Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Werner Lensing feierte am 30. Oktober
seinen 65. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere
ich ihm nachträglich sehr herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1848 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Notwendigkeit der steuerlichen Entlastung für Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen bereits zum 1. Januar 2004 zur
Flankierung des sich abzeichnenden Wirtschaftsaufschwungs
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14
und 15 auf Drucksache 15/1857 ({1})
ZP 4 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr ({2}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung
- Drucksache 15/1810 ({3})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Wirtschaft und Arbeit ({4})
- Drucksache 15/1885 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1927 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt
ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/1672 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung
des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1848 ({7})
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1686 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({9})
- Drucksache 15/1887 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Dr. Jürgen Gehb
Rainer Funke
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher,
Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Arbeitserlaubnisregelung für
ausländische Saisonarbeitskräfte bis 2007 verlängern
- Drucksache 15/1713 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher,
Hans-Michael Goldmann, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte auf vier Monate ausweiten
- Drucksache 15/1714 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({11})
Innenausschuss
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Tourismus
ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen der
Bundesministerin der Justiz zum Embryonenschutz
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 20 - Strom-
rechnungen transparent gestalten - abgesetzt werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
den Zusatzpunkt 4 auf:
3 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze
- Drucksache 15/1830 ({12})
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze
- Drucksache 15/1831 ({13})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Gesundheit und Soziale
Sicherung ({14})
- Drucksache 15/1893 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({15}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1900 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Otto Fricke
Waltraud Lehn
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung ({16}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Andreas Storm, Annette
Widmann-Mauz, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Klarheit über Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank schieben
- Drucksachen 15/1014, 15/1893 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
ZP 4 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel
Bahr ({17}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung
- Drucksache 15/1810 ({18})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({19})
- Drucksache 15/1885 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({20})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/1927 Berichterstattung:
Abgeordnete Volker Kröning
Hans-Joachim Fuchtel
Anja Hajduk
Dr. Günter Rexrodt
Über die Entwürfe eines Zweiten und eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Franz Müntefering, SPD-Fraktion, das Wort.
({21})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Verabschiedung der Gesetzentwürfe zur Alterssicherung im Jahre 2004 wird die erste Phase der Agenda 2010
abgeschlossen. Wir haben seit dem 14. März, als der
Bundeskanzler hier die Agenda 2010 vorgestellt hat, in
der Koalition, in unseren Parteien und in der politischen
Öffentlichkeit in Deutschland eine ungewöhnlich intensive Diskussion über die Situation im Lande und über die
Zukunftsfähigkeit des Landes überhaupt geführt.
Wir haben eine Reihe von Reformen auf den Weg gebracht: das Gesetz zur Reform des Arbeitsmarktes, die
Reform der Handwerksordnung, die Modernisierung
der Bundesanstalt für Arbeit, die Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, die Gesundheitsreform - sie ist schon beschlossen -, die Gemeindefinanzreform, zwei Gesetze zur Alterssicherung im Jahr 2004
- wir behandeln sie heute in zweiter und dritter Lesung -,
den Subventionsabbau und das Vorziehen der Steuerreform von 2005 auf 2004.
Unsere Koalition hat in einer anstrengenden Zeit mit
heftigen Debatten und Demonstrationen in diesem Land,
mit denen wir uns auseinander zu setzen haben, das geleistet, was wir versprochen haben: Wir haben uns Gedanken gemacht und Gesetze auf den Weg gebracht, die
den Sozialstaat in Deutschland in seiner Substanz dauerhaft sichern und Wohlstand in unserem Land heute, morgen und übermorgen ermöglichen. Das sind die Ziele
dieser großen Anstrengungen.
({0})
Als der Bundeskanzler am 14. März die Agenda 2010
vorgestellt hat, fragte die Opposition: Was mag denn
daraus werden? Wir sind sehr konkret geworden. Konkreter als mit Gesetzen kann man nicht vorgehen. Die
Gesetze liegen dem Bundesrat nun vor. Heute werden
auch die Gesetze zur Alterssicherung dem Bundesrat zugeleitet; einiges davon wird später in den Vermittlungsausschuss gehen.
Die Frage ist: Was hat die Opposition in der Zeit seit
dem 14. März gemacht? Sie hat sich von Anfang an an
den Diskussionen beteiligt, aber sie hat es verpasst, dabei konkret zu werden. In Sachen Gesundheitsreform
haben wir es geschafft, zusammenzuarbeiten. Es werden
viele Dinge zu dem entsprechenden Gesetz, auch draußen, gesagt. Ich bleibe dabei: Es war vernünftig, dass wir
im Deutschen Bundestag dafür gesorgt haben, dass dieses Gesetz zur Gesundheitsreform beschlossen wird.
Die weiter gehende Frage an Sie, Frau Merkel, und an
die Opposition überhaupt lautet: Was ist Ihre Position zu
den anderen Reformvorhaben, die ich hier eben noch
einmal erwähnt habe? Was für eine Debatte haben Sie in
der Zeit seit dem 14. März eigentlich geführt? Weshalb
sind Sie bis zum heutigen Tag nicht in der Lage, zu sagen: Jawohl, das Vorziehen der Steuerreform ist sinnvoll
für dieses Land und wir, die Opposition, unterstützen es?
({1})
Wieso muss eigentlich dieses Land darauf warten, bis
Sie sich in den nächsten Wochen in der eigenen Fraktion,
vielleicht sogar noch mit der FDP, darüber einig sind, ob
Sie jetzt wirklich wollen oder vielleicht doch nicht so
sehr wollen, also sich für Ja oder Nein entscheiden. Dass
Sie wollen, belegen eine ganze Reihe von Zitaten: „Wir
sagen genau wie andere auch Ja zu einem Vorziehen der
Steuerreform“ - Angela Merkel am 16. Juli. „Wir halten
das Vorziehen der Steuerreform für eine gute Möglichkeit, Impulse für die Wirtschaft zu setzen“ - Edmund
Stoiber am 24. August. „Es wäre falsch, jetzt der Regierung in den Arm zu fallen“ - wiederum Edmund Stoiber.
({2})
„Die Union darf nicht nur blockieren, sie muss mit dazu
beitragen, dass das Land zu besseren Entscheidungen
kommt als bisher“ - Rüdiger von Voss usw.
Sie haben viele Male angedeutet, dass Sie sich bewegen können. Jetzt aber stehen wir vor einer konkreten
Entscheidung. Diese Koalition hat alle Gesetze, die wir
brauchen, auf den Tisch gelegt. Diese stehen jetzt zur
Beratung an. Eine der entscheidenden Fragen ist, ob wir
es schaffen, dem Wachstum in Deutschland für das
nächste Jahr Rückenwind zu geben. Jeder Tag, der deswegen verloren geht, weil Sie sich weigern, klar zu sagen: „Jawohl, wir wollen, dass die Dinge vorankommen!“, geht auf Ihr Konto.
({3})
Wenn es in Deutschland nicht vorangeht, geht das auf
Ihr Konto. Das muss heute hier auch noch einmal in aller
Deutlichkeit unterstrichen werden.
({4})
Meine dringende Bitte an Sie, Frau Merkel, lautet: Sorgen Sie dafür, dass in den nächsten Tagen geklärt wird,
was Sie wirklich wollen.
Wir alle haben heute Morgen wieder hören können,
irgendwann um Weihnachten bzw. Ende des Jahres falle
die Entscheidung.
({5})
- Das hat ganz eng damit zu tun, Herr Kauder. - Wenn
Sie wollen, dass es in diesem Lande vorangeht, wenn Sie
wollen, dass die Menschen Vertrauen in unsere Alterssicherungssysteme und in die Zukunft unseres Landes haben, dann müssen Sie
({6})
mit uns dafür sorgen, dass dem aufkommenden Wachstum - entsprechende Botschaften erreichen uns ja - Impulse verliehen werden. Wir müssen hier für den notwendigen Rückenwind sorgen. Deshalb richte ich noch
einmal meine dringende Bitte an Sie, sowohl bei der Gemeindefinanzreform als auch beim Vorziehen der Steuerreform zu zeigen, dass Sie handlungsfähig sind. Sie
sind es bisher nicht. Sie haben die Wochen und die Monate seit dem 14. März verschlafen und vertan. Sie als
Opposition sind nicht handlungsfähig gewesen.
({7})
- Dass Sie sich über sich selbst freuen, ist ja ganz in
Ordnung. Nur, die Opposition trägt über den Bundesrat
Mitverantwortung für das, was in diesem Lande passiert,
und dafür, ob wir die Dinge voranbringen können, Ja
oder Nein.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir stehen heute vor
dem Abschluss der ersten Phase der Gesetzgebung zur
Agenda 2010. Wir als Koalition haben alles, was ganz
konkret erforderlich ist, auf den Weg gebracht. Sie haben
bisher keine Antworten gegeben. Sie sind nun an der
Reihe. Jeder Tag, der vorübergeht, ohne dass etwas geschieht, geht zu Ihren Lasten.
({8})
Heute steht speziell das Thema Alterssicherung auf
der Tagesordnung. Wir werden zu den beiden Gesetzen,
um die es hier geht, und die Auswirkungen, die sie im
nächsten Jahr haben werden, hier noch einiges im Einzelnen ausführen. Ich will trotzdem dazu eine Vorbemerkung machen, weil ich glaube, dass wir alle in diesem
Land bezüglich der demographischen Entwicklung
Tatsachen zur Kenntnis nehmen sollten, die selten benannt werden.
Wir behandeln in diesem Land das Thema demographische Entwicklung ganz überwiegend so, als ob es dabei um irgendeine Krankheit ginge. Die Veränderungen
bei der demographischen Entwicklung aber, also die Tatsache, dass die Menschen länger leben, und zwar überwiegend in Gesundheit, sind Zeichen eines großen Fortschritts in diesem Land. Deshalb sollten wir, wenn wir
über diese Fragen sprechen, nicht so tun, als ob die Tatsache, dass wir sehr viel länger leben und Rente bekommen, die Gesellschaft beschwere und uns Sorgen bereiten und Angst machen müsse.
({9})
Ich glaube, dass diese Entwicklung, die mit Wohlstand, Hygiene und unseren medizinischen Einrichtungen und Angeboten zusammenhängt, ein großer Segen
ist. Das sollte in unserer Politik auch zum Ausdruck gebracht werden. Die Menschen müssen sich, was die Zukunftsfähigkeit dieses Landes angeht, keine Sorgen machen.
Das Vorgehen einiger, die in den Menschen Ängste
und Sorgen bezüglich der Zukunftsfähigkeit dieses Landes wecken, grenzt manchmal an Unverantwortlichkeit.
Ich bin sicher, dass, wenn wir die Gesetze so oder so
ähnlich, wie wir sie auf den Tisch gelegt haben, beschließen, Deutschland auch weiterhin ein hohes Wohlstandsniveau haben wird und dass auch die älteren
Menschen in Wohlstand leben werden. Wenn wir darüber hinaus dafür sorgen, dass Wachstum und neue Impulse kommen, können und dürfen wir und die kommenden Generationen davon ausgehen, dass unser Land wie
jetzt auch in Zukunft ein Wohlstandsland bleiben wird.
Dass wir heute fünf, sechs oder sieben Jahre länger
Rente beziehen als unsere Vätergeneration und dass wir
- man muss sagen: leider - sehr viel früher aus dem Berufsleben ausscheiden, als das bei den Generationen davor der Fall gewesen ist, muss zu Konsequenzen führen.
Über einen Teil dieser Konsequenzen für das Jahr 2004
sprechen wir heute. Wir haben diese in unseren beiden
Gesetzen berücksichtigt, die wir heute in zweiter und
dritter Lesung beraten.
Bei all dem, was wir heute zur Alterssicherung beschließen, muss trotzdem klar sein: Der entscheidende
Impuls für Wachstum im nächsten Jahr wird sein, denen
in diesem Lande Mut zu machen, die die Chancen ergreifen wollen. Wir müssen im nächsten Jahr deutlich
über die Zahlen dieses Jahres, des vergangenen und des
vorvergangenen Jahres hinauskommen.
({10})
Wir müssen mit Anstrengungen auf nationaler, aber auch
auf internationaler Ebene das Wachstum verbessern und
mit der wirtschaftlichen Entwicklung vorankommen. So
können wir dafür sorgen, dass die sozialen Sicherungssysteme neue und zusätzliche Stabilität gewinnen.
Noch einmal: Es kommt darauf an, dass wir jetzt eine
handlungsfähige Opposition in Deutschland haben, die
die Entscheidungen nicht verschleppt.
({11})
- Es muss trotzdem gesagt werden. Sie werden es in den
nächsten Tagen und Wochen noch öfter hören; denn wir
werden es jeden Tag wiederholen.
({12})
Wir haben seit dem 14. März all das, was konkret getan werden musste, getan. Die Gesetze sind beschlossen.
Jetzt ist es an der Opposition, Frau Merkel, dafür zu sorgen, dass wir schnell zu Entscheidungen kommen, damit
in Deutschland wieder Zuversicht in Bezug auf Wachstum und Wohlstandsmehrung einkehrt. Sie stehen dabei
in der Mitverantwortung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering, man muss
schon ziemlich tief in der Patsche sitzen, um den Blick
für die Realität in dieser Weise zu verlieren.
({0})
Erstens. Sie führen in der Rente zum wiederholten
Male eine Notoperation durch. Angesichts der Einschnitte, die Sie heute machen, wissen die Menschen
überhaupt nicht mehr, was sie morgen erwartet. Sie lenken vom Thema ab und beschimpfen unsinnigerweise
eine Opposition,
({1})
die Sie im Bundesrat brauchen, damit wir in Deutschland vernünftige Regelungen bekommen.
Sie aber versuchen, vom Thema Rente abzulenken,
weil Sie wissen, dass Millionen Rentner von dieser Bundesregierung enttäuscht sind; denn sie haben nicht erwartet, dass sie Nullrunde auf Nullrunde hinnehmen
müssen. Sie, Herr Müntefering, haben es nach fünf Jahren nicht geschafft, ein langfristig angelegtes und tragfähiges Rentenkonzept vorzulegen.
({2})
Zweitens. Herr Müntefering, Sie sagen, Sie hätten alles vorgelegt, was wir in Deutschland brauchten. Da
kann man nur lachen. Ich bitte Sie eindringlich, sich klar
zu machen: Wenn Sie die jetzt anstehenden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss in der Art und Weise führen wollen, wie Sie es im Augenblick versuchen - Sie
wollen unsere weiter gehenden Vorschläge in Bezug auf
den ersten Arbeitsmarkt nicht in die Diskussion aufnehmen; ich nenne zum Beispiel betriebliche Bündnisse für
Arbeit -, dann können Sie nicht erwarten, dass dies zu
einem konstruktiven Verhandlungsklima führt.
({3})
Wir brauchen ein Klima, das von Gegenseitigkeit geprägt ist. Gegenseitigkeit, Herr Müntefering, beruht darauf - so haben Sie es beim Gesundheitskompromiss gemacht -, dass Sie bereit sind, auch für uns wichtige
Themen, die Ihnen nicht passen, auf die Tagesordnung zu
setzen, und dass Sie uns ein Mitspracherecht einräumen.
Bei der kleinen Handwerksnovelle weigern Sie sich seit
vielen Wochen, einen vernünftigen Vorschlag von uns
aufzunehmen und eine Verbindung zur großen Handwerksnovelle herzustellen. Das ist kein Zeichen von
Kooperationsbereitschaft und schon gar kein Zeichen
dafür, dass Sie vernünftig mit uns handeln wollen. Dieses
Verhalten werden wir weiter anprangern. Sie dürfen sich
also nicht wundern, wenn das Klima vergiftet ist.
({4})
Drittens. Eine Koalition, die sich so oft der Nachhaltigkeit und dem Wohl zukünftiger Generationen verschrieben hat, müsste doch wenigstens einen Ansatz von
Schamgefühl zeigen angesichts der Tatsache, dass trotz
der mehr als verdoppelten Neuverschuldung - inzwischen hat sie eine Höhe von 44 Milliarden Euro erreicht - die vorgezogene Steuerreform zu 90 Prozent auf
Pump finanziert werden soll. Wie wollen Sie das vor unseren Kindern und den Enkeln verantworten? Ich kann
das so nicht verantworten. Deshalb werden wir einem
Vorziehen der Steuerreform auf Pump auf gar keinen
Fall zustimmen. Das werden die Menschen in Deutschland auch verstehen.
Das heißt nicht, dass wir uns nicht konstruktiv an den
Verhandlungen beteiligen würden. Aber Ihr Nachhaltigkeitsanspruch passt mit neuen Schulden von über
50 Milliarden Euro mit Sicherheit nicht zusammen. Das
wissen Sie und das werden wir Ihnen immer wieder sagen.
Herzlichen Dank.
({5})
Kollege Müntefering, Sie haben die Gelegenheit zur
Reaktion.
Frau Merkel, in Bezug auf die Rentenpolitik und die
Rentenversicherungsbeiträge können wir gern einmal
zurückblicken: Als wir die Regierung übernommen
haben, lagen die Rentenversicherungsbeiträge bei
20,3 Prozent. Wir haben die Beiträge gesenkt, nicht Sie.
({0})
Senkung der Lohnnebenkosten, Impulse für die Wirtschaft, Ökosteuer, die dabei eine wichtige Rolle gespielt
hat, gegen die Sie aber gekämpft haben - haben Sie das
alles vergessen?
({1})
Wir haben die Rentenversicherungsbeiträge in den vergangenen Jahren systematisch gesenkt und entschieden,
dass sie - zum Zweck der Senkung der Lohnnebenkosten in diesem Lande - auch im nächsten Jahr nicht ansteigen.
Alle, die so sprechen wie Sie, Frau Merkel, müssen
auch eine Alternative aufzeigen, was man angesichts der
Haushaltslage 2004 tun könnte: Entweder müssen die
Rentenversicherungsbeiträge angehoben werden - in
diesem Fall müssten die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber bezahlen, denn die Lohnnebenkosten würden steigen - oder Sie müssen zusätzliche Schulden machen.
Man kann den Rentnerinnen und Rentnern aber auch
klipp und klar sagen: Wir können in diesem Lande nur
das ausgeben, was wir gemeinsam erwirtschaften. Das
ist eine ehrliche Sprache. Sie ist nicht immer leicht zu
vermitteln - dessen sind wir uns bewusst -, sie ist aber
ehrlicher als das, was Sie machen:
({2})
Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, es gäbe eine
andere Lösung, und lehnen alles ab. Auch Sie wollen natürlich nicht, dass die Rentenversicherungsbeiträge steigen oder dass zusätzliche Schulden gemacht werden.
Ebenso wollen Sie nicht, dass die Renten gekürzt werden. Dies zu erklären und auf einen vernünftigen Nenner
zu bringen wird Ihnen nicht gelingen. Das wird die heutige Debatte zeigen.
Zum Zweiten, zum Vorziehen der Steuerreform,
Frau Merkel: Wir sind uns alle einig, dass das Wachstum, das, auch in Bezug auf das nächste Jahr, zu gering
ist, zusätzliche Impulse braucht. Das kann durch eine
deutliche Stärkung der Investitionskraft der Städte und
Gemeinden geschehen, wie wir sie mit unserer Gemeindefinanzreform beabsichtigen. Impulse können auch gegeben werden, wenn zusätzlich 23 Milliarden Euro in
die Taschen der Privaten sowie der kleinen und mittleren
Unternehmen fließen. Die kleinen und mittleren Unternehmen - die Personengesellschaften, die Einkommensteuer zahlen - werden von dem Vorziehen der Steuerreform mit 7 bis 8 Milliarden Euro profitieren. Wenn auch
Sie das für richtig halten, warum sagen Sie dann nicht
klipp und klar heute hier oder in einem Spitzengespräch,
das angeboten worden ist, Sie seien bereit mitzumachen?
Das wäre für das Land und die Wirtschaft eine wichtige
Botschaft.
({3})
Wenn auch Sie das im Prinzip wollen - Sie haben ja
heute sowohl dafür als auch dagegen gesprochen -, dann
geben Sie das zu Protokoll, damit die ganze Republik es
erfährt und alle, die Unternehmen und die Privaten, sich
auf die Situation im nächsten Jahr einstellen können.
Das wird in den Wochen bis zum Jahresende noch sehr
wichtig sein. Wenn Sie jetzt nicht zustimmen, werden
wir sechs bis acht Wochen verlieren, bevor wir Ende des
Jahres möglicherweise doch einen gemeinsamen Weg
finden.
Also noch einmal meine dringliche Bitte an Sie in der
Opposition, sich zu bewegen und dafür zu sorgen, dass
die, die noch gegen den Strich zu bürsten versuchen, eingeholt werden. Nehmen Sie das Kommando in die
Hand! Sie haben ja die Chance, das Kommando zu übernehmen. Sie haben schließlich sechs Mitglieder Ihrer
Fraktion im Vermittlungsausschuss und brauchen nicht
auf Ihre Ministerpräsidenten zu hören. Sie können das
aus eigener Kraft aus Ihrer Fraktion heraus machen. Versuchen Sie es einmal!
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Horst Seehofer, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Müntefering, das war gerade ein sehr erbärmlicher und durchsichtiger Versuch, von den eigentlichen Schwierigkeiten Ihrer Politik abzulenken.
({0})
Denn das, was Sie seit fünf Jahren in der Rentenpolitik,
um die es heute geht, abliefern, ist doch ein endloses
Trauerspiel.
({1})
Wir sprechen heute über eine Notoperation und zum
ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland über reale Rentenkürzungen. Exakt vor
einem Jahr haben wir hier über Beitragserhöhungen in
der Rentenversicherung, über den Griff in die Rentenreserve und über die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze debattiert. Wir haben Ihnen schon damals gesagt,
dass all diese Maßnahmen nicht ausreichen, dass Sie viel
zu kurz springen und Sie nach einem Jahr wieder korrigieren müssen.
Ein Jahr davor haben Sie hier ein Jahrhundertwerk
vorgestellt. Das Jahrhundert dauerte genau 24 Monate.
Die Riester-Reform ist an Haupt und Gliedern gescheitert. Sie stehen vor einem Scherbenhaufen.
Wiederum ein Jahr zuvor haben Sie die Rentner nicht
an der allgemeinen Einkommensentwicklung beteiligt
und ihnen willkürlich nicht einmal einen Kaufkraftausgleich gewährt. Wiederum ein Jahr zuvor haben Sie die
zielführende Rentenreform der Kohl-Regierung zurückgenommen, wofür sich der Bundeskanzler entschuldigt
hat. Vor wenigen Monaten hat er eingeräumt, dass diese
Zurücknahme ein riesiger Fehler war.
Die Minister haben in diesen fünf Jahren gewechselt.
Einer ist gleich geblieben: der Bundeskanzler. Er hat in
den letzten fünf Jahren in der Rentenpolitik mehr Fehler
gemacht als viele Menschen in ihrem ganzen Leben. Das
ist das Ergebnis Ihrer Rentenpolitik.
({2})
Nicht wir, nicht die Rentenversicherungsträger, nicht
die Gewerkschaften, nicht die Sozialverbände lösen
Angst und Verunsicherung aus. Angst und Verunsicherung bei den Rentnern haben ausschließlich Sie durch
Ihre falsche Politik ausgelöst. Das ist die Wahrheit.
({3})
Die deutsche Rentenversicherung hat eine lange und
wechselvolle Geschichte. Die moderne Rentenversicherung ist im Jahre 1957 lohnbezogen und dynamisch geschaffen worden. Das heißt, die Rente stellt kein Almosen dar, sondern ist die Gegenleistung im Alter für eine
lebenslange Arbeitsleistung. Die Rentner und Rentnerinnen haben durch die von uns 1957 geschaffene umlagenfinanzierte Rentenversicherung die Garantie, dass sie an
der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben.
Die deutsche Rentenversicherung hat viele Umwälzungen und auch manche Krise überstanden. Ich erinnere daran, dass Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen in die Rentenversicherung aufgenommen wurden
und deren Lebensabend somit abgesichert wurde. Ich erinnere daran, dass Altersarmut in Deutschland weitgehend überwunden ist. Etwa 1,5 Prozent der älteren Bevölkerung sind auf Sozialhilfe angewiesen; das ist nicht
einmal die Hälfte derjenigen aus der aktiven Bevölkerung, die Sozialhilfe erhalten. Ich erinnere an den segensreichen Dienst der Rentenversicherung bei der
Schaffung der Sozialunion Deutschlands im Rahmen der
deutschen Einheit.
Viele Inflationen und Wirtschaftskrisen sind überwunden worden. Das zeigt, wie leistungsfähig und wie
robust dieses System ist. Ihre falsche Politik hat nun zum
ersten Mal dazu beigetragen, dass die Rentenfinanzen
total zerrüttet sind und dass das Vertrauen der Menschen
in die Rentenversicherung zerstört worden ist. Das ist
die Bilanz Ihrer Politik.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte an einigen
Punkten darstellen, was jetzt notwendig wäre, um aus
dieser ständigen Flickschusterei herauszukommen.
Der erste Punkt: Wir sind seit Jahren nur damit beschäftigt, die Fehler, die Sie von Jahr zu Jahr in der Rentenpolitik begangen haben, zu korrigieren. Ich prophezeie Ihnen: Im November nächsten Jahres werden wir
wieder über ein Rentenloch, über das des Jahres 2005,
sprechen. Die Rentenversicherungsträger haben
Recht: Wenn Sie Ihre Politik nicht fundamental ändern,
wird die derzeitige Entwicklung zwei, drei Jahre so weitergehen. Das verunsichert die Leute.
Deshalb fordere ich an erster Stelle: Sagen Sie der
Bevölkerung endlich die Wahrheit! Frau Ministerin, ich
fordere Sie auf: Stoppen Sie die Renteninformationen
der Rentenversicherungsträger, die den Menschen ein
völlig falsches Bild davon geben, wie die Renten in der
Zukunft aussehen!
({5})
Sie beschließen hier Nullrunden, die aber in Wahrheit
Rentenkürzungen sind.
({6})
Gleichzeitig erlauben Sie, dass die Rentenversicherungsträger die Menschen darüber informieren, dass ihre
Rente im Jahre 2020 oder 2030 auf eine Höhe ansteigen
wird, die man nur als Fantasie oder Illusion bezeichnen
kann. Wie wollen Sie die Menschen in Deutschland zu
mehr Vorsorge bewegen, wenn Sie ihnen gleichzeitig die
Auskunft geben: Alles ist nicht so schlimm, es wird
keine Senkung des Rentenniveaus geben?
Das Erste und Wichtigste ist daher, dass diese Regierung zu Wahrheit und Klarheit in der Rentenpolitik zurückkehrt und dass den Menschen reiner Wein eingeschenkt wird.
({7})
Das Zweite ist: Kein Mensch weiß mehr, wo ihm in
der Rentenpolitik der Kopf steht. Es herrscht totale Verunsicherung. Heute verabschieden Sie zwei Gesetze und
kündigen gleichzeitig die Rentenbesteuerung, die Organisationsreform der Rentenversicherung und mittelund langfristige Maßnahmen an. Trotzdem müssen Sie
im nächsten Jahr wieder Notoperationen vornehmen.
({8})
Und da wundern Sie sich, dass die Menschen nicht mehr
durchblicken?
Legen Sie endlich - wir fordern das seit Jahren - eine
ganzheitliche Rentenreform vor, die die aktuellen, aber
auch die langfristigen Probleme löst, damit die Menschen wissen, wohin die Reise geht! Die Menschen sind
zur Erneuerung und auch zu Opfern bereit. Aber wenn
sie jedes Jahr von Ihnen erneut überfallen werden und
wenn ihnen jedes Jahr neues Geld aus der Tasche gezogen wird, obwohl Sie das Gegenteil versprechen, dann
dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Ihnen kein Mensch
mehr glaubt. Sie haben eine ganz tiefe Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise geschaffen.
({9})
Das Dritte: Reparieren Sie nicht immer nur! Sie
schließen immer nur Lücken und reparieren; aber Sie gehen nicht an die eigentliche Ursachenbekämpfung heran.
Es beginnt mit der Rentenformel. Seit fünf Jahren erleben wir das Spiel, dass Sie in jedem Jahr die Rentenanpassung nach einer anderen Rentenformel vornehmen.
Wer soll Ihnen noch glauben?
({10})
Die Rentenformel muss eine Vertrauensformel sein.
Machen Sie Schluss mit der Willkür, von Jahr zu Jahr zu
entscheiden, in welcher Form die Rentner an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben! Sie müssen
den Rentnern klipp und klar sagen, nach welchen Regeln
die Renten an die allgemeine Einkommensentwicklung
angepasst werden. Schluss mit der Willkür!
({11})
Wir haben Mitte der 90er-Jahre einen Vorschlag gemacht - Herr Müntefering, Sie haben nach Alternativen
gefragt - und ihn gegen Ihren erbitterten Widerstand ins
Gesetz geschrieben. Wir hätten heute zwar nicht alle,
aber viele Probleme der Rentenversicherung gelöst,
wenn Sie damals nicht wider besseres Wissen, nur um
Ihres parteipolitischen Vorteils willen und zum Schaden
des Landes den Demographiefaktor bekämpft und abgeschafft hätten.
({12})
Frau Ministerin, der erste Grundsatz muss sein und
bleiben, dass die Rentenanpassungen der allgemeinen
Einkommensentwicklung folgen. Der zweite Grundsatz
muss angesichts der veränderten demographischen Entwicklung sein, dass die Lasten dieser demographischen
Entwicklung auch von der älteren Bevölkerung und
nicht nur von der jungen Generation getragen werden.
Das ist der Effekt des demographischen Faktors.
Sie haben darauf hingewiesen, dass die Rentenlaufzeit früher etwa zehn Jahre betrug. Jetzt beträgt sie im
Durchschnitt 16 Jahre; das sind 60 Prozent mehr. Das ist
eine gewaltige Wertsteigerung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Ich glaube, wir müssen den Menschen
sagen: Wenn sich die Rentenlaufzeiten verlängern, dann
müssen wir das, was sich die Menschen in ihrem aktiven
Arbeitsleben erarbeitet haben, auf eine längere Zeit verteilen. Das hat zur Folge, dass die jährlichen Rentenanpassungen etwas schmaler ausfallen,
({13})
dass es aber nicht zu Rentenkürzungen, wie Sie sie vornehmen, kommt. Hätten Sie den demographischen Faktor nicht abgeschafft, hätte es in den letzten Jahren eine
Rentenanpassung gegeben, die etwas flacher ausgefallen
wäre; aber Sie hätten die Notoperation der Rentenkürzung jetzt und in den nächsten Jahren vermieden. Das
wäre der Erfolg gewesen.
({14})
Wir brauchen so schnell wie möglich, am besten
heute, eine Rentenformel, die wieder Vertrauen und verlässliche Grundlagen für die jährlichen Rentenanpassungen schafft und die die Lasten der längeren Lebenserwartung und der veränderten Demographie gerecht auf
Jung und Alt verteilt. Das war auch der Inhalt des Demographiefaktors.
Ein zweiter Punkt: Wir müssen dafür sorgen, dass die
Lebensarbeitszeit nicht über das 65. Lebensjahr hinaus
verlängert wird. Den Sinn dessen können Sie der Bevölkerung angesichts der jetzigen Situation, dass die Menschen, die über 50 Jahre alt sind und entlassen werden,
kaum Wiederbeschäftigungschancen haben, schlecht erklären.
({15})
Jetzt ist es angezeigt, die Beschäftigungschancen für
die älteren Arbeitnehmer über 50 zu verbessern. Hier
könnten Sie einiges mehr tun. Es gab im Bundeskanzleramt über viele Monate zahlreiche Gespräche über Bündnisse für Arbeit. Hier hätten Sie mit den Gewerkschaften
und Arbeitgebern darüber reden können, das tatsächliche
Renteneintrittsalter allmählich wieder an das gesetzliche
Renteneintrittsalter heranzuführen.
({16})
Der dritte Punkt betrifft die Stärkung der Beitragsbezogenheit der Rente. Wir kämpfen seit Jahren für die
These, dass jemand, der lange berufstätig gewesen ist
und Beiträge gezahlt hat, anders behandelt werden muss
({17})
als die Menschen mit kürzeren Beitragszeiten. Deshalb
bleiben wir bei unserer Forderung, die Bedeutung der Beitragszeit zu stärken. Wer 45 Jahre lang Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt hat, der sollte ohne
Abschläge in Rente gehen können. Wir müssen mehr nach
der Beitragszeit als nach dem Lebensalter gehen.
({18})
- Damit die Frauen nicht benachteiligt sind, müssen bei
der Berechnung der Beitragszeit auch Zeiten der Erziehung von Kindern hinreichend berücksichtigt werden.
({19})
Man kann darüber reden, wie man beitragsfreie Zeiten und Ausbildungszeiten behandelt. Man muss aber
der Öffentlichkeit sagen,
({20})
dass die Anrechnung beitragsfreier Zeiten nicht durch
die Beitragszahler, sondern durch den Bundeszuschuss
über Steuermittel von der gesamten Gesellschaft finanziert wird.
({21})
Das sage ich nur, damit nicht der Eindruck entsteht, dass
die Anrechnung der Ausbildungszeiten von den Beitragszahlern finanziert wird. Dies wird aus Steuergeldern
finanziert.
({22})
Wenn Sie dem Gedanken näher treten, eine Änderung
bei der Anrechnung der Ausbildungszeiten vorzunehmen, rate ich Ihnen dringend, bisher geschaffene Vertrauenstatbestände nicht außer Acht zu lassen. Die Streichung der Anrechnung von drei Ausbildungsjahren
bedeutet einen erheblichen Eingriff in die Lebensplanung der Menschen.
({23})
Die Menschen, die heute bereits älter sind, können sich
auf eine solche Veränderung nicht mehr einstellen. Wenn
drei Ausbildungsjahre nicht mehr angerechnet werden,
bedeutet das rund 5 Prozent weniger Rente. Deshalb
müssen solche Veränderungen so langfristig angelegt
werden, dass diejenigen, die davon betroffen sind, die
Chance haben, sich durch eigene Vorsorge einen Ausgleich für diesen staatlichen Eingriff zu verschaffen. Das
ist ganz wichtig.
({24})
Frau Schmidt, ich appelliere an Sie, diesen Punkt besonders mit Blick auf den Vertrauensschutz noch einmal
zu überdenken. Man kann daran denken, dies in 20 oder
30 Jahren zu verändern und das heute den Menschen zu
sagen, damit sie eine Chance haben, sich darauf einzustellen. Sie können aber nicht überfallartig sagen: Die
Anrechnung der Ausbildungszeiten wird in den nächsten
vier Jahren so verändert, dass die Anrechnung ab dem
Jahre 2009 nicht mehr gilt. Darauf können sich die Menschen nicht mehr entsprechend einstellen.
Der vierte Punkt: Ich halte es für ganz wichtig, dass
wir mit dem Grundsatz Ernst machen, der nächsten Generation keine höheren Beitragslasten zuzumuten als der
heutigen Generation.
({25})
Wir können doch nicht heute darüber debattieren, dass
die Rentenversicherungsbeiträge auf keinen Fall über
20 Prozent steigen dürfen, aber mit einer Selbstverständlichkeit annehmen, dass die nächste Generation in 10
oder 20 Jahren Beitragssätze von 22 oder 23 Prozent tragen muss.
Ich halte das auch aus einem weiteren Grund für ungeheuer wichtig: Je höher die Beiträge für die gesetzlichen Sozialversicherungssysteme sind, desto geringer
wird für weite Kreise der Bevölkerung die Möglichkeit,
private oder betriebliche Vorsorge zu treffen.
({26})
Wenn die Beiträge auf 22, 23 oder 24 Prozent steigen,
können wir doch von einem Durchschnittsverdiener oder
jemandem mit einem unterdurchschnittlichen Verdienst
oder einer Familie nicht ernsthaft erwarten, dass sie dann
noch in der Lage sind, zusätzlich 4 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für den Aufbau einer Privatrente
aufzubringen.
Deshalb gilt: Wer es mit dem Aufbau einer privaten
Vorsorge wirklich ernst meint, muss dafür sorgen, dass
die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge in Schach
und Proportionen bleiben und dass mit dem Grundsatz
Ernst gemacht wird,
({27})
der nächsten Generation keine höheren Sozialversicherungsbeiträge zuzumuten als der jetzigen. Das ist auch
für die Förderung der privaten Vorsorge ganz wichtig.
({28})
Lassen Sie mich nun den aus meiner Sicht wichtigsten Punkt ansprechen, wie man die Ursachen bekämpfen
kann.
({29})
Wir müssen den Menschen klipp und klar sagen - das
haben wir bereits vor dem Bundestagswahlkampf 1998
getan -:
({30})
Die gesetzliche Rente wird ihre Funktion, nämlich den
Lebensstandard zu sichern - diese Funktion hat sie in der
Vergangenheit erfüllt und erfüllt sie auch heute gegenüber den jetzigen Rentnern, was nicht infrage gestellt
werden kann, weil diese sich darauf eingestellt haben -,
in der Zukunft nicht mehr erfüllen, und zwar nicht deshalb, weil die Politik etwas wegnehmen will, sondern
aufgrund der veränderten Demographie.
({31})
In einem Punkt, Herr Müntefering, gebe ich Ihnen
Recht: Wir haben in Deutschland mit Blick auf die Demographie nicht das Problem, dass es zu viele alte Menschen gibt, sondern dass es zu wenig junge Menschen
gibt. Wir sollten aufhören, etwas anderes zu behaupten.
({32})
Vor zwei Jahren waren weniger als 10 Prozent der Rentenzugänge kinderlos,
({33})
in 20 bis 25 Jahren werden es bereits 35 Prozent sein.
Das ist die Entwicklung, die wir in Deutschland seit Jahren feststellen müssen. Die Schuld dafür ordne ich niemandem zu.
({34})
- Auch deshalb haben wir in den 80er-Jahren zum Beispiel die Kindererziehungszeiten eingeführt.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um für eine stabile
Alterssicherung zu sorgen: zum einen durch die Investition in Humankapital - die Kinder von heute sind die
Beitragszahler von morgen ({35})
und zum anderen durch die Investition in Realkapital;
denn nur indem man heute spart und vorsorgt, bekommt
man in der Zukunft ergänzend zur gesetzlichen Rente
eine Alterssicherung.
({36})
Zu einer modernen Sozialpolitik und Absicherung gehört nicht, dass der Staat vorschreibt, wie sich die Menschen zu verhalten haben. Der Staat hat vielmehr die
Rahmenbedingungen so zu setzen, dass beides in der Zukunft verstärkt gemacht wird.
Die erste Säule, die notwendig ist, damit aus der
Kombination von gesetzlicher Rente und privater Vorsorge wieder der Lebensstandard der Menschen gesichert werden kann, ist die private Vorsorge. Diese haben Sie im Grundsatz ausgestaltet. Das haben Sie
handwerklich aber so miserabel gemacht, dass Ihr Konzept nach zwei Jahren gescheitert ist. Die private Vorsorge muss dringend reformiert werden.
({37})
Sie muss vereinfacht und entbürokratisiert werden, die
Förderung muss gerechter gestaltet werden.
Ich komme nun auf die zweite Säule zu sprechen, die
wir genauso energisch angehen müssen. Hierzu hat das
Bundesverfassungsgericht gesagt, die Renten würden
nicht allein durch die Sozialversicherungsbeiträge bezahlt, sondern die Menschen in Deutschland, die Kinder
erziehen, leisteten einen konstitutiven Beitrag zur Sicherheit der Renten in der Zukunft.
({38})
Deshalb ist jede Rentenreform, die auf der einen Seite
die private Vorsorge und auf der anderen Seite die
Kindererziehung unzureichend berücksichtigt, nichts
anderes als eine Konkursverschleppung.
({39})
Wir lösen nicht die Probleme, wenn wir nicht an die Ursachen herangehen.
Es trägt wesentlich zum Ausbau der privaten Vorsorge bei - wir müssen uns alle anstrengen, um neue
Maßnahmen vorzuschlagen -, wenn wir die Kindererziehung stärker unterstützen. Es soll sich in unserer
Gesellschaft jeder entscheiden, wie er mag, aber es kann
in der Rentenversicherung nicht so bleiben, dass die Familien mit Kindern die Zeche der privaten Entscheidungen zu zahlen haben.
({40})
Wir überlegen, wie man die Familien in der aktiven
Familienphase beim Beitrag zur Rentenversicherung berücksichtigen kann. Wir denken an einen Kinderbonus.
Wir müssen beim Abschlag bei einem vorzeitigen Renteneintritt zwischen Kinderlosen und Personen, die Kinder haben, unterscheiden. Wir müssen überlegen, wie
man die Rentenhöhe, sei es über Kindererziehungszeiten
oder andere Instrumente, so gestalten kann, dass diejenigen, die Kinder haben, eine höhere Rente bekommen als
diejenigen, die keine Kinder haben. Wenn ich diese
Maßnahmen als Gesamtkonzept zusammennehme, dann
muss ich feststellen, dass man so weg von der Willkür
kommt und eine saubere, klare Rentenformel bekommt.
Wir sagen Ja zur Wahrheit und kommen weg von der
Flickschusterei. Wir kommen zu stärkerer Beitragsbezogenheit, gerade durch langjährige Beitragszahlungen
und Kindererziehung. Wir müssen das tatsächliche Renteneintrittsalter durch aktive politische Maßnahmen an
das gesetzliche Eintrittsalter heranführen und in diesem
Jahrzehnt eine große Offensive für eine von der
Menschheit verstandene private Vorsorge starten. Diese
scheiterte bisher nämlich, weil sie so bürokratisch und
kompliziert ist, dass sie niemand mehr versteht. Daneben müssen die Zeiten der Kindererziehung als Beiträge zur Rentensicherheit in der Zukunft berücksichtigt werden.
Ich möchte den Menschen sagen: Wenn die Politik
hier die richtigen Weichen stellt - nicht irgendwann,
sondern zeitnah -, dann haben wir die große Chance,
dass die Rentenversicherung aus der tiefsten Krise in ihrer Geschichte herausgeführt wird. Ich glaube, es ist unser Auftrag, die Menschen nicht durch eine ständig falsche Politik zu verunsichern und sie in einem
Lebensabschnitt, in dem sie bezogen auf die Alterssicherung ein Recht darauf haben, ein sorgenfreies Leben zu
führen, nicht mit Sorgen und Ängsten zu belasten. Ich
möchte den Menschen auch sagen: Wenn die richtigen
politischen Entscheidungen getroffen werden - dazu haben wir unsere Gesamtgedanken vorgetragen -, dann haben wir die riesige Chance, dass wir diese Rentenversicherung aus dem Tal herausführen und wieder an die
große Tradition der deutschen Rentenversicherung anknüpfen, die ihre Aufgaben in der Vergangenheit segensreich erfüllt hat. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den
Menschen, die ein ganzes Leben lang geschuftet und
Kinder großgezogen haben, im Alter wieder ein sicheres
und sorgenfreies Leben zu gewährleisten.
({41})
Ich erteile Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition hat ihre Vorhaben, ihre Agenda, in der Tat auf den
Weg gebracht. Natürlich wird es durch diese Vorhaben
auch Veränderungen in Deutschland geben. Wir muten
den Menschen aufgrund dieser Veränderungen auch zu,
in einigen Punkten Verzicht zu üben. Ich glaube aber,
dass die Menschen zunehmend ein Gefühl dafür bekommen, warum wir das tun, warum wir das tun müssen und
dass in diesen Strukturreformen auch eine Chance liegt.
Dass diese Chance ganz real ist, konnten wir gerade in
den letzten Tagen verfolgen.
Die entscheidende Frage ist doch, ob die Politik
- auch wenn es unbequem ist - das Nötige tut, um diese
Chance wirklich zu ergreifen, oder ob sie opportunistisch reagiert, sich vor unbequemen Botschaften duckt
und die Chance zulasten der Menschen verpasst.
Wir sagen ganz klar: Es macht uns keinen Spaß, den
Rentnerinnen und Rentnern mitzuteilen, dass ihre Renten im nächsten Jahr nicht erhöht werden.
({0})
Wir sagen den Rentnerinnen und Rentnern aber auch
ganz klar: Seid bitte bereit, einen Beitrag dazu zu leisten,
dass die jungen Menschen, eure Enkel, im nächsten Jahr
eine Chance auf Arbeit und Ausbildung erhalten. Das ist
nicht nur für die jungen Leute, sondern auch für die
Rentnerinnen und Rentner und die Entwicklung unserer
sozialen Sicherungssysteme gut.
({1})
In allen Gesprächen, die ich in letzter Zeit geführt
habe, habe ich gemerkt, dass die Menschen realisieren,
dass wir vor großen neuen Herausforderungen stehen
und nicht einfach den Kopf in den Sand stecken können.
Insbesondere, wenn ich mit internationalen Gästen, besonders mit unseren europäischen Nachbarn spreche,
merke ich, dass sie nicht nur mit großem Respekt, sondern auch mit großer Hoffnung auf uns schauen, weil sie
zu Recht die Erwartung haben, dass Deutschland, wenn
es die Kraft hat, das Notwendige zu tun, auch die Kraft
hat, wieder die Zugmaschine für die europäische Entwicklung zu sein.
({2})
Das brauchen auch die anderen europäischen Länder und
unsere europäischen Nachbarn.
({3})
Wie ist denn die derzeitige Situation? Zurzeit zeigen
die Indikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung
eindeutig wieder nach oben. Zum ersten Mal seit 1992
liegen wir im Export wieder vorne, noch vor den USA.
Wir sehen, dass die Auftragszahlen bei den Unternehmen steigen. Alle Umfragen zum Geschäftsklimaindex
zeigen: Es gibt wieder Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Entwicklung.
Aber was ist denn das Entscheidende für die Menschen in diesem Land? Entscheidend ist doch, ob aus einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung auch ein Effekt auf dem Arbeitsmarkt entsteht, ob mehr Menschen
wieder in Arbeit kommen und ob die Arbeitsplätze sicher bleiben.
({4})
Wie war es denn bisher? Bisher brauchten wir in
Deutschland zwei Prozent Wachstum, um einen Effekt
auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Jetzt bescheinigen uns
die Wirtschaftsinstitute, dass durch die Arbeitsmarktreformen, die wir bereits gemacht haben, die Schwelle, ab
der Wachstum auch zu Beschäftigung führt, auf
1,8 Prozent gesunken ist. Wenn wir den Beitragssatz in
der Rentenversicherung bei 19,5 Prozent stabil halten,
wenn wir die letzte Stufe der Steuerreform vorziehen
und dafür sorgen, dass die Kommunen wieder Geld in
die Hand bekommen,
({5})
dann haben wir bei einem Wachstum von 1,7 bis
1,75 Prozent im nächsten Jahr tatsächlich die Chance auf
eine bessere Situation am Arbeitsmarkt. Meine Damen
und Herren von der Opposition, es ist ganz zentral auch
Ihre Verantwortung, ob diese Chance genutzt wird oder
ob wir nur eine wirtschaftliche Verbesserung ohne Auswirkung auf den Arbeitsmarkt haben werden. Wir brauchen diesen Effekt und wir müssen diese Chance nutzen.
Etwas anderes können wir uns im Interesse der Menschen in diesem Land nicht leisten.
({6})
Herr Seehofer, jetzt ganz konkret zur Rente. Wir haben uns entschieden, den Beitragssatz im nächsten Jahr
bei 19,5 Prozent zu halten. Dazu müssen alle einen Beitrag leisten: Die Beitragszahler, die Steuerzahler, ja,
auch die Rentnerinnen und Rentner werden an dem Paket beteiligt; das wissen wir. Aber welche Prioritätenentscheidung haben Sie denn getroffen?
({7})
Sie tun so, als hätten Sie nichts damit zu tun. Jetzt wiederhole ich einmal etwas, was Sie nicht gerne hören, was
aber leider die Wahrheit ist: Mit Ihrem demographischen Faktor wären wir heute bei einem Rentenbeitragssatz von über 21 Prozent. Das ist die Wahrheit, die
Sie nicht wahrhaben wollen.
({8})
Sie haben nämlich alle Maßnahmen, die Rot-Grün in der
Vergangenheit getroffen hat, um das Rentensystem zu
stabilisieren, um den Beitragssatz herunterzuholen von
der hohen Stufe, auf die Sie ihn überhaupt erst gebracht
haben, abgelehnt. Deswegen wären wir mit Ihrer Politik
bei viel schlechteren Beitragssätzen als heute.
({9})
Sie haben die Ökosteuer abgelehnt. Mit der Ökosteuer ist es uns aber gerade möglich gewesen, bei den
Kindererziehungszeiten etwas für die Frauen zu tun, was
seit langem nötig gewesen wäre. Es gibt heute eine angemessene Berücksichtigung der Erziehungszeiten bei der
Rente und das hat Rot-Grün gemacht und nicht Sie.
({10})
Herr Seehofer, jetzt noch ein Beitrag zur Wahrheit in
diesem Lande. Wie stellt sich denn das Problem der
niedrigen Renten für Frauen dar? Das Problem ist
doch, dass über Jahrzehnte eine Politik verfolgt wurde,
nach der eine Frau nur dann eine gute Rente hat, wenn
sie einen reichen Mann oder einen gut verdienenden
Mann heiratet.
({11})
Das ist doch Ihre Politik gewesen.
({12})
Sie haben doch die Ideologie aufrechterhalten, dass
Frauen nicht das Recht haben sollen, Familie und Berufstätigkeit in Einklang zu bringen. Auch das werden
wir ändern, weil wir etwas für die Kinderbetreuung tun.
({13})
Sie haben diese Diskussion in Ihren eigenen Reihen im
Ernst doch gar nicht auf sich genommen. So sieht es
doch aus.
({14})
Nein, Sie ducken sich wirklich weg vor den Aufgaben,
vor denen wir real stehen, auch vor der Entscheidung, ob
wir 19,5 Prozent halten wollen oder nicht.
({15})
Sie ducken sich auch vor einer anderen Wahrheit weg.
Die Wahrheit ist, dass wir längst ein Konzept für die
nachhaltige Stabilisierung des gesamten Rentensystems
für viele Jahre vorgelegt haben.
({16})
Die Vorschläge der Rürup-Kommission, die wir umsetzen, lagen viel früher als die Vorschläge Ihrer HerzogKommission auf dem Tisch.
({17})
Wenn Sie vor Jahren ein Konzept für die Nachhaltigkeit
im Bereich der Rente gehabt haben,
({18})
dann frage ich mich, warum Sie die Herzog-Kommission überhaupt eingesetzt haben. Die Vorschläge dieser
Kommission lagen nach denen der Rürup-Kommission
vor.
Herr Seehofer, ich komme zu einer anderen bitteren
Wahrheit. Sie haben behauptet, Rot-Grün würde von
Schwierigkeiten ablenken.
({19})
Ich sage Ihnen: Rot-Grün stellt sich den Schwierigkeiten, die wir in diesem Lande haben. Wir beschließen
diese Reformen nicht nur, damit die Menschen im nächsten Jahr eine Chance haben, einen Ausbildungs- oder
Arbeitsplatz zu bekommen. Wir machen gerade die langfristigen Reformen noch aus einem anderen Grund:
({20})
Wir wollen, dass das Soziale an der Marktwirtschaft für
die jungen und die alten Menschen in diesem Land über
viele Jahre wieder berechenbar wird.
({21})
Wir wollen das solidarische, umlagefinanzierte System
erhalten.
Sie, Herr Seehofer, haben ganz andere Schwierigkeiten: Die Truppen in Ihrer eigenen Fraktion, die das Soziale an der sozialen Marktwirtschaft verteidigen wollen, werden immer weniger. Sie werden doch hier als das
sozialpolitische Auslaufmodell der CDU/CSU nach
vorne geschickt, während in Wirklichkeit ganz andere
Modelle angedacht werden.
({22})
Wir sind durchaus zuversichtlich,
({23})
dass auch die Rentnerinnen und Rentner im Interesse ihrer Enkel bereit sind, einen Beitrag dafür zu leisten, dass
es in diesem Land wieder aufwärts geht. Wir wissen,
dass viele ältere Menschen ihre Kinder und Enkelkinder
unterstützen. Warum tun sie das? Erstens. Sie denken
nicht nur an sich, sondern sind daran interessiert, dass es
mit den nachfolgenden Generationen in Deutschland
weitergeht. Zweitens. Es liegt zum Teil auch daran - das
hat das Statistische Bundesamt zu Recht festgestellt -,
dass das Risiko für Armut in Deutschland mit dem Alter
nicht zunimmt, sondern sinkt.
({24})
Das Armutsrisiko bei Familien mit Kindern ist heute
größer als bei den Rentnerinnen und Rentnern. Das ist
ein Grund, warum die Alten die Jungen unterstützen
können. Das ist aber auch der Grund, warum wir dazu
auffordern, die Jungen auch dann zu unterstützen, wenn
es darum geht, die durch die notwendigen Maßnahmen
entstehenden Lasten gerecht zu verteilen. Diesen Appell
möchten wir an die Menschen richten.
({25})
Frau Merkel, jetzt ein Wort zu Ihnen.
({26})
Ich kann gut verstehen, dass Sie als Fraktionsvorsitzende
im Deutschen Bundestag lieber den Kopf in den Sand
stecken, wenn es darum geht, den Beitragssatz im nächsten Jahr bei 19,5 Prozent stabil zu halten, indem den
Rentnerinnen und Rentnern ein Teil der Lasten aufgebürdet wird.
({27})
Die Rolle als Opposition verführt leicht dazu. Aber dort,
wo Sie die Mehrheit haben, dort, wo Sie inzwischen eine
Art Nebenregierung darstellen - über den Föderalismus
haben wir bereits diskutiert -, nämlich im Bundesrat,
sind Sie in der Tat gefordert.
({28})
Sie müssen wirklich Farbe bekennen, ob Sie bereit sind,
die wirtschaftlichen Impulse zu unterstützen, und zwar
bei der Gemeindefinanzreform, beim Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform und auch bei den notwendigen Strukturreformen, um die Lohnnebenkosten stabil
zu halten.
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie etwas mehr Führungsstärke zeigen. Sie sind schließlich nicht nur Fraktionsvorsitzende, sondern auch Parteivorsitzende. Es wäre
Zeit, dass Sie ein deutliches Signal setzen, wohin die
Reise gehen soll. Verschleppen - das sagen alle Experten - können wir uns in diesem Land am allerwenigsten
leisten. Dafür würden Sie letztendlich die Verantwortung
tragen.
({29})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst etwas zu diesem untauglichen Versuch
eines Ablenkungsmanövers sagen, den Herr Müntefering
heute Morgen hier unternommen hat.
({0})
Herr Müntefering, das können Sie doch nicht ernsthaft
so gemeint haben. Sie stellen sich hin und melden selbstzufrieden den Vollzug der Agenda 2010, eine Stunde bevor in Nürnberg die neuen Arbeitslosenzahlen bekannt
gegeben werden und wir erfahren werden, dass die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr um 220 000 gestiegen ist. Das sind 220 000 Menschen, 220 000 Einzelschicksale. Da kann man doch nicht selbstzufrieden an
dieses Pult treten.
({1})
Sie, Herr Müntefering, hätten sich hier hinstellen und sagen müssen: Wir haben es versucht, aber es reicht nicht;
wir müssen uns mehr anstrengen, bei den Steuern, insbesondere auch bei den Reformen am Arbeitsmarkt. Das
wäre der Situation angemessen gewesen, aber nicht das,
was Sie hier geboten haben.
({2})
Nein, Herr Müntefering, in diesem Lande gibt es 19
Millionen Rentner. Die wollen wissen, wie es um die Sicherheit ihrer Altersvorsorge bestellt ist. Man kann es
drehen und wenden, wie man will: Für uns, für die FDPFraktion im Deutschen Bundestag, steht fest, dass mit
dem, was Sie heute hier beschließen wollen, nämlich mit
dem zweiten und dritten Vorschaltgesetz zur Rentenversicherung, alle gängigen Stellschrauben des Rentensystems bis zum Anschlag gedreht sind: Die Schwankungsreserve kann nicht mehr weiter gesenkt werden, die
Beitragsbemessungsgrenze ist ausgereizt, mit der Nullrunde der Rentenanpassung und mit der Erhöhung des
Pflegeversicherungsbeitrags der Rentner bewegen Sie
sich schon an der Grenze der Verfassungsmäßigkeit, was
Ihnen auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts
ins Stammbuch geschrieben hat.
Beitragserhöhungen schließen Sie wie auch wir zu
Recht aus; denn eines ist klar: Sie würden zusätzlich Beschäftigung kosten und die Wachstumskräfte schwächen.
({3})
Wenn wir uns die Beratungen der letzten beiden Wochen ansehen, Frau Schaich-Walch, dann stellen wir fest,
dass Sie es rein rechnerisch auf dem Papier geschafft haben, den Ausgleich der vom Schätzerkreis identifizierten
Lücke von etwa 8 Milliarden Euro bei den Rentenfinanzen zu leisten. Aber Sie fahren wie in den Vorjahren volles Risiko, mit null Spielraum für alternative - sprich:
möglicherweise schlechtere - Wirtschaftsszenarien. Sie
setzen alle Ihre Hoffnung auf ein Anziehen der Konjunktur. Springt der Wirtschaftsmotor an, dann kann es
vielleicht gelingen, gerade noch einmal die Kurve zu bekommen. Kommt der Aufschwung aber nicht oder
kommt er später, als wir alle hoffen, dann wird es spätestens im Jahr 2005 - das sage ich Ihnen voraus - Heulen
und Zähneklappern im Bereich der gesamten Sozialversicherung, insbesondere aber bei der Rente geben.
({4})
Denn auch bei günstigem Verlauf - das hat die Anhörung im Ausschuss doch gezeigt - wird die Rentenkasse
im Jahr 2004 ihre Zahlungen nicht mehr aus eigener
Kraft, sondern nur noch mit einer Liquiditätshilfe des
Bundes in Höhe von bis zu 3 Milliarden Euro aufrechterhalten können und damit erstmalig in ihrer Geschichte
direkt am Tropf des Bundesfinanzministers hängen.
({5})
Dadurch entsteht ein riesiger Vertrauensschaden und den
haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von RotGrün, alleine zu verantworten.
({6})
Die Probleme der Rentenfinanzen werden aber durch
die Liquiditätshilfe, die den Charakter eines zinslosen
Darlehens hat, nicht auf Dauer gelöst. Im Gegenteil
- auch das hat die Anhörung sehr deutlich gezeigt -:
Weil die Liquiditätshilfe spätestens 2005 von der Rentenversicherung an den Bund zurückgeführt werden
muss, verschärft sich die Situation im Folgejahr zusätzlich. Für mich steht heute schon fest, dass der Beitragssatz im Jahr 2005 auf mindestens 19,7 Prozent ansteigen
wird. Das ist die Wahrheit über die Entwicklung in der
Rentenversicherung.
Über diese Risiken und die weitere Entwicklung offen
aufzuklären, den Beschäftigten und den Rentnern die
volle Wahrheit über die Herausforderungen zu sagen,
vor denen die Rentenversicherung aktuell und in den
nächsten Jahren und Jahrzehnten steht, die Menschen
zur Eigenvorsorge aufzufordern, das gehört aus unserer
Sicht zwingend zu einer Rentenpolitik, die verlorenes
Vertrauen zurückgewinnen will. Das sagen wir Ihnen,
Herr Müntefering und Frau Sager, nicht erst seit heute,
sondern das hat die FDP im Deutschen Bundestag seit
mindestens zehn Jahren immer wieder gesagt.
({7})
Sie aber - das werfen wir Ihnen vor - spielen die Probleme herunter
({8})
und erwecken vorsätzlich oder fahrlässig, Frau Kollegin
Lotz, den Eindruck - er ist falsch -, Sie hätten bei der
Rente alles im Griff. Das erinnert mich in fataler Weise
an die Musikkapelle auf der „Titanic“, die auch noch
weiter gespielt hat, als das Schiff längst den Eisberg gerammt hatte und zu sinken begann.
Weil Sie zur ganzen Wahrheit nicht bereit sind, sondern immer erst dann scheibchenweise das Unbestreitbare einräumen, wenn Leugnen nichts mehr nützt, und
weil Sie nicht ernsthaft bereit sind, Alternativen in Erwägung zu ziehen, können Sie von uns keine Zustimmung für Ihr Last-Minute-Rettungspaket bekommen,
auch wenn wir heute einer Einzelmaßnahme, nämlich
der Verschiebung der Rentenauszahlung an Neurentner
auf das Monatsende, zustimmen wollen.
Damit keine Zweifel offen bleiben, will ich eines feststellen: Es ist unverantwortlich, dass Sie - anders als von
uns vorgeschlagen - angesichts der derzeitigen Situation
der Rentenkasse die Praxis der Frühverrentung, die
letztlich eine Subvention weniger zulasten aller Beitragszahler ist, uneingeschränkt fortführen wollen.
({9})
Die Anhörung hat gezeigt, dass mit einem sofortigen
Stopp der Frühverrentung die Liquidität der Rentenversicherung schon kurzfristig deutlich verbessert werden
könnte.
Abgesehen von den finanziellen Auswirkungen können wir uns das Abschieben in den vorzeitigen Ruhestand auch moralisch nicht länger leisten. Denn es ist ein
Armutszeugnis für unser Land, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - insbesondere dann, wenn sie
ihren Arbeitsplatz verloren haben - keine Chancen auf
dem Arbeitsmarkt mehr haben.
({10})
Sie betreiben eine Vogel-Strauß-Politik. Das Schlimme
ist, dass die Menschen das zu spüren bekommen werden.
Die Rentner werden - das ist bereits absehbar - bis 2007
mit weiteren Nullrunden rechnen müssen. Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern drohen, wie gesagt, bereits ab 2005 steigende Beitragssätze.
Auch wenn es gelingen sollte, den konjunkturellen
Plattfuß des Fahrzeugs Rente notdürftig zu flicken,
bleibt die dringend notwendige Instandsetzung des Getriebes auf der Agenda. Die Strukturreform, zu der Sie
die ersten Eckpunkte vorgestellt haben, steht nach wie
vor aus.
Lassen Sie mich eines in aller Ruhe, aber sehr deutlich sagen, Frau Ministerin Schmidt: Bei dieser Strukturreform kann es nicht darum gehen, erneut einen Gesetzentwurf im Rekordtempo durch den Deutschen
Bundestag zu jagen. Vielmehr hat Sorgfalt eindeutig
Vorrang vor Geschwindigkeit. Denn einen erneuten
Fehlschlag wie bei der als Jahrhundertwerk gefeierten
Riester-Rentenreform, die keine zwei Jahre Bestand
hatte, kann sich die gesetzliche Rentenversicherung,
kann sich die Regierung wie auch die Politik insgesamt
- das gilt für Sie wie auch für uns - nicht mehr leisten.
Notwendig ist eine wirklich nachhaltige Reform. Eine
solche Reform setzt aber voraus, dass man sich über die
Zusammenhänge klar wird. Dazu haben Sie, Frau Ministerin, gestern im Ausschuss erstmals eine Aussage gemacht, die für uns Liberale seit langem den Ausgangspunkt unserer Sozialpolitik darstellt. Sie haben
festgestellt: Es kann nur verteilt werden, was zuvor erwirtschaftet wurde. - Herzlich willkommen im Klub,
Frau Ministerin.
({11})
Ohne Wirtschaftswachstum und ohne Zuwachs bei der
Beschäftigung gibt es keine Wende zum Besseren. Die
Frage ist aber, ob Sie genug dafür tun. Die Antwort darauf wird in diesen Minuten in Nürnberg gegeben: Es
reicht nicht aus.
Wir müssen auch dafür sorgen, dass ältere Arbeitnehmer wieder eine Chance bekommen, länger zu arbeiten. Eine Bundesregierung, die 50-Jährigen keine
Perspektive am Arbeitsmarkt bieten kann,
({12})
hat kein Recht, über die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nachzudenken.
Zunächst einmal müssen denjenigen, die heute als
50- bis 60-Jährige einen Arbeitsplatz suchen, Chancen
eröffnet werden. Dass das keine angenehme Aufgabe ist,
ist deutlich erkennbar. Denn dafür müssen gesetzliche
und auch tarifliche Rahmenbedingungen verändert und
gut gemeinte Schutzvorschriften neu justiert werden,
weil sie letztlich dazu beitragen, dass sich die Chancen
für Ältere auf Neueinstellung und Reintegration in den
Arbeitsmarkt verschlechtern.
Alles in allem sind wir zur Mitarbeit an einer strukturellen Reform der Rente bereit. Wir sind auch dann
zur Mitarbeit bereit, wenn es um wenig populäre Einschnitte geht. Wir zeigen heute zumindest in einer Abstimmung, dass wir diese Bereitschaft haben.
Letztlich geht es aber darum, verloren gegangenes
Vertrauen zurückzugewinnen, indem verlässliche Prognosen gestellt werden, die sich tatsächlich erfüllen, und
indem im Voraus auf Risiken hingewiesen wird, damit
die Menschen erkennen, wie breit das Spektrum der Entwicklungsmöglichkeiten ist. Das haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, bisher nicht getan.
Aber für einen Neubeginn ist es nie zu spät. Wir helfen
Ihnen gerne dabei.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegin Helga Kühn-Mengel,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Seehofer hat in der Tat kein
Reizwort ausgelassen. Er hat alle Zielgruppen populistisch bedient. Aber eine Antwort ist er schuldig geblieben.
({0})
Was plant denn die Opposition im Hinblick auf die Erwerbstätigen? Wollen Sie den Beitragssatz nun erhöhen?
Welches Signal wollen Sie der Wirtschaft geben? Ich
habe dazu nichts gehört. Sie schulden uns auch ein Eingeständnis Ihrer verfehlten Politik. Wie war denn Ihre
Familienpolitik?
({1})
Wie war Ihre Arbeitnehmerpolitik? Die Frühverrentung
hat doch in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit ein solches
Ausmaß angenommen, dass der Arbeitsmarkt erodierte.
({2})
Sie haben es außerdem nicht geschafft, die Erwerbstätigenquote der Frauen anzuheben. Diese Quote ist im Vergleich zum europäischen Durchschnitt nach wie vor viel
zu niedrig. Die beste Alterssicherung für Frauen ist,
wenn sie genauso wie die Männer Familie und Beruf
verbinden können.
({3})
Sie haben hier des Weiteren ein gigantisches Ablenkungsmanöver durchgeführt. Ich möchte nur Folgendes
deutlich machen: Am Ende Ihrer Regierungszeit lag der
Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 20,3 Prozent. Das stimmt, auch wenn Sie das nicht hören wollen.
Erst wir haben ihn zurückgefahren,
({4})
mit den Einnahmen aus der Ökosteuer - das ist völlig
richtig -, die Sie nicht gewollt haben. Ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer läge der Beitragssatz heute bei
21,5 statt bei 19,5 Prozent und 2005 bei 22,3 Prozent.
Auch das ist wahr. Wir haben das System stabilisiert. Sie
hätten das Ganze in 16 Jahren längst regeln können.
({5})
Es ist auch richtig, dass zwischen 1992 und 1998 die
Rentenanhebung achtmal unter der Inflationsrate lag, davon zweimal knapp darunter. So golden und rosig waren
Ihre Zeiten für die Rentnerinnen und Rentner also auch
nicht.
({6})
Sie verunsichern und reden ein System herunter, das
erhaltenswert ist und das wir auch erhalten wollen. Das
Volumen des Transfers von West nach Ost beträgt
20 Milliarden Euro. So schlecht, so wenig leistungsfähig
kann das System also nicht sein. Auch das bedarf einmal
der Erwähnung.
({7})
Zu dem ständig wiederholten Vorwurf, wir hätten den
Demographiefaktor nicht abschaffen sollen, möchte ich
sagen: Mit dem Demographiefaktor stünden wir gerade
einmal um 1 Milliarde Euro besser da, müssten aber weitere Maßnahmen ergreifen, was wir auch tun werden.
Wie wir ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer dastünden, habe ich ja bereits gesagt. Wir jedenfalls handeln
und tragen Verantwortung. Wir wollen der Wirtschaft ein
wichtiges Signal geben und vor allem ein System erhalten, das uns erhaltenswert erscheint.
({8})
Den Vorwurf von Herrn Dr. Kolb möchte ich aufgreifen. Herr Kolb, Gesetze können nicht wirken, wenn sie
noch nicht verabschiedet sind. Helfen Sie uns doch dabei.
({9})
Nehmen Sie doch Einfluss auf die Ihnen nahe stehenden
Gruppen in den Unternehmen. Kämpfen Sie doch dafür,
dass Arbeitnehmer im besten Mannes- und Frauenalter
nicht in die Frühverrentung geschickt werden! Auch hier
warte ich auf Ihren Beitrag.
({10})
Mit dem Zweiten und Dritten Gesetz zur Änderung
des SGB VI, deren zweite und dritte Lesung heute ansteht, sorgen wir dafür, dass die Wirtschaft einen wichtigen Impuls erhält und dass die sich abzeichnende
konjunkturelle Erholung nicht durch steigende Lohnnebenkosten bedroht wird. Wir wissen genau: Ohne
neues Wachstum und ohne wieder steigende Beschäftigung sind die Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme gefährdet. Wir werden diese Gesetze
heute verabschieden, um deutlich zu machen: Wir stabilisieren. Gleichzeitig sagen wir damit der Wirtschaft:
Wir wollen die Lohnnebenkosten nicht erhöhen.
Dieses Maßnahmenpaket, dieser Mix - das ist uns bewusst - fordert Opfer von allen. Das ist teilweise unpopulär. Es ist viel leichter, solche diffusen Reden zu halten, wie die Opposition das tut, ohne sich festzulegen.
Eines aber haben uns bei der Anhörung alle Sachverständigen - von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bis hin zu den Gewerkschaften - einhellig bestätigt: Es gibt keine Alternativen zu diesem
Maßnahmenpaket,
({11})
weil die Zahl der Stellschrauben im Bereich der Rentenversicherung außerordentlich beschränkt ist. - Deswegen hat es uns nicht überrascht, dass die Opposition bis
zum heutigen Tag nicht einmal versucht hat, Alternativen aufzuzeigen.
Auch was die mittel- und langfristige Finanzierung
der Rentenversicherung angeht, schulden Sie uns
Antworten. Die von der Herzog-Kommission vorgeschlagene Reform oder, wie man eigentlich sagen
müsste, die von ihr vorgeschlagenen Reformfragmente
würden die Menschen in die Altersarmut treiben. Berechnungen zeigen ganz deutlich, dass das Bruttorentenniveau auf 37,5 Prozent fallen würde.
Zusammengefasst: Solidarität zwischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen sowie Rentnern und Rentnerinnen prägt unsere Reformgesetze. Weil es nur wenige finanzielle Stellschrauben gibt, stehen auch nur
beschränkt Alternativen zur Verfügung. Wir haben uns
für Beitragssatzstabilität entschieden, damit Konjunktur, Beschäftigung und Ausbildung eine wirkliche
Chance bekommen. Wer die Verantwortung nicht scheut,
der begleitet uns auf diesem Weg. Ich bin auf Ihr Abstimmungsverhalten hier und im Bundesrat gespannt.
Ich danke Ihnen.
({12})
Ich erteile der Kollegin Hildegard Müller, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, das Lesen können wir Ihnen nicht auch noch abnehmen. Sie kritisieren die ganze Zeit, dass wir keine
Vorschläge haben. Dabei werden Sie die Vorschläge, die
wir auf den Tisch gelegt haben, heute ablehnen. Da
scheint mir etwas nicht konsistent zu sein.
({0})
Man bereitet sich auf Reden im Deutschen Bundestag
immer gut vor. Bei der Vorbereitung ist mir etwas in die
Hände gefallen. Nach der letzten Rentenreform, die Sie
durchgeführt haben, haben Sie gesagt: Auf die gesetzliche Rentenversicherung ist Verlass für Jahrzehnte. - Angesichts dessen frage ich mich natürlich schon, was wir
heute machen.
({1})
Die Koalition steht vor einem großen Scherbenhaufen
ihrer Rentenpolitik. Dafür müssen Sie, meine Damen
und Herren, schon selbst die Verantwortung übernehmen.
({2})
Das Desaster halten nicht nur wir Ihnen vor; auch die
Bevölkerung spricht davon. Die Schlagzeilen der Presse
lauten: „Nichts ist sicher“; „Hilflose Ministerin“; Rente
„nach Kassenlage“. Das sind die Überschriften, die die
Tagespresse bestimmen; es ist nicht das, was Sie heute
an Wunschdenken verkündet haben.
In der Anhörung zu den vorliegenden Gesetzentwürfen haben alle Seiten nur von Notoperationen gesprochen. Notoperationen gibt es übrigens meist dann, wenn
man grundlegende Vorsorgemaßnahmen nicht durchgeführt hat. Fünf Jahre haben Sie bei der Reform der sozialen Sicherung, die den Namen auch verdient, verschwendet.
({3})
Ich bin nun fast genau ein Jahr lang Mitglied dieses
Hauses. Es scheint mir heute genauso zu sein wie nach
der Bundestagswahl: Trotz aller Versprechungen ändert
sich nichts am Chaos. Eine Notoperation nach der anderen, egal an welchem Sozialversicherungsbereich wir arbeiten!
Gut, der Herr Bundeskanzler hat an dieser Stelle mittlerweile wenigstens zugegeben, dass Sie sich geirrt haben. Ich erinnere aber noch einmal an die Rede des Bundeskanzlers 2002 auf einer Konferenz des DGB in Dortmund, in der er meinen Kollegen Horst Seehofer
beschimpft hat - Zitat -:
Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demographischen Faktors angekündigt. Das war vor vier
Jahren unanständig und das ist heute genauso unanständig.
Das ist das, was Sie den Menschen in diesem Land erzählt haben.
({4})
An der Konzeptionslosigkeit hat sich nichts geändert.
Die einzige Konstante ist das Dahinwursteln. Dabei greifen Sie auf ein altes Rezept zurück, das schon im vergangenen Jahr und im Jahr davor für diese Notoperation herhalten musste. Sie reduzieren die Schwankungsreserve,
nein, Sie schaffen sie sogar faktisch ab und damit brauchen Sie alle liquiden Mittel auf. Das ist eine einmalige
Sonderaktion. Ich weiß auch nicht, wie Sie sich vorstellen, die Schwankungsreserve wieder aufstocken zu können.
Einmalig dürfte sein, wie Sie das Vertrauen der Menschen in die Liquidität der Rentenversicherung beschädigen. Die Experten haben darauf hingewiesen, dass
die Rentenversicherer beim jetzt drohenden Einspringen
der Bundesgarantie diesen Kredit des Bundes innerhalb
eines Jahres zurückzahlen müssen. Ich frage die Bundesregierung: Wovon sollen sie das denn zurückzahlen?
Etwa von den mageren Früchtchen eines vage zu erwartenden zarten Konjunkturpflänzchens, das Sie heraufbeschwören, meine Damen und Herren? Das wird nicht gehen.
({5})
In der Zwischenzeit verscherbeln Sie das Tafelsilber.
Sie verkaufen den Wohnungs- und Immobilienbestand
der GAGFAH. Grundsätzlich ist dies nicht falsch,
({6})
aber jeder potenzielle Käufer weiß angesichts des finanziellen Drucks, unter dem wir jetzt stehen, die Lage ausHildegard Müller
zunutzen und den Preis zu drücken. Wir werden für die
Wohnungen weniger erzielen, als sie wirklich wert sind.
Auch das haben Sie zu verantworten.
({7})
Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dreßen?
Gern, Herr Dreßen.
Kollegin Müller, ist Ihnen bekannt, dass Norbert
Blüm 1996 mit dem § 293 im SGB VI genau dies vorgeschrieben hat, nämlich dass Grundstückseigentum zu
verkaufen ist - er fügte hinzu, dass dies natürlich unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu erfolgen habe -,
und wir also nur das vollziehen, was im Gesetz steht?
Ich verstehe Ihre Intention nicht, wenn Sie das verurteilen, was Sie selber beschlossen haben. Wenn Sie
schon kritisieren, dann sollten Sie Ihren eigenen Beschluss von 1996 kritisieren.
({0})
Herr Kollege Dreßen, das scheint Ihr Problem zu sein:
Sie können nicht dauerhaft zuhören. Ich habe gesagt,
grundsätzlich ist es nicht falsch, die Wohnungen zu verkaufen.
({0})
Ich habe kritisiert, unter welchem Zeitdruck Sie diesen
Verkauf nun abwickeln. Jeder Käufer weiß, was das
heißt.
({1})
Wenn Sie die Schwankungsreserve, wie mir Herr
Staatssekretär Thönnes schrieb - wenn er da wäre,
könnte er es auch hören -, grundsätzlich
({2})
- Entschuldigung, Herr Thönnes - für notwendig halten,
warum schreiben Sie dann nicht in den Gesetzentwurf
hinein, dass Sie diese Reserve in Höhe von 1,5 statt von
0,7 Monatsausgaben festlegen? Schreiben Sie hinein,
dass Sie die Schwankungsreserve aufstocken wollen!
Damit verpflichteten Sie sich wenigstens, das anzustreben, was Sie auch heute wieder dem Bürger zu verkünden versuchen.
Fakt ist: Ihnen fehlt wirklich die mittel- und langfristige Perspektive. Das, was Sie nach Ihrer Rentenklausur
vorgeschlagen haben, scheint auch völlig unabgestimmt
zu sein. Kritik daran ist auch in Ihren eigenen Reihen
mehrfach zu hören. Frau Kollegin Sager und Herr
Müntefering, ich habe mir Ihre Ausführungen eine
Stunde und 10 Minuten lang angehört; Sie haben nichts
zum konkreten Entwurf gesagt, sondern nur Erklärungen
zu möglichen Absichten vorgetragen. Nichts davon liegt
vor; darüber entscheidet der Deutsche Bundestag nicht.
Täuschen Sie doch nicht die Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land!
({3})
Man darf also gespannt sein, was Sie diesbezüglich
vorschlagen werden. Ich habe gestern bei der Anhörung
im Ausschuss mit der Ministerin nicht den Eindruck gehabt, dass das, was Sie hierzu vorschlagen, wirklich
schon rund ist. Ich nehme nur das Beispiel der seit zwei
Wochen heiß diskutierten Ausbildungszeiten. In diesem
Zusammenhang hat Frau Ministerin Schmidt am Freitag
vor zwei Wochen meinem Kollegen Storm noch die Privilegierung von Akademikern vorgeworfen und ihn der
reinen Klientelpolitik für Hochschulabsolventen bezichtigt. - Jetzt nicken Sie schon wieder.
Diese Regierung scheint aber vergessen zu haben,
dass zur schulischen Ausbildung auch die Fachschulen
gehören. Davon ist in diesem Rentenreformentwurf
explizit die Rede. Wenn wir über Fachschulen sprechen,
dann sprechen wir über Erzieherinnen, Masseure, Bademeister, Ergotherapeuten und andere Heilberufe, eben
nicht über den privilegierten Akademiker. Oder wollen
Sie der Erzieherin in diesem Land etwas anderes erzählen?
({4})
Die Bundesanstalt für Arbeit verschickt in diesen Tagen mit Datum vom 21. Oktober eine Informationsbroschüre über rentenwirksame Ausbildungssuche. Jugendliche erhalten erste Bescheinigungen. Wer in dieser Zeit
beispielsweise weiterhin die Schulbank gedrückt hat und
in einer vorbereitenden Maßnahme war, bekommt diese
Zeit der Ausbildungssuche angerechnet. Meine Damen
und Herren, Sie müssen sich schon entscheiden. Was Sie
wollen, haben Sie gestern im Ausschuss angedeutet. Im
Referentenentwurf findet es sich nicht wieder. Ich hoffe
also, dass dies noch geändert wird.
({5})
- Wir reden über das Gesetz, Herr Schmidt; ich tue das
jedenfalls im Gegensatz zu Ihren Rednern.
({6})
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch beim Thema bleiben. Die Kürzung der Anrechenbarkeit von Ausbildungszeiten wird ausdrücklich die Frauen treffen. Frau
Sager, angesichts dessen ist es schon schamlos, wenn Sie
hier von einer Besserstellung für Frauen sprechen. Im
Übrigen hat die Regierung Kohl die Besserstellung für
Frauen eingeführt, nicht Sie. Das bitte ich noch einmal
zur Kenntnis zu nehmen.
({7})
Dass es der Regierung trotz aller Vorschläge an langfristigen Perspektiven fehlt, zeigt sich daran, wie viele
Verschiebebahnhöfe geschaffen werden. Die notwendige
Reform der Pflegeversicherung wird schwierig - das
haben auch Vertreter aus Ihren Reihen zugegeben -, da
Sie dafür sorgen, dass die Rentnerinnen und Rentner den
vollen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen.
Damit verbauen Sie sich die Möglichkeit, die Pflegeversicherung zu reformieren. Also ist auch das, was Sie dort
machen, falsch.
