht irgendwelche juristischen Konstruktionen schaffen und die Kulturpolitik total verrechtlichen wollen, sondern dass wir sichtbar machen, dass es uns ernst damit ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Gauweiler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn das nicht von meiner Zeit abgeht, ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte Ihnen folgende Frage stellen: Warum sagen Sie nicht offen, dass die Übernahme der Staatsoper durch den Bund im Gegenzug bedeuten würde, die Deutsche Oper in Westberlin zu schließen? ({0})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage offen, dass genau das nicht das Ergebnis wäre. Das Gegenteil ist richtig. Sie versuchen mit dieser Konzeption - übrigens im Widerspruch zu Ihren Parteifreunden im Berliner Abgeordnetenhaus - zu verdecken, dass das Konzept des rot-roten Senats in Berlin darauf hinausläuft, eine große Opernfusion durchzuführen. ({0}) Sie brauchen sich ja nur diesen GmbH-Salat anzuschauen, den Herr Flierl angerichtet hat. Es ist immer verhängnisvoll, wenn Staatssozialisten einen auf marktwirtschaftlich machen. ({1}) - Das ist nicht die alte Kampflinie. ({2}) Es wurde heute erklärt, dass das Berliner Konglomerat ab dem 1. Januar 2004 seine Tätigkeit aufnehmen könnte. Ich biete allen Anwesenden eine hohe Wette um eine Einladung in die Staatsoper und danach zum Abendessen an ({3}) - Herr Kollege, Sie bekommen eine Weißwurst von mir persönlich überreicht -, dass bis zum 1. Januar 2004 keine einzige der GmbHs, die dann ihre Tätigkeit aufnehmen sollen, gegründet sein wird. Es geht hierbei um eine Ballett-GmbH, eine Service-GmbH und weitere GmbHs mit riesigen Führungsapparaten, in denen jede Menge Politiker und Senatoren vertreten sein sollen, aber kein einziger Musikdirektor, was übrigens kennzeichnend für das Weltbild ist, das hinter diesen Apparaten steckt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch etwas sagen. In der gestrigen Fragestunde ist zutage getreten, dass Frau Weiss in den nächsten Wochen oder gar Tagen ({4}) eine Verwaltungsvereinbarung mit dem Berliner Senat unterzeichnen will. Ich möchte Sie hier in aller Form bitten, davon Abstand zu nehmen. ({5}) Die Verwaltung kann eine Verwaltungsvereinbarung nur dann unterzeichnen, wenn sie dazu befugt ist. Wird durch eine Verwaltungsvereinbarung eine grundsätzliche Vorfestlegung über die Verwendung von Haushaltsmitteln getroffen, so steht dies grundsätzlich unter dem Haushaltsvorbehalt. Wir befinden uns mitten in den Haushaltsberatungen des Deutschen Bundestages. Die Haushaltsgesetze werden frühestens Anfang Dezember verabschiedet sein. ({6}) Es ist absolut unzulässig, dass die Verwaltung in den nächsten Tagen, mitten während der Haushaltsberatungen, im Wege der Vorfestlegung eine Vereinbarung schließt, durch die die Beratungen des Parlaments letzten Endes überflüssig gemacht werden sollen, um hier eine Art der politischen Vorwegbindung zu erreichen. Ist es wirklich wahr - das müssen Sie ja besser wissen als wir -, dass diese Verwaltungsvereinbarung nicht einmal einen Parlamentsvorbehalt enthält? Wenn das so ist: Finden Sie als Parlamentarier, die Sie das Befürworten und das Ablehnen unseres Antrags, also das Für und Wider, abwägen - wobei die Reihen bei Ihnen, wie Sie selbst wissen, nicht so dicht sind, wie Sie immer behaupten -, das wirklich richtig? Frau Weiss, Sie sprechen jetzt gleich zu uns. Ich bitte Sie, die Gelegenheit zu nutzen, uns erstens zu erklären, ob in den vorliegenden Entwurf ein Parlamentsvorbehalt eingefügt wurde und uns zweitens zu versichern, dass Sie die Bundesrepublik Deutschland ohne eine abschließende Behandlung in diesem Hause nicht in entsprechender Weise festlegen werden. ({7}) Alles andere wäre nicht nur politisch schädlich, sondern auch rechtswidrig. Das sollten Sie nicht tun. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Christina Weiss.