Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/24/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta- gesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführ- ten Punkte zu erweitern: ZP 5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 15/1830 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 15/1831 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung - Drucksache 15/1810 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Rentenreform des Jahres 2001 und zur Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung - Drucksache 15/1832 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Die Abgeordnete Lötzsch hat Widerspruch gegen die Aufsetzung der Rentengesetze angemeldet und verlangt eine Geschäftsordnungsdebatte. Das Wort zur Geschäftsordnung erteile ich der Kollegin Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen von Petra Pau und mir, also namens der PDS im Bundestag, beantrage ich die Absetzung des Zusatzpunktes Rente von der Tagesordnung. Die Gesetzentwürfe sind erst gestern Abend von den Regierungsfraktionen beschlossen und danach dem Parlament zugeleitet worden. Um 23.30 Uhr wurden sie vom Etagenservice bei uns verteilt. Gestern Vormittag wurde uns ein noch nicht bestätigter Entwurf zugestellt. Aber wir reden hier im Deutschen Bundestag nicht über Dinge, die einfach so entworfen wurden, sondern über Vorlagen, die dem Parlament entsprechend den Regeln der Geschäftsordnung zugeleitet wurden. Ich betone das so ausdrücklich, weil mir bei ähnlicher Gelegenheit - es ging um die Gesundheitsreform - der Parlamentarische Geschäftsführer der SPDFraktion Wilhelm Schmidt meinte vorwerfen zu müssen, Redetext ich wolle durch Verfahrenstricks Reformen in Deutschland verhindern. Diesen Vorwurf will ich für die heutige Debatte vorsorglich zurückweisen. Wo kommen wir denn hin, wenn diejenigen, die die Einhaltung einiger weniger Grundregeln fordern, als Trickser bezeichnet werden und diejenigen, die die Regeln verletzen, also Gesetze erst um Mitternacht zuleiten, andere der Trickserei bezichtigen dürfen! ({0}) Ich wundere mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, dass Sie dieses Spiel mitmachen. Ohne Ihr Einverständnis könnten die Regierungsfraktionen nicht so mit dem Parlament verfahren. Aber wie ernst nehmen Sie sich noch als Parlamentarier? Meine Damen und Herren von der Koalition, es geht doch wohl vor allen Dingen um Druck auf die eigenen Fraktionskollegen. Angebliche Alternativlosigkeit soll mit Zeitdruck untermauert werden. Ich kann Ihnen das an einem Beispiel erläutern. Heute Morgen hörte ich im Radio einen Tipp der Verbraucherzentrale. Dabei ging es um das Locken mit Rabatten. Küchen werden um 40 Prozent günstiger angeboten, aber nur heute. Ein Mitarbeiter der Verbraucherzentrale erklärte, dabei handele es sich um psychischen Druck, dem viele erliegen würden. Später werde der Kauf bereut. Bei uns geht es aber nicht um den Kauf einer Küche für die eigene Wohnung, sondern um Entscheidungen, die das Leben von Millionen Menschen in diesem Land betreffen. Dabei ist Seriosität und Gründlichkeit angesagt. Deshalb verlangen wir die Absetzung der Beratung über die Schnellschussgesetze von der heutigen Tagesordnung. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Uwe Küster, SPDFraktion.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die fraktionslosen Abgeordneten widersprechen der Aufsetzung zweier Gesetzentwürfe zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Mit diesen Gesetzen sollen kurzfristige Maßnahmen im Bereich der Rentenversicherung ergriffen werden. Es soll sichergestellt werden, dass der Rentenversicherungsbeitrag stabil bei 19,5 Prozent bleibt. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die beiden Gesetzentwürfe noch in diesem Jahr beschlossen werden. Trotz unterschiedlicher Haltung in der Sache sind alle Fraktionen einverstanden, dass wir heute in die erste Beratung eintreten und unverzüglich mit den Ausschussberatungen beginnen. Ich halte dies für sehr angemessen und es ist auch verfahrensökonomisch gut, weil wir auf diese Art und Weise eine Sondersitzung am kommenden Dienstag vermeiden. Wenn wir heute in die erste Beratung eintreten und dann mit den Ausschussberatungen beginnen, können wir die nächste Woche für Anhörungen und andere Dinge nutzen. Die hier zu beratenden Gesetzentwürfe sind auch den fraktionslosen Abgeordneten, wie sie auch bestätigt haben, gestern früh vorab zugeleitet worden. Sie hatten genügend Zeit, die Gesetzentwürfe zur Kenntnis zu nehmen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und ihre Haltung dazu zu erarbeiten. Der Geschäftsordnungsantrag der beiden fraktionslosen Abgeordneten ist demnach abzulehnen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Aufsetzung, wobei von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden soll. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag auf Aufsetzung der Zusatzpunkte 5 a bis 5 d mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden fraktionslosen Abgeordneten beschlossen. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({1}) vom 20. Dezember 2001, 1413 ({2}) vom 23. Mai 2002, 1444 ({3}) vom 27. November 2002 und 1510 ({4}) vom 13. Oktober 2003 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen - Drucksachen 15/1700, 15/1806 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({5}) Dr. Friedbert Pflüger Dr. Ludger Volmer Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1822 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Hermenau Lothar Mark Herbert Frankenhauser Dietrich Austermann Jürgen Koppelin Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen. Präsident Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Peter Struck das Wort. ({7})

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die internationale Staatengemeinschaft steht an einem Wendepunkt in ihrer Afghanistanpolitik. Sie geht neue Wege, um Stabilität und Sicherheit im ganzen Land voranzubringen. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, übernehmen heute zusätzliche Verantwortung auf der Grundlage der neuen Resolution des Sicherheitsrates vom 13. Oktober. Deutschland hat eine besondere Verantwortung für dieses Land - historisch bedingt, aber auch bedingt durch die Petersberg-Konferenz, die wir in unserem Land durchgeführt haben. Wir beteiligen uns an dem ISAF-Mandat - wir haben die Leitfunktion für das Mandat übernommen -, wir sind federführend bei dem Aufbau der Polizei und wir leisten andere Unterstützungen für dieses arme, geschundene Land. Der Erfolg des ISAF-Prozesses in Afghanistan lässt sich sehen. Ich bin jedem Kollegen und jeder Kollegin aus diesem Hause dankbar, die unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan besuchen, weil sie dort selbst erleben können, welch wichtige Aufgabe die Bundeswehr in diesem Land wahrnimmt. ({0}) Die Angehörigen der Bundeswehr in Afghanistan sind keine Besatzungssoldaten, sondern sind Helfer in Uniform. ({1}) Das wird einem täglich deutlich, wenn man, wie ich, öfter in diesem Land ist und in die Augen der Menschen in Afghanistan blickt. Das Land ist allerdings noch nicht befriedet. Zeichen der Stagnation sind unübersehbar und es besteht die Gefahr von Rückschlägen. Es geht uns mit unserer Initiative, die die Vereinten Nationen dankenswerterweise aufgegriffen haben, darum, die Durchsetzungsfähigkeit der Zentralregierung zu erhöhen. Außerdem wollen wir den Verfassungsprozess und die Wahlen im nächsten Jahr aktiv begleiten und unterstützen. Zurzeit sind etwa 1 800 Soldaten im Rahmen des vom Bundestag beschlossenen Mandates in Kabul stationiert. Das Vertrauen gegenüber deutschen Soldaten ist dort sehr viel höher als gegenüber denen einiger anderer Nationen. Deshalb wollen wir diese besondere Verantwortung auch übernehmen. Die Bundesregierung hat sich entschieden, dies alles unter dem Mandat der internationalen Schutz- und Aufbautruppe ISAF als eine so genannte ISAF-Insel in der Provinz Kunduz zu beginnen. Damit gehen wir einen neuen Weg. Bei dem vom Bundestag beschlossenen Mandat für ein Jahr wird man sicherlich auch erleben können - das will ich gerne zugestehen -, dass wir noch einiges ändern müssen. Wir gehen bei unserem Einsatz in diesem Land auch nach der Methode „learning by doing“ vor. Unser Konzept für die so genannten Wiederaufbauteams unterscheidet sich von dem, was die Amerikaner bisher hatten. Der Bevölkerung soll eine Friedensperspektive aufgezeigt werden, um damit radikalen Elementen in diesem Land den Boden zu entziehen. Deshalb steht bei unserem Konzept der zivile Wiederaufbau im Vordergrund. ({2}) Es ist, auch in den Ausschüssen, oft die Frage gestellt worden, warum wir ausgerechnet Kunduz gewählt haben. Wie Sie wissen, haben wir von Erkundungsteams die Lage auch in anderen Regionen dieses Landes untersuchen lassen. Für Kunduz sprechen die Sicherheitslage und die Kooperationsbereitschaft der lokalen Autoritäten. Darüber hinaus gibt es in der Provinz Kunduz wie in den drei benachbarten Provinzen - der Bundestag erteilt das Mandat für die ganze Region Kunduz - gute Chancen für den Wiederaufbau. Ich kann nicht verstehen, dass uns vorgeworfen wird, wir hätten uns bewusst für eine relativ sichere Region entschieden. In Afghanistan ist alles relativ. Dass man von Stabilität und Sicherheit in unserem Sinne im ganzen Land nicht sprechen kann, weiß jeder, der die Nachrichten sieht. Ich als Bundesminister der Verteidigung habe die Verantwortung für das Leben der Soldatinnen und Soldaten. Deswegen bin ich froh, dass wir nicht in eine Region gehen, in der man jeden Tag mit Anschlägen auf die Bundeswehrangehörigen rechnen muss. Wir wissen dass es nicht ungefährlich ist. Ich denke, jedes Mitglied dieses Hauses, das diesem Mandat zustimmen wird, ist sich der Verantwortung bewusst. Ich habe auch Verständnis für die Kolleginnen und Kollegen - das will ich hier ausdrücklich sagen -, die sich aus bestimmten Gründen nicht entschließen können, diesem Einsatz zuzustimmen. Ich finde, das muss jeder mit sich selbst abmachen. Trotzdem glaube ich, dass wir mit diesem Konzept dem Land helfen und verhindern können, dass dieses Land Ausgangsbasis für terroristische Aktivitäten in der Welt wird. ({3}) In Afghanistan ist der Einsatz insgesamt acht solcher Wiederaufbauteams geplant. Einige sind sogar schon vorhanden. Die USA haben in Kunduz, Gardez, Jalalabad je ein Team; wir übernehmen von ihnen den Einsatzort Kunduz. Von den USA sind weitere Teams in Herat, Kandahar und Charikar geplant. Neuseeland übernimmt ein Team in Bamian. Großbritannien hat ein solches Team in Mazar-i-Scharif schon installiert. Aufgaben unserer Soldatinnen und Soldaten in Kunduz sind, durch Patrouillenfahrten und -gänge einen Beitrag zur Herstellung eines sicheren Umfeldes für die zivilen Wiederaufbauhelfer zu leisten, die afghanischen Sicherheitskräfte bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu unterstützen und die zivilen Wiederaufbauhelfer zu schützen. Wir werden, wenn es sich im Laufe des nächsten Jahres ergibt, auch so genannte zivil-militärische Aktivitäten in den Provinzen installieren. Aufgabe der Angehörigen der Bundeswehr ist ausdrücklich nicht die Drogenbekämpfung; das will ich vor dem Plenum betonen. Dafür sind die Soldatinnen und Soldaten nicht da. Die Drogenbekämpfung ist Aufgabe der afghanischen Kräfte, der afghanischen Polizei und der afghanischen Armee, und Aufgabe der Führungsnation Großbritannien, die sich dazu verpflichtet hat, Hilfe zu leisten. Wir werden in ganz Afghanistan, also außerhalb von Kunduz, nur in einem Ausnahmefall Soldatinnen und Soldaten einsetzen. Das betone ich hier, weil das in den Diskussionen in den Fraktionen eine Rolle gespielt hat. Die Debatten, die von den Fraktionen dazu angeregt worden sind, waren für die Erkenntnisbildung der Bundesregierung durchaus hilfreich. Es wird voraussichtlich Mitte des nächsten Jahres Wahlen in Afghanistan geben. Wir wollen im Rahmen des Mandats mit militärischem Personal diese Wahlen absichern und Unterstützung leisten. Ich sage hier, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die in diesem Land außerhalb von Kabul oder Kunduz tätig werden sollen, das nur dürfen, wenn ich die Genehmigung dazu erteile. Dies wird also unter dem Genehmigungsvorbehalt des Ministers stehen. Ich werde die Fraktionen des Deutschen Bundestages vor der Erteilung einer solchen Genehmigung über die gegebene Situation informieren. Ich versichere auch, dass ich eine solche Genehmigung nicht erteilen werde, wenn es aus dem Kreise der Fraktionen erhebliche Bedenken geben sollte. ({4}) Wir streben auch die Beteiligung anderer Nationen an unserem Wiederaufbauteam in Kunduz an. Ich habe mit den Kolleginnen und Kollegen aus unseren europäischen Nachbarstaaten viele Gespräche geführt. Wenn der Bundestag heute entsprechend beschließt, werden sofort konkrete Gespräche mit den Nationen aufgenommen. Interesse an einer Beteiligung an unserem Team haben die Niederlande, Belgien, Norwegen, Schweden, Finnland, Italien und Tschechien angemeldet. Vielleicht kommt auch noch das eine oder andere Land hinzu. Es geht nicht darum, dass dadurch das Kontingent der Bundeswehr von zunächst geplanten 230 Soldaten deutlich verringert werden könnte, sondern es geht darum, dass wir den Afghanen in Kunduz über Verbindungselemente und über die Beteiligung auch nur einiger weniger Soldaten aus anderen Ländern deutlich machen, dass nicht nur Deutschland, sondern auch viele andere Staaten diesem Land aus seiner Misere und aus seinen Schwierigkeiten heraushelfen wollen. ({5}) In unserem letzten bilateralen Gespräch haben wir mit den Vereinigten Staaten vereinbart, dass es in Kunduz ein US-Verbindungselement geben wird und dass im Notfall - wie auch in Kabul - Hilfe bei der Evakuierung deutscher Staatsbürger, auch deutscher Soldaten, geleistet wird. Russland und Frankreich haben sich bereit erklärt, durch ein Transitabkommen bzw. durch die Bereitstellung von Transportkapazitäten nach Kabul und Kunduz Unterstützung zu leisten. Im Rahmen des ISAF-Mandats sind in Kabul gegenwärtig insgesamt 32 Nationen - 18 davon sind NATO-Staaten - tätig. Die Führungsverantwortung bleibt bei der NATO; Kunduz wird integriert. Die Planungen in der NATO sind weit fortgeschritten und werden in Kürze abgeschlossen sein. Meine Damen und Herren, ich betone auch, dass es eine klare Abgrenzung zwischen den Operationen ISAF und Enduring Freedom gibt. Das Aufbauteam in Kunduz steht unter dem Mandat von ISAF - also Internationale Schutz- und Aufbautruppe - und damit unter der militärischen Verantwortung der NATO. Wenn der Bundestag heute Mittag entsprechend beschließt, werden wir unverzüglich ein Vorkommando von 27 Soldaten auf den Weg schicken, das die technischen Fähigkeiten abzuklären hat. Sie werden also heute Mittag fliegen und abklären, wo unsere Soldaten untergebracht werden können und wie der Aufwuchs vonstatten gehen kann. Die Erweiterung dieses Bundeswehreinsatzes wird nicht ohne finanzielle Konsequenzen bleiben. Aufgrund entsprechender Fragen - diese wurden auch gestern im Haushaltsausschuss gestellt - will ich deutlich betonen, dass wir alles tun werden, was für die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten erforderlich ist. Trotz der bekannten finanziellen Zwänge ist dieses Mandat auch finanziell abgesichert. Ich erkläre, dass alle Soldatinnen und Soldaten, die in Kunduz tätig sein werden, genauso wie diejenigen, die in Kabul, auf dem Balkan oder am Horn von Afrika tätig sind, mit dem Material und den Systemen ausgestattet werden, die sie benötigen, um ihren Auftrag zu erfüllen, und durch die ihre persönliche Sicherheit bestmöglich garantiert werden kann. ({6}) In den nächsten Monaten werden wir sehen, ob das von Deutschland begonnene Experiment, den zivilen Wiederaufbau in den Vordergrund der Aktivitäten in Afghanistan zu stellen, gelingt oder nicht. Es wird umso besser gelingen können, wenn der Deutsche Bundestag den Soldatinnen und Soldaten ein möglichst breites Unterstützungsvotum mit auf den Weg gibt. Darum bitte ich Sie sehr herzlich. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Antrag der Bundesregierung zu. ({0}) Die Entscheidung fällt allen Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht leicht. Ich füge hinzu: Die Bundesregierung hat uns die Entscheidung auch nicht leicht gemacht. Die Entscheidung fällt uns nicht leicht, weil es ein gefährlicher Einsatz für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist; der Verteidigungsminister hat dies bereits gesagt. Auch wenn die Lage in Kunduz relativ stabil ist, bleibt es ein risikoreicher und übrigens auch entbehrungsreicher Einsatz. Die Entscheidung ist uns aber auch deshalb nicht leicht gefallen, weil die Bundesregierung - das muss ich zu dieser Stunde sagen - in der Begründung ihrer Anträge nicht sorgfältig gearbeitet hat, was künftige Zustimmungen zu solchen Einsätzen angeht. ({1}) Vor der Sommerpause gab es eine Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden, bei der auch die Zustimmung für eine Erkundungsmission nach Herat erbeten wurde. Ein wirkliches Ergebnis der Erkundungsmission nach Herat haben wir nie bekommen. Stattdessen haben wir gehört, dass ein Einsatz in Kunduz geplant ist. Ich respektiere all das, was der Verteidigungsminister eben gesagt hat. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass nicht alle Menschen in unserem Lande verstanden haben, warum nach Herat eine zivile Mission ohne militärischen Schutz durch die Bundeswehr entsandt wird, während in das stabilere Kunduz eine zivile Mission mit militärischen Schutz durch die Bundeswehr entsandt wird. Wir bräuchten eine sorgfältiger erarbeitete Erklärung dafür, um insbesondere die Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Entwicklungshilfe besser davon überzeugen zu können, als dies bisher offensichtlich - auch nach jüngsten Meldungen - gelungen ist. ({2}) Wir haben auch nie eine wirklich überzeugende Erklärung dafür bekommen, was sich in dem PetersbergProzess eigentlich verändert hat. Insbesondere Sie, Herr Bundesaußenminister, haben noch im Dezember des vergangenen Jahres amtlich erklärt, dass eine Ausweitung des Bundeswehrengagements in Afghanistan über Kabul hinaus im Rahmen des ISAF-Prozesses nicht infrage komme. Das hat sich geändert. Daher muss darüber geredet werden, welche Erwartungen, die mit den Afghanistan-Konferenzen auf dem Petersberg verbunden waren, sich nicht erfüllt haben und was wir nun machen müssen, damit der Westen und die freie Welt in Afghanistan nicht scheitern. Deswegen stimmen wir, obwohl Sie es uns nicht leicht gemacht haben, Ihrem Antrag zu. Ich will eine Bemerkung hinzufügen: Es ist in Ordnung, dass der Verteidigungsminister jetzt eine Eingrenzung der Ausweitung des Mandats über die Region Kunduz hinaus vorgenommen hat. Die Opposition hat aber erst durch den Antrag erfahren, dass eine solche Ausweitung vorgesehen war. Es gab keine Unterrichtung seitens der Bundesregierung; noch nicht einmal der Ausschuss ist darüber informiert worden. ({3}) - Das war so, gnädige Frau Kollegin. Wenn wir das nicht geklärt hätten, wäre es nicht geklärt worden. Dass dies aber geklärt werden musste, hat der Verteidigungsminister soeben gesagt. Arbeiten Sie bitte in der Zukunft sorgfältiger, meine Damen und Herren von der Bundesregierung! ({4}) Herr Kollege Erler, wir schicken Soldaten der Bundeswehr in einen gefährlichen Einsatz. ({5}) Wir machen es uns als Opposition nicht leicht; aber stimmen diesem Antrag zu. Es ist aber wirklich nicht zu viel verlangt, wenn wir von der Bundesregierung die notwendige Sorgfalt bei der Vorbereitung solcher Entscheidungen einfordern. Das sollten Sie respektieren und unterstützen. ({6}) Wir stimmen dem Antrag zu, weil es falsch wäre, sich aus Afghanistan zurückzuziehen, und weil es richtig ist, dass das ISAF-Mandat, begrenzt auf Kabul, im Prozess der Stabilisierung Afghanistans über Kabul hinaus seine Begründung verliert. Wir stehen vor der Alternative, uns entweder aus Afghanistan zurückzuziehen oder über Kabul hinaus für Stabilität zu sorgen. Daher ist die Erweiterung und Fortsetzung der Beteiligung richtig. Wir werden dem Antrag zustimmen. Ein Rückzug aus Afghanistan wäre eine dramatische Niederlage im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Herr Verteidigungsminister, diese Abstimmung ist keine einfache Frage, bei der Sie so einfach hinnehmen können, dass Mitglieder dieses Hauses eine andere Meinung haben. Wir alle stehen in der Verantwortung für diese Entscheidung, bei der es um die Sicherheit der Menschen auch in Deutschland geht. Wenn der internationale Terrorismus obsiegen würde, wäre die Sicherheit nicht nur in Amerika und Afghanistan, sondern auch in Europa bzw. in Deutschland gefährdet. Deswegen stimmen wir dem Antrag zu. Diese Zusammenhänge muss sich jeder klar machen. ({7}) Wir werden - das ist seit den Petersberg-Konferenzen deutlich geworden; das gilt für das Bemühen um eine globale Weltordnung insgesamt - respektieren und akzeptieren müssen, dass sich ein Land wie Afghanistan nicht nach unseren Vorstellungen von staatlicher Organisation in Europa entwickeln wird. Entwicklungsstand, kulturelle Erfahrungen und Herkunft sind völlig unterschiedlich. Wer glaubt, man könne mit noch so viel Bemühen Afghanistan zu einem Land machen, das unseren Vorstellungen von einem Land in Europa entspricht, der wird scheitern; denn das wird in Afghanistan nicht gelingen. Wenn ich sage, dass wir das respektieren müssen, dann müssen wir aber auch Folgendes zur Kenntnis nehmen: Wir können und dürfen bei allen Unterschieden in Kultur, Tradition, Herkunft, Erfahrung und Entwicklungsstand nicht akzeptieren, dass ein Land wie Afghanistan zur Basis für die Ausbildung von Terroristen wird, die die Sicherheit der Menschen überall in der Welt bedrohen. Auch können wir als Weltgemeinschaft nicht akzeptieren, dass Länder zur Versorgung der Menschheit mit lebensgefährdenden Drogen beitragen. Es ist richtig - diese Klarstellung haben Sie vorgenommen; darin stimmen wir überein -, dass die Soldaten der Bundeswehr den Drogenanbau nicht mit den militärischen Mitteln der Bundeswehr bekämpfen können. Das wäre unverantwortlich. Die Mittel dafür wären völlig unzureichend. Das ist nicht möglich. Richtig ist aber auch - das ist das Problem mit Herat und Kunduz und den Veränderungen nach dem Petersberg-Prozess; darüber muss ebenso gesprochen werden -, dass wir bei aller Kooperation mit den lokalen Machthabern, mit denen wir zusammenarbeiten müssen, um die Soldaten nicht in unvertretbare Risiken zu schicken, verlangen müssen, dass sie zum einen nicht mit Terroristen zusammenarbeiten und zum anderen nicht den Drogenanbau fördern und davon profitieren. Sie müssen ihn vielmehr bekämpfen. Es macht keinen Sinn, Polizeikräfte auszubilden, wenn die Machthaber trotzdem vom Drogenanbau profitieren. ({8}) Die Bundesregierung muss ein Konzept entwickeln und vorlegen. Das kann sie nicht allein machen. Sie muss in internationaler Zusammenarbeit dafür sorgen, dass durch Druck auf die lokalen Machthaber und die Anrainerstaaten sichergestellt wird, dass Afghanistan nicht in noch stärkerem Maße zum Drogenlieferanten der Menschheit wird. Als ich als Bundesinnenminister - das ist schon einige Jahre her - an einer Sondervollversammlung der Vereinten Nationen in New York teilgenommen habe, war das Hauptthema Nummer eins die Weltdrogenbekämpfung. Wir dürfen dies heute auch in Afghanistan nicht als nachrangiges Problem betrachten. Deswegen erwarten wir von der Bundesregierung bessere und mehr konzeptionelle Überlegungen, wie es mit dem Drogenanbau in Afghanistan weitergeht. Es darf nicht sein, dass wir für mehr Stabilität sorgen, damit der Drogenanbau in Afghanistan erleichtert wird. Das wäre eine falsche Entwicklung. Dieses Problem darf man nicht vernachlässigen. ({9}) Dafür brauchen wir in internationaler Zusammenarbeit ein Konzept. Wir stimmen dem Antrag zu, weil das Parlament letzten Endes keine internationale Zusammenarbeit leisten kann. Dafür haben wir eine Regierung, die dies gut oder schlecht machen kann. Mit unserer Zustimmung zu ihrem Antrag werden wir die Regierung nicht von der Verpflichtung entbinden, dass nur sie für eine zielführende Konzeption verantwortlich ist, mit der wir den Soldaten der Bundeswehr genau erklären können; was sie im Hinblick auf die Entwicklung in Afghanistan leisten. In welchem Zeitraum erwarten wir eine Entwicklung in Afghanistan, die ermöglicht, dass man den Soldaten der Bundeswehr sagen kann: Ihr habt euren Auftrag erfolgreich erfüllt? - Wir brauchen Ziel und Perspektive. Von dieser Verantwortung kann die Bundesregierung auch nicht durch die Zustimmung des Bundestages entbunden werden. Das muss klargestellt sein. ({10}) Ihren Äußerungen zur Finanzierung des Einsatzes, Herr Bundesverteidigungsminister, stimmen wir zu, weil wir davon überzeugt sind, dass die Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen und in andere Einsätze mit unserer Zustimmung entsenden, in der Tat so ausgestattet sind, dass sie ihren Einsatz erfüllen können und dass sie, soweit es überhaupt möglich ist, vor persönlichen Risiken geschützt sind. Wären wir davon nicht überzeugt, würden wir dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen. Aber das Problem der Finanzierung der Bundeswehr ist damit natürlich nicht erledigt. Es reicht eben nicht aus, die Soldaten, die wir in Auslandseinsätze entsenden, so auszustatten, dass sie diese Einsätze erfüllen können, den Rest der Bundeswehr in Deutschland aber mehr oder weniger vor die Hunde gehen zu lassen. Das ist nämlich das Problem. Wenn Sie sagen, dass Sie im Zuge der parlamentarischen Beratungen für eine Finanzierung der Bundeswehr sorgen - gleichwohl sagt der Antrag der Bundesregierung zur Finanzierung überhaupt nichts aus; deswegen können unsere Kollegen im Haushaltsausschuss dem ja auch nicht zustimmen -, gleichzeitig aber beim nächsten Tagesordnungspunkt, im Zusammenhang mit der Rentendebatte, eine globale Minderausgabe beschließen, von der auch der Verteidigungshaushalt betroffen ist, ({11}) dann ist das ein bisschen zu wenig. Ich will den Zusammenhang darstellen. Letzten Endes leisten die Soldaten der Bundeswehr den Dienst für die Sicherheit unseres Landes und für die Sicherheit unserer Menschen, also von uns allen. Sie leisten einen gefährlichen Dienst; wir schulden ihnen dafür Dank und Fürsorge. Sie leisten diesen Dienst in Afghanistan und auf dem Balkan - aber sie leisten ihn auch in Deutschland. Auch dafür muss die Bundeswehr ausgestattet bleiben. Wenn Sie beides nicht miteinander verbinden, dann erfüllen wir zwar unsere Fürsorgepflicht für die Soldaten in Afghanistan, aber nicht mehr für die Soldaten in Deutschland. Auch das geht nicht zusammen und muss in Ordnung gebracht werden. ({12}) Vielleicht ist diese Debatte und diese Entscheidung eine Chance für die Regierung und das Haus als Ganzes, aus Erfahrungen zu lernen, die wir in dieser Debatte gemacht haben. Der Bundesverteidigungsminister hat eben gesagt, die Bundesregierung habe durch diese Debatten mehr Klarheit bekommen, als sie zuvor gehabt habe. Wenn das dazu führt, dass wir gemeinsam den Dienst unserer Soldaten für die Sicherheit unseres Landes und unsere Verpflichtung gegenüber den Soldaten ernster nehmen, und zwar nicht nur in Reden, sondern auch im konkreten Handeln, dann wäre es eine Chance nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die Sicherheit unseres Landes. Das letzte Wort, das ich sagen möchte, ist: Wir sollten uns bei jeder dieser Entscheidungen nicht nur unserer Verantwortung für die Soldaten bewusst sein, sondern auch der Dankesschuld; denn die Soldaten leisten einen gefährlichen Dienst dafür, dass wir in Frieden und Sicherheit leben können. Wir wünschen, dass sie ihn mit möglichst wenig Opfern und unversehrt leisten können. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Winfried Nachtwei, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag entscheidet heute über die Verlängerung und die begrenzte Erweiterung des Bundeswehrbeitrages zur Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF in Afghanistan. Die Verlängerung, die übrigens mit einer Reduzierung der Obergrenze einhergeht, ist unstrittig. Unübersehbar und von der afghanischen Bevölkerung hoch angesehen ist, was die ISAF-Soldaten für die Menschen in Kabul und für den Stabilitätsprozess unter hohen Strapazen und unter hohem Risiko leisten. Dafür verdienen diese Soldatinnen und Soldaten den ehrlichen und überzeugten Dank und die Anerkennung des gesamten Bundestages. ({0}) Eingeschlossen in diesen Dank und diese Anerkennung sind die deutschen Polizeibeamten, Zivilexperten, Helfer und die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, ohne deren wichtige Arbeit der Einsatz der ISAF-Soldaten perspektivlos wäre. Zur Ausweitung des Bundeswehrengagements auf die Region Kunduz und zu einer begrenzten Wahlabsicherung haben sich zu Recht mehr Fragen ergeben. Die Forderung, den internationalen Stabilitätsbeitrag bzw. den ISAF-Einsatz auf das Land auszuweiten, gibt es schon länger. Sie wurde vom UN-Generalsekretär, vom UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan, Brahimi, und - am 17. Juni dieses Jahres - von 85 internationalen Nichtregierungsorganisationen erhoben. Diese Forderung ist also sehr verbreitet. Dem gegenüber stand das Sträuben der internationalen Gemeinschaft, diesen Forderungen entgegenzukommen. In den letzten Monaten ist allerdings unübersehbar geworden, dass die internationale Afghanistanpolitik an einem Scheideweg steht. Angesichts der verschlechterten Sicherheitslage und der Tatsache, dass Mitte nächsten Jahres Wahlen stattfinden, ergibt sich eine schlichte, aber eindeutige Alternative: Entweder wird der Petersberg-Prozess fortgesetzt, indem er verstärkt und ausgeweitet wird, oder Afghanistan wird mittelfristig in seine kriegerische Vergangenheit zurückrutschen. Das ist die Alternative, um die es heute geht. Der neue und erweiterte deutsche Beitrag ist weder ein nur militärischer noch ein deutscher Alleingang. Die Bundesregierung hat ausdrücklich ein ganzes Paket beschlossen. Dazu gehören erstens die zivile Präsenz in Herat, zweitens die verstärkte Unterstützung des Polizeiaufbaus in Afghanistan und drittens die Bildung von ISAF-Inseln in Kunduz und gegebenenfalls die Wahlabsicherung. Das alles gehört notwendigerweise zusammen. Dieser deutsche Beitrag ist zudem Teil eines landesweiten Netzes von regionalen Wiederaufbauteams und ISAF-Inseln. Mit dem Aufbau dieses landesweiten Netzes haben die USA angefangen. Dann sind Großbritannien und Neuseeland eingestiegen. Jetzt beteiligt sich auch die Bundesrepublik zusammen mit anderen Partnern. Es geht dabei schlichtweg um internationale Arbeitsteilung. Viele fragen sich, was die 230 Soldaten in Kunduz machen sollen. Ich glaube, es gibt in diesem Zusammenhang einige Missverständnisse. Ein Missverständnis besteht darin, dass die relative Ruhe, die in der Tat in der Region herrscht, mit Stabilität verwechselt wird. Stabilität gibt es dort aber noch keineswegs. Ein zweites Missverständnis ist, dass die ISAF-Inseltruppe für eine Art Protektoratstruppe gehalten wird, die die Warlords und Drogenbarone sozusagen mit vorgehaltenem Maschinengewehr dazu zwingen würde, von ihrem bisherigen Kurs abzulassen. Ein solches Vorgehen ist aber selbstverständlich illusorisch. Die Soldaten dieser ISAF-Insel haben einen ISAF-Auftrag auszuführen. Dieser umfasst konkret die Sicherheitsunterstützung durch Präsenzpatrouillen in der Stadt und in der Region zusammen mit afghanischen Polizisten und - das ist entscheidend, entzieht sich aber weitgehend der Öffentlichkeit - durch Verbindungsarbeit mit lokalen Machthabern. Des Weiteren ist die Informationsarbeit vor allem über das Radio - beim Militär wird das operative Information genannt - von entscheidender Bedeutung. Wer das einmal in Kabul mitbekommen hat, weiß, welche strategische Bedeutung dieser Aufgabe zukommt. Erforderlich sind auch schnell wirksame Wiederaufbauprojekte und die Unterstützung des Polizeiaufbaus. Die Erfahrungen in Kabul haben gezeigt, dass auf diese Weise auch mit relativ - um nicht zu sagen: erstaunlich geringer Kraft ein hohes Maß an Stabilitätsförderung bewirkt werden kann. Wider die Befürchtungen einzelner Nichtregierungsorganisationen ist sichergestellt, dass die Unabhängigkeit dieser Organisationen selbstverständlich unberührt bleibt. Der Bundesregierung ist ausdrücklich dafür zu danken, dass sie den Anstoß der USA zu regionalen Wiederaufbauteams aufgenommen und in Richtung ISAF-Inseln weiterentwickelt hat. Dass die Bundesregierung dabei international eine treibende Kraft war, ist ihr in keiner Weise vorzuwerfen, sondern - im Gegenteil - hoch anzurechnen. Das ist nämlich ein Zeichen von Verlässlichkeit. Wir können wahrhaftig nicht das Verhalten mancher Partner als Vorbild nehmen, die sich inzwischen von Afghanistan in Richtung Irak verabschiedet haben. Zusammengefasst: Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen stimmt nach sorgfältiger Prüfung dem Antrag der Bundesregierung zu. Die Ausweitung des zivilen, des polizeilichen und des militärischen Engagements ist dringend notwendig. Sie ist von den Vereinten Nationen und von der afghanischen Regierung legitimiert und gewünscht und sie ist auch angesichts der unbestreitbaren Risiken verantwortbar. Das ist ein Signal, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zu der seit der PetersbergKonferenz übernommenen Verantwortung bekennt und nicht auf halbem Weg stehen bleibt, das heißt nicht mittelfristig kehrtmacht. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion wird heute dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen. ({0}) Wir haben uns diese Entscheidung alles andere als leicht gemacht. Ich bekenne, dass sie mir aus zwei Gründen sehr schwer gefallen ist. Erstens weiß ich genau, dass weder der Wiederaufbau Afghanistans noch die Bekämpfung des dortigen Terrorismus erledigt ist; das muss fortgesetzt werden. Mir ist die Entscheidung - zweitens - auch deshalb schwer gefallen, weil ich die Soldaten der Bundeswehr in solch schwierige Missionen sehr gerne mit dem vollen Rückenwind des Bundestages schicken würde. Deswegen neigen wir von der FDP dazu, solchen Anträgen der Bundesregierung zuzustimmen, wenn es irgendwie möglich ist. Aber man muss uns davon überzeugen, dass die entsprechende Mission auch zu verantworten ist. Das ist hier nicht der Fall. ({1}) Ich versuche, das zu erläutern. Herr Kollege Schäuble, wir sind nicht der Auffassung, dass die einzige Alternative dazu, zu dem vorliegenden Antrag Ja zu sagen, darin bestände, aus Afghanistan herauszugehen. Ich bin dezidiert der Auffassung, dass der Auftrag in Kabul fortgesetzt werden muss. Ich sperre mich auch keineswegs dagegen, darüber nachzudenken, ob man nicht über Kabul hinausgehen sollte, und zwar im Rahmen eines internationalen und vor allem europäisch abgestimmten Konzeptes, das tatsächlich zur Bildung eines flächendeckenden Netzes aus Stabilitätsinseln führt. Das würde uns ermöglichen, unser Ziel zu erreichen, nämlich auf der einen Seite im Zusammenwirken von ISAF und Enduring Freedom den Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen und auf der anderen Seite den Aufbau Afghanistans voranzubringen. Vom Bundesminister der Verteidigung haben wir eben die eindrucksvolle Liste von Partnerländern vorgetragen bekommen, mit denen er im Gespräch ist und von denen wir vielleicht erwarten können, dass sie einige Offiziere oder zivile Kräfte bereitstellen werden, um in unserem Team mitzuwirken. Aber neben dem amerikanischen und dem neuseeländischen Team wird es außer dem britischen keine weiteren europäischen Teams dort geben. Das halte ich für ein eklatantes Versagen der europäischen Außenpolitik. Ich bedauere das sehr. ({2}) Wir werden auf diese Weise eine Abdeckung Afghanistans erreichen, die weit unter 20 Prozent liegt. Das wird dem hohen Ziel - das wir teilen - nicht gerecht. Wir sollten in der Tat auf die zivilen Organisationen hören, die zu einem erheblichen Teil zu bedenken gegeben haben, ob ihre Arbeit durch die räumliche, aber auch inhaltliche Nähe zur militärischen Komponente nicht eher erschwert denn geschützt wird. Daher ist es nach meiner Auffassung eine unehrliche Lösung, in Kunduz selber einfach nur eine räumliche Trennung vorzunehmen. Gerade wenn ein Schutz erforderlich sein sollte, wäre eine gemeinsame Unterbringung der militärischen und der zivilen Kräfte durchaus sinnvoll. Das ist durch und durch widersprüchlich. Es ist nichts Halbes und nichts Ganzes. Ich bin im Übrigen auch der Auffassung, dass wir uns intensiver mit den Hilfsorganisationen auseinander setzen sollten. Diese nämlich mahnen eine andere Prioritätensetzung bei unserem Afghanistanengagement an und machen deutlich, dass Afghanistan in erster Linie Schulen, Krankenhäuser und Infrastruktur benötigt und erst in zweiter Linie Soldaten, es sei denn, sie sind unmittelbar am Kampf gegen den Terror beteiligt. Das Inselkonzept zielt auf die Stärkung der Kabuler Zentralregierung gegenüber den Provinzfürsten. Das ist im Ansatz richtig und wichtig, wird sich in der geplanten Form aber nicht durchsetzen lassen. Die Bundeswehrsoldaten werden in Kunduz so lange sicher sein, wie sie den regionalen Machthabern, insbesondere den Drogenbaronen, nicht in die Quere kommen. In dem Moment, in dem es zu Konflikten kommt, in dem es auch konkret darum geht, die Zentralregierung gegen-über regionalen Machthabern zu stärken und Positionen der Zentralregierung durchzusetzen, wird es brandgefährlich. Dann reichen Ausrüstung, Ausstattung, Luftunterstützung und sonstige Abdeckung unserer militärischen Kräfte nicht aus. Ich halte das für brandgefährlich. ({3}) Besonders brisant wird das Dilemma, in das die Bundesregierung unsere Soldaten in Kunduz schicken will, mit Blick auf die Drogenproblematik. Aus Afghanistan kommen drei Viertel des weltweit vertriebenen Heroins. In der Region Kunduz liegen die wichtigsten Anbaugebiete. Gerade aus dem Drogenhandel finanzieren die Warlords ihre Privatarmeen. Das bislang in Kunduz tätige amerikanische Team schaut dem Drogenanbau und -handel rat- und tatenlos zu. Alles andere wäre auch nicht durchzusetzen; denn die Warlords werden sich ihre Finanzierungsquellen nicht nehmen lassen. Das Wegsehen gibt dem schändlichen Treiben aber sozusagen internationalen Geleitschutz. ({4}) Das wird die regionalen Warlords und die Drogenbarone gegenüber der Zentralregierung in Kabul stärken und nicht umgekehrt. Übrigens ist das auch Gegenstand der Berichterstattung der ersten Fact Finding Mission, die ausdrücklich eine Klärung dieser Frage verlangt hat. Deren Bedingungen sind in keiner Weise erfüllt worden. Wir müssen uns darauf einstellen, dass uns auf deutschen Fernsehschirmen bald die ersten Bilder von Bundeswehrsoldaten präsentiert werden, die untätig vor wunderschön blühenden Schlafmohnfeldern oder vor Drogenumschlagplätzen stehen müssen, ({5}) also genau dort, wo die Drogen produziert und gehandelt werden, die eines Tages unseren Kindern in Frankfurt, in Köln und in Hamburg verkauft werden. ({6}) Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich plädiere keineswegs für eine Rolle der Bundeswehrsoldaten als Drogenpolizei. Das würde sie in der Tat völlig überfordern und unverantwortlich gefährden. Aber umgekehrt kompromittiert das Nichtstun die sonst so lautstark und entschlossen vorgetragene Drogenpolitik der Bundesregierung und des Bundestages. ({7}) Es ist eben ein totales Dilemma, eine Mission Impossible. In eine solche darf man die Soldaten der Bundeswehr nicht schicken. ({8}) In eine solche dürfen wir uns auch politisch nicht hineinmanövrieren. ({9}) Die Bundesregierung hat uns zum Schluss noch mit einer erheblichen Ausweitung des Mandats überrascht. Sie beantragt die Ermächtigung, Bundeswehrsoldaten aus dem ISAF-Kontingent im Umfeld der geplanten Wahlen über Kabul und Kunduz hinaus in ganz Afghanistan einzusetzen, in Ausnahmefällen und - Minister Struck hat das erläutert - nach Befassung der Obleute der zuständigen Ausschüsse. Das ist, denke ich, gut gemeint. Ich frage mich allerdings, wie die gut 2 000 deutschen Soldaten in Kunduz und Kabul, die in den wenigen Monaten, die bis zu den Wahlen tatsächlich zur Verfügung stehen, weiß Gott genug zu tun haben werden, auch das noch hinbekommen sollen und wie man das, wenn es Ärger geben sollte, wenn es konfliktreich werden sollte, konkret militärisch absichern kann. Die ganz offenkundigen Bauchschmerzen des Bundesministers der Verteidigung teile ich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass auch viele in den Koalitionsfraktionen und in der Union nicht zuletzt wegen der Drogenproblematik Bedenken hatten. Nur das erklärt das Herumgeeiere der letzten Tage, das in allen möglichen Erklärungen und Anträgen seinen Niederschlag gefunden hat. ({10}) Da wird am Dienstagabend noch ein Antrag der Koalitionsfraktionen für die Ausschüsse vorgelegt, mit dem Ziel, festzustellen, dass es keine Drogenbekämpfung geben und eine Ausweitung des Einsatzes über Kunduz und Kabul hinaus nur unter bestimmten Bedingungen möglich sein solle. Dann wird mit Schrecken reagiert, als man erkennt: Das geht doch gar nicht, weil das Bundesverfassungsgericht uns aufgegeben hat, dass wir hier sagen müssen: „Hic Rhodus, hic salta“, dass wir also zu diesen Anträgen nur Ja oder Nein sagen und keine weiteren Erklärungen abgeben können. Daraufhin hat die Bundesregierung in Erkenntnis der Rechtslage gemeint: Dann machen wir eine Protokollerklärung. - Nachdem diese Protokollerklärung vorgetragen worden war, kam der große Schrecken: Darin wird die Ablehnung jeglichen Tätigwerdens in der Drogenfrage zu evident. In der dritten Version ist dann noch an den Schluss folgende salvatorische Klausel eingefügt worden: Es solle zwar keine Beteiligung an der Drogenbekämpfung geben, aber ein Umfeld geschaffen werden, innerhalb dessen die Ausbildung von afghanischen Drogenbekämpfern möglich werde. - Meine Damen und Herren, das hat etwas Winkeladvokatorisches. ({11}) Die FDP-Bundestagsfraktion kann diesem Antrag leider nicht zustimmen. Ich sage „leider“ und füge hinzu: Wir wissen, dass wir heute in dieser Abstimmung unterliegen werden. ({12}) Wir werden als Demokraten das Ergebnis dieser Abstimmung respektieren und anschließend dort, wo wir parlamentarisch oder sonstwie Verantwortung oder Mitverantwortung tragen, alles dafür tun, dass dieser heute vom Bundestag beschlossene Auftrag erfolgreich durchgeführt werden kann und dass die Soldaten der Bundeswehr erfolgreich und unversehrt nach Hause zurückkehren können. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Gernot Erler, SPDFraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrag des Kollegen Hoyer hat noch einmal gezeigt: Es ist wichtig, dass geklärt wird, worüber wir heute beschließen. Darüber hat es eine öffentliche Diskussion gegeben; sie hat gezeigt, dass es Klärungsbedarf gibt. Der richtige Ort für diese Klärung ist hier, das Plenum des Deutschen Bundestages. ({0}) Ich will anfangen, indem ich klarstelle, was diese Kunduz-Mission nicht ist: Sie ist kein Spaziergang der Bundeswehr in ein sicheres Gebiet, gewissermaßen überflüssig und lediglich der Tätigkeitsnachweis für einen deutschen Beitrag im Antiterrorkampf und damit ein Ersatz für andere Aktivitäten. Die Wahrheit ist: Kunduz ist ein geographisches Kürzel für vier Nordprovinzen in Afghanistan mit 85 200 Quadratkilometern, auf denen 3,2 Millionen Menschen leben. Es ist schon eine schwierige Aufgabe, dort das hier schon mehrfach zitierte sichere Umfeld zu schaffen. Das kann man nur durch Präsenz der internationalen Gemeinschaft vor Ort. Wir können dabei auf das besondere Vertrauensverhältnis zu Deutschland zurückgreifen, das dort verbreitet ist. Damit kommen wir dem dringenden Wunsch der afghanischen Übergangsregierung nach, das exakt dort zu tun. Es kann natürlich nicht darum gehen, dort Sicherheit zu erzwingen. Mit 230 bis 450 Soldaten wäre das auch absolut lächerlich. Warum ist es überhaupt notwendig und sinnvoll, in dieser Region ein sicheres Umfeld zu schaffen? Gerade in Kunduz, in diesen vier Nordprovinzen, stehen in den nächsten Wochen und Monaten sehr wichtige, exemplarische Prozesse bevor. Der eine davon verbindet sich mit drei Stichworten, nämlich Demobilisierung, Demilitarisierung und Reintegration, was dann die etwas eigenartige Abkürzung „DDR“ ergibt. Diese Mission wird von der neu gebildeten afghanischen Nationalarmee durchgeführt, die dabei die besondere Unterstützung Japans erhält. Kunduz ist hierfür als Ort eines exemplarischen Pilotprojektes ausgesucht worden. Es versteht wohl jeder, dass man für diesen komplizierten Prozess ein sicheres Umfeld braucht. ({1}) Für den 10. Dezember erwarten wir die Bildung der verfassungsgebenden Loya Jirga durch den afghanischen Übergangspräsidenten. Dann wird auch in dieser Region eine sehr intensive, wahrscheinlich auch spannungsreiche Diskussion über die neue Verfassung geführt. Dabei wird über die künftige Struktur Afghanistans sehr viel entschieden. Dafür braucht man ein sicheres Umfeld durch eine sichtbare Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft. ({2}) Der Plan von Petersberg sieht vor, dass im Juni nächsten Jahres Wahlen stattfinden. In den nächsten Monaten findet die Registrierung der Wähler statt. Dadurch werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Parteien - auch solche, die nicht ethnisch begründet oder von den Warlords in ihren Regionen kreiert worden sind eine Chance haben. Dazu braucht man ein sicheres Umfeld und die Repräsentanz der internationalen Gemeinschaft. Herr Hoyer, ich glaube, das ist insgesamt schon ein überzeugendes Konzept. Ich bedauere sehr, dass Sie und Ihre Fraktion die Bedeutung offensichtlich nicht verstanden haben. ({3}) Auch wenn es entsprechende Befürchtungen gegeben hat, ist die Mission in Kunduz außerdem kein Begleitschutz für zivile Helfer vor Ort. Denn dies würde die Gefahr bergen, dass die beiden Missionen vermischt werden und eine optische Identität von Militärischem und Zivilem entsteht. Die Bundeswehr wird vor Ort keine Rolle spielen, für die sie nicht ausgebildet und auf die sie nicht vorbereitet ist. Herr Kollege Hoyer, sie wird in der Tat nicht Drogenpolizei spielen. Warum haben wir denn in Kabul nicht nur eine allgemeine Polizei - das war die deutsche Aufgabe - und eine Grenzpolizei, sondern auch eine Drogenpolizei eingerichtet? Herr Hoyer, diese ist dort einzusetzen. Ihre Bedenken sind doch kein Argument gegen die Kunduzmission. ({4}) Herr Hoyer, der militärische Einsatz wird überhaupt erst verständlich, weil er mit einem zivilen Einsatz und einer Verstärkung von internationalen Programmen einhergeht. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre Fraktion zur Kenntnis nimmt: Die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass diese Programme zum Beispiel Einkommenshilfen für jene Bauern einschließen, die sich vom Opiumanbau abwenden. Zu diesen Maßnahmen gehört eine vernünfGernot Erler tige Arbeitsplatzpolitik für die zurückgekehrten Flüchtlinge und diejenigen, die aus der Demobilisierung kommen. Das ist doch die einzige Chance im Kampf gegen die Opiumherrschaft der dortigen Drogenbarone. ({5}) Es gibt noch viele andere Aufgaben im Infrastrukturbereich: bei der Aufbereitung von Trinkwasser, im Bereich der Elektrizität, beim Straßenbau. Der Aufbau der Polizei in der Region - das ist die Verbindung von Militärischem und Zivilem in Kunduz. Das, was in Kabul geglückt ist, soll in der Provinz ebenfalls gelingen. Das Konzept sieht vor, dass die afghanischen Politiker vor Ort mehr Selbstverantwortung übernehmen. Das ist auch im Kontext mit einer ganz anderen Diskussion sehr wichtig. Man kann das im Zusammenhang mit der Kunduzmission nicht einfach beiseite schieben, wie es hier passiert ist. ({6}) Offenbar besteht auch Unklarheit darüber, was das Konzept von ISAF-Inseln beinhaltet. Ich kann dabei nur aufgreifen, was der Kollege Schäuble hier gesagt hat. Es stimmt, das Konzept der ISAF-Inseln ist kein Retortenprodukt von irgendwelchen Strategen am Schreibtisch; die ISAF-Inseln sind die Folge einer defizitären politischen Entwicklung vor Ort. Wir wissen, dass die Übergangsregierung Karzai heute Autorität im Wesentlichen in Kabul und der Umgebung hat. Die Hoffnung darauf, dass sie sich von alleine ausweitet, war leider irrig. Die Idee, so viele Soldaten zur Verfügung zu stellen, dass man die Autorität zwangsweise ausweiten kann, ist unrealistisch, weil kein Land bereit ist, entsprechende Kräfte zur Verfügung zu stellen. Insofern ist das Konzept, ISAF-Inseln zu schaffen, auch Ausdruck eines Lösungsansatzes. Herr Kollege Hoyer, die Idee dahinter ist doch, dass man ein Vorbild bzw. einen Anstoß gibt, von dem man erwarten kann, dass auch die afghanische Bevölkerung ihn versteht. Gerade die Kooperation von Zentralregierung und internationaler Gemeinschaft, die der Bevölkerung sichtbare Vorteile bringt, soll als Pilotprojekt wirken, das sich von ganz allein fortsetzt. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit soll größer werden. ({7}) Deswegen ist die Kombination von Bundeswehreinsatz und internationaler Hilfe so wichtig. Es ist wichtig, dass es nicht nur acht Inseln bleiben, sondern dass sich darüber hinaus auch noch andere Länder engagieren. Das wollen wir doch. Deshalb ist auch entscheidend, dass das Ganze im neu geschaffenen Rahmen von ISAF und nicht im Kontext von Enduring Freedom und der Terrorbekämpfung stattfindet; denn diese Mission hatte für die Bevölkerung vor Ort sehr viele problematische Begleiterscheinungen. Ich finde, man muss sehr anerkennen, dass die Bundesregierung es geschafft hat, dass es zu der UN-Resolution 1510 gekommen ist. ({8}) Ich möchte behaupten: In der Geschichte der Afghanistanpolitik wird es als das Wichtigste angesehen werden, dass das ISAF-Konzept jetzt im ganzen Land angewandt werden kann, auch wenn es leider zurzeit nur inselförmig zur Anwendung kommt. Dieser Prozess, den wir mit unserem heutigen Beschluss unterstützen können, steht wirklich für eine neue strategische Etappe. Das schließt sich nahtlos an unsere bisherigen Engagements an, die immer Pioniercharakter hatten. Wir waren die Ersten, die umfangreiche humanitäre Hilfe in Afghanistan geleistet haben. Die Bundesregierung hat mit unserer Unterstützung den politischen Prozess der Petersberg-Konferenzen auf den Weg gebracht. Wir haben uns mehr als andere Nationen bei der Absicherung dieses politischen Prozesses beteiligt, indem wir eine militärisch sekundäre, aber politisch sehr wichtige Rolle eingenommen haben. Die nächste wichtige Etappe der ISAF-Mission ist es jetzt, Inseln zu schaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was hier stattfindet, kann man getrost als Regimechange bezeichnen. Wir befinden uns mitten in einem Nation-Building-Prozess. ({9}) Jeder von uns weiß, dass dieser Prozess mühsam, langwierig und auch unerhört kostspielig ist. Wir beachten dabei aber - ich zitiere das hier im Plenum immer wieder gerne - die große Mahnung, die von diesem Platz aus Kofi Annan uns gegeben hat, nämlich eine nachhaltige Friedensstrategie zu verfolgen. Kunduz steht für die Fortsetzung dieser nachhaltigen Friedensstrategie. Abschließend möchte ich doch noch einmal ein Wort zu Ihren Ausführungen, Herr Hoyer, sagen: Ich habe gehört, wie respektvoll sich der Bundesminister der Verteidigung mit Ihrem Nein auseinander gesetzt hat. Eine Kritik kann ich Ihnen nach Ihrem Beitrag aber nicht ersparen: Sie haben wunderbar die Schwierigkeiten beschrieben. Der Analyse kann man nicht widersprechen. Ich fand es aber empörend, dass Sie hier das Bild gezeichnet haben, dass deutsche Soldaten einfach nur zuschauen würden, wie dort weiterhin Drogenanbau betrieben wird. ({10}) Man kann doch in der Politik nicht nur Fragen stellen, sondern man muss auch Antworten geben. Sie haben keinerlei Alternative aufgezeigt. ({11}) Nachdem nun schon Ihre eigenen Leute Ihrer Partei vorhalten, dass sie sich in der deutschen Politik abmeldete, sage ich Ihnen, dass die Gefahr besteht, dass Sie sich auch noch in der internationalen Politik abmelden. Das ist natürlich Ihr Problem. ({12}) Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir unterstützen die Fortsetzung der Friedenspolitik durch die Mission in Kunduz. Wir werden die deutschen Soldaten, aber auch die Arbeit des Entwicklungshilfeministeriums und der internationalen Hilfsorganisationen in dieser Region solidarisch begleiten und immer auch kritisch auf ihre Wirksamkeit überprüfen. In diesem Sinne werden wir zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans Raidel, CDU/ CSU-Fraktion.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir entscheiden heute, ob wir in Afghanistan weiter Hoffnungen fördern wollen oder ob wir Hoffnungen enttäuschen wollen. Wir haben das Petersberg-Abkommen. Es wäre sicherlich hilfreich gewesen, wenn in diesem Zusammenhang sozusagen im Rahmen eines Petersberg-III-Abkommens erläutert worden wäre, wo wir stehen und wohin wir wollen. Auch für die heutige Debatte wäre das wahrscheinlich aufschlussreich gewesen. Unser Ziel muss es natürlich sein, weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und die Afghanen möglichst schnell in die Lage zu versetzen, ihr Land aufzubauen. Ich frage mich da schon: Wo sind die Alternativvorschläge der Kritiker? ({0}) Ich stelle hier fest: Wer Sicherheit in diesem Lande haben will, der wird über die Ausweitung von Stabilitätszonen über Kunduz und Kabul hinaus nachdenken müssen. Angesichts der Tatsache, dass wir uns in diesem Ziel einig sind, stellt sich die Frage, wie wir weiter vorgehen sollen. Das Leuchtturmprojekt „Kunduz“ ist kein Sonderprojekt Deutschlands. Die Amerikaner, die Engländer und andere haben im Lande schon Ähnliches gestaltet. Die Amerikaner gehen jetzt aus Kunduz heraus und wir gehen nach Kunduz mit einem erweiterten Spektrum an Aufgaben hinein. Alle wissen, wie gefährlich das ist und dass die Hilfstruppe Bundeswehr die Helfer bei ihrer humanitären Hilfe unterstützen muss, wenn diese ihre originären Aufgaben dort erfüllen sollen. Deutschland darf in der Kunduzfrage nicht abseits stehen und wir können uns dieser Aufgabe nicht entziehen. Vorhin klang es so, als würden wir uns in Komplizenschaft zu den Drogenbaronen begeben. Genau dieses ist aber nicht der Fall - das weiß jeder -, wenn wir uns weiterhin bei der Ausbildung von afghanischer Polizei und afghanischem Militär engagieren, die dann unsere Aufgaben übernehmen können. ({1}) - Wir sind doch auf einem gute Wege. Es gibt bereits eine Polizeischule dort; die Ausbildung hat schon begonnen. Außerdem haben wir erste Militärkräfte in dieser Region. Bei aller Kritik muss man schon ein bisschen Hoffnung bei diesem Einsatz haben. ({2}) Natürlich wissen wir, dass der Einsatz gefährlich ist; denn trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen waren in Kabul Opfer zu beklagen. Wir müssen aufpassen, dass Ähnliches in Kunduz nicht passiert. Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Gerade die CDU/CSU hat in allen Arbeitsgruppen bohrende und quälende Fragen gestellt. ({3}) Ich bin jedem Kritiker auf unserer Seite dankbar, weil er mit seiner Kritik dazu beigetragen hat, die Diskussion über dieses Thema zu befördern, Aufklärung zu leisten und die Regierung in der Frage - ich will nicht sagen: festzunageln - zu positionieren, was geht und was nicht geht. Wir haben die Frage nach Schutzkonzepten, nach Ausrüstung und Ausbildung gestellt. Wir waren doch diejenigen, die gefordert haben, dass es eine seriöse Finanzierung geben muss. ({4}) Es ist ein Kritikpunkt von unserer Seite, dass die Bereitstellung der Mittel im Haushalt derzeit noch nicht abgesichert ist. ({5}) Die Frage ist: Wie gestalten wir dieses Thema weiter? Wir wissen doch, dass nicht nur für uns allein dieses Thema wichtig ist. Heute schaut ganz Afghanistan auf uns, um zu sehen, ob wir beschließen, die PetersbergHilfe, die wir zugesagt haben, fortzusetzen. Wollen Sie da aussteigen - ja oder nein? Die UNO, die USA, die NATO und auch Europa sehen nach den vielen Irritationen der letzten Monate die Afghanistanfrage als Testfall für die Bündnisfähigkeit und für die Zuverlässigkeit Deutschlands an. Wollen Sie sagen, dass diese Fragen, die die Partner stellen, nicht berechtigt sind? Auch die Bundeswehr schaut auf uns, um zu sehen, ob das Parlament mit großer Mehrheit diese Einsätze mitträgt. Immer nur zu erklären, wie es sein sollte, dann aber nicht bereit zu sein, Entscheidungen mitzutragen, das ist in so wichtigen und entscheidenden Fragen zu wenig. Deswegen begrüße ich diesen klärenden Prozess in unserer Fraktion. Wir haben uns in sehr vielen Stufen kritisch diesem Thema genähert. Zum Schluss können wir bei allem, was ansteht, sagen: Wir halten diesen EinHans Raidel satz für verantwortbar. Vor allem halten wir ihn auch gegenüber unserer Bundeswehr für verantwortbar; denn wir sind es, die im Rahmen der Fürsorgepflicht von dieser Regierung die Zusage einfordern, dass alles getan wird, damit der Einsatz möglichst sicher sein wird. Wenn wir zustimmen, stimmen wir natürlich nicht in freudiger Erwartung zu. Jeder weiß doch, wie schwer wir es uns machen und wie schwer jeder es sich auch machen muss. Denn es ist keine Nebenbei-Entscheidung, wenn man solche Einsätze beschließt. Wenn wir zustimmen, dann aus Verantwortung für Afghanistan und aufgrund unserer Bündnisverpflichtungen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Bundesminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ausdrücklich bei Ihnen, Herr Kollege, und bei Ihrer Fraktion für Ihre Zustimmung zu dem Antrag der Bundesregierung bedanken. Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen, die in der Debatte angesprochen wurden. Am heutigen Tag gibt es in den deutschen Medien zwei interessante Stellungnahmen zu lesen - interessant von der Sache her, aber auch interessant, was die Autoren betrifft. Das Erste ist das, was der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten in einem Memorandum über die Schwierigkeiten, die sich in Afghanistan, vor allem aber im Irak ergeben, gesagt hat. Das Zweite ist ein - in Übersetzung in der „taz“ erschienener - hochinteressanter Artikel von Frederick Kagan, in dem er das Nation Building als zentrales Mittel für den Krieg gegen den internationalen, insbesondere den islamistischen Terrorismus dargestellt hat. Ich denke, das sind zwei bemerkenswerte Stellungnahmen, weil Folgendes klar wird: Es geht nicht nur darum, Terrorismus dort, wo er eine aktuelle Gefährdung bedeutet, militärisch zu bekämpfen und seine Netzwerke zu zerstören, sondern es geht vor allen Dingen darum, dazu beizutragen, Staaten zu helfen, Völkern zu helfen, langfristig wieder auf die Beine zu kommen, und Verhältnisse herzustellen - das ist eine mühselige, langwierige Aufgabe -, die dauerhaften Frieden ermöglichen. ({0}) Genau das ist die Politik, die die Bundesregierung immer vertreten hat und weiterhin vertritt. Ich kann Ihnen, Herr Kollege Schäuble, nur zustimmen bei dem, was Sie in Ihrem Beitrag heute gesagt haben. Was wir in Afghanistan tun, ist ein Beitrag zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus - im Sinne unseres erweiterten Sicherheitsbegriffes -; das ist keine Frage des Mandats, sondern der Substanz. Afghanistan befindet sich gegenwärtig am Scheideweg. Sie haben die Frage gestellt: Was hat sich verändert? Ich habe es im Ausschuss neulich schon gesagt und möchte es hier wiederholen: Wir hatten die Sorge, dass es mit dem Beginn des Irakkrieges zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit und einem Abnehmen der Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft, sich in Afghanistan zu engagieren, kommt. Wir hatten damals die Führungsverantwortung in Kabul; alle haben das sehr geschätzt. Die große Sorge war, dass der Wiederaufbau in Afghanistan zu einem nationalen Problem der Bundesrepublik Deutschland werden könnte. Das hätte uns schlicht überfordert. Jetzt hat die NATO die Führung der ISAF-Mission in Kabul übernommen. Nun geht es darum, mit der Umsetzung des Petersberg-Abkommens voranzukommen. Wie der Kollege Nachtwei angesprochen hat, ist dabei die Frage der Stabilisierung zentral dafür, vor allen Dingen den politischen Prozess weiter voranzubringen. Es gab Stimmen, das Petersberg-Abkommen sei gescheitert. Ich kann nur sagen: Ich sehe das völlig anders. Im Gegenteil: Es gibt kein anderes Konzept. Wir müssen es umsetzen. ({1}) Trotz aller Schwierigkeiten, die hier genannt worden sind, haben wir beachtliche Erfolge erzielt: Zweieinhalb Millionen Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Ein Minimum an Stabilität ist gegeben. Die Taliban versuchen sich in den Ostprovinzen und Südostprovinzen, an den Grenzen zu Pakistan, zu reorganisieren. Nicht nur wir, sondern alle unsere westlichen Partner, an erster Stelle die Vereinigten Staaten, führen intensive Gespräche, um Pakistan zu bewegen, Grenzübertritte energischer als bisher zu unterbinden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gauweiler?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Aber bitte.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Fischer, zu Ihrer Anmerkung hinsichtlich einer Stabilisierung des Landes: Ist Ihnen der Bericht des Leiters der Erkundungskommission der Bundesregierung für Kunduz, des Generalleutnants Riechmann, bekannt, der im Zusammenhang mit der Region, zu der Sie jetzt Ausführungen gemacht haben, von der Gefahr des Aufbaus eines Drogenstaates gesprochen hat?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ja. Dies ist richtig. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht zulassen, dass sich so etwas entwickelt. ({0}) Ich komme auf die Drogenproblematik gleich zu sprechen, Kollege Gauweiler. Denn ich nehme sie und die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Argumente sehr ernst. ({1}) - Ich gehe gleich auf die FDP ein. - Herr Kollege Gauweiler, ich werde versuchen, Ihre Frage aus meiner Sicht etwas später zu beantworten. Ich bitte, das zu akzeptieren. Der entscheidende Punkt ist für mich in diesem Zusammenhang, dass wir jetzt mit der Umsetzung des Petersberg-Abkommens, vor allen Dingen was den Wahlprozess betrifft, vorankommen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zum Irak. Es ist den Vereinten Nationen auf der Grundlage des Petersberg-Abkommens gelungen - Lakhdar Brahimi hat auf dem Petersberg eine großartige Arbeit geleistet -, einen innerafghanischen Konsens, der zwar fragil ist, aber dennoch existiert und sich mittlerweile über Monate hinweg als belastbar erwiesen hat, zu erzielen. Die Umsetzung dieses Konsenses durch den Aufbau politischer Institutionen, durch wirtschaftlichen Fortschritt und durch den Aufbau des Landes, und zwar sowohl was die politischen als auch die ökonomischen und sozialen Strukturen betrifft, ist die zentrale Herausforderung. Dazu sage ich Ihnen, Herr Hoyer - ich habe mir die wesentlichen Punkte aufgeschrieben, die Sie genannt haben -: All das, was Sie hier aufgeführt haben, spräche dafür, dass die FDP den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Kabul fordert. ({2}) Das will Ihnen einmal erläutern: Erster Punkt: internationales Konzept. Die FDP war einmal die Partei großer Außenminister. Es gab jetzt eine Resolution der Vereinten Nationen. Das Vorgehen ist im Rahmen des Sicherheitsrates mit den internationalen Partnern abgestimmt. Es hat parallel zur Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York eine Afghanistankonferenz stattgefunden, an der Sie nicht teilgenommen haben. Exakt dort ist es darum gegangen, wie wir mit der Implementierung weiterkommen. Da wir den Militäraufbau nicht flächendeckend gestalten können - wenn Sie das Militär, das in Kabul ist, proportional, das heißt flächendeckend, auf das Land insgesamt hochrechnen, so ist das nicht darstellbar - und da wir uns auf Kabul nicht begrenzen können, ist nach den ersten Erfahrungen der PRTs, der Provincial Reconstruction Teams bzw. der Wiederaufbauteams, die Konsequenz, genau diesen Weg zu gehen. Das hat die Zustimmung der internationalen Staatengemeinschaft in New York gefunden. ({3}) Ich frage mich, was Sie unter einem Konzept tatsächlich verstehen. Zweiter Punkt: Drogen. Ich weiß nicht, wie oft Sie in Kabul waren