Ich halte fest: Es fehlt der Bundesregierung und der
Koalition weiter an einem roten Faden, der sich durch
ihre Politik zieht; die einzige Konstante sind das Chaos
und die Verunsicherung. Sie haben das Vertrauen in die
Rente bei Jung und Alt nachhaltig zerstört. Sie schröpfen
die Alten und bieten den Jungen keine Perspektive. Viele
sind überzeugt, dass mit ihnen bei der Alterssicherung
ein böses Spiel getrieben wird. Das Vertrauen in die Prognosen und in die Verlautbarungen der Regierung und der
Rentenversicherungsträger geht mittlerweile gegen null.
Ich möchte einmal eine Anregung geben, wie man die
Glaubwürdigkeit vielleicht wieder herstellen kann.
Wieso sollte es nicht möglich sein, zweimal pro Jahr
- ähnlich wie beim Frühjahrs- und Herbstgutachten der
Wirtschaftsforschungsinstitute - ein Gutachten zur
Lage der Sozialversicherung vorzustellen? Ich denke,
das würde die Glaubwürdigkeit wieder erhöhen, das
würde Druck auf die politisch Handelnden ausüben und
das würde den Bürgern Klarheit über die Finanzen verschaffen.
Über das komplette Jahr hinweg haben wir von der
Union Klarheit über die Rentenfinanzen gefordert; deshalb
ist das, was Sie heute im Bundestag veranstaltet haben,
wirklich absurd. Man sieht es an unserem Entschließungsantrag. Wir haben der Bundesregierung zahlreiche schriftliche und mündliche Fragen gestellt; wir wurden immer
wieder vertröstet, weil die Lage angeblich viel besser als
von uns dargestellt ist. Man hat uns sogar beschimpft, dass
wir die Rentner in diesem Land verunsichern.
Heute stehen wir vor dem Ende der Schwankungsreserve und damit vor einer Rente auf Pump. Machen Sie
sich nichts vor! Die Fortsetzungstragödie der Irrungen
und Wirrungen über die Einschnitte bei der Rente zeigt,
dass Rot-Grün nur zwei Jahre nach der Verabschiedung
der so genannten Riester-Jahrhundertreform - ich erinnere an das, was ich gerade vorgelesen habe; Sie haben
behauptet, die Rente sei für Jahrzehnte sicher - trotz aller gut gemeinten Kommissionsvorschläge - von ihnen
liegt hier nichts zur Abstimmung vor - wieder vor einer
Notoperation steht und kein langfristiges Konzept hat.
Das erforderliche Vertrauen der Menschen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung ist durch Ihre
wiederholte Flickschusterei endgültig verspielt. Es ist im
Interesse aller Generationen, einen neuen Anfang zu machen. Haben Sie den Mut, langfristige Maßnahmen zu
ergreifen, und speisen Sie die Bürgerinnen und Bürger
nicht dauerhaft mit solchen Kleinigkeiten ab, wie Sie es
heute tun.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Peter Dreßen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
unterstütze die Maßnahmen, die wir heute beschließen,
um die Auszahlung der Renten zu garantieren und die
Beiträge zur Rentenversicherung zu stabilisieren.
({0})
Keinem von uns sind diese Entschlüsse leicht gefallen. Auch ich bitte im Namen der SPD-Fraktion um Verständnis bei den betroffenen Rentnerinnen und Rentnern
und ich versichere ihnen, dass wir diese Kürzungen auch
auf Beamte und Abgeordnete übertragen, um die Lasten
gerecht zu verteilen.
({1})
Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir angesichts der
aktuellen wirtschaftlichen Lage jedoch alle dazu beitragen, dass es in unserem Land wieder bergauf geht. Wenn
ich die Krokodilstränen sehe, die einige Politiker der
Opposition vergießen, weil 2004 auf die Rentenerhöhung verzichtet wird, so kann ich mir eine Anmerkung
nicht ganz verkneifen: Zwischen 1992 und 1998 - das
richtet sich insbesondere an Herrn Seehofer, weil er uns
kritisiert hat - sind die Renten langsamer als die Inflationsrate gestiegen, allerdings mit einer Ausnahme: Im
Wahljahr 1994 lag die Rentenerhöhung um 0,69 Prozentpunkte über der Preissteigerungsrate. Mit Wahlgeschenken ist allerdings keine langfristige Politik zu machen.
({2})
Wären die Renten zwischen 1992 und 1998 dem Niveau der Preissteigerung angepasst worden, so hätten die
Rentnerinnen und Rentner im Jahre 1998 rund 4,5 Prozent mehr in der Tasche gehabt. Wir müssen jedoch ehrlicherweise zugeben, dass die Renten auch unter der rotgrünen Regierung nicht stark angestiegen sind.
({3})
Immerhin konnten wir seit Regierungsantritt dafür sorgen, dass die Renten im letzten Jahr 7,05 Prozent höher
als 1998 waren. Damit lag die Rentenanpassung leicht
über der Preissteigerungsrate, Herr Kolb.
({4})
Im kommenden Jahr wird dies anders aussehen: Auf
der Grundlage unserer heutigen Entscheidung wird es im
nächsten Jahr zu einem Minus kommen. Bei den Rentnerinnen und Rentnern müssen wir dafür um Verständnis
bitten. Die Alternative zu dieser Entscheidung wäre gewesen, die Beiträge auf 20,3 Prozent zu erhöhen. Über
diese Möglichkeiten haben wir auch in unseren Reihen
lange debattiert. Letztendlich haben sich diejenigen
durchgesetzt, die mit Recht darauf hingewiesen haben,
dass die Arbeitnehmer schon in den letzten Jahren erhebliche Einschnitte zu tragen hatten. Man denke nur an die
vielen Firmen, die Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie
übertarifliche Zulagen reduziert bzw. ganz abgeschafft
haben. Wir mussten also bei der Frage der gerechten
Lastenverteilung abwägen. Natürlich wissen auch wir,
dass die Rentnerinnen und Rentner durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz zusätzlich belastet werden.
Aber das trifft eben auch alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer.
Nun, Herr Seehofer, noch ein Wort zu dem, was Sie
vorhin gesagt haben. Der Demographiefaktor von
Blüm hätte ja zur Folge gehabt, dass die Renten niedriger geworden wären.
({5})
Sie haben sich ja selber nicht getraut, den Faktor in seiner vollen Wirkung anzuwenden, sondern haben nur den
halben Faktor wirken lassen, denn sonst wären die Renten ja wirklich auf Sozialhilfeniveau abgesunken. Der
Unterschied zu Walter Riesters Reform liegt darin, dass
wir, nachdem wir gesehen haben, dass wir wahrscheinlich die Renten auf dem bisherigen Niveau nicht halten
können, zusätzlich die privat finanzierte kapitalgedeckte
Altersvorsorge eingeführt haben, damit Arbeitnehmer
weiterhin dieses Niveau erreichen können. Dass Sie und
andere das verteufelt haben, die heute am liebsten die
Kritik, die sie damals geäußert haben, wieder zurücknehmen würden, ist eine andere Sache. Immerhin - das darf
ich einmal erwähnen - bekommt ein Arbeitnehmerhaushalt mit 30 000 Euro, früher also 60 000 DM, Einkommen und zwei Kindern über 50 Prozent staatliche Zuschüsse zu dieser privaten Versicherung im Zuge der
Riester-Reform.
({6})
- Herr Kolb, 4 Millionen sind schon dabei. Wir wissen,
dass 58 Prozent in den alten Ländern durch betriebliche
Altersvorsorge noch eine zusätzliche Versicherung haben. Man sollte wirklich einmal aufpassen, was man da
von sich gibt.
({7})
Erst verteufelt man es und dann fragt man, warum es
nicht akzeptiert wird.
({8})
Herr Seehofer, mich hat weiterhin gestört, dass Sie
davon gesprochen haben, dass jemand, der 45 Versicherungsjahre aufweist, ohne Abschlag in Rente gehen
sollte. Sie wissen es besser; wenn andere das sagen würden, könnte es sein, dass sie es nicht wissen. Aber Sie
wissen doch, dass wir das noch oben und unten durchgerechnet haben. Als Alternative, um das zu erreichen,
wäre doch nur übrig geblieben, entweder die Renten um
10 Prozent abzusenken oder den Beitragssatz um 3 Prozentpunkte anzuheben. Sie wissen doch, dass in den
nächsten Jahren noch viele mit 59 Jahren diese Voraussetzung von 45 Versicherungsjahren erfüllt haben werden. Auch ich gehöre ja zu der Generation, die mit 13,5
Jahren ihre Lehre begonnen hat. Das war damals üblich.
Das heißt, wir hätten das einfach nicht finanzieren können. Sie sollten einmal so ehrlich sein und das zugeben
und hier nicht immer so populistisch daherreden.
({9})
Ferner haben wir eine Schieflage repariert, die Sie seit
Jahren weiter verstärkt haben, indem Sie der Rentenversicherung immer neue Zusatzleistungen aufgebürdet haben. Damit haben Sie in die Taschen der Rentner und
Arbeitnehmer gegriffen. Mit der Ökosteuer haben wir
dafür gesorgt, dass in Zukunft alle Fremdleistungen tatsächlich durch Steuern finanziert werden. Das sollten
Sie auch einmal anerkennen.
({10})
Gebot der Stunde ist es nun aber nicht, über Fehler
und Versäumnisse zu sprechen. Wir wollen die Notwendigkeit der Mehrbelastung den Rentnerinnen und Rentnern verständlich machen. Ihre Vorgehensweise, die
Rentnerinnen und Rentner in diesem Land zu verunsichern, halte ich für schäbig und verantwortungslos.
({11})
Wir werden alles tun - das sage ich den jungen Menschen -, dass es auch im Jahre 2040 Alterseinkommen
gibt, mit denen man gut leben kann.
Die Renten sind bei der rot-grünen Bundesregierung
in guten Händen.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
({0})
Mehr als 100 000 Menschen sind am 1. November in
Berlin auf die Straße gegangen. Sie haben gegen die Politik der Bundesregierung protestiert. Sie haben gegen
die Arbeitsmarktpolitik, gegen die Rentenpolitik, gegen
die Gesundheitspolitik und gegen die Steuerpolitik von
Rot-Grün protestiert. Man kann gar nicht alle Politikgebiete aufzählen, gegen die am vergangenen Sonnabend
hier demonstriert wurde. Das würde mein Zeitbudget
von fünf Minuten übersteigen. Meine Damen und
Herren von Rot-Grün, vielleicht können Sie mir ein Politikfeld nennen, wo Sie eine positive Resonanz aus der
Bevölkerung erfahren. Ich kenne keines.
Die Politiker der Regierung, aber auch der konservativen Opposition betreiben mit der Rente ein böses Spiel.
Sie hetzen die Generationen gegeneinander auf, schüren
Neid und Missgunst. Sie erklären, dass es den Rentnerinnen und Rentnern zu gut geht. Aber in der Bundesrepublik leben circa 2,5 Millionen Frauen mit einer Rente
von unter 300 Euro pro Monat. Ich finde, das ist ein
Skandal für unser Land.
({1})
Den Durchschnittsrentner gibt es nur in der Statistik.
Im wahren Leben treffen Sie ihn nicht. Ich sprach kürzlich in einem Seniorenheim in Mecklenburg mit dem
Vorsitzenden des Heimbeirates, einem blinden Mann
hoch in den Siebzigern. Er sagte mir: Ich habe 48 Jahre
gearbeitet und werde demnächst meinen Heimplatz nicht
mehr allein bezahlen können. Soll ich jetzt, nach
48 Arbeitsjahren, zum Sozialamt gehen und dort betteln,
um ein Hemd oder um einen Wintermantel?
Sie bringen nicht nur die Generationen gegeneinander
auf, Sie schüren auch den Konflikt zwischen Ost und
West. Wenn über Ostrenten geredet wird, wird verschwiegen, dass es hier nur um die gesetzliche Rente
geht. Es wird nicht erwähnt, dass die meisten Ostdeutschen keine Betriebsrente bekommen. Die Reichsbahner
zum Beispiel müssen auch 13 Jahre nach der staatlichen
Vereinigung immer noch um ihre Betriebsrenten kämpfen.
In Ostdeutschland wird fast jede dritte neue Rente
wegen Arbeitslosigkeit gezahlt - also vorzeitig. Diese
neuen Rentner erhalten bis zu 18 Prozent weniger Rente.
Die neuen Renten der Jahre 2000 und 2001 liegen durch
diese Abschläge bereits spürbar unter denen aus der
Mitte der 90er-Jahre. Die eigentlichen Probleme kommen also noch auf uns zu.
Wenn Sie von Generationengerechtigkeit reden, dann
verschweigen Sie, dass jede Rentensenkung heute auch
die Renten von morgen, also die Renten der zukünftigen
Rentnerinnen und Rentner senkt. Wenn Sie über Generationengerechtigkeit reden, aber den Studierenden die
Anrechnungszeiten für die Rente streichen, dann führen
Sie Ihre eigenen Argumente selbst ad absurdum.
Wir als PDS wollen eine Rente von allen für alle. Wir
wollen, dass alle Einkommensarten zur Rente beitragen.
Wir wollen, dass alle Erwerbstätigen - also auch Beamte, Freiberufler und Selbstständige - in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen und dass darüber
hinaus Einkünfte aus Mieten und Zinsen für die Rentenversicherung herangezogen werden. Wir von der PDS
werden gegen die Rentenkürzung stimmen; das wird Sie
nicht überraschen.
Sie von Rot-Grün sollten die Zeichen der Zeit erkennen, die am 1. November von über 100 000 Menschen
in Berlin bei ihren Protesten gesetzt wurden. Sie werden ansonsten von Ihren eigenen Wählerinnen und
Wählern noch weitere Überraschungen erleben. Dass
die SPD in den Umfragen Woche für Woche tiefer
stürzt - Sie sind bei einem historischen Tiefststand von
23 Prozent angelangt -, sollte Ihnen zu denken geben.
Denn die Menschen in diesem Land haben einmal für
Rot-Grün gestimmt, weil Sie versprochen hatten, eine
Gerechtigkeitslücke in diesem Land zu schließen. Das
Schließen dieser Gerechtigkeitslücke steht aus; im Augenblick tun Sie alles, um die Gerechtigkeitslücke größer zu machen. Sie beteiligen sich intensiv an einer
Umverteilung von unten nach oben. Dafür sind Sie
nicht gewählt worden. Ändern Sie Ihre Politik!
({2})
Ich erteile das Wort Kollegin Erika Lotz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Frau Müller hat eine wortgewaltige Rede gehalten
({0})
und Noten verteilt. Das kennen wir mittlerweile. Aber
Alternativen, Frau Müller? - Null.
({1})
Mit Ihrem Antrag
({2})
- den habe ich gelesen - wollen Sie die Bundesregierung
auffordern,
… umgehend Auskunft über die kurz-, mittel- und
langfristige Entwicklung der Rentenfinanzen … zu
geben und... noch in diesem Jahr ein Konzept vorzulegen …
Liebe Frau Müller, das machen wir.
({3})
Sie beklagen unsere Maßnahmen. Auf der heutigen
Tagesordnung steht die Beratung von zwei Gesetzen, die
dazu beitragen sollen, dass der Rentenversicherungsbeitrag bei 19,5 Prozent stabil bleibt. Wir sorgen dafür, dass
Arbeitnehmer und Unternehmer im nächsten Jahr keinen
höheren Beitrag zur Rentenversicherung zahlen müssen.
Dafür haben wir uns entschieden; denn Menschen in Arbeit zu bringen hat für uns absoluten Vorrang. Steigende
Lohnnebenkosten - dazu zählen die Beiträge zur Rentenversicherung - sind nun einmal für viele Unternehmen ein Einstellungshindernis. Deshalb, Herr Seehofer,
könnte die CDU/CSU doch ruhig zustimmen. Vielleicht
erinnern sich manche Rentner und Rentnerinnen noch
daran, dass der Beitrag zur Rentenversicherung zwischen 1957 und 1967 bei 14 Prozent lag und bis 1980
18 Prozent nicht überstieg. Deshalb werden sie auch verstehen, dass der Beitrag jetzt nicht steigen darf, weil die
Sicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen Vorrang haben muss. Darum muss der Beitragssatz bei
19,5 Prozent bleiben. Die Rentenanpassung zum Juli
2004 setzen wir dazu aus.
Wir entlasten die Rentenversicherung auch vom Pflegeversicherungsbeitrag der Rentner. Diese müssen den
Beitrag zukünftig alleine tragen, damit die Lohnnebenkosten nicht steigen. Nur so entstehen mehr Arbeitsplätze; das liegt im Interesse von uns allen.
Die Anhörung zu den Gesetzen in der letzten Woche
hat gezeigt, dass auch die Experten - aus den Gewerkschaften ebenso wie aus der Wirtschaft - keine Alternative zu unseren Vorschlägen sehen. Die Verschiebung
der Rentenauszahlung für Neurentner auf das Monatsende - die einzige Maßnahme, über die der Bundesrat mitentscheidet - hat die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände als „sachgerechte, sozialpolitisch
vertretbare und die Betroffenen nicht überfordernde
Maßnahme“ bezeichnet. Auch da könnte die CDU/CSU
doch ruhig zustimmen.
Auf Gegenvorschläge von Ihnen warte ich bis heute
vergebens. Immer wieder nur zu sagen, wir hätten den
demographischen Faktor nicht abschaffen dürfen, hilft
nicht weiter. Zudem hätte dies alleine die Probleme nicht
gelöst. Wir haben die Anpassungsformel 2001 geändert
- verschweigen Sie das doch nicht - und dadurch den
Anstieg der Renten gedämpft. Ihr demographischer Faktor hätte die Situation bei den Beiträgen bloß um
0,1 Prozentpunkte verbessert. Wäre es nach den Plänen
Ihres Rentenreformgesetzes 1999 gegangen, hätten die
Beiträge höher gelegen und wir hätten ein Problem mehr
zu lösen gehabt. Die Diskussionen, die Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, öffentlich führen,
bewirken nur eines: Sie verunsichern die Rentnerinnen
und Rentner ebenso wie die Beitragszahler.
Es ist auch wenig hilfreich, die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer dazu aufzufordern, sich ihr Weihnachtsgeld erst im Januar auszahlen zu lassen, wie das
die Verbraucherschutzexpertin der CDU/CSU, Frau
Heinen, getan hat. Wer wie sie lange die Abteilung Sozialpolitik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle geleitet hat,
müsste doch wissen, dass sich dies bei den Einnahmen
der Rentenversicherung bemerkbar macht. Außerdem ist
es doch besser, wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Kaufkraft noch in diesem Jahr zufließt.
({4})
Anschließend schreiben Sie dann wieder einen Antrag,
mit dem Sie die Bundesregierung auffordern, Klarheit
über die Rentenfinanzierung zu schaffen. Das ist doch
nicht solide. Es ist ein unfaires Verhalten und schadet der
gesetzlichen Rentenversicherung. Ich frage mich natürlich, ob wir Ihrer Aufforderung entnehmen können, dass
es im Bundesrat doch zu einer Einigung über das Vorziehen der Steuerreform kommen wird. Das wäre immerhin
eine positive Aussage.
({5})
Wir leiten jetzt kurzfristige Reformmaßnahmen ein.
Ich kann die Union nur noch einmal dazu auffordern,
heute hier und im Bundesrat die Gesetze mitzutragen,
damit der Beitrag nicht steigen muss. Wir haben alles getan, um den Rentenversicherungsbeitrag stabil zu halten.
Wir alle, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wissen,
dass die gesetzliche Rentenversicherung bei uns in
Deutschland die wichtigste Säule der Alterssicherung
ist. Die Rentenversicherung braucht ein stabiles wirtschaftliches Fundament. Deshalb müssen wir vorrangig
die Beschäftigung im Auge haben, ohne dabei allerdings
das verständliche Sicherungsbedürfnis der älteren Generation zu vernachlässigen.
({6})
Diese Aufgabe müssen wir auch angesichts der demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft lösen. Daran ernsthaft mitzuarbeiten ist die Opposition
herzlich eingeladen. Wegen der demographischen Veränderungen müssen wir auch dafür sorgen, dass die Kinderbetreuung in unserem Land einen größeren Stellenwert bekommt. Dazu hätten Sie, Herr Seehofer, in
Bayern eine gute Gelegenheit.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Jens Spahn, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am meisten stört mich - auch aus Sicht der jüngeren Generation an dieser Debatte, dass Sie durch Ihre Maßnahmen, die
von Willkür, Unstetigkeit und Verschleierung geprägt
sind, die Bereitschaft der Menschen zu wirklich grundlegenden und tief greifenden Reformen und damit auch das
Vertrauen der Menschen in unser Rentensystem zerstören.
({0})
Ich will das näher ausführen. Stichwort: Willkür. Die
Rentenanpassung wird einfach einmal eben ausgesetzt.
Es wird der volle Beitrag zur Pflegeversicherung erhoben. Das könnte man zwar systematisch begründen; aber
die Diskussion, die Sie geführt haben - das gilt auch für
die Krankenversicherungsbeiträge -, zeigt, dass Sie das
nicht aus systematischen Überlegungen tun, sondern
deswegen, um am Ende Geld in die Kasse zu pumpen.
Die Schwankungsreserve, also die Rücklage der Rentenversicherung, wird einmal mehr gesenkt: erst von 0,8 auf
0,5 und jetzt auf 0,2 Monatsausgaben.
Damit bin ich beim nächsten Stichwort: Unstetigkeit.
Die Schwankungsreserve wird zwar jetzt einmal mehr
gesenkt. Aber durch die Gänge schwirren schon erste
Entwürfe, wonach sie wieder auf 1,5 Monatsausgaben
erhöht werden soll. Gleichzeitig wollen die Grünen sie
ganz auflösen. Was denn nun? Sie sollten sich in dieser
Frage endlich einmal entscheiden.
({1})
Vor wenigen Wochen haben Sie im Haushaltsbegleitgesetz die Kürzung des Rentenzuschusses um 2 Milliarden Euro beschlossen. Nun machen Sie diese Kürzung
wieder rückgängig. Eine kürzere Halbwertszeit hatte, so
glaube ich, ein hier beschlossenes Gesetz noch nie gehabt. Es ist noch nicht einmal richtig in Kraft getreten,
da nehmen Sie es schon wieder zurück. Das macht doch
die Unstetigkeit und Beliebigkeit Ihrer Politik in dieser
Frage deutlich.
Zum demographischen Faktor - die Kollegin hat es
gerade angesprochen -, 1998 von Ihnen noch als unanständig verdammt, sagt der Kanzler nun: Die Zurücknahme war ein Fehler. So ehrenhaft es ist, Mut einkehren
zu lassen und endlich einmal einen Fehler zu gestehen:
Dieser „Das war ein Fehler“-Fehler hat uns fünf Jahre
gekostet. Die Menschen in diesem Land haben dadurch
viel Geld und viel Vertrauen verloren!
({2})
Stichwort: Verschleierung. Wer die Menschen, Frau
Ministerin, über die Wirkung der demographischen Entwicklung auf die Rentenhöhe im Unklaren lässt, darf
sich am Ende nicht wundern, dass die Bereitschaft, privat und betrieblich vorzusorgen, derart unausgeprägt ist,
wie es im Moment der Fall ist. Vor der Wahl war alles in
Butter, obwohl wir Ihnen gesagt haben, dass Erhöhungen drohen. Nach der Wahl musste eiligst ein Beitragssatzsicherungsgesetz beschlossen werden.
Wir sagen Ihnen seit Anfang des Jahres, dass weitere
Maßnahmen notwendig sind, um Rentenbeitragserhöhungen zu vermeiden. Bis jetzt gab es nur Beschwichtigungen. Nun führen Sie wieder kurzfristige Hilfsmaßnahmen durch, ohne ein grundlegendes Konzept zu
haben.
Es geht weiter: In den nächsten Jahren drohen aufgrund der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung und weiterer von Ihnen geplanter Maßnahmen
wahrscheinlich - das ist eine Sache der Mathematik mehrere Nullrunden. Wir wie auch die Rentenversicherungsträger weisen ehrlich darauf hin, damit sich die
Menschen darauf einstellen können. Die Frau Ministerin
aber zieht durch das Land und bezichtet jeden, der die
Wahrheit sagt, er betreibe Verunsicherung der Menschen. Die Menschen verunsichert in Wahrheit Ihre Verschleierungs- und Salamitaktik.
({3})
Hören Sie mit dieser endlosen Verschleierung der Fakten
auf und sagen Sie den Menschen endlich die Wahrheit
über die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung!
Willkür, Unstetigkeit und Verschleierung - das sind
keine guten Voraussetzungen, um die Menschen bei dem
mitzunehmen, was eigentlich zu tun wäre, nämlich
grundlegende Reformen: zum Beispiel die Einführung
eines wirklichen demographischen Faktors, der die Rentenhöhe mit der Lebenserwartung und dem Verhältnis
zwischen Rentenbeziehern und Erwerbstätigen verknüpft, damit in Zukunft keine Generation Beiträge leisten muss, die sie überfordern. Es muss zu einer - faktischen und tatsächlichen - Erhöhung des Eintrittsalters in
die Rentenversicherung kommen. Die entsprechende
Anhörung hat gezeigt - das war eine der interessantesten
Erkenntnisse -, dass uns die Erhöhung des faktischen
Renteneintrittsalters zwar kurzfristig Luft verschafft, sie
aber aufgrund höherer Ansprüche am Ende nicht langfristig wirkt. Aber wenn es denn so ist, wie auch Herr
Müntefering es dargestellt hat, dass die Menschen glücklicherweise länger leben, leuchtet es wohl jedem ein,
dass längere Lebensarbeitszeiten notwendig werden.
({4})
Das Wichtigste ist die Stärkung der betrieblichen und
privaten Vorsorge. Es bleibt dabei: Das Wichtigste, was
Sie, Frau Ministerin, zur Stärkung beitragen können, ist,
den Menschen endlich ehrlich zu sagen, wie es um die
gesetzliche Rente bestellt ist, damit sie tatsächlich zusätzlich privat vorsorgen.
Fazit: Ich bin sicher, Frau Sager, dass die Rentnerinnen und Rentner, dass die Menschen in diesem Land zu
grundlegenden Veränderungen und Reformen bereit
sind. Sie sind aber nicht bereit, eine Politik der kurzfristigen Maßnahmen mitzumachen. Sie werden grundlegende Reformen und damit verbundene Einschnitte mittragen, wenn sie wissen, dass diese ihren Kindern und
Enkeln zugute kommen - nicht aber, wenn sie sehen,
dass wieder irgendwelche plötzlich auftretenden Löcher
damit gestopft werden sollen.
({5})
Wenn Sie nun abseits ehrenhafter Absichtserklärungen - mehr ist das, was bisher vorliegt, nicht; es gibt nur
einen Rentenentwurf,
({6})
der durch die Gegend schwirrt, und einige Aussagen der
Ministerin - den Mut zur Wahrheit und zur Klarheit den
Menschen gegenüber im Sinne langfristiger und grundlegender Reformen nicht aus sich selbst heraus haben,
dann tun Sie es zumindest für meine, die junge Generation.
({7})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Thönnes,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
ist das typische Bild:
({0})
Herr Spahn erklärt den Beschluss des CDU-Bundesvorstands, nach dem die Menschen in Zukunft bis zum
67. Lebensjahr arbeiten sollen, während Herr Seehofer
sagt, das alles sei gar nicht notwendig. Diese Fraktion ist
sich nicht einig und bietet damit kein geschlossenes
Konzept zu einer dringend notwendigen Rentenreform
an.
({1})
So findet man auch keine Antworten auf die Zukunftsfragen. Notwendig ist eine Politik, welche die
Schritte geht, die wir in den letzten sechs Monaten gemacht haben. Wir wollen auf den Wachstumspfad zurück und Arbeitsplätze schaffen. Die Aussichten dafür
haben sich erheblich gebessert.
({2})
Deswegen kann das Motto heute nur lauten: Lohnnebenkosten stabilisieren und senken,
({3})
damit alle Chancen für den konjunkturellen Aufschwung
und für mehr Beschäftigung genutzt werden können.
({4})
Die Chancen haben sich verbessert. Das DIW, das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, sagt - so
schreiben es die Zeitungen heute -, die deutsche Wirtschaft hat die Rezession überwunden.
({5})
Im dritten Quartal gibt es ein Plus von 0,1 Prozent, im
vierten Quartal rechnen die Forscher mit plus 0,25 Prozent.
({6})
Diese Daten bestätigen die Erholungssignale, die von
den Frühindikatoren ausgehen, die der Ifo-Geschäftsklima-Index seit Monaten ausweist. Die Deutsche Bank
geht sogar von 0,3 Prozent aus.
({7})
Das heißt, wir können - wie das DIW sagt - mit steigender Produktion im nächsten Jahr rechnen. Dieser Trend
darf nicht gestört oder zerstört werden; er muss genutzt
werden.
({8})
Sie haben hier auch die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände nicht auf Ihrer Seite. Auf die Frage,
ob es Alternativen zu den jetzigen Entscheidungen gebe,
sagte Herr Gunkel von der BDA bei der letzten Anhörung, es sei unter Beschäftigungsgesichtspunkten sicherlich kontraproduktiv, nun die Arbeitskosten zu belasten.
Auch mit der Absenkung der Schwankungsreserve ist
man in der jetzigen Situation einverstanden; sie ist unverzichtbar.
Weil Sie das Rentenversicherungssystem als ein System bezeichnet haben, das nicht politisch gestaltbar ist,
möchte ich noch einmal deutlich in Erinnerung rufen: Es
ist stabil und es ist gestaltungsfähig.
({9})
1986 hat Prognos in einem Gutachten vorausgesagt, dass
die Beiträge bis 2030 auf 36 Prozent steigen. Bei der
Rentenreform, die wir 1992 noch gemeinsam gemacht
haben, sind wir von einem Beitragssatz bis 2030 von
26 Prozent ausgegangen. Bei der Rentenreform 2001,
die wir vorgenommen haben, konnten wir für das Jahr
2030 schon einen Beitragssatz von 22 Prozent prognostizieren. Es ist also durchaus gelungen - teilweise gemeinsam -, die Beiträge durch Leistungsausgrenzungen und
Anpassungsdämpfung bezahlbar zu halten und trotzdem
den Rentnerinnen und Rentnern auf lange Sicht ein gutes
Auskommen im Alter zu sichern.
({10})
Sie haben den Nachhaltigkeitsfaktor - bei Ihnen
heißt er Demographiefaktor - angesprochen. Dazu
möchte ich Ihnen sagen: Er wird dazu beitragen, dass die
demographische Entwicklung, das Verhältnis der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zu den Rentnerinnen und Rentnern, in der Zukunft Auswirkungen auf die
Rentenanpassungen haben wird.
Uns hier, ohne seine eigene Geschichte zu reflektieren, den Vorwurf zu machen, die von uns vorgenommenen Erhöhungen und Anpassungen seien nicht verlässlich gewesen, geht in die Leere. In den letzten vier
Jahren Ihrer Regierungsverantwortung sind den Rentnerinnen und Rentnern durch das ewige Hinterherlaufen
der Rentenanpassungen unterhalb der Inflationsrate gut
38 Euro monatlich verloren gegangen. Das war Ihre Verlässlichkeit. Das waren Ihre Redlichkeit und Ihre Zuverlässigkeit.
({11})
In den fünf Jahren, in denen diese Koalition regiert,
ist es uns gelungen, das Rentenniveau zumindest zu
wahren. Viermal erfolgte eine Rentenanpassung oberhalb der Inflationsrate; so viel zur Verlässlichkeit
({12})
und zur Teilhabe an der Entwicklung der Einkommen
und zu dem Vorwurf, den Leuten werde ständig das Geld
aus der Tasche gezogen werden. Das ist bei Ihnen geschehen.
({13})
Nun zu dem Vorschlag von Herrn Seehofer, auf
45 Beitragsjahre abzustellen, um hier etwas Klarheit zu
schaffen. Dazu will ich festhalten: Zunächst gab es den
Beschluss des CDU-Bundesvorstandes, die Menschen
sollen bis 67 Jahre arbeiten. Dann soll die Rente auf eine
Basisrente reduziert werden, auf die ein 15-prozentiger
Aufschlag kommt - was nichts anderes wäre, als eine
Grundsicherung einzuführen. Und nun stellen Sie sich
hierhin und wollen das Rentenniveau an 45 Versicherungsjahren festmachen. Warum sagen Sie den Menschen nicht, was das kostet? Wenn die Menschen mit 60
in Rente gehen, verursacht das zusätzliche Kosten in
Höhe von 10 Milliarden Euro.
({14})
Sie sagen, Sie wollen die Kindererziehungszeiten
stärker anrechnen, Sie wollen sie verdoppeln. Das verursacht weitere Kosten in Höhe von 10 Milliarden Euro.
Außerdem wollen Sie einen Beitragssatz, der bei 20 Prozent liegt. Wissen Sie, was das bedeutet? Das bedeutet
Einschnitte in die Leistungen um weitere 20 Milliarden
Euro.
({15})
Das ist nichts anderes als der Versuch, Ihre konfuse Rentenpolitik auch nach dem Regierungswechsel fortzusetzen. Das ist kein Konzept, sondern das ist schlichtweg
konfus.
({16})
Wenn der Anteil der älteren Menschen in unserer Gesellschaft zunimmt und die Menschen gleichzeitig im
Durchschnitt immer älter werden, dazu die Erschwernis
hoher Arbeitslosigkeit und geringerer Beitragseinnahmen kommt, ist völlig klar, dass das die Gesellschaft etwas kostet. Man muss den Menschen sagen, dass es darum geht, eine vernünftige Balance zwischen den
Beitragszahlern, den Rentnerinnen und Rentnern und
den Steuerzahlern zu wahren. Deswegen hat diese Regierung die Möglichkeiten der kapitalgedeckten Altersvorsorge geschaffen, die wir mit 10 Milliarden Euro
fördern. So können sich die Menschen eine ergänzende
Altersvorsorge aufbauen, damit sie im Alter ein angemessenes Auskommen haben.
({17})
An dieser Stelle sage ich: Wir können darüber reden,
wie wir den Zugang erleichtern, aber hören Sie endlich
auf, das alles schlechtzureden. So bekommen Sie jedenfalls keinen Zugang der Menschen zu dieser privaten Altersvorsorge.
({18})
Weil Sie, Herr Kolb, zuweilen etwas zum Thema
Frühverrentung dazwischenbrüllen, will ich zum
Schluss sagen:
({19})
Diese Regierung wird mit dem Gesetz zur Sicherung der
nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen
Rentenversicherung, dem so genannten Nachhaltigkeitsgesetz, die Altersgrenze für die Frühverrentung von 60
auf 63 Jahre heraufsetzen. Das bedeutet Kalkulierbarkeit
für diejenigen, die aus der Altersteilzeit oder der Arbeitslosigkeit kommen und dies in Anspruch nehmen.
Jeder kann sich darauf einstellen. Es erfolgt keine Vollbremsung, die die Menschen, die entsprechende Verträge
unterschrieben haben, ins Nichts fallen lässt. Was Sie
vorschlagen, entspricht keiner verlässlichen Politik.
({20})
Ebenso wenig verlässlich ist Ihr Verhalten in Sachen
GAGFAH. Sie, Frau Müller, werfen uns vor, dieses
Wohnungsbauunternehmen werde nur verschleudert.
1997 hat man 2,3 Milliarden Euro dafür geboten - Ihr
Arbeits- und Sozialminister hat den Verkauf gestoppt!
Schon damals wäre es möglich gewesen, die GAGFAH
zu verkaufen. Diese Bundesregierung kommt jetzt einem
Auftrag des Haushaltsausschusses und des Rechnungsprüfungsausschusses nach.
({21})
Das Bieterverfahren läuft und unterhalb des Buchwertes in Höhe von 1,6 Milliarden Euro darf - das wissen Sie - ein Verkauf auch nicht vollzogen werden.
Wenn Sie nicht wollen, dass der Verkauf zu ungünstigen
Konditionen erfolgen muss, dann - das gilt auch hier reden Sie diesen Vorgang um die GAGFAH, die ein stabiles und serviceorientiertes Wohnungsbauunternehmen
ist, nicht schlecht.
({22})
Kollege Thönnes, kommen Sie bitte zum Ende!
Sie von der Opposition haben keine Antworten. Sie
hätten sagen müssen, ob Sie die Steuern erhöhen wollen,
also einen höheren Staatszuschuss in Kauf nehmen, ob
die Leistungen eingeschränkt werden sollen oder ob die
Beiträge heraufgesetzt werden sollen. Die Opposition
hat keine Alternative zu den Gesetzen, die hier vorliegen.
Diese Gesetze werden mit dazu beitragen, dass die
Solidarität zwischen den Generationen das zentrale konstitutive Element in unserem Rentenversicherungssystem bleibt. Auch in Zukunft müssen die Beiträge der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bezahlbar bleiben und die Rentnerinnen und Rentner wissen, dass sie
im Alter ein gutes Auskommen haben werden.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Än-
derung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und ande-
rer Gesetze, Drucksache 15/1830. Der Ausschuss für
Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1893,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
Präsident Wolfgang Thierse
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der anderen Abgeordneten des Hauses ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
- Sind alle Plätze besetzt? - Das ist der Fall. Dann er-
öffne ich die Abstimmung.
Ich frage: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das
seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich hoffe,
jetzt haben alle Abgeordneten ihre Stimme abgegeben. -
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die Abstimmungen fortsetzen, möchte ich einen lieben Gast begrüßen. Auf der Tribüne hat soeben der Parlamentspräsident Dr. Zaoralek aus der Tschechischen Republik mit
seiner Delegation Platz genommen. Wir begrüßen Sie
alle sehr herzlich.
({0})
Liebe tschechische Kolleginnen und Kollegen, gerade
heute debattieren wir über verschiedene Fragen der Regierungskonferenz und der zukünftigen europäischen
Verfassung. Dazu wünschen wir Ihnen jetzt einen aufschlussreichen, wenn auch kurzen Eindruck unserer parlamentarischen Arbeit. Für Ihren Aufenthalt heute hier
in unserem Hause und für Ihr weiteres parlamentarisches
Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
({1})
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort.
Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Ent-
wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksa-
che 15/1831. Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale
Sicherung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 15/1893, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
Bündnis90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von
CDU/CSU angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen eine nament-
liche Abstimmung. - Die Schriftführerinnen und Schrift-
führer haben die vorgesehenen Plätze eingenommen. Ich
eröffne die Abstimmung.
1) Ergebnis Seite 6152 D
({2})
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht
der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Ich möchte jetzt gern die Abstimmungen fortsetzen
und bitte Sie der Übersichtlichkeit wegen, Platz zu nehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer etwas ganz
Dringendes zu besprechen hat, tue das bitte draußen, damit ich hier eine Übersicht über die Stimmenverhältnisse
habe.
Ich fahre jetzt in den Abstimmungen fort.
Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 15/1893 die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Klarheit über
Rentenfinanzen und Alterssicherung schaffen - Notwendige Reformmaßnahmen nicht auf die lange Bank
schieben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/1014 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Opposition angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Beendigung der Frühverrentung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt auf Drucksache 15/1885, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt worden.
({0})
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
({1})
- Ich kann Sie wegen des Lärmpegels nicht verstehen,
Herr Ramsauer.
({2})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 g auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Daniel Bahr ({3}), wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
2) Ergebnis Seite 6160 C
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({4}) zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung
- Drucksache 15/1112 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 15/1897 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Jerzy Montag
Rainer Funke
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für eine zügige Regierungskonferenz über die
EU-Verfassung
- Drucksache 15/1694 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Gauweiler, Klaus Hofbauer, Dr. Gerd Müller,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Gottesbezug im Europäischen Verfassungsvertrag
- Drucksache 15/1695 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Daniel Bahr
({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Daseinsvorsorge nicht gegen Wettbewerb ausspielen
- Drucksache 15/1712 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({10})
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Rainer Brüderle, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Preisstabilität als Ziel im EU-Verfassungsvertrag festschreiben - Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank sichern
- Drucksache 15/1801 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Errungenschaften des Konvents sichern -
das Europäische Verfassungsprojekt erfolg-
reich vollenden
- Drucksache 15/1878 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({12})
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Erklärung durch die
Bundesregierung zu den Ergebnissen des
Europäischen Rates in Thessaloniki am 20./
21. Juni 2003
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze,
Michael Stübgen, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zum Stand der Beratungen des EU-Verfassungs-Vertrages
- Drucksachen 15/1212, 15/1207, 15/1898 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({13})
Peter Altmaier
Anna Lührmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen, wobei
die FDP zwölf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich den ersten Redner aufrufe, bitte ich um
mehr Ruhe.
({14})
Bevor wir in die Debatte eintreten, möchte ich das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
mitteilen. Abgegebene Stimmen 586. Mit Ja haben gestimmt 302, mit Nein haben gestimmt 284. Es gab keine
Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 586;
davon
ja: 302
nein: 284
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({15})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({16})
Klaus Barthel ({17})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({18})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({19})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({20})
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({21})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({22})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({23})
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({24})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({25})
Walter Hoffmann
({26})
Frank Hofmann ({27})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({28})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({29})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({30})
Christian Müller ({31})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({32})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({33})
Michael Roth ({34})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({35})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({36})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({37})
Ulla Schmidt ({38})
Silvia Schmidt ({39})
Dagmar Schmidt ({40})
Wilhelm Schmidt ({41})
Heinz Schmitt ({42})
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({43})
Reinhard Schultz
({44})
Swen Schulz ({45})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({46})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({47})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Matthias Weisheit
Gert Weisskirchen
({48})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({49})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({50})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({51})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({52})
Volker Beck ({53})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({54})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Renate Künast
Undine Kurth ({55})
Markus Kurth
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({56})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({57})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({58})
Werner Schulz ({59})
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Margareta Wolf ({60})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({61})
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({62})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({63})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({64})
Peter H. Carstensen
({65})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({66})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Hartwig Fischer ({67})
Dirk Fischer ({68})
Axel E. Fischer ({69})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({70})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({71})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Jürgen Klimke
Kristina Köhler ({72})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({73})
Dr. Karl A. Lamers
({74})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({75})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({76})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({77})
Stephan Mayer ({78})
Conny Mayer ({79})
Dr. Martin Mayer
({80})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({81})
Doris Meyer ({82})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({83})
Bernward Müller ({84})
Dr. Gerd Müller
Bernd Neumann ({85})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({86})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({87})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({88})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt ({89})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({90})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({91})
Gerald Weiß ({92})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({93})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
FDP
Daniel Bahr ({94})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({95})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({96})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann
({97})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({98})
Eberhard Otto ({99})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
({100})
Das Ergebnis der anderen namentlichen Abstimmung
teile ich Ihnen mit, sobald es vorliegt.
In der Debatte erteile ich jetzt dem Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In nur fünf Wochen sollen und wollen die Staats- und
Regierungschefs der Europäischen Union den Verfassungsvertragsentwurf unter Dach und Fach bringen.
Gegenwärtig befindet man sich in einer Art Hängepartie.
Es ist noch längst nicht klar, wie die noch existierenden
Konflikte aufgelöst werden können.
Ich fürchte, auch diesmal werden viele der ganz wichtigen Fragen bis zum Schluss offen bleiben. In einer
Nacht der langen Messer werden die Staats- und Regierungschefs selber verhandeln müssen. Nach den Erfahrungen von Amsterdam und Nizza ist das nicht unbedingt der Königsweg, um zu sachgerechten Ergebnissen
zu kommen.
({0})
Ich fürchte, dass die nicht nur von uns zu Recht als erfolgreich gelobte Konventsmethode nachträglich relativiert werden könnte. Ich fürchte vor allem, dass der Vertragsentwurf gegenüber dem Entwurf des Konvents
unterm Strich nicht verbessert, sondern verschlimmbessert werden könnte.
({1})
Ich fürchte darüber hinaus, dass sich am Ende diejenigen durchsetzen könnten, die nicht sehen wollen, dass
der Grundgedanke der „ever closer union“, der immer
enger werdenden Integration der europäischen Völker,
darin besteht, dass das Ganze mehr ist als die Summe
seiner Teile, dass Europa kein Nullsummenspiel ist, bei
dem der eine verliert und der andere gewinnt, sondern
dass es auf den europäischen Mehrwert ankommt. Gegenwärtig erinnert das, was zurzeit geschieht, eher an
einen Pferdehandel.
({2})
Jeder von uns hier im Bundestag, im Europäischen
Parlament oder sonstwo hätte einen anderen ihm ideal
erscheinenden Verfassungstext geschrieben, als dies der
Konvent getan hat. Ich hätte mir einen sehr viel schlankeren und strafferen Verfassungstext gewünscht, in dem
die einzelnen Politikbereiche außerhalb der Verfassung
getrennt aufgeführt werden. Der Unterschied wird in
diesen beiden Büchern deutlich: In meiner einen Hand
halte ich den Verfassungsteil des Vertragsentwurfs, in
meiner anderen die einzelnen Politikbereiche.
Ich als Liberaler hätte mir ein sehr viel klareres Bekenntnis zu Freiheit, Wettbewerb und Vielfalt gewünscht. Ich hätte mir die insgesamt gelungene Regelung für Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit noch
stringenter vorstellen können, obwohl ich betonen muss,
dass hier sehr viel erreicht worden ist. Ich hätte mir eine
klarere Prioritätensetzung für das geldpolitische Ziel der
Preisniveaustabilität gewünscht. Im Rat ist Gott sei
Dank dazu wohl ein Erfolg erzielt worden.
Ich hätte mir darüber hinaus gewünscht, dass der
Europäischen Zentralbank nicht der Organcharakter
zugeschrieben wird, sondern sie die Unabhängigkeit behält, die ihr im Vertrag von Maastricht und Amsterdam
zugewiesen ist,
({3})
ohne jede Form des Verdachtes der Relativierung durch
die Loyalitätsverpflichtung, die ein Organ gegenüber
den anderen Organen der Europäischen Union beachten
muss.
Manche meiner Wünsche kann man vielleicht noch
durchsetzen, wenn man es denn will. Das gilt insbesondere für die Frage der Geldpolitik der Zentralbank.
Ohne den Vertrag aufzuschnüren, ist es leicht möglich,
das Maastricht-Protokoll eins zu eins in den Vertragstext
zu übernehmen. Ich hoffe, dass dies so verhandelt wird
und dann auch gelingt. Das Problem besteht wahrscheinlich darin, dass diese Bundesregierung genau das nicht
will. Kein Wunder, dass der Finanzminister heute nicht
da ist.
({4})
Es geht um die Versuchung, den Stabilitäts- und
Wachstumspakt durch den Verfassungsvertrag auf kaltem Wege möglichst lautlos zu Grabe zu tragen.
({5})
Das ist Verrat am Euro. Das ist Verrat am Vertrauen der
Menschen in den Euro.
({6})
Das ist ein Vertrauensbruch gegenüber den Partnern, denen Deutsche bis vor kurzem noch meinten Vorträge
über finanzpolitische Solidität halten zu müssen.
({7})
Zurück zu den Änderungswünschen. Ich sehe auch
die Änderungswünsche anderer Länder. Die Debatte in
Frankreich ist spannend. Wenn man sich vorstellt, dass
in der Partei von François Mitterrand gegenwärtig eine
Debatte darüber stattfindet, ob dieser Vertrag nicht zu
wettbewerbsorientiert und zu neoliberal ist, wie es dort
heißt, dann fragt man sich, ob die Schöpfer dieses Konventsentwurfs insgesamt nicht doch eine gute Balance
gefunden haben.
Deshalb warne auch ich davor, das Paket aufzuschnüren. Dabei kann unter Umständen etwas sehr Schlechtes
herauskommen. Aber ich frage mich, ob sich die Bundesregierung nicht schon längst darauf eingerichtet hat,
dass sie aufschnüren muss, und ich befürchte, dass das
dann geschieht, ohne dass ein einziges wichtiges nationales Anliegen Deutschlands noch einmal auf den Tisch
der Verhandlungsrunde gebracht worden ist.
({8})
Ich sehe eine Fülle von Konzessionen, die schon jetzt in
der Pipeline sind, beispielsweise dass es am Ende 31
Kommissare und nicht 15 sein werden. Ich sehe mehr
Abgeordnete Spaniens und Portugals im Europäischen
Parlament als im Konventsentwurf vorgesehen und damit eine Verschärfung des Problems der ungleichgewichtigen Verteilung der Parlamentsmandate.
Ich sehe das Prinzip der doppelten Mehrheit, das für
uns absolut nicht verhandelbar sein darf, zum Schluss
doch noch gefährdet. Schließlich - das ist mir gestern
hammerhart klar geworden - sehe ich die Gefahr, dass
das Europäische Parlament in der Schlussrunde entscheidend geschwächt wird, wenn das Recht des Europäischen Parlaments auf die Letztentscheidung über die
Ausgabenseite des Haushalts schließlich doch beim Ecofin-Rat landet, und nicht beim Europäischen Parlament
bleibt.
({9})
Das wäre die totale Bankrotterklärung der deutschen
Verhandlungsstrategie. Ich hoffe, Sie werden nicht mit
einem solchen Ergebnis aus Rom zurückkommen.
({10})
Wir Freien Demokraten wollen Ihnen vorschlagen,
das Volk in die Lage zu versetzen, dem Verfassungsvertrag ausdrücklich zuzustimmen. Wir wollen deshalb
heute auf Initiative unseres Freundes Ernst Burgbacher
einen Grundgesetzänderungsantrag, mit dem die Möglichkeit des Referendums eröffnet wird, einbringen und
darüber abstimmen lassen. Wir sind keineswegs für
Volksentscheide über alle möglichen Quisquilien. Aber
wenn es um eine so wesentliche, weitgehende Weichenstellung für die Zukunft eines Volkes geht, dann muss
das Volk die Möglichkeit haben, Ja oder Nein zu sagen.
({11})
Die Kollegin Lührmann hat am 8. Mai ein flammendes Plädoyer für den Volksentscheid über die Verfassung
gehalten. Ich gratuliere dazu. Ich bedanke mich bei
Ministerpräsident Stoiber, der noch im Juli gesagt hat:
„Ich sage schon lange, dass die Einführung des Euro die
letzte EU-Entscheidung dieser Tragweite ohne Volksbefragung gewesen sein muss.“ Ich könnte noch viele andere zitieren, zum Beispiel Herrn Singhammer oder
Elmar Brok. Vor allen Dingen möchte ich mich bei unserem Bundestagsvertreter im Konvent, Professor Jürgen
Meyer, bedanken, der im März gemeinsam mit Kollegen
aus fast allen Ländern den Antrag einbrachte, der Konvent solle allen Mitgliedstaaten verbindliche Referenden
empfehlen und da, wo es die nationale Verfassung nicht
hergibt, zumindest Volksbefragungen empfehlen.
({12})
Wir von der FDP stehen mit unserer Forderung also keineswegs alleine. Ich bin nur gespannt, wie die selbsternannten Mitglieder der Speerspitze direkter Demokratie
nachher abstimmen werden.
({13})
Referenden bergen Risiken; das wissen wir alle. Sie
bergen vor allen Dingen das Risiko, dass über alles
Mögliche diskutiert wird, über die Abtreibung in Irland,
über den Gottesbezug in der Verfassung Polens oder
über eine Regierung in Deutschland, die abgewirtschaftet hat, nur nicht darüber, worum es eigentlich geht.
Diese Gefahr besteht. Aber man kann das, Herr Minister,
auch umkehren. Man kann nämlich sagen, dass ein Referendum uns endlich als Politiker in die Pflicht nimmt,
und zwar alle, für diese europäische Verfassung einzustehen und in unseren Wahlkreisen dafür zu kämpfen.
({14})
Bei der Debatte über den Euro gab es doch eine
schmerzliche Erfahrung. Viele, die mit ihrer Abstimmung im Parlament große Verantwortung für Deutschland und Europa übernehmen, bleiben während der öffentlichen Debatte über Europa lieber mit angelegten
Löffeln in der Ackerfurche liegen und überlassen das
Europageschäft den Spezialisten. Ist das nicht ein peinliches Zeichen vorauseilender Resignation, wenn wir hier
im Deutschen Bundestag wahrscheinlich mit einer übergroßen Mehrheit, fast einstimmig, dem Verfassungsvertrag zustimmen werden,
({15})
uns aber nicht zutrauen, die Mehrheit der Bürgerinnen
und Bürger davon zu überzeugen?
({16})
Wir Freien Demokraten wollen als überzeugte Europäerinnen und Europäer mit jahrzehntelanger Tradition
liberaler Europapolitik den Bürgern die Möglichkeit geben, Ja zu sagen. Wir wollen ihnen auch die Empfehlung
geben, zu diesem Vertragsentwurf Ja zu sagen, wenn in
Rom auf den letzten Metern etwas wirklich Vertretbares
herauskommt. Geben Sie, meine Damen und Herren,
den Bürgerinnen und Bürgern diese Chance! Es geht um
eine der wichtigsten Weichenstellungen in der Geschichte unseres Landes.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Roth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Europa lässt sich ohne Verfassung nicht in eine gute Zukunft führen. Wir brauchen eine Verfassung, die Europa
auf einem starken Fundament von Werten und Grundüberzeugungen wachsen lässt, die eine tragfähige Brücke zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und
den politischen Institutionen andererseits bildet und die
deutlich macht, wer in Europa für was zuständig ist. Wir
brauchen eine Verfassung, die Europa in einer globalisierten Welt handlungsfähiger macht und die vor allem
demokratische und transparente Entscheidungsprozesse
garantiert.
({0})
Deshalb ist die heutige Debatte im Deutschen Bundestag
so wichtig. Mehr Demokratie, Handlungsfähigkeit und
Transparenz für die EU liegen in unserem ureigenen Interesse.
Dass wir unserer Vision einer europäischen Verfassung so nahe gekommen sind, haben wir dem Verfassungskonvent zu verdanken. Er war mehrheitlich mit
Abgeordneten - Vertreterinnen und Vertretern der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments besetzt. Endlich ging es nicht länger um nationalstaatliche Egoismen; nun stand ein gesamteuropäisches Interesse im Mittelpunkt der Verhandlungen. Der Konvent
hat ein eindrucksvolles Ergebnis vorgelegt. Ich denke,
dass wir in diesem Hause darin im Großen und Ganzen
übereinstimmen.
Nun sind die Regierungen gefordert. Sie stehen jetzt
in der Pflicht, den verfassunggebenden Prozess erfolgreich fortzusetzen. Die Regierungskonferenz muss bis
zum Jahresende ihre Arbeit abschließen.
({1})
Leider können wir dieser Regierungskonferenz kein gutes Zwischenzeugnis ausstellen.
({2})
Im Gegenteil: Eine große Anzahl von Mitgliedstaaten
will die Uhr noch einmal zurückdrehen. Sie scheinen
nichts aus dem weitgehenden Scheitern vergangener Regierungskonferenzen gelernt zu haben. Der Verfassungskonvent war doch kein generöses Geschenk der Regierungen an die Parlamente. Vielmehr haben wir uns
dieses Stückchen Demokratie erstreiten müssen.
Ich setze nur begrenzt Vertrauen in ein Verfahren, das
die europäische Verfassung wieder allein in die Hände
von Regierungen und Diplomaten legt und sie den Parlamenten weitgehend und der Öffentlichkeit vollständig
entzieht.
({3})
- Zur Bundesregierung komme ich noch, lieber Kollege
Müller. Sie hat sich bislang glücklicherweise ganz anders und sehr vorbildlich verhalten. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
({4})
Die Chancen des Bundestages, direkten Einfluss auf
die Verhandlungen der Regierungskonferenz zu nehmen,
sind mehr als begrenzt. Insofern müssen wir den Menschen reinen Wein einschenken.
({5})
Das liegt leider in der Natur der Sache. Daher kann ich
die Äußerungen von Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts nicht nachvollziehen, die in der
Michael Roth ({6})
Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei jetzt das
Parlament gefordert, sich einzubringen. So sehr ich mir
im Bundestag europapolitische Debatten vor vollem
Hause wünsche, so verfehlt wäre doch die Annahme, wir
säßen mit am Verhandlungstisch der europäischen
Staats- und Regierungschefs.
Die historische Bedeutung des Konvents liegt doch
gerade in der Mitwirkung und Mitentscheidung der Parlamente. Mehr Demokratie wurde im verfassunggebenden Prozess Europas noch nie gewagt. Der Bundestag
hat keinen Grund, sich zu beschweren. Wir haben unsere
Rechte im Rahmen unserer Möglichkeiten genutzt. Allein die Koalitionsfraktionen brachten zwei Anträge ein,
die eine Richtschnur für unsere Delegierten im Konvent
waren.
Die derzeitigen Debatten in der Regierungskonferenz
geben Anlass zu großer Sorge. Ich stimme darin ausdrücklich mit dem Kollegen Hoyer überein. Einige Regierungen tun so, als hätten sie mit dem Verfassungsentwurf nichts zu tun, so als hätten sie nicht am
Verhandlungstisch gesessen.
({7})
Ist der Entwurf etwa vom Himmel gefallen?
Die Bundesregierung - jetzt komme ich zu dem
Punkt, den Sie sich sehnlichst gewünscht haben, Herr
Kollege Müller ({8})
hat sich von Anfang an hinter den Konventsentwurf gestellt.
({9})
Sie will das Kompromisspaket nicht noch einmal aufschnüren. Sie ist - damit zitiere ich eine Äußerung von
Staatssekretär Scharioth in der gestrigen Sitzung des Europaausschusses - der Gralshüter dieses Verfassungsentwurfs. Für diesen mutigen Einsatz danken wir dem Bundeskanzler und auch dem Außenminister.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht aber auch
Anlass zur Kritik. Wir sollten in diesem Zusammenhang
eine deutlichere Sprache sprechen als bislang. Vor allem
die mittelosteuropäischen Länder haben mit dem Weg
in die EU einen langen und steinigen Weg zurückgelegt.
Ihnen wurde und wird eine Menge abverlangt. Bei allem
Respekt für ihre schwierige Lage bin ich mehr als enttäuscht über manche Blockade. Wie man beispielsweise
die komplizierte und wenig demokratische Stimmengewichtung im Rat, auf die man sich in Nizza mehr
schlecht als recht verständigen konnte, zu einer Frage
der nationalen Ehre, sogar zu einer Frage über Leben
und Tod aufbauschen kann, ist mir mehr als schleierhaft.
So kommen wir in Europa nicht voran!
({11})
Dass in einer Regierungskonferenz verhandelt und
auch gestritten werden muss, steht auch für die SPDBundestagsfraktion völlig außer Zweifel. Wir markieren
jedoch klare rote Linien, die nicht überschritten werden
dürfen. Wir sind nicht bereit, jeden Rückschritt und jeden Formelkompromiss zu akzeptieren. Für uns gibt es
kein Zurück hinter die Errungenschaften des Konventes.
Die EU ist nicht nur eine Union der Staaten, sondern
auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Das muss
sich in den Entscheidungsprozessen widerspiegeln.
({12})
Daher ist für uns eine Abkehr von dem Prinzip der doppelten Mehrheit im Rat inakzeptabel.
Die EU braucht auch ein starkes Parlament als Partner
der nationalen Parlamente. Daher ist für uns eine Schwächung des Europäischen Parlaments in allen Haushaltsangelegenheiten, wie dies zum Teil Stimmen aus
dem Ecofin-Rat irrigerweise fordern, völlig inakzeptabel.
({13})
- Der deutsche Außenminister hat klar Stellung bezogen
und darauf hingewiesen, dass er diese Auffassung nicht
teile. Hier vertraue ich unserem Finanzminister genauso.
Guten Gewissens können wir nur dann Kompetenzen
an die EU abtreten, wenn die Aufgaben, die uns bislang
als Bundestag zukommen, vom Europäischen Parlament
wahrgenommen werden können. Die EU braucht auch
mehr Transparenz. Daher müssen die Räte öffentlich
beraten und entscheiden. Das ist ein Stück Demokratie,
das man der europäischen Ebene nicht nehmen darf.
Deswegen halten wir auch an unserer Forderung nach einem Legislativrat fest, der sich irgendwann einmal - das
ist ein Traum - zu einer Staatenkammer weiterentwickeln könnte.
({14})
Die EU braucht mehr Handlungsfähigkeit, vor allem
in der Außen- und Sicherheitspolitik. Darüber haben wir
im Bundestag häufig genug gestritten und waren meistens einer Meinung. Das Amt eines europäischen Außenministers darf daher nicht noch einmal infrage gestellt werden. Wir müssen endlich die Blockaden
überwinden und in möglichst vielen Politikfeldern im
Rat mit Mehrheit und nicht länger einstimmig entscheiden. Wer jetzt die Axt an zukunftsweisende Fortschritte
ansetzt, auf die sich der Konvent verständigt hat, muss
mit unserem Widerspruch und Widerstand rechnen.
({15})
Nun streiten wir auch in der heutigen Bundestagsdebatte darüber, wie wir uns gegenüber der Regierungskonferenz politisch positionieren sollten und was wir der
Michael Roth ({16})
Regierung mit auf den Weg geben sollten. Selbstverständlich finden wir als Sozialdemokraten nicht alle unsere Forderungen im Konventsentwurf wieder. Wir hätten uns in einigen Bereichen klarere Regelungen und
größere Fortschritte gewünscht. Aber es wäre gefährlich,
wenn auch wir nun als „Gralshüter“ mit einem langen
Wunschzettel die Regierungskonferenz traktierten. Die
Versuchung - ich kann das gut verstehen, Herr Kollege
Müller - mag groß sein, in der Regierungskonferenz das
durchzusetzen, was sich im Konvent nicht erreichen ließ.
Aber glaubt denn wirklich jemand, dass sich das Konventsergebnis durch eine Regierungskonferenz nachhaltig verbessern ließe? - Mitnichten! Leider unterliegt
auch die Union diesem Irrglauben.
({17})
Die CDU hat sich von der CSU aufs Glatteis führen lassen und sich den Schneid abkaufen lassen. Der bayerische Ministerpräsident geht im Bundesrat sogar so weit,
dass er sich über die bekannte Liste der Union hinaus
weitere Forderungen vorbehält. Das ist unverantwortlich.
({18})
Wie wollen wir denn andere Mitgliedstaaten daran
hindern, Errungenschaften im institutionellen Bereich
anzutasten, wenn wir selbst den gefundenen Kompromiss fortwährend infrage stellen? Die Regierungskonferenz sollte sich auf Präzisierungen und einige wenige
Änderungen beschränken, die aber an der Substanz des
Konventsentwurfs nichts ändern. So stünde beispielsweise aus unserer Sicht und auch aus der Sicht des
Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes - darüber haben
wir schon auf der gestrigen Sitzung des Europaausschusses gesprochen - eine klareren Hinweis auf den Schutz
nationaler Minderheiten, so wie dies die Ungarn fordern,
nichts im Wege.
Ebenso halte ich eine Debatte über den Gottesbezug
für mehr als legitim. Aber, meine Damen und Herren
von der Union, über so etwas kann und darf man doch
nicht entlang von Fraktionslinien diskutieren. Es gibt
auch in meiner Fraktion nicht wenige, die eine Bezugnahme auf Gott für hilfreich und unterstützungswürdig
halten. Ich persönlich setze mich sehr für eine entsprechende Formulierung ein.
({19})
Den Gläubigen, egal wo sie sitzen, bei der Union, bei
der SPD, bei der FDP oder auch bei den Grünen, tut es
sicherlich gut, zu wissen, dass wir auch in Europas Verfassung Begrenzungen unseres Handelns und das Eingebunden-Sein in unseren Glauben finden können.
({20})
- Sie hätten dem Kanzler einmal zuhören sollen. Der
Kanzler hatte nämlich einen sehr guten Vorschlag unterbreitet.
({21})
Er hat gesagt, er könne damit leben.
({22})
- Schaum vor dem Mund bringt uns in dieser Frage
überhaupt nicht weiter. Wir sollten mit dieser Frage sehr
sensibel umgehen.
({23})
Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass es in Europa
streng laizistisch organisierte oder verfasste Staaten gibt.
Für die wäre eine Bezugnahme auf Gott zumindest problematisch. Auch diesen Staaten müssen wir Respekt
entgegenbringen. Da hilft doch gar nichts.
({24})
Ich bin vor allem deshalb für den Gottesbezug, weil er
keine Glaubensgemeinschaft ausschließt. Er dürfte also
auch für Atheisten, für Agnostiker tolerabel sein.
({25})
Ein ausdrücklicher Hinweis allein auf das christliche
Erbe jedoch ist für mich inakzeptabel. Die herausragende Bedeutung des Christentums für Identität, Entwicklung, historische Höhen und Tiefen von Europas
Geschichte steht völlig außer Zweifel. Aber waren das
antike Rom und Griechenland nicht ebenso wirkungsmächtig für Rechts- und Staatsordnung, Philosophie und
politische Ideengeschichte? Dürfen wir die Bedeutung
des europäischen Judentums ignorieren oder den Jahrhunderte währenden Einfluss des Islam auf Naturwissenschaften, Kunst und Architektur, übrigens nicht nur
auf der Iberischen Halbinsel?
({26})
Sind nicht auch das wesentliche Quellen der Inspiration
für und in Europa?
({27})
Die FDP und manche Vertreter von Wissenschaft und
Medien, die vom neoliberalen Zeitgeist umweht sind,
haben ihren Frieden mit der sozialen Dimension Europas
offensichtlich noch nicht geschlossen. Diese Auseinandersetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, sind wir gern bereit zu führen. Freier Markt und
hemmungsloser Wettbewerb sind mit unserem europäischen Gesellschaftsmodell unvereinbar.
({28})
Europa definiert sich über soziale Grundrechte für
alle Bürgerinnen und Bürger. Europa lebt von Solidarität
Michael Roth ({29})
und Gerechtigkeit. Das sind Prinzipien, für die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Gewerkschaften,
viele Verbände und Organisationen während der Erarbeitung der Grundrechtecharta und im Verfassungskonvent
erfolgreich gestritten haben. Diese Errungenschaften lassen wir uns von niemandem nehmen. Wir werden dies
auch im Rahmen des Europawahlkampfs deutlich zu machen versuchen.
({30})
Die FDP fordert ein Referendum über die europäische
Verfassung. Mein Kollege Axel Schäfer wird sich nachher noch eingehend dazu äußern. Sie stehen mit dieser
Forderung - das sage ich ganz offen - nicht allein. Es
gibt aber ebenso viele Stimmen, die das aus vielerlei
Gründen vehement ablehnen. Ich erinnere nur an den
Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pat Cox,
meines Wissens ein Liberaler. Er hat in der vergangenen
Sitzung des Europaausschusses eindringlich vor den Gefahren eines Referendums gewarnt.
({31})
Diese Koalition streitet seit 1998 für die Verankerung
von mehr direkter Demokratie in unserem Grundgesetz.
({32})
Wir müssen von der grundsätzlichen Notwendigkeit plebiszitärer Elemente also überhaupt nicht überzeugt werden.
({33})
Bislang sind wir am Widerstand der Union gescheitert.
Die Frage eines Referendums zur europäischen Verfassung muss in ein Gesamtkonzept eingebettet sein.
Zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es
steht viel auf dem Spiel. Bei der europäischen Verfassung geht es nicht nur um Institutionen und Regularien,
auch wenn wir Europapolitiker manchmal ein bisschen
zu viel darüber reden. Es geht um unser Wertefundament. Es geht um unser Selbstverständnis von Europa,
das die Globalisierung nur demokratisch oder gar nicht
aktiv zu gestalten vermag. Von diesem guten Geist waren die Beratungen des Konvents geprägt. Ich vermisse
ihn leider bei der Regierungskonferenz. Aber es ist noch
nicht zu spät. Auch wir als Deutscher Bundestag sind gefordert. Lassen Sie uns heute ein klares Signal für den
Verfassungsentwurf des Konvents setzen! Er hat unser
aller Unterstützung mehr als verdient.
Vielen Dank.
({34})
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung bekannt. Sie betraf den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches
Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Abgegebene
Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 341, mit Nein haben gestimmt 240, Enthaltungen gab es keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 584;
davon
ja: 343
nein: 241
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({0})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({6})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({7})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({8})
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({9})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({10})
Walter Hoffmann
({11})
Frank Hofmann ({12})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({13})
Walter Kolbow
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({14})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({15})
Christian Müller ({16})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({17})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({18})
Michael Roth ({19})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({20})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({21})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({22})
Ulla Schmidt ({23})
Silvia Schmidt ({24})
Dagmar Schmidt ({25})
Wilhelm Schmidt ({26})
Heinz Schmitt ({27})
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({28})
Reinhard Schultz
({29})
Swen Schulz ({30})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({31})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({32})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Matthias Weisheit
Gert Weisskirchen
({33})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({34})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({35})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({36})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({37})
Volker Beck ({38})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({39})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Renate Künast
Undine Kurth ({40})
Markus Kurth
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({41})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({42})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Albert Schmidt ({43})
Werner Schulz ({44})
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Margareta Wolf ({45})
FDP
Daniel Bahr ({46})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({47})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({48})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann
({49})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({50})
Eberhard Otto ({51})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({52})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({53})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({54})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({55})
Peter H. Carstensen
({56})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({57})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Hartwig Fischer ({58})
Dirk Fischer ({59})
Axel E. Fischer ({60})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({61})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor Freiherr von
und zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({62})
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({63})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({64})
Dr. Karl A. Lamers
({65})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({66})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({67})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({68})
Stephan Mayer ({69})
Conny Mayer ({70})
Dr. Martin Mayer
({71})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({72})
Doris Meyer ({73})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({74})
Bernward Müller ({75})
Dr. Gerd Müller
Bernd Neumann ({76})
Henry Nitzsche
Michaela Noll
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({77})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz-Xaver Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({78})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({79})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt ({80})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({81})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({82})
Gerald Weiß ({83})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({84})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile dem
Abgeordneten Peter Hintze das Wort.
({85})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Uns liegt heute ein Antrag der FDP-Fraktion zur
Änderung des Grundgesetzes vor, um einen Volksentscheid über die zukünftige EU-Verfassung in Deutschland durchzuführen. Es war interessant, eben beim Kollegen Roth ein wenig zu verfolgen, welchen Eiertanz die
rot-grüne Gruppe hier im Deutschen Bundestag bei diesem Thema aufführt;
({0})
denn sie hat immer nach Plebisziten geschrien. Mein
Kollege Vorredner hat in einem Punkt Recht: In dieser
Frage gibt es in diesem Haus eine einzige Fraktion, die
kristallklar die Leitprinzipien der repräsentativen
Demokratie vertritt, die uns in Deutschland und Europa
Stabilität gebracht haben, und das sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
- Verehrter Kollege Westerwelle, ich spreche für CDU
und CSU.
({2})
Ich halte es für einen fatalen Fehler, das Grundgesetz
zu ändern. Der Kollege Hoyer hat uns in der intellektuellen Redlichkeit, die wir von ihm kennen, dafür auch die
notwendigen Belege geliefert.
Eine Volksabstimmung über Europa wäre nichts anderes als eine Bühne für Sektierer und Randalierer,
({3})
auf der alle Kräfte, die eine europäische Verfassung
durchbringen müssen,
({4})
sich mit antieuropäischen Ressentiments herumschlagen
müssten.
({5})
- Das nehmen wir entgegen, Herr Westerwelle.
({6})
Meine Damen und Herren, wenn wir unsere eigene
Bundesregierung noch ein wenig in Schutz nehmen wollen, die auf der europäischen Ebene eine Verpflichtung
hat, lautet das wichtigste Argument: Eine solche Volksabstimmung wäre mit Sicherheit ein Blitzableiter für
die Unzufriedenheit der Bevölkerung über eine Regierung, die eine derartig desaströse Politik macht, dass wir
uns real und stimmungsmäßig in einem historischen Tief
befinden. Wir können Europa nicht darunter leiden lassen, dass diese Regierung eine so schlechte Politik macht.
({7})
Mit wachsender Sorge, Herr Bundesaußenminister,
verfolgen wir auch die Strategie der Bundesregierung in
der Regierungskonferenz.
({8})
Das läuft im Moment nach dem Motto: Die anderen
bringen die Verschlechterungen ein und die deutsche
Bundesregierung weigert sich, als richtig erkannte Verbesserungen vorzuschlagen.
({9})
Diese Arbeitsteilung halte ich für unglücklich.
Beim Start der Regierungskonferenz - das betrifft den
gesamten Deutschen Bundestag - wurde direkt in der
ersten Sitzung ein Kernelement der europäischen Verfassung eliminiert, nämlich der Legislativrat, der eindeutig
mehr Transparenz und mehr Demokratie in die europäischen Entscheidungsprozesse gebracht hätte. Ich weiß,
der Bundesaußenminister hat mannhaft dagegen gefochten, aber mir kommt es auf Folgendes an: Es geht nicht
an, dass die anderen Salamischeibe für Salamischeibe
Elemente aus der Verfassung herausnehmen, während
wir, da wir uns dem Entwurf verpflichtet fühlen, aus unserer Sicht keine Verbesserungen an anderer Stelle vorschlagen,
({10})
die man, wenn man so etwas schon hinnimmt, vielleicht
auch als Gegenstück hineinbringen könnte. Ich erwarte
also von unserer Bundesregierung, dass sie ihre hierbei
verfolgte Strategie ändert.
({11})
Als Nächstes droht eine Beschränkung des Haushaltsrechts des Europäischen Parlaments.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Haushaltsrecht ist
das Kernrecht des Parlaments. Jedenfalls für unsere
Fraktion sage ich hier: Die Kollegen im Europäischen
Parlament haben unsere Solidarität und die Regierungskonferenz hat mit unserem Widerstand zu rechnen, wenn
auch diese Rechte des Parlaments im Verfassungsentwurf zerstört werden.
({13})
Ganz entscheidend wird sein, die Regelung der doppelten Mehrheit im Konventsentwurf zu verteidigen;
Mehrheit der Staaten plus Mehrheit der Bürger, das ist
demokratisch. Ich halte es für gefährlich, die Diskussion
sämtlicher wichtiger Themen auf die letzte Nacht - so
hat uns jedenfalls die Regierung unterrichtet - zu verschieben. Kollege Hoyer, der in der Bundesregierung
lange Verantwortung getragen hat, hat warnend auf die
Konsequenzen hingewiesen:
Erstens. Die Parlamente werden im Vorfeld dieser
Entscheidungen ausgeschaltet, weil keiner ihrer Vertreter in der letzten Nacht dabei ist.
Zweitens. Es droht die Wiederholung von Nizza, wo
in der Erschöpfung der Schlussrunde nach langem Feilschen schlechte und zum Teil ungerechte Ergebnisse erzielt wurden.
({14})
Wir verlangen, dass die Kernfragen im Rahmen der
Regierungskonferenz so behandelt werden, dass wir, das
Parlament, diesen Prozess kritisch begleiten können.
Herr Bundesaußenminister, ich habe eine Bitte: Sie
und der Herr Bundeskanzler sollten sich bei den Verhandlungen und Beratungen - in Ihrem Interesse - immer vor Augen führen, dass Sie für die Ratifizierung der
europäischen Verfassung im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit, also auch die Stimmen von CDU und CSU,
brauchen. Mit anderen Worten: Ohne unsere Stimmen
sind Sie mit diesem Projekt am Ende; in anderen Fragen
sind Sie es sowieso. Ich halte es deswegen für - vorsichtig gesagt - töricht, dass die Regierung die Forderungen,
die die große Mehrheit der Opposition hier stellt, einfach
mit einer gewissen Nichtachtung straft. Ich erinnere an
die Vorschläge, die in unserem Antrag aufgeführt sind,
Stichworte „Daseinsvorsorge“, „Grundwerteverankerung in der Präambel“, „Bezug auf das christliche Erbe
Europas“ und „Verantwortung des Menschen vor Gott“.
({15})
Wir werden im Bundestag darüber sprechen müssen,
wie wir als nationales Parlament die europäische Gesetzgebung in Zukunft begleiten können. Dazu müssen
wir uns etwas einfallen lassen: Wir werden uns Art. 23
des Grundgesetzes vornehmen müssen, wir müssen unsere Beteiligungsrechte ergänzen - sie sind unzureichend beschrieben - und wir müssen, Frau Präsidentin,
darüber nachdenken, wie wir die europäischen Gesetzgebungsprojekte in jeder Sitzungswoche des Deutschen
Bundestages behandeln und begleiten können. Nur wenn
das geschieht, ist eine sinnvolle Kontrolle der Politik auf
der europäischen Ebene durch den Deutschen Bundestag
möglich.
({16})
Der gestern veröffentlichte Fortschrittsbericht der
EU-Kommission über die Beitrittskandidaten zeigt uns,
dass hier noch eine Menge Probleme zu schultern sind.
Interessant ist auch das, was die Kommission über den
Beitrittskandidaten Türkei sagt. Wir nehmen mit Sorge
zur Kenntnis, dass die Kommission die Feststellung vieler Menschenrechtsorganisationen bestätigt, wonach die
Verfassungsreformen in der Türkei oftmals nur auf dem
Papier stehen. Was nach der Verfassung garantiert wird,
wird durch viele Anwendungsvorschriften im Ansatz
eingeschränkt. Zentrale Probleme sind die Rolle des Militärs, die weiterhin bedrückende Folterpraxis und die
Diskriminierung ethnischer Minderheiten, etwa im Hinblick auf die Verwendung der eigenen Sprache. Nicht
zuletzt vor diesem Hintergrund warne ich davor, den
Prozess des Beitritts der Türkei zur EU wie einen Automatismus zu behandeln, sodass irgendwann keine Korrektur mehr möglich ist. Das wäre ein schwerer Fehler.
({17})
Hier ist dazu aufgefordert worden, die Bevölkerung
zu fragen. Wir müssen auch uns fragen, ob die Europäische Union nach dieser großen Erweiterung um zehn
Staaten und damit um 75 Millionen Menschen angesichts unseres heutigen Erkenntnisstands ein Hineinstürzen in die nächste bzw. übernächste Erweiterung verantworten kann. Jeder, der in einem Wahlkreis arbeitet,
jeder, der in der Kommunalpolitik Verantwortung trägt,
weiß, dass wir in Deutschland zurzeit zunehmende Integrationsprobleme haben, gerade im Hinblick auf einen
Teil unserer türkischen Mitbürger.
({18})
Wir wissen, dass die Europäische Union mit einem
solchen Beitritt - vorsichtig formuliert - sehr stark herausgefordert würde. Deswegen ist nach dem heutigen
Stand der politischen Erkenntnis klar, dass die Europäische Union eine solche Erweiterung nicht verkraften
würde. Wir halten daher das Vorgehen der Bundesregierung in Helsinki für falsch, der Türkei den Status eines
offiziellen Kandidaten zu verleihen, ohne die Grundfragen nach den Grenzen Europas, nach dem Ziel Europas
und nach der Handlungs- und Funktionsfähigkeit einer
auf 450 Millionen Bürger erweiterten Gemeinschaft
überhaupt zu prüfen.
({19})
- Ich will dem Kollegen Gloser auf seinen Zwischenruf
antworten. Er hat gefragt, was 1997 war. Verantwortliche Politik ist, dass jeder zu jedem Zeitpunkt prüft, ob
Entscheidungen oder Vorüberlegungen auch nach dem
heutigen Kenntnisstand immer noch richtig sind. Wenn
ich beschlossen habe, vom Dreimeterbrett zu springen,
kann ich doch nicht sagen, wenn ich oben angekommen
feststelle, dass kein Wasser drin ist, dass ich trotzdem
springe, weil ich es einfach beschlossen habe, lieber
Kollege Gloser.
Ich komme zum Schluss.
({20})
Das Jahr 2004 wird als ein europäisches Jahr in die Geschichte eingehen: Verfassung, Erweiterung und, nachdem es ja schon seit einem Vierteljahrhundert DirektPeter Hintze
wahlen zum Europäischen Parlament gibt, Direktwahl
von nunmehr 450 Millionen Bürger in 25 Staaten. Wir
sind uns der historischen Herausforderung bewusst und
werden als Deutscher Bundestag unseren Beitrag dazu
leisten.
Herzlichen Dank.
({21})
Zu einer Kurzintervention erhält der Herr Kollege
Westerwelle das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Hintze, Sie haben am
Anfang Ihrer Rede zu dem Antrag der Freien Demokraten gesagt, wenn man ihm zustimmte, würde eine Bühne
für Sektierer und Randalierer geschaffen. Ich bin jetzt
voller Sorge, denn einer muss ja den bayerischen Ministerpräsidenten verteidigen. Der hat nämlich gesagt
- wörtliches Zitat -: Ich bin dafür, unser Grundgesetz so
zu ändern, dass man über die europäische Verfassung per
Referendum abstimmen kann. - Genau das beantragt
heute die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag.
({0})
Einen weiteren Sektierer und Randalierer möchte ich
hier noch benennen, das ist der Herr Kollege Glos.
({1})
- Ich habe das nicht gesagt. - Der Sektierer und Randalierer Glos sagt also, eine europaweite Volksabstimmung
über die Zukunft des Projekts Europa könne in der Tat
das europäische Bewusstsein stärken und zur erforderlichen Klarheit über den weiteren Weg des Projekts Europa über die künftigen Außengrenzen der EU beitragen.