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich das erste Mal von diesem Antrag hörte, über den wir heute befinden, glaubte ich, irgendjemand hätte die Zeit zurückgedreht. ({0}) Die Debatte über die Staatsoper und die herausragenden Kultureinrichtungen der DDR gehört doch ins letzte Jahrhundert, in eine Zeit, die mehr als zehn Jahre zurückliegt. Der damalige Bundeskanzler Kohl hatte die Frage übrigens längst beantwortet: Er konnte sich weder für die Berliner Kultur noch für eine Bundesoper erwärmen. Über die 28 Millionen DM, die er für die Berliner Kultur zu erübrigen gedachte, wollen wir vornehm schweigen; denn inzwischen finanzieren wir die Berliner Kultur mit jährlich 407 Millionen Euro. ({1}) Viele Reförmchen und viele gescheiterte Reformen später sind wir nunmehr dabei, der Berliner Opernlandschaft endlich zu einem tragfähigen Fundament zu verhelfen. Bitte rufen Sie sich in Erinnerung: Als wir im letzten Jahr diese Debatte begonnen haben, war die Bedrohung der Deutschen Oper in der Tat groß. Es war meine Aufgabe als Staatsministerin für Kultur, die Hauptstadt unseres Landes vor einer solchen Peinlichkeit zu bewahren. Man hat ein wenig den Eindruck, dass Sie die ganze Diskussion dieses Jahres verpasst haben und dass Sie sich nun vor den Karren von Einzelinteressen spannen lassen, ({2}) um im letzten Moment durcheinander zu bringen, was längst auf einem guten Wege ist. ({3}) Uns geht es um Hilfe zur Selbsthilfe. Ich will es noch einmal sagen: Der Bund beteiligt sich an der Opernreform indirekt, indem wir dem Land Berlin durch die Übernahme der Akademie der Künste, der Stiftung Kinemathek und des Hamburger Bahnhofs den Spielraum zur Reform geben. ({4}) Mit dem Geld, das im Berliner Kulturhaushalt verbleibt, geben wir die Chance zu einer Reform. Ich will gerne wiederholen, was gegen die Übernahme der Staatsoper spricht. Die drei Opernhäuser brauchen wie jede Kulturinstitution dringend eine Strukturreform. ({5}) Der Kauf eines nicht reformierten Opernhauses würde die Probleme nur verschieben. Die Frage, was mit der Deutschen Oper und der Komischen Oper passiert, würde damit nicht beantwortet und die Bundesregierung müsste als Erstes eine Theaterreform angehen. Wichtiger - von der Opposition vielleicht absichtsvoll verschwiegen - ist die Frage nach den Kosten. Derzeit beteiligt sich der Bund mit 22 Millionen Euro zusätzlich an der Berliner Kultur. ({6}) Zum Vergleich: Die Staatsoper benötigt jährlich 45 Millionen Euro. Hinzu kommen Sanierungskosten. ({7}) Die Opposition verlangt, in diesen schwierigen Zeiten ein Mehrfaches auszugeben. Dass das nicht möglich ist, ist nicht nur für diejenigen leicht zu erkennen, die sich mit dem Haushalt befassen. Der Vorschlag der Union, für die Staatsoper eine andere Institution zu opfern, ist fahrlässig und unausgegoren. Stellen Sie sich das bitte einmal vor! Das würde bedeuten, dass wir die Berlinale abschaffen und den Etat des Jüdischen Museums kürzen würden. ({8}) 45 Millionen Euro aus unserer Kulturförderung für Berlin herauszuschneiden ist nur durch Opferung mehrerer Institutionen denkbar. ({9}) Ich darf noch etwas zu dem Thema sagen: „Eine Kulturnation leistet sich eine Oper.“ Deutschland als Kulturnation leistet sich etwa 80 Opern. ({10}) Es gibt in Deutschland nicht nur eine Staatsoper, sondern es gibt auch welche in Hamburg, Hannover und München. Die Frage sollte erlaubt sein: Sind diese Häuser der Staatsoper Unter den Linden nicht mehr als ebenbürtig? Wird nicht auch hier ein provokantes, häufig gelobtes Musiktheater geboten? Ich weiß, dass München eine sehr gute Oper hat. Mich wundert eher, dass Sie von uns nicht fordern, diese Oper zu übernehmen, weil es die beste in Deutschland ist. Soll der Bund alle Staatsopern sammeln? Darüber können wir vielleicht verhandeln. Aber dann müssen wir auch über die Kulturhoheit der Länder verhandeln. ({11}) - Ich wäre nicht unglücklich, wenn sich die Föderalismuskommission vernünftig mit dem Thema der Kulturhoheit befassen würde. ({12}) Der neue Hauptstadtkulturvertrag ist mit der Tinte des Realismus geschrieben. ({13}) Wir haben uns für praktikable Lösungen, nicht für das teuerste aller denkbaren Modelle entschieden. ({14}) Die drei Berliner Opernhäuser werden unter dem Dach der Stiftung selbstständige GmbHs. Sie sind künstlerisch und wirtschaftlich autonom. Sie erhalten Planungssicherheit und können Rücklagen bilden, um sich damit für die Zukunft abzusichern. Die Opernstiftung steht am Ende einer leidigen Debatte. Sie ist das Ergebnis der Vernunft und ein Beispiel für modernes Theatermanagement. Wir wollen die Berliner Reform auch deshalb transparent und exemplarisch machen, damit sie als Vorbild für andere Kulturinstitutionen gilt. Herr Gauweiler, ich habe erlebt, dass Sparen für Kulturinstitutionen nur dann möglich ist, wenn sie eine funktionsfähige Struktur haben. Es ist nicht möglich, wenn sie als Riesenabteilungen von Behörden betrieben werden. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gauweiler?