und inwieweit Sie die Realität kennen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn der Maßstab die Kooperation mit denjenigen ist, die mit Drogen oder auch mit Waffen handeln oder Privatarmeen aufbauen, dann werden Sie den genauso in Kabul anlegen müssen. Verschließen Sie doch die Augen nicht vor der Realität! ({4}) Meines Erachtens ist es völlig blind, wenn Sie nicht sehen, wie die Verhältnisse auch in Kabul sind. Die sind nicht wesentlich anders. Das heißt, wenn wir diese Verhältnisse ändern wollen, dann nützt es nichts, wenn wir darüber eine innenpolitische Debatte führen und wenn wir diese Verhältnisse zwar in Kabul akzeptieren, aber im Hinblick auf die Provinzen, in denen wir im Zusammenhang mit dem Wahlprozess dringend Präsenz brauchen, plötzlich puristisch werden. Das verstehe ich beim besten Willen nicht. ({5}) Ich kann das, was der Kollege von der CDU/CSU vorhin in diesem Zusammenhang gesagt hat, nur nachdrücklich unterstreichen. Dritter Punkt: Extraction. Sie haben die Frage gestellt: Was passiert mit den Bundeswehrsoldaten, wenn es tatsächlich zu einer krisenhaften Zuspitzung kommt? Dazu kann ich nur sagen: Dasselbe gilt in Kabul. Eine Extraction ist nur mit NATO-Unterstützung und hier mit US-Unterstützung zu gewährleisten. Das gilt schon heute; das gilt selbstverständlich auch morgen und übermorgen. Das wissen auch Sie, weil wir darüber in den beiden zuständigen Ausschüssen oft diskutiert haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Seien wir froh, dass ein britisches PRT, ein britisches Rekonstruktionsteam, bestehend aus einer kleinen Gruppe britischer Militärs, in Masar-i-Scharif war. Daran können Sie sehen: Dies war ein riskanter, aber notwendiger Einsatz, übrigens auf dem gleichen Niveau wie in Mazedonien, nämlich konfliktschlichtend. Den Briten war es in Masar-i-Scharif zusammen mit dem afghanischen Innenminister möglich, die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen zwei regionalen Provinzfürsten zur Einstellung zu bringen. Das ist eine der Aufgaben, die dort zu leisten ist. Sie ist riskant, aber im Interesse des Wiederaufbaus. ({6}) Eine der großen Leistungen, die wir mit relativ geringen Kräften erzielen, ist der Polizeiaufbau. Drogenbekämpfung bedeutet erstens, dass wir strukturell den Wiederaufbau der afghanischen Volkswirtschaft jenseits der Drogenproduktion ermöglichen. Zweitens heißt es, die afghanischen Sicherheitsbehörden aufzubauen. Hier leistet die Bundesrepublik Deutschland mit den wenigen eingesetzten Polizeibeamten von Bund und Ländern - ich betone das ganz bewusst, weil diese Zusammenarbeit sehr wichtig ist - eine so hervorragende Arbeit, dass ich international immer wieder darauf angesprochen werde. Man fordert uns auch auf, diese Arbeit auch außerhalb Kabuls zu leisten. ({7}) Drittens werden wir uns für die institutionelle Verbindung von Provinzen einsetzen. Afghanistan war kein Zentralstaat und soll auch keiner werden. Der Kollege Schäuble hat bereits auf die Realitäten in Afghanistan vor 1973 hingewiesen und erklärt, dass die dortigen Realitäten nicht mit denen der Bundesrepublik vergleichbar sind. Ich denke, es bedarf langfristiger Anstrengungen und Hilfe, um die Beschlüsse der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg umzusetzen und zu einer eigenständigen afghanischen Perspektive zu kommen. Es ist uns dabei klar, dass wir die Drogenproblematik nicht völlig beseitigen können. Das wurde auch bei den deutschrussischen Konsultationen - bei dem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und dem russischen Präsidenten in Jekaterinenburg - deutlich. Das haben auch die praktischen Kooperationen mit dem Iran gezeigt, sie gibt es schon länger im Kampf gegen den afghanischen Drogenhandel. Tatsache ist: Auf die Nachbarstaaten kommt mehr und mehr ein Problem zu. Die Bereitschaft zur aktiven Kooperation zur Unterbindung des Handels gründet sich in diesen Staaten auf Eigeninteresse; denn die Drogenproblematik betrifft die jungen Menschen in diesen Ländern immer stärker. Der internationale Fokus richtet sich darauf, Großbritannien hat die Führungsfunktion im Bereich Drogenbekämpfung übernommen und wir sind uns einig, dass wir intensiv zusammenarbeiten werden. Konsequenz ist aber die Präsenz von ISAF. ({8}) Konsequenz heißt nicht wegschauen und den Kopf in den Sand stecken. Nein, meine Damen und Herren von der FDP, ich bedauere sehr, dass Sie mit Ihrer außenpolitische Tradition jetzt auf diesem Kurs sind. Aber das müssen Sie letztendlich selbst verantworten. Ich möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die Unterstützung dieses Mandats bedanken und ich wünsche unseren eingesetzten Soldaten, dass sie gesund und wohlbehalten von diesem Einsatz zurückkehren. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon kurz nach dem 11. September 2001 haben wir in diesem Hause gemeinsam die Entscheidung getroffen, uns in Afghanistan auch mit bewaffneten deutschen Soldaten zu engagieren. Uns allen war damals klar, dass wir es uns nicht erlauben können, dieses Land wieder zu einer Zone der Ordnungslosigkeit und zu einem Trainingscamp für den internationalen Terrorismus absinken zu lassen. ({0}) Das war und ist nicht nur außen- und sicherheitspolitisch, sondern auch entwicklungspolitisch geboten. Unser militärisches Engagement bietet eine Chance, Afghanistan nach Jahrzehnten des Kriegs, der Unterdrückung und der Zerstörung wieder auf einen hoffnungsvollen Weg in die Zukunft zu bringen. Klar ist aber auch, dass wir unsere Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen dürfen. Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass seit unserem letzten Beschluss über die Verlängerung des ISAF-Mandates vor knapp einem Jahr die Probleme in Afghanistan gewiss nicht kleiner geworden sind. Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass vier deutsche Soldaten bei ihrem Einsatz ihr Leben verloren und viele andere zum Teil schwerste Verletzungen davongetragen haben. Umso notwendiger ist es, in ganz Afghanistan den Teufelskreis aus Mangel an Sicherheit und Wiederaufbau endlich zu durchbrechen. Deswegen nehmen wir es sehr ernst, wenn uns beispielsweise Vertreter der politischen Stiftungen sagen, dass wir uns mit unseren Anstrengungen nicht auf Kabul und Umgebung beschränken dürfen, weil sonst nicht nur der Rest des Landes in Elend und Chaos zu versinken droht, sondern auch die in Kabul bereits erreichten Erfolge wieder infrage gestellt werden. ({1}) Deswegen ist die US-amerikanisch-britische Idee, der wir uns nun anschließen, mithilfe regionaler Wiederaufbauteams die Entwicklung im Lande voranzutreiben, grundsätzlich richtig und auch die militärische Absicherung dieser Aktivitäten halten wir trotz aller vorgetragener Bedenken von Nichtregierungsorganisationen für richtig. ({2}) Wir nehmen gleichwohl die Bedenken der NROs, die auch Wolfgang Schäuble angesprochen hat, sehr ernst. Wir müssen bei unserer Entscheidung berücksichtigen, dass der geplante Einsatz deutscher Soldaten in Kunduz in der Tat gegen den Willen maßgeblicher deutscher Nichtregierungsorganisationen erfolgt. Frau Ministerin, auch wenn Sie den Kopf schütteln, muss man sagen: Man sollte diese Bedenken nicht mit dem Hinweis darauf ignorieren, dass auch die NROs eine Ausweitung des ISAF-Mandates über Kabul hinaus befürworten. Es ist eben ein Unterschied, ob ich grundsätzlich ein Engagement auch außerhalb Kabuls unterstützte oder ob ich ganz konkret diesen militärischen Einsatz mittrage. ({3}) Deswegen stimmt es uns natürlich auch bedenklich, wenn - wie vor zwei Tagen in der „Berliner Zeitung“ zu lesen - die Gesellschaft für bedrohte Völker sagt: „Kunduz braucht diesen Einsatz nicht“, wenn das Deutsche Rote Kreuz fürchtet, die Glaubwürdigkeit einer neutralen Organisation sei dahin, und wenn Caritas International erklärt: „Die Sicherheit unserer Mitarbeiter wird durch den Kunduz-Einsatz nicht unbedingt erhöht“. ({4}) Ich könnte diese Reihe noch lange fortsetzen. Ich wiederhole noch einmal: Man muss nicht all diese Bedenken teilen, aber man muss sie aus entwicklungspolitischer Sicht wenigstens ernst nehmen. Deswegen bedauern wir es, dass das Entwicklungshilfeministerium nicht in der Lage gewesen ist, die NROs von der Notwendigkeit dieses Einsatzes zu überzeugen ({5}) und bei seinen Ansprechpartnern offensichtlich nicht das wünschenswerte Vertrauen genießt. Das ist bedauerlich und muss hier festgestellt werden. ({6}) Ich muss in diesem Zusammenhang noch ein zentrales Bedenken aufgreifen, das schon angesprochen worden ist: Wir sind uns hier über die Parteigrenzen hinweg üblicherweise einig, dass Entwicklungspolitik Hilfe zur Selbsthilfe bedeuten soll. Das heißt eben auch, dass Afghanistan den nach seinen Kräften möglichen eigenen Beitrag dazu leisten muss. Genau diesen Beitrag vermissen wir allerdings bei der Bekämpfung des Drogenanbaus. Dabei ist die Protokollnotiz des Bundesaußenministers ja richtig und deswegen von uns auch eingefordert worden: Natürlich wollen wir nicht, dass die Bundeswehr in die Drogenbekämpfung militärisch hineingezogen wird. Aber umgekehrt wird niemand ernsthaft bestreiten können, dass der Drogenanbau in Afghanistan nicht bei Nacht und Nebel anonym durch völlig unbekannte Mächte erfolgt, sondern dass er gerade in der Region Kunduz von Personen des öffentlichen Lebens betrieben wird, die auch der Bundesregierung bekannt sind. Natürlich ist das ein Dilemma für uns. Frustrierend ist für uns auch die Vorstellung, wie dieser Drogenanbau funktioniert. Es kann aber nicht sein, dass wir den Drogenanbau in der Region Kunduz dauerhaft mit unserer militärischen Präsenz erleichtern. Das kann auf Dauer keine Perspektive sein. Herr Kollege Hoyer, in einem muss ich dem Außenminister beipflichten: Wir werden mit diesem Beschluss keine Komplizen der Drogenbarone. Wir tun das uns Mögliche, um genau das nicht zu werden. Wir kommen aber aus diesem Dilemma, in dem wir unbestreitbar stecken, auf keinem Weg heraus. Wir kommen da auch nicht durch einen völligen Rückzug aus dem Land heraus. Wir sind von Deutschland aus nicht in der Lage, aus diesem Dilemma herauszukommen. Das müssen die Afghanen selbst leisten. Diesen Beitrag müssen wir auch mit aller Dringlichkeit und Nachhaltigkeit von ihnen einfordern. ({7}) Neben den angedeuteten und vielen anderen Gründen gäbe es aus entwicklungspolitischer Sicht bei aller Anerkennung der Notwendigkeit, regionale Inseln der Stabilität außerhalb Kabuls zu schaffen, sicherlich viele Gründe, zu dieser konkreten Entscheidung für einen Einsatz in der Region Kunduz Nein zu sagen. Aber natürlich kann man auch eine solche entwicklungspolitische Entscheidung nicht von außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen abkoppeln. Für uns ist klar: Wir können und dürfen nicht aus der internationalen Allianz im Kampf gegen den Terrorismus ausscheren. Deswegen ist es natürlich wichtig und nicht zu vernachlässigen, dass es für diesen Einsatz ein UN-Mandat und eine NATO-Entscheidung gibt, in die wir als Bundesrepublik Deutschland zusammen mit vielen unserer Partner eingebunden sind. Der Außenminister und der Bundesverteidigungsminister haben zu Recht auf diese wichtige internationale Einbindung hingewiesen. ({8}) Wir müssen uns schließlich auch vor Augen halten, worüber heute tatsächlich abgestimmt wird und worüber nicht. Anders als bei einer früheren Entscheidung über einen internationalen Bundeswehreinsatz wird uns heute keine Abstimmung darüber abverlangt, ob wir Vertrauen zum Bundeskanzler haben oder nicht. Diese Frage würden wir, so wie die übergroße Mehrheit der Menschen in unserem Lande, selbstverständlich und aus tiefstem Herzen verneinen. Diese Frage stellt sich heute aber nicht. Ob es uns gefällt oder nicht, wir haben heute mit der Entscheidung für oder gegen einen Einsatz in Kunduz auch über die Fortsetzung unseres Engagements im Rahmen des bisherigen ISAF-Mandates zu entscheiden. Sich dieser Fortsetzung und damit unserer militärischen Präsenz in Afghanistan überhaupt zu verweigern wäre im Interesse der Menschen in Afghanistan wie auch in unserem eigenen wohlverstandenen nationalen Interesse nicht zu rechtfertigen. Deswegen stimmen wir, wenn auch mit Bedenken, dem Antrag der Bundesregierung zu. Unseren Soldatinnen und Soldaten wie auch allen Entwicklungshelferinnen und -helfern wünschen wir viel Erfolg bei ihrer Arbeit in Afghanistan und allen eine gute Rückkehr. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Bereits zu Beginn dieser Woche ist in der Presse vermeldet worden, dass die PDS-Abgeordneten gegen die Erweiterung des Afghanistan-Mandates für die Bundeswehr stimmen werden. Man hatte uns zuvor zwar nicht dazu befragt, aber ich halte es für ein gutes Zeichen, dass die Ablehnung durch die PDS als selbstverständlich gilt. Damit aber nicht der Eindruck entsteht, wir würden nur aus Prinzip und ohne weitere Argumente ablehnen, will ich Ihnen unsere Ablehnungsgründe gerne erläutern. Übrigens: Wenn man sich nur einigermaßen auf Umfragen verlassen kann, vertreten heute all diejenigen Abgeordneten, die mit Nein stimmen werden, die große Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Laut einer Emnid-Umfrage sprechen sich 69 Prozent der Menschen in unserem Land gegen die Ausweitung des Bundeswehreinsatzes aus. Die heute im Deutschen Bundestag zu erwartende Mehrheit repräsentiert also nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung. Aber vielleicht beruft sich diese Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages auf höhere Einsichten, die der Bevölkerung nicht zugänglich sind. Nicht umsonst tagen die Ausschüsse zu diesen Themen meistens in vertraulichen Sitzungen. Aber auch die Experten warnen. Humanitäre Hilfsorganisationen warnen vor der Vermischung von zivilem und militärischem Einsatz. Die Formulierung im Antrag der Bundesregierung von der - ich zitiere - „zivil-militärischen Zusammenarbeit“ ist aus meiner Sicht ein Widerspruch in sich. Die Geschäftsführerin von „Ärzte ohne Grenzen“ in Deutschland, Ulrike von Pilar, erklärte: Wir wollen weiterhin als Mediziner von der Bevölkerung angesehen werden und nicht als Teil einer politischen Agenda. Das Deutsche Rote Kreuz befürchtet - das ist hier von meinem Vorredner schon angesprochen worden -, dass anderenfalls die Glaubwürdigkeit einer neutralen Organisation dahin sei. Kritik kommt aber nicht nur von Zivilisten, sondern auch von Militärs. Sie befürchten, deutsche Soldaten könnten zwischen die Fronten von verschiedenen Kriegsherren und Drogenbaronen geraten. Nebenbei bemerkt: Kriegsherren sind häufig auch Drogenbarone. Nun hat die Bundesregierung erklärt, dass die Aufgabe deutscher Soldaten nicht in der Drogenbekämpfung besteht. Was heißt das aber praktisch? Nehmen wir den Fall an, eine Bundeswehrstreife greift Drogenhändler auf. Was macht sie in diesem Fall? Der Abgeordnete Willy Wimmer aus der CDU/CSU-Fraktion weist in einem Brief an den Bundesminister der Verteidigung darauf hin, dass Kunduz die Hochburg des Drogenanbaus und Drogenhandels ist. Ich zitiere den Schluss seines Briefes an Herrn Struck: Kunduz ist der hellste Stern am afghanischen Drogenhimmel. Und ausgerechnet dort sollen unsere Soldaten die Kastanien aus den Feuern der Machthaber holen, sich dabei die Hände schmutzig machen und zwischen alle Fronten geraten? Meine Damen und Herren, mit welcher Begründung sind deutsche Soldaten überhaupt nach Afghanistan geschickt worden? Viele haben das schon vergessen und befinden sich hier in einer Abstimmungsroutine. Nach dem 11. September 2001 war von der US-Regierung Afghanistan als verantwortlich für die Anschläge auf das World Trade Center erklärt worden. Bin Laden sollte gefasst werden. Die Bundesregierung erklärte damals die uneingeschränkte Solidarität mit den USA. Blickt man auf die vergangenen zwei Jahre zurück, so muss man feststellen, dass die Zusicherung der uneingeschränkten Solidarität ein schwerer Fehler war; denn die Bundesrepublik wurde von der Bush-Regierung in einen lang andauernden Krieg gegen den Terror eingebunden. Jetzt weiß die Regierung nicht mehr, wie sie aus diesem Feldzug