Wir können jetzt übrigens eine Reihe von weiteren
Sektierern und Randalierern aus den Reihen der geschätzten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU hier zitieren. Herr Singhammer, ein weiterer Sektierer und Randalierer, sagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass
beispielsweise über eine europäische Verfassung in
Frankreich, Dänemark oder anderen europäischen Nachbarstaaten mit Volksentscheid abgestimmt wird und in
Deutschland diese Möglichkeiten ausgeschlossen bleiben.
Das kann man noch weiter fortführen: Noch im Sommer dieses Jahres, Herr Kollege Hintze, plädierte
Edmund Stoiber als Wahlkämpfer in einem langen und
bemerkenswerten Interview in der „Welt“ vom 9. Juli zu
Recht für ein Plebiszit über die europäische Verfassung.
Ich glaube, es täte uns allen gut, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn das, was der CSU-Vorsitzende
und bayerische Ministerpräsident im Sommer dieses
Jahres gesagt hat, nämlich dass das Volk über die Verfassung entscheiden soll, auch noch nach den bayerischen
Landtagswahlen beachtet würde.
({2})
Herr Kollege Hintze, bitte.
Herr Kollege Westerwelle, es hat mich stark beeindruckt, was Sie hier vom bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, von unserem Landesgruppenvorsitzenden
Glos und von anderen von mir hoch geschätzten und klugen Kolleginnen und Kollegen zitiert haben.
({0})
Wenn Sie mir heute zusagen, in allen zentralen politischen Fragen immer der Linie von Herrn Stoiber und
Herrn Glos zu folgen, wäre ich bereit, Ihre Einwendungen noch einmal stärker zu bedenken.
({1})
Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Joschka
Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich nur einen Satz zum Thema Volksabstimmung
sagen. Dieses Thema nehme ich sehr ernst. Ich will es
mir deshalb nicht so einfach machen, zu sagen, dass das
Thema von der FDP während ihrer 29-jährigen Regierungsbeteiligung niedriger gehängt wurde als heute.
Wir haben folgendes große Problem: Wenn ernsthaft
über Europa abgestimmt werden soll, dann müsste die
Entscheidungsalternative auch auf Europa zugespitzt
sein. Das heißt: Solange die Alternative nicht lautet „Ja
zum europäischen Fortschritt oder Verlassen der Union
und damit ein grundsätzliches Nein zum europäischen
Projekt“, werden Sie aus der populistischen Falle und
damit aus einer Beschädigung des europäischen Projektes nur sehr schwer herauskommen.
({0})
Bei dieser Alternative „Ja zur Verfassung oder Austritt aus der Union“ würden wir einen ganz anderen
Wahlkampf im Rahmen eines solchen Referendums führen und ganz andere Mehrheiten bekommen.
({1})
Ich würde das sehr unterstützen. Aber wir sollten die Erfahrungen, die die Iren mit zwei Referenden gemacht haben - Ihr liberaler Parteifreund, der von uns allen sehr
geschätzte Präsident des Europäischen Parlaments Cox,
hat sie uns mitgeteilt -, ernst nehmen.
Wenn man eine ernsthafte Debatte über Europa will,
dann muss man diese Zuspitzung zur Diskussionsgrundlage machen. Mit dieser Zuspitzung bekommen Sie eine
echte Mobilisierung und damit eine repräsentative Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger über die Zukunft
Europas. Solange das nicht der Fall ist, bekommen Sie
Zufallsmehrheiten mit all den Fährnissen, die damit zusammenhängen.
({2})
Ich weiß nicht, ob das gewollt ist. Ich möchte der Debatte nicht vorgreifen. Aber man sollte diesen Punkt bedenken.
Wir dürfen nicht vergessen, dass es zwei wesentliche
Gründe für die jetzige Regierungskonferenz über die
europäische Verfassung gibt. Der erste Grund ist ein
historischer. Es begann 1989 mit dem Fall der Mauer,
dem Abbau von Stacheldraht, dem Untergang des Warschauer Paktes und dem Verschwinden der Sowjetunion.
Es geht schlicht und einfach darum, dass dieses Europa
als ganzes Europa zusammenfindet.
Der 1. Mai des kommenden Jahres wird ein historisches Datum sein. Dann steht nämlich die Erweiterung
der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedstaaten
an. Die meisten von ihnen lagen ehemals hinter dem Eisernen Vorhang, hinter Mauer und Stacheldraht. Dieses
Ereignis halte ich für überaus wichtig. Dieses Datum
verdient wahrhaftig die Bezeichnung „historisch“.
Die Union aus 25 Mitgliedstaaten wird komplizierter
und es werden große Anstrengungen hinsichtlich der Reform der Institutionen und Verfahrensweisen erforderlich sein. Wir versuchen, dass diese Union aus 25 Mitgliedstaaten nicht zu einer Union mit eingeschränkter
Handlungsfähigkeit, sondern zu einem starken europäischen Akteur wird. Wir brauchen dafür die notwendige
Sensibilität, aber auch die Reform der Institutionen und
der Verfahrensweisen.
Der zweite Grund für die jetzt anstehende Regierungskonferenz ist, dass Nizza genau dieses nicht geleistet hat. Ich komme nun auf Ihre Bemerkung zu sprechen,
Kollege Hintze, das Problem der letzten Nacht. Das ist in
Nizza nicht der entscheidende Punkt gewesen. Man hätte
auch lange vorher diskutieren können. Das große Problem war, dass gegen den Widerstand eines wichtigen
Mitgliedstaates der Europäischen Union die doppelte
Mehrheit nicht hinzubekommen war.
Ich unterschreibe das, was Sie hinsichtlich der Bedeutung der doppelten Mehrheit sagen. Ich appelliere
nochmals an alle, zu begreifen, dass die Union in ihrem
doppelten Charakter, nämlich Staatenunion und Bürgerunion, sich in dem Prinzip der doppelten Mehrheit widerspiegelt. Man kann darüber diskutieren, ob eine
Mehrheit von 50 Prozent der Staaten plus einem ausreichend ist. Ich halte diese Grenze für richtig; daran gibt es
auch keine Kritik. Man kann auch darüber diskutieren,
ob eine Mehrheit von 60 Prozent der Bevölkerung ausreichend ist. Das sind meines Erachtens Diskussionen,
die man sehr pragmatisch führen kann.
Ich unterstreiche nochmals: Festhalten am Prinzip
von Nizza bedeutet erstens Festhalten an Intransparenz.
Selbst eine Habilitation auf dem Gebiet des Völkerrechts
und drei Aufbaulehrgänge in Europarecht reichen nicht
aus, die Mehrheitsregel von Nizza so zu kommunizieren,
dass die Menschen sie verstehen.
({3})
Mehrheitsregeln müssen aber verstanden werden. Das ist
ein wesentlicher Punkt in der Demokratie; das ist die Voraussetzung für Transparenz.
Zweitens. In der Entscheidung von Nizza ist ein sehr
komplexer Faktor hinsichtlich der Mehrheit der Bevölkerung enthalten.
Es liegt demgegenüber ein Konventsentwurf vor, den
ich unter allen Gesichtspunkten für fair und ausbalanciert halte. Ich sage das nicht als deutscher Außenminister, sondern als überzeugter Europäer: Das Prinzip der
doppelten Mehrheit ist kein Vorteil für die Großen, im
Gegenteil. Dass jeder Staat eine Stimme hat, hat zur
Konsequenz, dass in einer Union aus 19 kleineren und
sechs großen Mitgliedstaaten die kleinen Länder die
Mehrheit haben. Wenn bei der doppelten Mehrheit auch
die Größe der Bevölkerung mitgewichtet wird, führt das
zu einer Stärkung der Staaten mit einer großen Bevölkerung. Daran erkennt man auch das integrative Element
der doppelten Mehrheit.
({4})
Das ist für mich sehr wichtig, auch in Bezug auf die Kohärenz. Der Hauptwiderspruch im Konvent besteht nicht
zwischen den alten und den neuen Mitgliedstaaten, sondern er besteht zwischen den Interessen der großen und
der kleinen Staaten. Das ist übrigens nicht nur in unserer
Union der Fall, sondern das war bereits 200 Jahre früher
bei der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung so.
Zu den anderen Punkten in aller Kürze. Zum Legislativrat: Ich übermittle Ihnen lediglich als Bote, dass nur
Deutschland, ein wenig unterstützt von Portugal, sich
dafür ausgesprochen hat. Vertreter des Europäischen
Parlaments waren im Raum und machten nicht den Eindruck, als laute die Parole: Legislativrat oder Tod - um
das etwas zugespitzt zu sagen. Das ist die Lage. Die Präsidentschaft wird in den kommenden Tagen oder Wochen entsprechend der Fortschritte der Diskussion einen
weiteren Vorschlag machen. Wie die Umsetzung aussieht, werden wir sehen. Es gilt der Grundsatz: Nichts ist
beschlossen, bevor nicht alles beschlossen ist. Das ist ein
guter europäischer Verhandlungsgrundsatz.
Beim Thema Gottesbezug verstehe ich die Kontroversen überhaupt nicht. Sowohl ich als auch der Bundeskanzler haben nach Gesprächen mit denjenigen, die
meinten, sich für eine weiter gehende Formulierung einsetzen zu müssen, alles Mögliche versucht. Wir haben
immer gesagt, dass wir mit der Formulierung im Grundgesetz hervorragend leben können; sie ist Verfassungspraxis für die unterschiedlichsten Orientierungen bei
uns. Wir müssen aber akzeptieren, dass es Staaten selbst
mit einer starken christlichen Tradition gibt, in deren
Verfassungen die Trennung von Staat und Religion anders festgeschrieben ist als bei uns. Solche Unterschiede
sind Bestandteil der europäischen Realität. Ich sehe da
aber keinen Dissens in der Substanz. Wir werden alles
versuchen, um eine Einigung herbeizuführen. Im urBundesminister Joseph Fischer
sprünglichen Konzept standen die griechisch-römische
Tradition und der Humanismus und die Aufklärung. Dazwischen klaffte eine große Lücke. Sie ist inzwischen
geschlossen worden. Es war sehr mühselig, das zu erreichen. Und selbst jetzt gibt es noch Widerstand gegen die
gewählte Formulierung.
Ich will dem Parlament und der Öffentlichkeit nur
deutlich machen, vor welchen Problemen wir stehen.
Am Ende müssen wir einen Konsens erzielen. Der Bundeskanzler weist völlig zu Recht immer darauf hin - das
ist keine Drohung, sondern zeigt, wessen es bedarf -,
dass sich am Ende alle einigen müssen und das Vertragswerk ratifiziert werden muss. Diese beiden Hürden müssen genommen werden. Das ist die Voraussetzung für
die Verfassung.
Es ist im Übrigen ja nicht so, dass die Bundesregierung alleine darauf hinwirken würde. Wir arbeiten aufs
Engste und ganz hervorragend - das wissen Sie; Kollege
Teufel war ja dabei - mit den Ländervertretern zusammen. Dabei finden die Positionen, die die von Ihrer Partei geführten Länder einbringen, Berücksichtigung.
Auch bei der Daseinsvorsorge bemühen wir uns um die
entsprechende Klarstellung, damit bestehende Sorgen,
vor allen Dingen der Bundesländer, ausgeräumt werden.
Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ein sehr
wichtiger Partner von uns das anders sieht - gar nicht
einmal in der Substanz. Seine Sorge ist, dass, wenn nicht
alles genau festgehalten wird, etwas eintritt, was auch
wir nicht wollen. Das ist das Problem. Aber Ihre Parteivorsitzende hat Ihnen in diesem Zusammenhang ja
schon eigene Erfahrungen übermittelt. Ich nehme an,
auch in einem Gespräch jenseits des Rheins haben Sie
selbst und andere Mitglieder des Ausschusses sich einen
entsprechenden Eindruck verschaffen können.
Die entscheidenden Punkte sind die Stärkung des
Europäischen Parlaments, die Schaffung des Amts eines europäischen Außenministers, die Neudefinition
der qualifizierten Mehrheit - für uns ein zentraler
Punkt - und eine bessere Subsidiaritätskontrolle.
Natürlich wird es noch Anpassungen und einen Feinschliff geben müssen. Ich halte aber nichts davon, das
Paket jetzt wieder aufzuschnüren. Die wesentlichen
Punkte, die für Sie wichtig sind, sind ja enthalten. Ich
denke, alles neu zu verhandeln würde sich als Rohrkrepierer erweisen. Ich glaube auch nicht, dass wir auf der
Regierungskonferenz eine bessere Verfassung erreichen
könnten.
({5})
Bei den Themen Einwanderung und Asyl hat diese
Bundesregierung, wie ich meine, vor allen Dingen was
den Arbeitsmarkt betrifft, mehr erreicht, als wir gedacht
haben. Wir haben hier die notwendige Flexibilität ebenfalls erreicht.
Alles in allem finde ich: Das ist ein gewaltiger Schritt
nach vorne. Der Konvent ist wirklich zu loben. Es ist gelungen, nicht wie in Nizza einen Minimalkonsens, sondern zu 28 ein Ergebnis zu erreichen, von dem ich persönlich glaube, dass wir in den vor uns liegenden zwei
Jahrzehnten kein besseres erzielen werden.
Deswegen meine ich - das ist auch die Haltung der
Bundesregierung -, dass die Verteidigung des Verfassungsentwurfs im europäischen Interesse liegt. Es würde
überhaupt nichts bringen - das haben wir all denen, die das
anders sehen, so gesagt, Kollege Hintze -, wenn wir einen
wesentlichen Teil des Ergebnisses von Nizza in den Verfassungsentwurf einfügen würden. Dann wäre es besser,
bei dem Ergebnis von Nizza zu bleiben, mit der Konsequenz, dass wir große Probleme bekämen. Ich halte nichts
davon, den Entwurf zu verschlimmbessern. Ich bin dafür,
ihn dort zu verbessern, wo neue Konsense existieren, sowie den notwendigen Feinschliff und Detailkorrekturen
vorzunehmen. Aber eine Mischung mit dem Ergebnis von
Nizza, etwa die damals beschlossenen Abstimmungsregeln in den jetzt vorliegenden Entwurf einzufügen, würde
bedeuten, dass wir den Entwurf aufgeben.
Ich sehe nicht, dass wir einen besseren Entwurf erhalten. Der Konvent hat hier eine historische Leistung vollbracht. Ihn zu verbessern unterstütze ich. Ihn zu verteidigen ist unser gemeinsames Interesse und unsere Aufgabe.
Das ist die Linie der Bundesregierung in der Regierungskonferenz. Ich bin optimistisch, dass wir uns am Ende auf
einen sehr vernünftigen Konsens einigen werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns ist es wirklich sehr ernst mit unserem Vorschlag, einen Volksentscheid über die europäische Verfassung herbeizuführen. Wir wollen uns damit einer offenen und
ehrlichen Debatte stellen mit dem Ziel, die Bürgerinnen
und Bürger von dem Mehrwert einer europäischen Verfassung für sie persönlich zu überzeugen.
({0})
Wir befinden uns in guter Gesellschaft. Denn schon
1984 hat der italienische Europaabgeordnete Spinelli in
seinem vom Europäischen Parlament verabschiedeten
Verfassungsentwurf zur Gründung der Europäischen
Union die Zustimmung der Bevölkerung in einem Referendum zur Bedingung für die Annahme der Verfassung
gemacht. Unser Vorschlag ist also kein Gedanke, der
erstmals - vielleicht aus taktischen Überlegungen - vorgebracht wird. Nein, dies ist ein wirklich demokratiepolitisches Anliegen. Es hat uns als diejenigen, die immer
sehr vorsichtig und sehr differenziert mit plebiszitären
Elementen in unserer Verfassung umgehen, dazu gebracht, einen Volksentscheid über diese grundlegende
Frage einzufordern.
({1})
Wir sind in guter Gesellschaft, wenn ich mir die Haltung überzeugter Europäer anschaue. Cohn-Bendit hat
klar gefordert, gleichzeitig in allen europäischen Mitgliedstaaten ein Referendum über die europäische Verfassung durchzuführen - und dies nicht verbunden mit
der Alternative, ob man aus der Europäischen Union
ausscheiden wolle, also ohne zu selektieren. Auch er
sagt: Wenn wir angesichts dieses Qualitätssprungs die
Bürgerinnen und Bürger nicht von dem überzeugen, was
jetzt auf sie zukommt, was sie von Europa erwarten können und wie man mit diesem Europa leben kann, dann
werden wir sie auch für die Wertegemeinschaft Europa
nicht begeistern können.
Darum geht es uns. Wir wollen doch nicht - das würden wir nicht unterstützen - Populisten Vorschub leisten.
Wir wollen vielmehr, dass möglichst viele gemeinsam
für Europa werben. Heute bestünde die Chance, Sonntagsreden aus den vergangenen Wochen und Monaten
überzeugende, glaubwürdige Taten folgen zu lassen.
({2})
Ich bedauere - ich hoffe, wir haben hier bald vollere
Ränge -, dass das heute leider nicht der Fall sein wird.
Das gilt gerade auch für diejenigen in der SPD und unter
den Grünen, die immer überzeugtere Vorkämpfer für
plebiszitäre Elemente waren als manch andere in diesem
Haus.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Winkler?
Gern.
Bitte.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben uns gerade angesprochen. Sind Sie bereit anzuerkennen, dass die FDP in der letzten Wahlperiode, wenn es
um Volksentscheide ging, keine geschlossene Auffassung hatte? Im Gegenteil, viele Abgeordnete Ihrer Fraktion - Sie nicht - haben den Gesetzentwurf der Bundesregierung abgelehnt. Damit haben Sie nicht dazu
beigetragen, dass die direkte Demokratie, der Sie jetzt
das Wort reden, vorangebracht wurde.
Sind Sie weiterhin bereit, mir darin zuzustimmen,
dass der Sinn einer Volksabstimmung darin besteht, dass
das Volk selbst entscheiden kann, worüber es abstimmen
will, und nicht von Ihnen mütterlich vorgelegt bekommen will, über was es befinden und an welchen Entscheidungen es direkt beteiligt werden soll?
Zunächst einmal ist es Voraussetzung für eine Volksabstimmung, dass etwas vorgelegt wird, worüber abgestimmt werden soll. Anders geht es nicht.
({0})
Man kann auch Alternativen vorlegen, aber hierbei handelt es sich um ein klassisches Element eines Volksentscheids.
Ich habe klar gesagt, dass wir angesichts unserer
Wertschätzung der repräsentativen Demokratie sehr differenziert und zurückhaltend mit plebiszitären Elementen umgegangen sind. Als es um die generelle Einführung ging, hatten wir zwar eine einstimmige Haltung,
aber auch ein unterschiedliches Meinungsbild zur Volksinitiative. Das ehrt uns und zeichnet die ehrliche Debatte
und das Ringen um die Antwort auf die Frage aus, ob
wir inhaltlich unbegrenzt Volksentscheide und Volksabstimmungen in unser Grundgesetz aufnehmen wollen.
Deshalb muss man auch die richtigen Gelegenheiten suchen und nutzen, um schrittweise für dieses Element zu
werben. Wir tun das jetzt mit unserem vorgelegten Gesetzentwurf.
({1})
Auch wenn die Abstimmung heute wider Erwarten
nicht die Zweidrittelmehrheit für unseren Gesetzentwurf
bringen sollte, werden wir nicht aufhören, dafür zu werben. Vielleicht werden - so verstehe ich manche Äußerungen - Anfang nächsten Jahres, wenn der Entwurf ein
Beschluss wird, die Verfassung von der Regierungskonferenz beschlossen worden ist, mit einem Mal viele sagen, jetzt trauen wir uns doch, jetzt wollen wir uns diesem Vorhaben anschließen. Dann werden wir die Ersten
sein, die mit Sicherheit damit argumentieren. Wir wollen
dazu beitragen - dem dient auch die engagierte Debatte
heute -, dass es dieses Mehr an Demokratie in Europa
gibt.
Wir sind in Sorge - diese Sorge teilen wir mit vielen
in diesem Haus - über die Anzeichen in der Regierungskonferenz, die darauf hindeuten, dass das Europäische
Parlament nicht so stark sein soll, wie es in diesem Entwurf vorgesehen ist; es sollen eher Abstriche gemacht
werden. Die Debatte über den Legislativrat gibt ebenso
Anlass zur Besorgnis. Die Finanzminister diskutieren
nach dem Motto: Europäische Parlamentarier können
nicht mit Geld umgehen, deswegen muss ihnen das Letztentscheidungsrecht genommen werden.
Wir wollen keine Abstriche von dem, was für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier in Europa erreicht
worden ist - es war Gott sei Dank mehr als in Nizza -,
machen. Dafür kann man gut werben, und zwar erst
recht mit einem Volksentscheid. Ich gehe davon aus,
dass diese Essentials gerade auch von den Vertretern der
deutschen Regierung in der Regierungskonferenz nicht
angetastet werden und letztendlich mit Sicherheit ein
Entwurf beschlossen wird - dafür plädieren wir -, der
das Parlament stärkt, der nicht renationalisiert und den
Ministerrat mit den nationalen Egoismen, die dort vorherrschen, nicht noch weiter stärkt, der aber dazu führen
wird, das Vertrauen in die stabile Währung zu festigen.
Deshalb, Herr Minister, ist es ganz einfach - wenn
auch nur technisch -, in den nächsten Sitzungen endlich
das Protokoll zum Stabilitätspakt an den VerfassungsentSabine Leutheusser-Schnarrenberger
wurf anzuhängen, damit nicht das Misstrauen weiter
wächst, man wolle auf kaltem Wege den Stabilitätspakt
entsorgen; denn das wäre ein falsches Zeichen für Europa.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Hans Martin
Bury.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Europa steht vor zwei zentralen Herausforderungen: Wir müssen vor dem Hintergrund der größten
Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union
einen politischen Aufbruch schaffen, der die Handlungsfähigkeit der EU stärkt und die Akzeptanz der europäischen Institutionen bei den Bürgerinnen und Bürger verbessert. Wir müssen die ökonomische Stagnation in
Europa überwinden.
Wir stehen unmittelbar vor der Wiedervereinigung
Europas. Um nicht weniger geht es mit dem Beitritt der
mittel- und osteuropäischen Staaten zum 1. Mai des
nächsten Jahres. Es wäre schön, wenn dieses historische
Moment in dieser Debatte mitunter etwas spürbarer
würde. Ich sage das auch mit Blick auf die Delegation
des tschechischen Parlaments, die uns diese Woche besucht.
Die mittel- und osteuropäischen Staaten bringen ihre
ganz eigenen Erfahrungen in das erweiterte Europa ein,
auch die Erfahrung, nationale Souveränität erst vor wenigen Jahren wiedererlangt zu haben. Das bedeutet, dass
sich viele von ihnen schwerer damit tun, Souveränität
auf die europäische Ebene zu übertragen. Wir müssen
deutlich machen - auch aus unserer Erfahrung heraus -,
dass das Poolen von Souveränität, dass das Bündeln nationaler Souveränitäten ein Mehr an politischen Gestaltungsmöglichkeiten bedeutet und nicht ein Weniger.
Die EU der 25 mit 450 Millionen Einwohnern, die ein
Viertel des Bruttosozialprodukts weltweit erwirtschaften, kann ein Global Player sein. Wir kommen gar nicht
umhin, unsere gewachsene Verantwortung wahrzunehmen. Wir können dabei, auf ein sich bildendes europäisches Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger über alle
nationale Grenzen hinweg aufbauen. Voraussetzung dafür, dass wir diese stärkere Rolle mit Erfolg wahrnehmen, ist aber, dass wir jetzt die überfälligen institutionellen Reformen schaffen,
({0})
dass mit der Erweiterung der EU die Vertiefung, weitere
Integrationsfortschritte vonstatten gehen; sonst liefe die
EU Gefahr, nicht viel mehr als ein erweiterter Binnenmarkt zu sein.
Dieses Europa, diese Europäische Union ist aber viel
mehr als ein Markt: eine Gemeinschaft gemeinsamer
Ziele und Werte. Die Verfassung gibt uns die Möglichkeit, die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit
diesem Europa zu stärken, die demokratische Legitimation ihrer Institutionen zu verbessern, die Transparenz
der Entscheidungsprozesse zu erhöhen und damit die
Bürgernähe, die Akzeptanz der EU bei den Bürgerinnen
und Bürger zu stärken.
Der Konvent zur Zukunft Europas - das ist in der Debatte deutlich geworden - hat mit seinem Verfassungsentwurf einen großen Integrationsfortschritt für Europa
möglich gemacht. Ich finde - ich sage das auch an die
Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU -, wir können selbstbewusst mit diesem Konventsergebnis umgehen. Einige von Ihnen, der Kollege Teufel,
der Kollege Altmaier, der Kollege Brok, haben neben anderen dazu beigetragen, dass der Konvent zu diesem Ergebnis gekommen ist, dass es uns gelungen ist, wichtige
Forderungen dort konsensfähig zu machen.
Nun weiß ich auch um die Auseinandersetzungen innerhalb der Union. CSU und CDU haben für diese Debatte einen Wunschzettel präsentiert. Vor Weihnachten
darf man Wunschzettel schreiben. Aber wenn alle nur
Wunschzettel präsentieren, fällt am Ende die Bescherung aus.
({1})
Die Summe von nationalen Interessen, die Summe
von Partikularinteressen ergibt noch kein Gemeinschaftsinteresse. Es zeigt sich im Verlauf der Beratungen
der Regierungskonferenz, wie richtig und wichtig es ist,
das Paket zusammenzuhalten, an dem Prinzip festzuhalten, dass derjenige, der den Kompromiss infrage stellt,
die Verantwortung dafür trägt, einen neuen Konsens herbeizuführen. Wir müssen der Gefahr begegnen, die
Michael Roth beschrieben hat: dass Regierungskonferenzen, wie wir es in der Vergangenheit schmerzhaft erlebt haben, in ihren Verhandlungsprozessen am Ende
nicht viel mehr erzielen als den kleinsten gemeinsamen
Nenner. Das wäre zu wenig angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, und das wäre weit weniger
als der gute Kompromiss, den der Konvent erzielt hat.
({2})
Nun versucht sich die FDP mit der Forderung nach einem Referendum in dieser Debatte zu profilieren. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sozialdemokraten wissen in
diesen Tagen, dass es mitunter schwer ist, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Aber noch schwieriger
ist es - das sehen wir an der FDP -, wenn man nichts zu
sagen hat
({3})
und dann auf die Idee kommt, das Volk zu fragen.
Ich habe nichts dagegen, über Elemente direkter Demokratie zu diskutieren. Wir haben im Entwurf der europäischen Verfassung, den der Konvent vorgelegt hat, im
Übrigen nicht zuletzt dank des Engagements des Kollegen Jürgen Meyer ein solches Element der Volksinitiative verankert.
({4})
SPD und Grüne haben in diesem Haus mehrfach Initiativen ergriffen, um Elemente direkter Demokratie auch in
der deutschen Verfassung zu verankern.
({5})
Das ist aber an der fehlenden Zweidrittelmehrheit gescheitert, die uns die rechte Seite dieses Hauses verweigert hat.
Wer jetzt speziell bei der Einführung einer europäischen Verfassung ein Referendum fordert, der hat entweder wenig hehre Absichten - das möchte ich Ihnen ausdrücklich nicht unterstellen - oder der verkennt, welche
Wirkungen das auf die anderen europäischen Staaten
und damit auf die Verhandlungen in der Regierungskonferenz hätte. Wenn wir heute diese Entscheidung treffen
würden, würde das nationale und Partikularinteressen
stärken, die Spielräume unserer Partner in der Regierungskonferenz enger machen und nicht dazu beitragen,
ein gutes europäisches Ergebnis zu erzielen.
Pat Cox, der Präsident des Europäischen Parlaments,
der in dieser Woche den Bundestag besucht hat, hat
deutlich gemacht, dass die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament die ersten wirklichen europäischen
Wahlen sein könnten. Lassen Sie uns deshalb daran arbeiten, die europäische Verfassung rechtzeitig vor diesen
Wahlen fertig zu stellen und den Bürgerinnen und Bürgern vorzulegen! Lassen Sie uns mit europapolitischen
Inhalten Wahlkampf machen, anstatt mit dem Guidomobil durchs Land zu fahren!
({6})
- Herr Westerwelle, dass Sie nicht gerne daran erinnert
werden wollen, kann ich verstehen. - Ich würde mich
darauf freuen, wenn wir im Europawahlkampf argumentative Auseinandersetzungen miteinander führen könnten.
Ein weiterer Aspekt betrifft den dringend notwendigen ökonomischen Aufbruch. Deutschland als die größte
Volkswirtschaft in der Europäischen Union trägt dabei
eine besondere Verantwortung. 1 Prozent mehr Wirtschaftswachstum in Deutschland bedeutet angesichts
der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen
0,3 und 1,8 Prozent mehr Wachstum in den anderen
europäischen Mitgliedstaaten. Wir brauchen deshalb einen Dreiklang von strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen, wie
wir sie mit der Agenda 2010 auf den Weg gebracht haben. Wir müssen die Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte mittelfristig fortsetzen. Dabei gilt es allerdings, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu beachten.
({7})
Denn wer nur das eine Ziel im Auge hat, der wird beide
Ziele verfehlen.
Nur wenn es uns gelingt, wieder Wachstum zu initiieren, werden wir an die erfolgreiche Konsolidierung zu
Beginn der vergangenen Legislaturperiode anknüpfen
können.
({8})
Deshalb müssen wir die erforderlichen Wachstumsimpulse geben. Hierzu zählt zum Beispiel die Steuersenkung, die Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU
und FDP, den Bürgerinnen und Bürgern und dem Mittelstand in Deutschland nicht länger verweigern sollten.
({9})
Wir brauchen darüber hinaus eine europäische
Wachstumsinitiative, für die wir gemeinsam mit unseren
französischen Freunden Vorschläge gemacht haben.
Diese zielen darauf ab, insbesondere in die Bereiche Bildung sowie Forschung und Entwicklung, also in Köpfe
und Können zu investieren und weniger in Beton und
Boden, um die strukturellen Voraussetzungen dafür zu
schaffen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit Europas
verbessert, die Wachstumskräfte gestärkt werden und
mehr Beschäftigung in Europa entsteht.
Lassen Sie uns, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam daran
arbeiten! Lassen Sie uns unsere europäische Verantwortung wahrnehmen! Lassen Sie uns für ein starkes
Deutschland in einem einigen Europa aber auch die notwendigen Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen
und durchsetzen!
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte zu der Frage sprechen - das ist eine
Verfassungsfrage -, ob wir das Grundgesetz ändern und
die Möglichkeit, Volksentscheide durchzuführen, in das
Grundgesetz aufnehmen sollen. Diese Frage ist keine
Einzelfrage, sondern eine Grundsatzfrage.
Aus diesem Grund kann man Ihre Position nicht aufrechterhalten. Sie sagen, im Allgemeinen seien Sie nicht
für Volksentscheide bzw. Sie hätten zumindest keine geschlossene Position in dieser Frage, aber an dieser Stelle
beliebe es der Politik, großzügig zu sein, und Sie wollten
die Bevölkerung fragen. So kann man es nicht machen.
({0})
Man befürwortet Volksabstimmungen doch nicht, um
den Instrumentenkasten der Parteien um ein weiteres
Element zu bereichern. Das sind doch Instrumente in
den Händen der Bürger und nicht in denen der Parteien.
({1})
- Ich freue mich über Ihre Zustimmung. Daraus folgt
aber auch ein Widerspruch aufseiten der Koalition.
Erstens. Anders, als es der Bundesaußenminister eben
gesagt hat, können die Parteien nicht sagen, dass ihnen
die Frage, die gestellt wird, zu dumm ist. Die Autonomie
der Fragestellung wird dann bei den Bürgern liegen.
Auch das ist eine Folge, wenn das Instrument in den
Händen der Bürger liegt.
Zweitens. So wenig man im Allgemeinen dagegen
und in einem Einzelfall dafür sein kann, ist es intellektuell und politisch doch redlich, zu sagen, dass man zwar
im Allgemeinen dafür ist, es einem aber an einer bestimmen Stelle nicht passt.
({2})
Herr Kollege Hintze hat völlig Recht: Die einzige in
der Sache konsequente, weil von Parteitaktik freie Position in dieser Frage hat die CDU/CSU-Fraktion.
({3})
- Genauso ist es. - Ich bedauere daher Ihre Position.
Ich gebe Herrn Bundesaußenminister Fischer Recht,
der sagt, dass es sich um eine sehr ernste Debatte handelt.
Es geht nämlich um unsere Demokratie und um die Frage
- über diese wird möglicherweise gerne gestritten -, was
die bessere Demokratie ist. Die parteitaktische Motivation sowohl an dieser als auch an anderer Stelle belastet
die Debatte über diese Fragen.
({4})
- Ja, das ist wirklich keine parteitaktische Position; denn
populär ist die andere Position. Unsere Position ist verantwortlich. Wir vertreten sie unter Inkaufnahme parteipolitischer Nachteile. Das ist die Position der CDU/
CSU.
({5})
Ich bedauere darum ausdrücklich, gegenüber der FDP
feststellen zu müssen, dass der „Spiegel“ Recht hat. Er
schreibt in dieser Woche, der FDP und ihrem Vorsitzenden Westerwelle gehe es darum, sich populär zu machen.
Nach meiner Einschätzung kann man es auch anders formulieren: Die FDP will in Wahrheit gar keine Volksabstimmung, sondern ein Wahlkampfthema. Meine Wertschätzung für viele Kolleginnen und Kollegen Ihrer
Fraktion ist groß. Sie wären jedoch geradezu erschrocken, wenn Ihr Gesetzentwurf eine Mehrheit in diesem
Bundestag finden würde; denn Sie wollen im Ergebnis
gar keine Zustimmung, Sie wollen, dass die anderen dagegen sind, um werben zu können. Das ist Ihre wahre
Position. Das können wir nicht unterstützen.
({6})
Ich möchte zur Grundsatzfrage kommen und an Sie
appellieren und zumindest für Ihre Einsicht werben: Wir
alle - als Parteien und als Parlament - werden am Ende
Gewinner sein, wenn wir über die Grundsatzfrage, was
die bessere Demokratie ist - die parlamentarisch-repräsentative oder die parlamentarisch-repräsentative mit
plebiszitären Elementen -, vernünftig debattieren und
sie schließlich, egal wie, beantworten. Dagegen werden
wir alle Verlierer sein, wenn wir selbst über die Grundsatzfragen der Demokratie und unserer Verfassung immer mit parteitaktischer Motivation debattieren.
Was ist also unsere Position bei der Frage, was die
bessere Demokratie ist? Ich sage in jeder Debatte und
wiederhole es gerne, dass es Richard von Weizsäcker mit
seiner Bewertung auf den Punkt gebracht hat: „Die Bevölkerung ist zu groß und die Probleme sind zu komplex.“ Das ist in einem Satz zusammengefasst die Bewertung, dass die plebiszitäre Demokratie nicht nur
nicht realistisch, sondern auch nicht die bessere Demokratie ist. Die parlamentarische Demokratie ist die
bessere und überlegenere Form der Demokratie. Dafür
möchte ich drei Argumente vortragen.
Erstens. Die plebiszitäre Demokratie reduziert die
Fragestellung und die Politik auf eine Ja-Nein-Alternative. Das parlamentarische Verfahren ist ein lernendes
Verfahren. Wir führen mehrere Lesungen durch.
({7})
- Ich gebe zu, dass die Lernbereitschaft der jetzigen
Koalition nicht sehr ausgeprägt ist. ({8})
Sie müssen einräumen, dass das Gesetzgebungsverfahren diesen institutionellen Vorteil hat. Sie hätten mehr
Möglichkeiten, zu lernen; ich gebe es gerne zu. Daneben
führen wir Sachverständigenanhörungen durch.
({9})
- Zum Verfahren gehört auch, zuhören zu können. - Das
Verfahren ist auf Rationalität angelegt. Wir sind in der
Lage, zu korrigieren. Die wenigsten Gesetze kommen im
Bundestag am Ende so heraus, wie sie eingebracht worden sind. Das parlamentarische Verfahren ist also ein lernendes Verfahren.
Pat Cox, der schon viel zitierte liberale Präsident des
Europäischen Parlaments, war in allen Fraktionen und
hat seine Ablehnung eines Volksentscheids nicht mit der
Verfassungstheorie, sondern mit seinen Erfahrungen begründet. Er hat gesagt, die Erfahrung zeigt, dass es bei
diesen Abstimmungen um alles geht, nur nicht um die
Frage, die gestellt worden ist. Darauf hat der Kollege
Hintze ebenfalls hingewiesen. Es würde über die aktuelle Verdrussstimmung im Land gegen diese Regierung
debattiert werden, es würde die Politikverdrossenheit
zum Ausdruck kommen. Das können auch Sie nicht wollen. Ich stelle wirklich die Frage: Was sagt HansDietrich Genscher dazu, dass Sie die Europapolitik, die
europäische Verfassung, die europäische Integration zur
Geisel parteipolitischer Überlegungen machen?
({10})
Denn die Suppe von schlechter Regierungspolitik könnte
Auswirkungen auf die europäische Integration haben.
Das wollen wir nicht, weil wir für Europa sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hoyer?
Sehr gerne.
Die Zwischenfrage kann ich natürlich auch gleich mit
der Antwort verbinden.
Ich würde das bevorzugen.
Hans-Dietrich Genscher würde es niemals zulassen,
diesen Vorwurf der parteipolitischen Instrumentalisierung unkommentiert zu lassen, weil er ihn für abwegig
halten würde und weil er sehr genau zu differenzieren
weiß zwischen einer Legitimation durch das Volk für die
konstitutionelle Grundlegung all dessen, was wir anschließend in der repräsentativen Demokratie in Parlamenten entscheiden, und einer Vorstellung, nach der wir
alles und jedes nach dem Belieben der Parteien, wie Sie
gesagt haben, dem Volksentscheid unterwerfen.
Gemeldet habe ich mich aber wegen des Bezuges auf
Pat Cox. Er hat seine Erfahrungen in der Tat sehr wortreich dargestellt. Aber ist Ihnen möglicherweise auch
aufgefallen, dass Herr Cox gesagt hat: Das erste Referendum in Irland ist in 42 von 44 Counties schief gegangen, weil die politische Klasse es für selbstverständlich
gehalten hat, dass das Volk wieder einmal Ja sagt! Als
man dann die Quittung für diese Untätigkeit bekommen
und sich beim zweiten Mal richtig reingehängt hat - wie
wir das auch endlich tun müssten -, ist eine klare Mehrheit auch für die Verfassung zustande gekommen, wiederum in 42 von 44 Counties.
({0})
Ich hoffe, dass Pat Cox auch in Ihrer Fraktion über
das Plakat berichtet hat, das er gesehen und als Beispiel
dafür verwendet hat, wie Stimmung gemacht worden ist
zu einem ganz anderen, in der Bevölkerung virulenten,
heiß diskutierten Thema, das aber überhaupt nichts mit
der Abstimmung über Europa zu tun hatte, sondern geradezu ein erschütterndes Beispiel für die Erfahrung war,
dass eine solche Volksabstimmung eben nicht genutzt
wird, um eine Sachfrage rational, vernünftig abzuwägen
und darüber zu diskutieren. Die Frage, wie ist das institutionelle Verhältnis zwischen Kommission, Parlament
und Rat, war es nicht, was die Bevölkerung zur Ekstase
getrieben hat, sondern es wurden ganz andere Themen
bei dieser Volksabstimmung instrumentalisiert. Das hat
er uns berichtet und diese Erfahrung ist ein Grund dafür,
warum wir gegen eine solche Volksabstimmung sind und
warum die europäische Integration der Leidtragende politischer Fehler der aktuellen Regierung wäre.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Sehr gern.
({0})
Das ist dann aber die letzte.
Ich mache es wirklich kurz. Ist es dann nicht gerade
die Chance der verantwortlichen Parlamentarier und Politiker, den Populisten offen und entschlossen entgegenzutreten und gegen solche Werbung anzutreten, statt
schlicht diesen populistischen Sturm über die Parlamentarier und die Politik hinwegfegen zu lassen?
({0})
Da wir uns ein bisschen kennen, hoffe ich, dass Sie
mir abnehmen, wenn ich sage: Es ist genau die ethische
Herausforderung der Politik, dass wir dies tun, gerade
auch in schwierigen Zeiten; übrigens nicht nur an dieser
Stelle. Das ist unsere Aufgabe als Parlamentarier, als
Parlament insgesamt. Vielleicht werden wir ihr insgesamt nicht gerecht. Das mag auch ein Grund dafür sein,
dass die Themen, über die wir tagaus, tagein reden, alle
älter als zehn Jahre sind. Vielleicht gehört diese mangelnde Bereitschaft auch zum Versagen aktueller Politik.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Parlament diese Mängel nicht durch plebiszitäre Instrumente
gutmachen können. Vielmehr müssen wir als Parlament
besser werden und unsere Aufgabe ernster nehmen, Populismus entgegenzutreten, statt geradezu Einladungen
für Populisten auszusprechen. Das ist Ihr Vorschlag im
Ergebnis, meine Damen und Herren,
({0})
Es wäre eine Einladung für die Populisten und nicht ein
Eintreten gegen Populismus.
Zweitens. Ich will noch kurz die Grundsatzbedenken
auflisten, warum wir gegen plebiszitäre Elemente sind.
Sie wissen, dass Sie sich ganz kurz fassen müssen.
Ich habe noch 30 Sekunden Redezeit. Besten Dank
für den präventiven Hinweis! Ich werde mich kurz fassen. - Ein Plebiszit ist kein Instrument des kleinen Mannes. Der hat nämlich nicht die Möglichkeiten - damit
wird ja geworben -, so etwas durchzuführen. Es ist vielmehr das Verhinderungsinstrument großer finanzstarker
Organisationen. Plebiszite sind in aller Regel keine Gestaltungsinstrumente, sondern Verhinderungsinstrumente.
({0})
Außerdem bedeutet plebiszitäre Demokratie im
Grunde Minderheitendemokratie. Es ist ein Quorum
von 25 Prozent vorgesehen. Bei der Bundestagswahl
kann sich das Parlament auf eine Legitimation von
80 Prozent stützen.
({1})
Ein Plebiszit ist der typische Fall einer Minderheitenbeteiligung. Diese haben Sie sogar rechtlich durch ein
Quorum von nur 25 Prozent aufgegriffen. Das ist eine
geringere Form von Legitimation, als wir sie in der
Breite der parlamentarischen Legitimation bei den Bundestagswahlen von 80 Prozent haben.
({2})
Mein Schlusssatz - damit bin ich am Ende meiner
Rede - ist: Wir als CDU/CSU stehen zur parlamentarischen Demokratie als der bewährten und überlegenen
Form der Demokratie. Unsere Bitte an alle anderen
Fraktionen ist, dieses Thema in Zukunft seriös und sachlich zu debattieren und es nicht parteipolitisch zu instrumentalisieren. Damit täten wir uns allen einen großen
Gefallen.
Herzlichen Dank.
({3})
- Das sage ich auch Herrn Stoiber.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder
Steenblock.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Dr. Röttgen sehr dankbar dafür,
dass er hier eine sehr klare Analyse des Problems der direkten Demokratie vorgenommen hat, der ich in weiten
Teilen zustimme. Wir ziehen daraus jedoch völlig unterschiedliche Konsequenzen; denn ich komme zu völlig
anderen Ergebnissen.
Ein Ergebnis steht aber schon heute fest: Der Antrag,
den die FDP vorgelegt hat, hat nichts mit dem Bemühen
um Einführung von direkter Demokratie in Deutschland
zu tun, sondern dies ist ein Showantrag, mit dem auf unernste Weise Wahlkampf gemacht werden soll. Mit diesem Thema darf man jedoch nicht nachlässig umgehen.
Dies gilt besonders vor dem Hintergrund Ihrer Vergangenheit in dieser Frage.
({0})
Einen solchen Umgang werden wir nicht mitmachen.
Das Thema direkte Demokratie ist für uns viel zu ernsthaft, als dass wir es in dieser Debatte von Ihnen zerreden
lassen würden. Zwischen dem Kollegen Hintze und mir
besteht ein großer Dissens. Er hat sich zum Teil darüber
lustig gemacht, dass mit direkter Demokratie eine Plattform für Sektierer und Randalierer geschaffen wird. Wer
so mit den Rechten der Menschen in diesem Lande umgeht, die wir in unseren Sonntagsreden so häufig als
mündige Bürger darstellen,
({1})
der sollte darauf vertrauen, dass die Bürger in der Lage
sind, sich zu solchen Sachverhalten in Abstimmungen zu
äußern. Das verstehen wir unter direkter Demokratie.
Auch wir wollen den Menschen dieses Recht geben.
({2})
Wir wollen die repräsentative Demokratie dadurch nicht
ablösen, aber wir wollen diese Instrumente der direkten
Mitwirkung von Menschen in diesem Land stärken. Ich
glaube, dass wir der Demokratie und der Akzeptanz
auch dieses Parlamentes einen großen Gefallen tun,
wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes
dahin gehend vertrauen, dass sie rationalen Argumenten
zugänglich sind.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, man
muss sich einmal den politischen und strategischen Hintergrund ansehen, vor dem diese Europadebatte von Ihnen geführt wird. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 19. Oktober stand - ich zitiere -, dass
die FDP gegen den vorliegenden EU-Verfassungsentwurf mobilisieren werde, weil er wirtschafts- und finanzpolitisch zu weit von den Maastricht-Kriterien entfernt sei.
({4})
Diese Aussage ist nicht nur in der Sache falsch. Verknüpft mit einer anderen Aussage aus diesem Artikel
wird manches deutlich. Weiterhin heißt es hier, dass die
FDP mit dem Thema Korruptionsvorwürfe gegen EUPolitiker in den Wahlkampf ziehen wolle. Ich frage
mich, welcher Geist bzw. welcher Ungeist eigentlich in
die Köpfe der Liberalen eingezogen ist.
({5})
Herr Kollege Steenblock, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Ja.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Zitat, das Sie vorgelesen haben, falsch ist
und dass dies nicht die Haltung der Freien Demokraten
als Partei oder Fraktion ist? Vielmehr ist unsere Haltung
so, wie sie der Kollege Hoyer und Frau Kollegin
Schnarrenberger hier wiedergegeben haben.
Lieber Kollege Westerwelle, wenn Sie das hier so
darstellen, nehme ich das als die Position Ihrer Fraktion
mit freudiger Erregung zur Kenntnis.
({0})
- Lieber Kollege Westerwelle, in freudige Erregung dürfen Sie mich gerne versetzen.
Was in dieser Zeitung dargestellt wurde, war nicht die
Meinung der Fraktion, sondern die Meinung der FDP.
Wenn Sie das heute korrigieren, dann werden wir diesen
Prozess weiterhin sehr genau beobachten. Denn wir haben bei vielen liberalen Parteien in Europa diesen Trend
zum Rechtspopulismus gesehen. Wir kennen das aus einer Reihe von Wahlkämpfen. Sie haben ja einen nicht
besonders inhaltlichen und erfolgreichen hinter sich.
Wenn wir die FDP aus ihrer innenpolitischen Bedeutungslosigkeit auf dem Weg zum Rechtspopulismus erleben, dann werden wir massiv dagegenhalten. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({1})
All das, was wir heute gehört haben, zeugt davon, dass
Sie eine populistische Auseinandersetzung anstreben
und keine in der Sache.
({2})
Auch Herr Kollege Röttgen hat von der Gefahr des Populismus gesprochen.
Ich würde gerne noch einmal zur europäischen Verfassung zurückkommen. Lieber Kollege Hintze, Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir in einem sehr verantwortungsvollen Prozess sind, um die Mehrheit in Europa
für einen Verfassungsentwurf zusammenzubekommen,
der sich am Konvent orientiert. Sie wissen sehr genau,
dass die Annahme dieser Verfassung und die Qualität
dieser Verfassung auch etwas mit der Erweiterung Europas zu tun hat, die wir alle wollen. Deshalb bin ich zutiefst davon überzeugt, dass alles vermieden werden
muss, was diesen Prozess schwächt, was auch nur im
Ansatz an Populismus erinnert und was die Auseinandersetzung um Inhalte in diesem Prozess, in dem die
Bundesregierung sehr verantwortlich agiert, stört.
Wir haben eine ganze Reihe von Forderungen.
Michael Roth hat das am Anfang schon deutlich gemacht. Es ist nicht das Problem, dass auch wir Forderungen stellen könnten. Wir müssen den Laden zusammenhalten, um das einmal ein bisschen lax auszudrücken,
wenn wir Erfolg haben wollen. Mit der Neueröffnung
dieser Diskussion würde es Ihnen ergehen wie Goethes
Zauberlehrling. Wenn Sie das Paket aufschnüren, werden Sie von einer Flut von Änderungsanträgen überspült
werden, der Sie sich nicht mehr erwehren können.
({3})
Sie sagen, Sie wollen das nicht, aber Sie werden erreichen, dass wir eine Regierungskonferenz in der Qualität
derjenigen von Nizza haben. Darauf werden wir uns
nicht einlassen. Wir werden die Detaildebatten nicht führen, und zwar mit dem Argument, dass wir uns das Konventsergebnis, das Ergebnis, das Parlamentarier aus ganz
Europa in ihrer Verantwortung erzielt haben und für das
wir kämpfen, nicht zerreden lassen. Verantwortung übernehmen heißt an dieser Stelle, den Laden zusammenzuhalten. Dazu wünsche ich mir Ihre Unterstützung und
nicht Querschüsse aus Ihren Reihen, um dieses Projekt,
das so wichtig für unsere Zukunft ist, nicht zu gefährden.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunther
Krichbaum.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Steenblock, wenn es heute
noch eines Beweises bedurft hätte, wie widersprüchlich
diese grüne Partei in sich ist, dann musste man nur Ihren
Ausführungen zuhören.
({0})
Lassen Sie mich aber ein anderes Thema aufgreifen.
Wenn man die Ausführungen der Minister Fischer und
Bury heute Morgen hörte, dann könnte man der Meinung sein, dass alles in bester Ordnung ist. Doch das
krasse Gegenteil ist der Fall. Insbesondere was die Einhaltung und die Pflege des Stabilitätspaktes angeht,
bietet die Bundesregierung ein Bild, das verheerend ist.
Vorgestern tagten die EU-Finanzminister und berieten
über den Vorschlag der Kommission, gegen Frankreich
wegen des hohen Haushaltsdefizites entsprechende
Maßnahmen einzuleiten. Nach dem Regelwerk des Stabilitätspakts wäre dies unumgänglich.
Der eigentliche Testfall für den Stabilitätspakt wurde
aber für Finanzminister Eichel zum Sündenfall. Statt
sich wenigstens vornehm zurückzuhalten, übernahm er
die Anführerschaft, stellte die Prinzipien des Stabilitätspaktes infrage und setzte alles daran, ein Einschreiten
gegen Frankreich zu verhindern. Ich hätte mir gewünscht, dass mit demselben Einsatz für die Verankerung des Gottesbezugs in der Verfassung und die Beibehaltung des Legislativrates gekämpft worden wäre. Aber
nichts von alldem ist erfolgt; im Gegenteil.
({1})
Minister Eichel übersieht, dass dieses Gebaren leicht
durchschaubar ist. Am Beispiel Frankreichs soll ein Präzedenzfall geschaffen werden, auf den sich die Bundesregierung nachher berufen kann,
({2})
wenn sie selbst Gegenstand des Verfahrens wird.
Die Bundesregierung wird zum dritten Mal in Folge
den Stabilitätspakt brechen. Nach einer Neuverschuldung von 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr werden es nächstes Jahr 3,9 Prozent und damit
abermals deutlich mehr als die gerade noch erlaubten
3 Prozent sein.
({3})
Dass es mit der Glaubwürdigkeit unseres Finanzministers hierzulande nicht mehr weit her ist, ist das
eine. Das andere aber ist, dass dieser Finanzminister
auch international die Glaubwürdigkeit Deutschlands
massiv beschädigt.
({4})
Hinsichtlich der Bevölkerungszahlen kleinere Staaten
wie Österreich, die Niederlande oder Finnland stehen
Deutschland nur noch kopfschüttelnd gegenüber.
Bei all dem Gezerre unseres Finanzministers scheint
dieser den tieferen Sinn des Stabilitätspaktes aus den
Augen verloren zu haben. Das gilt offenbar auch für den
Bundeskanzler, wenn er ohne Unterlass betont, dass es
sich um einen Stabilitäts- und Wachstumspakt handle.
Verehrter Herr Bury, wie ich aus Ihren Ausführungen
folgern durfte,
({5})
gehen Sie dem gleichermaßen auf den Leim.
({6})
Ich kann dazu nur sagen: Eben! Die anderen Länder
Europas haben nämlich ihren Haushalt im Griff. Sie sorgen dadurch für Stabilität und Wachstum. Damit ist eben
nicht Stabilität oder Wachstum gemeint.
Eine traurige rot-grüne Realität ist aber, dass allein in
diesem Jahr mit einer Nettoneuverschuldung von
43,4 Milliarden Euro ein Rekord erreicht wird. Bei einer
Bevölkerung von 82 Millionen bedeuten diese 43 Milliarden für jeden einzelnen Menschen - vom Säugling
bis zum Greis - 522 Euro oder in alter Währung über
1 000 DM. Dieses Geld ziehen Sie den Bürgerinnen und
Bürgern aus der Tasche; denn sie sind es, die eines Tages
diese Zeche zahlen müssen.
({7})
Das Wachstum stellt sich dennoch nicht ein. Heute sind
wir sozusagen der kranke Mann in Europa und stehen
beim Wirtschaftswachstum am Tabellenende.
Deutschland selbst, allen voran der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der frühere Finanzminister
Theo Waigel, hatte alles darangesetzt, den Euro zu
schützen und stark zu halten. Sie haben damit für diesen
Stabilitätspakt gesorgt. Wir selbst haben diese Spielregeln aufgestellt. Für Deutschland ist das Verhalten, das
der Bundesfinanzminister an den Tag legt, deswegen
peinlich und blamabel.
Besinnen Sie sich endlich auf das, was Wachstum
schafft! Das ist eben kein weiterer Anstieg der Verschuldung. Sie spüren gar nicht, wie Sie mit Ihrer Politik dadurch den Motor abwürgen, dass Sie mit Ihren Ausgaben
noch im vierten Gang fahren, während unsere Konjunktur nur noch Schrittgeschwindigkeit aufweist. Das macht
der beste Motor nicht lange mit.
({8})
Heute werden die neuen Arbeitsmarktzahlen präsentiert: von einer Trendwende keine Spur.
({9})
Sorgen Sie endlich für eine konsequente Deregulierung
des Arbeitsmarktes! Deutschland benötigt einen europatauglichen Kündigungsschutz. So sind beispielsweise
die Abfindungszahlungen in unserem Land völlig überzogen.
({10})
Verabschieden Sie sich von den Flächentarifverträgen
und ermöglichen Sie betriebliche Bündnisse! Sorgen Sie
für ein einfaches und transparentes Steuersystem! Wir
haben unlängst Vorschläge dazu vorgelegt. Befreien Sie
den Mittelstand von unsinnigen bürokratischen Lasten!
({11})
- Mir ist klar, dass Sie diese Themen nicht schätzen. Erst dann werden wir in Deutschland wieder jene
Wachstumsraten von 2,5 Prozent, 3 Prozent und mehr
generieren, die notwendig sind, um positive Impulse für
den Arbeitsmarkt zu schaffen.
({12})
In diesem Augenblick wird die Stabilität im Rahmen des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes gewährleistet sein.
Das, was Sie hier heute vollführen, wird eines Tages
als Bumerang zurückkommen und wir werden am Ende
einen hohen Preis zu zahlen haben, nämlich den der
Glaubwürdigkeit und der Stabilität unserer Währung. Es
wird kein Halten mehr geben, wenn in Zukunft auch andere Länder gegen die Maastricht-Kriterien verstoßen.
Es wird dann nichts mehr geben, was wir diesen Ländern
entgegensetzen können. Halten Sie endlich die Verpflichtungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ein!
Nur dann kann der Euro auf Dauer stabil bleiben.
Schließlich haben wir nur diese Währung. Das Vertrauen
der Bürger in ihre Währung ist ohnehin das Kostbarste,
was es hier zu verspielen gibt.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der EU-Konvent hat eine Verfassung entworfen. Damit
wird Neuland beschritten. Die PDS im Bundestag war
und ist grundsätzlich dafür. Immerhin geht es um das Zusammenleben von Millionen Menschen in über
25 Staaten im 21. Jahrhundert. Dafür ist der vorliegende
Entwurf eine gute Grundlage, allerdings aus unserer
Sicht keine ausreichende. In manchen Teilen ist er widersprüchlich, in anderen sogar widersinnig bis gefährlich.
Ich beginne mit der ersten guten Nachricht. Die
Union wird insgesamt demokratischer. Die Gewaltenteilung kommt voran. Das EU-Parlament erhält mehr
Rechte. Bürgerbegehren sollen eingeführt werden. Dafür
hat sich die PDS auch im Europaparlament immer engagiert und das wird auch so bleiben.
({0})
Damit bin ich schon beim ersten Widerspruch. Man
kann nicht eine Demokratisierung der EU feiern und
zugleich daheim mehr Demokratie verweigern. Die PDS
fordert seit langem eine Volksabstimmung über die
künftige EU-Verfassung. Doch hier im Bundestag gibt es
eine merkwürdige Koalition dagegen: der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister, wie wir heute vernehmen
durften, und die CDU/CSU. Alle anderen - SPD, Grüne,
FDP, PDS und der Präsident des Bundestages, Herr
Thierse, wie wir am vergangenen Wochenende wieder
lesen durften - stehen aber im Wort. Deshalb wiederhole
ich: Die Volksabstimmung über die EU-Verfassung ist
ein akuter Anlass, aber auch eine Nagelprobe für die
deutsche Demokratie.
({1})
Nun zur zweiten guten Botschaft: Die Union soll sozialer werden. Das ist Teil I des Verfassungsentwurfs zu
entnehmen. Dort finden sich Wörter wie „soziale Marktwirtschaft“ und Ziele wie „Vollbeschäftigung“. Nun aber
gleich zum zweiten Widerspruch: In Teil III steht das genaue Gegenteil. Dort ist von einer „offenen Marktwirtschaft“ und einer bestenfalls „hohen Beschäftigung“ die
Rede. Kurzum: Die Wirtschafts- und Finanzunion
schreitet voran, die Sozialunion bleibt aber zurück. Die
Prioritäten sind falsch und deshalb ist die PDS dagegen.
({2})
Umstritten ist, ob die EU-Verfassung einen Bezug auf
Gott haben soll oder nicht. Ich sage für mich: natürlich
nicht! Mit der vorliegenden Grundrechte-Charta wird die
Religionsfreiheit durch die Europäische Union gewährleistet. Dabei sollte es bleiben.
Nun komme ich zu den wirklich üblen Teilen im Entwurf der EU-Verfassung, jedenfalls so wie er bisher vorliegt. Demnach sollen die EU-Staaten verpflichtet werden, ihre militärische Stärke auszubauen, und sie sollen
bereit sein, weltweit Kriege zu führen. Damit würde sich
die EU an die fatale US-Strategie anhängen, anstatt sich
als Friedensunion zu emanzipieren. Das ist ein Kardinalfehler.
({3})
- Wo das steht? Schauen Sie sich nur die gemeinsame
Verpflichtung zur Erhöhung der Rüstungsausgaben an!
Auch darüber können wir debattieren. Wir sind selbstverständlich dagegen, die Europäische Union so zu militarisieren.
({4})
Zur militanten Außenpolitik gesellt sich dann noch
eine restriktive EU-Innenpolitik mit ebenso fragwürdigen Mitteln. Bürgerrechte werden abgebaut und humanitäre Normen unterlaufen. Geheimdienste feiern Urständ
und Menschen in Not werden ausgegrenzt. Bezeichnend
ist, dass die Bundesrepublik hier Vorreiter ist, wenn es
um die viel zitierte Festung Europa geht. Die miserablen Innenarchitekten der Union tragen Namen wie
Schily, Beckstein und Berlusconi.
({5})
Das ist dann, finde ich, eine unheilige Allianz.
({6})
Zusammengefasst: Die PDS will, dass sich die EUVerfassung ganz klar zu einer sozialen EU bekennt. Die
PDS will, dass die EU-Verfassung eine Friedensunion
vorschreibt.
({7})
Die PDS will, dass sich die EU-Verfassung einer Volksabstimmung stellt. Das sind drei simple Forderungen,
die draußen, im wahren Leben, mehrheitsfähig sind.
Diese Forderungen, finde ich, sollten auch im Bundestag
mehrheitsfähig sein.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Nüßlein.
Die Füße tragbarer Leitern ruhen auf einem standsicheren, festen, ausreichend bemessenen und unbeweglichen Untergrund, sodass die Leitersprossen in
horizontaler Position verbleiben. Leitern müssen so
benutzt werden, dass die Arbeitnehmer jederzeit sicher stehen und sich sicher festhalten können.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das ist nicht etwa ein Auszug aus
der Bedienungsanleitung für eine Leiter, wie sie ein besonders eifriger Jurist verfasst haben könnte; das ist Teil
des Entwurfs für eine Richtlinie zur zweiten Änderung
der Richtlinie 89/655/EWG über Mindestvorschriften
für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Benutzung
von Arbeitsmitteln durch Arbeitnehmer bei der Arbeit.
Das ist so kürzlich im „Spiegel“ abgedruckt worden.
Schon der Titel dieser EU-Richtlinie übertrifft das, was
unsere Regierung sonst an höchst kreativen Gesetzestiteln vorlegt. Das ist eine besondere Leistung.
„Die in Brüssel“ ist zum Synonym für Bürokratie
und Regelungswut geworden. Wer für die Europäische
Union und ihre Akzeptanz etwas tun möchte, sollte genau daran etwas ändern.
Nun könnte man auch über Umfang und Sprache des
vom Konvent vorgelegten Entwurfs des Verfassungsvertrags reden. Ich will uns das ersparen. Es wäre, so meine
ich, auch unangemessen; denn als Parlamentarier tun wir
gut daran, uns für das Konventsverfahren einzusetzen
und uns nicht einer Exekutivdiktatur zu unterwerfen.
Dauerhaft akzeptiert und getragen werden Union und
Verfassungsvertrag nur, wenn der Subsidiaritätsgedanke
nicht nur verankert, sondern auch umgesetzt wird. Den
Zweck einer Leiter, den Krümmungsgrad einer Gurke
oder - das Beispiel ist noch berühmter - die Größe eines
Traktorsitzes müssen nicht einmal die Nationalstaaten,
geschweige denn Europa regeln.
({0})
Der Konventsentwurf sieht deshalb ein Klagerecht
der nationalen Parlamente bei Verstößen gegen den
Subsidiaritätsgrundsatz vor. Das ist, so meine ich, ausdrücklich zu begrüßen. Dieser Grundsatz macht umso
mehr Sinn, je mehr Kompetenzen bei den Nationalstaaten bleiben. Darum sind wir von der CDU/CSU gegen
eine Kompetenz der EU in Fragen der Daseinsvorsorge,
({1})
gegen eine Koordinierungskompetenz in der Wirtschafts-, Sozial- und Energiepolitik, für eine Beschränkung der Binnenmarktklausel auf ihren Kern und für
größere Spielräume der Mitgliedstaaten in der Strukturpolitik; die werden wir insbesondere im Hinblick auf die
Osterweiterung dringend brauchen.
({2})
Die Bundesregierung täte gut daran, meine ich, die
Forderungen der Opposition bei der italienischen Ratspräsidentschaft anzumelden. Wir dürfen uns doch nicht
immer darauf verlassen, dass andere in Europa dies
schon richten werden, auch wenn es momentan gar nicht
so schlecht aussieht.
Man darf sich auch nicht darauf verlassen, dass die
Opposition in Europafragen immer nur den Mund spitzt
und am Ende nicht pfeift. Damit bin ich bei der Ratifikation und dem Gesetzentwurf der FDP zum Volksentscheid. Ich finde es zumindest spannend, dass die Liberalen jetzt plötzlich die Basisdemokratie entdeckt
haben, die Joschka Fischer und die Grünen offenbar aufgegeben haben.
({3})
Ich nehme nicht an, dass die FDP künftig alle Prinzipien
aufsammelt, die die Grünen fallen lassen; sonst hätte sie
keine Zeit, mit der CDU/CSU die Regierungsgeschäfte
zu übernehmen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Väter des Grundgesetzes haben mit ihrer Entscheidung für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie die Konsequenzen
aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen. Das
hat sich bewährt. Bewährtes aber soll man nicht aufgeben, auch nicht im so genannten Sonderfall. Einen solchen kann ich an dieser Stelle aber auch gar nicht sehen,
es sei denn, Sie gingen davon aus, dass mit dem europäischen Verfassungsvertrag die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der Europäischen Union
aufgehoben werde. Das kann und darf nicht unser Ziel
sein. Bleiben wir also bei dem „Europa der Vaterländer“,
wie es Charles de Gaulle bezeichnet hat, und messen wir
dem Verfassungsvertrag bitte nicht eine Bedeutung bei,
die er nicht hat.
Nun könnte ich alles aufzählen, was in Normalfällen
gegen einen Volksentscheid spricht: die Manipulierbarkeit - Bundesminister Fischer hat bereits eine Fragestellung vorgeschlagen, von der ich meine, dass mit ihr
programmiert wäre, wie die Entscheidung ausginge -,
geringe Stimmbeteiligung, Abhängigkeit von Stimmungen und all das, was wir heute schon gehört haben.
Aber mindestens die Hälfte aller Gesetze, die wir verabschieden, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beruhen auf bindenden Vorgaben aus Brüssel. Die Regierungsfraktionen haben zudem ihre Sacharbeit auf
Kommissionen verlagert, getreu dem Motto: „Wenn du
nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.“
({5})
Angesichts dessen sollten wir nicht auch noch die Entscheidungskompetenz zurück an die Bürger delegieren
und uns ins Plebiszit flüchten. Wir müssen entscheiden;
wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen.
({6})
Für die Christsozialen ist dies gerade eine Verantwortung vor Gott. Deshalb treten wir für die „invocatio
dei“ in der Präambel des Verfassungsvertrages ein.
({7})
An Deutschland würde die Hereinnahme eines expliziten Gottesbezuges nicht scheitern.
Allein diese Formulierung unseres „Kanzlers der Beliebigkeit“ halte ich schon für eine Provokation,
({0})
in etwa nach dem Motto: kein Problem, mir egal. Identitätsstiftend für die Wertegemeinschaft Europa war und
bleibt demgegenüber das christlich-jüdische Erbe. Die
jetzige Formulierung in der Präambel ist unkonkret, unkorrekt und unehrlich. Vor allem das Christentum
macht die Identität Europas aus. Das ist ein Grund, warum ich gegen die Vollmitgliedschaft der Türkei bin; lassen Sie mich das als ceterum censeo abschließend anfügen.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen heute eine Debatte über die europäische Verfassung, über die Ergebnisse des Konvents und über das
mögliche Referendum. Leider benutzen die meisten
Redner der Opposition sie nur für innenpolitische Ersatzgefechte.
({0})
Für mich stellt sich die Frage, was sie substanziell zum
Thema Europa beizutragen haben.
({1})
Ich will direkt auf den Kollegen Nüßlein eingehen; es
ist ja ganz einfach. Warum machen wir eine europäische
Richtlinie zum Thema Leitern? Dies geschieht aus Gründen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, weil es in
der EU in jedem Jahr 8 000 Unfälle gibt und weil uns
auch viele Berufsgenossenschaften in unserem Land darauf aufmerksam gemacht haben.
({2})
Warum machen wir das auch in Bezug auf die Traktorsitze? - Genau, weil es in Ihrem Bereich viele Probleme
damit gegeben hat. Das sind die vor Ort real bestehenden
Probleme, die wir in Europa gemeinsam lösen wollen.
Aber sie eignen sich nicht für diese Form von billiger
Polemik.
({3})
Ich komme nun auf das Thema Gottesbezug zu sprechen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in der Diskussion im Europaausschuss sehr deutlich gemacht, wie
er als niedersächsischer Ministerpräsident mit dieser
Frage im Rahmen der Verfassungsdebatte erfolgreich
umgegangen ist. Dazu nehmen Sie aber leider nicht Stellung. Sie wollen eben immer nur das bestätigt bekommen, was Ihren Klischees entspricht.
Um in dieser Debatte glaubwürdig zu sein, müssten
CDU und CSU zum Thema Konvent sagen: Wir loben
die Regierung ausdrücklich für das, was sie europapolitisch vorangebracht hat.
({4})
Insbesondere müssten CDU und CSU loben, dass die
Bundesregierung dafür eintritt, das im Konvent ausgehandelte Kompromisspaket nicht mehr aufzuschnüren.
Dafür treten nicht nur die Bundesregierung, sondern
Christdemokraten - darunter deutsche - und Konservative in der Fraktion der EVP im Europäischen Parlament
ein; sie unterstützen die Position der rot-grünen Bundesregierung ausdrücklich. Wir sind dankbar, dass der Präsident des Europäischen Parlaments - Pat Cox ist hier
zitiert worden - Gerhard Schröder, Joschka Fischer,
diese Regierung und den gesamten Bundestag ausdrücklich darin unterstützt hat, dafür zu kämpfen, den Entwurf
des Konvents zum Ergebnis der Regierungskonferenz zu
machen. Ich wiederhole: Pat Cox hat dies unterstützt.
({5})
Da dieses Thema so spannend ist, sollten wir auch
über Referenden reden. Es gibt zwei Möglichkeiten:
Entweder führen wir eine nationale oder eine europäische Diskussion. Ich möchte zunächst auf die Möglichkeit einer nationalen Diskussion eingehen. Ich nehme
das Eintreten der Kolleginnen und Kollegen der FDP für
eine stärkere Bürgerbeteiligung ernst; auch ich persönlich bin sehr dafür.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob wir Europa
durch ein solches Vorgehen nicht ein Stück weit zum
Experimentierfeld für eine Politik machen, die wir uns
auf allein Deutschland bezogen - Plebiszite sieht unsere
Verfassung in solchen Fragen nicht vor - bisher nicht zugetraut haben. Ich bin entschieden der Meinung, dass das
nicht angeht.
({6})
Zunächst müssen nämlich all diejenigen in Deutschland,
die seriös, engagiert und leidenschaftlich für Plebiszite
eintreten, eine entsprechende Kultur entwickeln. Die
Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD
Axel Schäfer ({7})
haben in der letzten Legislaturperiode eine Vorlage eingebracht, die genau darauf abzielte. Sie sind herzlich
eingeladen, unsere Ansätze in dieser Legislaturperiode
aufzunehmen und weiterzuentwickeln, damit wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.
({8})
Zur FDP-Position möchte ich Folgendes sagen: Wir
wollen keine sich selbst einholende Einzelfallermächtigung durch eine Änderung von Art. 23 des Grundgesetzes. Vor allen Dingen wollen wir kein Quorum von
25 Prozent; denn eine Verfassung muss von der Mehrheit - das Mehrheitsprinzip ist eine der Stärken des
Grundgesetzes - getragen werden; deshalb können wir
keinen Verfassungsentwurf unterstützen, der auf Minderheiten abzielt.
({9})
An dieser Stelle möchte ich als Sozialdemokrat und
als europäischer Föderalist ganz bewusst sagen - leider
hatte sich dazu bisher niemand geäußert -: Wenn wir es
mit einer europäischen Verfassung ernst meinen, dann
müssen wir für ein europäisches Referendum über
diese Verfassung - ich denke dabei an eine Abstimmung am selben Tag in allen 25 Mitgliedstaaten - eintreten. Das Ergebnis sollte eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und eine Mehrheit der Bevölkerung sein. Das wäre
aus meiner Sicht die einzige Legitimation einer europäischen Verfassung, weil sie sowohl die doppelte Mehrheit
gewährleistete als auch all denjenigen, die Europa blockieren wollen, keine Chance gäbe.
({10})
Auch dazu sage ich: Lasst uns ehrlich darüber reden,
ob wir willens und in der Lage sind, diesen Weg zu gehen! Wenn wir diesen Weg gehen, dann ändern wir die
Qualität der Europäischen Union: Aus einem Staatenverbund wird ein Bundesstaat. Wir würden an dieser Stelle
dann sagen: Jawohl, wir geben einen Teil der nationalen
Kompetenzen in grundlegenden Fragen tatsächlich endgültig an die europäische Ebene ab, ohne dass wir die
Chance haben, sie zurückzuholen. Ich persönlich bin
dafür, dass wir diesen Mut in Zukunft aufbringen sollten.
Ich bitte aber auch um ehrliche Antworten, was die
Kolleginnen und Kollegen von der FDP wie von den
Unionsparteien dazu meinen.
({11})
Ein Letztes: Die Einführung von Plebisziten ist eine
Frage des Engagements der Bürgerinnen und Bürger. Es
ist gut, dass es in unserem Land viele Aktionen wie zum
Beispiel „Mehr Demokratie“ gibt, wo jetzt entsprechende Diskussionen geführt werden. Wenn wir diese
Diskussionen wollen, dann müssen wir gleichzeitig wollen, dass wir, von kontroversen Standpunkten ausgehend, zum Schluss in diesem Parlament zu einem Konsens kommen. Die Debatte darüber im Rechtsausschuss
hat einiges Ermutigende gebracht. Deshalb werden wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Frage
von Volksabstimmungen, von Initiativen und von Begehren weiterverfolgen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus
Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Vor wenigen Wochen hat sich unser Bundeskanzler - der Herr Außenminister hat es heute ja auch
bestätigt - bezüglich der Frage einer Verankerung des
Gottesbezugs in der geplanten EU-Verfassung offen gezeigt. Für uns ist damit die klare Aufforderung verbunden: Der Herr Bundeskanzler soll sich nicht nur allgemein dazu bekennen, sondern er soll in den kommenden
Wochen seinen klaren und uneingeschränkten Einsatz
zeigen, damit es gelingt, dieses wichtige Ziel in die europäische Verfassung aufzunehmen.
({0})
Die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung
ist für Europa von historischer Bedeutung. Hiermit werden die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt.
Wir alle - ich glaube, darüber besteht Übereinstimmung
in diesem Hohen Hause - verstehen unter Europa nicht
nur einen geographischen Begriff, sondern auch eine besondere Wertegemeinschaft. Robert Schuman, einer der
Väter des europäischen Einigungsvertrages nach dem
schrecklichen Zweiten Weltkrieg, drückte es so aus, dass
Grenzen keine Trennungslinien sein dürfen, sondern
- ich zitiere ihn -:
zu Berührungslinien werden müssen, damit der materielle und kulturelle Austausch zustande kommt
und sich verstärkt.
Gemeinsam mit Konrad Adenauer und de Gasperi suchte
Robert Schuman in den 50er-Jahren nach einem Europa
der Vaterländer. Diese drei bedeutenden Europäer hatten
Visionen und waren überzeugt davon, dass nur die im
christlichen Glauben und im christlichen Menschen- und
Gesellschaftsverständnis verankerten Werte ein tragfähiges Fundament für das Zusammenleben der Menschen
bilden können.
({1})
Aus diesem Grund, meine sehr geehrten Damen und
Herren, haben sich auch die Präsidenten der deutschen
Länderparlamente wie auch die Ministerpräsidenten dafür ausgesprochen, dass die künftige europäische Verfassung einen ausdrücklichen Gottesbezug enthält. Die
Formulierung „Im Bewusstsein der Verantwortung vor
Gott“ ist auch für eine moderne Verfassung für das entstehende größere Europa der richtige Weg.
({2})
Der Außenminister hat heute davon gesprochen, dass
einige Länder in Europa dagegen sind. Er hat aber nicht
gesagt, welche Länder in Europa sich unterdessen eindeutig für den Gottesbezug ausgesprochen haben. Es
sind dies unter anderem Italien, Spanien, Österreich,
Tschechien, Polen, Irland, Malta, Litauen und Portugal.
Deswegen fordern wir vom Kanzler und vom Vizekanzler: Stellen Sie sich an die Spitze dieser Bewegung, damit dieses zentrale Ziel in der Präambel unserer europäischen Verfassung verankert wird.
({3})
Selbst die Kernbegriffe der französischen Revolution
- Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - sind letztlich
nichts anderes als säkularisierte christliche Grundtugenden, inspiriert von der Rationalität der Aufklärung. Die
Basis der wichtigsten europäischen Werte liegt also im
Christentum.
In der Diskussion wird der Gottesbezug immer wieder infrage gestellt. Es wird argumentiert, dass man eine
Verantwortung vor Gott nicht einklagen kann. Das ist
auch nicht der Zweck eines Gottesbezuges in der Präambel. Die Verantwortung vor Gott soll die Vorläufigkeit,
Fehlbarkeit und Unvollkommenheit allen menschlichen
Handelns zum Ausdruck bringen. Einer größeren Verantwortung können wir uns nicht stellen. Die Verantwortung vor Gott beschränkt einen absoluten Gewissheitsanspruch der Politik. Sie macht den Entscheidungsträgern
jederzeit bewusst, dass sie nicht nur sich selbst Rechenschaft schuldig sind.
Wir machen uns manchmal Sorgen, dass dieser wichtige Einigungsprozess in Europa an den Menschen vorbeigeht. Wir stellen auch heute im Rahmen unserer Debatte fest, dass die Diskussion um den Konvent an den
Menschen vorbeigeht. Ich glaube, dass die Diskussion
um einen Gottesbezug viele Menschen für Europa gewinnen würde.
({4})
Europa besteht nicht nur aus Rechtsverordnungen und
Bürokratie. Europa ist wesentlich mehr. Deshalb bitte
ich Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) zur Einführung eines Volksentscheids
über eine europäische Verfassung, Drucksache 15/1112.
Es liegen dazu drei persönliche Erklärungen zur Abstim-
mung vor: zum Ersten vom Abgeordneten Steenblock
und 21 weiteren Abgeordneten, zum Zweiten vom Ab-
geordneten Winkler und zum Dritten vom Abgeordneten
Hüppe.1)
1) Anlagen 3 bis 5
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1897, den Gesetzentwurf abzulehnen. Die Fraktion der FDP verlangt namentliche Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? ({1})
Sind jetzt auch alle Mitglieder des Haushaltsausschusses
eingetroffen? ({2})
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte die Kol-
leginnen und Kollegen, dazu die Plätze einzunehmen.
Tagesordnungspunkte 4 b bis 4 f. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 15/1694, 15/1695, 15/1712 und 15/1801 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1712, Tagesord-
nungspunkt 4 d, soll abweichend von der Tagesordnung
federführend an den Ausschuss für Wirtschaft und
Arbeit überwiesen werden. Die Vorlage auf Druck-
sache 15/1878, Tagesordnungspunkt 4 f, soll an den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 g. Wir kommen zur Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union auf Drucksache 15/1898. Unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Aus-
schuss die Annahme des Entschließungsantrages der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zu der Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in
Thessaloniki, Drucksache 15/1212. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und
Enthaltung der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zum Stand der
Beratungen des EU-Verfassungsvertrages, Druck-
sache 15/1207. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss-
2) Seite 6185
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der
FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
22 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ersten Gesetzes zur Änderung des
Bundesgrenzschutzgesetzes
- Drucksache 15/1861 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2002/47/EG vom 6. Juni
2002 über Finanzsicherheiten und zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 15/1853 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Grunderwerbsteuerbefreiung bei Fusionen von Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften in
den neuen Ländern
- Drucksache 15/1407 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 5 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 15/1672 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 n sowie
Zusatzpunkt 6 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Rechts der Verkehrsstatistik
- Drucksachen 15/1666, 15/1706 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({8})
- Drucksache 15/1856 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({9})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1856, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 7
vom 27. November 2002 zu der Revidierten
Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868
- Drucksache 15/1649 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({11})
- Drucksache 15/1842 Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/1842, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/1645 ({12})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({13})
- Drucksache 15/1839 Berichterstattung:
Abgeordnete Matthias Weisheit
Helmut Heiderich
Friedrich Ostendorff
Dr. Christel Happach-Kasan
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1839, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher
Vorschriften über die Verarbeitung und Beseitigung von nicht für den menschlichen Verzehr bestimmten tierischen Nebenprodukten
- Drucksache 15/1667 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({15})
- Drucksache 15/1894 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Julia Klöckner
Ulrike Höfken
Hans-Michael Goldmann
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1894, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1894 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Verfütterungverbotsgesetzes
- Drucksache 15/1668 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({17})
- Drucksache 15/1840 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier
Julia Klöckner
Ulrike Höfken
Hans-Michael Goldmann
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/1840, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 17. Oktober 2000 über die Anwendung des Art. 65 des Übereinkommens über
die Erteilung europäischer Patente
- Drucksache 15/1647 ({18})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über
internationale Patentübereinkommen
- Drucksache 15/1646 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 15/1886 Berichterstattung:
Abgeordnete Dirk Manzewski
Dr. Günter Krings
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1886, den
Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über internationale Patentübereinkommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1886, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 g:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Sicherheit von technischen Arbeitsmitteln und Verbraucherprodukten
- Drucksachen 15/1620, 15/1805 ({21})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({22})
- Drucksache 15/1892 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Martina Krogmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1892,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 h:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. November 2002 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten für Europol, die
Mitglieder der Organe, die stellvertretenden
Direktoren und die Bediensteten von Europol
- Drucksache 15/1648 ({23})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({24})
- Drucksache 15/1895 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Hofmann ({25})
Ralf Göbel
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Max Stadler
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1895,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 i:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen der Vereinten Nationen vom
9. Dezember 1999 zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
- Drucksache 15/1507 ({26})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({27})
- Drucksache 15/1863 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Wolfgang Zeitlmann
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1863, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 j:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 13. Januar 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Sonderverwaltungsregion Hongkong der Volksrepublik China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Schifffahrtsunternehmen auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 15/1644 ({28})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({29})
- Drucksache 15/1812 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Frechen
Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1812, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 70 zu Petitionen
- Drucksache 15/1794 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 70 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 71 zu Petitionen
- Drucksache 15/1795 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 71 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 72 zu Petitionen
- Drucksache 15/1796 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 72 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 73 zu Petitionen
- Drucksache 15/1797 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 73 ist mit den Stimmen der
Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/
CSU angenommen.