Not found (Gast)

Ja.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, könnten Sie bitte noch auf die Frage eingehen, ob in der Verwaltungsvereinbarung mit dem Land Berlin, die Sie für die nächsten Tage angekündigt haben, von Ihnen ein Parlamentsvorbehalt vorgesehen ist oder nicht? ({0})

Not found (Gast)

Ich bin Ihnen dankbar, Herr Gauweiler, weil Sie mir jetzt die Brücke von dem einen Thema zum dem anderen gebaut haben. Wir haben einen Hauptstadtkulturvertrag unterschriftsreif vorliegen. Er ist paraphiert und, wenn Sie so wollen, unterschrieben mit dem Vorbehalt, dass der Senat am nächsten Dienstag zustimmen wird. Dort zeichnet sich aber keine Ablehnung ab. Der Hauptstadtkulturvertrag, Herr Gauweiler, muss doch ein flexibles Instrument sein, das unser Miteinander und auch den Vollzug der Opernstiftung regelt. Der Vertrag regelt in erster Linie die Übernahme der Institutionen und die Fortsetzung unserer alten Vereinbarungen. Er hat aber einen Paragraphen, den § 5, mit dem sich die Bundesregierung vorbehält, dem Land Berlin weniger Geld zu geben, falls Berlin den Entwurf der Stiftung nicht umsetzt oder erheblich verändert umsetzen wird. ({0}) Wir brauchen keine Zementierung in Form eines Staatsvertrages; wir brauchen ein flexibles Instrument. ({1}) - Wir haben einen Vorbehalt im Vertrag formuliert und wir haben im Haushaltsausschuss zugesagt, dass wir mit den Berichterstattern über jede Veränderung bei der Umsetzung des Stiftungsentwurfs verhandeln. Abg. Günter Nooke [CDU/CSU] und Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP] melden sich zu einer Zwischenfrage - Monika Griefahn [SPD]: Wir machen keine Podiums- diskussion! - Gegenruf des Abg. Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir führen eine kulturelle Debatte!) Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen gesagt, dass wir keine zementierte Form brauchen. Es gibt in solchen Fällen nie Staatsverträge. Es gibt Vertragsabschlüsse, die flexibel genug sind, um reagieren zu können, wenn sich die Situation ändert. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDPFraktion. ({0}) - Herr Kollege Otto, ich habe die Zwischenfrage deshalb nicht zugelassen, weil die Redezeit weit überschritten war und Sie der nächste Redner sind. Ich bitte Sie, jetzt ans Rednerpult zu kommen und Ihre Rede zu halten. ({1}) - Dasselbe gilt für Herrn Nooke. Die Redezeit der Frau Ministerin war überschritten. ({2})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staatsministerin Weiss, ich will Ihre letzten Worte aufgreifen. Wir brauchen keine zementierte Regelung, wir brauchen eine flexible Regelung. Die Frage, die ich Ihnen gerne stellen wollte und leider nicht stellen durfte, lautet: Wenn Sie denn wirklich eine flexible Regelung wollen, weshalb machen Sie überhaupt eine Verwaltungsvereinbarung? Weshalb machen Sie vor allem eine Verwaltungsvereinbarung, die gar nicht mehr kündbar ist und die laut § 8 dieses Vertrages die Beziehungen zwischen dem Bund und dem Land Berlin abschließend regelt? Ich will es Ihnen in aller Klarheit sagen: Wir wollen eine flexible Regelung. Wenn Sie aber jetzt eine Verwaltungsvereinbarung vorsehen, die nicht mehr kündbar ist und durch die viele Hundert Millionen Euro pro Jahr zwischen dem Bund und dem Land Berlin hin- und hergeschoben werden, dann bedeutet das eine klare Brüskierung dieses Parlamentes. ({0}) Das will ich Ihnen sagen, damit Sie wissen, woran Sie sind. Sie werden von uns Widerstand und harte Kritik erfahren, wenn Sie diesen Vertrag abschließen, weil Sie dem Parlament seine Rechte nehmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sind auch Bundestagsabgeordnete. Wie darf ich es verstehen, dass eine zentrale Frage der Hauptstadtkultur unter Ausschluss der Beteiligung des Bundestages geregelt wird? Das ist nicht akzeptabel; das ist nicht gut. ({1}) - Lieber Herr Schmidt, Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob es in Ordnung ist, dass ein Bundestagsabgeordneter sich selbst die Möglichkeit der Regelung nimmt. ({2}) Wenn dieser Antrag heute abgelehnt wird, bedeutet das eine Brüskierung des Parlaments. Die Kürze der Redezeit erlaubt mir nur noch, kurz und stichwortartig darauf einzugehen, warum wir für die von uns vorgeschlagene Lösung einer eigenständigen Stiftung sind. Viele Argumente sind bereits genannt worden. Ich möchte noch kurz zwei Gründe hinzufügen: Erstens. Dass dem Stiftungsrat der Stiftung, die Sie neu einrichten wollen, nicht etwa nur der Kultursenator, sondern auch der Finanzsenator angehören soll, wirft ein Schlaglicht auf die Sache. Nachtigall, ick hör dir trapsen! Was passieren wird, wenn der Finanzsenator in den Stiftungsrat aufgenommen und das gesamte Stiftungsgesetz unter Haushaltsvorbehalt gestellt wird, wissen wir bereits. Das wäre ein schwerer Eingriff in die Unabhängigkeit der Bühnen und würde zu finanziellen Opfern führen. Zweitens. Wir alle haben einen Brief des Vereins der Freunde und Förderer der Deutschen Staatsoper Berlin bekommen, in dem sie sich für eine Bundeslösung ausgesprochen haben und den alle Beteiligten unterschrieben haben. ({3}) Die Beteiligten sprechen sich also für die Bundeslösung aus. Nennen Sie mir doch einmal jemanden, der Ihre Lösung befürwortet! Das ist weder bei der Komischen Oper noch bei der Deutschen Oper und schon gar nicht bei der Staatsoper der Fall. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie mahnen immer, auf die Betroffenen und Beteiligten zu hören. Hier äußern sich die Beteiligten! Sie sprechen sich für eine andere Lösung aus. ({4}) - Stellen Sie mir eine Zwischenfrage; dann beantworte ich sie. Denn meine Redezeit ist um. ({5}) Sehen Sie, so gehen Sie vor. Sie schneiden mir in einer Kulturdebatte die Frage ab. Sie erlauben mir keine Frage an die Staatsministerin und Sie erlauben mir nicht, Ihnen zu antworten. ({6}) Ich bin ziemlich empört darüber, wie Sie vorgehen. Wir führen eine Kulturdebatte, aber Sie lassen es drei Minuten lang nicht zu, dass ich eine Frage stellen kann, und Sie erlauben mir nicht, auf Ihre Frage zu antworten. Ich muss Ihnen offen und in aller Klarheit sagen, dass ich das nicht in Ordnung finde. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Otto, Sie haben bereits vier Minuten geredet und damit praktisch die für eine Frage zur Verfügung stehende Zeit gehabt. ({0}) - Die Redezeit des Kollegen Otto ist bereits seit einer Minute abgelaufen. Ich lasse keine weitere Zwischenfrage zu.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie das für überzeugend halten, dann machen Sie so weiter. Angesichts dessen, was sich hier abspielt, müssen Sie sich wirklich ein Armutszeugnis ausstellen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Monika Griefahn [SPD]: Stellen Sie das einmal im Ausschuss zur Diskussion! - Claudia Roth [Augsburg] ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Passen Sie auf, Herr Nooke! Kritik an der Präsidentin ist nicht erlaubt. Ich meine damit nicht mich, sondern Frau Kastner. ({0}) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge scheinen mir ein bisschen der Parole „Lass verspätet tausend Blumen blühen“ zu folgen. Denn die beiden vorliegenden Anträge kommen zu spät. Ich muss mich schon wundern. Wenn Ihnen die Staatsoper Unter den Linden so wichtig gewesen wäre - mir ist sie sehr wichtig -, dann bräuchte ich Sie nicht daran zu erinnern, dass bereits seit mehr als fünf Jahren intensiv darüber diskutiert wird. Sie geben an dem Tag eine Presseerklärung ab, an dem die gesamte Rettung der Opernlandschaft im Haushalt verankert worden ist. ({1}) Jetzt, nachdem alles geregelt ist, bringen Sie Ihren Antrag in den Bundestag ein. Schon das spricht nicht besonders für Seriosität. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke? ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber klar, Herr Kollege Nooke. ({0})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Vollmer, stimmen Sie mit mir darin überein, dass wir zurzeit bei den Haushaltsberatungen sind - und zwar zwischen der ersten und zweiten Beratung des Haushaltes für 2004 -, dass heute im Abgeordnetenhaus zu Berlin zum ersten Mal über die Stiftungslösung für die drei Opern, die man unter einem Generalintendanten fusionieren möchte, verhandelt wurde und dass erst nächste Woche in Berlin eine Anhörung zu diesem Thema stattfinden wird, dass wir uns also mitten in dieser Debatte befinden und damit noch rechtzeitig kommen, um eine vernünftige Lösung auf den Weg bringen zu können? ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Stimmen Sie mit mir überein, lieber Herr Nooke, dass über die Probleme der Berliner Kulturlandschaft schon zu der Zeit, als Herr Stölzl noch Kultursenator war, diskutiert worden ist, dass Herr Stölzl damals ein Papier vorgelegt hat, das dem, was wir verabschiedet haben, außerordentlich nahe gekommen ist, dass er es aber damals nicht verstanden hat, dafür eine politische Mehrheit zu organisieren, dass sich auch die CDU/CSU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus für unser Modell ausgesprochen hat und dass Sie nun plötzlich - wie Zieten aus dem Busch - ein alternatives Modell vorlegen, das auch von Ihrer Parteivorsitzenden unterstützt wird? Ich wundere mich, wofür Ihre Parteivorsitzende in diesen Tagen Zeit hat. ({0}) Das Ganze ist schon sehr komisch. Ich bleibe dabei, dass Sie Ihr Modell erst sehr spät vorgelegt haben. ({1}) - Darf ich jetzt weiterreden? ({2}) Erstens haben Sie, wie gesagt, Ihr Modell sehr spät vorgelegt. Zweitens scheint es mir das Ergebnis eines verzweifelten Lobbyismus zu sein. Herr Otto, Sie haben gesagt, die Beteiligten sprächen sich für das in dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU und FDP vorgeschlagene Modell aus. Wenn ich das richtig sehe, hat sich nur ein beteiligtes Haus, in dem