wieder herauskommen soll. ({0}) Es ist ein offenes Geheimnis: Die Erweiterung und Verlängerung des Afghanistanmandats haben nicht nur etwas mit Afghanistan zu tun - vielleicht sogar eher weniger -, sondern das ist vor allem ein Kuhhandel mit den Amerikanern. ({1}) Die Deutschen sollen Bush in Afghanistan den Rücken freihalten, damit Amerika im Irak schalten und walten kann, wie es will. Einer solchen Strategie können wir als PDS niemals zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Bundesministerin Heidemarie WieczorekZeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute vor 58 Jahren trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Seitdem wird der 24. Oktober in vielen Mitgliedstaaten als der Tag der Vereinten Nationen in Erinnerung gerufen. Das sollte uns allen in diesem Hause gemeinsam Anlass sein, den Vereinten Nationen zu danken und unsere Dankbarkeit für die Existenz der Vereinten Nationen sowie unsere Zustimmung zur Notwendigkeit einer multilateralen Organisation und Weltordnung zum Ausdruck zu bringen. ({0}) Afghanistan ist - jedenfalls bisher - ein Beispiel für ein gemeinsames Vorgehen der internationalen Gemeinschaft. Es beruht auf der Basis eines breiten UN-Mandates und der afghanischen Eigenverantwortung. Ich möchte auch noch einmal an die Kolleginnen und Kollegen der FDP appellieren: Diese Anstrengungen werden nur zum Erfolg führen, wenn die internationale Gemeinschaft ihre Bemühungen fortsetzt und sie über die große Region um Kabul hinaus ausweitet. ({1}) Mit der Resolution 1510 des UN-Sicherheitsrats vom 13. Oktober 2003 gibt es jetzt nicht nur eine völkerrechtliche Grundlage für die Ausweitung des ISAF-Mandates, sondern sogar die Erwartung der internationalen Staatengemeinschaft, dass die beteiligten Länder ihr Engagement fortsetzen und ausweiten. Mancher redet hier wirklich wie der Blinde von der Farbe. ({2}) Ich war zweimal in diesem Land und bin mit vielen seiner Menschen in dauerndem Kontakt. Ich muss sagen: In den anderthalb Jahren, seitdem der Wiederaufbau möglich war und seitdem die Taliban gestürzt wurden, ist sehr viel erreicht worden - das haben alle meine Gespräche im Land, seien es die mit der Regierung, mit Nichtregierungsorganisationen oder mit einfachen Menschen auf der Straße, deutlich gemacht -: Mädchen gehen wieder in die Schule, ({3}) Krankenhäuser wurden wieder aufgebaut und es werden dort auch wieder Frauen behandelt, was vorher nicht möglich war, Rückkehrerinnen und Rückkehrer haben die Chance, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, und die Wasser- und Stromversorgung wurde wieder instand gesetzt. Meine Gesprächspartner haben mir aber auch ihre Besorgnisse genannt. Sie haben die Sorge, dass die Stabilität im Land nicht in allen Regionen ausreichend gesichert ist. Alle afghanischen Regierungsangehörigen und Partner haben sich für die Ausweitung des Einsatzes auf Kunduz ausgesprochen. Berücksichtigen Sie doch auch, was unsere Partner in Afghanistan sagen, und behaupten Sie nicht, Sie wüssten das alles besser als sie. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das deutsche Engagement in Kunduz soll einen Beitrag zur Schaffung eines Klimas der Sicherheit leisten und zum Wiederaufbau einer Region beitragen, in der mehr als 3 Millionen Menschen leben. Wir haben unseren Beitrag sehr sorgfältig vorbereitet. An die Adresse des Kollegen Brauksiepe gerichtet sage ich: Dabei haben wir den Bedenken Rechnung getragen, die internationale Organisationen gegen das amerikanische Konzept des Provincial Reconstruction Teams zu Recht hatten; ({4}) denn zum einen wurde dort der militärische und der entwicklungspolitische Teil vermischt und zum anderen das PRT-Konzept in die Struktur der Operation Enduring Freedom eingebunden. Wir haben dazu beigetragen, dass dieses Konzept nicht verfolgt wird, sondern dass die Ausweitung des ISAF-Einsatzes in das Konzept des Wiederaufbaus, wie es auf der Petersberger Konferenz beschlossen wurde, eingebunden wird und damit in einen politischen Kontext und nicht in einen Kontext mit Terrorismusbekämpfung unter Enduring Freedom. ({5}) Um Missverständnisse auszuräumen: Unser entwicklungspolitisches Engagement ist ein klar definierter, eigenständiger Beitrag. Es ist kein Beitrag im Rahmen des militärischen ISAF-Engagements. Es wird auch zu keiner Vermischung dieser beiden Komponenten kommen. Ziel ist die Schaffung eines Klimas der Sicherheit, von dem alle profitieren, die sich für den Wiederaufbau einsetzen. Militärische und entwicklungspolitische Maßnahmen sind zwei eigenständige Säulen eines Konzepts und sie bleiben getrennt. ({6}) Wie in Kabul werden auch in Kunduz die Vertreterinnen und Vertreter der staatlichen Durchführungsorganisationen gemeinsam in einem Haus arbeiten, und zwar in dem Gebäude, in dem bereits jetzt eine Organisation zurückgekehrten afghanischen Flüchtlingen mit unserer Unterstützung Hilfe leistet, die AGEF. Das von uns erarbeitete Konzept der Eigenständigkeit der Komponenten entspricht im Übrigen genau dem, was 80 internationale Nichtregierungsorganisationen im Juni 2003 in einem offenen Brief an die internationale Gemeinschaft gefordert haben, nämlich das ISAF-Mandat über Kabul hinaus auszuweiten und so Sicherheit für die Arbeit staatlicher und nicht staatlicher Organisationen zu gewährleisten. ({7}) Auch in diesem Zusammenhang sage ich an die Adresse des Kollegen Brauksiepe gerichtet: Mein Ministerium und ich selbst haben am 9. Oktober - das ist also noch nicht sehr lange her - mit Vertreterinnen und Vertretern des Verbands der deutschen Nichtregierungsorganisationen, VENRO, zu der Frage des Einsatzes in Kunduz ein Gespräch geführt. Darin wurde durch die Vertreterinnen und Vertreter der Nichtregierungsorganisationen bestätigt, dass das neue Konzept der Bundesregierung im Hinblick auf die Provinzen Afghanistans und auf Kunduz ihren ursprünglichen Bedenken Rechnung trägt. Natürlich wird nicht jede einzelne Nichtregierungsorganisation alle unsere Positionen teilen. In diesem Gespräch ist jedoch deutlich geworden, dass diese Position unterstützt wird. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({8}) Im Übrigen: Wir nehmen für dieses Konzept keine Nichtregierungsorganisation in Anspruch. In diesem Gespräch aber haben viele Vertreterinnen und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen gesagt, dass sie zur Zusammenarbeit bereit seien. Ich respektiere es, wenn Nichtregierungsorganisationen eigenständig sind. Was ich aber nicht akzeptieren kann, ist Heuchelei. ({9}) In Kabul leistet die ISAF einen Beitrag zum Klima der Sicherheit für all diejenigen, die sich für den Wiederaufbau engagieren. Was in Kabul richtig ist, kann doch für die Region Kunduz nicht falsch sein. Das sollte in dieser Diskussion sehr deutlich gesagt werden. ({10}) Nach sorgfältiger Prüfung haben wir gemeinsam mit unseren afghanischen Partnern entschieden, uns in Kunduz auf drei entwicklungspolitische Schwerpunkte zu konzentrieren: erstens auf die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und auch der sozialen Infrastruktur - Straßenbau, Wasserversorgung, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung -, zweitens auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung privater Investitionen, damit die Menschen langfristig eine Perspektive haben, und drittens auf den Aufbau demokratischer Institutionen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Bezug nehmen auf die Diskussion zur Bekämpfung des Drogenanbaus. Auch hier wende ich mich wieder an die Kolleginnen und Kollegen der FDP. Der Drogenanbau existiert bereits jetzt in Afghanistan - unter Ihren Augen. Ich sage ausdrücklich: Wenn die internationale Gemeinschaft einen Beitrag dazu leistet, dass es in Afghanistan wirtschaftlich, sozial, politisch und demokratisch wieder Perspektiven gibt, dann wird es dort eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung geben. Damit wird den Drogenbaronen der Boden entzogen. ({11}) Wer nun einen Rückzug aus Afghanistan befürwortet, muss sich fragen lassen, wie diese Botschaft von den Drogenbaronen aufgenommen wird. Ich meine, alle sollten ihre Verantwortung wahrnehmen und für dieses Mandat stimmen. ({12}) Wenn die internationale Gemeinschaft ihr Engagement zusammen mit den afghanischen Partnern - auch in der Regierung gibt es sehr unterschiedliche Ansprechpartner -, die für den demokratischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Afghanistans stehen, entschlossen fortsetzt, wird dem Drogenanbau auf Dauer die Grundlage entzogen. Afghanistan würde damit die Chance für eine gesunde wirtschaftliche Zukunft gegeben. Federführend beim Kampf gegen den Drogenanbau sind die afghanischen Sicherheitskräfte. Ich appelliere an die amerikanische Regierung, die die Lead Nation in Afghanistan ist, ihr Engagement beim Aufbau der neuen afghanischen Armee auszuweiten. ({13}) Dafür ist das afghanische Innenministerium in Zusammenarbeit insbesondere mit Großbritannien im internationalen Verbund zuständig. Ich stehe in engem Kontakt mit meinem britischen Kollegen Hilary Benn, der in diesem Bereich besondere Verantwortung trägt. Sie können daher sicher sein, dass wir beim zivilen Wiederaufbau wichtige Beiträge leisten, um die Drogenbekämpfung zu unterstützen. Dieses Ziel wird vor allem durch den Aufbau und die Ausbildung der Polizei, die Förderung des Anbaus alternativer Produkte und die Eröffnung neuer nicht landwirtschaftlicher Einkommen im Rahmen der Privatwirtschaft verfolgt. Zum Schluss: So oder so - Afghanistan wird auf jeden Fall Modellcharakter haben. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass unser Engagement zusammen mit unseren Partnern ein Erfolg wird. Es geht heute um den Einsatz der Soldaten. Wir alle hoffen, dass sie ihre Arbeit gesund und wohlbehalten leisten können. Ich möchte den Soldaten für ihr Engagement danken. Ich will an dieser Stelle aber auch sagen: Die Entwicklungshelfer und Entwicklungshelferinnen, die mit unserer Zustimmung in Afghanistan und insbesondere auch in Kunduz tätig sein werden, haben es verdient, dass wir ihnen für ihr Engagement, das sie häufig unter Einsatz von Leben und Gesundheit leisten, danken. Ich denke, ich kann im Namen des ganzen Hauses erklären, dass wir ihnen für ihre Arbeit viel Erfolg wünschen. Wir hoffen, dass sie ihre Arbeit wohlbehalten und gesund tun können. Unsere Unterstützung dafür haben sie. ({14}) Ich danke Ihnen sehr. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bernd Schmidbauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich ein Ziel gesetzt hat, dann muss man auch bereit sein, die für einen Erfolg nötigen Mittel konsequent einzusetzen. Das gilt auch für den Einsatz in Afghanistan. Unser Ziel und das der Vereinten Nationen ist klar formuliert. Erstens. Wir wollen in Afghanistan, einem Land, das von Krieg, Unruhen und Terror geprägt ist, daran mitwirken, gemeinsam mit der afghanischen Bevölkerung eine stabile politische und gesellschaftliche Ordnung herzustellen und damit dem afghanischen Volk neue Chancen für eine bessere Zukunft zu eröffnen. Zweitens - das scheint mir auch in der Auseinandersetzung der unterschiedlichen Auffassungen einer der wichtigsten Punkte zu sein -: Wir wollen in Afghanistan in einer Allianz gegen den Terror den Kampf gegen den internationalen Terrorismus fortsetzen und wir wollen auf diese Weise klar zum Ausdruck bringen, dass es uns sehr ernst mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist. Wir wollen demonstrieren, dass Deutschland zur Solidarität und internationalen Kooperation bereit ist. Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann müssen wir auch dazu bereit sein, die dafür notwendigen Mittel einzusetzen. Im vorliegenden Fall heißt das: Zustimmung zur Verlängerung und Erweiterung des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan. ({0}) Gestatten Sie mir einen kurzen Rückblick. Sie alle erinnern sich gewiss daran, dass in den 90er-Jahren die so genannte Afghanistan-Connection der Ursprung vieler, vermutlich der meisten internationalen Anschläge war. Der weltweite Terror hatte in Afghanistan seinen Ausgangspunkt. Ein weltweites Terrornetz wurde aus Afghanistan heraus aufgebaut. Der Höhepunkt dieses Terrors, dieses menschenverachtenden Wahnsinns, war der Anschlag vom 11. September vor zwei Jahren. Noch immer haben wir die grausamen Bilder von damals vor Augen. In diesem Zusammenhang muss gefragt werden, wo sich die Terroristen aufgehalten haben, wo sie ausgebildet wurden und woher die unermesslichen Finanzmittel kamen. In der Sicherheitskonferenz von Scharm el-Scheich hieß es: Terrorismus hat einen Namen, eine Adresse und ein Konto. Das waren die Ausgangspunkte für die Auseinandersetzungen in Afghanistan. Wir alle wissen, wer die wirklichen Täter, wer die Hintermänner und wer die Auftraggeber dieses Terrorismus waren bzw. sind. Natürlich hat die Weltgemeinschaft einige Fortschritte im Kampf gegen den Terrorismus erzielt. In Afghanistan konnte man al-Qaida-Mitgliedern und Talibanführern habhaft werden. Man konnte sie festnehmen. Aber machen wir uns nichts vor: Weltweiter Terror ist noch immer vorhanden, ebenso die Logistik des Terrornetzes und anderes. Es ist deutlich zu beobachten, dass sich die Sicherheitslage generell auch in Afghanistan nicht verbessert hat. Ich will das sehr vorsichtig ausdrücken. Sie wissen, dass es im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan zu heftigen Kämpfen zwischen den Taliban, die sich dort wieder gesammelt haben, und den Regierungstruppen und den sie unterstützenden Amerikanern gekommen ist. Die Sicherheitslage ist also durchaus als kritisch anzusehen. Es hat sich auch in Kabul gezeigt, dass es keine Insel des Friedens gibt, sondern dass alles instabil geworden ist. Ich erinnere mich an den 7. Juni dieses Jahres, an dem sieben deutsche Soldaten ums Leben gekommen sind. Dieser Anschlag hat deutlich gemacht, dass es keinen gefahrlosen Einsatz gibt. Trotz aller Bemühungen von Erkundungsteams gibt es keine Insel der Glückseligkeit, sondern wir müssen damit rechnen, dass es Anschläge und Auseinandersetzungen auch bei vermeintlich harmlosen Einsätzen gibt. ({1}) Eines will ich auch meinem Freund Werner Hoyer sagen: Natürlich verschließen sich die, die diesen Einsatz unterstützen, nicht dem in Afghanistan herrschenden Problem des riesigen Drogenmarkts, des Drogenhandels und Drogenanbaus. Es ist auch richtig, dass afghanische Regionalfürsten und Repräsentanten darin sehr stark involviert sind. Ich will Zahlen nennen: Schätzungen gehen davon aus, dass die Ausweitung der Opiumproduktion enorm zugenommen hat und dass sich der Anbau von Opium im Vergleich zu 1998 um bis zu 40 Prozent erhöht hat. Wir sprechen von bis zu 4 000 Tonnen Rohopium jährlich. Man kann die Augen vor dieser Problematik nicht verschließen, die nicht nur in Kunduz, sondern in allen Anbaugebieten Afghanistans herrscht. Nach Erhebungen der UN und anderer Organisationen, auch der EU, werden 70 Prozent der weltweit konsumierten Drogen in Afghanistan angebaut. Hinzu kommt - das wurde schon erwähnt -, dass Millionen von Süchtigen in dieser Region und den Nachbarländern zu beobachten sind, die die Problematik verstärken. Allerdings - das hat die Interimsregierung bewiesen besteht derzeit keine Chance für die Drogenbekämpfung. Wer meint, dass diese jetzt im Vordergrund stehen kann, irrt. Sie wissen, Werner Hoyer - Sie haben das auch schon selbst festgestellt -, dass alle Bemühungen in der Drogenbekämpfung in den letzten Jahren zu keinen Ergebnissen geführt haben. Man kann diese Art und Weise der Drogenbekämpfung zwar verbal preisen, aber wir alle wissen, was wir davon zu halten haben. Die Weltgemeinschaft muss sich zwar um dieses Problem kümmern, das kann aber nicht mit dem heute zu fassenden Beschluss geschehen. Dieser Beschluss bildet vielmehr die Voraussetzung dafür, dass wir uns um die Problematik im Ganzen kümmern können. ({2}) Ich halte deshalb die Erklärung der Bundesregierung, deren Präzisierung wir gefordert haben, für richtig. Soldaten sind - das ist keine neue Erkenntnis - keine Drogenfahnder. Sie können nicht für entsprechende Aufgaben eingesetzt werden. Soldaten sind aber auch keine Hampelmänner, die absichtlich wegsehen, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. ({3}) Sie müssen sich mit dieser Problematik auseinander setzen und dafür sorgen, dass afghanische Kräfte für die Ausbildung und den Einsatz in der Bekämpfung dieser riesigen Problematik in den Provinzen gewonnen werden können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schmidbauer, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Bernd Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001995, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass wir mit unserem Beschluss zu einem guten Start beitragen, dass wir dazu die bereits genannten flankierenden Maßnahmen auf den Weg bringen müssen und dass wir in bestimmten Fällen Aufbauhilfe leisten müssen. Mit dem Pilotprojekt in Kunduz wird ein guter Start ermöglicht, der es verdient, von einer breiten Mehrheit im Parlament unterstützt zu werden. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Präsident Wolfgang Thierse Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck- sache 15/1806 zu dem Antrag der Bundesregierung über die Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer In- ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha- nistan. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1700 anzunehmen. Es ist eine namentli- che Abstimmung verlangt. Dazu liegen Erklärungen zur Abstimmung von über 30 Kollegen vor.1) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das erfolgt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. ({0}) - Wir wollen die Beratungen fortsetzen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, besonders diejenigen im Mittelgang, herzlich, ihre Plätze einzunehmen. Ich rufe die Zusatzpunkte 5 a bis 5 d auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 15/1830 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksache 15/1831 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 1) Anlagen 2 und 3 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Daniel Bahr ({3}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Frühverrentung - Drucksache 15/1810 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Eckpunkte für die Weiterentwicklung der Rentenreform des Jahres 2001 und zur Stabilisierung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung - Drucksache 15/1832 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Frau Präsidentin! ({0}) - Sie sind doch froh, wenn Sie sich nichts anhören müssen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, einen Moment bitte. Ich bitte, die Diskussionen wenigstens im Sitzen fortzuführen. ({0}) Bitte schön, Frau Kollegin Schaich-Walch.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Einbringung des Zweiten und des Dritten Gesetzes zur Änderung des SGB VI treffen wir Entscheidungen, die uns nicht leicht gefallen sind. Sie führen zu Belastungen bei Rentnerinnen und Rentnern. Aber das, was wir für die Renten ausgeben, müssen die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber erst erwirtschaften. Ein geringes Wachstum ist die Hauptursache für die Finanzlücke in der gesetzlichen Rentenversicherung. Egal welche Rentenformel wir hätten, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, die konjunkturelle Einnahmeschwäche machte davor nicht Halt. Hätten wir heue Ihr Gesetz, dann läge der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung in diesem Jahr bei 21,5 Prozent ({0}) und im nächsten Jahr bei 22,3 Prozent. ({1}) Was das für die konjunkturelle Entwicklung und den Arbeitsmarkt bedeuten würde, möchte ich erst gar nicht beschreiben. Angesichts der finanziellen Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung ist es notwendig - das ist sicherlich auch schwierig und unpopulär -, das durchzuführen, was wir heute in erster Lesung einbringen. Aber die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen sind unbedingt notwendig, wenn die Akzeptanz der Rentenversicherung gewahrt bleiben soll. In den ersten neun Monaten dieses Jahres sind die Beitragseinnahmen nur um 0,5 Prozent gestiegen. Das sind 2 Prozentpunkte weniger als erwartet. Daraus ergibt sich ein Defizit von 8 Milliarden Euro. Wenn in Folge der nicht vorherzusehenden Konjunkturschwäche die Beitragseinnahmen der Rentenversicherung wegbrechen, gibt es leider nur zwei Möglichkeiten: eine Erhöhung des Beitragssatzes von 19,5 auf 20,5 Prozentpunkte mit allen negativen Wirkungen für die Beschäftigten sowie letztlich auch für die Rentnerinnen und Rentner oder unseren Vorschlag, die konjunkturell bedingte Belastung innerhalb der Rentenversicherung aufzufangen und auch die Rentnerinnen und Rentner an der Lösung des Problems zu beteiligen. Ich will hier überhaupt nicht verhehlen, dass es durch den Verzicht auf die Rentenanpassung im nächsten Jahr und dadurch, dass die Beiträge zur Pflegeversicherung voll getragen werden müssen, zu Belastungen bei Rentnerinnen und Rentnern kommt. Wir haben uns nach langer, schwieriger und eingehender Diskussion aber dafür entschieden, dass in der gegenwärtigen konjunkturellen Situation stabile Beiträge die Priorität haben. Gewerkschaften und Arbeitgeber - auch wenn es die einen oder anderen da kritisch sehen - teilen in dieser Frage unsere Auffassung, nämlich dass jetzt sämtliche Politikbereiche ihren Beitrag zu leisten haben, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Ich bin fest davon überzeugt, dass langfristig auch die Rentnerinnen und Rentner hiervon profitieren und dass in der Zukunft wieder Rentenanpassungen möglich sein werden. Ich glaube, dass es gerecht ist, die Beitragszahler nicht stärker zu belasten, da diese bereits durch den gestiegenen Beitragssatz in diesem Jahr und durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze ihren Beitrag zur Stabilisierung der Rentenversicherung geleistet haben. ({2}) Unter dem Gesichtspunkt der Lastenverteilung zwischen den Generationen ist es richtig, dass die Älteren ihren Beitrag leisten - wir werden mit ihnen darüber intensiv zu diskutieren haben -; ich weiß glücklicherweise aus Debatten, dass die meisten Rentnerinnen und Rentner dazu auch bereit sind. Jetzt zu dem Punkt, der immer wieder als Rentenkürzung bezeichnet wird. Es geht um die künftige volle Finanzierung des Pflegeversicherungsbeitrags durch die Rentnerinnen und Rentner. Wir behandeln in dieser Frage Rentnerinnen und Rentner künftig nicht anders, als wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer behandeln. ({3}) Ich glaube, dass das ein ausgesprochen gerechter Ansatz ist; denn mit der Einführung der Pflegeversicherung ist den Rentnerinnen und Rentnern ohne Vorfinanzierung eine notwendige und richtige Leistung zur Verfügung gestellt worden. Mit den geplanten Regelungen zur Pflegeversicherung wird sie künftig auch noch verbessert werden können. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist keine Frage: Die Situation der Rentenversicherung ist schwierig. Hierbei geht es nicht so sehr um die aktuelle, sondern mehr um die langfristige Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung. ({4}) Diese ist auch für die Zukunft gegeben, wenn die Weichen richtig gestellt werden, und wir werden die Weichen richtig stellen. Es geht um die Akzeptanz des Systems. Wie ich heute früh lesen konnte, sind zwei Drittel der Menschen in diesem Land davon überzeugt, dass dieses System richtig angelegt ist. Das heißt, dass wir gemeinsam Verantwortung dafür haben, Horrorszenarien vorzubeugen und Polemik in dieser Frage erst gar nicht zuzulassen. ({5}) Es war gute politische Tradition in der Bundesrepublik, dass langfristige rentenpolitische Entscheidungen im Konsens der gesellschaftlichen Kräfte getroffen wurden. Wir sollten diese Tradition fortsetzen. Grundlage dafür ist Ehrlichkeit in der Debatte, das heißt Akzeptanz der Fakten. ({6}) Auch mit dem demographischen Faktor wären die Ausgaben der Rentenversicherung heute nicht geringer. Ohne die Einnahmen aus der Ökosteuer und ohne die Rentenversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte läge der Beitragssatz, wie ich vorhin schon ausgeführt habe, heute um gut einen Prozentpunkt höher. ({7}) Die Union als große Volkspartei hat jetzt die Verantwortung, auf populistische Profilierung zu verzichten und die Akzeptanz der Sozialversicherung als einer Säule der sozialen Marktwirtschaft nicht zu gefährden. ({8}) Ich kann Ihnen nicht dazu raten, eine sozialpolitische Sonthofen-Strategie zu verfolgen und im Bundesrat Ihre Zustimmung zu dem zustimmungsbedürftigen Teil, mit dem die Erstauszahlung der Rente auf das Monatsende verschoben wird, zu verweigern. Die dann notwendige Beitragssatzsteigerung hätten allein Sie zu verantworten und kein Mensch in diesem Land würde das verstehen, besonders nicht nach der gemeinsamen Anstrengung, mit uns den Beitragssatz zur Krankenversicherung zu senken. ({9}) Heute diskutieren wir über Maßnahmen, die gewährleisten, dass der Beitragssatz im nächsten Jahr stabil bleibt und ein klares Signal für Wachstum und Beschäftigung gegeben wird. ({10}) Wir müssen aber gewährleisten, dass die Finanzierung der Rentenversicherung auch in Zukunft akzeptable Bedingungen für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler ermöglicht. Mit der gemeinsam von Union und SPD getragenen Rentenreform von 1989 haben wir bereits einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass angesichts der demographischen Entwicklung ein Beitragssatzanstieg auf deutlich über 30 Prozent bis zum Jahre 2030 verhindert wird. Heute wissen wir aber, dass diese Maßnahmen angesichts der neuen Daten nicht ausreichend sind. So wird die Lebenserwartung bis zum Jahr 2030 - glücklicherweise - um weitere drei Jahre ansteigen und sich entsprechend die Rentenbezugsdauer gegenüber heute um 20 Prozent verlängern. Der demographische Wandel ist dabei kein Schicksal, dem wir uns ergeben müssten. Vielmehr müssen wir in der Politik heute tatkräftig den Rahmen gestalten; wir müssen klug handeln. Zum Beispiel verliert der zukünftig eintretende Rückgang der Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter erkennbar seinen Schrecken, wenn es uns gelingt, die Erwerbsbeteiligung der älteren Arbeitnehmer zu erhöhen und die Erwerbsquote der Frauen deutlich zu verbessern. Aus Sicht der SPD sind die diesbezüglichen Annahmen der Rürup-Kommission ein Stück zu kurz gegriffen. Die Erfahrung der skandinavischen Staaten macht deutlich, dass man damit hervorragende Erfolge erzielen kann. Trotz dieser Maßnahmen werden wir nicht darum herumkommen, auch die langfristigen Ausgaben zu begrenzen. Hierzu haben wir am letzten Sonntag ebenfalls Eckpunkte beschlossen. Wer sich diese vorurteilsfrei anschaut und sie zum Beispiel auch mit Vorschlägen aus der Herzog-Kommission vergleicht, wird feststellen, dass es an einigen Punkten ähnliche Ansätze gibt, dass es aber andererseits Vorstellungen in der Herzog-Kommission gibt - ich nenne hier besonders die Frage der Witwen -, die mit unseren Auffassungen nicht vereinbar sind. Ich möchte aber trotz allem die Union ausdrücklich auffordern, sich daran zu beteiligen, eine einvernehmliche Lösung für die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung zu finden. ({11}) Das erwarten nicht nur die Rentnerinnen und Rentner zur Lösung der jetzt anstehenden Probleme; das erwarten auch die Jüngeren, die Planbarkeit und Kalkulierbarkeit benötigen und Sicherheit für ihre Lebensplanung sowie für ihr Leben im Alter brauchen. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, komme ich zu Tagesordnungspunkt 12 zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan bekannt. Abgegebene Stimmen 593. Mit Ja haben gestimmt 531, mit Nein haben gestimmt 57, Enthaltungen 5. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung sind angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Endgültiges Ergebnis Abgegebenen Stimmen: 593; davon ja: 531 nein: 57 enthalten: 5 Ja SPD Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({0}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({1}) Klaus Barthel ({2}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({3}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Wilhelm Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Martin Dörmann Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({9}) Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Walter Hoffmann ({11}) Iris Hoffmann ({12}) Frank Hofmann ({13}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Klaus-Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h.c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler ({14}) Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({15}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Christine Lucyga Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Christoph Matschie Hilde Mattheis Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({16}) Christian Müller ({17}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({18}) Dietmar Nietan Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({19}) Michael Roth ({20}) Gerhard Rübenkönig Ortwin Runde Marlene Rupprecht ({21}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({22}) Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Horst Schmidbauer ({23}) Ulla Schmidt ({24}) Silvia Schmidt ({25}) Dagmar Schmidt ({26}) Wilhelm Schmidt ({27}) Heinz Schmitt ({28}) Carsten Schneider Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Brigitte Schulte ({29}) Reinhard Schultz ({30}) Swen Schulz ({31}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({32}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Reinhard Weis ({33}) Petra Weis Gunter Weißgerber Matthias Weisheit Prof. Gert Weisskirchen ({34}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({35}) Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({36}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({37}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer Dr. Christoph Zöpel Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({38}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Prof. Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Peter Bleser Antje Blumenthal Prof. Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({39}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({40}) Gitta Connemann Hubert Deittert Albert Deß Alexander Dobrindt Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({41}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({42}) Dirk Fischer ({43}) Axel E. Fischer ({44}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({45}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger-Heinrich Haibach Gerda Hasselfeldt Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Martin Hohmann Joachim Hörster Hubert Hüppe Dr. Peter Jahr Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({46}) Volker Kauder Gerlinde Kaupa Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({47}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({48}) Dr. Karl A. Lamers ({49}) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({50}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({51}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({52}) Stephan Mayer ({53}) Conny Mayer ({54}) Dr. Martin Mayer ({55}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({56}) Doris Meyer ({57}) Maria Michalk Hans Michelbach Klaus Minkel Marlene Mortler Stefan Müller ({58}) Bernward Müller ({59}) Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Henry Nitzsche Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Melanie Oßwald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({60}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Prof. Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({61}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({62}) Hartmut Schauerte Andreas Scheuer Georg Schirmbeck Andreas Schmidt ({63}) Dr. Andreas Schockenhoff Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Matthias Sehling Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian von Stetten Gero Storjohann Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({64}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({65}) Gerald Weiß ({66}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Willi Zylajew BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({67}) Volker Beck ({68}) Cornelia Behm Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Ekin Deligöz Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({69}) Katrin Göring-Eckardt Anja Hajduk Antje Hermenau Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Fritz Kuhn Renate Künast Undine Kurth ({70}) Markus Kurth Dr. Reinhard Loske Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({71}) Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({72}) Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({73}) Werner Schulz ({74}) Petra Selg Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Jürgen Trittin Marianne Tritz Hubert Ulrich Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Margareta Wolf ({75}) FDP Ulrich Heinrich Nein CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Renate Blank Wolfgang Börnsen ({76}) Manfred Carstens ({77}) Leo Dautzenberg Herbert Frankenhauser Kurt-Dieter Grill Norbert Schindler Willy Wimmer ({78}) FDP Daniel Bahr ({79}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Helga Daub Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({80}) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({81}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Christel Happach-Kasan Christoph Hartmann ({82}) Klaus Haupt Birgit Homburger Michael Kauch Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({83}) Eberhard Otto ({84}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Prof. Dr. Andreas Pinkwart Marita Sehn Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Fraktionslose Abgeordnete Petra Pau Enthalten CDU/CSU Ilse Aigner Siegfried Helias Susanne Jaffke BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Winfried Hermann Hans-Christian Ströbele Nächster Redner in der Debatte zu Zusatzpunkt 5 ist der Kollege Andreas Storm, CDU/CSU-Fraktion. ({85})