Zusatzpunkt 6:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1848 ({34})
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 15/1686 ({35})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({36})
- Drucksache 15/1887 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Dr. Jürgen Gehb
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1887, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 15/1848 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1887, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 15/1686 für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich komme zurück zu Tagesordnungspunkt 4 und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des
Art. 23 des Grundgesetzes zur Einführung eines Volksentscheids über eine europäische Verfassung - Drucksachen 15/1112 und 15/1897 - bekannt. Abgegebene
Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 50, mit Nein haben gestimmt 528, Enthaltungen 6. Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 584;
davon
ja: 50
nein: 528
enthalten: 6
Ja
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Josef Göppel
Christian von Stetten
FDP
Daniel Bahr ({37})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({38})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({39})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann
({40})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({41})
Eberhard Otto ({42})
Detlef Parr
Gisela Piltz
Prof. Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Fraktionslose Abgeordnete
Petra Pau
Nein
SPD
Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({43})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({44})
Klaus Barthel ({45})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({46})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({47})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({48})
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({49})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({50})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Karl-Hermann Haack
({51})
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({52})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Monika Heubaum
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({53})
Walter Hoffmann
({54})
Frank Hofmann ({55})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus-Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h.c. Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler ({56})
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({57})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
Gabriele Lösekrug-Möller
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Christine Lucyga
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra-Evelyne Merkel
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({58})
Christian Müller ({59})
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({60})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Karin Roth ({61})
Michael Roth ({62})
Gerhard Rübenkönig
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
({63})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({64})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({65})
Ulla Schmidt ({66})
Silvia Schmidt ({67})
Dagmar Schmidt ({68})
Wilhelm Schmidt ({69})
Heinz Schmitt ({70})
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Reinhard Schultz
({71})
Swen Schulz ({72})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({73})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Reinhard Weis ({74})
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Matthias Weisheit
Prof. Gert Weisskirchen
({75})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({76})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({77})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({78})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
Dr. Christoph Zöpel
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({79})
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Prof. Dr. Rolf Bietmann
Clemens Binninger
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Prof. Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({80})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Helge Braun
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({81})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({82})
Peter H. Carstensen
({83})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({84})
Georg Fahrenschon
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Hartwig Fischer ({85})
Dirk Fischer ({86})
Axel E. Fischer ({87})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
({88})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Ralf Göbel
Dr. Reinhard Göhner
Tanja Gönner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Karl-Theodor von und zu
Guttenberg
Olav Gutting
Holger-Heinrich Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Prof. Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({89})
Volker Kauder
Gerlinde Kaupa
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({90})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({91})
Dr. Karl A. Lamers
({92})
Helmut Lamp
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({93})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({94})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({95})
Stephan Mayer ({96})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Conny Mayer ({97})
Dr. Martin Mayer
({98})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Laurenz Meyer ({99})
Doris Meyer ({100})
Maria Michalk
Hans Michelbach
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Stefan Müller ({101})
Bernward Müller ({102})
Dr. Gerd Müller
Bernd Neumann ({103})
Michaela Noll
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Melanie Oßwald
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({104})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Prof. Dr. Heinz Riesenhuber
Franz-Xaver Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({105})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Andreas Schmidt ({106})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({107})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marko Wanderwitz
Peter Weiß ({108})
Gerald Weiß ({109})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({110})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Willi Zylajew
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({111})
Volker Beck ({112})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({113})
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Renate Künast
Undine Kurth ({114})
Markus Kurth
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({115})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({116})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({117})
Werner Schulz ({118})
Ursula Sowa
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Marianne Tritz
Hubert Wendel Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Margareta Wolf ({119})
Enthalten
SPD
Brigitte Schulte ({120})
CDU/CSU
Herbert Frankenhauser
Dr. Peter Jahr
Henry Nitzsche
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Albert Rupprecht ({121})
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit eine
weitere Beratung.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis
5 d. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so.
Tagesordnungspunkt 5 a:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Bestimmung des Verfahrens für die Berech-
nung der Stellenanteile der Fraktionen in der
gemeinsamen Kommission von Bundestag und
Bundesrat zur Modernisierung der bundes-
staatlichen Ordnung
- Drucksache 15/1692 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP abgelehnt.
Wir wählen nun die vom Bundestag zu entsendenden
Mitglieder. Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/
CSU sowie der FDP vor.
Der Abgeordnete Volker Kauder, CDU/CSU, hat dazu
eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu Pro-
tokoll gegeben.1)
1) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 b auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wahl der Mitglieder der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung
- Drucksache 15/1867 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den
Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der beiden
fraktionslosen Mitglieder angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 c:
Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl der Mitglieder der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung
- Drucksache 15/1868 Wer stimmt für den Wahlvorschlag der CDU/CSU? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Vorschlag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU
und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen
Mitglieder angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 d:
Wahlvorschlag der Fraktion der FDP
Wahl der Mitglieder der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung
- Drucksache 15/1869 Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit dem
gleichen Ergebnis wie beim vorhergehenden Wahlvorschlag angenommen.
Damit sind die vom Bundestag zu entsendenden Mitglieder der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung gewählt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung und
des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 57 gegen die Gültigkeit der Wahl zum
15. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüche
- Drucksache 15/1850 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Petra-Evelyne Merkel
Dr. Hans-Peter Friedrich ({122})
Manfred Grund
Thomas Strobl ({123})
Jörg van Essen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Erika Simm, SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Da ich nicht nur Berichterstatterin für
mehrere Wahleinsprüche bin, sondern auch Vorsitzende
des Wahlprüfungsausschusses, erlaube ich mir, einige
grundsätzliche Bemerkungen zur Wahlprüfung und zum
Verfahren des Ausschusses zu machen.
Das Verfahren der Wahlprüfung, nach dem der
Wahlprüfungsausschuss vorzugehen hat, ist im Wahlprüfungsgesetz geregelt.
Zur Bundestagswahl 2002 sind 520 Einsprüche eingegangen. Jeder dieser Einsprüche durchläuft eine so genannte Vorprüfung, bei der es darum geht, festzustellen,
ob der Einspruch zulässig und begründet ist. In dieser
Vorprüfung wird das Einspruchsschreiben gelesen, einschlägige Literatur herangezogen und nach Präzedenzfällen gesucht. Die Behörden, welche mit der Durchführung der Wahl befasst waren, wie zum Beispiel der
Bundeswahlleiter oder der örtliche Kreiswahlleiter, werden zu Stellungnahmen aufgefordert. Es wird also untersucht, ob im konkreten Fall ein Wahlfehler passiert ist,
ob die Vorschriften des Wahlrechts richtig angewandt
wurden und ob es sonstige unzulässige Einwirkungen
auf das Wahlgeschehen gegeben hat.
Erfolg hat ein Einspruch nur dann - das ist zum Verständnis unserer Entscheidungen wichtig -, wenn erstens ein Fehler vorliegt und zweitens dieser für die
Mandatsverteilung relevant ist. Festgestellte Fehler
können also nur dann zur Korrektur des Stimmergebnisses, zu einer anderen Mandatsverteilung oder gar zur
Wiederholung der Wahl führen, wenn sie sich auf die
Verteilung der Sitze ausgewirkt haben. Hieraus wird
deutlich, welche Funktion die Wahlprüfung hat: Sie soll
das objektive Wahlrecht sichern und die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Deutschen Bundestages
gewährleisten. Der Schutz subjektiver Rechte von einzelnen Wählern, Kandidaten oder Parteien ist nicht unmittelbares Ziel der Wahlprüfung, mittelbar aber natürlich deren Ergebnis.
Nun kann man sich fragen, warum wir uns die Mühe
machen, jedem behaupteten Fehler sorgfältig nachzugehen, wenn dies - jedenfalls im Regelfall - letztlich keine
Konsequenzen für den Wahlausgang hat. Die Antwort
lautet: Durch jeden Kontakt zu den Wahlbehörden arbeiten wir Einzelprobleme auf; dies verhindert Fehler für
die Zukunft. Daneben kann ein Änderungsbedarf in der
Praxis der Abwicklung von Wahlen oder bezogen auf die
gesetzlichen Bestimmungen sichtbar werden. Wenn dies
der Fall ist, formulieren wir Prüfbitten an die Bundesregierung, wie es auch in der vorliegenden Beschlussempfehlung geschehen ist.
Nun aber zurück zum Wahlprüfungsverfahren. Nach
der Vorprüfung soll laut Gesetz wie bei einem Gericht
eine öffentliche mündliche Verhandlung anberaumt
werden. An dieser sollen der Einspruchsführer, ein betroffener Abgeordneter und seine Fraktion, Wahlleiter
und andere Stellen teilnehmen können. Es können Zeugen und Sachverständige vernommen und sogar vereidigt werden.
Bei Durchsicht der von uns getroffenen Entscheidungen werden Sie feststellen, dass wir abweichend von diesem Grundsatz in keinem der entschiedenen Fälle eine
solche mündliche Verhandlung durchgeführt haben. Für
die Komplexe Berliner Zweitstimmen - das wird in den
Reden nachher sicherlich noch erläutert werden - und
Überhangmandate sind Anträge der CDU/CSU auf
Durchführung der mündlichen Verhandlung von den übrigen Fraktionen im Ausschuss abgelehnt worden.
({0})
Wir haben uns dabei auf eine Ausnahmeregelung im
Wahlprüfungsgesetz gestützt. Danach kann auf die
mündliche Verhandlung verzichtet werden, wenn der
Einspruch offensichtlich unbegründet ist. Diese Regelung ist in der vierten Wahlperiode in das Gesetz aufgenommen worden, um für die nicht geringe Zahl solcher
Einsprüche ein vereinfachtes Verfahren zur Verfügung
zu stellen. In den Materialien zur damaligen Gesetzesänderung findet sich als Begründung der Satz, es solle verhindert werden, „dass in rechtlich geklärten Fällen Einspruchsführer von ihrem Recht Gebrauch machen, vor
dem Ausschuss Ausführungen zu machen, die nicht
mehr dazu beitragen können, die Rechtslage weiter zu
klären“.
In der fünften Wahlperiode fanden noch mehrere
mündliche Verhandlungen statt. In der siebten wurde
schließlich nur noch eine durchgeführt, die insbesondere
Sachverhaltsfragen betraf, nämlich mögliche Scheinwohnsitze von damals nicht wahlberechtigten Berlinern
im Bundesgebiet. Somit ist seit 1969 von der mündlichen Verhandlung immer abgesehen worden. Man ging
stets davon aus, dass durch die Vorprüfung alles Notwendige aufgeklärt worden sei und dass eine Verhandlung, die die Entscheidung über den Einspruch zudem
verzögern würde, sowohl bei Sachverhalts- als auch bei
Rechtsfragen keine weiteren Erkenntnisse ergeben
würde.
({1})
Hierzu ist anzumerken, dass ebenso wie bei Gericht auch
die Auslegung des Wahlrechts Sache des Wahlprüfungsausschusses ist. Sind Sachverhalte entscheidend, in die
der Einspruchsführer selbst involviert ist, erhält er ohnehin Gelegenheit, sich zu den Stellungnahmen der befragten Behörden zu äußern.
Natürlich gibt es bei diesen Vorprüfungen auch komplexe Fragen zu klären und zu entscheiden. Dies zeigt
schon der Umfang mancher Entscheidungen. Das werden Sie feststellen, wenn Sie in unsere Drucksache
schauen.
Die gesetzliche Ausnahme für so genannte offensichtlich
unbegründete Einsprüche ist aber nie so verstanden
worden, dass diese offensichtliche Unbegründetheit
schon auf den ersten Blick klar sein muss. Dies akzeptiert auch das Bundesverfassungsgericht. Es hat 1993 in
zwei Verfahren betont, dass ein Antrag unbegründet sei,
wenn im Entscheidungszeitpunkt kein Gesichtspunkt
mehr erkennbar ist, der dem Antrag zum Erfolg verhelfen kann.
Betrachtet man die beiden damaligen Fälle - ich will
das im Einzelnen nicht vertiefen, man kann aber nachsehen -, so wird klar, dass die Unbegründetheit auch damals nicht auf der Hand liegen konnte, sondern dass
gründlich geprüft werden musste und gründlich geprüft
wurde.
Die uns heute beschäftigenden streitigen Fälle liegen
meiner Auffassung nach eher einfacher.
({2})
Ob eine Vorschrift des Bundeswahlgesetzes, wie die
CDU/CSU-Fraktion im Zusammenhang mit der Berliner
Zweitstimmenproblematik, um die es hier geht, meint,
auf die Berücksichtigung dieser Stimmen analog angewendet werden müsste, ist eine Rechtsfrage, die der
Wahlprüfungsausschuss entscheiden konnte und entschieden hat, nachdem man sich mit dem alles auslösenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1988
und den verschiedenen Argumenten dazu befasst hatte.
({3})
Dabei war es - so die Auffassung der Mehrheit - auch
nicht notwendig, in der Vorprüfung weitere Erkundigungen einzuziehen oder eine mündliche Verhandlung
durchzuführen.
Im Übrigen bin ich persönlich der Meinung - dies als
Anmerkung -, dass für analoge Gesetzesanwendungen
bei der Durchführung von Wahlen schon wegen der vielen ehrenamtlichen Wahlhelfer kein Raum ist.
({4})
Die müssen sich nämlich darauf verlassen können, dass
sie alles richtig machen, wenn sie das Gesetz seinem
Wortlaut nach anwenden.
({5})
Was nun die Überhangmandate angeht - das ist der
zweite Streitpunkt -, so habe ich keine Zweifel an der
offensichtlichen Unbegründetheit diesbezüglicher Einsprüche. Ich spreche insoweit auch als Berichterstatterin.
Die Überhangmandate sind eine Konsequenz der korrekten Anwendung des Bundeswahlgesetzes in der derzeit
geltenden Fassung.
({6})
Dessen Verfassungsmäßigkeit ziehen wir, der Wahlprüfungsausschuss, grundsätzlich nicht in Zweifel.
({7})
Zur Wahlprüfung gehört es nicht, eine Regelung als verfassungswidrig zu kassieren. Das kann nur das Bundesverfassungsgericht. Diese Aufgabenverteilung entspricht
der ständigen Praxis des Ausschusses seit der ersten
Wahlperiode. Im Hinblick auf Art. 41 des Grundgesetzes, in dem die Wahlprüfung geregelt ist, wurde betont,
dass der Bundestag die Einhaltung der geltenden Wahlrechtsvorschriften zu kontrollieren hat. Würde er darüber hinaus selbst eine Norm für verfassungswidrig erklären, geriete er in einen Widerspruch zu sich selbst, da
diese Bestimmungen ja ohnehin von ihm als Gesetzgeber stammen.
Auch die Befugnis der Gerichte, bei einem für verfassungswidrig gehaltenen Gesetz das Bundesverfassungsgericht im Wege der Vorlage anzurufen, ist dem Bundestag verwehrt. Nur der Einspruchsführer selbst kann das
Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn er mit unserer
Entscheidung nicht einverstanden ist.
Diese Auffassung ist immer beibehalten worden. Interessanterweise wurde sie 1995 gerade angesichts von
Überhangmandaten bekräftigt. Bei der Wahl 1994 hatte
nämlich die CDU zwölf Überhangmandate errungen,
({8})
die SPD vier. In der damaligen Beschlussempfehlung
des gesamten Ausschusses wird betont, der Wahlprüfungsausschuss habe sich nie verleiten lassen, eine Verfassungswidrigkeit festzustellen oder Kritik dieser Art
öffentlich zu bestätigen.
({9})
Weiter heißt es in der Beschlussempfehlung:
Andernfalls würden diejenigen Wähler ungerechtfertigt und unverhältnismäßig benachteiligt, die auf
die Gültigkeit der Regelungen vertraut und ihre
Wahlentscheidung danach ausgerichtet haben.
({10})
Das Bundesverfassungsgericht kennt diese Praxis und
hat sie nie beanstandet.
Ich darf abschließend eine Bemerkung zum Zeitbedarf
des Ausschusses machen. Ich höre immer wieder den
Vorwurf, wir würden Dinge zögerlich behandeln.
({11})
Die umfangreiche Drucksache zeigt: Wir machen uns
die Arbeit nicht einfach. Das ist wichtig und richtig so.
({12})
Allen oft spezifischen und detaillierten Einwendungen
wird nachgegangen. Das kostet Zeit, zumal die Mitglieder des Ausschusses im Bundestag und in den Fraktionen noch andere Aufgaben zu erledigen haben.
({13})
Für jedes unserer Mitglieder ist dies ein zusätzlicher
Ausschuss.
Ich möchte daran erinnern, dass wir bereits im Juni
eine erste Drucksache zu immerhin 444 Einsprüchen, die
wir abgeschlossen haben, im Plenum vorgelegt haben.
Fazit: Der Deutsche Bundestag kommt seinen Pflichten
bei der Wahlprüfung verantwortungsvoll nach.
({14})
Bei dieser Gelegenheit möchte ich es als Vorsitzende
des Wahlprüfungsausschusses nicht versäumen, den
Kollegen im Ausschuss für die kollegiale Zusammenarbeit und die mitunter sehr spannenden und interessanten
Diskussionen, die wir führen, herzlich zu danken. Ich
möchte mich vor allem bei den Mitarbeitern des Sekretariats bedanken, die in der Vorbereitung der Entscheidungen diese große Menge an Einsprüchen abgearbeitet haben.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Strobl,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 520 Einsprüche hat es gegen das Ergebnis der Bundestagswahl vom 22. September 2002 gegeben. Wie
Frau Simm gerade erläutert hat, sind 444 dieser Einsprüche in der ersten Beschlussempfehlung, die bereits im
Juni im Deutschen Bundestag diskutiert wurde, abgearbeitet. Wir befassen uns nun in einer zweiten Tranche
mit weiteren 57 Einsprüchen.
Ich finde es gut, dass wir heute eine öffentliche Debatte zu diesem Thema führen, und möchte einleitend
sagen, dass es der Verfassungsgesetzgeber gewesen ist,
der in Art. 41 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes die Überprüfung von Wahlrechtseinsprüchen dem Deutschen
Bundestag zugewiesen hat, der aufgrund der vorliegenden Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages entscheidet. Denkbar wären auch andere Konstruktionen gewesen. Diese
Konstruktion aber verpflichtet den Deutschen Bundestag, namentlich den Wahlprüfungsausschuss, zu einer
besonders sorgfältigen Prüfung und Beratung aller eingegangenen Wahlrechtseinsprüche. Darin sind wir mit
Frau Simm sicherlich einig.
Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des Deutschen Bundestages durch ein anderes Verfassungsorgan,
nämlich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, überprüft werden können. Mit dem heutigen Tag, dem 6. November 2003, beginnt die Zweimonatsfrist, innerhalb der
Einsprechende eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht beantragen können. Recht schnell - das
wage ich zu prognostizieren - wird in Karlsruhe Bürgerpost von denjenigen eingehen, die in Berlin abgewiesen
wurden. Ich bin ganz sicher: So einfach, wie es sich die
Mehrheit im Wahlprüfungsausschuss mit den Einsprüchen gemacht hat, die die konkrete Materie der Berliner
Zweitstimmen und der Überhangmandate betreffen, inThomas Strobl ({0})
dem sie diese als offensichtlich unbegründet abgewiesen
hat, wird man es sich in Karlsruhe nicht machen.
({1})
Worum geht es in der Sache? Die Bürger, die Einspruch eingelegt haben, wenden sich mit juristisch beachtlichen Argumenten gegen diejenigen Zweitstimmen,
die in den beiden Berliner PDS-Wahkreisen zugunsten
der SPD abgegeben worden sind. Nach juristisch nachvollziehbarer Begründung der einspruchführenden Bürgerinnen und Bürger verstößt die Anerkennung dieser
Zweitstimmen zugunsten der SPD gegen den Grundsatz
der Wahlrechtsgleichheit, weil der Erfolgswert bei der
Zählung der Zweitstimmen höher sei.
Ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit ist sicherlich ein elementarer Verstoß gegen demokratische Wahlrechtsprinzipien.
Dass hier ein solcher Verstoß vorliegt, behaupten übrigens nicht nur die einsprechenden Bürger; auch die
Mehrheit der Wahlrechtsexperten sieht aufgrund der
wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu diesem
Thema den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verletzt. Gerade in der jüngeren verfassungsrechtlichen Literatur, die sich vor dem Hintergrund
des vorliegenden Falls mit dieser Rechtsmaterie beschäftigt, vertritt die ganz überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler exakt die Position der einsprechenden Bürger.
({2})
Die Wissenschaft stützt also die Einsprüche der Bürgerinnen und Bürger. Insofern, verehrte Frau Kollegin
Simm, möchte ich zumindest Zweifel anmelden, ob man
vor diesem Hintergrund, so wie Sie es eben getan haben,
von rechtlich einwandfrei geklärten Fällen sprechen
darf. Ich denke, jedenfalls für diese Fälle geht das nicht
in Ordnung.
Diese Einsprüche der Bürger als offensichtlich unbegründet abzuweisen, so wie es die Mehrheit im Wahlprüfungsausschuss gemacht hat, ist, finde ich, ein starkes
Stück und in der Sache nicht nachvollziehbar.
({3})
Ich habe daher Verständnis dafür, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger, die sorgfältig begründete Einsprüche
eingelegt haben, diese Entscheidung des Wahlprüfungsausschusses nicht erklären können.
({4})
Wie kann man sagen, die Einsprüche der Bürgerinnen
und Bürger seien deshalb offensichtlich unbegründet,
weil denknotwendig gar keine andere Entscheidung ergehen könne, wenn die große Mehrheit der Experten in
wissenschaftlichen Publikationen zu dieser Frage exakt
die Position der Einsprechenden vertritt? Ich finde, dieses kann man nicht verantworten.
({5})
Wie kann man sagen, die Einsprüche seien offensichtlich unbegründet, vor dem Hintergrund, dass bereits im
Bundeswahlausschuss die fachkundigen Mitglieder die
Behandlung der Wahleinsprüche höchst streitig diskutierten? Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass
sich diese streitigen Diskussionen im Wahlprüfungsausschuss fortsetzten, wie man in der vorliegenden Bundestagsdrucksache nachlesen kann.
Wie kann man sagen, die Einsprüche seien offensichtlich unbegründet, wenn sich die Einsprechenden auf ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr
1988 berufen, das unstreitig eine Lücke im Bundeswahlgesetz exakt für den hier vorliegenden Fall festgestellt
hat? Warum also „offensichtlich unbegründet“?
Die Mehrheit des Ausschusses wollte unter gar keinen Umständen eine mündliche Verhandlung durchführen. Warum eigentlich nicht? Auch gegen eine Anhörung der Sachverständigen sträubte man sich mit Händen
und Füßen. Warum eigentlich?
({6})
§ 6 Abs. 1 des Wahlprüfungsgesetzes sieht eine öffentliche mündliche Verhandlung zwingend vor. Wovor hatte
man eigentlich Angst? Vor den Einsprechenden, die
dann ihre Argumente dem Wahlprüfungsausschuss hätten vortragen können und nicht zuletzt vielleicht mit
dem Gefühl nach Hause gegangen wären, dass der Deutsche Bundestag ihre seriös begründeten Einsprüche auch
seriös behandelt und sie seriös und sorgfältig anhört?
Oder hatte man vor den Wissenschaftlern und deren Argumenten Angst, die man als Sachverständige durchaus
hätte anhören können,
({7})
die allerdings überwiegend den einsprechenden Bürgern
Recht gegeben hätten? Oder hatte man gar Angst vor der
Öffentlichkeit, weshalb man lieber im stillen Kämmerlein die Entscheidung getroffen hat? Oder gab es einen
anderen Grund, etwa den, dass nach den Feststellungen
des Bundeswahlleiters etwa 16 000 Wähler der PDS-Direktkandidatinnen ihre Zweitstimme der SPD gegeben
haben,
({8})
bei der Bundestagswahl jedoch die SPD nur mit
6 000 Stimmen Vorsprung die stärkste Partei geworden
ist? Hätten die einsprechenden Bürger Recht, verehrte
Frau Kollegin Simm, dann hätte nicht die SPD einen
Vorsprung von 6 000 Stimmen, sondern die Union läge
mit einem Vorsprung von ungefähr 10 000 Stimmen vor
der SPD.
({9})
Ist das etwa der Grund, warum man so verfahren ist?
Ich hoffe insbesondere im Interesse der einsprechenden
Bürger, dass dies nicht der Fall gewesen ist.
Thomas Strobl ({10})
({11})
Hinzu kommt, dass beide Sachverhalte zusammengenommen - die Berliner Zweitstimmen und die Überhangmandate - eine andere Mandatsverteilung im
Deutschen Bundestag ergeben hätten.
Wir denken, dass das Absehen von einer mündlichen
Verhandlung ein klarer Formfehler gewesen ist. Die
mündliche Verhandlung ist die Regel. Demgegenüber ist
das Absehen von einer mündlichen Verhandlung die
Ausnahme.
({12})
Es ist vielleicht gerade noch vertretbar, dass die Ausnahme inzwischen zur Regel geworden ist. Dass Sie die
Regel aber auch nicht mehr als Ausnahme zulassen wollen, ist für uns nicht akzeptabel.
Ich möchte zum Schluss noch zwei Punkte ansprechen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1988
dem Bundesgesetzgeber aufgegeben, eine Lücke im
Wahlrecht zu schließen.
({13})
Wir sollten uns zumindest im Innenausschuss des Deutschen Bundestages einmal mit diesem Thema beschäftigen. Denn der Auftrag, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, ist uns eindeutig erteilt worden, Herr Kollege
van Essen.
({14})
Ich kann bisher nicht erkennen, dass der Bundestag - mit
welcher Entscheidung auch immer - diesem Auftrag in
den zuständigen Gremien nachgekommen ist. Das sollten wir aber tun.
({15})
Als zweiten Punkt möchte ich abschließend die
520 Einsprüche erwähnen, die wir zum größten Teil abgearbeitet haben. Dabei haben wir nur in wenigen Punkten unterschiedliche Auffassungen vertreten. Es sind nur
noch 19 Fälle offen. Wir waren nicht in allen Punkten einer Meinung. Ich möchte mich aber ausdrücklich dem
Dank der Frau Vorsitzenden Simm für die sachlichen
Beratungen mit den Kolleginnen und Kollegen, insbesondere aber auch dem Dank an die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Sekretariats des Wahlprüfungsausschusses für ihre sehr engagierte und sachkundige Vorarbeit und Begleitung unserer Beratungen anschließen.
({16})
Besten Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Vorsitzende!
({0})
- „Frau Präsidentin“! Danke schön für diese Hilfe, Herr
Kollege van Essen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Die Korrektheit und Rechtmäßigkeit einer demokratischen Wahl sind die Hauptgründe ihrer Integrität und sind daher für die Akzeptanz demokratischer
Wahlen von ausschlaggebender Bedeutung. Deswegen
ist die Arbeit des Wahlprüfungsausschusses, die in
Art. 41 des Grundgesetzes festgeschrieben ist, ein konkreter und wichtiger Beitrag zur Integrität und Akzeptanz der demokratischen Wahlen in unserem Land.
Wir haben uns mit allen Einsprüchen der Bürgerinnen
und Bürger ausführlich und intensiv beschäftigt. Mit
Ausnahme weniger Fälle, die Herr Kollege Strobl schon
angesprochen hat, haben wir uns auch zu einer einheitlichen Meinung durchringen können.
Ich will meiner Rede den Dank an die Kolleginnen
und Kollegen - insbesondere an die Vorsitzende, Frau
Kollegin Erika Simm - und an das Sekretariat des Ausschusses, das für uns alle unentbehrliche Vorarbeiten geleistet hat, voranstellen.
({2})
Ich will - das steht im Mittelpunkt des politischen Interesses - zu den Berliner Zweitstimmen Stellung nehmen. In der Sache - das wurde am Ende der Rede des
Kollegen Strobl auch deutlich - geht es der Opposition
bei der Behandlung dieses Themas um den Sachverhalt,
dass die Wählerinnen und Wähler, die in Berlin mit Erfolg die Kolleginnen der PDS als Direktkandidatinnen
gewählt haben, mit ihren Zweitstimmen in der überwiegenden Mehrheit die SPD,
({3})
mit einigem Gewicht das Bündnis 90/Die Grünen und
vereinzelt die CDU/CSU und die FDP gewählt haben.
({4})
Nun möchten die Einspruchstellerinnen und Einspruchsteller, dass diese Zweitstimmen nachträglich nicht berücksichtigt werden. Dies könnte man von den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die ausgezählt
haben, sowie in letzter Konsequenz auch vom Bundeswahlleiter verlangen, wenn dies gesetzlich geregelt
wäre. Nach der Verfassung und den entsprechenden Gesetzen sind aber die Stimmen, die ordnungsgemäß abgegeben sind, auch zu berücksichtigen, also zu zählen.
Dies ist die Regel. Die Ausnahme ist, dass sie nicht berücksichtigt werden.
Herr Kollege Strobl, der Gesetzgeber hat die ausnahmsweise Nichtberücksichtigung korrekt abgegebener Stimmen in § 6 Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz
für folgende zwei Fälle geregelt: Die Zweitstimmen, die
für einen Direktkandidaten abgegeben werden, der in
seinem Wahlkreis erfolgreich ist und der nach § 20
Abs. 3 Bundeswahlgesetz entweder von 200 Bürgerinnen und Bürgern oder von einer Partei nominiert wurde,
die auf der entsprechenden Landesliste nicht vorkommt,
sind nicht zu zählen. Die beiden Kolleginnen der PDS
sind aber Mitglieder einer Partei, die auf der Berliner
Landesliste nicht gestrichen war. Man konnte die PDS
also wählen. Die Kolleginnen sind auch nicht durch die
Unterschriften von 200 Wählerinnen und Wählern aus
ihrem Wahlkreis nominiert worden. Mit anderen Worten:
Es gibt überhaupt keine gesetzliche Norm, die es zwingend erforderlich machte, dass die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer oder der Bundeswahlleiter die
Zweitstimmen, die für diese Kolleginnen abgegeben
wurden, für nicht berücksichtigungsfähig erklären. Deswegen ist es absolut klar, dass der Einspruch, diese Stimmen hätte man nicht zählen dürfen, in unserem Wahlprüfungsverfahren keinen Erfolg haben kann. Dieser
Einspruch ist offensichtlich unbegründet, weil es keine
entsprechende gesetzliche Regelung gibt.
({5})
- Herr Kollege Friedrich, die analoge Anwendung einer
Vorschrift auf Fälle, die nicht geregelt sind, ist aus zwei
Gründen nicht möglich, und zwar ersten aus dem Grund
der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit.
({6})
Wenn ein Bürger einem Direktkandidaten seine Zweitstimme gibt, der nicht von einer Partei vorgeschlagen ist,
die auf der Landesebene zugelassen ist, dann weiß er,
dass seine Zweitstimme nicht zählen wird.
Zweitens. Der Vorschlag der analogen Anwendung
würde dazu führen, dass die Zweitstimmen der Wähler,
die die Damen der PDS gewählt haben, zählen würden,
wenn die PDS die Fünfprozenthürde überschritten hätte,
bzw. dass sie nicht zählen würden, wenn diese Hürde
nicht gemeistert worden wäre. Damit hätte man keine
Rechtssicherheit und keine Rechtsklarheit gewonnen.
Die betreffenden Wähler wüssten bei der Stimmabgabe
nicht, was mit ihren Zweitstimmen geschehen wird.
Diese Argumentation verbietet also eine analoge Anwendung.
Vielen Dank.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie am Schluss Ihrer Redezeit
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Strobl?
Ich werde sie selbstverständlich zulassen.
({0})
- Er kann sich ja bessern.
Herr Kollege Montag, das, was Sie juristisch vertreten, halte ich jedenfalls für vertretbar und für nicht offensichtlich unbegründet.
Danke.
Hier unterscheiden wir uns eben.
Ich möchte Sie aber fragen: Sind Sie mit mir einer
Meinung, dass das Bundesverfassungsgericht im Jahr
1988 ausdrücklich eine Lücke im Bundeswahlgesetz
festgestellt hat, die den jetzt eingetretenen Fall betrifft?
Wenn es eine Gesetzeslücke gibt, dann ist es zumindest
vertretbar, an eine Analogie zu denken. Sie lehnen die
Analogie ab. Die Mehrheit der Wissenschaftler, insbesondere die Mehrheit derjenigen, die sich in der jüngeren
wissenschaftlichen Literatur mit diesem Fall beschäftigt
haben, ist anderer Auffassung als Sie.
Bei allem Respekt vor Ihrer Auffassung: Wir kritisieren vor allem, dass Sie sagen: Die Einsprüche sind offensichtlich unbegründet, weil man unter juristischen
Gesichtspunkten überhaupt nicht zu einem anderen Ergebnis kommen kann, mit der Folge, dass mündliche
Verhandlung, Sachverständigenanhörung usw. abgelehnt
werden.
Wie wollen Sie vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Literatur erklären, dass Ihre juristische Auffassung die einzig richtige ist, dass nicht auch eine andere richtige Auffassung denkbar ist, die möglicherweise
letztlich sogar vom Bundesverfassungsgericht geteilt
wird?
Herr Kollege Strobl, ich danke Ihnen für diese Frage.
Sie haben zwar kein neues Argument gebracht, aber die
Frage bietet mir die Möglichkeit, mich über meine eigentliche Redezeit hinaus zu diesem Problem noch zu
äußern.
Herr Kollege Strobl, in der Literatur werden auf der
Grundlage des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
divergierende Angebote dazu gemacht, wie die Lücke,
die das Bundesverfassungsgericht beschrieben hat, zu
schließen ist. Nach unserer Auffassung ist sie auf jeden
Fall nicht dadurch zu schließen, dass den ehrenamtlichen
Wahlhelfern oder dem Bundeswahlleiter aufgegeben
wird, in analoger Anwendung
({0})
- im Nachhinein - Stimmen, die zulässigerweise abgegeben worden sind, nicht zu berücksichtigen.
({1})
Eine solche Analogie ist gerade im Wahlrecht, in dem
der Grundsatz gilt, dass jeder, der eine gültige Stimme
abgibt, ein Recht darauf hat, dass sie gezählt wird, absolut unzulässig.
Es mag ja sein - ich glaube es nicht -, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Punkt bei einer Prüfung,
wenn sich diejenigen, die Einspruch erhoben haben,
nämlich dahin wenden, als verfassungswidrig ansieht.
Wenn es so entscheidet, dann werden wir aufgefordert
sein, das Gesetz zu ändern. Wir sind es bisher nicht. Das
Bundesverfassungsgericht hat hier etwas zu erwägen gegeben. Der Bundestag hat in jahrelanger Praxis gezeigt,
dass er keinen Änderungsbedarf sieht.
Das Rechtsproblem ist also nicht offensichtlich in unsinniger Weise diskutiert worden. Die Einsprüche, die
im vorliegenden Verfahren der Wahlprüfung erhoben
worden sind, sind offensichtlich unbegründet.
({2})
Wir sind uns darüber nicht einig. Das müssen wir aushalten. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mehrheit
im Wahlprüfungsausschuss in der Sache Recht gehabt
hat.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, SPDFraktion. - Entschuldigung; FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich lege schon großen Wert darauf, dass ich Mitglied der
FDP-Fraktion bin.
({0})
Wir behandeln ein Thema, das für die Zuhörer auf der
Tribüne sicherlich besonders schwer zu verstehen ist.
Wir steigen richtig tief in die Juristerei ein. Deswegen
will ich mit etwas beginnen, was auch andere schon getan haben, nämlich der Vorsitzenden, aber auch den Mitarbeitern und den Kollegen im Wahlprüfungsausschuss
ganz herzlich für die Zusammenarbeit danken.
({1})
Ich widerspreche dem Kollegen Strobl, der hier den
Eindruck erweckt hat, dass wir leichtsinnig, ohne wirklich ernsthafte Überlegungen Entscheidungen getroffen
haben. Das ist nicht der Fall gewesen. Sie haben für die
CDU/CSU als einer der Oppositionsfraktionen gesprochen. Die FDP als zweite Oppositionsfraktion wird - Sie
werden es erleben - der Meinung der Koalitionsfraktionen zustimmen, und zwar, wie ich finde, aus nachvollziehbaren Gründen.
({2})
Erstens. Sie wenden sich gegen die Überhangmandate und die Regelung, die wir dazu getroffen haben.
Die Überhangmandate sind etwas Unerfreuliches. Die
Überhangmandate haben das Bundesverfassungsgericht
regelmäßig beschäftigt. Das Bundesverfassungsgericht
hat deutlich gemacht, dass die Überhangmandate, so unerfreulich sie sind, zulässig sind.
({3})
- Ob es knappe Entscheidungen waren, ist wurscht. Das
Bundesverfassungsgericht hat rechtskräftig entschieden.
Es hat uns zur Auflage gemacht, den Zuschnitt der
Wahlkreise so vorzunehmen, dass Überhangmandate
nach Möglichkeit nicht entstehen. Genau dieser Verpflichtung sind wir nachgekommen. Wir haben an den
Zahlen sehen können, dass das Ganze erfolgreich war.
Während es vorher 16 Überhangmandate gab, hatten wir
bei der letzten Wahl fünf; das ist eine erhebliche Reduzierung. Weil die FDP am wenigsten davon profitiert,
wäre es mir lieber, wenn sie noch stärker reduziert werden könnten. Trotzdem: Wir sind eine Rechtsstaatspartei
und erkennen deshalb diese Möglichkeit an. Das ist
Punkt eins.
Punkt zwei: Berliner Zweitstimmen. Ihr Redebeitrag hat deutlich gemacht, warum Sie daran so interessiert sind. Sie gehen davon aus, dass dann bestimmte
Stimmen für die SPD nicht gezählt worden wären und
Sie als CDU die stärkste Fraktion gestellt hätten, möglicherweise mit Auswirkungen bis hin zur Wahl des Bundestagspräsidenten. Von daher haben Sie ein legitimes
Interesse daran.
Wir als Bundestag insgesamt haben eine ebenso legitime Verpflichtung, das Wahlrecht strikt anzuwenden.
({4})
Sie haben immer wieder auf eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts hingewiesen; es hat sich
tatsächlich mit der Frage befasst: Wie steht es um die
Zählbarkeit von Zweitstimmen, wenn die Kandidaten
- wie hier die Kandidatinnen der PDS - erfolgreich gewählt worden sind, mit der Zweitstimme aber eine andere Partei gewählt worden ist, beispielsweise die SPD?
In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht uns nicht aufgegeben, sondern uns zu erwägen
gegeben, diese Frage zu klären.
({5})
- Wir haben es nicht getan. Deswegen habe ich bei Ihrem Redebeitrag als Zwischenruf gesagt, wir sollten uns
mit dieser Frage befassen. Das ist richtig. Aber wir haben ein Ermessen, ob wir uns damit befassen oder nicht.
Wir haben es bisher nicht getan, wir haben diese Frage
bisher nicht geregelt. Das bedeutet, dass wir das geltende
Wahlrecht anwenden müssen.
Ich denke, wir sind hier in einer ähnlichen Verpflichtung wie im Strafrecht. Analogie kann es meiner Meinung nach im Wahlrecht nicht geben.
({6})
Gerade das Wahlrecht lebt davon, dass es strikt angewandt wird; nur dann ist es neutral. Analogie ist immer
zugunsten oder zulasten von irgendjemandem. Gerade
deshalb bin ich für Klarheit und Wahrheit des Wahlrechts. Ich schließe nicht aus, dass das Bundesverfassungsgericht, weil es dies schon einmal zu erwägen gegeben hat, in diese Richtung denken wird; aber das
wissen wir nicht. Wir dürfen auch nicht spekulieren und
nicht vor allem deshalb zu einer Analogie kommen, weil
es bestimmte Stimmen in der Literatur gibt. Das hat
mich sehr gewundert. Ich komme aus der Justiz. Da gibt
es etliche Fälle, in Bezug auf die es in der Literatur eine
herrschende Meinung gibt, in denen wir in der Justiz
aber aus guten Gründen anders entscheiden.
({7})
Deshalb kann es, wenn wir im Wahlprüfungsausschuss
des Bundestages zu entscheiden haben, nicht anders
sein. Wir haben diese Stimmen natürlich ernst zu nehmen, wir haben uns aber auch an die Grundregeln zu halten. Zu ihnen gehört: Analogie findet nicht statt.
Da das für mich so klar ist, bedurfte es auch keiner öffentlichen Verhandlung. Sie hätte diese Klarheit nur
zusätzlich bestärkt. Deshalb stimmen wir als FDP-Bundestagsfraktion den Beschlussvorschlägen des Wahlprüfungsausschusses zu.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim
Hacker, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Montag
hat hier heute ein überzeugendes juristisches Seminar
abgehalten.
({0})
Herr Strobl, zu Ihren Vorwürfen, wir würden im Wahlprüfungsausschuss ernsthafte Wahleinsprüche im stillen
Kämmerlein behandeln und hätten den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, das Bundeswahlgesetz zu ergänzen, nicht beachtet: Beides ist falsch. Ich will mich in beiden Punkten gegen diese Darstellung verwahren.
Wir haben nicht nur im Fall der Berliner Zweitstimmen, sondern in allen Fällen Wahleinsprüche ernsthaft
und gründlich beraten, zunächst in der Hauptverantwortung der Berichterstatter, aber dann auch ausführlich im
Ausschuss. Das waren keine Veranstaltungen im stillen
Kämmerlein. Gerade bei der Problematik der Berliner
Zweitstimmen haben wir es uns nicht einfach gemacht.
Sie stand mehrfach auf der Tagesordnung; die Berichterstatter haben sich sehr intensiv in die Materie eingearbeitet und sich insbesondere mit der Frage auseinander
gesetzt, ob denn wirklich ein Auftrag des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, den wir umzusetzen haben.
Es ist kein Auftrag. Das Bundesverfassungsgericht
hat gemeint - Herr van Essen und Herr Montag haben es
schon vorgetragen -, wir könnten es erwägen. Wir haben
es nicht erwogen. Das soll aber auch das letzte Wort zu
dieser Thematik sein. Sie vertreten hier eine Minderheitenmeinung. Das ist Ihr gutes Recht. Die Mehrheit hat
nach gründlicher Prüfung aber eine andere Entscheidung
getroffen, eine Entscheidung, die meines Erachtens in
Ordnung ist.
Ich möchte in der kurzen Redezeit, die mir zur Verfügung steht, ein paar grundsätzliche Gedanken über die
Wahlprüfung und über die Aufgaben des Wahlprüfungsausschusses äußern, weil nicht nur die Besucher,
die uns heute im Deutschen Bundestag die Ehre geben,
sondern auch die interessierte deutsche Öffentlichkeit
ein bisschen mehr darüber wissen sollten, was der Wahlprüfungsausschuss tut.
Jeder wahlberechtigte Bürger in Deutschland kann die
Wahlvorbereitung, die Wahldurchführung und die Stimmenauszählung auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen lassen. Zu Beginn jeder Legislaturperiode wird erfahrungsgemäß eine Vielzahl von Wahleinsprüchen eingelegt.
Die Zahl ist hier schon genannt worden. Die Überprüfung der Wahlen zum Deutschen Bundestag ist verfassungsrechtlich abgesichert. In Art. 41 des Grundgesetzes
wird diese Aufgabe dem Parlament übertragen. Die Entscheidung des Bundestages wird durch den Wahlprüfungsausschuss, dessen Mitglieder direkt vom Parlament
gewählt werden, vorbereitet. Die Wahleinsprüche werden vom Wahlprüfungsausschuss überprüft und dem
Plenum in Beschlussempfehlungen zur Entscheidung
vorgelegt. Das ist heute hier der Fall. Gegen Entscheidungen des Bundestages kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden.
Ziel der Wahlprüfung ist es, die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Deutschen Bundestages zu gewährleisten. Ein Wahleinspruch mit der Folge, dass eine Auszählung oder die Wahl ganz oder teilweise erneut
stattfinden muss, ist deshalb nur begründet, wenn ein
Fehler festgestellt worden ist und - das ist entscheidend - wenn dieser festgestellte Fehler Einfluss auf die
Verteilung der Mandate hat oder haben könnte. Das
Wahlprüfungsverfahren selbst - insbesondere die Praxis,
in Fällen offensichtlicher Unbegründetheit eines Einspruchs von einer öffentlichen mündlichen Verhandlung
abzusehen - hat die Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses bereits erläutert.
Es wäre sicherlich interessant, wenn man im Rahmen
dieser Debatte einzelne Wahleinsprüche und die Ergebnisse ihrer Überprüfung darstellte. Dafür ist hier leider
keine Zeit. Ich möchte auf ein Problem eingehen, mit
dem wir uns - neben der Frage der Berliner Zweitstimmen - beschäftigt haben. Es geht um die Frage, ob es in
Ordnung ist, dass das Bundespresseamt mit einer Zeitungsbeilage einen Monat vor der Bundestagswahl in der
Öffentlichkeit eine Position zum Zuwanderungsgesetz
vertrat, die zum großen Teil mit der Position der Koalition identisch war.
({1})
Herr Strobl, auch hierbei waren Ihre Argumente nicht
überzeugend; wir haben uns damit intensiv auseinander
gesetzt. Diese Wahleinsprüche waren ebenfalls offensichtlich unbegründet; denn das Bundesverfassungsgericht hat - das gilt auch für diesen Fall - im Jahr 2001
klargestellt, dass staatliche Wahlbeeinflussung nur dann
vorliegt, wenn staatliche Stellen im Vorfeld einer Wahl
in mehr als nur unerheblichem Maße parteiübergreifend
auf die Bildung des Wählerwillens einwirken.
({2})
Dies war im konkreten Fall dieser Zeitungsbeilage
nicht so. Es war Ihr freies Recht, sich im Wahlkampf mit
dieser Thematik auseinander zu setzen. Sie haben dieses
Thema im Übrigen in bekannter Weise problematisiert.
Ich will unterstreichen: Die Entscheidung, die wir zu
diesem Wahleinspruch getroffen haben, ist richtig und
rechtlich zu vertreten.
Herr Kollege Hacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Ja, bitte.
Herr Kollege Hacker, ich hätte diesen Vorgang nicht
angesprochen, wenn Sie ihn nicht verursacht hätten. Halten Sie es für politisch richtig, dass die Bundesregierung
so kurz vor der Bundestagswahl für ein Gesetz geworben
hat, das offensichtlich unter Bruch der Verfassung zustande gekommen ist und deswegen auch vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden ist?
Herr Kollege von Klaeden, Sie stellen den Sachverhalt nicht richtig dar.
({0})
Mit dem Gesetz selbst hat der Verfassungsbruch nichts
zu tun.
({1})
Es ging darum, wie das Gesetz im Bundesrat behandelt
worden ist.
({2})
Das steht nach meiner Auffassung auf einem ganz anderen Blatt. Die Bundesregierung hat für den Inhalt eines
Gesetzes geworben, das das Hohe Haus beraten und mit
Mehrheit verabschiedet hat. Dass ein solches Gesetz
dringend notwendig ist, haben in Deutschland - da
werde ich jetzt sehr politisch - eine große Mehrheit unserer Bevölkerung, Verbände, Kirchen und andere Institutionen bestätigt.
({3})
Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung, und zwar
nicht zum ersten Mal im August 2002, sondern bereits
im Frühjahr 2002, die deutsche Öffentlichkeit über den
Inhalt dieses Gesetzes und über die mit diesem Gesetz
verbundenen Chancen insbesondere für die Integration
ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger informiert
hat. Das war, wie ich denke, eine wichtige Information.
({4})
Sie hatten alle Gelegenheit, sich im Wahlkampf mit
diesem Thema auseinander zu setzen. Ich gehe davon
aus, Sie haben diese Chance auch genutzt und dieses
Thema und ähnliche Themen auf Wahlveranstaltungen
in bekannter Weise problematisiert.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Redezeit ist, wie ich gerade sehe, fast zu Ende. Trotz all der
Spannungen, die sich an dem Thema der Berliner Zweitstimmen entzündet haben, möchte ich nicht vergessen,
dass den Mitgliedern des Ausschusses Dank gebührt. Ich
bedanke mich bei der Vorsitzenden für die Führung der
Beratungen und beim Ausschusssekretariat. Wir haben
eine Vielzahl von Wahleinsprüchen behandelt, wobei wir
in einer sehr qualifizierten Weise durch die Mitarbeiter
unterstützt wurden. Dafür meinen herzlichen Dank.
Ich wünsche mir, dass die Arbeit im Wahlprüfungsausschuss hinsichtlich der noch offenen Wahleinsprüche
in einer guten kameradschaftlichen Art und Weise weitergeführt wird und sie nicht von Polemik dominiert
wird, Herr Strobl.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich denke, die letzten Redebeiträge haben ein
bisschen das verschüttet, was für uns von der CDU/
CSU-Fraktion in diesem Verfahren die Beschwer darstellt. Es geht uns nicht darum, im Ausschuss oder hier
vehement und einseitig für irgendeine rechtliche Beurteilung zu plädieren. Wir haben vielmehr darauf hingeDr. Hans-Peter Friedrich ({0})
wiesen, dass es nicht sein kann, dass in einer außerordentlich komplizierten, schwierigen und umstrittenen
Rechtsmaterie dem Prinzip des Wahlprüfungsgesetzes,
das besagt, dass bei jedem Einspruch eine mündliche
Verhandlung einzuberufen ist, keine Gültigkeit mehr
eingeräumt wird. Es ist doch klar, dass angesichts einer
solch umstrittenen Situation der Einspruch nicht als „offensichtlich unbegründet“ qualifiziert werden kann.
({1})
Wir haben noch ein Weiteres gemacht, was nicht gut
ist: Indem der Wahlprüfungsausschuss den Einspruchsführern bescheidet, dass ihr Einspruch offensichtlich unbegründet ist, zwingen wir sie, da sie wissen, dass der
Sachverhalt in der Literatur und in der Rechtssprechung
umstritten ist, dazu, zum Bundesverfassungsgericht zu
gehen.
({2})
Für mich ist die entscheidende Frage: Ist es richtig, dass
wir als Bundestag eine Aufgabe, die wir zugewiesen bekommen haben, nicht nachkommen, sondern sie so behandeln, dass auf Anruf der Einspruchsführer das Bundesverfassungsgericht dazu gezwungen ist, die Arbeit zu
erledigen, die wir eigentlich erledigen müssten?
({3})
Wir haben hierbei, liebe Frau Vorsitzende, auch die
Chance verpasst, eine Gesetzesinitiative, die das Bundesverfassungsgericht zwar nicht angemahnt - so weit will
ich nicht gehen -, aber angeregt hat, vom Wahlprüfungsausschuss aus auf den Weg zu bringen. Das Besondere an
der damaligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ist ja, dass es hypothetisch einen Fall problematisiert hat, der jetzt genau eingetreten ist. Insofern wäre es
an der Zeit und im Grunde auch richtig gewesen, durch
eine Anhörung im Wahlprüfungsausschuss - wir wollten nicht mehr als eine mündliche Verhandlung - klären
zu lassen,
({4})
wie die rechtlichen Positionen gegeneinander abzuwägen sind. Das zu tun hätte auch einem Wahlprüfungsausschuss in dieser Frage gut angestanden.
({5})
Ich will die Zeitungsbeilage, die einen Monat vor der
Bundestagswahl erschienen ist, ansprechen. Auch Herr
Hacker hat dieses ja hier schon vorgetragen.
({6})
Ich möchte den Sachverhalt für diejenigen, die das
Geschehen nicht näher verfolgt haben, schildern. Am
21. und 22. August, also genau einen Monat vor der
Bundestagswahl 2002, wurde in allen großen deutschen
Tageszeitungen eine Beilage verteilt, deren Kosten aus
Haushaltsmitteln beglichen wurden und sich auf
2,85 Millionen Euro beliefen. Auftraggeber war das
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Die
Einspruchsführer haben darauf hingewiesen, dass es sich
bei dieser Aktion um einen Verstoß der Bundesregierung
gegen ihre Neutralitätspflicht im Vorfeld einer Bundestagswahl und damit gegen den Grundsatz der Chancengleichheit handeln könnte.
Von Ihnen, Herr Hacker, ist schon die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zitiert worden.
Die Aufgabe des Wahlprüfungsausschusses muss es natürlich sein, den Einspruch im Lichte der schon geltenden Verfassungsrechtsprechung zu prüfen. Es gibt eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem
Jahre 1977, aus der ich einige Leitsätze vorlesen möchte:
Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer
politischen Partei in den Wahlkampf einwirken. Ein
parteiergreifendes Einwirken von Staatsorganen in
die Wahlen zur Volksvertretung ist auch nicht zulässig in der Form von Öffentlichkeitsarbeit. Die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung findet dort ihre
Grenzen, wo die Wahlwerbung beginnt … Aus der
Verpflichtung der Bundesregierung, sich jeder parteiergreifenden Einwirkung auf die Wahl zu enthalten, folgt schließlich für die Vorwahlzeit das Gebot
äußerster Zurückhaltung und das Verbot jeglicher
mit Haushaltsmitteln betriebener Öffentlichkeitsarbeit in Form von so genannten Arbeits-, Leistungsund Erfolgsberichten.
Wenn man im Lichte der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts diese Zeitungsbeilage, die einen Monat
vor der Bundestagswahl verteilt wurde, beurteilt, dann
stellt man fest: Erstens hat sie keinerlei sachliche Aufklärung zum Zuwanderungsgesetz und zu seinen Folgen
beinhaltet, sondern sich darin erschöpft, die einseitige
Position der Bundesregierung und der rot-grünen Koalition wiederzugeben. Zweitens wurde gegen das Gebot
der äußersten Zurückhaltung, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung auferlegt hat, verstoßen, da diese Broschüre in der heißen Phase des
Wahlkampfs verteilt worden ist.
({7})
Ich möchte noch auf Folgendes hinweisen: Dieses
Gesetz wurde vom Bundespräsidenten schon am 20. Juni
2002 unterzeichnet. Zwei Monate später, also genau in
der heißen Wahlkampfphase, verteilt das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eine Zeitungsbeilage zu diesem Thema. Ich denke, das ist ein offensichtlicher Verstoß gegen die vom Verfassungsgericht
beschriebenen Rechtsprinzipien.
Unser Petitum war: Der Wahlprüfungsausschuss muss
prüfen, ob diese Beilage möglicherweise einen Wahlfehler begründet. Wir haben uns aber nicht darauf festgelegt, dass diese Bundestagswahl anfechtbar ist, sondern
lediglich darauf hingewiesen: Das Ausmaß dieses Verstoßes muss geprüft werden. Denn er ist groß genug,
dass ein Zusammenhang mit dem Ausgang der Wahl
- die Entscheidung war denkbar knapp; es gab eine Differenz von nur wenigen Tausend Stimmen - möglich ist.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({8})
Es besteht also in dieser Frage ein ganz erheblicher Prüfungsbedarf. Wie Sie trotz dieses erheblichen Prüfungsbedarfs sagen können, er sei offensichtlich unbegründet,
ist uns unbegreiflich. Das kritisieren wir.
({9})
Wir haben uns überlegt, warum Sie sich so verhalten.
Warum sollte man diesen Sachverhalt nicht überprüfen?
Eine Erklärung ist, dass die Bundesregierung auch in
dieser Wahlperiode mit dieser Art von Propaganda durch
das Presse- und Informationsamt munter weitermacht.
({10})
In der heißen Phase des Landtagswahlkampfes in Bayern
wurden im Rahmen der Kampagne „Deutschland bewegt sich - Agenda 2010“, deren Kosten sich auf
2,4 Millionen Euro beliefen und die aus Haushaltsmitteln des Bundes finanziert wurden, 18 000 Großplakate
geklebt.
({11})
Diese Kampagne begann also genau in der heißen Phase
des Wahlkampfs. Welch ein Zufall! Die Tatsache, dass
die Plakate der Bundesregierung inzwischen mehr schaden als nützen, hat mit der Rechtsfrage, um die es hier
geht, glaube ich, nichts zu tun.
({12})
Ich möchte insgesamt feststellen: Wir haben die
Chance verpasst, anhand dieser Frage unsere Arbeitsweise als Wahlprüfungsausschuss der Öffentlichkeit in
einem umfangreichen Verfahren darzustellen. Ich denke,
es ist nach unserer Sicht der Dinge verständlich, dass wir
dem Beschlussvorschlag des Wahlprüfungsausschusses
- so Leid uns das tut - nicht folgen können.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur zweiten Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses zu 57 gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 15. Deutschen Bundestag eingegangenen
Wahleinsprüchen, Drucksache 15/1850. Der Wahlprüfungsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die aus den Anlagen 1 bis 57 ersichtlichen
einzelnen Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen
anzunehmen. Es wird getrennte Abstimmung verlangt.
Wer stimmt für die aus den Anlagen 1 bis 11 ersichtlichen Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprüchen Anlagen 1 bis 11 sind
mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Wer stimmt für die aus der Anlage 12 ersichtliche Beschlussempfehlung zu einem Wahleinspruch? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung zu
dem Wahleinspruch Anlage 12 ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Wer stimmt für die aus den Anlagen 13 bis 57 ersichtlichen Beschlussempfehlungen zu Wahleinsprüchen sowie für die Nrn. 2 und 3 der Beschlussempfehlung des
Wahlprüfungsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlungen zu den Wahleinsprüchen Anlagen 13 bis 57 sowie die Nrn. 2 und 3 der Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses sind
mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Notwendigkeit der steuerlichen Entlastung für
Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen bereits zum 1. Januar 2004 zur Flankierung des
sich abzeichnenden Wirtschaftsaufschwungs
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte die Begründung, warum es notwendig ist, die dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen, zuerst und im Wesentlichen aus meiner Sicht als Finanzminister geben.
Die Konsolidierungspolitik, die zweifelsfrei zwingend erforderlich ist, war erfolgreich in Zeiten des
Wachstums: Im Jahre 1999 und im Jahr 2000 hatten wir
die niedrigste Staatsverschuldung seit der Wiedervereinigung. Im Bundeshaushalt war sie auch noch im Jahre
2001 erfolgreich, während zu dieser Zeit die Defizite in
den Länderhaushalten bereits explodierten. Die letzten
drei Jahre Stagnation haben uns aber gezeigt, dass es
keine nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ohne nachhaltiges Wachstum gibt. Umgekehrt
gilt es auch: Es gibt kein nachhaltiges Wachstum ohne
nachhaltig solide öffentliche Finanzen.
Deswegen müssen wir eine Politik betreiben, die
nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung in Deutschland besser möglich macht als in der Vergangenheit.
Dazu hat Ihnen die Bundesregierung einen Dreiklang
vorgeschlagen, bestehend aus Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung und dem Vorziehen der dritten Stufe
der Steuerreform.
({0})
Konsolidierung heißt in der Tat - darum soll man
nicht herumreden -, die sozialen Sicherungssysteme insbesondere vor dem Hintergrund der Herausforderungen
der deutschen Einheit und vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung unseres Landes nachhaltig
tragfähig zu machen. Nachhaltig tragfähig heißt auch
- auch darum sollte man nicht herumreden -, dass neu
justiert werden muss zwischen dem, was die sozialen Sicherungssysteme für alle leisten können, und dem, was
jeder Einzelne selber an Vorsorge leisten muss. Das geschieht bei der Gesundheits- und auch bei der Rentenreform. Diese Belastungen müssen wir den Menschen in
diesem Lande im Interesse einer langfristigen Tragfähigkeit der Sozialsysteme leider zumuten.
Es geht um die Konsolidierung des Bundeshaushaltes.
Denn wer, so wie wir das tun, vorschlägt, die Steuerreform 2005 auf 2004 vorzuziehen, der muss zunächst im
Haushalt dafür die Voraussetzungen schaffen.
({1})
Das heißt, vor dem Hintergrund der außerordentlich
schwierigen Lage der öffentlichen Finanzen nachhaltige
Konsolidierungsschritte über das hinaus zu machen,
({2})
was wir im Jahre 1999 mit dem Konzept 2000 eingeleitet
haben.
({3})
Denn wenn wir das, was Ihre Unterstützung, lieber Herr
Koppelin, nicht gefunden hat, nicht eingeleitet hätten,
hätten wir dieses Jahr neue Schulden von etwa
20 Milliarden Euro mehr.
({4})
Die Konsolidierungspolitik war erfolgreich. Aber in Zeiten der Stagnation geschieht zweierlei: Erstens brechen
die Steuereinnahmen weg und zweitens müssen die Ausgaben für den Arbeitsmarkt wesentlich höher sein als
kalkuliert.
Es genügt - Sie sollten nicht immer nur dazwischenrufen -, sich einmal in Europa umzusehen. Dann können
Sie feststellen, dass eine ganze Reihe von Ländern in
dieser Phase von ihren Haushaltsansätzen wesentlich
stärker abweichen als wir. Ich empfehle meinem niederländischen Kollegen Gerrit Zalm, bei seiner Kritik an
Deutschland ein bisschen leiser zu sein.
({5})
Da die Abweichung im niederländischen Staatshaushalt
vom Jahr 2000 bis jetzt nicht wie bei uns 3 Prozent, sondern mehr als 4 Prozent beträgt,
({6})
muss man festhalten: Die Finanzdisziplin ist dort nicht
so gut wie in Deutschland.
({7})
Konsolidierung des Haushaltes heißt: Vor dem Vorziehen der Steuerreform muss die für den Haushalt 2004
veranschlagte Neuverschuldung in jedem Falle unter den
veranschlagten Investitionen liegen. Deswegen müssen
wir insbesondere beim Abbau von Finanzhilfen - dort
sind wir hervorragend vorangekommen; allerdings sind
wir hier auch nicht auf den Bundesrat angewiesen - und
beim Abbau der Steuersubventionen in großen Schritten
vorankommen.
Ich begrüße es, dass dieses Thema inzwischen enttabuisiert ist. Hätten Sie das ein Jahr vorher fertig gebracht, dann hätten wir schon dieses Jahr weniger Schulden.
({8})
Hierzu hat die Bundesregierung einiges präsentiert: Erstens. Die Eigenheimzulage muss weg. Das ist eine unsinnige Subvention, die durch ein vernünftiges Investitionsprogramm ersetzt werden sollte.
({9})
Zweitens. Die Pendlerpauschale muss reduziert werden.
Drittens. Die Halbjahres-AfA muss weg; zumindest darüber besteht inzwischen offensichtlich Konsens.
All das, was die Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück - ich sage: dankenswerterweise - zur Enttabuisierung dieses Themas aufgelistet haben - und noch mehr -,
muss umgesetzt werden, damit wir die für das Vorziehen
der Steuerreform notwendigen Voraussetzungen bekommen.
({10})
Das bedeutet - das ist die volkswirtschaftliche Begründung -, dass wir dem Wirtschaftskreislauf in einer
Phase der Stagnation mit rigiden Strukturreformen in
den sozialen Sicherungssystemen und im Haushalt mindestens 23 Milliarden Euro entziehen. Die Frage ist, ob
man dem Kreislauf in einer Phase der Stagnation Kaufkraft in einem solchen Maße ersatzlos entziehen darf
oder ob man so nicht die Phase der Stagnation noch verlängert. Das ist der Grund dafür, warum die Bundesregierung sagt: Wir müssen die nächste Stufe der Steuerreform, die ohnehin für 2005 geplant ist, auf 2004
vorziehen. In einer Phase der Stagnation ist es nicht verantwortbar, eine kontraktive Finanzpolitik zu betreiben.
({11})
Denn diese verlängert die Stagnation. Das heißt, wir machen eine nachhaltige Wachstumspolitik durch Strukturreformen und sorgen kurzfristig dafür, dass es zu keiner
Verlängerung der Stagnation durch eine kontraktive
Finanzpolitik kommt. Wir setzen also in der Finanzpolitik einen Wachstumsimpuls mit einer Maßnahme, die
ohnehin im Rahmen der Strukturreformen geplant ist.
Dies ist übrigens eine Politik, von der der Internationale Währungsfonds sagt, dass sie richtig und mutig ist
und dass sie genau dort ansetzt, wo in dieser Phase angesetzt werden muss. Denn Europa braucht Wachstum
- vor allem in der größten Volkswirtschaft der Union: in
Deutschland.
Unser Konzept liegt nun klar auf dem Tisch. Das Angebot lautet: Wir sind in Sachen Subventionsabbau zu
jedem Gang bereit, den Sie mitgehen - so viel Sie wollen!
({12})
Aber es liegt auch an Ihnen; denn in diesem Bereich geht
nichts ohne den Bundesrat.
Was sind Ihre Antworten? Es gibt einige, die gerne
mittun möchten, zum Beispiel Herr Althaus, Herr Teufel
und der eine oder andere mehr. Was hören wir aber an
Bedingungen? Sie sagen - da wird es heuchlerisch und
das kann so nicht bleiben -, wir dürften dafür keine
Schulden machen. Die Wahrheit ist aber: Wenn wir sowohl den Haushalt konsolidieren als auch die Steuerreform vorziehen und das Vorziehen komplett steuerlich
gegenfinanzieren, betreiben wir eine massiv kontraktive
Finanzpolitik.
Noch komischer wird es, wenn Sie sich der Haushaltskonsolidierung verweigern: Was passiert denn dann
mit Ihren Positionen? Sie sagen, Sie wollen die Eigenheimzulage behalten, sie aber nicht durch Schulden
finanzieren. Was ist Ihre Position bei der Pendlerpauschale?
({13})
Was ist mit den Vorschlägen, die im Grundsatzkonzept
von Herrn Merz vorkommen, wonach man die Subventionen in der Tat abschaffen könne? Sie können nicht auf
der einen Seite sagen, Sie wollten das gegenfinanzieren,
und auf der anderen Seite jede Gegenfinanzierung ablehnen. So funktioniert das nicht.
({14})
Auch das, was Herr Stoiber macht, kann nicht gehen.
Er macht Vorschläge, von denen er weiß, dass sie nicht
einmal in der CDU eine Mehrheit finden. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten zum Beispiel akzeptieren gar
nicht, was er vorgeschlagen hat. Das „Handelsblatt“
spricht von einer Verzögerungstaktik. Er ist sozusagen
der lächelnde Blockierer. Das hat das Land nicht verdient.
({15})
Wir müssen aus der Stagnation herauskommen und
wir haben die Chance dazu. Alle Vorschläge der Regierung liegen auf dem Tisch.
({16})
Das Vorziehen der Steuerreform muss unter diesen Bedingungen stattfinden. Sie tragen mit Ihrer Mehrheit im
Bundesrat dieselbe Verantwortung wie wir.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Merz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es fehlen einem fast die Worte,
({0})
wenn man einem solchen Beitrag hier zuhört.
({1})
- Dieser Jargon fällt auf Sie selbst zurück, sehr geehrter
Herr Kollege.
({2})
- Schauen Sie sich demnächst einmal Ihren Bundeskanzler an, wenn er hier spricht. Der nämlich hat beide Hände
in der Hosentasche. Das habe ich mir an dieser Stelle
noch nicht erlaubt, lieber Herr Kollege.
({3})
Es fehlen einem wirklich die Worte, wenn der Bundesfinanzminister von dieser Stelle aus kein einziges
Wort zu der Steuerschätzung von heute sagt.
({4})
- Gut, dann werden wir uns das auch anhören. Lieber
Herr Eichel, Sie können doch nicht so tun, als ob diese
Debatte völlig losgelöst wäre von der nächsten und beide
Sachverhalte nichts miteinander zu tun hätten.
({5})
Mit Verlaub, Sie können nicht in einer Diskussion, in der
es um Steuersenkungen für das nächste Jahr geht, völlig
ohne Berücksichtigung lassen, dass uns die Steuerschätzer heute gesagt haben, im nächsten Jahr werde der
Bund - über das hinaus, was ohnehin schon an Ausfällen
stattfinden wird - eine erhebliche Mindereinnahme im
Haushalt hinnehmen müssen. Das hat doch einen inneren Zusammenhang. Wenn Sie in diesem Zusammenhang immer noch von Konsolidierung und Finanzdisziplin sprechen, dann kann man sich des Eindrucks nicht
erwehren, Sie hätten eine Rede aus dem vorletzten Jahr
mitgebracht. Das ist doch fernab der Wirklichkeit.
({6})
Es gibt einen zweiten Sachverhalt, auf den ich hinweisen will, nämlich den Arbeitsmarkt. Ich möchte anregen, dass vielleicht Ihr Kabinettskollege Herr Clement
von dieser Stelle aus etwas dazu sagt.
({7})
Wir haben heute nicht nur die Steuerschätzungen vorgelegt bekommen, sondern auch die Arbeitsmarktdaten für
den Oktober 2003. Ich möchte Sie bitten, nicht nur etwas
zur Arbeitslosigkeit zu sagen, sondern auch zur Beschäftigungssituation.
({8})
Das hat wirklich etwas miteinander zu tun.
Es gab im Oktober dieses Jahres etwas mehr als
600 000 Beschäftigte weniger in Deutschland als im Oktober des letzten Jahres. Unser Volk von 82 Millionen Einwohnern verfügt gegenwärtig noch über etwa 26 Millionen
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Lieber Herr Eichel, Sie können das drehen und wenden,
wie Sie wollen: Das, was Sie zum 1. Januar 2004 vorschlagen - darüber wird heute Abend bei Ihnen wie bei
uns intern beraten -, wird keinen Beitrag zur Lösung der
Probleme auf dem Arbeitsmarkt leisten.
({9})
Wenn es überhaupt noch einen Sinn hat, dass die Ausschüsse des Deutschen Bundestages beraten und Fachleute einladen, um sich Rat geben zu lassen, dann sollten
Sie das zugrunde legen, was im Haushaltsausschuss des
Bundestages von allen Fachleuten übereinstimmend zu
diesem Sachverhalt gesagt worden ist.
Selbst diejenigen, die noch weitgehend der Meinung
sind, man könne Wirtschaftsaufschwung durch Stärkung
der Nachfrage auslösen - es gibt ja immer noch den einen oder anderen, der das glaubt -, sagen, dass die von
Ihnen zum 1. Januar 2004 zusätzlich geplanten Steuerentlastungen praktisch keine Wirkung haben werden.
Man redet über eine Steigerung des Wirtschaftswachstums um 0,1 bis 0,2 Prozent. Jeder hier im Hause weiß,
dass dieses Wachstum bei weitem nicht ausreicht, um
auch nur einen Hauch von weiterer Beschäftigung auf
dem Arbeitsmarkt auszulösen. Worüber reden Sie hier
eigentlich, wenn Sie eine Aktuelle Stunde zum Thema
„Entlastung für Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen“ beantragen?
({10})
Ich will durchaus anerkennen und bedanke mich dafür, dass Sie einige zustimmende Worte zu den von mir
in dieser Woche vorgeschlagenen Leitlinien für eine Modernisierung unseres Einkommensteuerrechts gefunden
haben. Leider hat es aus Ihren Reihen auch gleich wieder
reflexartige Kritik gegeben,
({11})
die Vorschläge seien sozial unausgewogen. In dieser Aktuellen Stunde geht es auch um das Thema der Entlastung für Familien. Auch wenn es nicht jedem gefällt,
wiederhole ich, was ich vor einiger Zeit schon einmal
gesagt habe: Was nützt es eigentlich, über die Entlastung
von Familien in Deutschland zu sprechen, wenn die Eltern arbeitslos werden? Ich bin sehr dafür - damit es hier
nicht zu Missverständnissen kommt -, sehr viel mehr für
die Familien zu tun, insbesondere für Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen,
({12})
die Kinder haben und aufziehen. Jeder, der selber Kinder
hat, weiß, dass das manchmal schwierig ist. Es ist
manchmal bewundernswert, wie gerade die Bezieher
niedrigerer Einkommen die dadurch entstehenden zusätzlichen finanziellen Belastungen tragen.
Wenn wir hier aber über das Thema Entlastung für
Familien reden, müssen wir vorher darüber reden, wie
wir aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise unserer Volkswirtschaft herauskommen. Die Finanzpolitik
und - mit Verlaub - auch die Wirtschaftspolitik dieser
rot-grünen Bundesregierung in den letzten fünf Jahren
hat in sämtlichen Kennziffern der Volkswirtschaft zum
glatten Gegenteil von dem geführt, was in diesem Lande
eigentlich notwendig wäre.
({13})
Zum Schluss berufen Sie sich ganz stolz darauf, dass
das Bundeswirtschaftsministerium jetzt entsprechende
Statistiken über den Niedriglohnsektor herausgibt. Dazu
kann ich nur sagen: Es ist schön und gut, dass wir den
haben, aber diese Mikroökonomie wird uns nicht aus der
Krise herausführen. Wir brauchen Vollzeitarbeitsplätze
in der gewerblichen Wirtschaft, im ersten Arbeitsmarkt.
Wenn wir 50 000 Arbeitsplätze pro Monat in diesem
Lande verlieren, lieber Herr Eichel, können Sie hier von
diesem Platz aus noch so häufig über Finanzdisziplin,
automatische Stabilisatoren, über Konsolidierung und
anderes sprechen, es wird Ihnen ohnehin niemand mehr
glauben, aber es wird auch nichts mehr bewirken.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit Verlaub, Herr Merz, sprachlos waren Sie nicht.
({0})
Ich frage mich aber, für wen Sie gesprochen haben, denn
wir warten schon darauf, dass die Opposition endlich mit
einer Stimme spricht. Was Sie hier gerade vorgetragen
haben - das hat die letzte Woche gezeigt -, führt in Ihren
eigenen Reihen zu erheblichen Widersprüchen
({1})
und ist erheblich umstritten. Ich will Beispiele nennen:
Ihr Konzept der Abkehr vom linear-progressiven Tarif
wird - ich finde, zu Recht - als unsozial bezeichnet, so
zum Beispiel von Herrn Müller oder auch von Herrn
Stoiber. Ihr Konzept hatte eine Halbwertszeit von einem
Tag, Herr Merz. Sie mussten nachbessern, weil es eine
erhebliche soziale Schlagseite hat.
({2})
Damit aber nicht genug: Ihre Fraktionsvorsitzende,
Frau Merkel, setzt sich für die Herzog-Vorschläge ein.
Sie wissen sehr genau, dass Ihr Konzept mit diesen Vorschlägen nicht kompatibel ist. Beide Vorschläge zusammengenommen bedeuten eine Finanzierungslücke von
mindestens 34 Milliarden Euro. Sie sagen nichts dazu,
wie Sie diese Lücke decken wollen. Sie machen die
Rechnung ohne den Wirt.
Es geht in der Tat darum, die Konjunktur im nächsten
Jahr in Schwung zu bringen. Wir brauchen einen Anreiz
für die Konjunktur. Ihre Argumentation aber, die Sie hier
abliefern, richtet sich sowohl gegen das Vorziehen der
Steuerreform als auch gegen den Subventionsabbau.
Denn Letzteren stellen Sie, Herr Merz, in Ihrem Konzept
wieder zur Disposition; ich nenne als Beispiele die Eigenheimzulage oder die Pendlerpauschale. Ich muss
mich also fragen, welches Ziel Sie verfolgen und für
wen Sie sprechen.
({3})
- Eben, wir brauchen den Aufschwung, einen Anschub
für die Konjunktur im nächsten Jahr. Deshalb ist ein Vorziehen der Steuerreform erforderlich. Nur dann werden
die Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und die Unternehmen mehr Geld zur Verfügung haben, um zu konsumieren und zu investieren.
({4})
Jeder, der wie Herr Wulff oder Herr Koch diesen Kurs
blockiert und damit kaputt macht, trägt dazu bei, der
konjunkturellen Belebung die Chancen zu nehmen. Von
internationaler Seite haben wir ins Stammbuch geschrieben bekommen, dass Strukturreformen in Deutschland
überfällig sind; das wissen Sie ganz genau. Und warum?
({5})
- Sie brauchen gar nicht so zu tun, als hätten Sie nichts
damit zu tun. Das ist typisch. Sie wissen ganz genau,
dass Sie sehr viel dazu beigetragen haben. Ich nenne als
Beispiele nur die falsch finanzierte deutsche Einheit
({6})
und - das ist besonders wichtig - die über Dekaden verschlafenen Strukturreformen am Arbeitsmarkt.
Mit der Agenda 2010 haben wir die so wichtigen
Strukturreformen eingeleitet. Diese werden aber erst im
Zusammenhang mit einem konjunkturellen Aufschwung
wirken können. Deswegen müssen wir den Schritt machen und die Steuerreform vorziehen.
Bei diesem Thema bricht bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union, das schiere Chaos aus, wie
es uns Herr Merz gerade bei seiner Rede vorgeführt hat.
Dieses Chaos trägt den Nachnamen Union und hat viele
Vornamen: Koch, Wulff, Müller, Merkel oder Merz.
({7})
- Stoiber natürlich auch. - Herr Müller zum Beispiel
will, dass man sich auf einem Gipfel nicht über das Vorziehen der Steuerreform, sondern über das Konzept von
Herrn Merz unterhält. Dieser aber lehnt - man höre und
staune - den Stufentarif ab. Ich weiß also nicht, worüber
er überhaupt reden will. Herr Stoiber wiederum will
keinen Gipfel, aber will, wie er sagt, die Steuerreform
vorziehen. Wie will er sie finanzieren? - Das ist ganz
einfach, nämlich - unionsgerecht - auf Kosten der
Arbeitslosen. In einer Situation höchster Arbeitslosigkeit
- in den neuen Ländern haben wir eine Arbeitslosigkeit
von bis zu 20 Prozent - will er ABM-Mittel, Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote streichen.
({8})
Und was will Frau Merkel? Das frage ich mich auch.
Heute Morgen zum Beispiel hat sie gesagt, sie wolle die
Steuerreform nicht vorziehen, zumindest nicht auf diese
Weise.
Ich fordere Sie daher auf: Lassen Sie uns doch darüber reden, wie man die Steuerreform vorziehen kann!
({9})
Lassen Sie uns über eine ordentliche Finanzierung reden
und hören Sie auf, im Bundesrat den Subventionsabbau
zu blockieren, der für ein Vorziehen nötig ist!
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Das Chaos bei der Union, das ich eben angesprochen
habe, hat System. Alle Ihre Vorschläge, die Vorschläge
von Stoiber zur Finanzierung, die Vorschläge von Merz
zur Steuerreform, die Vorschläge von Herzog zur Pauschale in der Gesundheitsversorgung und die Vorschläge
von Koch zur Senkung der Sozialhilfe, haben einen
gemeinsamen Kern: Die beabsichtigten Änderungen gehen zulasten der kleinen Einkommen, zulasten der
Kommunen und zulasten der Arbeitslosen. Wir wollen
der Belebung der Konjunktur eine Chance geben, aber
nicht der sozialen Ausgrenzung.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Eichel, Ihre Rede
hat mich schon erstaunt. Ich glaube, an dieser Stelle
wäre etwas mehr Bescheidenheit erforderlich gewesen.
({0})
Frau Dückert, da ich in einem Punkt mit Ihnen übereinstimme, möchte ich diesen hier auch betonen: Wir
brauchen mehr Wachstum und Beschäftigung in unserem Lande.
({1})
Dafür brauchen wir allerdings weniger Rot-Grün. Das ist
der Punkt, um den es geht.
({2})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
ist grotesk: Heute, an dem Tag, an dem wir die von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen beantragte Aktuelle Stunde
mit dem Thema „Für die Notwendigkeit der steuerlichen
Entlastung für Arbeitnehmer, Familien und Unternehmen bereits zum 1. Januar 2004 ...“ durchführen, finden
fast zeitgleich drei Ereignisse statt, nämlich erstens die
Steuerschätzung, zweitens die erste Beratung des Nachtragshaushalts und drittens die Ankündigung einer Ausbildungsplatzabgabe von Rot-Grün.
({3})
Zum ersten Punkt. Die Steuerschätzer haben heute erklärt, dass für dieses und das nächste Jahr mit zusätzlichen Steuerausfällen von 19,1 Milliarden Euro gerechnet werden muss. In diesem Jahr werden es
8,2 Milliarden Euro und im nächsten Jahr werden es
10,9 Milliarden Euro sein. Dazu kann man nur feststellen: Das ist die Folge einer planlosen und chaotischen
Steuerpolitik von Rot-Grün.
({4})
In der eichelschen Steuerpolitik gibt es nur eine einzige
Konstante: Nichts Genaues weiß man nicht.