der Widerstand besonders groß ist, dafür ausgesprochen. Das ist normaler Lobbyismus, normale Interessenvertretung, stellt aber keineswegs die breite Front der Betroffenen dar. ({3}) - Alle Vertreter, die an den langen Gesprächen teilgenommen haben, übrigens auch die der Staatsoper Unter den Linden, die während der Verhandlungen sehr unterschiedliche Signale ausgesendet haben. Darauf muss auch hingewiesen werden. Drittens. Ich finde, dass Sie bei der Formulierung Ihres Vorschlags außerordentlich reformfaul waren. ({4}) Da wir alle im Moment über die beste Reform streiten, frage ich: Wo ist denn Ihr Reformvorschlag? Sie haben lediglich den Finanzierungsvorschlag gemacht, die Staatsoper Unter den Linden in die Zuständigkeit des Bundes zu geben. Aber von Reformen ist in Ihrem Antrag nichts zu lesen. Ich weiß auch nicht, was es mit einer Reform zu tun hat, ein Haus in einen sicheren Hafen zu bringen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin ganz beglückt, dass ich jetzt eine Zwischenfrage stellen darf. - Verehrte Frau Kollegin Dr. Vollmer, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass justament heute im Berliner Abgeordnetenhaus - dort gehört das auch hin - der Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Bühnen von der FDP-Fraktion vorgelegt worden ist? Wissen Sie davon? Sie haben ja behauptet, dass wir reformfaul seien.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich muss leider zugeben, dass ich nicht wusste, dass Sie einen Reformvorschlag gemacht haben. Das finde ich schön. Er kommt trotzdem sehr spät. Wenn Sie ihn mir zuschicken, werde ich ihn mir gerne anschauen. ({0}) Zu dem Vorschlag einer Berliner Oper in Bundeszuständigkeit möchte ich anmerken - das ist ein sehr schönes Beispiel -, dass der Bund bislang nur an der Oper in Bayreuth beteiligt ist. Ich frage Sie ernsthaft: Möchten Sie angesichts der Erfahrungen, die wir bei der Besetzung des Intendantenpostens in Bayreuth gesammelt haben, und der Reformfähigkeit der Oper in Bayreuth - ich liebe dieses Haus genauso sehr wie Sie, Herr Gauweiler -, dass der Bund auch noch für die Berufung eines Intendanten an einer Berliner Oper zuständig ist? Ich glaube, diese Mühe sollten wir uns von ganzem Herzen ersparen. Vor diesem Hintergrund finde ich, dass Ihr Vorschlag ein bisschen lebensfern ist. Ihre Vorstellung, dass sich der Bund zum Promoter eines Hauses machen soll, sollte aber auch Anlass geben, gründlich darüber nachzudenken, ob der Lobbyismus für ein einzelnes Haus - das kommt auch in anderen Bereichen, zum Beispiel in der Theaterszene, immer wieder vor - unserer heutigen Kulturlandschaft angemessen ist. Wir brauchen nicht mehr das Recht des Stärkeren oder - im Kulturbereich - das Recht des Genies, sich auf Kosten anderer durchzusetzen. Wir brauchen vielmehr auch im Kulturbereich das Engagement aller, um die ganze Kulturlandschaft zu erhalten. ({1}) Die Frau Staatsministerin hat schon darauf hingewiesen, dass wir uns in einer ganz besonderen Situation befinden. Unser Land leistet sich nicht nur eine Oper, sondern 80 Opern. Und das eigentliche Signal für die Kulturlandschaft in Deutschland besteht darin, dass es die Hauptstadt schafft, sich unter diesem finanziellen Druck drei Opern zu leisten, indem sie sie dazu bringt, gemeinsam eine erfolgreiche Reform durchzuführen. ({2}) Von der Schließung einer Oper - genau das wäre dabei herausgekommen, wenn der Bund eine Oper übernommen hätte - wäre das Signal ausgegangen: So können auch andere Städte vorgehen. Genau dieses Signal wollten wir nicht geben. Wir wollten vielmehr ein Signal der Solidarität geben: Alle sollten gemeinsam äußerste Anstrengungen unternehmen, um ihr Haus für die neuen Zeiten fit zu machen. Im Übrigen ist das für Berlin außerordentlich wichtig. Alle wissen, dass Berlin auf lange Zeit kein Industriestandort mehr sein wird. In den drei Opern gibt es mindestens 3 000 Arbeitsplätze. Darüber hinaus gibt es im Umfeld dieser Häuser jede Menge Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich. Abgesehen davon muss man einmal sehen, was es für die Zukunft Berlins bedeutet, wenn man Kultur nicht nur als einen kulturellen, sondern auch als einen wirtschaftlichen, einen sozialen und übrigens auch als einen psychologischen Faktor für diese Stadt versteht. Ich bin außerordentlich froh, dass wir diese Anstrengungen vollbracht haben. Ich bin froh, dass wir diese Verwaltungsvereinbarung in vielen Gesprächen mit den Beteiligten - man weiß, dass das mit Künstlern nie so besonders einfach ist - zustande gebracht haben. Ich kann nur alle auffordern, sich diesem Experiment nicht zu verschließen. Ich sage ausdrücklich: Ich bitte auch die Staatsoper, sich an diesem Experiment zu beteiligen. Ich bitte den Kultursenator, sobald wie möglich dafür zu sorgen, dass die Deutsche Oper endlich einen Intendanten bekommt, damit sie wieder mitreden kann. Danke. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Gauweiler das Wort zu einer Kurzintervention.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich bin sowohl Frau Weiss als auch Frau Vollmer eine kurze Entgegnung schuldig. Frau Vollmer, ich kann zum einen nicht verstehen, warum Sie hier das Beispiel Bayreuth so ironisieren. Im Gegensatz zu Ihnen halte ich sowohl die finanziDr. Peter Gauweiler elle Struktur als auch die Art und Weise der Aufteilung der Verantwortung, in Bayreuth für sehr gelungen. ({0}) Ich denke, dass es all diejenigen im Haus, die mit Bundeskultur beschäftigt sind, für sinnvoll halten, Bayreuth als Beispiel zu verstehen und nicht - nach dem Motto „Koste es, was es wolle“ - die Durchsetzung eines anderen Konzepts, von dem alle Beteiligten nicht überzeugt sind - dazu haben Sie nichts gesagt -, übers Knie zu brechen. ({1}) Frau Ministerin Weiss, ich stelle fest, dass Sie weder auf meine Frage noch auf die Fragen aus der Mitte des Parlaments noch auf die Anmerkung des Kollegen Otto eingegangen sind. Wir haben Ihnen - jenseits des Für und Wider dieser Anträge - vorgehalten, eine Verwaltungsvereinbarung ohne Parlamentsvorbehalt durch Ihre Beamten treffen lassen zu wollen. Ich habe Sie ausdrücklich danach gefragt, ob in dieser Verantwortungsvereinbarung ein solcher Parlamentsvorbehalt enthalten ist. Sie haben dazu nur gesagt, dass es einen Vorbehalt zugunsten des Abgeordnetenhauses von Berlin bzw. des Berliner Senats gebe, dass es aber, obwohl der Bundestag seine Haushaltsberatungen noch nicht abgeschlossen hat, in dieser Verwaltungsvereinbarung, mit der Haushaltsangelegenheiten der nächsten Jahre geregelt würden, keinen Parlamentsvorbehalt gebe. In § 8 der Verwaltungsvereinbarung, die Sie treffen wollen, heißt es ausdrücklich, dass damit eine abschließende Regelung seitens des Bundes getroffen sei. Ich bitte Sie, in diesem Hause zu erklären, ob Sie bereit sind, diesen Punkt dieser Vereinbarung zu ändern und dem Parlament das Recht durch Parlamentsvorbehalt zu belassen. Andernfalls schließen Sie sehenden Auges einen rechtswidrigen Vertrag.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Gauweiler, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass eine Kurzintervention nur gestattet ist, wenn man auf die vorherige Rednerin oder den vorherigen Redner eingeht. Sie aber haben auf die davor gehaltene Rede der Ministerin Bezug genommen. Das ist bei einer Kurzintervention eigentlich nicht zulässig. Bitte schön, Frau Kollegin Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Gauweiler, wenn Sie genau zugehört hätten, dann hätten Sie sowohl den Respekt, den ich in meiner Rede für die musikalische Leistung des Bayreuther Festspielhauses zum Ausdruck gebracht habe, als auch die nachdenkliche Frage vernehmen können, ob wir Bundespolitiker uns wirklich zumuten wollen, zum Beispiel über Fragen wie die nach der Intendanz einer Oper zu diskutieren. Derartige Fragen sollte man nicht im Parteiengezänk behandeln. ({0}) Ich meine, dass man an dem Beispiel Bayreuth sieht - das kann man durchaus auch mit einer gewissen Chuzpe für die Person von Wolfgang Wagner sagen -, dass die Politik in der Frage von Intendantenberufung und Intendantenentlassung nicht besonders erfolgreich ist. Nur in dem Zusammenhang habe ich das gesagt. Da ich jetzt auf die Kurzintervention eingehen kann, möchte ich noch etwas zu Ihrem Vorschlag sagen, die Staatsoper der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu übertragen. Sie bieten da jemandem ein Geschenk an, der es gar nicht haben will. Wenn Sie Professor Lehmann fragen würden, dann würde er sich herzlich bedanken. Er versteht etwas von Sammlungen, Archiven und Museen. Das entspricht der Aufgabe der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Er hat aber keine Kenntnisse darüber, wie mit einer Oper verwaltungsmäßig umzugehen ist. Ihr Geschenk ist also sozusagen in die Luft gepustet. Der, für den Sie es gedacht haben, will es gar nicht haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eckhardt Barthel, SPD-Fraktion. ({0})

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Herrn Gauweiler, Herrn Nooke und Herrn Otto zugehört und ich muss sagen: In der Oper habe ich schon schlechtere Inszenierungen erlebt als das, was sich hier abgespielt hat. ({0}) Der schlimmste Vorwurf, den man einer Opposition machen kann, ist eigentlich der, dass sie Entwicklungen verschlafen hat. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen, sowohl betreffend die Opernstrukturreform als auch betreffend den Hauptstadtkulturvertrag. Es ist schon mehrfach gesagt worden: Seit gut einem Jahr, wahrscheinlich sogar noch länger, diskutieren wir über die Opernhäuser. Wir haben das Thema schon im Ausschuss behandelt. Darüber ist berichtet worden. Ich habe mich gefragt: Was denkt eigentlich die Opposition? ({1}): Die ist im Gegensatz zu Ihnen lernfähig!) Ich wüsste bis heute nicht, was sie denkt, wenn nicht plötzlich etwas passiert wäre, wovon ich doch ein bisschen überrascht worden bin. Da wird plötzlich wie Kai aus der Kiste eine neue Stiftung nur mit der Staatsoper hervorgeholt. Die ganze Geschichte wäre eigentlich eine lustige Inszenierung; ich sage Ihnen jetzt aber einmal ganz ernsthaft: Meine Sorge ist, dass Sie die Staatsoper, die so wichtig und so gut ist, durch diese parteipolitischen Spielereien in Misskredit bringen. ({2}): Was hat das denn mit Parteipolitik zu tun?) Eckhardt Barthel ({3}) - Das habe ich Ihnen gerade gesagt. Nachdem das Ganze schon in trockenen Tüchern war, sind Sie mit einem neuen Modell gekommen. Ich will Ihnen das auch noch einmal belegen. ({4}): Das habe ich vor zwei Jahren auch schon probiert!) Ich fand es bezeichnend, dass der Antrag nicht zuerst im Parlament vorgestellt wurde, sondern - ich bekam plötzlich eine Pressemitteilung - in der Staatsoper selbst, wo ja die Betroffenen sind, die gern alles haben wollen. Übrigens: Auch die Philharmoniker wollten schon mal zum Bund. Alle wollen zum Bund. Dafür gibt es gute Gründe. Da braucht man sich nur die Lage Berlins anzugucken. Sie haben die Diskussion also nicht hier geführt, sondern in der Staatsoper. Dort saß Herr Genscher. Dem nehme ich das übrigens nicht übel. Er ist Vorsitzender des Vereins der Freunde und Förderer der Deutschen Staatsoper Berlin. Er ist Oberlobbyist im positiven Sinne für das Haus. Außerdem saßen dort die beiden Parteivorsitzenden. Herr Otto und auch Herr Gauweiler saßen daneben. Ich habe mich gefragt, in welchem Film ich mich eigentlich befinde. Ich tue Frau Merkel bestimmt nicht Unrecht, wenn ich sage: Frau Merkel versteht von der Opernstrukturreform so viel wie ich von der Tiefseeforschung. ({5}) Was dort dazu gesagt wurde, wie die ganze Geschichte laufen soll, ist eigentlich nicht lustig, finde ich, sondern bedenklich für dieses Haus. Ich will Ihnen den Hauptgrund für meine Bedenken nennen. Es hängt alles immer mit dem Geld zusammen. Die Frage war: Wie wollen Sie das bezahlen, wenn es denn gemacht werden könnte? Die Zahlen sind schon genannt worden. Frau Weiss hat es in diesen Zeiten geschafft, zur Unterstützung des Landes Berlin für die Opernreform 22 Millionen Euro - jetzt muss ich aufpassen - zu bekommen. Das ist eine hervorragende Leistung für die Kultur in der Hauptstadt. ({6}) Jetzt wollen Sie die Staatsoper übernehmen. Dafür müssten Sie nicht nur 22, sondern 43 Millionen Euro in die Hand nehmen. Die Journalisten haben die Frage gestellt, wie das bezahlt werden soll. Die Antworten waren spannend. Frau Merkel sagte: Dann müssen wir uns einmal die anderen Institutionen angucken, die der Bund in Berlin finanziert. Jeder stellte sich sofort die Frage: Soll das Jüdische Museum für dieses Modell abgegeben werden? Herr Otto hat das wohl gemerkt und gesagt: Nein, wir sind mitten in der Haushaltsberatung. Wir müssen sehen, etwas über den Haushalt zu bekommen. Nun haben wir im Kulturausschuss schon zwei Haushaltsdebatten geführt, aber bis heute liegt kein Vorschlag der FDP vor, wie das haushaltsmäßig abgedeckt werden kann. ({7}) Deswegen meine ich, dass das, was Sie hier machen, unseriös ist. ({8}) Ulrich Eckhardt, der langjährige Chef der Berliner Festwochen, nannte die ganze Geschichte „Angelas Knallbonbon“. Ich glaube, damit trifft er es. Meine Damen und Herren, wir unterscheiden uns in Folgendem: Sie blicken nur auf die Staatsoper - auch ich möchte sie weiß Gott erhalten und hoffe, sie blüht und gedeiht weiter -, wir aber berücksichtigen mit unserer Konzeption alle drei Opern in unserer Stadt. Da liegt der Unterschied zwischen Ihren beiden Anträgen, die wir hier vorliegen haben, und unserem Vorschlag. Auch ich, Herr Gauweiler - da gebe ich Ihnen vollkommen Recht -, möchte nicht noch ein Theater schließen; denn ich habe erlebt, wie das Schiller-Theater geschlossen wurde. Ich möchte nicht, dass so etwas wieder passiert. ({9}) Ich sehe aber keine Chance, die Theater- und Opernstruktur im gesamten Land, nicht nur in Berlin, zu erhalten, wenn wir nicht mit kräftigen Reformen an die Strukturen herangehen. Sonst bricht uns das alles weg. Die Reformen, die in einer tollen strategischen Partnerschaft zwischen der BKM und dem Berliner Senat auf den Weg gebracht wurden, bieten die Chance - nicht mehr! -, unsere Kulturlandschaft im Theaterbereich zu unterhalten. Eigentlich würde ich Sie jetzt bitten, wenn ich nicht wüsste, dass das vergebene Liebesmühe ist: Unterstützen Sie unsere Vorgehensweise zum Wohle der Kultur in diesem unseren Lande! ({10}): Frau Vorsitzende, eine Kurzinter- vention! - Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD): Sie haben doch Ihre Redezeit schon verdoppelt!)

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich erteile dem Kollegen Otto das Wort zu einer Kurzintervention. ({0}): Das darf doch nicht wahr sein!)