({5})
Allein die Diskussion über das zum Glück gescheiterte Steuervergünstigungsabbaugesetz hat zu Beginn
dieses Jahres und nachwirkend zu einer absoluten Verunsicherung in der Bevölkerung geführt. Ich möchte an
dieser Stelle daran erinnern, dass damals, vor der Sommerpause, die Sachverständigen erklärt haben, dass allein die Diskussion über dieses Gesetz ein halbes Prozent Wachstum in unserem Land gekostet hat. Herr
Minister, wo stünden wir, wenn wir dieses Gesetz nicht
diskutiert hätten? Dann hätten wir in diesem Jahr
10 Milliarden Euro mehr erwirtschaftet und 5 Milliarden
Euro mehr Staats- und Sozialversicherungseinnahmen.
Das ist doch der Punkt.
({6})
Zum zweiten Punkt, dem Nachtragshaushalt. Schon
bei der Verabschiedung des Bundeshaushaltes im März
dieses Jahres war klar - das hätte auch Ihnen klar sein
müssen -, dass alle Zahlen Makulatur waren.
({7})
Bereits einen Monat später wurde das eingeräumt, aber
es wurde nichts geändert. Die Wirklichkeit wurde ausgeblendet und gesundgebetet. Es ist schon erstaunlich, dass
Sie von April bis November brauchten, um einen Nachtragshaushalt vorzulegen, in dem die Wirklichkeit in unserem Lande annähernd berücksichtigt wird. Das ist
nicht der richtige Weg. Ich kann nur sagen: Stellen Sie
sich bitte der Wirklichkeit. Blenden Sie die Wirklichkeit
nicht permanent aus, wie Sie das in Ihrer Rede gerade
hier auch wieder getan haben. Versuchen Sie, die richtigen Konzepte zu finden, damit wir in unserem Lande
Wachstum und Beschäftigung erhalten.
({8})
Herr Minister, bei Ihrem Amtsantritt haben Sie erklärt, dass Schuldenmachen bedeuten würde, die Zukunft zu verspielen.
({9})
In diesem Punkt stimmen wir Ihnen absolut zu.
({10})
Warum tun Sie aber das Gegenteil von dem, was Sie versprochen haben? Sie sind in der Bevölkerung zunächst
positiv bewertet worden, weil man den Eindruck hatte,
dass Sie sparen. Inzwischen erkennt man aber, dass Sie
den Bürgern auf unterschiedliche Art und Weise in die
Tasche greifen und die Staatsquote hochhalten und dass
so die Beschäftigung sinkt. Das ist die Folge einer verfehlten und konzeptionslosen rot-grünen Politik.
({11})
Dritter Punkt. Heute betreibt die Bundesregierung
wieder ihren Lieblingssport, nämlich die allgemeine
Verunsicherung.
({12})
Deshalb sollen am Wochenende die Eckpunkte für die
Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe beschlossen
werden. Wer glaubt, dass durch eine Ausbildungsplatzabgabe neue Arbeitsplätze entstehen, der hat sich gründlich getäuscht. Meine Befürchtung ist eher, dass Ausbildungsplätze abgebaut werden, weil viele Unternehmen
sagen können, dass sie ihrer sozialen Verpflichtung dadurch nachkommen, dass sie eine Abgabe zahlen. Das
Gegenteil von dem, was Sie sich wünschen, wird durch
diese falsche Politik geschehen: Es werden kein Ausbildungsplätze geschaffen, sondern sie werden abgebaut.
Deshalb kritisieren wir das.
({13})
- Der DGB ist in diesem Punkt einer der schlechtesten
Arbeitgeber. Wer Moral gegenüber Dritten verkündet,
der sollte zumindest im eigenen Haus so tätig werden,
wie es erforderlich ist. Ich bedanke mich für das Stichwort; es ist leider absolut zutreffend.
({14})
Wer glaubt, dass eine gute Zukunft für unser Land dadurch erreicht wird, dass wir die Bürger und die Wirtschaft planmäßig weiter belasten, der irrt und der verspielt die Zukunft unseres Landes.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
alle sind aufgefordert, die Weichen für eine gute Zukunft
unseres Landes zu stellen. Die Diskussion wird konkret
erst jetzt beginnen, nachdem Rot-Grün im Bundestag jeden Änderungsantrag abgelehnt und sich überhaupt nicht
mit der Frage beschäftigt hat, wie wir im Vermittlungsausschuss mit den Themen umgehen. Wir haben einen
20-prozentigen Subventionsabbau gefordert. Dazu stehen wir als FDP und im Vermittlungsausschuss wird es
dazu die Nagelprobe geben. Ich bedauere nur, dass der
Finanzminister und die rot-grüne Mehrheit überhaupt
nicht in der Lage waren, sich mit den Vorschlägen von
Koch und Steinbrück in einer Art auseinander zu setzen,
die dazu geführt hätte, dass wir dieses Thema hier im
Deutschen Bundestag, wo es hingehört, tatsächlich so
hätten behandeln können, wie es das verdient hätte. Wir
als FDP werden im anstehenden Vermittlungsausschussverfahren konstruktiv mitarbeiten, denn wir sind der
Auffassung: Trotz Rot-Grün, trotz Finanzminister Eichel
und trotz Bundeskanzler Gerhard Schröder müssen wir
einen Aufschwung in unserem Land bekommen und die
Weichen für eine gute Zukunft stellen. Wir als FDP werden dort unsere Verantwortung wahrnehmen.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Familienförderung ist das Herzstück unserer Politik.
60 Milliarden Euro geben wir trotz Haushaltskonsolidierung Jahr für Jahr für Familien aus. Ich sage Ihnen, Herr
Thiele: Die Familien setzen auf uns, auf Rot-Grün. Das
kann ich Ihnen garantieren.
({0})
- Das wird durch Ihr Schreien auch nicht anders. - Seit
1998 haben wir die finanzielle Situation von Familien
kontinuierlich verbessert. Das haben wir mit niedrigeren
Steuersätzen, mit deutlichen Kindergelderhöhungen und
mit neuen Freibeträgen geschafft.
Mit dem Vorziehen der Steuerreform runden wir unsere Politik für Familien ab. Wir stärken die Familien
noch mehr. Eine vierköpfige Arbeitnehmerfamilie mit
einem Durchschnittseinkommen wird dann 2 400 Euro
weniger Steuern zahlen als noch 1998. Ich denke, das ist
sozial gerechte Familienpolitik.
({1})
Das hilft außerdem der Konjunktur. Denn wenn die
Menschen mehr Geld im Portemonnaie haben, steigt die
Kaufkraft. Dann können neue Arbeitsplätze entstehen.
({2})
Auch das ist im Interesse von Familien.
Dafür brauchen wir das Vorziehen der Steuerreform.
Dafür brauchen wir die Hartz-Reformen, die den Arbeitsmarkt und die Arbeitsvermittlung modernisieren.
Dafür brauchen wir ferner Rahmenbedingungen, die es
Müttern und Vätern erlauben, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
({3})
Unser Konzept, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist rund
und es ist jetzt im Vermittlungsausschuss entscheidungsreif.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn wir uns das
Steuerkonzept von Herrn Merz ansehen,
({4})
erscheint das vielleicht erst einmal verlockend. Mehr
Transparenz im Steuersystem - wer möchte das nicht?
Aber aus der Sicht der Familien muss man bei dem, was
Sie dort vorschlagen, schon zweimal hinschauen.
({5})
Offen gesagt: Wir wissen alle, dass die Lebenswirklichkeit von Familien viel komplexer ist, als Sie es in Ihrem
Konzept berücksichtigen. Sie geben auf viele Fragen
keine Antwort. Darum müssen wir als Familienpolitiker
und Familienpolitikerinnen genau aufpassen, inwieweit
populistische Vereinfachungen des Steuersystems den
Familien tatsächlich nützen oder ob sie sich in Wahrheit
als ungerecht entpuppen.
Erstes Beispiel: Alleinerziehende. Wir wissen alle
ganz genau: Alleinerziehende haben eine besondere Belastung. Dieser besonderen Belastung wollen wir ab dem
1. Januar 2004 Rechnung tragen, indem wir ihnen einen
zusätzlichen Freibetrag in Höhe von 1 300 Euro garantieren. Das ist eine wichtige Maßnahme, die wir mit unserer Steuerreform ab 1. Januar durchsetzen wollen. Wie
berücksichtigen Sie Alleinerziehende?
Herr Merz, welche Familienformen kennen Sie überhaupt? Gestern in der Sendung „Gabi Bauer“ wurde
deutlich, dass Sie sich an einem ganz bestimmten Familienbild orientieren. Ihr Konzept orientiert sich ausschließlich an dem völlig überholten Familienbild, dass
der Vater arbeitet und die Mutter sich um die Kinder
kümmert.
({6})
Andere Familienformen berücksichtigen Sie nicht. Ich
will Ihnen das gerne aufzeigen. Wie anders ist es zu erklären - Sie müssen schon zuhören -, dass Sie für jedes
einzelne Familienmitglied einen deutlich höheren Freibetrag einfordern, aber das Familiensplitting gleichzeitig
mit einem Ehegattensplitting kombinieren? Sie begünstigen damit eindeutig ausschließlich die gut verdienende
Einverdienerfamilie. Dieses Familienbild ist aber schon
lange überholt.
({7})
Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Steuerreform erhöhen Sie - ich bin nicht nur familienpolitische, sondern
auch frauenpolitische Sprecherin ({8})
für Frauen den Anreiz, nach der Geburt eines Kindes
dauerhaft aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Dabei
sollten gerade Sie wissen, dass unsere Wirtschaft gut
ausgebildete Frauen dringend braucht. Unsere Rentenkassen profitieren davon, wenn wir mehr Frauen ins Erwerbsleben integrieren.
Ihr Konzept bietet Familien keine besonderen Hilfen.
Eine Gegenfinanzierung kann ich in keiner Weise erkennen.
({9})
Das heißt, Sie belasten mit Ihrem Konzept zusätzlich zukünftige Generationen, also die Kinder.
({10})
Mit Steuern steuern - das kann man sehr wohl. Mit
Steuern steuern - das ist das Ziel unserer Steuerreform.
Wir haben auf eine Steuerpolitik für Familien umgesteuert, die sozial gerecht, modern und nachhaltig ist, weil
sie auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf setzt,
und die die Konjunktur stärkt, damit neue Arbeitsplätze
entstehen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, stellen Sie die Interessen von Familien über
Ihre parteipolitischen Interessen und unterstützen Sie im
Vermittlungsausschuss unsere Vorhaben.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Meister
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal, Frau Kollegin Humme, diese
Koalition hat die Alleinerziehenden nach dem Verfassungsgerichtsurteil ohne jeglichen Grund abgestraft.
({0})
Jetzt beschließen Sie eine Reparaturmaßnahme, mit der
Sie die Bestrafung der Alleinerziehenden teilweise zurücknehmen. Das verkünden Sie als große familienpolitische Leistung.
({1})
Das sind ein bisschen Ideologie und ein paar populäre
Sprüche, aber wenig Inhalt. Damit werden Sie bei den
Familien nicht punkten.
({2})
In dieser Debatte ist positiv, dass sich alle bisherigen
Redner zu einer wachstumsorientierten Politik bekannt
haben.
({3})
Es ist wichtig, dass wir uns darin einig sind. Streit gibt es
darüber, wie wir dieses Wachstum erzielen.
Erstens. Ich möchte daran erinnern, dass zumindest
auf der Regierungsbank in den letzten zwölf Monaten
einiges dazugelernt wurde. Vor zwölf Monaten haben
wir hier darüber debattiert, die zweite Stufe der Steuerreform nach hinten zu verschieben. Diese Regierungskoalition hat das damals mit denselben Argumenten wie
heute vorgeschlagen. Ich bin dankbar, dass die Koalition
etwas dazugelernt hat. Sie will nun keine Politik mehr
gegen, sondern eine Politik für Wachstum machen.
Zweitens. Ich erinnere an das Steuervergünstigungsabbaugesetz. Herr Bundesfinanzminister Eichel, Sie hatten über 40 Steuererhöhungen vorgelegt, obwohl alle
Sachverständigen und Fachleute im Land erklärt haben:
Dies erschlägt die Konjunktur. Dies schädigt und verringert das Wachstum. Was haben Sie gemacht? Sie haben
diese Debatte ein halbes Jahr lang geführt und das
Wachstum mit Ihrer Politik zerstört. Für die Stagnation,
die wir heute haben, sind Sie als Folge dieser Politik verantwortlich.
({4})
Herr Eichel, Sie leben seit drei Jahren in einer irrealen
Welt. Sie sind nicht in der Realität angekommen. 2002
haben Sie bei den Themen Gesundheitswesen, Rente
und Bundeshaushalt verkündet, die Welt sei in Ordnung.
Am Jahresende haben Sie feststellen müssen, dass nichts
in Ordnung ist, ein Maastricht-Kriterium und die Verfassung verletzt wurden und sich riesige Haushaltslöcher
auftun.
In diesem Jahr haben Sie dieselbe Situation. Wir haben im März und April gesagt, dass Sie ein Haushaltssicherungsgesetz und einen Nachtragshaushalt brauchen.
Sie haben sich dem verweigert, indem Sie gesagt haben,
die Welt sei in Ordnung. Jetzt kommen Sie plötzlich mit
der höchsten Verschuldung aller Zeiten in Deutschland.
In diesem Jahr werden von Ihnen allein auf Bundesebene
Schulden in Höhe von 1 000 DM pro Kopf gemacht. Für
das nächste Jahr planen Sie wieder dasselbe. Das ist ein
Anschlag auf die junge und die kommende Generation.
Da ist nichts von Nachhaltigkeit und Konsolidierung zu
spüren. Was Sie betreiben, ist verantwortungslos.
({5})
Meine Bitte ist: Kommen Sie endlich in der Realität
an. Nehmen Sie die Zahlen und Fakten wahr und bauen
Sie auf diesem Fundament eine ordentliche, systematische und berechenbare Politik auf. Dann wären wir einen Schritt weiter in Richtung Wachstumspolitik.
Zum Dritten möchte ich etwas zu Ihren Kürzungsvorschlägen sagen. Sie waren willkürlich: im Steuervergünstigungsabbaugesetz und jetzt im Haushaltsbegleitgesetz. Es fehlt jede Methode, es fehlt jedes System, es
fehlt jeder geordnete Ansatz. Das ist der Unterschied
zwischen Koch/Steinbrück und Ihnen. Sie führen rein
willkürliche Maßnahmen ohne jegliches System durch.
({6})
Ich glaube, wir müssen dazu kommen, dass wir systematisch, mit einer sauberen Definition und mit methodisch
klarem Handwerkszeug an den Abbau der Staatsausgaben herangehen. Daran haben Sie sich bisher noch nicht
getraut.
Wir haben beantragt, dass dies in einem geordneten
Verfahren erfolgen soll. Wir haben gesagt, dass wir im
Deutschen Bundestag eine Debatte darüber führen wollen. Die Koalition hat das gestern im Finanzausschuss
abgelehnt. Sie wollen hier über das Konzept überhaupt
nicht reden. Sie verweigern sich einer geordneten Debatte über dieses Konzept. Dies halten wir Ihnen vor.
Wir sind zu einer konstruktiven Debatte über den Abbau
der Staatsausgaben auf allen Ebenen bereit.
({7})
Sie tun so, als ob Sie den Menschen Wohltaten erweisen würden, den Arbeitnehmern, den Familien und den
Unternehmern. Ich sage Ihnen: Im nächsten Frühjahr
werden die Menschen erkennen, dass das eine Fata Morgana war. Die Maßnahmen werden den Menschen als
Entlastung verkauft, wenn aber alle Gesetze realisiert
werden, werden sie feststellen, dass sie belastet und
nicht entlastet wurden.
({8})
Ihre Politik wird unter einem falschen Etikett verkauft.
Deshalb wird Ihre Politik an dieser Stelle wieder nicht
zielführend sein.
({9})
Im Titel der Aktuellen Stunde wird von Aufschwung
gesprochen. Wir sollten die wirtschaftspolitische Lage
zur Kenntnis nehmen. Sie, Herr Eichel, haben dankenswerterweise das Wort „Aufschwung“ nicht in den Mund
genommen. Sie haben davon gesprochen, dass wir in
Stagnation leben. Das war schon ein Stück weit ehrlicher
als der Titel Ihrer Aktuellen Stunde. Man muss aber zur
Kenntnis nehmen, dass wir in diesem Jahr - der Kollege
Merz hat darauf hingewiesen - 600 000 Arbeitsplätze in
diesem Land verlieren. Dann haben Familienväter und
Familienmütter kein Erwerbseinkommen mehr und Familien werden massiv beschädigt. Da müssen Sie ansetzen und bessere Rahmenbedingungen schaffen.
Alle Maßnahmen, die wir in der Arbeitsmarktpolitik,
der Wirtschaftspolitik und der Finanzpolitik vorgeschlagen haben, um Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt zu
schaffen, haben Sie bisher verhindert. Sie verweigern
sich jeder Debatte zu diesem Thema. Ich spreche die Insolvenzen in unserem Land an. Über 40 000 Unternehmen gehen uns verloren. Auch dies ist kein Beitrag zu
mehr Wachstum.
Und was tun Sie? Sie erhöhen die Substanzbesteuerung, führen die Ausbildungsplatzabgabe ein - das ist
Ihr neuester Vorschlag - und führen die Mindestbesteuerung ein. Das ist ein Schlag gegen die Unternehmen und
gegen die Arbeitsplätze in Deutschland. Das wird nicht
dazu führen, dass wir mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bekommen, sondern es wird zu einem weiteren
wirtschaftlichen Abschwung führen. Dafür tragen Sie
mit Ihren Vorschlägen die Verantwortung.
({10})
Sie haben dazu beigetragen, dass die Konsumenten
und die Investoren in Deutschland jedes Vertrauen in die
Rahmenbedingungen verloren haben. 2003 werden die
Sachinvestitionen nur noch um 2 Prozent steigen. Das ist
mehr als eine Halbierung gegenüber 2001. Die Konsumentenstimmung ist laut der Oktoberstudie der Gesellschaft für Konsumforschung kühl. Das heißt, Konsumenten und Investoren haben keinerlei Vertrauen mehr
in diese Bundesregierung. Ich persönlich bin davon
überzeugt, dass mit den heutigen Mitgliedern der BunDr. Michael Meister
desregierung dieses Vertrauen nicht mehr wachsen wird.
Deshalb wird es nur einen Aufschwung geben, wenn
neue Gesichter auf der Regierungsbank Platz nehmen.
({11})
Sie haben angesprochen, dass Sie eine Entlastung für
Familien beabsichtigen. Schauen wir uns doch einmal
an, was Sie bisher für die Familien getan haben: Sie haben eine Ökosteuer mit massiven Belastungen für Familien eingeführt. Sie haben dafür gesorgt, dass die Sozialbeiträge nach oben schießen und die Familien belastet
werden. Sie haben im Steuervergünstigungsabbaugesetz
Belastungen für Familien vorgesehen. Sie sehen die
Streichung der Eigenheimzulage und der Wohnungsbauprämie sowie Kürzungen bei der Pendlerpauschale vor.
Das bedeutet, dass Sie weitere Belastungen für die Familien vorsehen.
Worin besteht denn Ihr Engagement für die Familien?
Sie handeln im Gegenteil gegen die Interessen der Familien und halten hier bloß Sonntagsreden.
({12})
Lassen Sie mich abschließend noch eines anmerken:
Die Menschen wissen seit der Bundestagswahl 2002
sehr wohl, dass Ihre Ankündigungen und Versprechungen ein sehr kurzes Verfallsdatum haben. Das gilt leider
auch jetzt. Deshalb wäre es gut, wenn das vielen Menschen für künftige Wahlen im Gedächtnis bliebe, Frau
Humme, damit sie Ihre Politik tatsächlich „würdigen“.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man das Herbstgutachten der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute gründlich liest, dann ergibt
sich ein einfacher Befund: Es wird im nächsten Jahr aufwärts gehen. Wie stark dieser Aufschwung ausfallen
wird, hängt ausschließlich von den politischen Entscheidungen ab, die jetzt getroffen werden.
Wenn man die Aufgeregtheiten, die eine solche Debatte durchaus prägen sollen
({0})
- Herr Kollege, Sie haben eben bereits geredet -, einmal
weglässt, dann kommt es aus unserer Sicht in erster Linie auf drei Punkte an.
Erstens senken wir durch die Hartz-Reformen die Beschäftigungsschwelle unseres Arbeitsmarkts, die gegenwärtig zu hoch ist. Dafür stehen Sie ebenso wie wir im
Vermittlungsausschuss in der Verantwortung. Es muss
eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation zustande
kommen.
({1})
Zweitens müssen die Gemeinden in Deutschland entlastet werden. Deswegen müssen Sie die Umsetzung der
vorgesehenen Gewerbesteuerreform ermöglichen.
({2})
Es geht um 5 Milliarden Euro für die Gemeinden, die
mitentscheiden, ob in Deutschland Arbeitslosigkeit abgebaut werden kann oder nicht.
({3})
Weil Sie so schreien, empfehle ich Ihnen, sich im Gemeinderat einer durchschnittlichen deutschen Stadt darüber zu informieren, wie die Kollegen von der CDU
oder der CSU über dieses Thema denken, wenn sie hören, dass wir jetzt die Senkung der Gewerbesteuerumlage, die Sie lange gefordert haben, vornehmen wollen,
dass Sie aber im Bundesrat auf die Bremse treten und
dieses Vorhaben ablehnen.
({4})
Wer etwas für Investitionen und die Konjunktur tun will,
muss diesen Punkt berücksichtigen.
Drittens müssen Sie dem Vorziehen der nächsten
Stufe der Steuerreform zustimmen. Im Herbstgutachten
wird dieser Schritt übrigens unterstellt. Das heißt, wer
sich dem verweigert, trägt dazu bei, dass das prognostizierte Wachstum von 1,7 Prozent im nächsten Jahr nicht
erzielt werden kann.
Ich habe eine Frage an die finanzpolitischen Helden
und Heldinnen der Union. Wenn Sie das Vorziehen der
nächsten Stufe der Steuerreform auf einer abstrakten
Ebene begrüßen, aber unter der Bedingung, dass dies
nicht auf Pump geschieht, dann müssen Sie mit dieser
glorreichen Aussage der Öffentlichkeit endlich einmal
darlegen, wie Sie die Steuerreform finanzieren wollen.
Allmählich wird es unredlich, wenn Sie Vorschläge unterbreiten, ohne zu erläutern, wie Sie sie umsetzen wollen. Sie legen eigentlich nur dar, was Sie nicht wollen.
({5})
Ich sage Ihnen offen, dass meine beiden Söhne eine
solche Phase, in der sie Experten im Neinsagen waren,
ohne zu erklären, was sie stattdessen wollen, endlich
überwunden haben. Eine solche Phase in der Erziehung
wird Trotzphase genannt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie sich mit Ihren Vorschlägen auf diesem
Level befinden und noch nicht darüber hinaus gekommen sind.
({6})
Lassen Sie uns einmal einen Blick darauf werfen, was
die Union alles aufbietet. Herr Merz vertritt fröhlich seinen Vorschlag zur Einkommensteuerreform in der Öffentlichkeit, obwohl sich massive Lücken in der Finanzierung auftun. Sie haben über 30 Milliarden Euro nicht
dargestellt, weil Sie es nicht für notwendig gehalten haben, Ihr Konzept konsistent im Verhältnis zu den Vorschlägen der Herzog-Kommission zu entwickeln. Dem
guten Eichel werfen Sie aber vor, er mache keine konsistente Finanzpolitik.
({7})
In Ihrem eigenen Vorschlag fehlen 30 Milliarden Euro.
Zwei Tage, nachdem Sie mit Ihrem Vorschlag an die Öffentlichkeit gegangen sind, mussten Sie in entscheidenden
Punkten - nämlich bei der Abschaffung der Gewerbesteuer und beim Arbeitnehmerpauschbetrag - einlenken,
weil Ihre Partei selber gemerkt hat, wie unsozial Ihr Vorschlag im Kern gewesen ist.
({8})
- Warum haben Sie denn sonst den Vorschlag geändert?
Dann erklären Sie doch einmal, wie man monatelang ein
Ei ausbrüten kann, um schließlich das, was dabei herauskommt, infrage zu stellen und zu korrigieren. Das ist die
merzsche Steuerreformpolitik, die eine kurze Halbwertszeit hat.
({9})
Oder Stoiber: Erst wird lange angekündigt, dass
Stoiber Deckungsvorschläge machen werde. Wir waren
ganz entzückt, dass endlich etwas kommen sollte. Aber
das, was vorgelegt worden ist, bedeutet eine Politik zulasten der Gemeinden und der Beschäftigten in Ostdeutschland, die man mühsam in AB-Maßnahmen untergebracht hat; denn die entsprechenden Mittel sollen
einfach gestrichen werden. Weil es in Bayern nur 3 000
solcher Maßnahmen gibt, glaubt man, elegant auf den
Osten verweisen zu können. Auch die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für die Weiterbildung sollen gekürzt werden. Das ist eine unsoziale und auch keine konsistente Politik. Unter dem Strich ist Kollege Stoiber
übrigens nicht auf die Summe gekommen, die man
braucht, um das Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform insgesamt zu finanzieren. Seine Vorschläge reichen
nur zur Finanzierung eines ganz kleinen Bereichs aus.
({10})
Ich möchte an diesem Beispiel nur deutlich machen,
dass Sie es sich zu einfach machen. Die Zeit, zu der Sie
konkret sagen müssen, was Sie eigentlich wollen, ist
jetzt reif. Wir werden dafür sorgen, dass die Bevölkerung merkt, dass Sie sich monatelang mit Neinsagen begnügt haben und nichts Konstruktives beigetragen haben.
Wir sind überzeugt, dass wir eine konsequente Finanzpolitik brauchen, die antizyklisch konsolidiert. Zum
jetzigen Zeitpunkt kommt es entscheidend darauf an,
dass die Märkte wieder Vertrauen in die Finanzpolitik
haben.
({11})
Deswegen formuliere ich es ganz einfach: Wenn Sie das
Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform blockieren,
dann machen Sie deutlich, dass Sie nicht an einen Konjunkturaufschwung glauben und dass Sie letzten Endes
aus politischem Kalkül heraus - hören Sie gut zu - die
Arbeitslosen in Geiselhaft für eine Unionsstrategie nehmen, die nicht mehr dem Land, sondern nur noch, so
glauben Sie jedenfalls, der Stärkung der Position der
Union dient. Das werden wir nicht mitmachen.
Jetzt müssen alle zugunsten der Arbeitslosen zusammenstehen. Wer dem Vorziehen der letzten Stufe der
Steuerreform nicht zustimmt, der versündigt sich an der
Konjunktur. Ich kann die Spielchen der Union in dieser
Frage nicht mehr nachvollziehen. Bedenken Sie: Auch
Sie haben Verantwortung für Deutschland! Nehmen Sie
sie wahr, und zwar möglichst schnell!
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Eichel und Frau Humme summen die gleiche
Melodie. Herr Eichel behauptet: Wir haben den Haushalt
konsolidiert und Schuldenabbau ist unser edelstes Ziel.
Die Wirklichkeit ist aber das exakte Gegenteil. Herr
Eichel, im 13. Jahr der Wiedervereinigung ist das gesamtstaatliche Defizit doppelt so hoch - ich betone: doppelt so hoch - wie das negativste gesamtstaatliche Defizit zur Zeit von Theo Waigel. Frau Humme, Sie haben
eine Wirklichkeit der Familien beschrieben, die draußen
im Land niemand kennt. Sie haben sogar behauptet, Sie
hätten eine Politik für Familien betrieben, die die Konjunktur belebt habe. Was daraus geworden ist, können
wir an den jetzt vorliegenden konjunkturellen Daten ablesen. Sie leben in einer irrealen Welt.
({0})
Eine Debatte wie die heutige kann aber nicht gelingen,
wenn wir von Anfang an nicht wenigstens ehrlich sind.
Sie reden alles schön und erwarten von uns, dass wir Ihren Winkelzügen so schnell wie möglich folgen. Sie sollten lieber innehalten und darüber nachdenken, worauf es
ankommt.
Herr Kuhn, Sie haben gesagt, wir sollten den HartzReformen I, II und III zustimmen. Aber wie haben Sie
sie verwässert! Diese Reformen werden uns nicht helfen,
das zu erreichen, was wir brauchen. Was ist mit der Gemeindesteuerreform? Wer hat denn die Senkung der Gewerbesteuerumlage gefordert? Wir lehnen den Teil Ihres
Konzeptes ab, der zu zusätzlichen Steuererhöhungen
führen wird. Das werden wir mit Ihnen im Vermittlungsausschuss noch klären müssen.
({1})
Herr Eichel und Herr Clement, natürlich ist die momentane Situation dramatisch. Es gibt Instrumente, die
richtig sind, aber zur rechten Zeit. Man muss auch ernsthaft prüfen, ob die bestehenden Instrumente jetzt noch
helfen oder ob sie verändert werden müssen. Wir von der
Union haben immer gesagt, dass niedrige Steuersätze
gut und wichtig sind, weil sie der Volkswirtschaft helfen.
Es ist besser, wenn das Geld bei den Menschen und nicht
beim Staat ist, der damit nicht umgehen kann, wie wir
das bei Ihnen beispielhaft erkennen können.
Die Grunddaten, vor denen das stattzufinden hat, haben Sie mittlerweile so katastrophal gemacht, dass bei
diesen Haushaltsdaten die Operation, über Steuersenkungen zu agieren, so schwierig, so gefährlich und so
riskant ist wie noch nie zuvor. Da sind wir in einem echten Dilemma. Bei relativ einfachen Verhältnissen kann
man das machen und hat man die Hoffnung, dass etwas
daraus wird. In dieser Situation aber ist das - ich sage es
noch einmal - schwieriger als jemals zuvor. Wenn dann
noch Vertrauen nicht hergestellt ist, das Vertrauen darauf
nämlich, aus der Steuersenkung bestimmte Erträge für
sich herauszuholen, dann ist die Gefahr, dass der Schaden größer als der Nutzen ist, verdammt groß.
Wir, die Union, tun uns in dieser Frage schwer, weil
wir nicht erkennen, dass Sie wirklich bereit sind, alles zu
tun, damit diese letzte Operation, die wir angesichts der
hohen Verschuldung machen können, nicht durch andere
Operationen so gefährdet wird, dass wir das, was wir dafür ausgeben, vergeblich ausgeben. In diesem Fall hätten
wir Chancen verspielt, die wir unter soliden Verhältnissen sonst hätten nutzen können. Das ist das eigentliche
Problem, das wir miteinander haben.
Ich kann Sie einfach nur auffordern: Hören Sie damit
auf, nur über die Verschuldung zu gehen! Herr Finanzminister, obwohl Sie Zustimmung im Bundesrat brauchen, haben Sie bis heute nichts anderes getan, als zu sagen: Wir finanzieren das über Verschuldung. - Sie
kommen mir vor wie jemand, der hofft, dass es nicht
passiert. Sie hintertreiben den Kompromiss, weil Sie
sich an keiner Stelle bewegen.
({2})
Wie eine Monstranz tragen Sie das Reizwort „Wir finanzieren das über Verschuldung“ vor sich her und wundern
sich, dass die Opposition mit verdammt guten Gründen
sagt: Dann mit uns nicht.
Bewegen Sie sich im Vermittlungsausschuss! Kommen Sie mit einem Konzept!
({3})
Sie stehen im Verdacht, die Steuersenkung hintertreiben
zu wollen, weil Sie sich an keiner Stelle beweglich zeigen. Das machen wir nicht mit. Das lassen wir Ihnen
nicht durchgehen.
({4})
Es ist eine verdammt schwierige Situation. Das Haus
brennt und wir wissen darum. Wir werden uns in die
Verhandlungen im Vermittlungsausschuss intensiv einbringen. Ich sage Ihnen: Mit Ihrem Hochmut, mit Ihrer
Uneinsichtigkeit, mit Ihrem Festhalten an dem falschen
Rezept der Verschuldung kommen wir nicht zu einem
Ergebnis. Gehen Sie in sich! Ändern Sie sich! Wir werden unsere Kooperationsbereitschaft unter Beweis stellen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Wolfgang
Clement.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die „Financial Times Deutschland“ hat heute eine auch journalistisch ganz feine Schlagzeile. Sie lautet: „Deutschland
entkommt Rezession“. Die Unterzeile lautet: „Wirtschaft
setzt zur Erholung an - Einkaufsmanager und Investmentbanker optimistisch“. Ich brauche das nicht weiter
zu belegen. Sie alle kennen die Daten, die es dazu gibt.
Das ist die Situation, in der wir uns bewegen. Sie ist völlig anders als die, die Sie geschildert haben. Sie haben
die Situation in Deutschland auf eine zum Teil absurde
Weise dargestellt.
({0})
Wir sind in einer Phase, in der die Zeichen auf Erholung stehen und in der wir alles tun müssen, um die wirtschaftliche Erholung zu verstärken.
({1})
Das ist allen vor Augen. Das ist auch oft genug geschildert worden. Schauen Sie sich nur das Gutachten der
Sachverständigen an! Die Sachverständigen erwarten im
nächsten Jahr ein Wachstum von 1,7 Prozent. Sie stützen
diese Erwartung hauptsächlich auf drei Faktoren.
({2})
Der erste Faktor ist die andere Feiertagsregelung, die uns
der Kalender im nächsten Jahr beschert.
({3})
- Das führt zu 0,6 Prozent Wachstum. - Der zweite
Faktor ist die Steuerreform, Herr Kollege Merz. Die
Sachverständigen setzen da ein Wachstum von bis zu
0,4 Prozent an.
({4})
Der dritte Faktor ist der Export.
Woran es in Deutschland fehlt, ist die Binnenkonjunktur.
({5})
- Genau, das Vertrauen der Menschen fehlt. Weil wir die
Menschen darin bestärken müssen, dass es aufwärts
geht, ist ein Verzicht auf die Steuerreform zum jetzigen
Zeitpunkt unverantwortbar.
({6})
Ich hoffe, dass auch Sie das wissen, dass das wirklich
klar ist.
Das mangelnde Verbrauchervertrauen, die Unsicherheit, die große Kaufzurückhaltung haben natürlich damit
zu tun, dass die Menschen nicht wissen, was geschieht.
Zu nennen sind der lange Schatten des Zauderns und Zögerns, die endlosen, sich geradezu im Kreise drehenden
Debatten, die schon unsereiner kaum noch ertragen
kann, ganz zu schweigen von den Menschen, die insofern keine professionelle Abstumpfung haben, sondern
die damit tagtäglich umgehen müssen. Das ist das Problem.
({7})
Zweitens. Sie haben nach der Arbeitsmarktlage gefragt. Herr Kollege Merz, im Oktober waren in Deutschland 55 000 Menschen weniger arbeitslos als im Vormonat.
({8})
Saisonbereinigt gibt es 12 000 Arbeitslose weniger. Saisonbereinigt hat sich die Zahl der Arbeitslosen um insgesamt 60 000 verringert; die Arbeitsmarktlage ist also in
den letzten Monaten insgesamt besser geworden. Sie ist
natürlich immer noch bei weitem zu schlecht, allerdings
inzwischen schon besser, als eine Fortschreibung der
bisherigen Wachstumserwartungen nahe gelegt hätte.
Nach unseren Erwartungen und nach den Schätzungen der Fachleute wird es in diesem Jahr durchschnittlich 4,39 Millionen Arbeitslose geben. Im nächsten Jahr
wird die Arbeitslosigkeit jahresdurchschnittlich weiter
heruntergehen, zunächst ganz leicht in der ersten Jahreshälfte und dann wird sich dies um so stärker fortsetzen.
All diese Prozesse müssen wir natürlich unterstützen.
Um die Konjunkturlage zu stimulieren und um damit
auf längere Sicht, bis weit ins nächste Jahr hinein eine
Wirkung auf den Arbeitsmarkt ausüben zu können, brauchen wir eine Stimulierung durch die Steuerreform. Deshalb ist meine dringende Bitte, dass Sie diese Diskussionsrunde endlich hinter sich lassen, in der wirklich
nichts Neues beigetragen wird,
({9})
außer dass Sie gelegentlich ein Bild von der Bundesrepublik malen, bei dem man nur noch den Kopf schütteln
kann.
Einen weiteren Punkt spreche ich sehr deutlich an, um
den Sie nicht herumkommen werden. Sie haben es mit
einer Bundesregierung zu tun - Sie können sie zwar
wegbeten wollen, aber auch das wird nicht gelingen -,
die jetzt zehn Reformgesetze auf dem Tisch hat, die jetzt
realisiert werden müssen; dies bestätigt übrigens der Internationale Währungsfonds. Der Währungsfonds sagt
beispielsweise: Die volle Umsetzung der Reformen ist
entscheidend für den Erfolg und für den Beitrag, den
Deutschland zum globalen Wachstum leisten kann. Das
bezieht sich ausdrücklich auch auf die Steuerreform. Ich
kann Ihnen nur empfehlen, dies wirklich ernst zu nehmen. Es ist unser Anliegen, es Ihnen heute vor Augen zu
führen.
({10})
Sie fragen immer wieder nach der Finanzierung. Sie
ist Ihnen von Herrn Kollegen Eichel dargestellt worden,
die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie mögen mit ihnen nicht übereinstimmen, aber dann werden Sie eigene
Vorschläge machen müssen.
({11})
In diesem Zusammenhang ist richtig, was der Herr
Kollege Kuhn vorhin zu den Vorschlägen von Herrn
Stoiber gesagt hat, wonach die AB-Maßnahmen noch
weiter zurückgeführt werden sollten, als wir dies tun.
Wir haben sie in diesem Jahr bereits um 56 000 reduziert
und sind jetzt noch bei 140 000. Die noch laufenden ABMaßnahmen werden nahezu ausschließlich in Ostdeutschland durchgeführt.
({12})
- Hören Sie doch einfach einmal zu!
Kein einziger ostdeutscher Ministerpräsident kann
diese Vorschläge von Herrn Stoiber unterstützen; keiner
von ihnen wird sie unterstützen.
Im Hinblick auf die Reformvorhaben müssen wir in
eine sehr konkrete Phase kommen. Der Bundeskanzler
hat angeboten, dies zu tun. Ich kann, ehrlich gesagt,
nicht verstehen, dass Sie glauben, diese Vorhaben so
wegreden zu können - ich vermute, dass dies auch viele
Menschen nicht verstehen -; vielmehr wird die Umsetzung der Reformvorhaben stattfinden müssen.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Die Steuerreform, die
Gemeindefinanzreform, die Reform der Systeme der sozialen Sicherung, die Reform des Arbeitsmarktes, die
Handwerksordnung und anderes, insgesamt zehn Gesetze, liegen auf dem Tisch. Wir können auf keines dieBundesminister Wolfgang Clement
ser Gesetze verzichten. Weil ich auch dann, wenn Sie
nicht so reden wie heute, genauer hinhöre, weiß ich, dass
Sie auf diesen Feldern ebenfalls entsprechenden Reformbedarf sehen. Also werden wir diese Schritte tun
müssen.
({13})
- Herr Kollege Schauerte, es sei Ihnen noch einmal gesagt: Sie müssen sich wirklich endgültig an den Gedanken gewöhnen, dass es eine Bundesregierung und eine
regierende Koalition gibt, die die Mehrheit haben, wie
mehrfach gesagt wurde. Sie werden sie auch mit noch so
lauten Tönen nicht wegblasen können. Ebenso sollten
Sie nicht glauben, im Vermittlungsverfahren gäbe es einen unendlichen Spielraum; auch darüber sollten wir uns
einmal klar werden.
Um es in allem Ernst zu sagen: Wir sind in der Lage,
eine ganze Menge durchzusetzen. Zum Schluss stehen
Sie nur noch vor drei Fragen: Was sagen Sie zu einer
Steuersenkung in Deutschland, die eine Familienkomponente hat, wonach 37 000 Euro für eine Familie mit zwei
Kindern steuerfrei sind? Wir haben eine Steuerreform
vorgeschlagen, über die Sie mit zu befinden haben und
für die Sie dann auch Verantwortung haben.
Die beiden anderen Fragen beziehen sich auf die Gemeindefinanzreform, die dann auf dem Tisch liegen
wird, und auf die von uns darüber hinaus vorgesehene
Entlastung der Kommunen im Bereich der Sozialhilfe,
die wir ihnen abnehmen möchten. Wenn Sie nicht Acht
geben und weiter so debattieren wie jetzt, dann werden
Sie zum Schluss ganz allein vor diesen drei Fragen stehen; man kann alle seine Rollen auch überziehen. Alle
anderen Fragen werden wir mit den bestehenden Mehrheiten beantworten.
Ich bitte Sie in vollem Ernst und in aller Eindringlichkeit: Wir erwarten, in ganz Deutschland erwartet die Öffentlichkeit, erwarten die Bürgerinnen und Bürger wie
die Unternehmen, dass jetzt die fälligen Schritte getan
werden.
({14})
Herr Kollege Merz - es wird Ihnen nicht anders als
mir ergehen -, ich habe noch kein Gespräch mit einem
Wirtschaftsverband oder mit einem Unternehmen geführt, in dem ich nicht gefragt worden bin: Kommt die
Steuerreform denn nun endlich? Vorhin haben Sie das
Ganze so läppisch beiseite getan. Ehrlich gesagt, das
reicht nicht.
Selbstverständlich bin ich sehr dafür, einen Wettbewerb um den besten Entwurf für ein wirklich vereinfachtes Steuerrecht auszutragen. Wie alle anderen hier halte
ich das jetzige Steuerrecht in Deutschland für nicht
ideal; ein Steuerrecht, das ein Normalbürger nicht mehr
verstehen und nicht mehr nachvollziehen kann, ist nicht
gut. Diesen Zustand müssen wir überwinden.
({15})
Wir treten in aller Ruhe und in aller Gelassenheit in
einen Wettbewerb darum ein. Herr Kollege Merz, wie
Sie wissen, wird man die mit einer solchen Steuerreform
verbundenen Fragen - Sie sind Fachmann in diesem Bereich - nicht von heute auf morgen beantworten können;
dazu braucht man etwas mehr Zeit. Ich bin dafür, diese
Zeit zu nutzen und diesen Wettbewerb auszutragen. Ich
brauche jetzt nicht aufzuzeigen, was im Hinblick auf
das, was Sie vorgeschlagen haben, kritisch zu sehen ist.
Wir müssen uns wirklich an einfachen Steuermodellen
orientieren. Über solche Modelle sollten wir streiten. Ich
bin dafür, dass die verschiedenen politischen Kräfte ihre
Modelle nebeneinander stellen. Ich hoffe, dass wir dadurch zu Ergebnissen kommen.
Wir haben dann noch nicht all das erreicht, was in
Deutschland geschehen muss; allerdings müssen die
jetzt vorliegenden zehn Reformgesetze, ob verändert
oder unverändert, in Kraft gesetzt werden.
({16})
Sie wissen, dass Sie dabei in der Verantwortung stehen.
Wir werden diese Verantwortung einfordern und wir
werden - davon bin ich überzeugt - auch zu Ergebnissen
kommen.
Ich muss wirklich sagen: Manchmal könnte man,
wenn man nicht ein ganz fester Charakter wäre, in Depressionen verfallen. Die Debatten und die Vorwürfe, die
wir uns hier leisten, gehen auf keine Kuhhaut.
({17})
Es wäre wirklich besser, wenn wir uns auf das konzentrierten, was die Menschen in Deutschland von uns in Anbetracht der Wirtschaftslage erwarten. Herr Schauerte,
machen Sie sich nichts vor! Warten wir einmal ab, zu
wessen Gunsten sich die Reformen parteipolitisch auswirken! Aber darüber nachzudenken ist jetzt nicht unsere Aufgabe.
Wir alle hier haben wirklich eine patriotische Verantwortung wahrzunehmen. Ich möchte uns gerne darin bestärken, das zu tun. Ich werde mich daran beteiligen.
({18})
Sie müssen wissen, dass eine Regierung und eine Regierungskoalition Verantwortung tragen und daher handeln werden. Die entsprechenden Angebote sind gemacht worden. Aber auch Sie tragen Verantwortung.
Lassen Sie uns diese gemeinsam wahrnehmen, und zwar
auf den Feldern, die jetzt in Rede stehen.
Ich danke Ihnen sehr.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Hannelore Roedel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Stimmung und die Lage in
Deutschland sind verheerend: Die Zahl der Arbeitslosen
ist beängstigend hoch und die Lohnnebenkosten sind auf
Rekordniveau. Nach Umfragen fürchtet jeder zweite
Bürger um seinen Arbeitsplatz; 48 Prozent der Bevölkerung sehen unsere Sozialsysteme vor dem Zusammenbruch. Das Kabinett hat soeben die höchste Neuverschuldung in der Geschichte dieses Landes beschlossen.
Da die Bürger wissen, dass die Staatsschulden von heute
mit den Steuern von morgen bezahlt werden müssen,
fehlt ihnen das Vertrauen in die Zukunft.
Viel zu lange ist mit Notoperationen an unserem Steuersystem herumgedoktert worden. Auch das Vorziehen
der dritten Stufe der Steuerreform wird an dem katastrophalen Zustand unseres Landes nichts ändern.
({0})
Eine Finanzpolitik auf Zuruf, wie Kanzler Schröder und
Herr Eichel sie fordern, können wir nicht unterstützen.
Natürlich begrüßen auch wir von der Union steuerliche
Entlastungen. Auch wir wollen, dass Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen möglichst rasch, aber eben auch effektiv entlastet werden. Das ist bei dem Vorziehen der
Steuerreform durch Rot-Grün genau nicht der Fall; denn
Finanzminister Eichel plant, die Finanzierungslücke von
einem Jahr mit der dauerhaften Streichung von Steuervergünstigungen - etwa die Abschaffung der Eigenheimzulage, die Kürzung der Pendlerpauschale und des Erziehungsgeldes - zu schließen.
Es ist doch unbestritten - darüber sind wir uns einig -,
dass die Familie das Kernelement in unserer Gesellschaft ist. Angesichts der demographischen Entwicklung
in Deutschland ist ihre Bedeutung heute so groß wie nie
zuvor. Umso unverständlicher ist es, dass die Regierung
nun gerade bei den Familien die Entlastung durch einen
niedrigeren Steuertarif durch die anderen Maßnahmen
zunichte macht. Der Staat nimmt den Bürgern das, was
er ihnen vorher durch Steuersenkung gegeben hat.
Die familienfeindlichste Maßnahme ist die Kürzung
der Entfernungspauschale.
({1})
Ein Arbeitnehmer, der täglich 50 Kilometer zur Arbeit
fährt, verliert nach Ihren Vorschlägen 2 660 Euro an
Werbungskosten. Durch diese Maßnahme wird nicht nur
die beschäftigungsfördernde Mobilität eingeschränkt, es
werden nach meiner Prognose die Steuerabzüge für doppelte Haushaltsführung steigen und Familien werden
auseinander gerissen, weil auswärts beschäftigte Ehegatten aus finanziellen Gründen nicht mehr täglich nach
Hause fahren können und deshalb eine Wohnung am Arbeitsort einrichten werden. Wünschen Sie sich die Wochenendehe aus steuerlichen Gründen?
Durch die geplanten Einschnitte beim Erziehungsgeld
wird jede dritte Familie den Anspruch auf diese Leistung
verlieren. Dabei sind wir uns doch alle einig, dass Familien gerade in der Gründungsphase deutliche Unterstützung brauchen.
({2})
Deswegen halten wir diese Maßnahmen gesellschaftlich
und ökonomisch für ein falsches Signal der Bundesregierung.
({3})
Ab dem 1. Januar 2004 soll Schluss mit der Eigenheimzulage sein. Auch dies widerspricht allen Versprechungen und Vorsätzen, besonders Familien mit Kindern
in diesem Lande zu fördern; vielmehr bestraft man sie.
Gerade bei jungen Familien, deren Finanzausstattung
ohnehin meist dürftig ist, gibt oftmals die steuerliche
Förderung den Ausschlag für die Entscheidung zum Bau
oder zum Kauf eines Eigenheims. Die eigenen vier
Wände stehen an erster Stelle auf der Wunschliste von
Familien und Arbeitnehmern.
({4})
Die völlige Streichung der Eigenheimzulage ist deshalb
sowohl aus familienpolitischer, als auch aus ökonomischer Sicht falsch; gar nicht zu reden von dem, was das
für die spätere Altersversorgung bedeutet.
Lassen Sie uns doch Klartext reden: Das Vorziehen
der dritten Steuersenkungsrunde führt zu keiner Nettoentlastung des Steuerbürgers. Im Gegenteil, es werden
insbesondere Arbeitnehmer und ihre Familien mit zusätzlichen Belastungen konfrontiert. Darüber hinaus,
meine Damen und Herren, ist dieser Gesetzentwurf - wir
haben das heute gehört - sowohl in finanzieller als auch
in konjunktureller Hinsicht der falsche Ansatz. Warum?
Weil Finanzminister Eichel diese Steuerentlastung größtenteils auf Pump finanzieren will und damit eine noch
höhere Überschreitung der EU-Stabilitätskriterien vorsätzlich in Kauf nimmt. Weil auch die Länder und Kommunen von Steuerausfällen betroffen sind und es ihnen
keiner zumuten will, noch weitere Schulden aufzunehmen oder noch weitere Leistungen streichen zu müssen,
die den Bürgern in den Städten zugute kommen. Und
weil es ein Irrglaube ist, meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, anzunehmen, dass vom Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform ein wesentlicher Impuls für das Wirtschaftswachstum in Deutschland ausgehe und der marode Arbeitsmarkt belebt
werde.
Deshalb komme ich zu dem Fazit: Das bestehende
Steuerrecht ist ungerecht - wir sind uns darin einig. Es
gibt 100 Steuergesetze, 500 ergänzende Schreiben des
BMF und knapp 100 000 Verwaltungsvorschriften. In
diesem Steuerdschungel, durchzogen von Ausnahmen
und Sonderbestimmungen, sind die Bürger verloren. Sogar die Leiter von Finanzämtern haben dies der Öffentlichkeit gegenüber bekannt. Heute, meine Damen und
Herren, ist der clevere und teuer Beratene im Vorteil und
der ehrliche Steuerzahler ist der Dumme. Deswegen
brauchen wir eine tief greifende Steuerwende, die für
klare, einfache und gerechte Steuerregeln sorgt und die
soziale Balance wahrt.
Zwei Aspekte müssen für uns dabei im Vordergrund
stehen: zum einen die Entlastung von Familien mit Kindern
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
- ich komme zum Schluss, Herr Präsident -, zum anderen, dass sich Leistung in Zukunft wieder lohnt. Lassen Sie uns daran arbeiten. Wir erwarten Ihre Konzepte
dazu.
({0})
Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
schon ein seltsames Gefühl, hier die Vertreterin einer
Partei das Hohelied der Familie singen zu hören, deren
Vorsitzender einst Theo Waigel war, dessen familienfeindliche Politik zweimal vom Bundesverfassungsgericht verurteilt worden ist.
({0})
Wir haben doch repariert, was Sie verbockt haben. Sie
aber kommen hierher und singen das Hohelied der Familie. Aber das sind wir ja von Ihnen gewohnt. In Scheinheiligkeit werden Sie von niemandem übertroffen. In
diesem Punkt ist Ihnen die Heiligsprechung sicher.
({1})
Meine Damen und Herren, was ich heute hier von der
Union gehört habe, erinnert mich an die berühmte Sonthofener Rede von Franz Josef Strauß
({2})
in den schwierigen 70er-Jahren, in der er damals seinen
jungen Leuten gesagt hat: Jetzt bloß keine Rezepte bringen, nur Anklagen; es muss alles noch tiefer sinken, damit wir mit unseren Vorstellungen durchkommen.
Ich sage Ihnen: So wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen. Ich habe das Gefühl, dass Sie im
Grunde genommen nur Ängste schüren wollen. Sie reiten auf einer Negativwelle und zeigen überhaupt keinen
konstruktiven Ansatz. Manchmal habe ich den Eindruck,
Sie fürchten sich vor dem Aufschwung, weil Sie uns
dann nicht mehr anklagen können. So ist Ihre mentale
Verfassung.
({3})
Eine wahrhaftige Argumentation würde die Ursachen
der wirtschaftlichen Schwierigkeiten ansprechen. Sie reden so, als habe es keinen 11. September und keinen
Irakkrieg gegeben.
({4})
Sie reden so, als habe es keine Börsenblase und auch nicht
deren Platzen gegeben. Der DAX lag bei 8 000 Punkten
und ist im letzten Jahr bei 2 200 Punkten angekommen.
Dies hatte negative Folgen für Banken, Versicherungen
und für die Kreditwirtschaft. Daraus ergaben sich Probleme für den Mittelstand. Tun Sie nicht so, als habe dies
die Politik zu verantworten. Wir sind mit Problemen konfrontiert, die eben nur gemeinsam zu lösen sind.
({5})
Ihre Anklagen, die jeder Grundlage entbehren, sind fehl
am Platze. Sie sollten sich an der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten und nicht an falschen Anschuldigungen beteiligen.
({6})
Wir Sozialdemokraten treten für die Senkung des Spitzensteuersatzes ein. Das ist uns nicht leichtgefallen; denn
damit sind, obwohl es auch für die Arbeitnehmer eine erhebliche Senkung der Steuerlast gibt, durchaus verteilungspolitische Probleme verbunden. Wir haben uns mit
Blick auf Handwerk, Mittelstand, Personengesellschaften
und Einzelunternehmer bewusst für die Senkung dieses so
genannten Investitionssteuersatzes entschieden. Sie haben
doch häufig gesagt, der Spitzensteuersatz sei der Investitionssteuersatz. Also muss die vorgezogene Steuerreform jetzt kommen, damit die Investitionen in Gang
kommen.
Der private Verbrauch ist das eine und die Investitionen, die für Wachstum notwendig sind, sind das andere.
Wenn Sie beim Vorziehen der Steuerreform nicht mitmachen, dann versündigen Sie sich daran, dass der Investitionsmotor nicht in Gang kommt. Sie sollten mit uns dafür kämpfen, dass sich Handwerk, Mittelstand und
Einzelunternehmer wieder etwas trauen, weil sie durch
niedrigere Steuern und damit durch höhere Erträge nach
Steuern für ihre Investitionen belohnt werden.
({7})
Das ist der eigentliche Auftrag.
({8})
Gerade Sie sollten aufhören, Hans Eichel für die Verschuldung anzuklagen. Wer wie Sie 1 500 Milliarden DM
Schulden hinterlassen hat, für die 80 Milliarden DM Zinsen zu zahlen sind, wer also im Glashaus sitzt, der sollte
mit Gummibällchen, aber nicht mit Steinen schmeißen.
Auch das muss man Ihnen immer wieder sagen.
({9})
Der einzige Finanzminister der Nachkriegsgeschichte, der Schulden getilgt hat, war Hans Eichel.
({10})
- Naturalmente. - Sie wollten das Geld damals verprassen und verbraten. Als es im Wahljahr darum ging, die
Hochwasserhilfe zu finanzieren, wollten Sie Schulden
machen. Hans Eichel hat die Finanzierung über Einnahmen organisiert. In der Krise prozyklisch zu sparen
könnte Ihnen so passen. Sie wollen sich am Abschwung
weiden. Sie wollen als Untergangspropheten im Trüben
fischen. Das ist Ihre Mentalität. Das ist aber im Interesse
unseres Landes nicht verantwortbar. Das werden wir
auch nicht zulassen.
({11})
Wir haben optimale Rahmenbedingungen: niedrige
Zinsen, Bilanzbereinigung bei Banken, Versicherungen
und Unternehmen, niedrige Lohnstückkosten. Wir sind
Exportweltmeister und der Ifo-Index zeigt nach oben.
Justieren Sie Ihre Mundwinkel neu und schauen Sie optimistisch in die Zukunft, anstatt immer nur im Trüben zu
fischen und den Untergang zu predigen!
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
fraktionslos.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS.
Das Verfallsdatum der von Bundesfinanzminister
Eichel vorgelegten Zahlen kann nicht mehr in Monaten
angegeben werden, sondern nur noch in Wochen und Tagen.
({0})
- „Stunden“ war die Ergänzung von der FDP; wahrscheinlich haben Sie Recht.
Die Nettokreditaufnahme soll mehr als verdoppelt werden: Sie steigt von 18,9 Milliarden Euro auf fast 44 Milliarden Euro. Erster Grund dafür: Die Steuereinnahmen
fallen um 12,5 Milliarden Euro geringer aus als geplant.
Der zweite schwerwiegende Grund: Die Kosten für die
Arbeitslosigkeit steigen um 12 Milliarden Euro.
In Anbetracht dieser Zahlen, in Anbetracht dieser
Verschuldung fragt sich doch jeder vernünftige Mensch,
warum Sie, Herr Eichel, die Steuerreform um ein Jahr
vorziehen und damit auf 22 Milliarden Euro Steuereinnahmen verzichten wollen.
In diesem Zusammenhang möchte ich aus einem Interview mit CDU-Ministerpräsident Müller,
({1})
das er gestern der „Berliner Zeitung“ gab, zitieren. Ich
zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten:
Es sind vor allem die Spitzenverdiener, die entlastet
werden, und damit diejenigen, bei denen die Konsumbereitschaft deutlich geringer ist als bei den Beziehern kleiner Einkommen.
Ich interpretiere: nicht nur die Konsumbereitschaft,
sondern auch der Zwang zum Konsum, denn die Bezieher kleiner Einkommen kommen nicht umhin, ihr gesamtes Einkommen dafür zu verbrauchen, wie Sie wissen.
Herr Müller hat Recht: Die Steuerreform wird nicht
die Konjunktur ankurbeln, sie wird nur zu höheren Steuerausfällen und höheren Defiziten in den Kassen des
Bundes und der Länder führen.
({2})
Deshalb ist diese so genannte Steuerreform konjunkturpolitisch unsinnig. Sie führt aber auch zu einer sozialen
Schieflage. Dazu darf ich noch einmal Herrn Ministerpräsidenten Müller zitieren:
Man kann nicht auf der einen Seite der Rentnerin mit
900 Euro die Rente kürzen und auf der anderen Seite
den Porsche fahrenden Single mit 100 000 Euro Jahreseinkommen um 3 000 Euro entlasten.
({3})
- Wenn Sie dazwischenrufen, Herr Eichel, dass die PDS
die CDU zitiere, kann ich Ihnen nur sagen: Wir entscheiden immer streng nach der Sache.
({4})
Herr Müller macht einem mit diesem Interview richtig Mut. Offensichtlich ist Herr Merz mit seinem Ziel der
Entsozialdemokratisierung der CDU doch noch nicht so
weit gekommen, wie man befürchten musste. Aber anscheinend gibt es einen Entsozialdemokratisierungswettlauf der Parteien, bei dem nicht nur Herr Merz ganz vorn
mitläuft, sondern auch eine der beiden Vorsitzenden der
Fraktion der Grünen, Frau Katrin Göring-Eckardt
({5})
- ich zitiere gleich; hören Sie doch erst einmal zu, Herr
Kuhn -,
({6})
die die Demonstranten gegen Sozialkahlschlag am vergangenen Sonnabend als „Besitzstandswahrer“ diffamierte.
Das Vorziehen der Steuerreform ist falsch, weil die
soziale Schieflage in diesem Land dadurch weiter verstärkt wird. Sie geben zwar vor, den Beziehern kleiner
und mittlerer Einkommen den einen oder anderen Euro
mehr in die Tasche stecken zu wollen,
({7})
aber mit Ihren anderen Reformen, zum Beispiel der Gesundheitsreform, nehmen Sie aus den Taschen mindestens zehnmal so viel wieder heraus.
({8})
Ich denke, das ist unredlich. Darum ist diese Entscheidung falsch.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In 56 Tagen könnten die deutschen Steuerzahler - Millionen von
Familien, Arbeitnehmern und Unternehmen - um insgesamt knapp 23 Milliarden Euro steuerlich entlastet sein:
({0})
23 Milliarden Euro mehr für Konsum und Investitionen
sowie zur Stabilisierung des sich abzeichnenden wirtschaftlichen Aufschwungs.
({1})
Herr Minister Clement hat vorhin auf den Ifo-Geschäftsklimaindex hingewiesen. Alles spricht für Aufschwung.
Die Einzigen, die - offenbar aus rein parteitaktischen
Gründen - etwas anderes behaupten und damit dem
Land objektiv schaden, sind Sie von der Opposition.
({2})
Das ist verantwortungslos.
In diesem Zusammenhang muss man einmal auf das
hinweisen, was wir in den vergangenen fünf Jahren der
Verantwortung von Rot-Grün geleistet haben. 1998, in
Ihrer Regierungszeit betrug das steuerliche Existenzminimum 6 322 Euro.
Wenn wir die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vorziehen, beträgt das steuerliche Existenzminimum
7 664 Euro. Es kommt also zu einer erheblichen Steigerung pro Steuerbürger. Bei Verheirateten ist es das Doppelte.
({3})
Wir werden dann folgenden Eingangssteuersatz haben:
Der erste verdiente Euro wird mit 15 Prozent besteuert.
Bei Ihnen wurde er mit 25,9 Prozent besteuert; das war
leistungsfeindlich. Bei uns lohnt es sich wieder zu arbeiten. Das unterscheidet uns von Ihnen.
({4})
Schließlich soll der Spitzensteuersatz - das ist für die
mittelständische Wirtschaft durchaus von Bedeutung von 53 auf 42 Prozent gesenkt werden. Damit liegen wir
in Europa ganz unten.
({5})
Wir haben eine volkswirtschaftliche Steuerquote, die
mit unter 21 Prozent beunruhigend niedrig ist.
({6})
Denn wir müssen in der Tat überlegen, wie wir unsere
Zukunftsaufgaben finanzieren. 7,9 Millionen Bürger, das
heißt 27 Prozent aller Steuerbürger, werden, wenn wir
die Steuerreformstufe vorziehen, keine Steuern mehr
zahlen müssen. Die haben mit dem Finanzamt nichts
mehr zu tun.
({7})
Das sind insbesondere Geringverdiener und Durchschnittsverdiener; entsprechende Zahlen wurden schon
genannt. Wir haben in den letzten fünf Jahren eine eindrucksvolle Bilanz hinlegen können.
({8})
Daran gibt es überhaupt nichts zu mäkeln.
Sie sind sich bis jetzt nicht einig geworden, wie Ihr
Finanzierungskonzept zum Vorziehen der Steuerreform
aussehen soll. Also hat Frau Merkel die Ministerpräsidenten dazu vergattert, die Vorlage der Regierung morgen im Bundesrat abzulehnen. Sie weiß sehr wohl, dass
das am Ende des Vermittlungsverfahrens nicht mehr
möglich sein wird. Weil das jeder weiß und jeder Tag
weitere Unsicherheit und weitere wirtschaftliche Schäden nach sich zieht, ist dieses Verhalten angesichts unserer wirtschaftlichen Situation politisch verantwortungslos.
({9})
Herr Clement hat es gesagt: Es ist mit Blick auf die Arbeitslosen verantwortungslos. Ihnen ist das konkrete
Schicksal der Menschen wohl gänzlich egal.
({10})
Für Sie steht nur die Parteitaktik im Vordergrund.
Keiner im Land nimmt Frau Merkel mehr ihre Leier
von der angeblich unseriösen Finanzierung ab. Ihr Argumentationsmuster ist nämlich ein Widerspruch in sich.
({11})
Sie sagt, durch das Vorziehen der Steuerreform muss bei
den Bürgern etwas übrig bleiben. Sie sagt aber auch, die
Finanzierung darf nicht auf Pump erfolgen. Wenn sie gefragt wird, welche Vorschläge sie denn selber mache,
sagt sie, sie müsse keine Alternativen aufzeigen, weil sie
keine Regierungsverantwortung habe.
({12})
Das ist ein Politikverständnis, das dem deutschen Parlamentarismus nicht entspricht.
({13})
Frau Merkel meldet sich als Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion ab. Sie verzichtet darauf, den Bürgern
Alternativen zur Regierungspolitik vorzulegen.
Herr Stoiber hat jetzt die Sprachlosigkeit beendet.
Seine Vorschläge wurden schon - auch aus den eigenen
Reihen - gewürdigt; darauf brauche ich nicht mehr einzugehen. Er hat wohl die Notwendigkeit gesehen, das
Schweigen zu beenden, auch wenn seine Vorschläge
gänzlich untauglich sind.
Der Regierungsvorschlag liegt auf dem Tisch. Das,
was Herr Eichel vorgeschlagen hat, entlastet die Länder
im nächsten Jahr um 5,3 Milliarden Euro, ansteigend auf
7,3 Milliarden Euro in 2007. Bei den Kommunen beträgt
die Entlastung 1,6 Milliarden bzw. 2,1 Milliarden Euro.
All das liegt auf dem Tisch.
({14})
Es fehlt nur an einem: Es fehlt an Ihrem Willen, im Interesse des Landes an der politischen Gestaltung mitzuwirken.
({15})
Deswegen auch von meiner Seite die dringende Bitte:
Stimmen Sie dem Vorziehen der Steuerreform zu! Sie
wissen, das ist ab 2005 finanziert und in allen Haushaltsplänen vorgesehen. Verlassen Sie Ihre verantwortungslose Position! Ich weiß, wie die Umfragen derzeit für
meine Partei und für Ihre Partei aussehen. Auf Dauer
geht das aber nicht gut.
({16})
Sie betreiben eine systematische Volksverdummung.
({17})
Herr Kollege Kampeter, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Kennzeichnung „Sie sind ein übler Demagoge“ nicht zum parlamentarischen Sprachgebrauch
gehört. Wir sollten uns persönlicher Herabsetzungen enthalten.
Ich gebe dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kuhn, Sie haben eines völlig übersehen: Die Bürgermeister haben gegen Sie demonstriert. Sie haben die
Kommunen in die Pleite und in die Verzweiflung getrieben. Das ist doch der wahre Grund.
({0})
Die Steuerschätzer haben gerade offen gelegt: Zum dritten Mal hintereinander büßen die Kommunen mehr als
Bund und Länder ein.
Sie haben hier von zehn Gesetzen gesprochen. Das
sind zehn Baustellen ohne Richtfest; daraus werden nie
Häuser. Wenn die Kommunen einen Strich unter die
Rechnung ziehen, dann werden sie 2,2 Milliarden Euro
einbüßen und nicht entlastet. Das ist das Problem.
Wer wäre nicht für Steuersenkungen? Wir alle wollen
Steuersenkungen. Denn die würden uns allen gut tun. Ich
sage Ihnen eines: Wir hätten sie haben können, wenn Sie
- insbesondere Minister Eichel und Bundeskanzler
Schröder damals als Ministerpräsidenten - die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse nicht verhindert
hätten, die uns schon vor langem in den Stand versetzt
hätten, den Sie jetzt erreichen möchten. Das ist doch das
Problem.
({1})
Sie reden hier von einem Aufschwung. Das Einzige,
wo sich etwas tut, sind die Minijobs. Ich erinnere daran,
dass Sie sie abgeschafft haben und wir sie wieder eingeführt haben; denn Sie brauchten unsere Zustimmung bei
Hartz I. Das ist also nicht Ihr Werk, mit dem Sie sich
jetzt schmücken.
Für den Aufschwung kommt es auf etwas ganz anderes an. Es kommt auf die Summe der geleisteten Arbeitsstunden an. Die Zahl der Stunden war bis 1999 ansteigend - der Aufschwung fing seinerzeit an - und seitdem
ist sie absteigend. Denn Sie haben den Aufschwung damals mit Ihrer Politik abgewürgt. Das ist das Problem.
({2})
Wenn hier immer davon gesprochen wird, die ganze
Umwelt sei so böse, dann verstehe ich eines nicht: Alle
Länder - zum Beispiel die Italiener und die Franzosen hatten die gleichen Probleme. Ich zitiere aus Ihrem Finanzbericht vom Oktober: „Seit 1988 wuchs das französische Bruttoinlandsprodukt … deutlich stärker als das
deutsche.“
({3})
Wenn das unter gleichen Rahmenbedingungen so ist,
dann muss es doch daran liegen, dass wir etwas anders
- sprich: falsch - gemacht und die Franzosen etwas besser gemacht haben.
Eine Steuerreform kann wirken - das wissen wir seit
Stoltenberg -, aber nur vor dem richtigen Hintergrund
und im richtigen Rahmen. Wir liefern Ihnen die Alternativen, die Sie immer einfordern. Wir haben zum Beispiel
einen Antrag hinsichtlich des Arbeitsmarktes eingebracht. Wir haben für die Sozialreformen das HerzogKonzept vorgelegt. Wir haben für die Steuerreformen
das Merz-Papier vorgelegt. Die Sachverständigen haben
Ihnen bescheinigt, dass all das, was Sie in den ersten
fünf Jahren gemacht haben, falsch war und dass diese
konjunkturelle Lage deshalb ein Produkt Ihrer Politik ist.
({4})
Das Ergebnis der Anhörung zur Frage der vorgezogenen Steuerreform hat eines deutlich gemacht - in dieser
Hinsicht gab es Übereinstimmung bei allen Sachverständigen -: Es gibt zwei Voraussetzungen unter denen eine
Steuerreform Arbeitsplätze schaffen und einen Konjunkturaufschwung bringen kann. Die erste Voraussetzung
sind Stetigkeit und Verlässlichkeit. Sie haben mit Ihrem
„Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ und mit
Ihrem „linke Tasche, rechte Tasche“ jeder Kalkulationsgrundlage den Boden entzogen. Jetzt dürfen Sie sich
nicht wundern, wenn kein Aufschwung kommt.
({5})
Sie haben gesagt: Steuerreform. Dann kam die Flut
und Sie haben gesagt: keine Steuerreform. Jetzt sagen
Sie wieder: Steuerreform vorziehen. Sie wollen für die
einmalige Entlastung dauerhaft die Abgaben erhöhen.
Damit ist die zweite Voraussetzung nicht erfüllt, nämlich
eine Nettoentlastung, die am Ende stehen muss. Wenn
ich mir das Produkt Ihrer Politik anschaue und wie Sie
mit den Menschen umgegangen sind - sämtliche Konsumsteuern, zum Beispiel die Ökosteuer, denen die
Menschen nicht ausweichen können, haben Sie erhöht -,
dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn die Konsumkraft fehlt und der Aufschwung nicht kommt.
({6})
Aber dann fehlt natürlich auch das Vertrauen in die
künftige Entwicklung. Angesichts dessen, was Sie jetzt
mithilfe von Steuersenkungen machen wollen, frage ich
mich: Wo bleibt die Gruppe der Arbeitslosen, wo bleibt
die Gruppe der Rentner, wo bleibt die Gruppe der Sozialhilfeempfänger? Die zahlen doch dafür die Zeche.
Sie kürzen die Renten, Sie rasieren die Rentner, damit
Sie möglicherweise an der einen oder anderen Stelle etwas erreichen.
Sie brüsten sich - das ist ein Kennzeichen für Ihre soziale Gerechtigkeit - mit einer sinkenden Steuerquote.
Warum ist denn die Steuerquote gesunken? Weil die
Körperschaftsteuer weggesackt ist. Das nennen Sie soziale Gerechtigkeit, wenn die Großen überproportional
entlastet und die Kleinen belastet werden? Das ist das
Produkt sozialdemokratischer Politik.
({7})
Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wer wen entlastet.
Nach Ihrem Konzept wird ein Arbeitnehmer mit zwei
Kindern zwar um 1 000 Euro entlastet, muss inzwischen
aber einen um 320 Euro höheren Krankenkassenbeitrag
zahlen. Bei Herrn Merz wird er um 4 780 Euro mehr entlastet und steht wesentlich besser da.
Glauben Sie doch nicht, dass die Menschen Ihnen
noch auf den Leim gehen. Ihnen vertraut niemand mehr.
Das ist doch die ganze Krux. Konjunktureller Aufschwung basiert auf objektiven Fakten und auf einem
entsprechenden Klima. Weil diese Regierung nicht nur
alle Erwartungen enttäuscht hat, sondern auch ständig
etwas versprochen, aber das Gegenteil dessen gemacht
hat, wird ihr niemand vertrauen. Deswegen kann ich Ihnen nur eines sagen: Die beste Steuerreform wird nichts
nützen, solange dieses Kabinett bleibt. Vertrauen kann
nur wieder durch eine andere Regierung wachsen.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2003 ({0})
- Drucksache 15/1925 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe
ich dem Bundesminister Hans Eichel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es reizt mich wirklich, Herr Fromme, noch einen kurzen Nachklapp zu machen. Es ist wirklich toll,
was Sie fertig bringen. Sie sagen: Lasst doch die Steuersenkung sein; die Sozialhilfeempfänger haben nichts
davon und die Arbeitslosengeldempfänger haben nichts
davon. Demgegenüber schlägt Herr Stoiber vor - das
kommt alles aus Ihrer Partei -: Die Sozialhilfe muss gekürzt
({0})
und die Arbeitslosenhilfe muss auf Sozialhilfeniveau gesenkt werden, damit die Steuerreform finanziert werden
kann. Herr Fromme, es ist schlicht unerträglich, welche
Widersprüche Sie von diesem Pult aus und auch Ihre
Partei bieten.
({1})
Sie bringen es in einer einzigen Rede fertig, erst das
eine und dann das genaue Gegenteil dessen zu behaupten.
({2})
Auf der einen Seite sagen Sie, die Steuerreform müsse
komplett gegenfinanziert werden. Auf der anderen Seite
sagen Sie, wir wollen aber nicht das Prinzip linke Tasche, rechte Tasche. Das ist der komplette Widerspruch
in einer einzigen Rede, manchmal auch in zwei Sätzen
nacheinander. Das ist Ihr ganzer Beitrag zu dieser Debatte heute Nachmittag. Es ist schlicht nicht zum Anhören. Da hat der Kollege Clement Recht.
({3})
- Ja, es ist wirklich peinlich, was Sie hier bieten.
({4})
Nachtragshaushalt 2003: Hätten Sie mit der Konsolidierung doch früher angefangen! Wir haben in 1999 damit angefangen und waren in 1999 und auch in 2000 damit erfolgreich. Wir hatten im Jahre 2000 die niedrigste
Verschuldung des Gesamtstaates in einem Jahr seit der
Wiedervereinigung.
({5})
Wir waren als Bund im Jahre 2001 erfolgreich. Wir hatten im Jahre 2001 die niedrigste Neuverschuldung des
Bundes seit der Wiedervereinigung.
({6})
Das war mein drittes Jahr als Bundesfinanzminister.
Danach - das wollen wir uns mit aller Klarheit noch
einmal ansehen - ging es mit der Wirtschaft steil abwärts. Herr Fuchtel, in den USA ist das Wirtschaftswachstum von 2000 auf 2001 von 3,9 auf 0,3 Prozent
abgestürzt.
({7})
Wenn Sie sich einmal - darüber haben wir gerade
wieder im Ecofin-Rat diskutiert - die Zahlen aller europäischen Länder ansehen, werden Sie feststellen, dass
alle europäischen Länder beim Wirtschaftswachstum
von 2000 auf 2001 mehr oder weniger stark abgestürzt
sind. Eine große Zahl europäischer Länder hatte in ihren
Haushalten einen sehr viel größeren Pendelausschlag als
wir in Deutschland.
({8})
Ich will das festhalten, weil das in künftigen Debatten
noch eine ganz interessante Rolle spielen wird.
Von der niedrigsten Staatsverschuldung im Jahre
2000 in Höhe von 1,2 Prozent - gemessen an den
Maastricht-Kriterien - sind wir jetzt bei über 4 Prozent,
wobei eine Reihe anderer Länder - ich wiederhole das ganz andere Pendelausschläge haben und jetzt auch an
die Dreiprozentgrenze kommen, so zum Beispiel die
Niederlande.
({9})
Ich komme nun auf den Nachtragshaushalt zum
Haushalt 2003 zu sprechen. Ursprünglich hatten wir einen Haushalt vorgelegt, in dem 18,9 Milliarden Euro an
Neuverschuldung vorgesehen waren.
({10})
Im März habe ich in der dritten Lesung klar darauf hingewiesen, welche Risiken der Haushalt enthält und welche Bedingungen erfüllt sein müssen.
Die Bundesanstalt für Arbeit hatte ankündigt, in
diesem Jahr keinen Zuschuss zu benötigen. Das war eine
Grundlage für den Haushalt. Dieses Versprechen ist
nicht eingelöst worden.
({11})
Ich sage mit allem Freimut: Wenn die Bundesanstalt in
der Zukunft so etwas nochmals erklären sollte, stelle ich
trotzdem keinen Haushalt mehr auf, in dem nicht ein Zuschuss für sie enthalten ist. Das habe ich im März übrigens ganz deutlich gesagt. Die Ausgaben für den Arbeitsmarkt einschließlich des Zuschusses machen den
einen Teil der zusätzlichen Neuverschuldung aus, nämlich rund 12 Milliarden Euro.
Wofür brauchen wir die restlichen Mittel der zusätzlichen Neuverschuldung? Basis für den Haushalt, den wir
aufgestellt haben, war die Annahme von 1 Prozent Wirtschaftswachstum in diesem Jahr. Diese Annahme
deckte sich übrigens mit der Annahme des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung. Der Sachverständigenrat hat sich, so wie
alle anderen auch, geirrt. Das Wachstum liegt bei
0 Prozent. Deswegen müssen wir Steuermindereinnahmen in der Größenordnung von rund 12 Milliarden Euro
verkraften, was zum Zeitpunkt der Aufstellung des
Haushaltes noch nicht absehbar war. Aus diesen Gründen beträgt die Neuverschuldung statt 18,9 Milliarden
Euro 43,4 Milliarden Euro.
({12})
Die Steuerschätzung kommt zu einem in geringem
Maße anderen Ergebnis - es ist etwas günstiger - als
dem, das wir dem Nachtragshaushalt zugrunde gelegt
haben. Ich sage aber ausdrücklich: Bei den Ungewissheiten, die in diesem Zusammenhang bestehen, rate ich
dem Bundestag, jetzt nicht noch Änderungen am Nachtragshaushalt für die nächsten zwei Monate vorzunehmen.
({13})
Ich rate, ihn so zu lassen, wie ich ihn eingebracht habe.
Sie werden am Ende des Jahres wahrscheinlich um eines
Ihrer Vergnügen gebracht werden. Aber das ist Ihr Problem und nicht meines.
Wer sich die Steuerschätzung ansieht, kommt zu dem
Ergebnis - anders als Sie, Herr Fromme, gesagt haben -,
dass der Bund und die Länder getroffen worden sind, die
Kommunen dagegen nicht.
({14})
Ursache dafür ist, dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer wieder zunehmen. Das haben wir zwei Umständen zu verdanken: Zum einen gab es eine Restrukturierung im Unternehmenssektor, die nun weitgehend
abgeschlossen ist. Der größte Teil der Unternehmen, der
größte Teil der Versicherungen sowie die Banken sind
mittlerweile wieder in der Gewinnzone. Zum anderen
beginnt die Wirtschaft wieder anzuziehen.
Herr Fromme, Sie haben wieder einen Hinweis auf
die Körperschaftsteuer gegeben. Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass 85 Prozent der Unternehmen, die
Körperschaften sind, mittelständische Unternehmen
sind.
({15})
Sie können nicht so tun, als seien das nur ein paar große
Unternehmen. Hier besteht aber ein ganz anderes Problem. Herr Fromme, es ist schon ein starkes Stück, was
Sie hier bieten. Wir haben Sie mit Mühe und Not im Vermittlungsverfahren im April dahin bekommen, bei den
großen Unternehmen die Möglichkeit der Gewinnverschiebung ins Ausland über die Verrechnungspreise zu
begrenzen.
({16})
Als es darum ging, auf dieser Basis eine Verordnung mit
Zustimmung des Bundesrats zu verabschieden, kamen
von Ihnen wieder jede Menge Widerstände.
({17})
Wenn es darum geht, Gestaltungsmöglichkeiten bei
den Großen einzuschränken - ich nenne als Stichwörter
Gesellschafterfremdfinanzierung und Mindestgewinnbesteuerung -, dann sind Sie plötzlich nicht mehr dabei.
Das ist doch scheinheilig.
({18})
Jedes Mal, wenn wir Gestaltungsmöglichkeiten eingrenzen wollen, sind Sie - natürlich hinter verschlossenen
Türen - der Sachwalter der Unternehmen. Das Steuergebaren und die Gesetzgebung, die wir zu verantworten
haben, prangern Sie dagegen als unsozial an. So scheinheilig ist manchmal Ihre Politik.
({19})
Warum legen wir jetzt einen Nachtragshaushalt vor?
Die Antwort ist einfach zu geben. Ich habe sie Ihnen
aber schon vor der Sommerpause gegeben. Angesichts
des Wachstums von 0 Prozent wäre es nicht verantwortlich, bei wegbrechender Konjunktur und wegbrechenden
Steuereinnahmen mit großen Eingriffen hinterherzusparen. Dies ginge nur bei Investitionen und in den Programmhaushalten. Wir müssen aber die automatischen
Stabilisatoren wirken lassen - auch im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakets.
({20})
Es würde die wirtschaftlichen Verhältnisse weiter verschlechtern. Genau das kann niemand wollen; denn dadurch würde die Rückkehr zum Wachstum weiter verzögert werden. Deswegen müssen die automatischen
Stabilisatoren wirken und die Defizite in dieser Phase
hingenommen werden.
({21})
In den 90er-Jahren haben Sie das übrigens auch getan.
({22})
Erinnern Sie sich an die einjährige Rezession, in der
nicht wir, sondern Sie sich befanden, und daran, wie Sie
sich damals verhalten haben?
Damit wir den Eintritt in den Aufschwung, für den es
gute Aussichten gibt, nicht weiter verzögern, wäre es
falsch, einer abschwingenden Konjunktur hinterhersparen zu wollen. Diese Verantwortung haben wir. Das heißt
aber, dass man bei wieder anziehender Konjunktur umso
härter konsolidieren muss, wie wir das 1999 und 2000
auch getan haben. Hätten Sie das in den 90er-Jahren getan, hätten Sie uns nicht so viele Schulden hinterlassen.
({23})
Es ist richtig, so zu verfahren, wie wir es hier angelegt
haben. Ich hätte auch gerne ganz andere Zahlen verkündet. In dieser konjunkturellen Situation war es aber richtig, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen.
Es ist auch richtig, mit dem Dreiklang aus Strukturreformen, nachhaltiger Haushaltskonsolidierung und dem
Vorziehen der Steuerreform aus diesem Tal herauskommen zu wollen; denn dadurch wird es zu einem Wachstumsimpuls und nicht zu einer kontraktiven Wirkung
kommen. Dafür gibt es eine Chance.
Die weichen und inzwischen auch die harten Daten
zeigen - darüber besteht Einigkeit -, dass der Wendepunkt erreicht ist. Vielleicht befinden wir uns schon in
einem leichten Aufschwung. Wir werden in ein paar Tagen etwas genauer wissen, wie es im dritten Quartal aussah, und am Ende des Jahres werden wir wissen, wie es
im vierten Quartal verlaufen ist.
({24})
Es hängt jetzt von uns allen und den Entscheidungen,
die wir in diesen Wochen treffen, ab, ob wir die Chance
nutzen, einen neuen, nachhaltigen Aufschwung zu bekommen. Sie alle sind dazu aufgefordert. Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch.
({25})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Austermann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Eichel, ich finde es einigermaßen empörend, dass
alle Zahlen, die Sie in den letzten Monaten genannt haben, mit der Realität nichts zu tun hatten.
Ich kann das ganz konkret anhand eines Beispiels belegen. Es geht um das, was Sie zum Kollegen Fromme
gesagt haben, nämlich um die Mindereinnahmen bei der
Gewerbesteuer. Nach der Tabelle, die Ihr Haus heute
verteilt hat, opfern die Gemeinden 1 Milliarde Euro. Sie
haben vorher gesagt, die Gemeinden würden von dem
Zusammenbruch der Steuereinnahmen ausgeschlossen.
Das war die Unwahrheit.
({0})
Sie können jede Zahl nehmen, die Sie wollen. Sie
stimmt nicht. Ich finde das empörend.
Der Finanzminister der größten Industrienation in Europa trägt ständig dazu bei, die Menschen durch falsche
Zahlen zu täuschen und in die Irre zu führen, die Daten
zu verschleiern und damit den Boden für eine negative
Wirtschaftsentwicklung in unserem Land zu bereiten.
Ich muss das so deutlich sagen. Es ist wirklich empörend, was sich hier tut, weil es dazu beiträgt, dass sich
bei den Menschen und den Betrieben, hinsichtlich des
Konsums und der Investitionen kein Vertrauen in eine
Wirtschaftsentwicklung bilden kann. Es ist wirklich empörend.
({1})
Herr Eichel, Sie können jede Zahl nehmen, die Sie
wollen: Nichts von dem, was Sie heute gesagt haben, hat
die derzeitige Situation richtig beschrieben. Es fing mit
der Frage an, wie die Entwicklung außerhalb Deutschlands und in Deutschland verlaufen ist.
({2})
- Ich sehe, dass Sie ein zweites Mal etwas sagen möchten. Reicht es Ihnen noch nicht? Ich finde, aufgrund dessen, was Sie gesagt haben, war das erste Mal schon zu
viel. Wenn der Präsident einverstanden ist, habe ich aber
überhaupt kein Problem damit, dass Sie Ihre Zahlen korrigieren können.
({3})
Herr Kollege Austermann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eichel?
Ja.
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Austermann, die Steuerschätzung
im Mai hat ergeben, dass die Gemeinden in diesem Jahr
51,5 Milliarden Euro einnehmen werden. Die Steuerschätzung im November hat für die Gemeinden ebenfalls
Einnahmen von 51,5 Milliarden Euro ergeben. Mit anderen Worten: Im Vergleich mit der Mai-Steuerschätzung
ergibt sich im Unterschied zu dem, was für die Länder
festgestellt wurde, keine Verschlechterung.
({0})
Ich möchte hier nur feststellen, dass Ihre Aussage, die
Zahlen seien falsch gewesen, falsch ist. Die Steuerschätzungen im Mai und November für die Kommunen sind
exakt gleich.
({1})
Herr Kollege Eichel, Sie haben sich in die für Sie seltene Rolle eines Abgeordneten begeben. Ich darf Sie bitten, dem Parlament gegenüber die entsprechende Achtung zu zeigen.
Lassen Sie mich aus einer Tabelle vorlesen, die Sie heute
verteilt haben. Der Anlage 1 zur Pressemitteilung 132/03 ist
zu entnehmen: Gemeinden, Veränderung gegenüber dem
Vorjahr - 51,5 Milliarden Euro, - minus 1 Milliarde. Das
heißt doch, dass uns die Frage beschäftigt: Entwickeln
sich die Zahlen für die Gemeinden, für die Länder und
für den Bund positiv, nach oben oder gehen sie weiter
nach unten?
({0})
Alle Gemeinden zusammen haben in diesem Jahr ein
Defizit von 10 Milliarden Euro. Ich sehe, Sie nicken; Sie
sind offensichtlich der gleichen Auffassung. Und dann
wollen Sie uns erzählen, das sei eine positive Entwicklung, und bestätigen das hier noch mit der eigenen Erklärung.
({1})
Herr Kollege Austermann, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage des Kollegen Eichel?
Gern.
({0})
Bitte schön, Herr Eichel.
Herr Kollege Austermann, stimmen Sie mir zu, dass
es nach der November-Steuerschätzung im Vergleich zur
Mai-Steuerschätzung - anders als bei Bund und Ländern, bei denen es weitere Einnahmeausfälle gibt - bei
den Gemeinden keine weiteren Einnahmeausfälle gibt?
({0})
Herr Kollege Eichel, sind Sie bereit zur Kenntnis zu
nehmen, dass die Gemeinden in diesem Jahr feststellen
mussten, dass ihre Einnahmen weggebrochen sind und
dass durch die Schätzergebnisse des Arbeitskreises Steuerschätzung vom 4. bis 6. November ein weiteres Minus
von 1 Milliarde Euro bestätigt wird? Man kann doch die
eigenen Zahlen, die man verteilt hat, nicht ignorieren!
Denen kann man doch nicht widersprechen!
({0})
Dass Ihre Zahlen nicht stimmen, kennen wir schon. Aber
dass Sie noch nicht einmal Ihre eigenen Zahlen bestätigen können, ist, finde ich, in der Tat ein dicker Hammer.
({1})
Wir wollen zurückkommen zu dem Sachverhalt, weswegen wir uns eigentlich versammelt haben. Es geht darum,
dass wir kurz vor Ende des Jahres einen Nachtragshaushalt
für dieses Jahr beraten. Der Haushalt soll nach der Definition des Grundgesetzes dem Parlament die Möglichkeit
geben, gestaltend Einfluss zu nehmen. Sie legen einen
Nachtragshaushalt vor, weil Sie festgestellt haben - jetzt
bitte ich genau zuzuhören -, dass Sie in diesem Jahr
schon 54 Milliarden Euro Kredite aufgenommen haben,
({2})
obwohl im gültigen Haushalt für dieses Jahr nur 18,9 Milliarden Euro enthalten sind.
Nun frage ich - ich frage das auch die Zuschauer,
auch wenn sie nicht antworten können -: Stellen Sie sich
vor, Sie wären in einer ähnlichen Situation. Sie machen
einen Plan für Ihr Jahr, Sie kalkulieren Urlaub und viele
andere Dinge ein, Sie wissen, was etwa an Gehalt reinkommt für die Familie, Sie kennen also das gemeinschaftliche Einkommen, und dann stellen Sie auf einmal
fest, dass Sie nicht nur den Dispo überschritten haben,
sondern sich auch heimlich bei allen möglichen Freunden Geld gepumpt und vielleicht auch noch Wechsel
ausgestellt haben. So ungefähr ist die Situation, die wir
heute vorfinden.
Für 54 Milliarden Euro haben Sie bereits Kredite aufgenommen, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage
gab. Und jetzt kommen Sie her und wollen dafür eine
nachträgliche Bestätigung durch das Parlament. Sie
missbrauchen das Parlament praktisch als Buchhalter,
um nachträglich das abzusegnen, was Sie gemacht haben. Ich finde, das ist eine Zumutung für jeden im Parlament. Das allein ist für uns ein Grund zu sagen: Wir werden den Nachtragshaushalt ablehnen. Veräppeln lassen
wir uns von Ihnen nicht.
({3})
Ich will noch etwas sagen zu den Daten, die Sie für
die Vergangenheit vorgetragen haben. Es mutet ja etwas
merkwürdig an, dass man auf der einen Seite beklagt, die
Situation in Amerika habe sich verschlechtert, sich
gleichzeitig aber darüber freut, dass wir Exportweltmeister gewesen sind, zumindest im Monat August. Also
kann es nicht sein, dass äußere Umstände verantwortlich
sind, sondern es müssen innerdeutsche Probleme für die
derzeitige Situation verantwortlich sein. Und dafür tragen Sie in erheblichem Maße die Verantwortung.
Wenn man das in der ganzen Dimension einmal zusammenfasst, dann stellen wir fest, was auch die Debatten der letzten Tage gezeigt haben: Sie haben es in den
letzten fünf Jahren geschafft, die Rente durcheinander
zu bringen.
({4})
- Es kann heute niemand sagen, wann in absehbarer Zeit
bei den Renten wieder ein Zuwachs zu erwarten ist. Drücken Sie sich nicht um die Wahrheit herum! Genauso ist
das.
({5})
Sie haben - das wissen wir aus den letzten Wochen auch bei der Lebensversicherung, wo Vertrauenskapital
der Menschen investiert worden ist, durch Ihre verkorkste Steuerreform des Jahres 2000 eine Basis weggebrochen. Die Alterssicherung, also Rente auf der einen
Seite und Lebensversicherung auf der anderen Seite,
kann nur durch eine abrupte Änderung des Gesetzes
überhaupt wieder in Ordnung gebracht werden.
Sie haben den Arbeitsmarkt durcheinander gebracht.
Heute haben viele Menschen weniger Arbeit als zu der
Zeit, als Sie die Regierung angetreten haben.
600 000 weniger in diesem Jahr! Diese Entwicklung
setzt sich fort: Immer weniger Menschen haben Arbeit.
Wenn die Steuern im nächsten Jahr tatsächlich steigen
werden, dann heißt das, dass diejenigen, die noch Arbeit
haben, immer mehr zahlen.
Sie haben die Staatsfinanzen durcheinander gebracht.
Wenn man das gesamtstaatliche Defizit des Jahres 1998
mit dem dieses Jahres vergleicht, ist es in der Tat erschreckend, wie sich die Situation entwickelt hat.
({6})
Wir reden heute über einen verfassungswidrigen
Nachtragshaushalt. Nun kann man zwar sagen, dass
dies alles belanglos ist. Ich stelle mir aber vor, wie sich
Menschen fühlen, die nur eine Ordnungswidrigkeit begangen haben. Hier jedoch bricht eine ganze Bundesregierung die Verfassung. Das tut sie dadurch, dass sie
mehr Schulden macht, als rechtlich erlaubt ist.
({7})
Rechtlich erlaubt sind Schulden bis zur Höhe der Investitionen. Wenn man Investitionen tätigt, schafft
man einen Wert für die Zukunft. Insoweit darf man
höchstens bis zu dieser Summe Schulden machen.
Der Bundesfinanzminister überschreitet die Grenze
der Verfassung um 16,7 Milliarden Euro. Er rechtfertigt
dies - das hat er mehrfach gemacht - damit, dass er die
Dinge schleifen lasse, damit das gesamte wirtschaftliche
Gleichgewicht nach Art. 115 des Grundgesetzes wieder
hergestellt wird. Wenn man die Dinge ein ganzes Jahr
hat schleifen lassen, wie kann man dann sagen: Das, was
ich jetzt tue, ist dazu angetan, die Situation zu verbessern? Es bleibt dabei: Sie verletzen die Verfassung in
brutaler Weise.
({8})
Sie verletzen nicht nur die Verfassung, sondern Sie
zerstören auch die Vertrauensbasis für unsere Partner auf
europäischer Ebene dadurch, dass Sie die Kriterien des
Maastricht-Vertrages verletzen. Sie brechen diesen
Vertrag! Die Zahlen zeigen: Die Länder tragen zu diesen
Schulden ihren Anteil bei. Man muss allerdings sehen,
dass ein wesentlicher Teil der Rahmenbedingungen
- das sehen Sie an den Gesetzen - für den Arbeitsmarkt
und die wirtschaftliche Entwicklung vom Bund geschaffen werden. Insofern trägt der Bund - übrigens auch was
die Summe der Schulden betrifft - den größten Teil der
Verantwortung. Wenn es die Schulden des Bundes in
diesem großen Maße nicht gäbe, würde uns die Erfüllung des Maastricht-Vertrages in diesem Jahr keine Probleme bereiten.
Sie verletzen das zweite Mal nacheinander die
Maastricht-Kriterien. Sie brechen - das ist Ihre Absicht auch im kommenden Jahr vorsätzlich den MaastrichtVertrag.
({9})
Das hat es bisher noch nicht gegeben. Das haben uns die
Sachverständigen gesagt. Das ist eine andere Qualität.
Nachträglich festzustellen, dass man sich geirrt hat, wird
man mit Dummheit noch entschuldigen können. Aber
für dieses und das kommende Jahr vorsätzlich zu erklären, dass es nicht interessiert, was auf internationaler
Ebene verabredet wurde, ist eine neue Qualität des Vertrauens- und des Rechtsbruches auf europäischer Ebene.
Dafür tragen Sie die Verantwortung.
({10})
Der Kollege Diller hat die Zahlen für dieses und das
nächste Jahr bestritten. Sie können doch addieren! Wenn
Sie das tun, dann kommen Sie bei der gesamtstaatlichen
Neuverschuldung in diesem Jahr auf eine Summe von
über 90 Milliarden Euro, im nächsten Jahr von etwa
100 Milliarden Euro. Das sind knapp 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Eine schlimmere Zahl in diesem Bereich hat es bisher noch nicht gegeben.
Das Dramatische ist: Es gibt überhaupt kein Anzeichen dafür, dass das, was Sie bisher an Maßnahmen veranlasst haben, Ihre so genannten Reformen, geeignet ist,
die Situation zu verbessern. Nicht einmal die Sachverständigen haben Ihnen bestätigen können: Wenn man
diese Reformen durchführt, wird es einen kräftigen Aufschwung geben. - Es gibt allenfalls einen Miniaufschwung ohne neue Jobs. Ohne neue Jobs wird aber
auch in Zukunft Geld bei der Krankenkasse, der Rente,
den Steuereinnahmen und auch bei den Gemeinden fehlen. Deswegen sagen wir: Wenn man schon einen Aufschwung plant, dann muss man das richtig machen.
({11})
Herr Eichel, ich kann Ihnen die Bilanz nicht vorenthalten. 1998 betrug das wirtschaftliche Wachstum
2,7 Prozent. Das haben Sie statistisch heruntergerechnet.
Sie hatten Glück: Das Wachstum hat 1999 und 2000
fortgewirkt. Dann aber ging es bergab. Jetzt haben wir
seit drei Jahren Stagnation. Eine so lange Stagnationsphase hatten wir noch nicht gehabt.
Herr Eichel, Sie haben das Thema Steuerreform angesprochen. Am besten ist, ich halte Ihnen Ihre eigenen
Worte vor. Da jeder gerne richtig zitiert werden will,
möchte ich Ihnen vorlesen, was Sie zu diesem Thema
gesagt haben. Ich habe im Jahr 2001 gefordert - Sie haben dieses Datum für den Beginn der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung genannt, die angeblich vom
Ausland über uns gekommen ist -: Die Steuern müssen
stärker und schneller gesenkt werden. Sie haben erklärt:
Wer Steuern senken will …, darf das nur dann tun,
wenn er seine Ausgaben im Griff hat. Steuersenkungen mit Ausweichen in höhere Staatsschulden
sind Betrug an den Bürgerinnen und Bürgern.
({12})
Wenn ich Ihnen das direkt vorhielte, würde ich um einen
Ordnungsruf nicht herumkommen. Daher stelle ich die
Frage: Wer ist hier eigentlich der Betrüger? Ich frage: Ist
eigentlich das, was Sie bisher gemacht haben, geeignet
gewesen, die Ausgaben in den Griff zu bekommen?
Nein, das ist es nicht, denn die Ausgaben steigen in diesem Jahr um viereinhalb Prozent, allein aufgrund der falschen Zahlen beim Arbeitsmarkt und der zusätzlichen
Ausgaben im Sozialbereich. Die sind gewissermaßen
eine Art Heftpflaster für die Wunden, die Sie unserem
Wachstum und dem Staatskörper zugefügt haben. Wer
die Ausgaben nicht in den Griff bekommen hat, der soll
sich auch künftig Empfehlungen über das, was weiter in
Deutschland richtig gemacht werden soll, enthalten.
({13})
Dieser Nachtragshaushalt ist nicht zustimmungsfähig.
Wir lassen uns von Ihnen nicht veräppeln. Kommen Sie
endlich zur Wahrheit und zu den richtigen Zahlen zurück.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Hermenau vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt,
Herr Kollege Austermann, Momente, da würde es mich
interessieren, welche Wortpirouetten Sie drehen müssten, wenn Sie hier stünden, nicht die Haushälter der Koalition, und wenn Sie regieren würden.
({0})
- Pöbeln Sie nicht so herum, Herr Fuchtel. - Ich kenne
Sie schon lange, Herr Austermann. Ich erinnere mich daran, wie Sie damals sogar versucht haben, sich gegen die
eine oder andere Entscheidung der damaligen Bundesregierung unter Kanzler Kohl zu stellen, weil Sie sie für
ganz schlecht für die langfristige Ausgabenstruktur des
Bundes gehalten haben. Das war auch ganz richtig, Sie
haben sich nur nicht durchsetzen können. Es ist leicht,
befreit von der Last des Regierens, sich hierher zu stellen und zu sagen, dass man alles ganz anders machen
müsste. Sie selbst hatten die Kraft damals nicht.
({1})
Betrachten wir die Situation bei der Aufstellung des
Haushaltes, für den wir jetzt weitere Schulden aufnehmen müssen. Das war vor reichlich einem halben Jahr. In
dieser Zeit gab es heftige Reformdebatten in den beiden Koalitionsfraktionen. Es war überhaupt nicht klar,
wie die Debatten ausgehen würden. Wer das nicht versteht, der möge einmal darauf schauen, wie die Kollegen
von der CDU/CSU seit Wochen völlig in Debatten über
die richtige Rentenreform, die richtige Gesundheitsreform und die richtige Steuerreform verharkt sind. Es gibt
keine einheitliche Meinung in der CDU/CSU.
Wir haben es innerhalb eines halben Jahres geschafft,
Gesetze auf den Weg zu bringen, um den Arbeitsmarkt
neu zu strukturieren. Ein Teil der Kosten, die in diesem
Jahr aufgelaufen sind und die wir in dem Nachtragshaushalt mit über 12 Milliarden Euro neu abdecken müssen,
sind Kosten für den Arbeitsmarkt. Das ist der Zuschuss
an die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und das sind
weitere Gelder für die Arbeitslosenhilfe.
Wenn man Gesetze ändert, wie wir das schon getan
haben, und wenn man versucht, die Dinge zu verändern,
dann ist davon auszugehen, dass Kosten in einem solch
hohen Umfang nicht wieder eintreten müssen. Genau daran arbeiten wir, und zwar langfristig und nicht mit Notprogrammen. Insofern läuft Ihr Vorwurf, das ginge im
nächsten Jahr so weiter, völlig ins Leere. Der ist absurd!
({2})
Schauen wir uns die Steuereinnahmen an. Als der
Entwurf eingebracht worden ist, haben wir geglaubt,
dass wir reichlich 12 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen haben werden. Das erklärt die zweite Hälfte der
circa 24,5 Milliarden Euro, die mit dem Nachtragshaushalt neu aufzunehmen sind. Die heutige Steuerschätzung
hat gezeigt, dass es vielleicht 1 Milliarde weniger sein
wird, also nur 11 statt 12 Milliarden Euro. Aber im Großen und Ganzen hat der Entwurf gestimmt.
Jetzt reden wir einmal über die Steuern. Es gab vorhin
schon einmal eine Debatte über Steuern. Herr Merz - ich
erinnere mich wohl - hat im Frühjahr im Fernsehen laut
getönt, dass der Abbau von Steuervergünstigungen und
Subventionen eine Steuererhöhung wäre, die man brandmarken müsse; das ginge auf gar keinen Fall.
Nun hat er selbst, wie ich finde, in den letzten zwei
Wochen ein durchaus interessantes Konzept zur Sprache
gebracht.
({3})
Auf der Basis dieses Konzeptes müsste man eigentlich
alle Steuervergünstigungen streichen. Das haben wir vor
einem halben Jahr vorgeschlagen. Sie haben darauf empört reagiert.
({4})
- Über Tarifsenkungen reden wir gleich. - Das ist alles
gewesen. Wir haben ein halbes Jahr verschenkt, weil Sie
sich erst einmal inhaltlich sortieren mussten, um das einmal klar auf den Punkt zu bringen.
({5})
Es geht darum, in den nächsten Tagen Entscheidungen
zum Vorziehen der letzten Steuerreformstufe zu treffen.
Die würde eine Senkung der Steuertarife bedeuten. Sie
haben das in der Hand. Sie können beides, was Herr
Merz vorschlägt, sofort mit den Vorschlägen umsetzen,
die wir bereits an den Bundesrat überwiesen haben.
({6})
Dann ist ganz klar, was Sie machen müssen: Steuervergünstigungen und Subventionen müssen abgebaut werden. Dann ist auch die weitere Finanzierung des Vorziehens der nächsten Stufe der Steuerreform möglich, ohne
sich dabei ausschließlich auf Neuverschuldung zu stützen. Das haben Sie selbst immer wieder als Anliegen
vorgetragen.
({7})
Wer - wie es Herr Merz in seinem Konzept, das sich
gar nicht so sehr von unserer Politik unterscheidet, verfolgt - die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage - das
heißt das Schließen aller Schlupflöcher, um es auf Neudeutsch zu formulieren - und die Senkung der Steuersätze für notwendig hält, kann es sich leicht machen und
in den nächsten Wochen einen ersten Schritt realisieren.
Wir sind gespannt, wie die Gespräche verlaufen. Sie
haben noch ein paar Wochen Zeit, um ein bisschen Ordnung in Ihren Steuerkladderadatsch zu bringen. Wenn
das gelingt, dann hoffen wir auf gute Verhandlungen im
Vermittlungsausschuss. Das läge allemal im Interesse
der Bürger.
({8})
Lassen Sie uns die Initiativen betrachten, die wir noch
vorhaben. Wir wollen zum Beispiel eine stabilere Steuereinnahmebasis erreichen. Wir haben Vorschläge zu
einem energischeren Vorgehen im Zusammenhang mit
dem Problem des Umsatzsteuerbetrugs vorgelegt, wodurch wir auch Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer
erwarten. Wir haben auch vor, das Fluchtkapital wieder
zur Heimkehr zu bewegen
({9})
und die Steuerhinterziehung zu unterbinden oder zumindest einzudämmen. Davon erwarten wir den Rückfluss
von Milliardenbeträgen. Wir haben uns sehr bemüht,
Vorschläge zur Bekämpfung der Schwarzarbeit zu erarbeiten.
Herr Austermann gefiel sich in der kurzen Bemerkung, die innerdeutschen Probleme hätten dazu geführt,
dass man die Verschuldung nicht mehr in den Griff bekomme. Zu den innerdeutschen Problemen gehört aber
auch das über Jahrzehnte hinweg gestiegene Niveau der
Lohnnebenkosten, das heißt der Ausgaben für Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung. Die von der Koalition vorgelegten Vorschläge befassen sich mit genau diesen Problemen.
Tun Sie nicht so, als ob erst in den vergangenen fünf
Jahren in entscheidendem Maße Bewegung in die Entwicklung der Beiträge zur Renten-, Arbeitslosen- oder
Krankenversicherung gekommen wäre! Das stimmt
nicht. Der Aufwuchs ist vielmehr über Jahre und Jahrzehnte hinweg entstanden. Wir alle haben uns etwas zu
viel gegönnt.
Jetzt komme ich zu den Fragen, die sich hinter den
Zahlen verbergen: Wird dieses Land die Kraft haben, in
diesem Bereich einen Wertewandel zu durchlaufen?
Werden wir die Kraft haben, zu verstehen, dass die gesamte Wirtschaft auf verzerrten Preisen beruht, weil es
durch die gesamten Subventionen, Steuervergünstigungen und Umwege für den Normalbürger im Alltag nicht
mehr erkennbar ist, wie hoch ein Preis wirklich sein
müsste? Werden wir in der Lage sein, akzeptieren zu lernen, dass wir uns vielleicht nicht mehr all das leisten
können, an das wir uns in den vergangenen Jahrzehnten
gewöhnt haben? Das sind wichtige Fragen. Denn wenn
man das Ganze immer nur für das Ergebnis einer verfehlten Politik hält, wird man sich dem Missmut ergeben
müssen. Es geht vielmehr um etwas anderes. Wir werden
in vielen Bereichen einen Wertewandel vollziehen und
akzeptieren müssen, dass die Weltwirtschaft mit definiert. Dabei sollte keine Zeit verloren werden.
Was ich nicht verstehe - dabei habe ich interessante
Mitstreiter, zum Beispiel Herrn Rogowski, der mir zwar
nicht nahe steht, der aber mit seiner Feststellung in diesem Zusammenhang Recht hat -, ist, dass die CDU/CSU
mit ihrer Blockadehaltung im Bundesrat dafür sorgt,
dass wir wirtschaftlich wertvolle Zeit verlieren, wenn es
darum geht, sich dem globalen Wettbewerb zu stellen.
({10})
Wir stellen uns aber diesem Wettbewerb nicht.
Ich habe mich des Öfteren gefragt, welchen Sinn es
machen kann, dass die CDU/CSU versucht, mit aller
Gewalt wieder an die Macht zu kommen, um dann vielleicht ein Land zu übernehmen, in dem die Autos von
Eseln gezogen werden müssen, weil kein Geld mehr vorhanden und die Wirtschaft ruiniert ist. Wie können Sie es
eigentlich zulassen, dass wir Monate und Jahre verlieren,
nachdem endlich - das ist Ihnen auch klar - das rotgrüne und Mitte-Links-Milieu in diesem Land dazu bestimmt ist, den Wertewandel voranzutreiben? Denn es ist
durchaus mit beteiligt gewesen ist, als es darum ging, die
Lohnnebenkosten nach oben zu treiben und die Gerechtigkeitsdebatte der 70er- und 80er-Jahre und vielleicht
auch die Debatte zwischen Ost und West in den 90erJahren zu führen.
Wenn diese Einsicht vorhanden ist und Sie nur aus
Machtstreben das, was Sie selber in der Politik mit disAntje Hermenau
kutiert haben, verderben, dann sind Sie meiner Meinung
nach nur an der Macht interessiert, aber nicht am Wohl
des Volkes oder der Nation, wie Sie es ständig im Munde
führen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ein trauriger und dunkler Tag für unser Land. Der
Schuldenmacher Hans Eichel muss heute den Bankrott
erklären.
({0})
Wie sehr Sie sich in der Koalition für diesen Finanzminister schämen, wird daraus deutlich, dass fast die gesamte Fraktion und auch das Kabinett inzwischen geflüchtet sind
({1})
und dass Sie nur taktieren, indem Sie kurzfristig für
heute eine Aktuelle Stunde beantragt haben, in der
Eichel noch einmal ein Märchenbuch aufschlagen
konnte, während diese Debatte wahrscheinlich nach Redaktionsschluss stattfindet.
({2})
Diese Entscheidung haben Sie nämlich getroffen, weil
Sie sich für diesen Finanzminister so schämen. Das ist
die Wahrheit. Sie können ruhig zugeben, dass auch Ihnen das, was er hier vorgetragen hat, sehr peinlich ist.
Die Oppositionsfraktionen haben den Finanzminister
in diesem Jahr bereits mehrfach aufgefordert, einen
Nachtragshaushalt vorzulegen. Jetzt liegt er endlich auf
dem Tisch. Wie kurzatmig die Politik von Rot-Grün ist,
sieht man daran, dass die rot-grüne Koalition im Haushaltsausschuss noch am 23. Oktober dieses Jahres, also
erst vor wenigen Tagen, die Forderung der Oppositionsfraktionen nach Vorlage eines Nachtragshaushaltes abgelehnt hat. Eine Woche später beschließt das Kabinett
einen Nachtragshaushalt. Auch das gehört zur Wahrheit
dazu.
Wenn Sie, Herr Bundesfinanzminister, darauf hinweisen, dass Sie schon vor über drei Monaten gesagt hätten,
es müsse einen Nachtragshaushalt geben, dann frage ich
mich, warum Sie damals völlig andere Reden gehalten
haben und so getan haben, als ob wir im Geld schwimmen würden. Ihre Reden waren eine einzige Katastrophe
und gingen an der Wirklichkeit völlig vorbei. Es ist peinlich, dass Sie zur Ehrlichkeit nicht bereit sind.
({3})
Sie verfahren nach dem Grundsatz - das ist zumindest in
den letzten Jahren typisch für Sie -: Augen zu und weitermachen, bis es nicht mehr geht und bis die Wahrheit
für jeden erkennbar ist! Das ist Ihr Problem beim Bundeshaushalt.
Die FDP-Fraktion hat am 20. Februar dieses Jahres einen Antrag vorgelegt, in dem wir die Bundesregierung
aufgefordert haben, den Haushaltsentwurf 2003, der damals in der Beratung war, zu überarbeiten. Ich habe damals für die FDP-Fraktion erklärt, wo die Schwächen
des Haushaltsentwurfs 2003 liegen. Ich habe gesagt,
dass die im Haushaltsentwurf 2003 angenommenen Steuereinnahmen allein dem Wunschdenken des Finanzministers geschuldet sind, dass durch das so genannte
Amnestiegesetz nicht einmal Einnahmen in Höhe von
über 2 Millionen Euro zu verzeichnen sein werden
- diese Einnahmen haben wir auch nicht - und dass die
Vorstellung des Bundesfinanzministers, die Bundesanstalt für Arbeit komme ohne Bundeszuschuss aus, völlig
illusorisch ist. Von Mauteinnahmen war damals noch gar
keine Rede. Die rot-grüne Koalition hat sich damals geweigert, den Haushaltsentwurf 2003 zu überarbeiten und
einen realistischen Entwurf vorzulegen. Aber alle unsere
damaligen Aussagen und Zahlen haben sich bestätigt.
Das sieht man an dem heute vorliegenden Entwurf eines
Nachtragshaushaltes. Hätten Sie doch bloß auf die Opposition gehört und rechtzeitig gegengesteuert! Dann wären
Sie heute nicht in diesem Dilemma.
({4})
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben alle Möglichkeiten aus Arroganz und Unfähigkeit vertan. Sie haben
nicht zugehört und hören auch heute nicht zu. Das ist Ihr
Problem. Rot-Grün hat stattdessen auf Druck des Bundesfinanzministers einen Bundeshaushalt 2003 verabschiedet, von dem jeder bereits damals wusste, dass
wichtige Daten und Zahlen nicht stimmten und dass er
höchstens ein Dokument einer verfehlten Arbeitsmarktund Konjunkturpolitik sein wird. Die FDP hat Anfang
dieses Jahres darauf hingewiesen, dass es dann, wenn
der Bundeshaushalt 2003 nicht sofort überarbeitet
werde, das gleiche Szenario wie im Jahr 2002 geben
werde: Die Maastricht-Kriterien werden nicht erfüllt und
ein Nachtragshaushalt, der die Aufnahme von erheblich
mehr Schulden vorsieht, wird notwendig. Die Redner
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben damals unsere Forderungen zurückgewiesen und unseren Antrag
als lächerlich bezeichnet. Einer der damaligen Redner
wird gleich nach mir sprechen. Vielleicht nimmt er dazu
Stellung.
({5})
Damals hat sich die Arroganz der Macht durchgesetzt. Der jetzige Nachtragshaushalt ist ein Dokument
der Arroganz der Macht. Rechthaberisch haben Sie sich
über alle Bedenken hinweggesetzt. Wir müssen nun erleben, dass Hans Eichel zum größten Schuldenmacher aller Bundesfinanzminister unserer Nation geworden ist.
Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik mussten
so viele Schulden aufgenommen werden wie unter Hans
Eichel. Der Bundesfinanzminister selbst hat erklärt, dass
ein Abweichen vom Konsolidierungskurs in der Haushaltspolitik der falsche Weg sei. Sehr wahr! Aber warum
haben Sie sich nicht daran gehalten, Herr Minister? Realität ist - das schlägt sich im jetzigen Nachtragshaushalt
nieder -, dass es versäumt wurde, wichtige Reformen
durchzuführen, und dass bestehende Mängel noch verschärft wurden. Der vorliegende Nachtragshaushalt ist
ein Dokument einer seit über drei Jahren verfehlten Arbeitsmarktpolitik. Mit über 43,4 Milliarden Euro Neuverschuldung ist Hans Eichel der größte Schuldenmacher der Nachkriegszeit.
({6})
Die Schadensbilanz von Hans Eichel ist verheerend:
Bruch der Verfassung, Bruch der europäischen Verträge,
eine Rekordverschuldung und marode Staatsfinanzen.
Zum zweiten Mal in Folge wird Deutschland im Jahr
2003 sowohl gegen die Verfassung als auch gegen den
europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen.
Das Überschreiten der Maastrichter Defizitgrenze ist der
vorsätzliche Bruch eines völkerrechtlichen Vertrages.
Nie haben die Haushaltspläne von Hans Eichel in den
letzten Jahren gestimmt. Sie konnten auch nicht stimmen, weil er niemals von soliden Grunddaten ausgegangen ist. Schon das ist eine Fahrlässigkeit.
Die FDP hat bereits vor Monaten die Vorlage eines
Haushaltssicherungsgesetzes mit Ausgabenkürzungen
und Leistungseinschnitten in einer Größenordnung von
20 Milliarden Euro angemahnt. Die Höhe der zusätzlichen Neuverschuldung von 24,5 Milliarden Euro zeigt,
dass wir mit unserer Risikoannahme absolut richtig gelegen haben.
Jeder, der bei haushaltspolitischem Verstand ist, muss
diesen Nachtragshaushalt ablehnen;
({7})
denn die Rekordkreditaufnahme, Herr Bundesfinanzminister, dient nicht der Abwendung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert. Dieser Nachtragshaushalt
belebt weder die Konjunktur noch trägt er zur Senkung
der Arbeitslosigkeit bei. Er trägt allein dazu bei, dass die
rot-grüne Koalition zukünftig Steuererhöhungen vorbereiten muss.
Herr Bundesfinanzminister, Sie machen 43 Milliarden Euro neue Schulden, sagen aber niemandem, wer
diese Schulden eines Tages bezahlen soll. Deswegen
werden wir diesem Nachtragshaushalt nicht zustimmen.
Herr Bundesfinanzminister, Sie sagen immer, Ihre
Haushaltspläne seien auf Kante genäht. Das stimmt
nicht. Sie sind alle auf Sand gebaut.
({8})
Die FDP-Fraktion wird dem Nachtragshaushalt nicht
zustimmen; denn die Schulden, die die rot-grüne Koalition und Hans Eichel machen wollen, müssen von kommenden Generationen mit höheren Steuern bezahlt werden. Da ist nicht die Politik der Freien Demokratischen
Partei.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Walter Schöler von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
wie das schon über viele Jahre war, basieren Haushalte
auf Schätzungen und auf Annahmen
({0})
sowie auf Ergebnissen der Konjunkturschätzungen der
Wirtschaftsforschungsinstitute. Das galt für den Haushalt 2003 wie auch für die Haushalte 1995 und 1996
- ich gehe noch einmal in die Vergangenheit -, als Theo
Waigel der größte Schuldenmacher aller Nationen war.
({1})
Sie haben vergessen, dass er das zu einem Zeitpunkt war,
als das Wachstum noch 1,6 Prozent betrug und es nicht
drei Jahre hintereinander ein Nullwachstum gegeben
hatte. Wenn Sie das einmal in Relation zueinander setzen, dann erkennen Sie, was Sie an Schulden gemacht
haben. Das sind nämlich die Schulden, die uns heute
noch die Probleme machen, die den Haushalt 2003 belasten und auch noch die kommenden Haushalte belasten
werden. Sie sollten mit Ihren Behauptungen sehr vorsichtig sein.
({2})
Der Nachtragshaushalt 2003 wurde erst jetzt vorgelegt, weil wir auf der sicheren Seite sein wollten. Mit
dem Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute,
wenige Tage alt, mit den Eckwerten der Bundesregierung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und mit
der heutigen Steuerschätzung haben wir nun eine sichere
Datenbasis.
Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten die Vorlage
des Nachtrags verschleppt, um die wahre Lage zu verschleiern. Das ist der blanke Unsinn. Ich will nicht sagen
„lächerlich“; denn das, was Sie erzählen, ist wirklich
schon blanker Unsinn. Es wurde nichts verschleppt und
es wurde überhaupt nichts verschleiert.
Als im Sommer die Schätzungen der Sachverständigen eine weitere Wende nahmen, zum dritten Mal eine
Wende nahmen - ich würde mich als Sachverständiger
langsam ein bisschen schämen, wenn ich mir dreimal
hintereinander so etwas erlaubt hätte -,
({3})
haben wir sofort erklärt, dass ein Nachtrag notwendig
sein wird und dass wir eine weit höhere Verschuldung
eingehen müssen, als wir sie für den Haushalt 2003 ursprünglich veranschlagt haben.
({4})
Seitdem hat sich - wir alle bedauern das, Sie mit Sicherheit genauso wie wir - eine weitere Verschlechterung der Entwicklung gegenüber den Annahmen vom
Frühjahr ergeben. Im Nachtragsentwurf müssen wir deshalb die Neuverschuldung auf 43,4 Milliarden Euro anheben. Glauben Sie nicht, dass uns das leicht fällt. Es
gibt dazu aber keine Alternative. Auch Sie haben heute
keine ernsthafte Alternative genannt.
({5})
Gerade der jetzt festzustellende Aufwuchs gegenüber
der Einschätzung vom August zeigt, dass es richtig war,
die sichere Datenbasis, die wir jetzt im November haben,
abzuwarten. Hätten wir schon im Sommer aufgrund der
damaligen Erkenntnisse einen Nachtrag präsentiert, hätten wir vermutlich heute mit einem zweiten Nachtrag
eine Korrektur vornehmen müssen. Das haben wir uns
so erspart.
({6})
Eine solche Korrektur hätte auch nur zu einer weiteren Verunsicherung beigetragen. Sie betreiben hier Verunsicherung. Wir wollen das nicht. Wir wollen uns solche kontraproduktiven Leistungen, wie wir sie von
Ihnen hier inzwischen gewohnt sind, nicht erlauben.
Im Jahr 2003 ist die Stagnation noch nicht überwunden. Sie trifft den Bundeshaushalt - anders als die Länderhaushalte - sowohl auf der Einnahmen- als auch auf
der Ausgabenseite mit sehr großer Wucht. Die Steuereinnahmen - das beklagen wir - bleiben um 12,5 Milliarden Euro hinter der Veranschlagung zurück. Der Arbeitsmarkt erfordert Mehrausgaben von 12 Milliarden Euro.
Alle anderen, nicht unmittelbar auf der schwachen Konjunktur beruhenden Mehrausgaben - Sie sprechen ja vom
Sparen - werden durch Minderausgaben an anderer
Stelle aufgefangen. Insoweit ist unser Haushaltsvollzug
sehr solide.
({7})
Ich halte fest, dass Kollege Austermann eben ganz bewusst für die Verschuldung einen Betrag von 54 Milliarden Euro in den Raum gestellt und damit der Öffentlichkeit bekannt gegeben hat.
({8})
Wer hier wieder wie Sie trickst, Kollege Austermann,
wer den üblichen Staatsverschuldungen auch noch Liquiditätsmittel hinzurechnet, die dann am Jahresschluss
wieder ausgeglichen sind, wer also auf diese Weise die
Öffentlichkeit täuscht, kann überhaupt nicht in Anspruch
nehmen, von Verantwortung zu reden,
({9})
denn Sie wollen nichts anderes, als mit Ihren Aussagen
weiter zu verwirren.
({10})
Uns wird der Jahresabschluss in wenigen Wochen vorliegen; ich werde Sie dann an der Zahl von 54 Milliarden Euro messen.
Zur Ausweitung der Neuverschuldung, auch wenn
wir sie beklagen, gibt es leider keine echte Alternative.
Wir wollten und durften die konjunkturelle Entwicklung
keinesfalls durch etwaige drastische Ausgabenkürzungen, die Sie fordern, zu denen Sie aber im Übrigen keinen konkreten Vorschlag gemacht haben, weiter belasten. Wir haben deshalb die automatischen Stabilisatoren
wie schon im Vorjahr wirksam werden lassen. Unter Berücksichtigung der konjunkturbedingten Haushaltsbelastungen von Ländern und Gemeinden ist es uns gelungen,
durch diese automatischen Stabilisatoren die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Jahr mit über 30 Milliarden Euro zu stützen. Das ist eine gewaltige Summe. Sie
ist größer als das Volumen der anstehenden Steuerreformstufen II und III. Man stelle sich vor, wir hätten
diese 30 Milliarden Euro aus dem Kreislauf genommen,
wie Sie es eben hier vorgeschlagen haben. Die Spirale
hätte sich weiter nach unten gedreht; die Zahl der Arbeitslosen wäre noch weiter gewachsen. Das wollten wir
nicht. Deshalb müssen wir jetzt zwangsläufig diese Ausdehnung des Staatsdefizits für 2003 in Kauf nehmen.
Im Übrigen verhandeln wir gerade über den Haushalt
für das Jahr 2004; Sie haben es angesprochen. Es wäre
allerdings gut, Sie beteiligten sich nicht nur an den Beratungen, sondern auch an Entscheidungen in Bezug auf
2004.
({11})
Bisher haben Sie dazu überhaupt nichts beigetragen.
({12})
Herr Kollege Schöler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja, von Herrn Koppelin immer.
Bitte schön, Herr Koppelin.
Kollege Schöler, das, was Sie eben gesagt haben, ist
für mich ein guter Anlass, folgende Zwischenfrage zu
stellen: Können Sie bestätigen, dass die FDP-Fraktion
bei den jetzigen Beratungen über den Haushalt 2004 bereits Kürzungsvorschläge im Umfang von über 2 Milliarden Euro gemacht hat, über die man sich sicherlich unterhalten kann? Wie kommt es, dass Sie alles, selbst
kleinste Sparmaßnahmen beim Haushalt 2004 - das sind
unsere Anträge - ablehnen?
({0})
Wir sind bereit, sogar noch weitere Sparmaßnahmen
vorzuschlagen; es ist auch gegenüber den eigenen Politikern nicht einfach, solche Sparvorschläge zu machen.
Können Sie bestätigen, dass die FDP-Fraktion sich intensivst an den Beratungen über Sparvorschläge beteiligt, die Koalition bisher aber alle diese Vorschläge abgelehnt hat?
Ja, ich kann bestätigen, dass Sie eine Reihe von Einsparvorschlägen gemacht haben. Ich kann allerdings
nicht bestätigen, dass die Koalition sie alle abgelehnt
hätte. Ich kann bestätigen, dass wir im Gegensatz zur
Union, die sich an Entscheidungen nicht beteiligt, sogar
gemeinsam entscheiden. Ich kann allerdings auch bestätigen, dass Sie im Vorjahr für den Haushalt 2003 Anträge gestellt haben, die das Haushaltsvolumen um über
3 Milliarden Euro ausgedehnt hätten. Auch das müssen
Sie dann zur Kenntnis nehmen.
({0})
Aber vielleicht haben Sie bezüglich Ihrer Anträge ein
bisschen gelernt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Neuverschuldung liegt deutlich über dem Investitionsvolumen von
26,7 Milliarden Euro.
({2})
Das ist jedoch kein Verfassungsbruch, wie Kollege
Austermann gerade behauptet hat.
({3})
In diesem Zusammenhang erinnere ich Sie an die Zeiten,
als Ihr Finanzminister Waigel Haushalte zu verantworten
hatte. Das, was wir machen, ist gemäß der Ausnahmeregelung des Art. 115 Grundgesetz verfassungsgerecht,
denn wir befinden uns jetzt im dritten Jahr der Stagnation und haben eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit. Das
gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist ganz offensichtlich gestört. Damit sind die verfassungsmäßigen
Voraussetzungen für die Kreditaufnahme nach der Ausnahmeregelung des Art. 115 gegeben.
({4})
Auch das Staatsdefizit steigt infolge der Konjunkturschwäche an. Nach Berechnungen des Herbstgutachtens
wird es in diesem Jahr rund 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen. Das ist uns viel zu hoch; es ist aber
unvermeidbar, wenn man die automatischen Stabilisatoren wirken lässt. Ich habe Ihnen eben dargestellt, mit
welch gutem Erfolg dies geschehen ist.
Das Herbstgutachten enthält den Vorwurf, es sei nicht
möglich, die Ziele Haushaltskonsolidierung, Steuersenkung und Konjunkturbelebung gleichzeitig zu verfolgen.Das mag sich aus Sicht der reinen Wissenschaft vielleicht so darstellen. Ich sage Ihnen aber: In dieser
schwierigen Haushalts- und Konjunkturlage bleibt uns
doch überhaupt nichts anderes übrig, als diesen Spagat
zu wagen. Wir befinden uns in einem Spannungsfeld,
das durch einen langfristigen Abbau der Defizite und
eine konjunkturgerechte Politik gekennzeichnet ist. Dabei haben wir durchaus Erfolge vorzuweisen. Das wissen Sie auch.
({5})
Das Herbstgutachten bescheinigt uns eine Rückführung
des strukturellen Defizits in 2003 um immerhin 1 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, das heißt um gut 20 Milliarden Euro. Ohne diesen Kraftakt vor allem im Bereich
der sozialen Sicherungssysteme läge unser Defizit nämlich bei 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
({6})
In 2004 wird das strukturelle Defizit weiter - mindestens
um einen halben Prozentpunkt - abgesenkt. Das sind
Strukturbereinigungen, die aber erst bei dem erwarteten
Aufschwung voll zum Tragen kommen werden.
Es gibt durchaus auch handfeste Belege dafür, dass
die Hoffnung auf eine Aufhellung der wirtschaftlichen
Entwicklung berechtigt ist. Eine Erholung hat begonnen,
sie wird sich im nächsten Jahr verstärken, die Wirtschaft
wird sich stabilisieren. Das Herbstgutachten erkennt eine
Belebung der Weltwirtschaft, die sich im nächsten Jahr
fortsetzen wird, wobei insbesondere die USA und Japan
wirtschaftlich deutlich wachsen werden. Dieses Gutachten sagt auch für Deutschland eine Besserung voraus. Es
prognostiziert eine Wachstumsrate von 1,7 Prozent, die
sowohl von der Inlandsnachfrage als auch vom anziehenden Außenhandel getragen wird.
Auch die Entwicklung an der Börse lässt Positives erwarten. Kollege Kampeter ist Spezialist für Börsen. Der
Ifo-Geschäftsklima-Index macht ebenfalls Mut; denn er
ist mittlerweile zum sechsten Mal in Folge gestiegen.
Dabei ist insbesondere wichtig, dass jetzt nicht nur der
Teilindex der Erwartungen, sondern erstmals auch der
Teilindex der Lagebeurteilung angestiegen ist.
({7})
Wir wollen uns nichts vormachen: Die konjunkturelle
Erholung ist noch ein zartes Pflänzchen, das wir sorgsam hegen und pflegen sollten, und wir dürfen nicht in
der Art, wie Sie hier in die Haushaltsdebatte eingreifen,
alles niedermachen, zerstören und austrocknen lassen.
Ein ganz wichtiges Element dabei ist, dass das Reformpaket der Bundesregierung umgesetzt wird.
Das Herbstgutachten hat die Umsetzung bereits in
seine Projektion der wirtschaftlichen Entwicklung eingebaut. Das heißt: Ohne diese Umsetzung gibt es auch kein
Wachstum von 1,7 Prozent. Das gilt ganz besonders für
das Vorziehen der Steuerreformstufe von 2005 auf 2004,
die hier eben noch einmal debattiert wurde. Alle Forschungsinstitute befürworten das Vorziehen dieser Steuerreformstufe und sehen darin einen Wachstumsimpuls.
Die Signale können doch überhaupt nicht klarer sein.
Was aber machen Sie von der Union? Wir sind auf
Ihre Mitwirkung im Bundesrat angewiesen. Es kommt
im Vermittlungsausschuss auf Sie an. Sie tragen dabei
eine ganz erhebliche Verantwortung, die Sie in dieser
Stunde offensichtlich noch nicht wahrnehmen wollen.
({8})
Ich bin sicher, dass Sie in vier Wochen etwas anderes sagen werden. Ich hoffe, Sie wissen bis dahin, was Sie
wollen. Ich hoffe auf die Spitzen der Union, die ihre
Stellung bisher für einfache Machtspiele missbrauchen.
Unterschwellig steht bei jedem Reformpaket und jedem
Vorschlag, der bei Ihnen diskutiert wird, die Frage an,
wer in Ihrer Partei die Macht erhält. Das kann nicht die
Frage sein. Die Frage ist: Wie bringen wir gemeinsam
Deutschland voran? Diese Frage sollten Sie sich heute
stellen.
({9})
Herr Fromme, Ihre ureigene Klientel, die Unternehmer,
muss Sie von der Union schon jetzt vor einer Blockade
warnen. Arbeitgeberpräsident Hundt sagte in der „Süddeutschen Zeitung“:
Wenn die Steuerreform und die Sozialreformen umgesetzt werden, besteht die Chance, dass die deutsche Wirtschaft im nächsten Jahr wächst. … Eine
Steuersenkung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, um die positiven weltwirtschaftlichen Tendenzen zu verstärken.
Der Porsche-Chef Wiedeking erwartet laut „SZ“ einen
spürbaren Impuls für die Konjunktur durch die vorgezogene Steuerreform. Laut Infineon-Chef Schumacher
könne dieser Schritt die psychologische Basis für einen
Aufschwung schaffen. Von dieser psychologischen Basis
haben im Übrigen schon mehrere frühere Wirtschaftsminister gesprochen.
({10})
Wir brauchen den Aufschwung, um die hohen Arbeitslosenzahlen zu senken und um die Haushalte - wenn
auch mit langem Atem - zu konsolidieren. Es kann den
Aufschwung allerdings nur geben, wenn Bürger und Unternehmen Vertrauen in die Zukunft haben. Die Konjunktur wird - das habe ich eben schon gesagt - in hohem
Maße von Psychologie beeinflusst; deshalb müssen wir
die nicht zu leugnende Vertrauenskrise überwinden. Voraussetzung dafür ist, dass Sie so schnell wie möglich
den Weg für das Vorziehen der Steuerreform frei machen.
Insgesamt 56 Milliarden Euro haben wir als Entlastungsvolumen vorgesehen, davon 22,5 Milliarden im Zuge der
zweiten und dritten Stufe im nächsten Jahr.
({11})
Jetzt hat die CSU ja angekündigt, am 8. Dezember ein eigenes Konzept als Alternative zu dem von Herrn Merz vorzulegen. Wir werden sehen, dass danach das Merz-Konzept
erledigt ist.
({12})
Wir wollen eine Steuerreform, die nichts mit dem Konzept von Merz oder irgendeinem anderen, das irgendwann für die Zukunft geplant ist, zu tun hat. Wir wollen
konkrete Auswirkungen schon im Januar 2004. Geben
Sie deshalb Ihre Blockadehaltung auf. Beenden Sie die
Miesmacherei, die von Ihnen heute fortgesetzt betrieben
wurde, und folgen Sie den dringenden Ratschlägen der
Wirtschaftsexperten. Sagen Sie der Bevölkerung besser
heute als morgen und nicht erst am 19. Dezember, dass
Sie bereit sind, das Vorziehen der Steuerreform und die
Reformgesetze mitzutragen. Dann wissen die Bürger
endlich, woran sie sind, und können vielleicht in froher
Erwartung auf Weihnachten zu marschieren
Wir haben unsere Arbeit geleistet. Spätestens seit
dem 17. Oktober wissen die Bürger, dass es massive
Steuerentlastungen in Höhe von 22,6 Milliarden Euro
gibt. Ein Teil dieses Entlastungsvolumens könnte in das
Weihnachtsgeschäft fließen und die Konsumnachfrage
ankurbeln. Dadurch wäre es für alle Bürger in Deutschland ein schönes Weihnachtsfest. Sie haben es in der
Hand.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Steffen Kampeter für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Kollege Schöler hat gerade gesagt, es ginge
hier nicht um die Macht, sondern um Deutschland. Wenn
Sie das ernst gemeint haben, Herr Kollege Schöler, dann
schmeißen Sie den Eichel bitte aus seinem Posten heraus. Das wäre das Beste, was Sie für Deutschland tun
können.
({0})
Herr Kollege Schöler, Sie haben weiterhin den Eindruck erweckt, als sei das Handeln der Bundesregierung
verfassungsgemäß
({1})
und die exorbitant hohe Neuverschuldung, die im
Nachtragshaushalt vorgesehen ist, mit dem Grundgesetz
vereinbar. Es gibt ein aktuelles Urteil im Zusammenhang
mit der Berliner Haushaltssituation, in dem sich dazu
klare Worte finden.
({2})
Das Urteil besagt, dass man, wenn man über die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Grenze hinaus Schulden
aufnimmt, auch sagen muss, wofür. Wenn man aber erst
zum Ende des Jahres Schulden aufnimmt und wie ein
Notar die Entwicklung nachvollzieht, die man im Laufe
des Jahres verpasst hat, dann kann das nicht der Behebung oder Verhinderung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes dienen.
({3})
Bei dem, was Hans Eichel hier betreibt, handelt es sich
lediglich um ein Nachvollziehen, um das notarielle Beschreiben einer gescheiterten Politik.
({4})
Das ist eigentlich der zentrale Grund, warum man diesen
Nachtragshaushalt ablehnen muss.
Herr Eichel hat uns heute eine neue ökonomische
Theorie vorgestellt: die Pendeltheorie.
({5})
Herr Bundesminister, Sie haben gesagt, das Pendel
schlage immer in die eine oder in die andere Richtung
aus, zurzeit in anderen Ländern weniger stark als in
Deutschland. Vor einigen Wochen konnten wir lesen,
dass gemäß Angaben des Internationalen Währungsfonds Deutschland das einzige Land ist, wo sich das
Pendel überhaupt nicht bewegt. Wir sind nämlich das
einzige Land, das laut IWF im Jahre 2003 kein Wirtschaftswachstum erzielt.
({6})
Oder anders ausgedrückt: Alle Industrieländer dieser
Welt, jedes Schwellen- und auch jedes Entwicklungsland
haben eine stärkere wirtschaftliche Dynamik als das
Land, dem Sie als Bundesfinanzminister vorstehen.
({7})
Diese Form von pendelorientierter Politik, meine sehr
verehrten Damen und Herren, können wir uns als Deutsche langsam nicht mehr leisten. Die Sklerose, die Sie zu
verantworten haben, muss geheilt werden.
({8})
Preisstabilität und solide öffentliche Finanzen schaffen günstige Rahmenbedingungen für Wirtschaftswachstum. Das sind Sätze, die auch von Ihnen stammen könnten. Ich würde im Übrigen ganz gerne einmal Ihre Rede
lesen, die Sie gestern an der Humboldt-Universität gehalten haben.
({9})
Sie wurde als Grundsatzrede angekündigt. Ich habe
heute einmal nach dieser Rede gefragt. Man sagte mir,
sie müsse noch überarbeitet werden. Die Grundsätze von
gestern müssen heute also schon überarbeitet werden.
({10})
Deswegen kann die Rede nicht Mitgliedern des Deutschen Bundestages zur Verfügung gestellt werden.
({11})
Das zeigt ja, wie Ihre argumentative Überzeugungskraft
in Ihrem eigenen Ministerium gesehen wird. Mangelnde
Glaubwürdigkeit nenne ich das.
Wenn man Preisstabilität und solide öffentliche Finanzen will, dann muss man dafür mehr tun, als zum gegenwärtigen Zeitpunkt getan wird. Aus dem Geist heraus,
dass Defizite und Inflation schlecht für die Volkswirtschaft sind, wurde der europäische Stabilitäts- und
Wachstumspakt geschlossen. Haushaltsdisziplin für
Wirtschaftswachstum: Das war die Ansage in den 90erJahren.
Ob dieser Nachtragshaushalt zu einer Rekordverschuldung führt, müssen wir einmal abwarten. Ihre Angaben aus der vergangenen Woche, was die Steuerausfälle betrifft, und die Daten der Steuerschätzung von
heute unterscheiden sich um 1,7 Milliarden Euro. Innerhalb von einer Woche gab es also eine Verschiebung um
1,7 Milliarden Euro. Trotz allem bleibt die Nettokreditaufnahme hoch. Sie ist der größte Anschlag auf den
europäischen Stabilitätspakt, den wir in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland bisher erleben mussten.
Dieser Angriff muss abgewiesen werden.
({12})
Sie greifen die Fundamente des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes regelrecht mit dem Presslufthammer an:
({13})
4,2 Prozent Defizit im Jahre 2003. Die Europäische
Union hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass der
Schuldenstand, der bei maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen darf, in den nächsten Jahren auf
65 Prozent steigen wird.
Es ist also keine Besserung in Sicht; es geht weiter
abwärts. Wer den Stabilitätspakt bricht - dieser BundesSteffen Kampeter
finanzminister bricht ihn vorsätzlich, doppelt und dauerhaft -, der begeht Verrat am Erbe der Deutschen Mark.
Das muss auch in dieser Deutlichkeit gesagt werden.
({14})
Der Übergang von der D-Mark zum Euro - das sage
ich den Menschen im Saal und den Fernsehzuschauern wurde mit dem Versprechen dauerhaft stabiler Haushalte
verbunden. Dieses Versprechen wird jetzt von der Bundesregierung vorsätzlich, wiederholt und dauerhaft gebrochen. Der Angriff auf das Erbe der Deutschen Mark
ist eines der übelsten Kennzeichen dieses Nachtragshaushalts.
({15})
Viele kleine Volkswirtschaften in Europa haben sich
diesem Stabilitätspakt verpflichtet gefühlt; sie haben ihre
Haushalte in Ordnung gebracht. Aber die beiden größten
Volkswirtschaften in Europa, nämlich Frankreich und
Deutschland, haben das Ziel ausgeglichener Haushalte
- ursprünglich für 2006 geplant - völlig aus den Augen
verloren, was im Fall von Deutschland durch den Nachtragshaushalt deutlich wird. Nach der Steuerschätzung
gibt es Steuerausfälle in Höhe von fast 20 Milliarden
Euro. Herr Eichel, angesichts der Tatsache, dass keine
Besserung in Sicht ist, ist man sich auf nationaler und
auch auf internationaler Ebene im Klaren darüber, dass
die Situation nicht besser wird.
Wir müssen die Glaubwürdigkeit des europäischen
Stabilitätspakts endlich wieder herstellen. Wenn Sie in
dieser Situation behaupten, man könne in der Rezession
nicht sparen, dann ist das falsch. Während der Haushaltskonsolidierung in den 90er-Jahren waren die
Wachstumsraten höher als in den 70er- und 80er-Jahren,
als diese Defizite aufgebaut worden sind. Konsolidierung ist zu jedem Zeitpunkt das richtige wirtschaftspolitische Konzept. Der Nachtragshaushalt 2003 mit seinem
Superdefizit ist eine Wachstumsbremse für Deutschland.
Ihr Gerede über die automatischen Stabilisatoren ist
wirtschaftspolitischer Blödsinn und führt in den Staatsbankrott.
({16})
Wir werden diese laxe Haushaltspolitik bitter bereuen. Die Zinswende auf den Märkten, von der wir in
diesen Tagen lesen können, ist die Antwort der Märkte
auf die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung. Wir können rasch in eine Situation geraten, in der Geldpolitik und Finanzpolitik gegeneinander
arbeiten. Inflation und Geldwertdestabilisierung des Euros wird das Ergebnis dieser Politik sein.
Sie machen diese Politik nicht alleine; ich habe vorhin
schon von Frankreich gesprochen. Wir Deutsche wären
eigentlich aufgerufen, den europäischen Stabilitätspakt zu
stärken, anstatt ihn zu schwächen. Das läge in unserem
nationalen Interesse. Im Augenblick erinnert das Verhalten Deutschlands und Frankreichs im Ministerrat - das haben Sie zu verantworten, Herr Bundesminister - eher an
eine Sündergemeinschaft als an eine Stabilitätsgemeinschaft.
({17})
Im Augenblick zerstören Sie die Grundlagen der gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik. Die stabilitätspolitischen Notwendigkeiten müssen beachtet werden. Laut Presseerklärung ist für Sie der europäische
Stabilitätspakt kein verpflichtendes Instrument zur Haushaltskonsolidierung mehr, sondern lediglich ein Koordinierungsinstrument, mit dem Empfehlungen gegeben
werden. Anders ausgedrückt: Der deutsche Finanzminister glaubt nicht mehr an das 3-Prozent-Kriterium. Dieses
fatale Signal darf zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
von der Politik ausgehen. Ihre Politik wird zu Zinssteigerungen, zur Inflation und zur Fortsetzung der Wachstumsschwäche führen. Ihre Politik ist schlecht für unser
Land.
({18})
Es ist klar, dass Rot-Grün kein Opfer der wirtschaftlichen Krise ist. Sie sind die Täter, die rufen: Haltet den
Dieb!
({19})
Diese falsche Politik werden wir Ihnen aber nicht durchgehen lassen.
Die Union bietet selbstverständlich klare Alternativen
zu diesem rot-grünen Finanzchaos.
({20})
Die erste ganz wichtige Politikänderung, die Deutschland braucht, zielt auf Verlässlichkeit der Politik im
Steuerrecht und in anderen Bereichen, und zwar durch
ein klares ordnungspolitisches Gesamtkonzept, das
weit über den engeren Bereich der Finanzpolitik hinausgeht. Anders als Sie mit Ihrem Hü und Hott, Zick und
Zack, Morgen und Übermorgen muss sich das Konzept
an der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard orientieren. Es muss dieses ordnungspolitische Leitsystem
in den Vordergrund stellen.
Zweitens. Wir brauchen eine symmetrische Finanzpolitik, eine Finanzpolitik, die nicht immer bloß auf
Steuererhöhungen zum Ausgleich von Defiziten setzt,
({21})
sondern endlich auch auf der Ausgabenseite ansetzt.
({22})
Herr Eichel, Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, Sie hätten irgendwo bei den Ausgaben gespart.
({23})
Jedes Jahr gibt dieser Staat, geben Sie mehr aus als im
Vorjahr. Wer mehr ausgibt, der spart doch nicht.
({24})
Wir müssen aber endlich mit dem Sparen anfangen.
2000 und 2001 hätten Sie konsolidieren können. Sie haben versagt. Jetzt ist es schwierig, aber wir müssen dringend auf der Ausgabenseite etwas machen. Denn um das
Jahr 2010 oder 2015 trifft der demographische Schock
nicht nur unsere Sozialsysteme. Denken Sie auch an die
Bundesschuld: Immer weniger Menschen werden das zu
bezahlen haben, was Sie vergeigt haben.
({25})
Umsteuern tut Not. Deswegen sind drittens umfassende Reformen auf der Angebotsseite, vor allem auf
dem Arbeitsmarkt nötig, aber auch bei den Sozialversicherungssystemen. Vor allen Dingen können wir keine
verkorkste vorgezogene Steuerreform brauchen. Wir benötigen stattdessen eine umfassende, grundlegende Sanierung des Steuersystems, wie sie Friedrich Merz vorgeschlagen hat. Das brauchen wir in Deutschland, damit
es aufwärts geht, aber nicht die verfehlte Finanzpolitik,
für die Hans Eichel steht.
({26})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzminister
Eichel, es war Ihnen ja sichtlich peinlich, auf der Pressekonferenz Ihren Nachtragshaushalt vorzustellen. Der
„Spiegel“ zitiert Sie wie folgt:
Wir rechnen damit und begeben uns damit an den
unteren Rand oder die, wenn Sie so wollen, negativste Variante, soweit wir das in unserer Vorschau
sehen können, dass das für den Bundeshaushalt bedeutet, dass wir bei der Steuereinnahmenseite einen
zusätzlichen Ausfall …
usw. usf.
({0})
Genauso chaotisch wie dieses Zitat ist die Finanz- und
Haushaltspolitik dieser Bundesregierung, genauso konfus und chaotisch.
({1})
Das eigentlich Schlimme und Unerträgliche ist aber,
dass Sie schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung des
Bundeshaushaltes 2003 wussten, dass die wesentlichen
Parameter nicht eingehalten werden können.
({2})
Bereits frühzeitig wies die Union auf diese Risiken hin:
Wir haben das im Juni in einem Antrag festgehalten und
genau so ist es eingetreten.
({3})
Sie haben es ganz genau gewusst. Sie haben auch im
Haushaltsausschuss eingeräumt und das heute erneuert,
dass die Annahme, dass die Bundesanstalt für Arbeit
keinen Zuschuss brauchen würde, eine falsche Annahme
gewesen sei.
({4})
Sie haben es auch damals schon gewusst. Sie sind also
von einer vollkommen falschen Voraussetzung ausgegangen. Der Zuschuss beträgt heute nicht null, sondern
12 Milliarden Euro.
({5})
In jeder Kommunalverwaltung gilt, dass die Risiken
einkalkuliert werden sollen, wenn nicht sogar müssen.
Tritt der schlimmste Fall dann nicht ein, hat man den
Spielraum, die Zuführung zum Vermögenshaushalt noch
etwas zu erhöhen und damit die Spielräume für die Zukunft zu erweitern. Bei Ihrer Form der Haushaltsführung
wären Sie als Kämmerer sofort gefeuert worden.
({6})
Jetzt kommen wir zur Größenordnung. 43,4 Milliarden Euro hört sich vielleicht nicht so groß an - das entspricht immerhin 84,88 Milliarden DM, für diejenigen,
die vielleicht noch mit DM-Beträgen rechnen -, das sind
aber 43 400 mal 1 Million Euro. Stellen Sie sich vor,
Herr Minister Eichel, das Christkind hätte Ihnen zu Ihrem Geburtstag am Weihnachtstag des Jahres 1941 ein
Geschenk in Höhe dieser 43,4 Milliarden Euro gemacht.
({7})
- Ja, er hört schon zu.
Jetzt stellen Sie sich vor, dass Sie und Ihre Familie die
Möglichkeit gehabt hätten, jeden Tag 1 Million Euro auf
den Kopf zu hauen. Dann hätten Sie, wenn Sie 1941 angefangen hätten, zum heutigen Datum ungefähr noch
20,7 Milliarden Euro übrig.
({8})
Wenn Sie bzw. Ihre Nachkommen so weitermachen würden, hätten Sie noch bis 2060 Zeit. Dann hätten sie dieses Vermögen endlich aufgebraucht. Im Klartext:
119 Jahre lang jeden Tag 1 Million Euro Schulden.
Noch eine andere Größenordnung, die mit dem Haushalt zu tun hat: Wenn wir die Einzeletats des Bundespräsidenten, des Deutschen Bundestages, des Bundesrates,
des Bundeskanzlers, des Auswärtigen Amtes, des Innenministeriums, des Finanzministeriums selbst, des MinisIlse Aigner
teriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, des Ministeriums für Familien, Senioren,
Frauen und Jugend, des Bundesverfassungsgerichtes,
des Bundesrechnungshofes, des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie des
Ministeriums für Bildung und Forschung und die Versorgungsbezüge aller Beamten zusammenrechnen, dann ergibt sich eine Summe von 43,35 Milliarden Euro.
({9})
Das ist immer noch weniger bzw. annähernd die Summe
der Neuverschuldung, die wir in diesem Jahr haben.
({10})
Das heißt im Klartext: Alle Etats dieser Verfassungsorgane und der Ministerien sowie die Versorgung der
Pensionäre werden in diesem Jahr zu 100 Prozent mit
Krediten bzw. über Schulden finanziert.
({11})
Das ist eine Bankrotterklärung für den Finanzminister
und diese Bundesregierung, denn mit diesem Nachtragshaushalt amtlich bestätigt wird, dass sie versagt haben.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1925 an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen.
({0})
- Darf ich den Zwischenruf des Obmanns einer der großen Fraktionen im Haushaltsausschuss als Zögerlichkeit
bei diesem Überweisungsvorschlag interpretieren?
({1})
Ich stelle allgemeines Einvernehmen fest. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Bundesschienenwegeausbaugesetzes
- Drucksachen 15/1656, 15/1804 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes
- Drucksachen 15/1657, 15/1803 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer
({5}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verkehrsinfrastruktur auf EU-Osterweiterung vorbereiten
- Drucksachen 15/467, 15/1195 Berichterstattung:
Abgeordneter Rainer Fornahl
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich, den obligatorischen Schichtwechsel möglichst zügig und geräuschlos vorzunehmen, damit wir uns auch bei neuer
Besetzung untereinander verständigen können.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär
Achim Großmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der neue Bundesverkehrswegeplan
2003 ist die Grundlage für die zukünftigen Investitionen
in die Straßen, in die Schienen und in die Wasserstraßen
unseres Landes. Er ist damit auch die Grundlage für die
beiden Ausbaugesetze, die wir heute in erster Lesung beraten.
Bis 2015 wollen wir 150 Milliarden Euro in eine zukunftsfähige, vernetzte, ökologisch vertretbare und damit nachhaltige Verkehrsinfrastruktur investieren.
Hinzu kommen die Regionalisierungsmittel und Anteile
aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz.
Wir haben die wesentlichen Eckpunkte neu gesetzt.
Dieser Plan ist zukunftsfähig, weil die Herausforderungen der EU-Osterweiterung, die Entwicklung zu einer
Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft und die
zunehmende Mobilität aufgegriffen werden und eingearbeitet worden sind. Er ist zukunftsfähig, weil seine Prognosen stimmiger sind als die Prognosen des vorherigen
Bundesverkehrswegeplanes von 1992.
({0})
- Weil ich wusste, dass Kollege Friedrich die Zunahme
im Güterschienenverkehr ansprechen wird,
({1})
habe ich mir natürlich, Herr Friedrich, die Zahlen aus
dem Bundesverkehrswegeplan 1992 herausgesucht.
({2})
Darin steht im Hinblick auf die Eisenbahn, dass die alte
Bundesregierung für das Jahr 2010 194 Milliarden Tonnenkilometer im Güterverkehr geschätzt hat. Unsere
Schätzung beträgt 148 Milliarden Tonnenkilometer für
2015. Sie müssen zugeben: Wenn wir mutig waren, dann
sind Sie mit Ihrer Schätzung jenseits von Gut und Böse
gewesen.
({3})
Der Plan vernetzt die Verkehre besser als der alte
Plan. Das ist erforderlich, weil die prognostizierte Zunahme des Güterverkehrs von 64 Prozent und die prognostizierte Zunahme des Personennahverkehrs von
25 Prozent es unabdingbar machen, dass wir die Verkehre miteinander verzahnen, dass wir die Attraktivität
einzelner Verkehrsträger verbessern und das Wechseln
von einem zum anderen schneller und einfacher ermöglichen.
Dazu ist es notwendig, dass wir die Investitionen für
die Schiene und für die Straße anpassen. Es ist interessant, zu hören, dass wir von vielen Ländern aufgefordert
worden sind, bei den Schieneninvestitionen ein wenig
kürzer zu treten, und dass uns vorgeworfen worden ist,
wir würden zu wenig für die Straße machen. Dann hätte
man doch damit rechnen müssen, dass im Bundesrat
einige Länder, die so denken, Anträge stellen würden,
bei der Schiene etwas zu streichen. Das Gegenteil war
der Fall.
({4})
Auch bei der Schiene haben die Bundesländer weitere
Projekte gefordert, sodass man diesen Vorwurf nicht
ernst nehmen kann.
({5})
Erstmals prognostizieren wir durch die Verzahnungslösung, die wir in den Plan eingearbeitet haben, das Absinken des modalen Anteils des Güterstraßenverkehrs.
Auch das ist eine mutige Annahme, die es jetzt zu erfüllen gilt. Neue Raumordnungskriterien geben strukturschwächeren Räumen neue Entwicklungschancen. Auch
das ist ein Vorteil für die Verzahnung und Vernetzung
von Verkehrsinfrastruktur insgesamt.
Der Plan ist ökologisch besser verankert und nachhaltiger, und zwar durch die bessere Vernetzung, aber auch
durch eine tiefergehende und vor allen Dingen frühere
ökologische Prüfung mit einem Hinweis auf besondere
naturschutzfachliche Planungsbedarfe.
({6})
Waren 1992 noch 130 Projekte in einer Umweltrisikoeinschätzung, so haben wir für den Bundesverkehrswegeplan 2003 800 Projekte einer Umweltrisikoeinschätzung
unterzogen.
({7})
Ich glaube, das zeigt, wie gründlich wir vorgegangen
sind.
({8})
Die Voraussetzungen werden auch dadurch nachhaltiger, weil wir stärker in den Bestand und in die Instandhaltung investieren. Wir müssen aufhören, so zu tun, als
erschöpfe sich Verkehrspolitik nur im Neubau. Wir müssen die Straßen und Schienen, die vorhanden sind, pflegen, warten, auf Vordermann bringen und für die Zukunft fit machen.
({9})
Das sind, wenn Sie so wollen, schon genug Gründe,
warum wir einen neuen Bundesverkehrswegeplan machen müssen. Trotzdem will ich dem alten Bundesverkehrswegeplan noch ein paar Sätze widmen. Der 92er
Plan hat einen Vorlauf und ein Ergebnis. Es wurde ein
Bundesverkehrswegeplan vorgelegt. Dann gab es die
beiden Ausbaugesetze - und siehe da, am Ende stand
eine Summe von 538,8 Milliarden DM. Wenn man das
umrechnet, sind dies jährlich 12,5 Milliarden Euro. Als
wir 1998 die Regierung übernommen haben, haben wir
im Etat eine Summe von 9,6 Milliarden Euro vorgefunden. Darin waren noch die Gemeindeverkehrsfinanzierungsmittel von 1,6 Milliarden Euro enthalten. Also haben wir im Grunde 8 Milliarden Euro vorgefunden.
({10})
12,5 Milliarden Euro waren geplant, vorgefunden haben
wir 8 Milliarden Euro.
({11})
Selbst wenn Sie in den Jahren davor und in den Jahren danach besser gewesen wären, wird damit für jeden
klar: Das war ein Plan, der keine finanzielle Basis hatte.
Von daher war es dringend notwendig, hier nachzuarbeiten.
({12})
Jetzt will ich Ihnen einmal die Pressemitteilung aus
dem Bundesverkehrsministerium vorlesen, die nach der
Verabschiedung der beiden Ausbaugesetze herausgegeben wurde - jetzt wird es noch spannender -:
Als wesentlichste Änderung gegenüber der Regierungsvorlage des Bundesverkehrswegeplanes 1992
wurde eine Erweiterung des Planungsvolumens des
Bundesverkehrswegeplanes für Neubau- und Ausbaumaßnahmen des vordringlichen Bedarfs um
20 Milliarden DM bei gleichzeitiger Verlängerung
des Gültigkeitszeitraumes des vordringlichen Bedarfs bis zum Jahre 2012 beschlossen.
Sie haben lustig draufgesattelt und den Bundesverkehrswegeplan einfach um zwei Jahre verlängert, um
nur ja keine Prioritäten zu setzen und jedem Konflikt aus
dem Weg zu gehen. So kann man aber keine verlässliche
Verkehrspolitik in Deutschland betreiben.
({13})
Es gab schon im Vorlauf dieser Debatte Presseverlautbarungen; das ist so üblich. Frau Blank und Herr Fischer
schreiben: „Mit der Ausrichtung an einen zu engen
Finanzplan versucht die rot-grüne Bundesregierung, die
Zukunftsbedarfe zu verdrängen.“
({14})
Die finanzielle Seriosität unseres Bundesverkehrswegeplanes ist nicht sein Manko, sondern seine Stärke.
({15})
Wir setzen 150 Milliarden Euro ein. Das sind etwa
10 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist das, was machbar
erscheint. Die Planungsreserve ist ausdrücklich erwähnt.
Wir haben im Plan nicht gepfuscht, sondern ausdrücklich auf eine Planungsreserve hingewiesen. Wir haben
auch noch ein bisschen Luft, was auch nötig ist, weil
man nie genau weiß, was noch kommt.
Wir haben bei fast allen A-Modellen mit einer 100-prozentigen Finanzierung gerechnet,
({16})
obwohl die Finanzierung der A-Modelle bis zum Jahre
2015 noch gar nicht abgeschlossen sein wird. Wir sind
bei der Maut - ich weiß, es ist ein unsägliches Thema trotz zu erwartender Verkehrssteigerungen - es sollen
65 Prozent mehr Güter transportiert werden und ein großer Teil davon sicher auf der Straße - von Einnahmen
ausgegangen, die von der Höhe her denen des Erstjahres
entsprechen. Wir haben keine durch die verkehrliche Zunahme bedingten Steigerungsraten eingerechnet. Auch
das spricht für die Seriosität der finanziellen Unterlegung dieses Bundesverkehrswegeplans.
({17})
Die Vorbereitung dieser Gesetzgebung war so
transparent, offen und kommunikativ wie noch nie zuvor. Bereits die Zusammenstellung der Länderanmeldungen wurde dem Fachausschuss zur Verfügung gestellt. Im Mai 2002 erfolgte die Übergabe der ersten
gutachterlichen Bewertung. Mit einer CD-ROM sind
alle Bundestagsabgeordneten und auch die Länder informiert worden. Es gab, was sonst nicht üblich ist, schon
in diesem Stadium eine Plausibilisierungsmöglichkeit.
Alle Länder und viele Verbände sowie Abgeordnete haben das genutzt. Sie konnten sich das Zahlenwerk anschauen und Einwände erheben.
Im Jahre 2003, also nur etwa drei Monate nach dem
letzten Rücklauf seitens der Länder, haben wir den Referentenentwurf vorgelegt. Es gab dann erneut bilaterale
Gespräche und Verbändeanhörungen. Mitte Juni 2003
war unsere Kabinettvorlage fertig und sie ist pünktlich,
wie versprochen, am 2. Juli 2003 verabschiedet worden.
({18})
In der Zwischenzeit, von Januar bis Juni, haben wir
mehrere Hundert Stunden kommuniziert, Gespräche geführt.
({19})
Es gab Gespräche des Ministers und der Staatssekretäre
mit Bürgermeistern, Oberbürgermeistern, Landräten,
MdLs, MdBs, mit Vertretern von Verbänden und Bürgerinitiativen. Ich glaube, wir haben eine Kommunikationsleistung hinter uns, die sehr ungewöhnlich war und die
es in diesem Umfang bis jetzt noch nicht gegeben hat.
({20})
Bei der parlamentarischen Beratung wollen wir auf
diesem guten Wege weitermachen. Wir haben Ihnen umfangreiche Informationen zukommen lassen, so zum
Beispiel zusätzliche Karten in Bezug auf die Schieneninvestitionen. Wir haben nach Autobahn- und Bundesstraßennummern systematisierte Listen erstellt, die Ihnen bei dem Auffinden von Projekten helfen werden.
Wir haben für die Internetverfügbarkeit gesorgt und wir
haben im Ausschusssekretariat 60 Ordner mit allen Dossiers in schriftlicher Form. Weiterhin haben wir im Ausschuss rechnergestützte Präsentationsmöglichkeiten. Ich
glaube, wir sind auf einem guten Weg, diesen Bundesverkehrswegeplan und die damit verbundenen Ausbaugesetze wirklich intensiv beraten zu können.