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Barthel, Sie haben mir eben vorgeworfen, dass das, was wir hier beantragen, unseriös sei. ({0}): Jawohl!) Diesen Vorwurf halte ich für massiv, deswegen ergreife ich hier auch das Wort. ({1}): Sie haben keinen Deckungsvor- schlag gemacht, Herr Otto!) Hans-Joachim Otto ({2}) Ich möchte zunächst einmal darauf hinweisen, dass dies die erste Debatte über die Berliner Opernstrukturreform ist; ein Thema, das Sie selbst für wichtig erachtet haben. Dabei ist der Bund durchaus zuständig für Hauptstadtkultur. Wir von der CDU/CSU und von der FDP haben reagiert, als wir gemerkt haben, welchen verheerenden Gang die Entwicklung nehmen würde, wenn der Vorschlag des Berliner Senats Realität würde. ({3}) Es ist zwar wahr, dass die Debatte schon jahrelang läuft, aber den konkreten Vorschlag zu einem Stiftungsgesetz gibt es erst wenige Monate. Nachdem in der Debatte darüber die Schwierigkeiten deutlich wurden und wir gemerkt haben, dass niemand mit dieser Reform glücklich ist, ({4}) weil die Verantwortlichkeiten verwischt werden und Verlustausgleiche stattfinden, haben wir die Notwendigkeit gesehen, im Interesse der Berliner Kultur und aller drei Opern - das füge ich hinzu - verantwortlich tätig zu werden. Ich verwahre mich gegen den Vorwurf der Unseriosität. Darauf entgegne ich: Wenn Sie diesen Punkt für so wichtig erachten, dann dürfen Sie uns nicht die Möglichkeit nehmen, hier im Bundestag darüber zu diskutieren. Wenn Sie jetzt aber unseren Antrag, der darauf hinausläuft, die Kulturbeziehungen zwischen Berlin und dem Bund im Wege eines Staatsvertrages, also unter Beteiligung des Parlaments, zu regeln, ablehnen und keine Überweisung zulassen, dann muss ich Ihnen den Vorwurf der Unseriosität zurückgeben, denn dann lassen Sie es nicht zu, dass über diesen wichtigen Punkt hier im Hause weiter debattiert wird. Das halte ich nicht für seriös. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Barthel, bitte.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wird Sie nicht überraschen, dass ich den Vorwurf der Unseriosität nicht zurücknehme, denn Sie haben die Kritikpunkte, die ich in der kurzen Redezeit, die mir zur Verfügung stand, genannt habe, nicht entkräftet. So lassen Sie mich noch einmal zu zwei Sachverhalten etwas sagen: Das Erste: Der Hauptstadtkulturvertrag - es handelt sich hierbei ja schon um den zweiten - steht in der Kontinuität des ersten. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand von Ihnen, als wir den ersten Vertrag geschlossen haben, jemals etwas Kritisches zu Form oder Inhalt angemerkt hat. Auch während der Laufzeit dieses Vertrages wurde diesbezüglich nichts gesagt. ({0}): Der war zeitlich begrenzt!) Das Zweite - ich hoffe, ich bekomme das jetzt noch alles zusammen - ist die Aussage: Keiner will das. - Es gibt natürlich Partikularinteressen. Ich habe natürlich Verständnis dafür, dass jemand, dem es gut geht, sagt, dass die anderen es doch genauso machen sollen; dann bekommen sie schon etwas vom Kuchen ab. Ich möchte nur einmal eine Gruppe in Berlin nennen, die sich sehr stark mit diesen Fragen beschäftigt hat: Sie heißt „Kultur für Berlin“. Der ehemalige Kultursenator von Berlin, Volker Hassemer, leitet sie. Das ist eine Gruppe, deren Mitglieder - auch Herr Nooke ist Mitglied; er hat das Papier gesehen, das sie jetzt geschrieben hat - aus breit gestreuten Bereichen kommen. Das sind keine Intendanten. Das sind die Leute, über die man sagen würde: Das ist die Crème de la Crème der Berliner Kulturszene. Die haben sich zu einzelnen Punkten durchaus kritisch geäußert. Das finde ich korrekt. Aber zu sagen: „Das will keiner, weil Leute aus dem eigenen Haus sich etwas Besseres versprechen“, ist nicht seriös. ({1}) Das Dritte: Sie behaupten, es gebe zwischen den Institutionen eine Querfinanzierung. ({2}): Ja! Das ist sonnenklar!) Ich bitte Sie, sich diesen Vertrag einmal anzuschauen - wenn das übrigens Stiftungsgesetz würde, dann würde das noch deutlicher -: Dieses ist ausgeschlossen. ({3}) Sie behaupten das, haben aber keinen Beleg dafür. Insofern - Herr Otto, nehmen Sie es mir nicht übel nehme ich meinen Vorwurf nicht zurück. Meine letzte Bemerkung: Sie haben selbst zugestanden, dass wir schon über ein Jahr darüber diskutieren. Warum müssen Sie, wenn Sie das Thema für so wichtig halten, mit Ihren Vorschlägen warten, bis wir etwas einbringen? Warum ergreifen Sie nicht selbst die Initiative? ({4}): Das tun wir ja!) Am Ende des Prozesses kommen Sie mit einem Papier. ({5}): Das ist die erste Lesung in Berlin) - Wir sprechen seit einem Jahr darüber. Sie hätten selbst etwas in diese Debatte einbringen können. Sie haben es nicht gemacht. Sie müssen immer erst angestoßen werden und dann benutzen Sie das für die Durchsetzung von Partikularinteressen. Deswegen halte ich das für unseriös. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/1790 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 5: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/1973 mit dem Titel „Staatsvertrag für die Hauptstadtkultur“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei einer Enthaltung aus den Reihen der Koalition abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg Tauss, Eckhardt Barthel ({0}), Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({1}), Claudia Roth ({2}) weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Chancengleichheit in der globalen Informationsgesellschaft sichern - VN-Weltgipfel zum Erfolg führen - Drucksache 15/1988 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Die Redner Jörg Tauss, Dr. Martina Krogmann, Grietje Bettin und Hans-Joachim Otto haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1988 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christian Freiherr von Stetten, Marita Sehn, Manfred Grund und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs ({4}) - Drucksache 15/513 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Die Redner Wolfgang Spanier, Veronika Bellmann, Peter Hettlich und Marita Sehn haben ihre Reden zu Pro- tokoll gegeben.2) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/513 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. November 2003, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.