Es bleibt mir, all denen zu danken, die bis zum jetzigen Zeitpunkt geholfen haben, dies alles vorlegen zu
können. Dazu zählen natürlich die Länder, die Verbände,
aber auch viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag. Es ist auch die gute Zusammenarbeit mit den anderen Ressorts zu erwähnen. Wir haben mit dem BMU
vorher korrespondiert und nicht erst nachher. Sicherlich
gehören auch die externen Gutachter dazu. Mein ganz
besonderer Dank gilt aber den Mitarbeiterinnern und
Mitarbeitern meines eigenen Ministeriums, die teilweise
Tag und Nacht an diesem Plan gearbeitet haben, um
pünktlich fertig zu werden.
({21})
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit bei der Beratung dieses großen Werkes und hoffe, dass wir gründlich, aber auch zügig beraten; denn noch liegen wir im
Zeitplan und es wäre schön, wenn diejenigen, die darauf
warten, mit konkreten Zahlen, Daten und Fakten arbeiten zu können, in den Genuss einer möglichst schnellen
Verabschiedung dieser Ausbaugesetze kommen würden.
Vielen Dank.
({22})
Ich erteile der Kollegin Renate Blank, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem
Dank an Ihre Mitarbeiter schließen wir uns gern an, aber
sonst keinen Ausführungen Ihrer Rede. All das, was ich
hier mitbringe, nämlich das Fernstraßenausbaugesetz
mit Anlage und der Bundesverkehrswegeplan, ist das
Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist,
({0})
und zwar aus folgendem Grund: Was zu Beginn dieser
Woche zu hören war, ist Wirklichkeit geworden. Sie haben einen Baustopp verhängt. Davon sind Straßenbauprojekte betroffen, die notwendig sind. Der Verkehrsminister kann uns im Ausschuss noch so viel erzählen,
dass wir uns auf gutem Wege befinden würden, denn die
Straßenbauprojekte würden weitergeführt. Er hat den
Ausschuss in allem getäuscht.
Realität ist: Durch die Affäre um die Maut steht Geld,
das für den dringend notwendigen Neubau, Ausbau und
Unterhalt der Straßen gebraucht wird, nicht zur Verfügung. Das Problem, dass es beim Straßenbau nicht weitergeht und dass Bauprojekte gestoppt werden, haben
Sie zu verantworten. Durch den Ausfall der Maut - wir
haben gehört, dass die LKW-Maut erst am 1. September
starten soll - entgehen uns weit über 2 Milliarden Euro
für die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland. Das haben
Sie zu verantworten.
({1})
Ich wusste nicht, dass Sie, meine Damen und Herren
von Rot-Grün, so fußballfeindlich sind. Eine Straßenanbindung an die Stadien für die Weltmeisterschaft 2006
ist dringend erforderlich. Deren Bau wird unter Zeitdruck geraten.
({2})
- Kollege Hermann, es besteht Zeitdruck. Schließlich
wollen Sie bei der WM 2006 dabei sein - dann allerdings als Politiker der Opposition.
Meine Damen und Herren, was sind die grundlegenden Überlegungen, von denen wir ausgehen müssen? Es
gibt kein Wachstum ohne Mobilität. Wirtschaftswachstum führt zu zusätzlicher Verkehrsnachfrage. Die Öffnung der Märkte hat die Arbeitsteilung beflügelt. Dass
sich diese fortsetzt, ist durch die fortschreitende EU-Osterweiterung zu erwarten. Den dadurch entstehenden Güterverkehr zu verhindern wäre also ein Risiko für
Wachstum und Beschäftigung. Sie sollten nicht vergessen, dass Deutschland auch für Europa Verantwortung
trägt. All diesen Überlegungen wird der Verkehrswegeplan in keiner Weise gerecht.
Schon 1998 hat die Verkehrsministerkonferenz der
Länder festgestellt - damals hatten Sie von Rot-Grün
im Bundesrat bekanntlich noch die Mehrheit -, dass pro
Jahr rund 4 Milliarden DM, also etwa 2 Milliarden Euro,
für den Neubau, den Ausbau und den Erhalt fehlen. Mittlerweile ist dieser Betrag auf 2,5 Milliarden Euro pro
Jahr angewachsen und er wird aufgrund der gekürzten
Haushaltsansätze und der fehlenden Maut immer größer
werden. Aber gerade der Erhaltungsbedarf nimmt erheblich zu, wie Ihren Straßenbauberichten der letzten Jahre
zu entnehmen ist. Ein weiterer Substanzverlust ist im Interesse der Verkehrssicherheit nicht mehr hinnehmbar.
Der Autofahrer zahlt schließlich die hohen Steuern inklusive der Ökosteuer, damit er nicht auf holprigen Straßen herumfahren muss.
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Straße der Verkehrsträger Nummer eins in Deutschland ist.
({3})
- Das haben Sie noch nicht gemerkt? Schade! Dann sage
ich Ihnen das jetzt. - Auch der PKW-Verkehr wird Steigerungen zu verzeichnen haben; denn unsere Arbeitswelt wird flexibler werden, ob wir wollen oder nicht.
Flexible Arbeitszeiten rund um die Uhr können nicht mit
dem ÖPNV bewältigt werden; nehmen Sie das einmal
zur Kenntnis. Durch veränderten Freizeitverkehr mit gestiegenem Mobilitätsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger und veränderte Arbeitszeiten wird es andere Dimensionen geben. Mit der Schiene oder dem ÖPNV können
die Anforderungen an den Verkehr, die sich daraus ergeben, schon aus Kostengründen nicht bewältigt werden.
Durch Baumaßnahmen werden Arbeitsplätze geschaffen. Denken Sie bitte an die Bauwirtschaft, die zurzeit darnieder liegt! Investitionen in Höhe von 1 Milliarde Euro sichern 20 000 bis 25 000 Arbeitsplätze.
Nun einige Anmerkungen zum Bundesverkehrswegeplan. Sie haben das politische Verfahren zum BVWP
geändert. Sie haben die Öffentlichkeit informiert und
eine öffentliche Diskussion herbeigeführt. Das Parlament dagegen, das schließlich über die Ausbaugesetze
zu entscheiden hat, konnte sich erst nach Vorliegen des
Kabinettsbeschlusses mit dem BVWP befassen.
({4})
Die Irritationen, die durch diese Vorgehensweise entstanden sind, lasse ich an dieser Stelle beiseite.
Neben der Änderung des politischen Verfahrens
wurde ein weit schwerer wiegender Wechsel vorgenommen - jetzt wird es wichtig -, nämlich ein konzeptioneller Wechsel von der Nutzen-Kosten-Analyse zur
Nutzwertanalyse. Die Nutzen-Kosten-Untersuchung
war und ist ein international anerkanntes Verfahren, mit
dem weltweit die volkswirtschaftliche Rentabilität von
Infrastrukturentscheidungen nachgewiesen wird und das
nachprüfbare Wirkungen aufzeigt. Die Transformation
der Nutzen-Kosten-Analyse zur Nutzwertanalyse ist deshalb methodisch ein Rückschritt. Diese enthält subjektive Einstufungen und Gewichtungen, also ob etwas gut
oder schlecht ist, je nachdem, ob es Rot oder Grün passt,
und verzichtet auf objektive Wirkungen, die am Markt
überprüfbar sind. Dieser konzeptionelle Wechsel zu einem offenen Katalog von Wirkungen öffnet der Beliebigkeit Tür und Tor. Das trifft auch für die neu geschaffene Einstufung „neue Vorhaben mit besonderem
naturschutzfachlichen Planungsauftrag für den Vordringlichen Bedarf“ zu. Bei diesen Einstufungen werden
Raumwirksamkeits- und Umweltkriterien teilweise doppelt erfasst.
Zudem erschwert diese neu geschaffene Kategorie die
Genehmigungsverfahren durch die notwendig werdende
individuelle Begründung der Planrechtfertigung und
deren Anfechtbarkeit. Wenn Sie schon neue Kriterien
einführen mussten, dann hätte ich mir Kriterien wie Sozialverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft
oder Strukturwandel vorstellen können. Dies wären objektive Kriterien gewesen.
Bei der dritten Beliebigkeit geht es um die Zusagen
des Bundeskanzlers bzw. seiner Minister.
({5})
Ohne Rücksicht auf das Nutzen-Kosten-Verhältnis wurden vor Ort politische Zusagen in Höhe von immerhin
rund 3 Milliarden Euro gemacht.
({6})
Teilweise sind Projekte dabei, die den sonst vorgegebenen Faktor von 5,2 bei weitem nicht erreichen. Herr
Staatssekretär, der Bundesverkehrswegeplan 2003 ist
- im Gegensatz zum BVWP 1992 - von einem sachgerechten Bedarfsplan zu einem Beliebigkeitsplan verkommen.
({7})
Das kommt halt davon, wenn man statt verkehrspolitischen Sachverstand nur treue Genossen in das Ministerium einziehen lässt, um sie zu belohnen.
({8})
Der Sachverstand und die Sachkenntnis bleiben auf der
Strecke. Das ist beim BVWP und bei der LKW-Maut
ganz deutlich zu erkennen.
({9})
Meine Damen und Herren, eine weitere neue Einstufung im BVWP - man könnte sie auch als Erfindung der
Bundesregierung zulasten der Länder bezeichnen -,
nämlich der „Weitere Bedarf mit Planungsrecht“,
wirft nichts als Fragen auf. Das bedeutet, dass der Bedarf
für die Linienbestimmung und die Planfeststellung verbindlich festgelegt ist. Nicht geregelt ist jedoch, wie mit
diesen Maßnahmen nach bestandskräftiger Planfeststellung umgegangen wird. Im Fernstraßenausbaugesetz
muss daher geregelt werden, dass die Maßnahmen des
„Weiteren Bedarfs mit Planungsrecht“ nach Bestandskraft der Planfeststellungsbeschlüsse automatisch zu
Maßnahmen des Vordringlichen Bedarfs werden.
({10})
Ansonsten besteht die Gefahr, dass solche Projekte nicht
rechtzeitig umgesetzt werden können.
({11})
Da die Planungskosten derartiger Projekte vorab zulasten der jeweiligen Länder gehen, ist den Ländern
nicht zuzumuten, Planungen auf ihre Kosten zu betreiben, ohne die Gewissheit zu haben, dass diese Maßnahmen auch tatsächlich verwirklicht werden.
({12})
Das sollten Sie bitte ernst nehmen; denn das wäre eine
Verschwendung von Steuergeldern. Diese Sorge scheinen die Bundesregierung und Rot-Grün allerdings wirklich nicht zu haben.
({13})
Im BVWP fehlt auch der Transrapid, obwohl die EU
die Transrapid-Planungen in München mit einem Zuschuss unterstützt. Ich kann mir natürlich vorstellen,
dass man den grünen Koalitionspartner nicht verprellen
möchte.
({14})
- Lieber Kollege Schmidt, Sie waren ja schon immer gegen den Transrapid und sind es nach wie vor.
Lassen Sie mich noch einige Worte zur Privatfinanzierung von Projekten sagen. Die privaten Konzessionsmodelle unterliegen der ausdrücklichen Zustimmung und Kontrolle des Parlaments. Das Parlament hat
aber keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Verträge im Zusammenhang mit den nach dem Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz vorgesehenen Vorhaben.
({15})
Schade, dass Rot-Grün meinem damaligen Hinweis
beim Hearing nicht gefolgt ist; denn wie wichtig die
Kontrolle durch das Parlament ist, erleben wir derzeit
beim Vertrag bezüglich der LKW-Maut.
Meine Damen und Herren, das Fernstraßenausbaugesetz, das die Projektliste beinhaltet, hat große Mängel
und findet in dieser Form nicht unsere Zustimmung. Wir
hoffen, dass im Zuge der Beratungen die Vernunft bei
Rot-Grün einkehren wird, damit wir am Schluss ein Gesetz zum Ausbau der Fernstraßen vorliegen haben, das
den Namen auch verdient
({16})
und das nicht als Verhinderungsgesetz von Rot-Grün
verabschiedet wird.
({17})
Ich erteile dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der neue Entwurf des Bundesverkehrswegeplans,
der im formellen Sinne erst mit der heutigen ersten Lesung in die parlamentarischen Beratungen eingebracht
wird, ist sicherlich kein Evangelium. Er ist auch nicht
der Wunschkatalog, den sich die Grünen immer vorgestellt haben. Er lässt für viele auf allen Seiten des Hauses, auch bei uns, noch Wünsche offen; das ist gar keine
Frage. Aber ich glaube, dieser neue Bundesverkehrswegeplan, den wir jetzt im Parlament zu beraten, zu verändern und zu diskutieren haben werden, enthält in wesentlichen Punkten ganz zentrale Fortschritte.
Es ist meines Erachtens der erste Bundesverkehrswegeplan, der das Kriterium der Haushaltsehrlichkeit und
der Bezahlbarkeit überhaupt ernst nimmt.
({0})
Hier wird zum ersten Mal nicht einfach alles aufgeschrieben, was man aus guten oder schlechten Gründen
wünschen könnte, sondern es wird, auch unter Inkaufnahme von Konflikten, darauf hingewiesen: Nicht alles,
was für den einen oder anderen wünschenswert ist, ist
auch bezahlbar.
Meines Erachtens ist auch mit der Planungsreserve
ein realistischer Rahmen eingehalten worden; denn man
muss davon ausgehen, dass im Schnitt jedes vierte Projekt durch Planungsschwierigkeiten Verzögerungen erfährt oder sogar ganz auf der Strecke bleibt, sodass ein
Reserveprojekt nachrückt, das dann auch geplant sein
muss.
({1})
Ein Zweites ist neu, Kollege Friedrich:
({2})
Mit diesem Bundesverkehrswegeplan ist zum ersten Mal
ein nachvollziehbares Verfahren zur besseren Umweltverträglichkeit eingehalten worden. Das ist absolut innovativ; das wurde von Herrn Staatssekretär Großmann
bereits angesprochen.
({3})
Hunderte von ökologisch problematischen Einzelprojekten wurden im Vorscreening untersucht und detailliert
nachuntersucht. Eine ganze Reihe von Alternativplanungen wurde auf diese Weise auf den Weg gebracht und bei
vielen dieser Projekte gibt es noch den ökologischen Planungsvorbehalt, der im Klartext bedeutet: So nicht, es
sei denn, der ökologische Vorbehalt lässt sich im weiteren Planungsverlauf abarbeiten. Auch das ist ein Fortschritt in puncto Umweltverträglichkeit, der unserer
Fraktion ganz besonders wichtig ist.
Das ist in einer Transparenz geschehen, die einmalig
ist, und diese Transparenz - das will ich hier einmal sagen - hat einen Namen. Jeder von uns, die wir hier sitzen, und jeder aus einer Landesregierung, ob schwarz
oder rot oder grün, konnte dort hingehen, konnte anrufen, konnte schreiben und fand ein offenes Ohr, wenn es
sein musste, bei Tag und bei Nacht. Dieser Name lautet
Achim Großmann. Ich fände es fair, Kollegen, wenn
diese Leistung auch wirklich gewürdigt würde.
({4})
Ebenfalls neu an dem uns jetzt vorliegenden Plan ist
die Ausgewogenheit in der Mittelverwendung. Zum
ersten Mal wird der Anspruch ernst genommen, dass die
Verkehrsträger, wenn wir sie denn gleichermaßen brauchen und gleichermaßen entwickeln wollen, auch auf der
investiven Seite gleichermaßen ausgestattet werden
müssen. Dabei geht es mir nicht um eine rechnerische,
pfennigfuchserische Gleichstellung. Zum ersten Mal
aber gibt es in der Gesamtschau der Investitionen des
Bundes über die einzelnen Verkehrsträger eine Ausgewogenheit der Mittel und wir als Fraktion werden auf die
Einhaltung dessen auch im Vollzug der Haushaltspläne
für die kommenden Jahre achten.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der
meines Erachtens in diesem Plan völlig neu ist, nämlich
die Gewichtung zwischen Bestand, Bestandserneuerung
und Bestandserhaltung, und zwar bei Straße wie bei
Schiene, auf der einen Seite und Neubau und Ausbau auf
der anderen Seite. Mit diesem Plan werden zum ersten
Mal klare Prioritäten für Bestandserneuerung und Bestandserhalt gesetzt. Nach dem Grundsatz „Sanierung
vor Ausbau und Neubau“ gehen 56 Prozent der investiven Mittel in den Bestand und nur 44 Prozent in Ausbau
und Neubau. Bei der Schiene ist das Verhältnis übrigens
noch krasser, nämlich zwei Drittel zu einem Drittel, bei
der Straße ist es etwa fifty-fifty. Das heißt, es wird anerkannt, dass wir eines der dichtesten Verkehrsnetze in
Albert Schmidt ({5})
Europa, wenn nicht auf der Welt haben und dass dieses
zu erhalten und fortzuentwickeln eine Menge Anstrengungen verlangt und selbstverständlich eine natürliche
Bremse gegenüber neuen Zubau- und Ausbauwünschen
darstellt, die dann eben im buchstäblichen Sinne auf der
Strecke bleiben müssen.
({6})
Ich möchte, verehrte Damen und Herren, darum bitten, dass wir uns bei den anstehenden Beratungen die
Einzelprojekte dennoch sehr genau anschauen.
({7})
Der ganze Plan ist ja, wie gesagt, kein Evangelium. Sicherlich gibt es Änderungswünsche und Änderungsbedarf. Es gibt auch Ungereimtheiten. Ich will ein Beispiel
nennen. Wenn die A 4, die Rothaargebirgsautobahn, in
Nordrhein-Westfalen gar nicht vorhanden ist, aber in
Rheinland-Pfalz plötzlich fortgeführt werden soll, dann
ist das natürlich eine Ungereimtheit, die wir beseitigen
müssen.
({8})
- Das ist richtig. Ich habe mich versprochen. Ich betrachte die Rothaargebirgsautobahn auf dieser Seite der
Landesgrenze eher als eine Anekdote, die wir aber nicht
außer Acht lassen dürfen.
Ich bin der Meinung, dass wir an einigen Stellen Klarheit schaffen müssen, zum Beispiel bei der Einbindung
der Stadt Mannheim in das Hochgeschwindigkeitsnetz
der Bahn. Wir sind uns sicherlich alle einig, dass die
Einbindung natürlich über den Hauptbahnhof Mannheim
erfolgen muss, nicht irgendwo über die grüne Wiese
oder über eine Bypasslösung, die keiner im Hause will.
({9})
Ich könnte diese Beispiele fortsetzen. Ich persönlich
bin sehr froh, dass hinsichtlich der Donau eine Klarstellung erfolgt; dies möchte ich aus gegebenem Anlass sagen. Wenn der Freistaat Bayern auf eigene Kosten mehrere Raumordnungsverfahren eröffnen will, um die
Staustufenvarianten zu prüfen, obwohl er gar nicht Maßnahmenträger bzw. Baulastträger dieses Konzeptes ist,
dann möchte ich den Landesrechnungshof in Bayern darum bitten, diese Maßnahmen zu überprüfen. Welchen
Sinn macht es, wenn der Bundestag letztes Jahr eine
staustufenfreie Lösung beschlossen hat, wenn im Bundesverkehrswegeplan eine staustufenfreie Lösung festgeschrieben ist - nur dafür gibt es Geld -, wenn dies in
den Beratungen noch einmal bekräftigt wird, aber Herr
Stoiber und Herr Wiesheu meinen, sie könnten zusätzlich Geld aus der Landeskasse für sinnlose Untersuchungen von Projekten abzweigen, die wir in dieser Form
niemals bezahlen werden? Das ist ein schlechter Witz.
({10})
- Dieser Witz kostet auch noch Geld. Das ist das Traurige daran.
Ich will ein anderes Projekt ansprechen, das die Kollegin Renate Blank bereits erwähnt hat, nämlich den
Transrapid.
({11})
Frau Kollegin Blank, dieses Projekt ist nicht im Bundesverkehrswegeplan enthalten. Warum?
({12})
Nein, überschätzen Sie nicht die grüne Fraktion oder
grüne Personen.
({13})
Ich kann Ihnen genau sagen, warum es im Bundesverkehrswegeplan nicht enthalten ist, Frau Kollegin Blank:
Es ist kein Bundesverkehrsweg, sondern ein Landesprojekt, für das der Bund nur Zuschussgeber ist.
({14})
In einer Zeit, in der wir darum kämpfen müssen, unsere eigenen Projekte für Straße und Schiene überhaupt
zu finanzieren, sollten wir dem Drängen nach erhöhten
Bundeszuschüssen für ein reines Landesprojekt nicht
nachgeben. Deshalb werden wir an dieser Stelle sehr
klar und sehr entschieden bei dem bleiben, was bisher
verabredet war.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär, ich darf mich dem Dank an Sie und
die Mitarbeiter Ihres Hauses im Namen der FDP-Fraktion anschließen. Es war eine Fleißarbeit. Ich füge allerdings hinzu: Auch der Bundesverkehrswegeplan 1992
ist nicht von den Heinzelmännchen gemacht worden,
sondern vom Ministerium, von Parlamentariern und verantwortlich handelnden Politikern.
({0})
Dies war ein etwas größeres Werk, weil wir kurz zuvor
die deutsche Einheit vollzogen haben. Das war
Horst Friedrich ({1})
sicherlich eine genauso große Aufgabe wie die EU-Osterweiterung, die Sie hätten bewältigen sollen, aber leider
nicht bewältigt haben.
({2})
Wir haben heute von dem Herrn Staatssekretär große
Worte zur Vergleichbarkeit der Planung und der Finanzierbarkeit gehört. Tatsache ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt ein Ausbau von Bundesautobahnen im Wesentlichen nur noch dann stattfindet, wenn die entsprechenden
Bundesländer im so genannten Swing-Finanzierungsverfahren ihre Mittel im Vorgriff ausgeben, in der Hoffnung, dass ihnen der Bund diese im nächsten Jahr zurückerstattet. Das gilt im Übrigen auch für die
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. So viel zur Finanzierungssicherheit.
Vor dem Hintergrund der Situation mit der Maut, den
dafür eingefrorenen Finanzmitteln für dieses Jahr in
Höhe von 1 Milliarde Euro und den wahrscheinlichen
Ausfällen von rund 2 Milliarden Euro eingeplanter
Mauteinnahmen, wird das ganze System vermutlich
noch weniger finanzierungssicher sein. Es ist bezeichnend, Herr Staatssekretär, dass Sie in Ihrer Investitionsquote bereits die Regionalisierungsmittel und die Mittel
aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz einplanen. Ehrlicherweise sollten Sie aber diesen Zahlenvergleich ebenso für unsere Zeit machen. Auch damals gab
es Regionalisierungsmittel, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und Investitionen.
({3})
- Soweit ich weiß, ist 1996 immer noch vor 1998 und
das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz gibt es auch
schon länger. Wenn man vergleicht, dann sollte man
auch fair vergleichen, um sich nicht zumindest der einseitigen Betrachtung zeihen zu lassen.
Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet von Ihnen der
Vergleich kommt, um künstlich nachzurechnen, dass der
Verkehrsträger Schiene dem Verkehrsträger Straße
gleichgestellt worden ist. Wenn man es auf die Verkehrsleistungen umrechnet, Herr Kollege, dann bekommt die
Straße analog zu den Verkehrsleistungen 10 Prozent dessen, was die Schiene bekommt.
({4})
Herr Kollege Großmann, ich bin im Gegensatz zu Ihnen offensichtlich lernfähiger. Sicherlich war unsere Annahme im Jahr 1992 im Hinblick auf die Bahnreform
und die Entwicklung, die dann eintrat, deutlich zu optimistisch. Sie prognostizieren bis 2015 eine Zunahme des
Güterverkehrs auf der Schiene um 100 Prozent. Das tun
Sie in Anbetracht der letzten drei Jahre und des Konzepts Mora C.
({5})
Selbst die Bahn glaubt nicht an 100 Prozent. Wenn ich
es richtig gehört habe, prognostiziert Herr Mehdorn bestenfalls die Hälfte. Ich füge hinzu: Das ist für mich
schon ein ausgesprochen ehrgeiziges Ziel.
({6})
Vor diesem Hintergrund darauf zu setzen, dass die Probleme des Bundesverkehrswegeplanes bis 2015 im Wesentlichen dadurch zu lösen sind, dass der Güterverkehr
auf der Schiene um 100 Prozent zunimmt, zeigt eigentlich, auf welch schwachen Füßen Ihre Planungen stehen.
Nun zum Kollegen Schmidt, der als großes Thema
angeführt hat, man habe besondere Umweltverträglichkeitsprüfungen eingeführt.
({7})
Wenn ich das Planungsrecht in Deutschland richtig
kenne, dann ist jeder Baumaßnahme eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgeschaltet. Es folgen ein Raumordnungsverfahren und ein Planfeststellungsverfahren.
In diesen Verfahren, die immer noch vorgeschrieben
sind, ist genau diese Abwägung vorzunehmen. Kein einziger Verkehrsweg in Deutschland wird ohne diese Abwägung gebaut.
({8})
Was Sie hier beschreiben, ist ohnehin schon geltendes
Gesetz. Trotzdem führen Sie dies als große Neuerung an.
({9})
- Es wird nicht dadurch besser, dass man laut dazwischenruft.
({10})
Vor allen Dingen wird es nicht besser, wenn man so tut,
als habe man eine Geldvermehrungsmaschine erfunden.
Am Jahresende laufen die Sondermittel aus der Vergabe der UMTS-Lizenzen aus.
({11})
Diese Mittel haben Gott sei Dank dazu geführt, dass Ihre
Haushaltsansätze für die Verkehrsinfrastruktur in
Deutschland in den vergangenen Jahren wenigstens in
der Höhe geblieben sind, die wir schon hatten.
({12})
Allerdings, Herr Kollege Schmidt - weil Sie so schön lachen -, haben Sie in der Zwischenzeit fünfmal die Ökosteuer erhöht. Auch die Maut ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Der Anteil, den Sie für die
Verkehrsinfrastruktur ausgeben, ist im Verhältnis gesehen deutlich gesunken. Das ist die Realität. Das heißt,
Horst Friedrich ({13})
Sie belasten den Autoverkehr und die Autofahrer extrem, Sie geben ihnen weniger.
({14})
Sie bauen Ihren neuen Verkehrswegeplan auf einem
Wunschbild auf und haben der staunenden Öffentlichkeit
vorgegaukelt, dass durch die Einführung der Maut mehr
Geld für die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stehen
würde, egal für welchen Verkehrsträger. Keines dieser
Ziele haben Sie bisher nachgewiesenermaßen erreicht.
Vor diesem Hintergrund kann man nur sagen: Ihr Ziel,
einen Verkehrswegeplan aufzustellen, der seriös finanziert ist, haben Sie bereits bei Vorlage des Verkehrswegeplanes verfehlt. Deswegen werden Sie grandios scheitern. Ich bin gespannt auf die Einzelberatung. Aber bei
der Finanzierung werden Sie unsere Zustimmung sicherlich nicht bekommen.
Danke sehr.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Heinz Paula für die SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Unser
Land steht zweifelsohne vor großen verkehrspolitischen
Herausforderungen. Und was vernehmen wir in dieser
Zeit vonseiten der Opposition? - Wie immer Gejammer,
Genörgel, haltlose Vorhaltungen. Kolleginnen und Kollegen, so kommen wir doch nicht weiter.
({0})
Ich würde Ihnen dringend empfehlen: Hängen Sie das
Schild „LKW-Maut“ einfach ein bisschen tiefer! Das
klärt den Blick. Sie wollen die Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht im typischen Oppositionsstil
Politik von heute auf morgen betreiben wollen. Es geht
vielmehr darum, bis zum Jahr 2015 die entsprechenden
Weichenstellungen vorzunehmen.
({1})
Was mich allerdings wirklich empört hat, waren die
Vorhaltungen gegenüber dem Mann, der uns in dem gesamten Prozess zur Seite stand, der immer ein offenes
Ohr für uns hatte und der mit allen Ländern - auch mit
Bayern, Frau Blank - regelmäßige Kontakte unterhalten
hat, um die Entwicklung voranzutreiben.
({2})
Dass Herrn Staatssekretär Großmann unter diesen Umständen Vorhaltungen gemacht werden, ist - mit Verlaub - völlig daneben.
({3})
Herr Großmann, von meiner Seite und vonseiten der
SPD-Fraktion spreche ich Ihnen ein großes Dankeschön
aus. Wir wussten es zu schätzen, dass der Bundesverkehrswegeplan in enger Kooperation und großer Transparenz vorangetrieben wurde. Wir haben den ersten
Schritt getan. Jetzt gilt es, in die konkreten Beratungen
einzusteigen.
Wie Sie wissen, haben wir von 2001 bis 2015 eine
Gesamtsumme in Höhe von 150 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt.
({4})
- Das ist realistisch. Im Gegensatz zu dem Entwurf von
1992, den Sie vorhin so heftig gelobt haben, Kollege
Friedrich,
({5})
können wir zu unserer Planung feststellen, dass die Annahmen realistisch sind. Die Vorwürfe und Vorhaltungen, das seien Wunschbilder, richten Sie am besten gegen Ihren damaligen Plan.
({6})
Das Gegenteil ist richtig: Wir ermöglichen es, eine
entsprechende Mobilität in unserem Land zu schaffen.
Wir sorgen dafür, dass die notwendige Infrastruktur im
größer werdenden Europa durch eine überregionale Vernetzung gewährleistet wird. Ob im Norden, im Osten
oder im Süden - zum Beispiel mit dem NEAT-Zulauf -:
Wir sorgen dafür, dass wichtige Schienenprojekte
vorangetrieben werden.
({7})
Wir werden ferner die Verkehrsnachfrage in die richtige Bahn lenken, Frau Blank. Bis 2015 - das wurde vorhin erwähnt - wird beim Personenverkehr eine Steigerung von 20 Prozent und beim Güterverkehr eine von
über 65 Prozent prognostiziert. Auch das werden Sie
kaum bestreiten können, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition; es sei denn, Sie wollen im Dauerstau stehen. Ein Großteil des Verkehrs muss auf die
Schiene verlagert werden. Insofern sind die Prognosen
absolut realistisch.
({8})
Wir schaffen die Voraussetzungen dafür. Auch wenn
es vonseiten der Opposition immer wieder angezweifelt
wird, ist es trotzdem richtig, dass erstmals die Mittel für
Schiene und Straße einander angeglichen worden sind.
Das ist zweifelsohne unter Einbeziehung der Mittel nach
dem GVFG und dem Regionalisierungsgesetz erfolgt,
aber - Herr Schmidt hat vorhin darauf hingewiesen insgesamt stehen bis 2015 77,5 Milliarden Euro für die
Straße und 77,9 Milliarden Euro für die Schiene zur Verfügung.
Es steht nach wie vor unwiderruflich fest: Wir stärken
nachhaltig die Schiene auch und gerade im Bereich des
Erhalts. Weil meine Kollegin aus Bayern vorhin so deutlich darauf hingewiesen hat, wie wichtig der Erhalt ist,
empfehle ich Ihnen dringend, Kollegin: Halten Sie diese
Rede im Bayerischen Landtag!
({9})
Sie werden feststellen, dass kaum ein anderes Bundesland die Mittel für den Staatsstraßenbau derartig heruntergefahren hat wie die bayerische Landesregierung.
({10})
Wenn Sie Ihre Sorgen und Anliegen loswerden wollen,
dann tun Sie das bitte an der richtigen Stelle!
Darüber hinaus wird kräftig in den Neu- und Ausbau
der Schienenwege investiert. 27 laufende und fest disponierte und 28 neue Vorhaben im Bereich Schiene sind als
vordringlicher Bedarf eingestuft. Dazu gehören Schienenverbindungen wie Karlsruhe-Stuttgart-Nürnberg-Leipzig/Dresden und Berlin-Frankfurt/Oder, um
nur einige zu nennen.
({11})
Sie werden mit einem realistischen Finanzrahmen und
einer konstanten Fortschreibung des Mittelansatzes begonnen bzw. zügig realisiert.
An dieser Stelle dürfen wir den Ministerpräsidenten
Koch und Steinbrück eine klare Absage erteilen, Frau
Blank, und für beide eines deutlich festhalten: Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur der Schiene sind keine
Subventionen, sondern Maßnahmen zur Stärkung des
Wirtschaftsstandortes Deutschland.
({12})
Die Opposition hat wahrlich keinen Grund, sich über
die Schieneninvestitionen des Bundes zu beklagen;
({13})
es sei denn, sie versucht, mit aller Gewalt das berühmte
Haar in der Suppe zu finden.
Es sei wiederholt, Frau Kollegin: Wir hätten gerne
noch einige neue Maßnahmen in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen, wenn wir nicht leider unsägliche Projekte aus Ihrer Regierungszeit wie die ICEStrecke München-Ingolstadt-Nürnberg zu finanzieren
hätten. Ich habe es bereits angesprochen: 3,5 Milliarden
DM waren eingeplant; mittlerweile belaufen sich die
Kosten auf 3,5 Milliarden Euro. Herr Kollege Friedrich,
was hätten wir mit diesem Geld nicht alles zusätzlich in
unseren Bundesverkehrswegeplan aufnehmen können!
({14})
Noch ein kurzes Wort zum Schienenpersonennahverkehr: Die dem Bund in Art. 87 e Abs. 4 des Grundgesetzes auferlegte Gemeinwohlverpflichtung, die den
Ausbau und den Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes betrifft, gilt grundsätzlich auch für
die Schieneninfrastruktur, die dem Nahverkehr dient.
Deswegen müssen - ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen - bei der Bewertung der Gesamtinvestitionen für
die Schiene auch die 14 Milliarden Euro GVFG- und Regionalisierungsmittel berücksichtigt werden. Ich habe
den Schienenpersonennahverkehr erwähnt, weil gerade
hier auf Länderseite viele Möglichkeiten bestehen, für
eine zukunftsfähige Schieneninfrastruktur Sorge zu tragen.
Die Bundesregierung jedenfalls hat mit dem vorliegenden Bundesverkehrswegeplan die notwendigen
Voraussetzungen geschaffen und damit den Antrag der
CDU/CSU, über den wir heute auch beraten, überflüssig
gemacht; denn wir sind in der Tat konsequent unseren
Weg gegangen, gerade wenn es um die Erweiterung des
Schienennetzes im Osten ging. Herr Kollege Friedrich,
es wäre schön gewesen, wenn Ihre Regierung bereits damals die hier vorhandenen Probleme angepackt hätte.
Wir jedenfalls haben insgesamt acht Schienenmaßnahmen vorgesehen, unter anderem den Ausbau der Strecke
Berlin-Frankfurt ({15}) bis zur Grenze Polens oder den
Ausbau der Strecke nach Dresden bis zur Grenze Tschechiens.
({16})
Ich erwarte und hoffe, dass wir in den anschließenden
Beratungen zu sachlichen und vernünftigen Kooperationen kommen werden.
({17})
Mit dem Blockieren haben Sie ja Ihre Erfahrungen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Beweisen Sie jetzt, dass Sie auch zu einer sachlichen Kooperation fähig sind, um die Dinge im Interesse unseres Landes voranzutreiben.
({18})
Das Wort hat nun der Kollege Enak Ferlemann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir behandeln heute in erster Lesung endlich
das Fernstraßenausbaugesetz und das BundesschienenEnak Ferlemann
wegeausbaugesetz mit den entsprechenden Bedarfsplänen auf der Grundlage des Bundesverkehrswegeplans
2001 bis 2015. Schon die sehr verspätete Einbringung ist
ein Synonym für das gesamte Handeln der Bundesregierung. Ein Blick auf die Wirtschafts- und die Infrastrukturpolitik verdeutlicht dies. Es gibt mehrere Möglichkeiten, Wirtschaftspolitik zu betreiben: Es gibt eine
angebotsorientierte Wirtschaftspolitik; Sie könnten aber
auch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik oder
eine Politik machen, die eine Kombination aus Angebots- und Nachfrageorientierung darstellt, den so genannten Policy Mix.
Was macht die Bundesregierung? - Nichts von alledem!
({0})
Sie macht etwas ganz anderes. Nun fragt sich jeder, was?
Diese Frage kann man ganz einfach beantworten: Sie
macht alles falsch, und das zugleich. Es handelt sich um
einen völlig neuen Policy Mix, nur falsch herum. Die
Bundesregierung verbessert nicht das Angebot des
Standortes und verringert auch noch die Nachfrage. Das
ist eine ganz wesentliche Ursache, warum wir in
Deutschland in einer so schweren Wirtschaftskrise stecken. Das kann man an den heute zu beratenden Punkten
besonders deutlich machen.
Der vorliegende Bundesverkehrswegeplan, der als
Bedarfsplan in den Ausbaugesetzen konkretisiert ist, ist
ein einziges Märchenbuch. Die Märchenerzähler sind
unser Bundesverkehrsminister und seine Staatssekretäre.
Es ist schön, viele bunte Pläne vorzulegen und zu veröffentlichen, welche Verkehrsinfrastruktur wo entstehen
soll. Die Gretchenfrage ist nur, wann das geschehen soll.
Der versprochene Finanzrahmen ist nun definitiv nicht
mehr zu halten, vor allem bedingt durch das unselige
Mautchaos. Aufgrund der fehlenden Mauteinnahmen
- darüber ist in den letzten Tagen schon im Haushaltsausschuss diskutiert worden - ist eine Haushaltssperre
für das Jahr 2004 verhängt worden. Davon sind 530 Millionen Euro für die Straße, 390 Millionen Euro für die
Schiene und 125 Millionen Euro für die Wasserstraßen
betroffen. Das sind insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro,
die schon jetzt fehlen, die aber in Ihren Planungen eingerechnet sind. Auch hierüber sind uns viele Märchen erzählt worden und es werden noch weitere erzählt. Wann
funktioniert das Mautsystem denn nun endlich? - Ich
hoffe, möglichst bald; denn jeder Monat der Verzögerung kostet den Verkehrshaushalt bares Geld. Je weniger
Geld, desto weniger Straßen- und Schienenprojekte! Der
finanzielle Schaden wird noch durch den psychologischen Schaden ergänzt.
Daher sind all die Pläne und Gesetze, die hier vorgelegt worden sind, ein einziges Märchen, was die Realisierung angeht - und das bei dem Teil des Bundeshaushalts, der den höchsten Anteil an Investitionen aufweist.
Was Sie zur Verkehrsinfrastrukturfinanzierung vorgelegt
haben, ist kein gutes Angebot an den Standort Deutschland. Es ist ein substanzieller Fehler der Politik der Bundesregierung.
({1})
Möglicherweise freuen sich die Koalitionsfraktionen,
vor allem die Grünen, wie ich annehme, sogar über den
langsamen Ausbau unserer Verkehrsinfrastruktur. Die
SPD guckt bei dem Verfahren betreten zu Boden und
macht gute Miene zum bösen Spiel. Auch mit Blick auf
die Beratungen im Ausschuss sage ich Ihnen ehrlich:
Manchmal tun mir die Kolleginnen und Kollegen der
SPD-Fraktion schon etwas Leid. - Anderen geht das
auch so. Jeder, der sich mit den Planungen etwas genauer beschäftigt, kann die Kompromisse leicht erkennen, die Sie mit den Grünen finden mussten.
({2})
Das gilt insbesondere für das schöne Thema des so
genannten besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrags, insbesondere bei den Straßen. Ihr Bundesverkehrsminister Stolpe, der kleine Herr Stolpe,
hängt wie eine Marionette an den Fäden des großen Bundesministers Trittin, wenn es um die Realisierung der
Straßen geht.
({3})
Wir werden nicht ein Straßenprojekt realisieren können,
an dem dieses schöne Sternchen steht - es sind Sternchen am Himmel, die sich wahrscheinlich nie realisieren
lassen werden -; solange Herr Trittin nicht Ja gesagt hat,
wird sich da gar nichts abspielen. Man stellt verwundert
fest, dass man in den Plänen für den Straßenbau diese
Sternchen findet, aber beim Schienenbau nicht. Gehen
denn die Schienenstrecken nicht durch ökologisch sensible Gebiete? Gibt es da keine FFH-Problematik? Gibt
es da keine naturschutzrechtlichen Probleme? Laut Ihrer
Planung anscheinend nicht. Das gilt eben nur für die
Straßen. Daran ist die Ideologie leicht zu erkennen.
Im Gegenzug haben Ihnen die Grünen bei der Aufteilung von 50 Prozent für die Straße und 50 Prozent für die
Schiene ein kleines Bonbon zugestanden. Sie haben den
Schienenpersonennahverkehr einfach in die Investitionen für die Schiene eingerechnet. So kommen Sie auf
ein Verhältnis von 50 zu 50. Damit können die Grünen
draußen sagen: In die Schienenstrecken wird genauso
viel investiert wie in die Straßen. - So stimmt es natürlich nicht.
Wir als CDU/CSU-Fraktion stellen fest, dass der
Bundesverkehrswegeplan dem eigentlichen Ausbaubedarf in keiner Weise gerecht wird.
({4})
Der Bundesverkehrswegeplan hat einen viel zu engen
Finanzrahmen. Seine Verkehrsprognosen sind infrage zu
stellen und zum Teil schon völlig veraltet. Die Bewertungsverfahren, die Sie so gelobt haben, sind sehr fragwürdig. Zum naturschutzfachlichen Planungsauftrag
habe ich schon einiges ausgeführt. Der Bundesverkehrswegeplan mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten
schafft nicht den Wachstums- und Beschäftigungsimpuls, den Deutschland braucht. Der Bundesverkehrswegeplan wird auch der Herausforderung der EU-Osterweiterung nicht gerecht. Manchmal hat man bei den
Diskussionen den Eindruck, dass das erst in zehn Jahren
ansteht. Im nächsten Juni schon werden wir die Erweiterung haben.
({5})
Viele Einzelprojekte sind äußerst fragwürdig. Das
Nutzen-Kosten-Verhältnis, das eigentlich für Verkehrspolitiker eine besonders wichtige Größe ist, wird oft
nicht richtig angewandt. Manchmal spielt es gar keine
Rolle. Projekte mit einem Nutzen-Kosten-Verhältnis von
größer zehn befinden sich nicht im vordringlichen Bedarf, wohl aber solche mit einem Nutzen-Kosten-Verhältnis von knapp über eins. Ein Schelm, der sich etwas
dabei denkt!
Bei den anstehenden umfangreichen Beratungen haben wir also viel zu tun. Wir brauchen mehr Mittel für
die Infrastruktur. Wir brauchen mehr Anteile für den
Straßenbau, vor allem aus der Erhebung der LKW-Maut,
wenn sie denn kommt. Wir müssen mit der ökologischen
Diskriminierung bestimmter Projekte aufhören. Wir
brauchen eine deutlich bessere Einstufung vieler Maßnahmen, vor allem die Aufnahme in den vordringlichen
Bedarf.
In diesem Sinne habe ich die Bitte, dass Sie auf die
Anregungen und Vorschläge der Unionsfraktion eingehen.
({6})
Gehen Sie mit der Kritik, die wir äußern, sachorientiert
um und lehnen Sie nicht einfach alles ab, nur weil es von
der Opposition kommt! So könnte, wenn es denn gelänge, am Ende der Beratungen aus dem Märchenbuch,
das Sie vorgelegt haben, vielleicht doch noch ein Bestseller werden. Trotz dieser Bundesregierung sollte man
den Glauben daran nicht verlieren.
Danke schön.
({7})
Herr Kollege Ferlemann, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen auch im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen herzlich und verbinde damit alle guten Wünsche für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nun erteile ich dem Kollegen Peter Danckert für die
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl
es einige hier bereits getan haben, möchte auch ich dem
Kollegen Staatssekretär Achim Großmann sehr herzlich
für die Arbeit danken, die er im letzten Jahr geleistet hat.
({0})
Er hat damit eine kolossale Aufgabe übernommen.
({1})
- Wenn man gelobt wird, ist man natürlich immer ein
bisschen verlegen, aber er hat dieses Lob verdient.
Folgendes muss ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Diejenigen, die hier kritisiert und ihn in den Dank
an die Mitarbeiter nicht einbezogen haben, sind die gleichen Kollegen, die jede freie Minute von ihm genutzt
und mit ihren konkreten Fragen bei ihm vor der Tür gestanden haben.
({2})
In Anwesenheit von Außenstehenden erscheint mir diese
Kritik ziemlich heuchlerisch; das sieht ja so aus, als hätte
er sich dieser Aufgabe entzogen. Er hat sich jedem gestellt, auch jedem von Ihnen.
({3})
- Herr Oswald, das muss man hier um der Wahrheit willen ganz klar sagen.
({4})
Außerdem ist hier die mangelnde Transparenz beklagt worden. Das halte ich ebenfalls für einen überhaupt
nicht gerechtfertigten Vorwurf. Folgendes Verfahren haben alle miterlebt, die in der letzten Legislaturperiode dabei waren:
({5})
Es gab in einem ersten Schritt Anmeldungen vonseiten
der Länder. Alle Bundesländer wurden gefragt und
konnten ihre Projekte im Ministerium anmelden. Anschließend sind diese angemeldeten Projekte in einer
umfassenden Untersuchung bewertet worden; das ist ein
ziemlich einmaliger Vorgang. - Frau Blank, wenn Sie
davon keinen Gebrauch gemacht haben, dann sollten Sie
es hier auch nicht ansprechen.
Danach sind uns Abgeordneten auf einer CD-ROM
alle Projekte, die in die Betrachtung einbezogen worden
waren,
({6})
zur Verfügung gestellt worden. Im nächsten Schritt gab
es dazu eine Anhörung der Verbände; dann sind die Länder noch einmal befragt worden und erst danach sind die
Projekte in den Kabinettsentwurf eingeflossen.
({7})
- Mit einem Wort, Frau Blank: Transparenter, als es hier
praktiziert worden ist, kann man das überhaupt nicht machen.
({8})
Sie beanstanden darüber hinaus, dass dieses oder jenes Projekt nicht aufgenommen worden sei. Ich habe
auch den Kollegen, der eben hier seine Jungfernrede gehalten hat, gehört. Er kam gleich wieder mit den üblichen Wünschen, ein paar weitere Straßenprojekte in den
vordringlichen Bedarf einzuordnen. Ja, das können Sie
haben; dann müssen Sie uns aber auch sagen, was im
Rahmen Ihrer Länderquote entfallen soll.
Wir haben hier ganz klare Verabredungen getroffen.
Jedes Bundesland hat seine Quote - die Bayerns ist größer als die Brandenburgs - und wir können die vorgegebene Quote nicht überschreiten. Im Rahmen der Beratungen des Ausschusses können wir uns darüber
unterhalten, welche Wünsche Sie haben und wo Sie
Prioritäten sehen. Dann werden wir das fair und sachlich
miteinander besprechen und feststellen, wie Ihre Argumente zu gewichten sind. Wenn es zwingende sachliche
Gründe dafür gibt, dann sind meine Kollegen und ich bereit, über jedes einzelne Projekt zu reden.
({9})
Aber ich bin ganz sicher - das will ich an dieser Stelle
auch sagen -, dass die Vorarbeiten so belastbar sind,
Herr Oswald, dass wir nur ganz wenige Änderungen bei
der Länderquote möglich machen können.
({10})
Denn daran müssen wir uns messen lassen. Wir können
nicht in unseren Wahlkreisen oder in der Öffentlichkeit
sagen, wir wollten dies und jenes noch in den vordringlichen Bedarf aufnehmen, da wir doch alle wissen müssten, dass aus finanziellen Gründen, aufgrund der selbst
vorgegebenen Länderquote, gar nicht mehr möglich ist.
({11})
Wir haben hier eben keine wolkige Wunschliste, sondern
ganz klare Vorgaben.
Nun zum Thema Finanzierung, das durchaus eine
Rolle spielt. Wir haben 150 Milliarden Euro vorgesehen;
das ist im letzten Jahr die Richtschnur gewesen, aufgrund
derer wir auch unter Berücksichtigung der Länderquoten
die Projekte ausgewählt haben, etwa zur Hälfte Straßenund zur Hälfte Schienenbauprojekte. Wir werden gemeinsam sehen, wie sich die Schwierigkeiten bei der
Maut, die ja auch uns unangenehm berühren - das bezweifelt doch hier gar keiner -, auswirken werden. Allerdings weise ich den Vorwurf energisch zurück, diese
Bundesregierung oder diese Regierungskoalition hätten
irgendetwas dazu beigetragen, dass die Mauteinnahmen
in diesem Jahr und möglicherweise Anfang des nächsten
Jahres nicht kommen. Das ist wirklich ein Ammenmärchen.
Frau Blank, sosehr ich Sie sonst auch schätze: Das zu
einer Mautaffäre dieser Bundesregierung zu erklären ist
wirklich ganz töricht. Das wissen auch Sie.
({12})
Es mag sein, dass es im Vertrag hier und da Unklarheiten gab und dass man ihn besser hätte aushandeln
können. Das lasse ich einmal außen vor; das ist im Moment nicht das Thema. Das Thema ist vielmehr, dass die
Maut nicht vertragsgemäß eingeführt werden konnte und
dass wir aus heutiger Sicht nicht wissen, wann das geschieht. Das ist der Punkt, bei dem wir gemeinsam ansetzen müssen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Sie
ein Interesse daran haben, dass die Maut noch lange
nicht kommt.
({13})
- „Im Gegenteil!“ Dann lade ich Sie dazu ein, mit uns an
diesem Thema zu arbeiten. Wir Parlamentarier müssen
dabei helfen, dieses technische Problem, das den Einnahmeausfall verursacht, zu lösen. So viel zu dieser Affäre.
({14})
Dass beim neuen Bundesverkehrswegeplan auch
raumordnerische Gesichtspunkte zur Anwendung gekommen sind, Herr Staatssekretär Großmann, finde ich
geradezu fabelhaft. Einige Regionen in unserer Republik, nicht nur im Osten, hätten bei dem neuen Bundesverkehrswegeplan überhaupt keine Chance, berücksichtigt zu werden, wenn es das Raumordnungskriterium
nicht gäbe. Das verschafft überhaupt erst den Spielraum
dafür, in den neuen Ländern neue Projekte zu realisieren.
({15})
Von den 740 Ortsumgehungen - auch das ist eine
ganz beachtliche Zahl - werden etwa 300 in den neuen
Ländern gebaut. Das führt zu einer höheren Lebensqualität und dazu, dass Wirtschaftswachstum - auch in der
Fläche - entstehen kann. Große Autobahnen sind das
eine; aber wir brauchen auch bessere Straßennetze in den
Regionen.
Unabhängig von der Frage der Finanzierung - darauf
werden wir alle größten Wert legen - ist hier ein verlässliches Projekt entwickelt worden. Die Menschen vor Ort
wissen, was bis zum Jahre 2015 kommen wird. Sie müssen nicht das Gefühl haben, dass ihnen in 20 oder in
30 Jahren irgendetwas blüht. Auch die Investoren - ich
denke, das ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt - können sich auf diesen Zeitpunkt einrichten; sie haben Planungssicherheit. Dann haben wir gemeinsam etwas Gutes vollbracht und dann wird es wirklich, wie der
Kollege gesagt hat, ein Bestseller. Ich bin sicher, dass es
so kommen wird.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Veronika Bellmann, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Eine gut ausgebaute Infrastruktur
der Verkehrswege ist für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen auf den Märkten so wertvoll wie nie zuvor. Diese Infrastruktur - man spricht
nicht umsonst von Verkehrsadern - ist für die Wirtschaft
so wichtig wie die Adern des Blutkreislaufs für das
Funktionieren des menschlichen Organismus. Insofern
kann man bezogen auf die Lage an den Grenzen zu Polen und Tschechien in Bayern, Sachsen und Brandenburg
von einer Infarktgefahr reden. Warum? Weil die EUOsterweiterung ihre Schatten vorauswirft. Sie wird ein
Anwachsen der Verkehrsströme an den Grenzen zu Polen und Tschechien um 300 Prozent mit sich bringen.
({0})
In den Grenzgebieten zu den EU-Beitrittskandidaten
und besonders in den neuen Bundesländern gibt es riesige Defizite in der Verkehrsinfrastruktur. Wir haben
noch viel aufzuholen; 300 Ortsumgehungen reichen da
nicht aus. Deshalb haben wir den Antrag gestellt, konkrete Bedarfsplanungen für alle Verkehrsträger vorzunehmen, die Investitionen in den grenznahen und grenzüberschreitenden Verkehr zu erhöhen, die Abstimmung
mit den Beitrittsländern zu verbessern und die in Ihrem
Straßenbaubericht enthaltene Forderung umzusetzen,
den Schwerpunkt EU-Osterweiterung als Gewichtungsfaktor in die Projektbewertung des Bundesverkehrswegeplanes aufzunehmen.
({1})
Momentan tragen wir zwar die Risiken der EU-Osterweiterung in den grenznahen Regionen; aber wir laufen
Gefahr, die Chancen dieser Erweiterung zu verpassen.
Was tut Rot-Grün? Sie behaupten, alle diese Forderungen seien bereits Bestandteil des Bundesverkehrswegeplans. Leider muss ich sagen, auch wenn Herr Minister
Stolpe heute nicht anwesend ist, dass die Anzahl der
Verkehrsprojekte mit Erweiterungsbezug völlig unzureichend in diesem Plan ist. Es verstärkt sich auch der Eindruck, dass Herr Stolpe - so empfinde ich das zumindest
und mit mir viele andere Kollegen auch - das gesamte
Ressort mit wenig Herzblut und Engagement führt.
({2})
Vom Aufbau Ost und von der Maut bis hin zur EU-Osterweiterung herrscht gähnende Langeweile auf der Regierungsbank.
({3})
Dabei kann das Sparen in diesem Bereich teuer werden,
weil wir nur über funktionierende Verkehrswege unseren
Unternehmen den Zugang zu den Märkten in Osteuropa verschaffen und damit die Grundlage für Wirtschaftswachstum legen können. Eine Unterlassung von
Engagement in diesen Bereichen führt zu steigender Arbeitslosigkeit.
Sparen Sie lieber an anderer Stelle - ich will Ihnen
ein Beispiel nennen, das mir kürzlich vom BUND vorgetragen wurde -: Das Projekt eines Grenzübergangs der
B 166 in Schwedt ist völlig sinnlos. Polen lehnt ihn ab,
weil dort auf der anderen Seite ein Naturschutzgebiet
liegt. 3 Kilometer weiter weg gibt es schon einen Grenzübergang. Die Rohdaten weisen für 24 Stunden im Jahr
2003 null Fahrzeuge auf, die Prognose für 2015 geht von
214 Fahrzeugen aus.
({4})
- An der Stelle zitiere ich Ihnen gerne Heine, der gesagt
hat: Ein Kluger weiß alles, aber ein Dummer hat auf alles eine dumme Bemerkung.
Ich komme zurück auf die Prognose von 214 Fahrzeugen in 2015. Schauen Sie sich demgegenüber die
Prognosen für die grenznahen Knotenpunkte in Bayern,
im Dreiländereck in Sachsen oder im Erzgebirge an.
Dort geht man von 25 000 plus x Fahrzeugen aus. Nehmen Sie also das Geld und stecken Sie es in die Grenzlandförderung! Ich unterstelle Ihnen so viel Kenntnis,
dass Sie mittlerweile wissen, was Sie falsch machen.
Goethe hätte dazu gesagt:
Es ist nicht genug zu wissen - man muss es auch
anwenden; es ist nicht genug zu wollen - man muss
es auch tun.
Korrigieren Sie also Ihre Fehlleistung, solange Sie
noch an der Regierung sind, und stimmen Sie unserem
Antrag zu.
({5})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes spricht
der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute ja schon etliche heroische Reden
von der Regierungsbank gehört, die so besetzt ist, wie
auch der Verkehrshaushalt ausgestattet ist.
({0})
Da müssen wir viele Fehlstellen beklagen. Wir hören Sie
hier von Haushaltsehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit
sprechen. Sie haben aber im Haushaltsausschuss 1 Milliarde für Investitionen im Verkehrshaushalt gestrichen,
Werner Kuhn ({1})
da Einnahmen aus der Vignette in Höhe von 1 Milliarde
ausfallen und auch die erwarteten Einnahmen aus der
Maut dem Investitionshaushalt nicht mehr zufließen. Sie
aber reden davon, dass Sie einen klaren, ehrlichen und realen Bundesverkehrswegeplan für die nächsten 15 Jahre
aufgestellt haben. Es kann doch nicht sein, dass wir heutzutage die Verkehrsinfrastruktur solchen Fehlleistungen
unterordnen müssen.
({2})
Sie rühmen sich der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Unter der Führung der Bundesregierung von
Helmut Kohl
({3})
und in den Koalitionsvereinbarungen zwischen CDU/
CSU und FDP sind noch wirkliche Verkehrsadern entworfen worden. Sie aber haben die Linie verlassen und
nicht so weitergebaut, wie wir angefangen haben. Denken Sie nur an das Verkehrsprojekt 8.1 bzw. 8.2. Man
sieht eindeutig, dass zwischen Erfurt und Nürnberg eine
riesige Lücke klafft und dass zwischen Erfurt und Leipzig von 1999 bis 2002 aufgrund des Baustopps überhaupt nichts investiert wurde. Hier haben Sie Projekte
mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 5 Milliarden Euro ruhen lassen.
({4})
Sie haben es nicht fertig gebracht, die Bundeshauptstadt an die beiden großen Ballungsgebiete Hamburg
und München mit einer Städteschnellverbindung anzubinden. 1999 haben Sie den Transrapid aus ideologischen Gründen ins Aus geführt. Zwischen Berlin und
München fährt man immer noch fast acht Stunden lang.
Sie haben sich auf die Fahne geschrieben, Investitionen
in die Schiene fördern zu wollen. Was ist passiert? Wir
dümpeln nach wie vor vor uns hin. Mit solchen Planungen können wir uns überhaupt nicht einverstanden erklären.
({5})
Im Bundesverkehrswegeplan sind insgesamt 150 Milliarden Euro bis 2015 vorgesehen. Davon entfallen - das
ist hoch interessant - 82,7 Milliarden Euro auf Erhaltungsinvestitionen. Auf den Aus- und Neubau entfallen
66,2 Milliarden Euro. Davon sind aber schon 51 Milliarden Euro verplant. Bis 2015 stehen also für Investitionen
in neue Verkehrsprojekte nur noch Mittel in Höhe von
15 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist einfach zu
wenig.
Angesichts der Tatsache, dass es erhebliche Ausfälle
bei der Finanzierung gibt - dies müssen Sie einfach zur
Kenntnis nehmen -, werden wir in den nächsten Jahren
überhaupt kein neues Projekt mehr beginnen können.
({6})
- Das ist keine maßlose Übertreibung.
({7})
- Sie müssen einfach einsehen, dass es nicht ausreicht,
wenn in den neuen Bundesländern im Rahmen der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ nur Ortsumgehungen
gebaut werden. Die Menschen dort müssen schließlich
enorm lange Wege zu den Verdichtungsräumen zurücklegen. Die gute Erreichbarkeit der Arbeitsplätze und
der Wirtschaftszentren ist für die wirtschaftliche Entwicklung ein entscheidender Faktor.
Zum Teil hängt das ostdeutsche Produktivitätsdefizit
damit zusammen, dass Sie dort im investiven Bereich
eine Wachstumsbremse eingebaut haben. In Ihre Haushalte wurden zwar viele Mittel eingestellt - damit wollten Sie die Verfassungsmäßigkeit Ihrer Haushalte in Bezug auf die Höhe der Investitionen sicherstellen -, aber
Sie sind sozusagen immer nur mit angezogener Handbremse gefahren.
Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung zur Bewerbung von Leipzig als Austragungsort für die Olympischen Spiele 2012 erlaubt. Wir haben von Minister
Stolpe große Versprechungen gehört. Er hat gesagt, dass
Sie diese Bewerbung unterstützen werden. Wir von der
CDU/CSU-Fraktion tun dies ebenfalls. Wir tun das aber
nicht blauäugig, indem wir sagen, es müssen Mittel bereitgestellt werden, noch bevor die Entscheidung gefallen ist. Ich erwarte, dass Sie die notwendigen Prioritäten
setzen. Wenn die Entscheidung zugunsten von Leipzig
gefallen ist, dann müssen in diesem Großraum allerdings
die entsprechenden Verkehrsprojekte durchgeführt werden.
({8})
Sie versehen viele Projekte mit einem Sternchen als
Zeichen dafür, dass diese Projekte eine besondere Umweltrelevanz haben. Der Kollege Friedrich hat das vorhin ausgeführt: Die Gesetzgebung ist, was die Umwelt
betrifft, hinreichend sensibel. Solche Sternchen verzögern nur. Das gilt auch für jene, die an Projekten haften,
welche auf den Kanzlerreisen durch die alten und durch
die neuen Bundesländer entstanden sind. Überall - Minister Stolpe hat es genauso gemacht - wurden Mittel in
Millionenhöhe zugesagt. Ich bitte Sie daher: Setzen Sie
die richtigen Prioritäten, besonders mit Blick auf Leipzig
als Austragungsort der Olympischen Spiele!
Konzeptionell und auch personell ist diese Bundesregierung, was den Aufbau Ost und die dortige Verkehrsinfrastruktur betrifft - das sage ich als Politiker aus dem
Osten -, insgesamt gescheitert. Wir haben dort in den
letzten Jahren überhaupt kein Wirtschaftswachstum zu
verzeichnen. Wirtschaftswachstum ist auch eine Frage
von öffentlichen Investitionen. Hier muss es ein Umdenken in den nächsten Jahren geben.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1656 15/1804, 15/1657 und 15/1803
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zum Tagesordnungspunkt 8 c liegt eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen auf Drucksache 15/1195 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Verkehrsinfrastruktur auf EU-Osterweiterung vorbereiten“
vor. Der Ausschuss empfiehlt, diesen Antrag auf Drucksache 15/467 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Kristina Köhler ({0}),
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Kosteneffizienz im Klimaschutz durch
verstärkte Nutzung der projektbezogenen
Kioto-Mechanismen
- Drucksache 15/1690 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit ihrem
Regierungsantritt unternimmt diese rot-grüne Bundesregierung den Versuch, sich im nationalen und internationalen Klimaschutz als treibende Kraft darzustellen.
({0})
Zu diesem Zweck hat sie für viel Geld Broschüren gedruckt und eine intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieben.
Aber mit Öffentlichkeitsarbeit alleine kann Politik nicht
gestaltet werden.
({1})
Wir können sagen: Eine stimmige Klimaschutzpolitik ist
bei dieser rot-grünen Bundesregierung nicht festzustellen.
({2})
In der heutigen Ausgabe des „Tagesspiegel“ kritisiert
der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen
Herr Loske - passend zum heutigen Tagesordnungspunkt - die Klimaschutzpolitik dieser Bundesregierung
als „inkonsistent“.
({3})
So sagt er sogar, es gebe Entscheidungen dieser Bundesregierung, „die dieser Klimapolitik entgegenlaufen“.
Herr Loske, mit Ihrer Einschätzung, dass es keine
konsistente Klimaschutzpolitik dieser rot-grünen Bundesregierung gebe, haben Sie den Nagel auf den Kopf
getroffen. Sie haben Recht und deswegen haben Sie für
diese Aussage sogar die Unterstützung der Opposition in
diesem Haus.
({4})
Was Sie in der Klimaschutzpolitik bisher vorzuweisen
haben, ist letztlich nichts anderes als das Einfahren einer
Ernte, die durch viele Maßnahmen unter Töpfer und
Merkel ermöglicht wurde. Gleichzeitig versuchen Sie
aber klammheimlich, von den nationalen Klimaschutzzielen Abstand zu nehmen, und hoffen, dass das niemand merkt.
In der Antwort der Bundesregierung vom 24. Oktober
dieses Jahres - also erst wenige Tage alt - auf unsere
Kleine Anfrage „Klimaschutz und CO2-Vermeidungskosten“ wird dies ganz deutlich. So heißt es auf die
Frage, ob Deutschland das Ziel einer Reduktion von CO2
um 25 Prozent bis 2005 verfehlen werde:
Das für Deutschland international maßgebliche Klimaschutzziel besteht darin, die Treibhausgasemissionen im Zeitraum 2008 bis 2012 um 21 Prozent
gegenüber 1990 zu reduzieren.
Nun der entscheidende Satz:
Das von dem damaligen Bundeskanzler Helmut
Kohl formulierte CO2-Minderungsziel stimmt weder vom Zeitrahmen noch vom Treibhausgasbezug
mit der internationalen und europäischen Klimaschutzpolitik überein.
Das ist Ihre Aussage.
In der Koalitionsvereinbarung von 1998 hieß es noch:
Für den Schutz des Klimas wird die neue Bundesregierung in allen Bereichen die Anstrengungen verstärken. Sie bekräftigt das Ziel, insbesondere die
CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 gegenüber
1990 um 25 % zu reduzieren.
Wir fragen Sie: Wann werden Sie sich klammheimlich von weiteren Vorstellungen in der Klimaschutzpolitik distanzieren? Rot-Grün muss sich vorwerfen lassen,
klimapolitisch nicht mehr vertrauenswürdig zu sein.
({5})
Wir leugnen nicht, dass es schwierig ist, ehrgeizige
nationale Ziele zu erreichen, wenn andere Staaten vergleichbare Ziele ablehnen. Aber da wird es bei Ihnen erst
recht widersprüchlich: Sie reden einerseits von einer
nationalen Vorreiterrolle, haben sich klammheimlich
aber davon verabschiedet, und lassen andererseits jeden
Ehrgeiz vermissen, mit projektbezogenen internationalen Klimaschutzmechanismen - CDM und JI zum Beispiel - Klimaschutzziele im internationalen Maßstab
({6})
- ja, das tut Ihnen sehr weh, Herr Kollege Kelber, das
weiß ich; deshalb haben Sie auch versucht, sich klammheimlich von Ihren Zielen zu verabschieden - kostengünstig für Länder wie Deutschland zu erreichen.
Wir müssen Ihnen vorwerfen: Ihr Einsatz für die verstärkte Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanismen ist eindeutig zu gering. Wenn Sie von nationalen
Zielen Abstand nehmen, dann müssten Sie sich international erst recht verstärkt dafür einsetzen, dass diese Mechanismen genutzt werden, damit wir über den internationalen Weg ein gutes Umweltschutzziel erreichen. Sie
tun das nicht, weil Sie mit diesem Ziel noch immer auf
Kriegsfuß stehen.
({7})
- Wenn Sie von dem ablenken wollen, was Sie beschwert, rufen Sie: Sagen Sie einmal, was die Union
will! Wir haben ein klares Klimaschutzziel vorgelegt.
Wir setzen uns - um es klar und deutlich zu sagen - für
eine Verbesserung der Wirkungsgrade bei den Kraftwerken sowie für Sparmechanismen und eine größere Energieeffizienz, auch im Verkehrsbereich, ein. Auch wir bekennen uns ganz deutlich zu den erneuerbaren Energien.
Wir halten nichts von Ihrer verkehrten Atomausstiegspolitik. Das sind die vier Eckpunkte unserer Klimaschutzpolitik, die konsistent ist. Darauf haben wir uns
immer - das muss ich klar und deutlich sagen - eingelassen.
({8})
Ein weiteres wichtiges Argument müssen wir uns vor
Augen halten: Wir haben jetzt im Bereich des Emissionshandels die Möglichkeit, in Europa dafür zu kämpfen, dass internationale Verzahnungsmechanismen auch
im Bereich der Entwicklungspolitik zugunsten einer
deutschen nationalen Klimaschutzpolitik ermöglicht
werden. Die Europäische Kommission sagt jetzt, dass
mit dem Emissionshandel CO2-Reduktionen im Rahmen von maximal 6 bis 8 Prozent möglich sind. Wir sind
absolut nicht dagegen, dass der Schwerpunkt der Klimaschutzpolitik im eigenen Land realisiert wird. Aber warum wird nur eine solch geringe Menge von 6 bis
8 Prozent zugelassen? Wir sind der Ansicht, dass es gerade durch einen verstärkten Einsatz der internationalen
Klimaschutzmechanismen gute Möglichkeiten gibt, Klimaschutzpolitik kostengünstig und dennoch zielorientiert in sinnvoller Weise zu gestalten. Wir vermissen den
Einsatz der rot-grünen Bundesregierung und des Bundesumweltministers Trittin, um diesen Anteil zu erhöhen.
Deshalb fordern wir Sie im vorliegenden Antrag auf,
an dieser ganz konkreten Stelle mit dafür zu sorgen, dass
im Rahmen der Verbindungsrichtlinie der viel zu geringe
Anteil der internationalen Mechanismen im Bereich des
Emissionshandels erhöht wird. Das wäre ein Ansatz, um
Klimaschutzpolitik kostengünstig für die deutsche Wirtschaft durchzuführen. Das wäre ein Ansatz, die Arbeitsmarkt-, Entwicklungshilfe- und Klimaschutzpolitik zusammenzuführen. Das wäre ein Ansatz, deutlich zu
machen, dass wir von einer nationalen Vorreiterrolle
nicht abgehen und gleichzeitig unsere internationale Verantwortung sehen.
Sie haben sich bisher nicht für eine solche Zielvorstellung eingesetzt. Sie müssen Ihren Einsatz in Brüssel
verstärken. Sie haben bisher keine Diskussion über diese
Frage im Deutschen Bundestag geführt. Sinn und Zweck
unseres Antrages ist: Wir wollen eine neue Weichenstellung für eine sinnvolle Klimaschutzpolitik vornehmen,
die kostengünstige Instrumente ermöglicht und damit die
Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Umweltpolitik zusammenführt.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kelber für die SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Paziorek, bei den Zahlen, die Sie genannt haben, haben
Sie einen entscheidenden Fehler gemacht; es wäre gut,
wenn das Ihr Kollege gleich korrigieren würde. Sie haben gesagt, die EU-Richtlinie gestatte nur 6 bis
8 Prozent der Emissionsminderungen über flexible Mechanismen. Dies ist falsch. Es geht um 6 bis 8 Prozent
der zugewiesenen Emissionsberechtigungen
({0})
und damit ungefähr um ein Drittel der Minderungen über
diesen Weg. Das ist ein wichtiger Unterschied.
Wir haben in diesem Parlament schon sehr oft die Gemeinsamkeiten der Parteien in der Frage des Klimaschutzes betont. Das war auch bei einem solch wichtigen
Thema gut.
Etwas weniger wurden bisher von der Öffentlichkeit
die Unterschiede im Bereich des Klimaschutzes wahrgenommen. Es ist aber bei einem wichtigen Thema immer
gut, zu wissen, wer für was steht. Deswegen ist es mir zu
Beginn meiner Rede wichtig, dies konkret darzustellen.
Die FDP-Fraktion hat seit 1998 im Deutschen Bundestag alle - ich wiederhole: alle - konkreten Maßnahmen zum Klimaschutz abgelehnt. Die heute antragstellende Fraktion, die CDU/CSU, war nur wenig besser.
Bei noch nicht einmal einem Drittel der konkreten Maßnahmen konnten sich die feindlichen Schwestern zu einer Zustimmung durchringen.
Die FDP-Fraktion hat immer wieder deutlich gemacht, dass ihr die reine Lehre wichtiger ist als der
Klimaschutz. Zum Beispiel beim Emissionshandel kann
man den Eindruck gewinnen: Das Handeln mit Emissionsrechten - und nicht die Emissionsminderung scheint das Wichtige zu sein. Bei der Förderung der erneuerbaren Energien soll auf ein Ausschreibungsmodell umgestiegen werden, das in unseren Nachbarländern bewiesenermaßen weniger Effizienz zu höheren
Preisen bedeutet hat. Das ist Ideologie statt Klimaschutz.
Einen solchen Unsinn werden wir nicht mitmachen.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion erklärt sich mit den Klimaschutzzielen 2005 und 2010 verbal immer noch einverstanden. Für die Zeit danach wird aber schon offen gesagt: Da muss man erst einmal abwarten, was die
anderen tun. Der Dramatik der Klimaveränderung ist ein
solches Verhalten natürlich überhaupt nicht gerecht.
Man kann nicht immer auf die Langsamsten, auf die Unverständigsten warten. Man muss auch einmal vorangehen und sich ambitionierte Ziele stecken.
Der heute vorliegende Antrag - Herr Paziorek, an
dem haben Sie elegant vorbeigeredet - ist noch verheerender als die Weigerung, über Klimaschutzziele nach
2010 zu sprechen, und ist noch unverzeihlicher als das
mangelnde Engagement für konkrete Klimaschutzmaßnahmen. Wenn Ihr Antrag Beschluss im Bundestag und
in der Europäischen Union würde - eine völlige Freigabe bei den Klimaschutzmaßnahmen im Ausland,
statt die Hausaufgaben zu Hause zu machen -,
({2})
wäre das das Ende vom Klimaschutz bis 2012. Ich
könnte es Ihnen aus Ihrem eigenen Antrag zitieren. Ich
habe ihn bewusst mit zum Rednerpult genommen, weil
ich weiß: Wenn man etwas Unangenehmes anspricht, behaupten Sie, es stehe nicht in Ihrem Antrag.
({3})
- Gar kein Problem.
({4})
- Wenn er mir eine Frage stellt, dann mache ich das.
Zum Teil liefe das, was Sie wollen, im Ausland auf
einen Pseudoklimaschutz hinaus. Denn in Europa würden dann nur noch die Modernisierungen durchgeführt,
die auch ohne Emissionshandel angestanden hätten. Das
wird die SPD nicht akzeptieren. Wir wollen keine nationalen Alleingänge beim Klimaschutz, aber wir wollen
eine Vorreiterrolle mit engagierten und ambitionierten
Zielen.
Zwei Kernpunkte sind dem vorliegenden CDU/CSUAntrag deutlich zu entnehmen:
Erstens. Die Anrechenbarkeit von projektbezogenen
klimapolitischen Maßnahmen im Ausland auf die Klimaschutzziele der EU-Staaten soll unbeschränkt möglich sein.
({5})
Zweitens. Die höchst umstrittenen Senken, also zum
Beispiel Waldschutz im Ausland, sollen ebenfalls unbeschränkt anrechenbar sein - kein Wort über den oft zeitlich beschränkten Charakter solcher Maßnahmen!
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
mit diesem Antrag stellen Sie sich übrigens auch gegen
den Konsens aller relevanten Gruppen im Klimaschutz.
Das fängt mit dem Konsens der EU-Mitgliedstaaten an.
Ich zitiere aus der EU-Richtlinie:
Für die EU ist es wichtig, auch weiterhin im Kampf
gegen die Klimaveränderungen eine führende Rolle
zu übernehmen, nicht zuletzt durch die Anwendung
des Grundsatzes, dass die Mechanismen ergänzenden Charakter haben.
Die projektbezogenen Maßnahmen sollen also ergänzenden Charakter haben, deswegen - im Gegensatz zu dem,
was Sie wollen - die Beschränkung auf höchstens ein
Drittel der Emissionsminderungen.
Mit dem Vorschlag stellen Sie sich aber auch gegen
ein weites gesellschaftliches Bündnis aus Eine-WeltGruppen, aus Umweltgruppen und aus christlichen
Gruppen. Die Wissenschaft hält diesen Vorschlag für
falsch. Große Teile der Wirtschaft halten ihn ebenfalls
für falsch und nicht zuletzt - das ist ein Zeichen, dass Sie
sich mit diesem Antrag besonders verrannt haben - Ihre
eigenen Parteifreunde lehnen dieses Vorgehen ab. Der
Bundesrat hat sich mit seiner Mehrheit aus CDU/CSUregierten Ländern am 26. September 2003 zu dieser EURichtlinie geäußert:
Andererseits besteht das Risiko, dass der Zufluss
von zertifizierten Emissionsminderungen
- gemeint sind diese projektbezogenen Maßnahmen die angestrebte Begrenzung der Treibhausgasemissionen in den Mitgliedstaaten aushöhlt. ... Der Bundesrat hält vor diesem Hintergrund die Formulierung quantitativer Anforderungen für sinnvoll.
Wenn die CDU/CSU schon nicht auf die Koalition
und Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft und
Wirtschaft hört, warum ignorieren Sie an dieser Stelle
auch noch Ihre eigenen Parteifreunde,
({7})
die Ihnen gesagt haben, wie man es eigentlich machen
muss? Ihr Antrag ist falsch. Er ist moralisch, strategisch,
klimapolitisch und wirtschaftspolitisch falsch.
({8})
Ich möchte das an ein paar Punkten deutlich machen.
Als Erstes möchte ich den Nachweis erbringen, dass
er vom moralischen Anspruch her falsch ist. Die Industriestaaten verbrauchen mit noch nicht einmal 20 Prozent
der Bevölkerung über 80 Prozent der weltweiten Ressourcen. Das ist im Klimaschutz nicht viel anders.
Deutschland wird zwischen 1990 und 2010 seine Treibhausgasemissionen zwar um voraussichtlich 21 Prozent
senken und dann etwas unter 10 Tonnen pro Einwohner
liegen, aber auch dann werden wir das Klima in einem
Maße belasten, dass ein solches Niveau nicht für alle
Menschen auf der Welt möglich wäre, soll der Klimawandel nicht mit unvorstellbarer Brutalität zuschlagen.
Aber mit welchem Recht sagen wir anderen Ländern:
Ihr dürft pro Kopf nicht die gleiche Klimabelastung haben wie wir? Wie können wir uns das Recht herausnehmen, etwa einem Entwicklungsland zu sagen: Eure geringen Emissionen von Treibhausgasen wollen wir jetzt
billig reduzieren, bei uns zu Hause aber setzen wir auf
„Weiter so!“? Um nichts anderes geht es an dieser Stelle.
Eine solche Politik ist aus meiner Sicht moralisch nicht
in Ordnung.
Ihr Antrag ist - zweitens - auch strategisch falsch.
Wir kommen im Klimaschutz nur dann weiter, wenn wir
international die Koalition der klimaschutzbereiten Staaten erweitern. Wir brauchen insbesondere die USA, aber
auch die Bevölkerungsgiganten Indien und China. Es
gibt zwei Gruppen von Staaten: Die einen - das sind vor
allem die Schwellen- und die Entwicklungsländer - wollen Klimaschutz und möchten gerne sehen, dass wir es
bei uns zu Hause ernst meinen mit der Umstellung von
Wirtschafts- und Lebensformen und dass wir zu Hause
zum Klimaschutz bereit sind. Denen, die skeptisch sind,
müssen wir zeigen, dass Klimaschutz im eigenen Land
ohne wirtschaftliche Einbußen möglich ist und dass Klimaschutz im Gegenteil sogar ein Innovationsmotor ist.
Deswegen wäre ein völliger Ersatz von Klimaschutz im
eigenen Land durch Projekte im Ausland auch strategisch falsch.
({9})
Ihr Antrag ist - drittens - auch klimapolitisch falsch.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Frau Köhler, Sie haben
ja eben dazwischengerufen: Dem Klimaschutz ist es
doch egal, wo die Emissionen eingespart werden.
({10})
Diese Sichtweise ist kurzfristig eindeutig richtig. Auf
lange und auf mittlere Sicht ist sie es aber nicht, und das
aus einem ganz einfach Grund: Um den Klimawandel einigermaßen in den Griff zu bekommen und ihn abzumildern, brauchen wir über viele Jahre und Jahrzehnte stetige Fortschritte. Auch hier ist es hilfreich, in die EURichtlinie, auf die sich Ihr Antrag bezieht, zu schauen.
Ich darf noch ein letztes Mal zitieren:
Der Preisdruck
- gemeint ist: wenn die projektbezogenen Maßnahmen
in höherem Umfang möglich werden könnte absurderweise dazu führen, dass technologische Entwicklungen der vielversprechendsten
Technologien zur Emissionsreduzierung innerhalb
der EU verzögert werden, obwohl diese für den
mittel- und langfristigen Klimaschutz dringend gebraucht werden.
Ihr Antrag ist also auch klimapolitisch falsch. Aus diesem Grund lehnen wir ihn ab.
({11})
Der letzte Punkt betrifft die Frage: Ist es wirtschaftlich richtig, diese Maßnahmen verstärkt zu nutzen, oder
ist es wirtschaftlich falsch? Auch da ist das Ergebnis relativ einfach - neben dem, was ich gerade schon aus der
EU-Richtlinie zitiert habe -: Wir sind die Spitzenanbieter von Technologien zur Emissionsreduzierung. Wenn
wir uns den eigenen Markt innerhalb der Europäischen
Union kaputt machen, dann schaden wir doch unserer
Wirtschaft an dieser Stelle.
Wir haben unser Klimaschutzziel 2010 schon fast erreicht. Wir werden Verkäufer von emissionssenkender
Technologie sein. Wir haben dafür übrigens viel Geld
ausgegeben, bei der Modernisierung von Kraftwerken
und auch bei der Förderung der erneuerbaren Energien.
Der jetzt vorgeschlagene EU-Rahmen gibt der deutschen
Industrie die Chance, so viele dieser projektbezogenen
Maßnahmen durchzuführen, wie sie zur Erreichung des
Ziels noch durchführen will. Dieser EU-Rahmen ist
nämlich weiter als das, was uns zur Erreichung des Klimaschutzziels noch fehlt. Aber warum sollen denn die
Klimasünder in Europa - wie Spanien - jetzt billig davonkommen? Warum sollen sie nicht zu Hause mit
neuen Technologien arbeiten müssen, und zwar mit
Technologien, die sie auch in Deutschland kaufen müssen? Das müssen Sie einmal erklären. Sie machen an
dieser Stelle einen wirtschaftspolitisch falschen Vorschlag.
({12})
Das Fazit ist: Wenn man erkennt, dass man strategisch, ökologisch, moralisch und ökonomisch etwas Falsches gemacht hat, dann ist die politische Entscheidung
einfach. Es wäre mutig, einfach einmal zu sagen: Wir
haben uns in eine Richtung verrannt, die nicht einmal
mehr unsere eigenen Parteifreunde im Bundesrat unterstützt haben; wir ziehen einen solchen Antrag auch im
Plenum des Bundestages zurück. - Mit uns ist jedenfalls
eine solche Rolle rückwärts im Klimaschutz nicht zu
machen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte einmal mit dem anfangen, was ich für ziemlich
zentral halte. Wenn wir hier heute noch einmal die Gelegenheit haben, über die Nutzung der flexiblen Instrumente des Kioto-Protokolls zu debattieren, dann wird
damit natürlich deutlich, wie dringend die weiteren Anstrengungen sind, die wir alle miteinander unternehmen
müssen, damit das Kioto-Protokoll von allen - auch von
Russland - ratifiziert wird und in Kraft treten kann. Ich
kann nur an alle hier in diesem Hause appellieren, dass
wir gemeinsam die Anstrengungen, die wir begonnen
haben - es gibt ja in Gesprächen gemeinsame Anstrengungen des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages und auch der Bundesregierung -, weiterführen, damit es wirklich dazu kommt, dass das Kioto-Protokoll in
Kraft treten kann.
({0})
Herr Kelber, ich möchte für die FDP-Bundestagsfraktion feststellen - das habe ich hier schon mehrfach gesagt -, dass wir, was die Reduktionsziele angeht, mit Ihnen übereinstimmen. Wir teilen ausdrücklich das
nationale Ziel und halten - im Gegensatz zu Ihnen - daran fest.
({1})
Darüber hinaus akzeptieren wir nach wie vor das Burden-Sharing innerhalb der Europäischen Union und wollen, dass diese Ziele erreicht werden.
({2})
Unsere Position unterscheidet sich von Ihrer nur darin, dass wir diese Ziele effizient erreichen wollen.
({3})
Deswegen ist der Einsatz der flexiblen Instrumente
des Kioto-Protokolls so unglaublich wichtig. Wir sind
davon überzeugt, dass deren Einsatz die Erreichung der
Ziele bei gleichzeitiger Minimierung der Kosten - das ist
das Entscheidende - am ehesten garantiert. Wir von der
FDP-Bundestagsfraktion haben dazu in der letzten wie
auch in dieser Legislaturperiode mehrere Anträge eingebracht. Sie haben allesamt abgelehnt. Hätten wir jetzt
nicht den Richtlinienvorschlag zum europäischen Emissionshandel vorliegen, würde sich Rot-Grün noch immer
im klimapolitischen Dornröschenschlaf befinden.
({4})
Die polemischen Äußerungen, die Sie hier gemacht
haben, werden nicht richtiger, indem Sie diese ständig
wiederholen. Wir haben diverse Maßnahmen wie zum
Beispiel die Ökosteuer, die Sie vorgeschlagen haben, abgelehnt. Wir sehen es nämlich nicht ein, dazu beizutragen, dass hier ineffiziente Instrumente beschlossen werden, die zu nichts anderem gut sind als zum Abkassieren
der Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen effiziente Klimaschutzinstrumente und haben deshalb Ihre Instrumente abgelehnt.
Gleichzeitig haben wir von der FDP-Bundestagsfraktion jedes Mal einen eigenen Vorschlag vorgelegt, wie
die entsprechenden Ziele unserer Meinung nach erreicht
werden können. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich
sagen. Wir sind also sehr gut aufgestellt. Sie täten gut
daran, sich mit unseren Vorschlägen einmal auseinander
zu setzen.
({5})
Es wurde höchste Zeit, dass die EU-Kommission die
Einbeziehung der flexiblen Instrumente zulässt. Sie
bleibt dabei allerdings weit hinter dem zurück, was wir
gemeinschaftlich auf den internationalen Konferenzen
in langen Diskussionen darüber besprochen haben. Das
gilt insbesondere für die Frage, nach welchen Kriterien
überhaupt Emissionsgutschriften erworben werden können. Dabei möchten wir nur eines: Klimaschutzmaßnahmen, mit denen deutsche Unternehmen beispielsweise
im Bereich der Solarenergie eine Technologieoffensive
starten können, müssen dort eingesetzt werden, wo es
Sinn macht, in diesem Fall also in den sonnenreichen
Gebieten der Erde. Wenn wir das wollen, müssen wir die
Klimapolitik mit der Entwicklungspolitik verknüpfen,
um zu einem Klimaschutz in diesem Lande zu kommen.
({6})
Sowohl Sie als auch die EU-Kommission machen dagegen einen Rückschritt und bleiben hinter dem zurück,
was international vereinbart worden ist. Wir sind nicht
bereit, das zu akzeptieren.
({7})
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass wenigstens
das, was nötig ist, eingeführt wird. Eine Technologieoffensive für regenerative Energietechnik von deutschen
Unternehmen wäre viel wirkungsvoller
Frau Kollegin!
- mein letzter Satz, Herr Präsident -, wenn Sie Ihre
Bemühungen stärker mit den internationalen Mechanismen des Kioto-Protokolls verknüpfen würden, anstatt
das nur über das EEG zu machen.
Vielen Dank.
({0})
An dieser Stelle sei mir der Hinweis gestattet, dass die
Großzügigkeit des Präsidiums die Gemeinheit der Fraktionen bei der Bemessung der Redezeit bei weitem in
den Schatten stellt. Das wird bei der Liveübertragung
der Auftritte nicht immer deutlich.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Reinhard
Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Herr Präsident. Ich werde mich bemühen, die
Redezeit nicht zu überschreiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil mir das sehr
wichtig ist, möchte ich einige Worte zu dem Ziel sagen.
Im Juni 1990 und dann im November 1990 hat der Deutsche Bundestag einstimmig beschlossen, die CO2-Emissionen bis 2005 gegenüber 1987 um 25 Prozent zu senken. Das war das Ziel. Das ist von Kohl bei der Berliner
Klimakonferenz 1995 unter der Hand in 25 Prozent bis
2005 gegenüber 1990 umgeändert worden. Man muss es
sogar noch weiter präzisieren: In den alten Bundesländern sollten 25 Prozent erreicht werden, in den neuen
Bundesländern sogar noch mehr. Das war das Ziel.
Was ist real passiert? Zwischen 1990 und 1995 gab es
durch die deutsche Einheit einen Effekt der Niveauverschiebung, weil viele Industrieunternehmen kollabiert
sind und es teilweise zu Modernisierungsinvestitionen
kam. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat
gerade noch einmal ganz klar beschrieben, dass das über
den Daumen gepeilt minus 13 bis minus 14 Prozent ausgemacht hat. Dann war klimapolitisch jahrelang Hängen
im Schacht, es ist nämlich nichts passiert. Das muss man
ganz klar sehen.
({0})
- Doch, das stimmt.
Seit 1998, als diese Regierung ihr Amt angetreten hat,
sind viele Dinge auf die Schiene gesetzt worden. Die
meisten Stichworte sind schon gefallen: Ökosteuer,
EEG, Altbausanierung, KWK-Gesetz, Energiesparverordnung und anderes. Bezogen auf alle Kioto-Gase sind
wir jetzt bei 19 bis 19,5 Prozent angelangt. Bezogen auf
CO2 sind wir bei 16 bis 17 Prozent angelangt. Es ist offenbar schwerer, als wir alle gedacht haben.
({1})
Ich glaube aber, dass es keinen Sinn macht, das Ziel von
25 Prozent einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Wir
müssen erklären, warum es schwierig ist, und wir müssen das als Ansporn nehmen, um der Erreichung dieses
Ziels so nah wie eben möglich zu kommen. Das ist unsere Aufgabe. Dafür habe ich in dem Gespräch mit dem
„Tagesspiegel“, das ansonsten etwas verkürzt wiedergegeben wurde, plädiert. Ich denke, dass das nachvollziehbar ist.
({2})
Jetzt habe ich zwei Minuten verbraucht, um dem Kollegen Paziorek zu erwidern, und es bleiben mir nur noch
drei Minuten, Herr Präsident, um auf das Thema des
heutigen Tages zu sprechen zu kommen. Ich werde mich
bemühen, die drei Punkte in drei Minuten abzuarbeiten.
({3})
Erster Punkt. Ich glaube, es ist ganz wichtig, zu erkennen, dass in dem Richtlinienentwurf der EU eine
Botschaft enthalten ist - das hat der Kollege Uli Kelber
bereits wunderbar beschrieben -: Die Hausaufgaben
müssen zuerst gemacht werden - Homework first.
({4})
Wir müssen zu Hause Klimapolitik betreiben; denn das
ist für die Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett und auch technologiepolitisch wichtig.
({5})
Die ganzen flexiblen Instrumente, zum Beispiel JI
und CDM, sind gut und wichtig, um unsere Standardtechnologie auf den Rest der Welt übertragen zu können.
Sie sind jedoch nicht gut für einen wirklichen Technologiepush. Diesen brauchen wir aber. Das ist der entscheidende Punkt. In der Bewertung dieser Instrumente unterscheiden wir uns fundamental.
({6})
Ich komme zum zweiten Thema, das ich ansprechen
möchte. JI und CDM sind sehr gute Instrumente; ich
habe mich selbst immer dafür eingesetzt. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns liegt darin, dass wir erstens ganz ausdrücklich keine Atomkraft einbeziehen
wollen - das haben wir auch international durchgesetzt -, zweitens keine fragwürdigen Senkenprojekte
einbeziehen wollen und drittens Qualitätsstandards haben wollen. Wir wollen beispielsweise, dass sich die
Projekte der großen Wasserkraft an den Standards orientieren, die die World Commission on Dams festgelegt
hat. Das heißt, wir sind für Projekte in den Entwicklungsländern und in Mittel- und Osteuropa. Sie müssen
aber ganz klaren Qualitätskriterien genügen. Über diese
Qualitätskriterien verlieren Sie in Ihrem Antrag kein
Wort. Er ist technologiepolitisch irreführend und Sie gehen damit in die falsche Richtung. Auch bezüglich der
Qualitätsstandards ist Ihr Antrag weit unterhalb dessen,
was notwendig wäre. Allein aus diesem Grund müsste
man den Antrag ablehnen.
Ich komme zum letzten Punkt, den ich noch ansprechen möchte; er ist wirklich sehr wichtig. Ich habe heute
Nachmittag ein Gespräch mit einer Kollegin aus Indien
geführt. Ich sagte, ich müsse heute Abend über CDM
sprechen und fragte sie, was aus ihrer Sicht das Wichtigste sei. Sie sagte, das Wichtigste für sie sei, dass der
Clean Development Mechanism nicht zu einem Complicate Development Mechanism wird. Das heißt, wir müssen sehr darauf achten, dass der Standard einfach ist;
das ist sehr wichtig.
({7})
Im Moment erleben wir nämlich Folgendes: Der
ganze Kioto-Prozess konkurriert mit einer Strategie der
Vereinigten Staaten, die ausschließlich auf Freiwilligkeit
und bilaterale Abkommen setzt. Sie werden versuchen,
diese Strategie demnächst auf den internationalen Konferenzen anzupreisen. Im Moment unterstützen sie einzelne Projekte sehr stark. Sie werden beispielsweise zur
nächsten Vertragsstaatenkonferenz nach Mailand kommen und sagen: Seht her, unser Weg ist viel erfolgversprechender als eurer. Ich glaube, wenn wir nicht wollen,
dass die Glaubwürdigkeit des Kioto-Prozesses insgesamt
unterhöhlt wird, dann müssen wir dafür sorgen, dass
diese Mechanismen klar und einfach sind und dass sie
von den Entwicklungsländern auch angenommen werden können. Daran sollten wir arbeiten. Auch darauf geben Sie mit Ihrem Antrag keine Antwort.
Ich fasse zusammen: Sie weisen mit Ihrem Antrag
klima- und technologiepolitisch in die falsche Richtung.
Deshalb ist er nicht unterstützenswert. Es ist eine Punktlandung: Sie landen genau bei 0,00. - Frau Präsidentin,
ich hoffe, Sie sind mit mir zufrieden.
Danke schön.
({8})
Das bin ich auf jeden Fall wegen der präzisen Einhaltung der Redezeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ralf Brauksiepe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Effizienz bedeutet bekanntermaßen die Vermeidung von
Ressourcenverschwendung. Ressourcenverschwendung
zu vermeiden ist um so wichtiger, je knapper in einem
Land die vorhandenen Ressourcen sind. Deshalb kann
sich Verschwendung niemand weniger leisten als die armen Entwicklungsländer dieser Welt.
({0})
Deshalb verfolgt der Antrag der CDU/CSU-Fraktion,
mehr Kosteneffizienz im Klimaschutz durch die verstärkte Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanismen zu erreichen, ein in hohem Maße entwicklungspolitisches Anliegen.
Die Bedeutung des Kioto-Protokolls mit CDM und JI
kann in diesem Zusammenhang gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Ihre konsequente Nutzung - darauf
hat der Kollege Paziorek völlig zu Recht hingewiesen liegt gerade auch im deutschen Interesse. Denn nach allem, was wir nach fünf Jahren rot-grüner Klimapolitik
wissen, ist vor dem Hintergrund des geplanten Atomausstiegs die Erreichung unserer eigenen Reduktionsziele
ohne konsequenten Rückgriff auf die Kioto-Mechanismen erst recht in jedem Fall völlig illusorisch.
({1})
Da wir in Deutschland drei Viertel der gesamten EUReduktionslast tragen wollen, ist auch der Zusammenhang zur europäischen Ebene offenkundig. Auch die EU
kann ihre Reduktionsziele nur durch die konsequente
Nutzung der projektbezogenen Kioto-Mechanismen erreichen. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich, dass
die Kommission einen Entwurf vorgelegt hat, der die
rechtlichen Voraussetzungen für die Umwandlung von
Gutschriften aus entsprechenden Projekten in handelbare
Emissionszertifikate schaffen soll,
({2})
weil wir eben genau darin eine gelungene Antwort der
Weltgemeinschaft auf das Problem einer in der Tat weltweiten gegenseitigen Abhängigkeit beim Klimaschutz
sehen.
Jetzt komme ich zu der vom Kollegen Kelber angesprochenen Frage. Kollege Kelber hat ja gesagt, er habe
extra den Antrag mitgenommen, um daraus zu zitieren.
Herr Kollege Kelber, ich muss Ihnen sagen: Sie haben
ein seit PISA sehr bekannt gewordenes Problem: Leseschwäche.
({3})
Sie können in unserem Antrag lesen, dass wir insbesondere kritisieren,
dass die Einschränkungen für die Anrechnung von
Gutschriften aus CDM- und JI-Projekten weit über
die Vorgaben des Kioto-Protokolls und die Beschlüsse der internationalen Klimakonferenzen, insbesondere die Vereinbarung von Marrakesch aus
dem Jahre 2001, hinausgehen …
Genau das ist der Punkt, um den es geht. Da steht nichts
von einer vorgesehenen unbegrenzten Anrechenbarkeit.
({4})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?
Aber sicher.
Herr Kollege, können Sie mir bestätigen, dass in Ihrem Antrag Punkt II Ihres Forderungskataloges, nicht
der Beschreibung, wie folgt lautet:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,
…
2. sich bei den Beratungen auf europäischer Ebene
gegen die Einführung einer Obergrenze für die Inanspruchnahme der projektbezogenen Mechanismen im Emissionshandel auszusprechen. Die am
Emissionshandel beteiligten Unternehmen müssen
die Möglichkeit haben, sich Emissionsreduktionen
im Ausland ohne Begrenzung gutschreiben zu lassen …
({0})
Herr Kollege, das ändert nichts an dem, was ich hier
vorgetragen habe,
({0})
was unsere Analyse und was unsere Forderung ist, dass
weder am deutschen noch am europäischen Wesen die
Welt genesen soll,
({1})
sondern dass wir eingebunden sind in internationale Verabredungen und Abmachungen, zu denen wir uns in diesem Zusammenhang ausdrücklich bekennen.
({2})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, gerade CDM liefert eine hervorragende Möglichkeit der Kooperation zwischen Industrie- und Entwicklungsländern im Bereich des Klimaschutzes. Ich
will deutlich sagen: Unsere Erwartung ist, dass die vorhandenen Effizienzsteigerungspotenziale auch eine
ganz wesentliche Rolle bei der Bonner Konferenz über
erneuerbare Energien im kommenden Jahr spielen werden. Auch bei dieser Konferenz darf es gerade im Interesse der Entwicklungsländer nicht darum gehen, nur
einseitig einzelne Energieträger zu protegieren, sondern
es müssen auch Effizienzüberlegungen in den Mittelpunkt gestellt werden.
Lassen Sie mich aus entwicklungspolitischer Sicht
noch ein paar besonders relevante Anliegen in diesem
Zusammenhang ansprechen. Uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist in der Tat wichtig, dass die Bundesregierung sich bei Verhandlungen auf europäischer Ebene
auch für den Schutz der Naturwälder, insbesondere der
Tropenwälder, als CO2-Senken einsetzt und darauf hinwirkt, dass Gutschriften aus CDM- und JI-Projekten im
Forstsektor entsprechend anerkannt werden.
Wir wissen doch heute alle, dass die Zerstörung der
Tropenwälder mit ihrer großen Biomasse schwere negative Folgen nicht nur für den Wasserhaushalt und die
Biodiversität, sondern auch für die Freisetzung von CO2
hat. Das ist keine ideologische Frage, sondern es geht
um die Frage, ob wir das zur Kenntnis nehmen, was konkret passiert, dass nämlich der Schutz von Senken auch
Schutz vor weiterer Klimazerstörung bedeutet. Deswegen ist es eine faule Ausrede, zu sagen, es sei zu kompliziert, dies bei CDM zu berücksichtigen. Amerikanische
Firmen zum Beispiel unterstützen heute die bolivianische Regierung und Nichtregierungsorganisationen konkret beim Schutz von Naturflächen mit natürlichen Nutzungsformen. Das zeigt, dass es geht, wenn man es
politisch will. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung ist deshalb politisch verantwortungslos.
({3})
Uns liegen Untersuchungen vor, dass beispielsweise
in Borneo im Jahr 1997 durch Waldbrände das Zehnfache dessen an Kohlendioxid freigesetzt worden ist, was
Deutschland in den letzten zehn Jahren im Rahmen der
Kioto-Vereinbarung einsparen konnte. Nehmen Sie das
zur Kenntnis! Trennen Sie sich von Ihren ideologischen
Scheuklappen und setzen Sie auf eine vernünftige weltweite Arbeitsteilung!
({4})
Es geht uns insgesamt darum, gerade CDM stärker in
die Entwicklungshilfeaktivitäten der Bundesregierung
einzubinden. Dazu müssen bestehende Rechtsunsicherheiten ausgeräumt sowie fehlende Kapazitäten und Institutionen in potenziellen Partnerländern in Kooperation
mit diesen Staaten zügig ausgebaut werden.
Wir alle kennen die Rekordhaushaltslöcher in
Deutschland. Herr Kollege Kelber, ein Grund, der uns
davon überzeugt, dass unsere Position richtig ist, ist der,
dass Sie sie für wirtschaftspolitisch falsch halten. Was
Sie für wirtschaftspolitisch richtig halten, erleben wir in
diesem Land jeden Tag. Das wollen wir nicht.
({5})
Wir wissen aber auch, dass sich diese katastrophale
Haushaltspolitik in desaströser Weise auf den Entwicklungshilfeetat auswirkt. Wenn die Regierung schon weniger Geld für Entwicklungshilfe ausgibt, hat sie hier zumindest die Chance, eine vernünftige entwicklungs- und
klimapolitische Konzeption für die globale Politik aufzustellen. Dazu fordern wir Sie auf.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1690 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell,
Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach,
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Christoph Hartmann ({2}), Cornelia Pieper,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP
Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und
Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ({3})
- Drucksachen 15/935, 15/1305 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Katherina Reiche
Grietje Bettin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Parlamentarischen Staatssekretär Christoph Matschie
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute einen Antrag auf
Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von
Bund und Ländern. Mit Ausnahme der Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU sind wir uns hier im Hause
in dieser Frage einig.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Union, lassen Sie mich mit zwei Zitaten aus den letzten Wochen beginnen. Das erste Zitat lautet:
({0})
Die Unterschiede bei der ökonomischen Kraft „reicher“ und „armer“ Länder verstärken auch im Bildungsbereich Tendenzen der Auseinanderentwicklung der Regionen. Die Wahrung gleichwertiger
Lebensverhältnisse überall in Deutschland wird
schwieriger. In der Vielfalt schulstruktureller Ausprägungen in den deutschen Ländern noch ein deutsches Schulsystem zu erkennen fällt schwer.
Das zweite Zitat:
Eine Abschaffung der Bund-Länder-Kommission
für Bildungsplanung und Forschungsförderung
scheint vor dem Hintergrund der jetzt anstehenden
Herausforderungen im deutschen Bildungswesen
unangebracht. Bildung muss als nationale Gemeinschaftsaufgabe verstanden werden, eine Koordinierung zwischen Bund und Ländern ist deshalb sinnvoll.
({1})
Ich habe nicht Vorlagen aus meinem Ministerium zitiert. Das erste Zitat stammt aus dem Bildungsbericht der
Kultusministerkonferenz, das zweite Zitat aus dem
Statement der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände in der öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung am 20. Oktober 2003.
({2})
Ein erfolgreiches Bildungswesen ist kein Selbstzweck. Gerade die OECD hat in ihrem jüngsten Bericht
„Bildung auf einen Blick“ noch einmal darauf hingewiesen: Bildung hat nicht nur eine Bedeutung für die
gesamtgesellschaftliche Entwicklung, sondern auch für
die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Internationale
Untersuchungen haben uns mit aller Deutlichkeit Defizite im deutschen Bildungssystem vor Augen geführt.
Deshalb erlaube ich mir die vorsichtig formulierte Frage:
Wie viel Unterschiedlichkeit im Bildungssystem verträgt
diese Republik, wenn wir diese Aufgaben angehen müssen?
({3})
Eines ist mit Sicherheit klar: Dieses Bildungssystem verträgt es nicht, dass sozusagen im Kompetenzstreit und
im Parteienstreit die Bildungschancen von Kindern und
jungen Menschen zerrieben werden.
Sie wissen alle, dass die traditionellen Grenzziehungen zwischen den Bildungsbereichen heute nicht mehr
gelten. Wir können es uns nicht leisten, das Bildungssystem in Einzelbestandteile zu zerlegen und auf die notwendige Koordinierung zwischen den verschiedenen
Verantwortungsträgern zu verzichten. Wir müssen das
Bildungswesen auch im Hinblick auf die Schnittstellen
weiterentwickeln. Denn jeder Einzelne erlebt Bildung
nicht als unterschiedliche Bausteine, sondern als seinen
Bildungsweg, der sich vom Kindergarten über die
Schule bis in die Ausbildung oder die Universität erstreckt. Weil das so ist, sollte das für uns ein Anlass sein,
das Denken in Zuständigkeitsschablonen in dieser Frage
einzustellen und die Zusammenarbeit zu suchen, die
dazu beiträgt, diese einzelnen Bestandteile des Bildungssystems besser aufeinander abzustimmen.
({4})
Ich glaube auch, dass man deutlich sagen muss: Als
Instrument der gemeinsamen Bildungsplanung brauchen
wir die Bund-Länder-Kommission, denn die BLK ist
ressortübergreifend strukturiert. Dort sitzt die Bildungsministerin zum Beispiel mit der Finanzministerin, der
Arbeitsministerin oder der Familienministerin am Tisch
und in der BLK kommen Entscheidungen grundsätzlich
mit den Stimmen der Mehrheit zustande. Es bedarf also
nicht unbedingt des Einstimmigkeitsprinzips, das wir in
der KMK haben. Wenn ich das sage, dann meine ich
nicht, dass wir in der BLK alles so lassen müssen, wie es
im Moment ist. Der Bund ist für Vorschläge zur Reform
von Verfahren und Organisation offen. Und nicht nur
das: Wir werden, eng angelehnt an die Ergebnisse der
Föderalismuskommission, die wir eingesetzt haben,
hierzu Vorstellungen entwickeln.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung. In der Bologna-Erklärung vom 19. Juni 1999 und in den NachfolParl. Staatssekretär Christoph Matschie
gekonferenzen haben die für das Hochschulwesen zuständigen Minister von inzwischen 40 europäischen
Staaten beschlossen, bis zum Jahre 2010 einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu verwirklichen. Ich
frage Sie: Können wir uns vor dem Hintergrund dieser
Entwicklung wirklich erlauben, den Hochschulbereich
in Deutschland vollständig in einzelne landesrechtliche
Regelungen zerfallen zu lassen, oder müssen wir nicht
auch in dieser Frage darauf achten, dass wir eine gleichgerichtete Entwicklung im europäischen Hochschulraum
haben, der Ausbildungs- und Beschäftigungschancen für
alle Studierenden in Deutschland und Europa gleichermaßen sichert?
({5})
Ich glaube, eine Aufgabe der Gesetzgebungskompetenz
des Bundes im Hochschulbereich kann nicht die auf die
Zukunft ausgerichtete Antwort auf diese Frage sein.
({6})
Es wird die Aufgabe der Föderalismuskommission,
die wir am 16. Oktober eingesetzt haben, sein, Lösungen
für die anstehenden Fragen zu finden. Ich erwarte, dass
die Chancen einer Modernisierung der bundesstaatlichen
Ordnung genutzt werden, um die Bund-Länder-Zusammenarbeit in Bildung und Forschung so weiterzuentwickeln, dass wir am Ende bessere Bildungschancen für
alle ermöglichen und nicht Wege verstellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die bisherige gemeinsame Bildungsplanung zwischen Bund und Ländern, die vor allem abgestimmte Modellprojekte beinhaltet, kann entfallen.
Schon heute spielt sie nur eine untergeordnete
Rolle.
Diese Aussage stammt übrigens nicht von der CDU/
CSU. Sie stammt vielmehr vom SPD-Wissenschaftsminister des Landes Rheinland-Pfalz, Professor
Dr. Jürgen Zöllner.
({0})
In der Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Neuordnung
der bildungs- und forschungspolitischen Zuständigkeiten
hat Minister Zöllner weiter ausgeführt:
Letztlich ist der bürokratische Aufwand für den Abstimmungsprozess in der Bund-Länder-Kommission ({1}) höher als der Ertrag und die Modellprojekte verlieren durch Kompromisse einen Teil ihrer
Innovationskraft.
Schade, dass diese vernünftige Erkenntnis Ihres Parteikollegen Rot-Grün noch nicht erreicht hat.
Steffen Reiche, der brandenburgische Minister für
Bildung, Jugend und Sport, hat sogar einen verpflichtenden Verfassungsauftrag zur gemeinsamen Bildungsplanung im Grundgesetz gefordert. Gleiches fordert die
GEW. Ja, wo sind wir denn eigentlich?
({2})
Zunächst einmal stelle ich fest, dass es eine Verpflichtung zur Bildungsplanung gar nicht gibt, geschweige
denn, dass das Grundgesetz nahe legt, dass ein verpflichtender Auftrag erforderlich wäre. Grundlage der BundLänder-Kommission ist nämlich der 1969 in das Grundgesetz eingeführte Art. 91 b. Dabei handelt es sich um
eine Kannbestimmung. Bund und Länder sind zur Kooperation aufgrund gemeinsamer Vereinbarungen befugt, aber nicht verpflichtet.
Art. 91 stellt klar, dass eine gemeinsame Bildungsplanung mit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung
prinzipiell vereinbar ist. Mehr geht allerdings nicht daraus hervor. Eine Verfassungsgarantie für die Bildungsplanung besteht schon gar nicht.
Die heutige Debatte zur Bildungsplanung ist im Zusammenhang mit der Föderalismusreform zu sehen,
auf die der Kollege Bergner gleich noch eingehen wird.
Dabei geht es um Kompetenzabgrenzung, mehr Wettbewerb und die Freisetzung schöpferischer Energien. Insofern ist die Aufregung von Rot-Grün interessant, die der
einstimmige Beschluss aller 16 Ministerpräsidenten in
diesem Jahr ausgelöst hat. Die Ministerpräsidenten haben Folgendes beschlossen:
Die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung soll
abgeschafft werden, wobei eine Koordinierung unter den Ländern sicherzustellen ist. … Die Forschungsförderung ist auch in Zukunft als Mischfinanzierung fortzuführen.
Ja, Herr Kollege Tauss, das ist kein Alleingang der
unionsregierten Länder. Der Beschluss ist vielmehr unter
der Beteiligung aller SPD-geführten Länder gefasst worden.
({3})
Auch die FDP in den Ländern hat diesem Beschluss zugestimmt.
({4})
In Baden-Württemberg hat Herr Döring, der stellvertretende FDP-Vorsitzende, in der Koalitionsvereinbarung den Verzicht der Bund-Länder-Kommission für den
Bereich Bildungsplanung unterschrieben. Warum? Das
ist ganz einfach: Weil es die Länder leid sind, dass Bundesbildungsministerin Bulmahn mithilfe des Gedankens
der gemeinsamen Bildungsplanung immer wieder versucht, sich in die Kulturhoheit der Länder einzumischen.
({5})
Dabei vernachlässigt die Bildungsministerin das Kerngeschäft ihres Zuständigkeitsbereichs, die Forschungspolitik.
({6})
Sie flüchtet sich verstärkt in die Schulpolitik, in der sie
nach der Verfassung keine Kompetenzen besitzt.
Die Bildungsplanung ist nicht notwendig, um beispielsweise gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Das zeigt sich schon beim Thema Bildungsstandards.
({7})
Es waren doch gerade die Unionsländer, die in der Kultusministerkonferenz die Einführung nationaler Bildungsstandards erreicht haben. Die KMK ist viel weiter
als die Bundesregierung in Berlin.
({8})
Bereits im Dezember werden in der KMK die Standards für den Schulabschluss in Deutsch, Mathematik
und der ersten Fremdsprache verabschiedet. Zur Überprüfung dieser Bildungsstandards wird die KMK eine
unabhängige wissenschaftliche Einrichtung aufbauen.
Das ist ein gutes Beispiel für bundesweit wirkende Innovationen bei gleichzeitigem Erhalt der Länderhoheit.
Auch der von Ihnen berufene Sachverständige Professor Dr. Ingo Richter hat in der Anhörung festgestellt:
Die BLK hat in der Bildungsplanung ihre zentrale
Aufgabe nicht erfüllen können. … Abschaffung der
BLK ja, KMK nein.
Es gibt glücklicherweise vernünftige Gremien der Abstimmung. Die Kultusministerkonferenz ist dafür geeignet. Absprachen können durch Staatsverträge verbindlich geregelt werden.
Ich will aber auch erwähnen, dass wir im Gegensatz
zu dieser Bundesregierung das Festhalten der Länder an
der gemeinsamen Forschungsförderung zwischen
Bund und Ländern begrüßen. Denn das verbundene System der „checks and balances“, das wir zurzeit anwenden, garantiert die Wissenschaftsfreiheit am besten. Die
Alleinzuständigkeit des Bundes ist wissenschaftspolitisch verfehlt. Dass die Bundesregierung hier aussteigen
will, dass sie alle Kompetenzen in der Forschungsförderung zum Beispiel für die Max-Planck-Gesellschaft, die
Helmholtz-Gemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft
und die DFG auf den Bund konzentrieren will, spricht
Bände. Wir brauchen vielmehr eine gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern; denn sie verhindert bei wissenschaftlichen Aufgaben von überregionaler Bedeutung eine Zersplitterung der Ressourcen.
Statt einer Forschungspolitik von 16 Ländern und einer
des Bundes brauchen wir gerade im Zeitalter der Globalisierung eine gebündelte Forschungspolitik zur Stärkung der Position Deutschlands im internationalen Forschungsbereich.
({9})
Wir Christdemokraten halten deshalb eine Zerschlagung in der gemeinsamen Forschungsförderung von
Bund und Ländern wissenschaftspolitisch für verfehlt,
finanziell für die Forschungsorganisation gefährlich und
von der Sache her für kurzsichtig. Bildungsplanung
braucht Ideen und diese brauchen Wettbewerb. Ich zitiere nochmals Minister Zöllner: „Nichts ist lähmender
für Kreativität als der Versuch einer Vereinheitlichung.“
Recht hat Herr Zöllner. Deshalb lehnen wir den Antrag von SPD, Grünen und FDP ab.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Die Kollegin Grietje Bettin hat gebeten, ihre Rede zu
Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die aktuelle Föderalismusdebatte wirft natürlich auch
die Frage nach der zukünftigen Bildungsplanung und der
Forschungsförderung in Deutschland wieder auf. Es ist
auch richtig, Herr Rachel, dass die Ministerpräsidenten
der Länder am 27. März 2003 Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Bund vereinbart haben und damals beschlossen haben, die Kofinanzierung des Bundes beim
Hochschulbau nach Art. 91 a und die Bildungsplanung
nach Art. 91 b des Grundgesetzes abzuschaffen. Aber
ich persönlich und auch meine Fraktion sind davon überzeugt, dass sich die Ministerpräsidenten der Länder nicht
bewusst gewesen sind, was sie damit im Hinblick auf
das Qualitätsniveau des deutschen Bildungssystems und
den Hochschulbau anrichten werden.
({0})
Die Anhörung im zuständigen Ausschuss hat auch ergeben - das war die Meinung der großen Mehrheit -, dass
die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern fortgesetzt werden muss und dass auch der Hochschulbau in gemeinsamer Verantwortung bleiben muss,
genauso wie die Forschungsförderung.
({1})
1) Anlage 7
Herr Tauss, Sie erlauben sicherlich, dass ich Herrn
Professor Winnacker zitiere, der in der Anhörung sagte,
Mischfinanzierung in der Forschung und im Hochschulbau sei die einzig bekannte Möglichkeit, Forschung
und Hochschule nicht zum politischen Spielball der jeweiligen Finanzminister zu machen und darüber hinaus
die relative Politikunabhängigkeit der Forschung zu ermöglichen. Hans-Olaf Henkel, der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, hat darauf hingewiesen, dass die Stärkung der Durchsetzungskraft der BLK durch Reformen
besser sei als deren Abschaffung und dass eine Alleinzuständigkeit der Länder für die Finanzierung der Institute
der Leibniz-Gemeinschaft bedeuten werde, dass diese
nicht mehr finanzierbar seien.
({2})
Das würde dem Forschungsstandort Deutschland und
insbesondere den strukturschwachen Regionen in den
neuen Bundesländern zum Nachteil gereichen. Deswegen lehnen wir, die FDP-Fraktion, die Abschaffung einer
gemeinsamen Bildungsplanung und Forschungsförderung ab.
Wir alle sind uns doch nach den Ergebnissen der internationalen Studien, ob nun PISA-, TIMSS- oder
OECD-Studie, bewusst, dass wir großen Herausforderungen gegenüberstehen und dass wir mehr auf die
Eigenverantwortung der Schulen und der Hochschulen
mit eigenen Globalhaushalten und eigener Personalautonomie setzen müssen. Dadurch und nicht durch mehr
Kultusbürokratie können wir Wettbewerb initiieren und
für mehr Qualität sorgen.
({3})
Was hat die Kultusministerkonferenz, so wie sie jetzt
existiert, mit ihrem Einstimmigkeitsprinzip geschafft?
Welche großartige Bildungsreform der letzten Jahre und
Jahrzehnte ist Ihnen in Erinnerung geblieben? Keine,
außer der Rechtschreibreform! Uns allen ist bewusst,
dass wir mit dem Prinzip der Einstimmigkeit in der
Kultusministerkonferenz nicht weiterkommen, wenn es
um eine wirkliche Bildungsreform in Deutschland und
um mehr Qualität in den Schulen geht.
Zuletzt darf ich noch Folgendes erwähnen: Die Mobilität von Familien mit schulpflichtigen Kindern ist eingeschränkt. Wir wollen in diesem Land die Mobilität
von jungen Menschen fördern. Es gibt 16 Bundesländer
mit 16 unterschiedlichen Schulsystemen und nicht vergleichbaren Schulabschlüssen. Das ist Behinderung von
Mobilität.
({4})
Wenn eine Familie mit Kindern in ein anderes Bundesland umzieht, ist das für sie eine Katastrophe. Zum Teil
müssen die Kinder in der Schule eine Klasse zurückgestuft werden.
Deswegen kann in der Föderalismusdebatte das Ergebnis dieser Anhörung nur heißen: Wir brauchen ein effizienteres Gremium für die Koordinierung der Bildungsplanung von Bund und Ländern und natürlich auch
eine gemeinsame Forschungsförderung von Bund und
Ländern.
Vielen Dank.
({5})
- Herr Tauss möchte noch eine Frage stellen.
Die Redezeit ist aber schon abgelaufen.
({0})
Herr Tauss, ich hätte Ihnen gern den Gefallen getan
und Ihre Frage noch beantwortet.
Solche Charmanterien können Sie, denke ich, nachher
noch austauschen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Dieter
Rossmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem wir den zwischen drei Fraktionen abgestimmten Antrag zur gemeinsamen Bildungsplanung von Bund
und Ländern vom 7. Mai dieses Jahres im Parlament eingebracht hatten, gab es in den Kommentaren die Feststellung, das sei ein bemerkenswerter Vorgang.
({0})
Es war erstens deshalb bemerkenswert, weil es drei
Fraktionen aus zwei verschiedenen politischen Lagern
waren. Das spricht schon einmal dafür, dass man sich zu
einem bestimmten Problem nicht starr, sondern frei eine
Position erarbeitet hat.
Es war zweitens bemerkenswert, weil - das hat Kollege Rachel schon angesprochen - es ein geschlossenes
Votum der Ministerpräsidenten und - wir wollen ehrlich
sein - eine andere Auffassung der Bundesregierung dazu
gegeben hat. Wenn sich dann dazu aus dem Parlament
heraus eine eigene Position herausbildet, dann ist das
von der Sache her gut.
({1})
Sonst hat man das Gefühl, dass nach politischen Farben
diskutiert wird statt danach, was man politisch erreichen
will.
({2})
Drittens war es bemerkenswert, dass sich ein Parlament positioniert, was eigentlich auch zwingend notwendig ist. Wir haben uns offensiv eingebracht, wo es
darum geht, die bundesstaatliche Ordnung jetzt neu zu
fassen.
Wir wollen den Antrag heute zusammen verabschieden, nachdem wir uns durch die Anhörung bestätigt fühlen, wenn auch sicherlich mit unterschiedlichen Nuancen.
Als die Diskussion hier begann, habe ich mich gefragt,
was eigentlich die Menschen wahrnehmen, die hier im
Plenum oder auch am Bildschirm unsere Chiffren wie
BLK und KMK und die verschiedenen Verhältnisse hören. Deshalb noch einmal ganz einfach angesetzt: Bei der
Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung handelt es sich um eine Institution, in der Vertreter der Bundesregierung mit Vertretern von 16 Landesregierungen
darüber beraten, wie man Bildung in Deutschland koordinieren, verbessern und auf die Zukunft hin ausrichten
kann.
Wenn dies so einfach ist, dann kann man genauso einfach fragen, wie es die Bevölkerung tun würde, wie es
aber auch die Experten aus den verschiedensten Bereichen - Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Hochschulrektorenkonferenz und Wissenschaftler - bei der
Anhörung getan haben. Sie haben gesagt: Wir wissen,
dass in Deutschland sowohl der Bund wie auch die Länder Verantwortung für gute berufliche Bildung haben.
Habt ihr einen Kreis, in dem ihr darüber gemeinsam
sprecht, oder schafft ihr den Kreis, in dem ihr aus Verpflichtung gemeinsam darüber sprecht, wie man berufliche Bildung gut nach vorn bringen kann, ab? - Jeder mit
einem einigermaßen gesunden Menschenverstand würde
sagen: Wenn Bund und Länder eine eigene und eine gemeinsame Verantwortung haben, aber auf den Kreis verzichten, in dem sie das gemeinsam besprechen und entwickeln können, dann passt das nicht zusammen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss? Da ist wohl noch ein Bedarf geblieben.
Da er meinen geistigen Höhenflug nur unterbrechen
kann, darf er gern eine Frage stellen.
Lieber Kollege Rossmann, es ist keineswegs beabsichtigt, Ihren geistigen Höhenflug - was Sie gesagt haben, teile ich übrigens vollständig - zu unterbrechen.
({0})
Das war doch Selbstironie.
Ich stelle Ihnen jetzt gern die Frage, die ich auch der
Kollegin Pieper gestellt hätte. Wie der Antrag zeigt, sind
wir uns in der Beurteilung der BLK einig. Können Sie
sich erinnern, Kollege Rossmann - ich frage das auch
die Kolleginnen und Kollegen, die an den Ausschusssitzungen teilnehmen -, dass bei den Gesprächen mit der
BLK, die wir ja oft geführt haben, die Kritik an der
BLK, wie sie heute hier von der CDU/CSU vorgetragen
worden ist, auch nur ein einziges Mal thematisiert worden ist?
({0})
Ist diese Kritik dadurch nicht etwas unglaubwürdig?
Kollege Tauss, meine Wahrnehmung ist - ich sage
das auch für die anderen Kollegen -, dass wir im Ausschuss an dieser Stelle tatsächlich nicht so sehr nach Parteifarbe, sondern in der Sache positiv gewürdigt haben,
was sich in der Arbeit aufgebaut hat und was wir für die
Zukunft erwarten. Deshalb ist es gut, dass wir im Ausschuss bestimmte Punkte viel klarsichtiger festhalten, als
es der Fall ist, wenn sie wie jetzt in eine parteipolitische
bzw. machtpolitische Mühle geraten. Wir werben dafür,
das Sachliche gemeinsam festzuhalten.
Ich komme auf die berufliche Bildung zurück; wir
können es auch auf die Hochschulbildung oder auf Fragen beziehen, die sich mit Weiterbildung und schulischer
Bildung befassen. Kollegin Pieper hat schon gesagt: Es
ist doch Kleinstaaterei, wenn wir in Deutschland, das
sich in ein Europa integriert, jetzt wieder damit beginnen,
das Bund und Länder Verbindende abzulösen, was zur
Folge hätte, dass es dann in Bezug auf die Mobilität und
bei der gemeinsamen Qualitätsentwicklung schwieriger
wird; auch könnten wir die Nahtstellen von schulischer
zu beruflicher und von beruflicher zu hochschulischer
Bildung oder zur Weiterbildung, die wir in Deutschland
dringend verbessern müssen, nicht gemeinsam entwickeln. Deshalb sollte für uns das, was uns sowohl vom
Arbeitgebervertreter als auch vom Gewerkschaftsvertreter und dem Vertreter der Hochschulrektorenkonferenz
nahe gebracht worden ist, den zentralen Punkt bilden. Es
geht um strategische Planung, die auch die Bund-Länder-Kommission stärker zu ihrer Aufgabe machen muss.
({0})
Nur so lässt sich das Gute, das jetzt schon vorhanden ist,
beibehalten: innovative Projekte zu entwickeln, gemeinsame Formen, die auch gemeinsam finanziert werden,
inhaltlich gut auszugestalten und die dritte Dimension,
die am Anfang der gemeinsamen Bund-Länder-Planung
stand, auch wirklich auszufüllen, nämlich einen Blick in
die Zukunft zu tun.
Ich wende mich wieder dem zu, was normale Menschen uns vielleicht bei dem Streit um Institutionen fragen: Wo habt ihr denn in Deutschland eine gemeinsame
Bildungsinstitution, die sich mit Globalisierung und Internationalität beschäftigt? Was heißt das für die verschiedensten Handlungsbereiche in Deutschland? Was
haben wir davon zu halten, dass ihr in einer sachlichen
Stunde lobt, was in Sachen Hochschulmarketing unter
anderem von der Bund-Länder-Kommission konstruktiv
zwischen Bund und Ländern vorbereitet, entwickelt, vertreten, finanziert und ausgearbeitet worden ist, es dann
aber vergesst, wenn ihr euch im Streit um Institutionen
befindet? An anderer Stelle - wir werden demnächst DeDr. Ernst Dieter Rossmann
batten zur beruflichen Bildung haben - wollen wir dies
eigentlich genauso ausarbeiten. Wir wollen nicht nur
Hochschulmarketing; wir werden in der Perspektive
auch die berufliche Bildung in der ganzen Welt vertreten wissen wollen.
Oder sie werden uns fragen: Wenn ihr über Rente
oder über Pflege sprecht, dann redet ihr immer davon,
dass unsere Gesellschaft älter wird und dass daraus längere Lebensarbeitszeiten erwachsen. Aber das sind dann
dort auch längere Lernzeiten. Wo wird gemeinsam besprochen, wie man von Bund und Ländern längere gemeinsame Lernzeiten qualitativ organisiert, auch institutionell wie in der Abstimmung der verschiedenen
beteiligten Bildungsbereiche? Ist nicht die Konsequenz
daraus, dass wir genau deshalb eine koordinierende Institution brauchen?
Wir reden von Globalisierung immer auch unter dem
Vorzeichen von Europa. Heißt das nicht, dass in Europa
Bund wie Länder zusammen an einem europäischen
Tisch sitzen müssen, weil wir in Deutschland eben
kooperativ, föderativ verfasst sind?
Ich wollte nicht nur für die SPD-Fraktion zum Ausdruck bringen - ich glaube, ich kann das auch für die
Grünen und für die FDP sagen -, dass wir jetzt nicht negativ vorführen sollten, was in der Verfassungskommission oder in der Kommission Bundesstaatliche Ordnung
sicherlich im Detail beredet werden wird. Als Bildungspolitiker tun wir gut daran, die Diskussion so anschaulich zu machen, dass Menschen sagen: Das Gute wollen
wir erhalten; macht es noch besser, aber zerschlagt nicht
eine Nahtstelle, eine koordinierende Institution, die wir
für die Zukunft noch dringlich brauchen. Damit dies
auch für die Kommission Bundesstaatliche Ordnung
deutlich wird, ist es gut, wenn wir heute einen klaren
Parlamentsbeschluss dazu fassen.
Wir bedanken uns noch einmal dafür, dass dies ohne
Scheuklappen von der FDP über die Grünen bis zur SPD
möglich geworden ist; die CDU ist uns bei diesem Projekt auch noch in Zukunft herzlich willkommen.
Danke.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christoph
Bergner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um die Diskussion ein bisschen zu versachlichen,
möchte ich zusammenfassen, worin wir uns einig sind.
({0})
Das will ich jetzt gar nicht als Vorwurf gegen Herrn
Rossmann gewertet sehen. Wir sind uns einig, dass wir
einen von Bund und Ländern finanzierten Hochschulbau wollen. Wir sind uns einig, dass wir eine von Bund
und Ländern finanzierte Forschungsförderung wollen.
Wir sind uns auch einig, dass das Berufsbildungsgesetz
in die Zuständigkeit des Bundes gehört. Insoweit bestehen keine Streitpunkte.
Wir müssen uns darüber auseinander setzen, wie wir
mit der Zuständigkeit der Länder für das allgemein bildende Schulwesen umgehen. Dazu muss ich allerdings
sagen: Nicht ohne Grund wurde mit der Kündigung des
Verwaltungsabkommens über die gemeinsame Kommission für Bildungsplanung parteiübergreifend ein Zeichen gesetzt. Ich möchte das Wort „parteiübergreifend“
betonen, weil es wenig Sinn macht, wenn Sie als Antragsteller in einer Parlamentsabstimmung im Bundestag die
Mehrheit gewinnen, es Ihnen aber nicht gelingt, Ihre
Landespolitiker zu überzeugen. Das Zitat des rheinlandpfälzischen Wissenschaftsministers Zöllner ist nun einmal eindeutig. Ich kann ihm übrigens sehr gut folgen.
Frau Kollegin Pieper, was ich von den Landtagsfraktionen der FDP in verschiedenen Ländern höre, spricht
dafür, dass Nachholbedarf bei der innerparteilichen Meinungsbildung besteht. Das ist bei der CDU/CSU nicht
so.
({1})
- Herr Tauss, das ist zumindest in dieser Frage nicht so.
({2})
Deshalb sollten wir uns schon überlegen, inwieweit wir
uns hier in dieser Parlamentsdebatte Gefechte liefern,
die eigentlich innerhalb der jeweiligen Partei ausgetragen werden müssen.
Ich will zum Ausgangspunkt zurückkehren. Wie kam
es dazu, dass die Länder die Entscheidung getroffen haben - sie erschien auch mir abrupt; sie ist aber rechtlich
völlig in Ordnung -, das Verwaltungsabkommen zur
Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung entsprechend Art. 12 aufzukündigen?
Egal wie gut die Argumente sind: Im Grunde genommen hat, seit die Kommission existiert, noch keine Bildungsplanung stattgefunden. Die Konsequenz, mit der
die Kündigung erfolgte, lässt sich eigentlich nur vor folgendem Hintergrund erklären: Die Länder haben - offensichtlich parteiübergreifend - die schleichende Amtsanmaßung der Bundesbildungsministerin in Hinblick auf
Länderkompetenzen satt gehabt. Dies kann ich gut verstehen.
({3})
Ich nenne zwei Beispiele dafür, wo diese Amtsanmaßung stattgefunden hat: bei der Konzipierung des
Ganztagsschulprogramms - man hat über abstruse
Finanzierungswege versucht, in Länder- und Kommunalkompetenzen einzugreifen ({4})
und bei der Hochschulrahmengesetzgebung. Ich nenne
das Stichwort „Verbot von Studiengebühren“. Herr
Tauss, wenn ich es richtig gehört habe, steht jetzt nicht
einmal mehr die SPD-Fraktion hinter diesem Verbot.
Alle Versuche, in Kompetenzen der Länder zentral einzugreifen, erzeugen natürlich eine Abwehrreaktion. Ich
denke, dass auch die Aufkündigung der gemeinsamen
Kommission für Bildungsplanung Folge dieser Amtsanmaßung von Frau Ministerin Bulmahn war.
({5})
Ich kann deshalb nur empfehlen, dass wir die Positionen und die Entscheidungen der Länder zunächst einmal
ernst nehmen und in der Föderalismuskommission eine
sachbezogene Diskussion führen.
({6})
Richtig ist: Wir brauchen eine bundesweite Vergleichbarkeit der Abschlüsse sowie Qualitätssicherung.
({7})
Herr Rossmann, was hat denn die BLK dazu bisher
beigetragen? Wenn Sie die Unterschiede, die PISA-E offen gelegt hat, jetzt beklagen und glauben, sie durch die
Betonung eines Instruments, das es schon die ganze Zeit
gegeben hat,
({8})
zu verringern, dann habe ich natürlich meine Zweifel.
Sie ziehen zur Bestärkung dieser Position auch noch
Herrn Reiche, also den Kultusminister eines besonders
erfolglosen Bundeslandes - das zeigt der PISA-E-Vergleich -, heran. Man leistet sich in Brandenburg noch
das 13. Schuljahr. Auch das ist nicht besonders überzeugend.
Nein, ich bin der Meinung, wir sollten alle Argumente ernst nehmen, da sie gut und überzeugend sind.
Ich bin außerdem der Meinung, dass die Kriterien, um
die es uns geht, nämlich Qualitätssicherung und bundesweite Vergleichbarkeit, besser im kooperativen Verfahren der Kultusministerkonferenz erfüllt werden als
durch zentralistische Vorgaben. Von diesem Grundsatz
können wir, wie ich glaube, ausgehen.
({9})
Im Zusammenhang mit all den Zentralisierungsargumenten, die Sie immer wieder gebrauchen,
({10})
will ich Sie in der Kürze der Zeit wenigstens auf zwei
Widersprüche aufmerksam machen:
Widerspruch eins: Zentralisierung wird in den Ländern an ihre Grenzen stoßen, in denen wir aufgrund vieler Schulen in freier Trägerschaft ein hohes Maß an
Vielfalt haben.
Widerspruch zwei: Es ist aus meiner Sicht nicht logisch, die Zuständigkeit für den Hochschulbau - das
betrifft nun nicht Ihren Antrag, aber das Positionspapier
der Bundesregierung - allein den Ländern zuzuweisen,
obwohl die Hochschullandschaft an sich Ländergrenzen
überschreitet
({11})
- die Ministerpräsidenten sind da anderer Meinung -,
zugleich aber bezüglich des Schulbaus eine andere Position zu vertreten.
Auch wenn Ihr Antrag eine Mehrheit finden wird,
wird sich nichts bewegen, weil die Länder mit solchen
Argumenten, wie sie in Ihrem Antrag geäußert werden,
nicht zu überzeugen sind. Sie überzeugen auch mich
nicht; das will ich offen sagen. Ich hoffe, dass wir in der
Föderalismuskommission bessere Wege finden ({12})
Nein, Herr Kollege, jetzt nicht noch ein Argument,
höchstens noch einen Satz, um Ihre Rede zu beenden.
- ich führe den Satz zu Ende -, um die Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse unter Bewahrung föderaler
Zuständigkeiten zu gewährleisten.
Ich bedanke mich.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 15/1305 zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP mit dem Titel „Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und
Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für
Bildungsplanung und Forschungsförderung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/935
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der
CDU/CSU angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Wolfgang Schäuble, Hartmut
Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz
schaffen
- Drucksachen 15/1097, 15/1852 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerold Reichenbach
Beatrix Philipp
Silke Stokar von Neuforn
Gisela Piltz
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Alle vorgesehenen Redner haben gebeten, ihre Reden
zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
({1})
Es handelt sich um die Reden der Abgeordneten
Reichenbach, Philipp, Stokar von Neuforn, Piltz und der
Parlamentarischen Staatssekretärin Vogt.1)
Damit kommen wir jetzt gleich zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 15/1852 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Wirksamen Zivil- und Katastrophenschutz schaffen“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
15/1097 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes
- Drucksache 15/1496 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({3})
- Drucksache 15/1802 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
Hier haben die Abgeordneten Wright, Storjohann,
Hettlich, Otto und die Parlamentarische Staatssekretärin
Gleicke gebeten, die Reden zu Protokoll geben zu dür-
fen.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann können wir auch hier zur Abstimmung über den
vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes kommen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 15/1802, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Stimmt jemand dagegen? - Das ist nicht der Fall. Der
Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit den Stim-
men der Fraktionen des ganzen Hauses angenommen
worden.
1) Anlage 8
2) Anlage 9
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur von Leistungsverschiebungen bei häuslicher Krankenpflege zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung ({4})
- Drucksache 15/1493 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat die Abgeordnete Hilde Mattheis das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hoffe, dass uns nachher der Freistaat Bayern sehr
loben wird, weil wir nämlich schon das umgesetzt haben, was in dem Gesetzentwurf des Bundesrates eingefordert wird.
({0})
- Der Bundesgesetzgeber war wieder einmal schneller
als der Freistaat Bayern.
({1})
- Doch! Was der Freistaat Bayern einfordert, wird ab
1. Januar 2004 gelten.
Vor wenigen Wochen haben wir mit breiter Mehrheit,
über alle Parteigrenzen hinweg, also auch mit den Stimmen der CDU/CSU und der Länder, das Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz verabschiedet und damit
dem heute vorgebrachten Anliegen in einem wesentlichen Punkt entsprochen. Ich nutze daher die erste Lesung über den Gesetzentwurf des Bundesrates für eine
kurze Rückschau, um deutlich zu machen, wie wichtig
dieser erste Lösungsschritt war, den wir durch das GMG
vollzogen haben.
Worum geht es also? In dem eingebrachten Gesetzentwurf des Bundesrates wird beklagt, dass es zu
erheblichen Verschiebungen der Kosten für einzelne behandlungspflegerische Maßnahmen von der Krankenversicherung in die Pflegeversicherung gekommen ist.
Welche Kostenverschiebungen sind gemeint? Im
SGB V heißt es in § 37 Abs. 3 - „Häusliche Krankenpflege“ Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht
nur,
- es wird also nur dann bezahlt 6264
soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen
und versorgen kann.
Hilfeleistungen pflegender Angehöriger wurden also
nicht von der Krankenversicherung erstattet. Ich gebrauche bereits die Vergangenheitsform; denn ab 1. Januar
2004 greift das Gesetz.
Das Bundessozialgericht wollte nach den ersten Erfahrungen mit der 1995 eingeführten Pflegeversicherung
Hilfeleistungen pflegender Angehöriger berücksichtigen. Es entschied daher 1998: Behandlungspflegerische
Hilfeleistungen von pflegenden Angehörigen sind bei
der Einstufung der Pflegeeinsätze zu berücksichtigen.
- Dieses Urteil war gerechtfertigt und nachvollziehbar;
denn neben der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung konnten pflegende Angehörige nun
zum Beispiel das tägliche An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen geltend machen.
Was aber 1998 ausschließlich für pflegende Angehörige gedacht war, wurde 2001 vom Bundessozialgericht
auf professionelle Pflegekräfte ausgeweitet. Dadurch
wurden Pflegebedürftige, die für bestimmte behandlungspflegerische Hilfeleistungen ambulante Dienste in
Anspruch nehmen mussten, finanziell zusätzlich belastet.
Da im SGB XI alle Leistungen bei häuslicher Pflege
je Pflegestufe gedeckelt sind, müssen die behandlungspflegerischen Maßnahmen aus dem jeweiligen Budget
bezahlt werden. Für Pflegebedürftige reduzierte sich die
Möglichkeit, Leistungen einzukaufen, bzw. sie mussten
erhebliche Zuzahlungen leisten.
Aus dem ursprünglich gerechten Ansatz war eine
Kostenverschiebung zulasten der Pflegeversicherung geworden. So konnte es zum Beispiel geschehen, dass bei
einem Leistungsvolumen der Pflegeversicherung von
384 Euro allein über 300 Euro für das tägliche An- und
Ausziehen der Kompressionsstrümpfe gebraucht wurden. Das sind bereits fast 80 Prozent der Mittel. Nicht
nur die betroffenen Menschen, auch die Pflegedienste
beschwerten sich in der Vergangenheit immer wieder
über diese Schieflage.
Wie sieht jetzt die Lösung aus, die der Freistaat Bayern vorschlägt? Die krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen sollen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt werden, wenn eine häusliche
Pflegeperson nachgewiesen wird; das heißt, dann wäre
die Pflegeversicherung für die Finanzierung zuständig.
Wird dies nicht nachgewiesen, besteht ein Anspruch an
die Krankenversicherung.
Damit wären wir formal wieder bei dem, was 1998
durch das Bundessozialgericht entschieden wurde. In der
Praxis bestünde - wieder - das Problem, dass die häusliche Situation, die sich ja jederzeit ändern kann, die
Grundlage für eine Begutachtung ist, wodurch ein ungeheurer Verwaltungsaufwand entstehen würde.
Was wird durch unsere Gesetzesmaßnahme ab dem
1. Januar 2004 konkret gelten? SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, die CDU/CSU und die Länder waren sich einig
- es kann dem Freistaat Bayern durchaus zugestanden
werden, hierfür den Anstoß gegeben zu haben -, in einem ersten richtigen Schritt in § 37 Abs. 2 SGB V zur
häuslichen Pflege ergänzend zu dem Satz
Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer
Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist.
anzufügen:
Der Anspruch umfasst das Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 auch in Fällen, in denen dieser Hilfebedarf
bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach
den §§ 14 und 15 des XI. Buches zu berücksichtigen ist.
Durch diese Ergänzung wird die Behandlungspflege
eindeutig der Leistungsverpflichtung der gesetzlichen
Krankenversicherung zugewiesen. Es wurde also die
teilweise erhebliche finanzielle Belastung für Pflegebedürftige zugunsten der Betroffenen geklärt.
({2})
Außerdem verursacht die klare Festlegung im GMG
keinen zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Ich darf es
an dieser Stelle nochmals betonen: Dem Anliegen von
Bayern wurde bei den Kompromissverhandlungen Rechnung getragen.
({3})
- Ja, das glaube ich auch. - Bundesministerin Ulla
Schmidt und Herr Seehofer - Letzterer kommt bekanntlich aus Bayern - haben dies gemeinsam geregelt.
({4})
Wenn es weitergehende Bestrebungen gegeben haben
sollte, wurden diese offensichtlich nicht von bayrischer
Seite eingebracht.
Das Ergebnis der Verhandlungen wurde von den
Fachverbänden, dem Bundesverband privater Anbieter
sozialer Dienste, der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtsverbände und anderen Verbänden begrüßt.
({5})
Mit der anstehenden Reform der Pflege ist das Ziel verbunden, weitere Leistungsverschiebungen zu korrigieren
und es nicht allein bei der behandlungspflegerischen
Maßnahme der Kompressionsstrümpfe zu belassen.
({6})
Es bleibt für mich nur noch eine letzte spannende
Frage: Warum wird dieses Thema heute hier von der
bayerischen Staatsministerin mit Sicherheit vehement
vertreten werden? Ich bin gespannt.
({7})
Im Vorfeld kann ich nur spekulieren: Kann es sein, dass
die Einigung im GMG den Freistaat überrascht hat und
die Staatsregierung für eine eventuelle Anweisung an die
Krankenkassen, alle Leistungen der medizinischen Behandlungspflege zu übernehmen, zum jetzigen Zeitpunkt
keine gesetzliche Grundlage hat?
({8})
Könnte mit diesem Gesetzentwurf vielleicht auch versucht werden, das, was das Bundessozialgericht durch
seine Rechtsprechung eingeleitet hat, nämlich die GKV
zulasten der Pflegeversicherung zu entlasten, umzukehren und eine Kostenverschiebung in die andere Richtung
zu unternehmen?
Uns wird in den nächsten Wochen die Reform der
Pflegeversicherung in hohem Maße beschäftigen.
({9})
Wenn wir die Grundsätze „ambulant vor stationär“ sowie „Prävention und Rehabilitation vor Pflege“ noch
stärker einfordern - diese Grundsätze sind bei uns allen
unumstritten -, brauchen wir einerseits klarere Abgrenzungen zwischen Leistungen der Kranken- und der Pflegeversicherung, andererseits aber auch eine Verbesserung der Übergänge, um die Pflegebedürftigen optimal
zu versorgen und ungerechte Lasten zu vermeiden.
Ich möchte alle an dieser Stelle herzlich einladen,
konstruktiv an der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung mitzuwirken. Auch die Länder sind hier in der
Verantwortung. Denn es heißt in § 9 des Pflege-Versicherungsgesetzes:
Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung
einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden
und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur.
Vielen Dank.
({10})
Für den Bundesrat erhält jetzt die Staatsministerin für
Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen des Freistaates Bayern, Frau Christa Stewens, das Wort.
Christa Stewens, Staatsministerin ({0}):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Mattheis, ich habe Ihnen sehr genau zugehört.
({1})
Sie sollten eigentlich wissen, dass Sie nicht schneller
waren. Denn unsere Initiative ist schon am 11. Juli dieses Jahres in den Bundesrat eingebracht worden.
({2})
Die Bayern sind also schneller und exakter.
Wenn Sie sich ein bisschen mit Pflege befasst haben,
dann sollten Sie wissen, dass die medizinische Behandlungspflege nicht nur aus dem An- und Ausziehen von
Kompressionsstrümpfen besteht.
({3})
Sie haben sich auf das GMG bezogen. Darin wurde lediglich das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen übernommen.
({4})
Deswegen ist es so wichtig, dass unsere Bundesratsinitiative Zustimmung findet. Denn Sie wissen ganz genau, dass die medizinische Behandlungspflege nicht
nur aus dem An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen besteht - natürlich beinhaltet sie auch das; das
ist gar keine Frage -,
({5})
sondern beispielsweise auch den Bereich der Schmerzmedikation, die Sekretabsaugung und das Anlegen eines
Einmalkatheters morgens und abends umfasst.
({6})
Auch das ist medizinische Behandlungspflege und keine
Grundpflege.
({7})
Deswegen, liebe Frau Kollegin, ist das in diesem Zusammenhang bestehende Problem mit dem GMG keineswegs beseitigt. Sie sollten sich ein Stück weit intensiver
mit den Problemen der Pflege in Deutschland befassen
und dann darüber reden.
({8})
Sie haben ausgeführt, dass Sie sich mit der Reform
der Pflegeversicherung beschäftigen werden. Dazu kann
ich Ihnen sagen: Wir werden schon in Kürze eine Reform der Pflegeversicherung auf den Tisch legen. Auch
hier werden wir weiter, schneller und auch besser - das
ist gar keine Frage - als die rot-grüne Bundesregierung
sein.
({9})
Frau Kollegin Mattheis, Sie selber haben auf das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 30. Oktober 2001
hingewiesen. Sie haben dargelegt - in der Beurteilung
der Lage sind wir uns durchaus einig -, dass die Leistungen der Pflegeversicherung im Bereich der ambulanten
Pflege - ich meine die Pflegestufe I und II - ein Stück
weit - ich sage das ganz offen - geplündert werden. Das
Staatsministerin Christa Stewens ({10})
Anlegen eines Einmalkatheters für eine Darm- oder Blasenentleerung in Verbindung mit der morgendlichen
Pflege - und nicht das An- oder Ausziehen eines Kompressionsstrumpfes - kostet 5,62 Euro. Wenn Sie das pro
Monat rechnen, belaufen sich die Kosten auch nach dem
In-Kraft-Treten des GMG, also nach dem 1. Januar 2004,
auf 800 Euro. Das sind in etwa 55 Prozent der Leistungen in der Pflegestufe III. Das ist die tägliche Realität in
der ambulanten Pflege. Das sollten Sie sich vor Augen
führen.
({11})
Dann sollten Sie auch ein Stück weit exakter arbeiten.
Es ist zwar gut, dass mit der Klarstellung im GMG ab
1. Januar 2004 das Aus- und Anziehen von Kompressionsstrümpfen - Kompressionsklasse 2 - in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen fällt. Aber
damit ist es bei weitem nicht getan. Auch die anderen
krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen müssen dorthin zurück, wo sie schon immer waren und wo sie sachlich hingehören,
({12})
nämlich in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die jetzige Regelung belastet die Pflegebedürftigen
- nicht die gesetzliche Krankenversicherung - auf eine
nicht vertretbare Art und Weise. Bitte sorgen Sie dafür,
dass der Wille des Gesetzgebers wieder zur Geltung
kommt und dass die Leistungen der Pflegeversicherung
bei häuslicher Pflege ausschließlich für die Grundpflege
verwendet werden können. Genau dafür ist die Pflegeversicherung gedacht gewesen.
In ihrer Stellungnahme zu dem vom Bundesrat beschlossenen Entwurf des Pflege-Korrekturgesetzes stellt
die Bundesregierung fest - Sie haben es heute eigentlich
wiederholt -, dass die gegenwärtige Praxis der sozialpolitischen Zielsetzung, nämlich der Stärkung der häuslichen Pflege, zuwiderläuft und aus diesem Grunde eine
gesetzgeberische Lösung im Interesse der Pflegebedürftigen geboten ist. Die Pflegebedürftigen sind die Ärmsten in dieser Gesellschaft, die sich oft überhaupt nicht
mehr selbst helfen können. Deswegen bedürfen sie unserer Hilfe und einer exakten gesetzlichen Klarstellung.
({13})
Dennoch plädiert die Bundesregierung für die Ablehnung des Gesetzentwurfes. Wenn Ihnen die Klarstellung
so sehr am Herzen liegt, dann kümmern Sie sich bitte
gleich darum. Sie argumentieren, dass es notwendig sei,
auch andere Möglichkeiten gesetzgeberischer Regelungen zu prüfen. Das haben wir alle schon einmal gehört.
Es wird ununterbrochen geprüft. Man will noch zielgenauer den Interessen der Pflegebedürftigen Rechnung
tragen. Aber ich sage Ihnen klipp und klar: Für diese Art
der Argumentation habe ich überhaupt kein Verständnis.
Das sind wieder nur taktische Spielchen, die hier gemacht werden und die letztendlich dazu dienen sollen,
den vorliegenden Gesetzentwurf auf die lange Bank zu
schieben. Ich muss Ihnen sagen: Sie handeln unaufrichtig.
({14})
Der Bund analysiert seit Jahren die völlig unzureichende Situation in der Pflege und diskutiert mitunter
auch über Maßnahmen, wie die in Deutschland bestehenden Probleme gelöst werden könnten.
({15})
Beschlüsse zur Umsetzung der diskutierten Maßnahmen
werden jedoch nur sehr selten gefasst.
Die Pflegeverbände waren natürlich bei mir, weil sie
wissen, dass sie in Bayern eine Sozialministerin haben,
die sich ganz intensiv mit der Situation der Pflege beschäftigt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollten zum Bund
gehen und dort ihre Interessen vorbringen. Das ist zumindest bei den Kompressionsstrümpfen ab Kompressionsklasse 2 wirkungsvoll gewesen. Aber Sie müssen
mehr machen.
Die Bundesfamilienministerin setzt jetzt einen runden
Tisch ein. Dort diskutiert man darüber, was geschehen
soll. Ich kann Ihnen sagen, was geschehen muss: Jetzt ist
nicht mehr die Zeit zum Diskutieren, sondern es ist die
Zeit zum Handeln. Taten sind gefragt und nicht nur
Worte.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Selg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde - lange sitze ich hier - hätte ich zu diesem
Thema beinahe selber Kompressionstrümpfe gebraucht.
({0})
Seit Einführung der Pflegeversicherung beschäftigt
uns die Schnittstelle zwischen Kranken- und Pflegeversicherung. Immer wieder klagen verschiedene Seiten,
dass die Krankenkassen versuchen, Kosten zulasten der
Pflegeversicherung zu verschieben. Das ist nichts Neues.
Immer wieder mussten sich in der Vergangenheit die Sozialgerichte mit der Frage beschäftigen, welcher Kostenträger unter welchen Bedingungen für die Finanzierung
bestimmter Leistungen zuständig ist.
Das Urteil des Bundesozialgerichts zu diesem
Thema, das - auch heute immer wieder - so genannte
Kompressionsstrümpfeurteil, ist die Grundlage der vorliegenden bayerischen Gesetzesinitiative, die jetzt auch
zu einem Gesetzentwurf des Bundesrates geführt hat.
Seit diesem Urteil des Bundessozialgerichts fällt die
Leistung des An- und Ausziehens von Kompressionsstrümpfen im ambulanten Bereich unter bestimmten VoPetra Selg
raussetzungen in den Leistungsbereich der Pflegeversicherung, obwohl sie eindeutig der Krankenversicherung
zugeordnet sein sollte. Die Folge ist, dass die Krankenkassen die Übernahme der Kosten für diese Leistung ablehnen. Letztendlich landen die Kosten meistens bei den
Pflegeversicherten, die sie aus eigener Tasche bezahlen
müssen.
Die Sachleistungen aus den jeweiligen Pflegestufen
decken heute meist nur einen Teil der Gesamtpflegekosten ab. Gleichzeitig ist das An- und Ausziehen von
Kompressionstrümpfen vergleichsweise teuer. In der
Folge werden die Pflegebedürftigen in der ambulanten
Pflege relativ stark belastet. Es sei hier noch einmal klar
gesagt: Diese von der Rechtsprechung angestoßene Entwicklung war vom Gesetzgeber nie gewollt. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind der Grundpflege und
der hauswirtschaftlichen Versorgung vorbehalten. Behandlungspflege ist ausschließlich Angelegenheit der
Krankenkassen. Deshalb besteht hier zweifellos Korrekturbedarf.
Der Bundesrat versucht jetzt allerdings auf denkbar
schlechte Weise, das bestehende Abgrenzungsproblem
zu beheben. Die Antwort auf die Frage, ob das An- und
Ausziehen von Kompressionsstrümpfen von der Kranken- oder von der Pflegekasse zu zahlen ist, soll nach
den Vorstellungen des Bundesrates von der häuslichen
Situation zum Zeitpunkt der Einstufung abhängig gemacht werden. Komplizierter kann man das nicht gestalten. Entscheidend wäre demnach, ob zum Zeitpunkt der
Einstufung im Haushalt des oder der Pflegebedürftigen
- kompliziert zu lesen - Angehörige oder andere Personen leben, die die behandlungspflegerischen Leistungen
erbringen. Das heißt aber, dass immer dann, wenn sich
die häusliche Situation ändert, zum Beispiel wenn der
Ehegatte stirbt, eine Neueinstufung vorgenommen werden müsste. Das ist nach unserer Ansicht viel zu umständlich und dient eher dem Aufbau zusätzlicher Bürokratie als der Entlastung pflegebedürftiger Menschen.
({1})
Seit Einführung der Pflegeversicherung haben wir
ständig irgendwelche Korrekturgesetze hinten angehängt,
was die Bürokratie ständig verstetigt hat. Von vielen Verbänden wird endlich einig gefordert, die Bürokratie abzubauen. Bei Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes
würde aber - das sei noch einmal gesagt - zusätzliche Bürokratie aufgebaut.
Außerdem - wie schon mehrfach gesagt - ist der Gesetzentwurf des Bundesrates überholt.
({2})
- Warum haben Sie denn nicht mehr mitgemacht? Sie
waren doch beteiligt.
({3})
Einen Teil des Problems, auf das der Bundesrat in seinem Entwurf abhebt, haben wir in der gerade abgeschlossenen Gesundheitsreform bereits gelöst. Dort haben wir den § 37 SGB V zur von den Krankenkassen zu
leistenden häuslichen Krankenpflege neu gefasst.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte, Herr Zöller.
Können Sie mir bitte bestätigen, dass das Land Bayern schon vor zwei Jahren einen Antrag eingebracht hat,
um die Verbesserung der Behandlungspflege sauber zu
regeln? Sie brauchen nur Ja zu sagen.
Da gebe ich Ihnen durchaus Recht, Herr Zöller.
({0})
Aber im Zusammenhang mit dem GMG, das wir jetzt beschlossen haben, möchte ich schon darauf hinweisen,
dass wir die Behandlungspflege innerhalb der Pflegeversicherung durch das GMG neugeregelt haben - darauf
komme ich noch zurück - und dass wir das Thema Kompressionsstrümpfe jetzt eindeutig in § 37 geregelt haben.
({1})
Damit ist jetzt klargestellt, dass der Anspruch auf
häusliche Krankenpflege und damit die Leistungspflicht
der Krankenkassen in Zukunft auch das An- und
Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse 2
umfasst. Das gilt auch für die Fälle, in denen dieser
Hilfsbedarf bei der Einstufung der Leistungen der Pflegeversicherung zu berücksichtigen ist. Damit ist diese
behandlungspflegerische Leistung eindeutig der Krankenversicherung zugeordnet. Der Vorteil gegenüber der
im Bundesratsentwurf vorgeschlagenen Regelung ist,
dass gleichzeitig kein zusätzlicher Verwaltungsaufwand
entsteht.
Ob das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen von Kranken- oder Pflegekassen zu zahlen ist, hängt
auch nicht von der häuslichen Situation zum Zeitpunkt
der Einstufung ab. Deshalb ist auch keine Neueinstufung
erforderlich, wenn sich die häusliche Situation ändert.
Die im Rahmen der Gesundheitsreform getroffene Regelung entspricht daher dem Anspruch der Bundesregierung, Bürokratie abzubauen und zu vermeiden. Der Bundesrat würde mit seinem Entwurf genau das Gegenteil
erreichen.
Mein Fazit lautet deshalb: Erstens. Der Entwurf des
Bundesrates ist umständlich und zu bürokratisch. Zweitens. Wir haben das Problem, das gerade angesprochen
worden ist, bereits im Rahmen der Gesundheitsreform
auf wesentlich elegantere Art und Weise gelöst. Drittens.
Wir erarbeiten gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes für 2004 eine Reform der Pflegeversicherung, womit wir Regelungen zur besseren Verzahnung
und Vernetzung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung treffen
werden.
Ich glaube, dass die Reform der Pflegeversicherung
bei uns weitaus besser aufgehoben ist. Wir betreiben
keine taktischen Spielchen. Wenn ich mir die Vorschläge
der Herzog-Kommission zur Pflegeversicherung anschaue, kann ich nur sagen: Gute Nacht Deutschland!
Gute Nacht den Pflegebedürftigen!
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Daniel Bahr.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bitte angesichts der Zeit und angesichts der Ernsthaftigkeit des Themas Kompressionsstrümpfe nicht ins Lächerliche zu ziehen. Sowohl für die Betroffenen als auch
für die Familien ist das ein sehr ernstes Thema.
Leistungsverschiebungen zwischen Kranken- und
Pflegeversicherung sind an der Tagesordnung und sorgen immer wieder für Unmut. Der Bundesrat hat die Initiative zum Pflege-Korrekturgesetz mit dem Ziel ergriffen, gesetzlich eindeutig zu regeln, in welchen Fällen die
Pflegekassen die Kosten für die Erbringung von Leistungen der Behandlungspflege bei ambulant versorgten
pflegebedürftigen Personen übernehmen.
Die Rechtsprechung hat zur Verschiebung von Leistungen durch die Krankenversicherung in die Pflegeversicherung geführt. Die Möglichkeit zur Kostenverlagerung ist durch § 37 Abs. 3 SGB V gegeben. Durch
diesen Paragraphen wird die häusliche Krankenpflege
als Leistung der Krankenkasse ausgeschlossen, wenn
eine im Haushalt lebende Person den Kranken im erforderlichen Umfang pflegen und versorgen kann. Dieser
Tatbestand wurde vom Bundessozialgericht sogar auf
Sachverhalte ausgedehnt, in denen der Pflegebedürftige
die ambulanten Leistungen durch professionelle Pflegekräfte bezog. Dies wurde teilweise im Rahmen des Gesundheitssystemmodernisierungsgesetzes geändert. Das
ist - das wurde bereits gesagt - sehr löblich, reicht aber
nicht aus. Deswegen müssen wir weitere Anstrengungen
unternehmen, um den gesamten Bereich der Behandlungspflege auszubauen.
Die Rechtsauffassung der Gerichte widerspricht der
eigentlichen Intention der Pflegeversicherung. Die Pflegeversicherung ist grundsätzlich nicht für die Leistungen
der Behandlungspflege zuständig, sondern für Leistungen der Grundpflege sowie der hauswirtschaftlichen
Versorgung. Da die Pflegeversicherung nur einen Teilkaskocharakter besitzt und damit nur Leistungen bis zu
einem festgesetzten Höchstsatz übernimmt, sind von den
Leistungsverschiebungen vor allem chronisch Kranke
sowie multimorbide Pflegebedürftige betroffen. Für
diese Personen erzeugt die Rechtsprechung unter Umständen erhebliche finanzielle Belastungen.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf soll die
Rechtssicherheit gestärkt und vor allem die finanzielle
Belastung der Pflegebedürftigen rückgängig gemacht
werden. Gleichzeitig wird die Leistungsfähigkeit der
ambulanten Pflegedienste gestärkt. Ich finde, das sind
hehre Ziele und hehre Maßnahmen, die wir unterstützen
sollten.
Kernaussage des Gesetzentwurfes ist, dass bei der
Einstufung in eine Pflegestufe der Zeitaufwand für erforderliche Leistungen der Behandlungspflege nur unter
bestimmten Voraussetzungen zu berücksichtigen ist, und
zwar - erstens - wenn der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil der Grundpflege ist
oder mit diesem in einem objektiv notwendigen und unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang steht und - zweitens - wenn eine im Haushalt des Pflegebedürftigen lebende Person die Behandlungspflege erbringen kann.
Wir haben zum vorgelegten Entwurf noch einige Fragen. In diesem Gesetzentwurf werden aber wesentliche
Problemfelder angesprochen und es wird Handlungsbedarf aufgezeigt. Auf jeden Fall wäre es eine Verbesserung der aktuellen Praxis, wenn dieser Gesetzentwurf im
Bundestag eine Mehrheit finden würde.
({0})
Nur das wird die entscheidende Frage für meine Fraktion
bei der Abstimmung über dieses Gesetz sein.
Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Koalitionsfraktionen, es ist richtig, dass im Rahmen des GMG eine
kleine Verbesserung erreicht wurde. Angesichts der Probleme und Herausforderungen, vor denen wir stehen,
reicht das aber nicht aus. Wir warten auf Ihre Vorschläge. Wir wollen nicht zu lange warten. Deswegen
hoffen wir, dass im Rahmen der Anhörung noch viele
Fortschritte erreicht werden und dass Sie sich vielleicht
doch noch überzeugen lassen, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir werden diesen Gesetzentwurf in der Anhörung auf jeden Fall kritisch-konstruktiv begleiten.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich danke auch und schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-SonVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
dervermögens für das Jahr 2004 ({0})
- Drucksache 15/1468 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({1})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Hier haben die Abgeordneten Skarpelis-Sperk, Otto
Bernhardt, Hans-Josef Fell und Christoph Hartmann ge-
beten, die Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) - Sie
sind offensichtlich damit einverstanden. Dann verfahren
wir auch so.
1) Anlage 10
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/1468 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit - überraschenderweise - am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 7. November 2003,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den
Besuchern auf den Tribünen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.