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Schaich-Walch, es ist noch nicht einmal drei Monate her, dass wir im Rahmen der Konsensgespräche über die Gesundheitsreform gemeinsam beschlossen haben, dass die Rentner auf ihre Betriebsrenten in Zukunft den vollen Krankenkassenbeitrag zu bezahlen haben. Wir in der Union haben uns mit dieser Maßnahme nicht leicht getan. Bei diesen Verhandlungen haben die Vertreter der Bundesregierung heilige Eide geschworen, dass die Rentner über diese Maßnahme hinaus nicht noch weiter massiv belastet werden. ({0}) Wir hätten uns damals nicht im Traum vorstellen können, dass nach nur einem Vierteljahr im Bundestag die erste Rentenkürzung in der Nachkriegsgeschichte beschlossen werden soll. ({1}) Wenn die Rentner im nächsten Jahr zusätzlich zur Nullrunde durch die Pflegebeiträge voll belastet werden, dann werden die Zahlbeträge der Renten um 0,85 Prozent sinken. Das bedeutet: Jeder Rentner verliert im Schnitt 10 Euro im Monat. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurden die Rentner so stark und so einseitig belastet wie durch diese angekündigte Maßnahme. Noch vor einigen Jahren haben Sie das anders gesehen. Ich zitiere: Das trifft doch insbesondere jene meist älteren Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben, die ihre Kinder im Krieg durchgebracht haben und die vor allen Dingen die Lasten des Aufbaus im Westen getragen haben. Denen an die Rente zu gehen ist nicht nur sozial ungerecht, es ist unanständig. ({2}) Das hat Gerhard Schröder, wenige Wochen bevor er zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden ist, gesagt. ({3}) Die Rentenversicherungsträger sagen uns, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht worden ist, dass nach der Rentenkürzung für das nächste Jahr auch im Jahr 2005 und im Jahr 2006 Rentenerhöhungen kaum möglich sind, dass sie sogar gegen null tendieren werden, wenn die bisherige Rentenformel um einen Nachhaltigkeitsfaktor erweiAndreas Storm tert wird. Das bedeutet: Dank Rot-Grün bekommen die Rentner in den nächsten drei Jahren nicht einmal einen Inflationsausgleich; im nächsten Jahr werden sie sogar nominal weniger in die Tasche bekommen. Nicht nur die erste Rentenkürzung in der Geschichte der Bundesrepublik ist ohne Beispiel, sondern auch der Plan von Rot-Grün, die Finanzreserve der Rentenkassen vollständig zu plündern. ({4}) Technisch ausgedrückt heißt das: Die Schwankungsreserve soll auf 0,2 Monatsausgaben gesenkt werden. Was verbirgt sich hinter dieser technischen Umschreibung? Diese Maßnahme bedeutet nichts anderes als den Anfang vom Ende der finanziellen Eigenständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung. ({5}) Die Rentenversicherungsträger haben auf ihrer Jahrestagung in dieser Woche bestätigt: Wenn die Schwankungsreserve auf nur noch 0,2 Monatsausgaben gesenkt wird, dann sind die frei verfügbaren Mittel in den beitragsschwachen Monaten im Sommer 2004 komplett aufgebraucht. Das bedeutet: Ab Mitte des kommenden Jahres ist die Rentenversicherung auf vorgezogene Zuschüsse des Bundes angewiesen und dann, wenn diese Zahlungen nicht ausreichen, hängt die Rente vollends am Gängelband des Bundesfinanzministers, dann kommt es zum ersten Mal zur Rente auf Pump. ({6}) Das ist vollkommen inakzeptabel. ({7}) Das sind keineswegs Horrorszenarien, die verunsichern sollen, sondern ein realistischer Ausblick auf das, was uns im nächsten Jahr erwartet. Wenn der Finanzminister in die Mithaftung für die Finanzlage der Rentenversicherung genommen wird, dann will er, ja, dann muss er mit darüber entscheiden, ob es in Zukunft Rentenerhöhungen gibt und, wenn ja, wie hoch sie ausfallen. Das bedeutet mit anderen Worten: Wenn Sie dahin kommen, dass die Rentenversicherung dauerhaft vom Finanzminister abhängig ist, ({8}) dann brauchen wir uns im kommenden Jahr über eine neue Rentenformel nicht mehr zu unterhalten, dann brauchen wir nur noch mit dem Finanzminister zu diskutieren. ({9}) Vor diesem Hintergrund war auch die Forderung der Grünen, die Schwankungsreserve vollständig aufzulösen, völlig unverantwortlich. Diese Rücklage darf nicht aufgelöst, sondern muss mittelfristig wieder erhöht werden. ({10}) Das hat Ihnen die Rürup-Kommission ins Stammbuch geschrieben und das fordert die Herzog-Kommission. Für die Union ist dies ein Essential einer langfristig angelegten Rentenreform. ({11}) Neben den Rentnern hat es am vergangenen Sonntag einen weiteren Verlierer gegeben: den Bundesfinanzminister. Was sich da abgespielt hat, ist doch schon ein parlamentarischer Treppenwitz. Vor einer Woche hat dieses Haus mit rot-grüner Mehrheit ein Haushaltsbegleitgesetz verabschiedet, durch das der Bundeszuschuss für die Rentenkasse im nächsten Jahr um 2 Milliarden Euro abgesenkt werden sollte. Heute, sieben Tage später, bringen Sie einen Gesetzentwurf ein, der das Ganze wieder rückgängig macht. Das ist wirklich kabarettreif, meine Damen und Herren. ({12}) Lassen Sie mich zu den Maßnahmen zusammenfassend sagen: Die vorgesehenen Rentenkürzungen und das Ausplündern der Rentenkasse stellen einen verhängnisvollen Irrweg dar, für den alleine die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen die Verantwortung tragen. ({13}) Denn dass die gesetzliche Rentenversicherung in der größten Finanzkrise seit ihrem Bestehen steckt und mit einem Finanzloch von 8 Milliarden Euro - wenn man die 2 Milliarden Euro, die Herr Eichel wollte, dazurechnet, sogar 10 Milliarden Euro - das größte Loch in der Rentenkasse in der Nachkriegsgeschichte entstanden ist, ist ausschließlich auf eine Kette von Fehlern zurückzuführen, die die Bundesregierung selbst verschuldet hat. ({14}) Fehler Nummer eins war die Rücknahme des demographischen Faktors von Norbert Blüm. ({15}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat das ja eingestanden. Es ist erst wenige Wochen her, dass er gesagt hat: Dieses war ein Fehler; wir brauchen wieder einen demographischen Faktor. ({16}) Hätten Sie den 1998 nicht aus der Rentenformel gestrichen, hätten wir uns viele Debatten in diesem Hause ersparen können. ({17}) An der Stelle will ich Ihnen auch noch einmal den grundlegenden Unterschied zwischen einem demographischen Faktor bzw. einem Nachhaltigkeitsfaktor, der von Ihnen ins Spiel gebracht wurde, die gleiche Grundphilosophie wie der demographische Faktor hat und sich nur im Detail von diesem unterscheidet, und Ihrer Rentenkürzung deutlich machen. Beim demographischen Faktor ging es darum, wie wir die Lasten zwischen Rentnern und Beitragszahlern fair und gerecht aufteilen. Weder die Rentner alleine sollten über anhaltende Nullrunden oder Kürzungen die Lasten schultern, noch sollten die Beitragszahler alleine über immer weiter steigende Beiträge belastet werden. Deshalb war ein fairer Ausgleich nötig, der dazu beiträgt, dass die Beiträge nur sehr wenig steigen und die Renten ein wenig angehoben werden können, aber langsamer als ohne diesen Korrekturfaktor steigen. Sie aber belasten mit der von Ihnen vorgesehenen Kürzung zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte einseitig die Rentner. Das stellt eine Abkehr von den bisherigen Grundprinzipien der deutschen Rentenpolitik dar. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Storm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. ({0})

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich habe mich vielmehr über einen Satz geärgert, den ich jetzt Herrn Storm noch einmal vorhalten möchte. ({0}) Sie haben gerade erwähnt, dass wir uns diese Debatten erspart hätten, wenn wir den Blüm-Faktor beibehalten hätten. ({1}) Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass wir, wenn wir Ihren Forderungen gefolgt wären, wenn also beispielsweise die Einnahmen aus der Ökosteuer nicht in die Rentenkasse fließen würden, heute trotz Blüm-Faktor bei einem Beitragssatz von 21,3 Prozent wären?

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dreßen, ich bin Ihnen dankbar für diese Frage. Ihre Kollegin Frau Schaich-Walch hat das vorhin auch schon behauptet. Das ist aber falsch, denn Sie können nicht Systeme mit unterschiedlichen Bundeszuschüssen vergleichen. Sie müssen dabei immer einen gleich hohen Bundeszuschuss zugrunde legen. Unter dieser Voraussetzung ist es zweifelsfrei so, dass wir mit einem demographischen Faktor eine Verringerung der Finanzprobleme in der Rentenversicherung allein in diesem Jahr um 3 Milliarden Euro hätten; die Probleme wären also mit demographischem Faktor wesentlicher geringer als ohne ihn. ({0}) Meine Damen und Herren, Fehler Nummer zwei der rotgrünen Rentenpolitik sind Berechnungen, die in einer solchen Weise angestellt wurden, dass man damit in der PisaStudie mit Pauken und Trompeten durchgefallen wäre. Alle Jahre wieder das gleiche Schauspiel: Es werden im Oktober bei der Berechnung des Beitragssatzes für das kommende Jahr gesamtwirtschaftliche Annahmen zugrunde gelegt, die gnadenlos schöngerechnet sind. Deshalb haben wir zum dritten Mal in Folge die Situation, dass wir feststellen müssen, dass der Beitrag hinten und vorne nicht ausreicht. Vor zwei Jahren haben Sie mit dem damaligen Minister Walter Riester eine Reform im Deutschen Bundestag durchgesetzt und dabei verkündet, die Probleme seien gelöst. Alleine in den letzten drei Jahren ist eine Finanzlücke in Höhe von 21 Milliarden Euro entstanden: im Jahr 2001, dem Jahr der Verabschiedung der RiesterReform, 3 Milliarden Euro; im vergangenen Jahr 8 Milliarden Euro und in diesem Jahr - die Einsparung, die Herr Eichel wollte, eingerechnet - 10 Milliarden Euro. Das Verheerende an dieser Krise ist, dass sie mit der demographischen Entwicklung nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Sie ist auf die Fehler und Versäumnisse dieser Bundesregierung zurückzuführen. ({1}) Sie ist vor allen Dingen auf ein vollständiges Versagen in der Arbeitsmarktpolitik zurückzuführen. ({2}) Diese Fehler setzen sich fort. Gestern bei der Vorlage durch den Bundeswirtschaftsminister haben Sie über die Annahmen für das kommende Jahr gesagt: Wir gehen davon aus, dass es wieder ein Wachstum geben wird und die Arbeitslosigkeit leicht sinkt. - Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben Ihnen am Dienstag ins Stammbuch geschrieben: Wenn es zu einer Aufwärtsentwicklung kommt, dann wird diese nicht dafür ausreichen, dass es einen Beschäftigungsaufbau gibt. - Das heißt: Im Kern wird bereits jetzt die Misere angelegt, die sich im nächsten Jahr zeigen wird. ({3}) Vor einem Jahr, zum Zeitpunkt der Festlegung des Beitragssatzes für dieses Jahr, haben die Rentenversicherungsträger gewarnt und gesagt: Er reicht nicht aus. - Es war also schon vor einem Jahr absehbar, dass es eine Krise geben wird. Deshalb hat der Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Professor Ruland, am 9. Oktober in der „Welt“ gesagt: Die Regierung wird nun dafür bestraft, dass sie damals zu kurz gesprungen ist. ({4}) Das macht deutlich: Diese Krise ist das Ergebnis einer verfehlten Politik. So haben wir nicht den Hauch einer Chance. Die Misere in der Sozialversicherung - das betrifft nicht nur die Rentenversicherung, sondern genauso die Kranken- und die Pflegeversicherung - können wir nur dann überwinden, wenn es gelingt, die Beschäftigungskrise zu bewältigen. Was Sie jetzt vorgelegt haben, ist - ähnlich wie in den beiden Vorjahren - ein reines Notmaßnahmenpaket, das vielleicht ausreicht, einen Teil der Finanzlöcher im kommenden Jahr notdürftig zu stopfen. Aber mit dieser Flickschusterei werden Sie es nicht schaffen, bis zum Ende der Wahlperiode eine klare Linie in die Rentenpolitik zu bekommen. ({5}) Nun fragen Sie vielleicht: Was ist die Alternative der Union? ({6}) Wir diskutieren gleich im Ausschuss über Ihre Gesetze. Es gibt einen Antrag der Union, der bereits vom 20. Mai datiert. Wir haben Ihnen damals gesagt, dass es höchste Zeit ist, zu handeln. Im Frühsommer haben wir Sie aufgefordert: Legen Sie ein Paket von Maßnahmen für eine große Rentenreform vor, die bereits im nächsten Jahr greift! Machen Sie einen Vorschlag für eine nachhaltige Rentenformel! Sie haben uns im Deutschen Bundestag - sowohl im Plenum als auch im Fachausschuss - immer gesagt: Nein, wir warten ab bis zum Oktober oder bis zum November. Erst dann kennen wir die genauen Zahlen. Wer den Karren vorsätzlich gegen die Wand fährt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er niemanden findet, der bereit ist, die Abschleppkosten zu übernehmen. ({7}) Wenn es angesichts Ihrer Vorschläge einen positiven Aspekt gibt, dann ist es der: Sie haben erkannt, dass die langfristigen Maßnahmen von den kurzfristig angelegten notdürftigen Reparaturmaßnahmen abgekoppelt werden müssen. Bei den langfristigen Maßnahmen liegen Licht und Schatten eng beieinander. Zunächst einmal muss man sagen: Es ist richtig, wenn Sie zu einer nachgelagerten Besteuerung der Renten übergehen wollen. Darüber müssen wir reden; das ist seit langem eine Forderung der Union. ({8}) Da gibt es aber immer noch Punkte, über die wir sehr genau reden müssen. Das ist zum Beispiel die Frage der Übergangszeiträume. Aber im Grundsatz sind wir uns einig. Im Übrigen haben wir drei Jahre lang gesagt, dass die Riester-Rente deswegen ein Flop ist, weil sie viel zu kompliziert ist und weil die elf Kriterien derart einengend wirken, dass kein Mensch vernünftigerweise bereit sein wird, die Riester-Rente als optimale Form der Altersvorsorge zu sehen. Wir haben eine Entschlackung auf drei Kriterien gefordert. Nachdem Sie jahrelang gesagt haben, das sei falsch, wollen Sie den Kriterienkatalog nun reduzieren und so die ergänzende Vorsorge attraktiver machen. Das ist richtig. Man kann sagen, dieser Vorschlag liest sich so, als hätten Sie ihn aus unserem Wahlprogramm abgeschrieben. Aber es ist besser, Sie kommen spät zu dieser Erkenntnis als nie. Auch an dieser Stelle können wir miteinander reden; denn wir dürfen keine Zeit verlieren. Es muss gerade den Jüngeren schnell ermöglicht werden, eine attraktive ergänzende Altersvorsorge zu wählen. ({9}) Auch über einen Nachhaltigkeitsfaktor können wir miteinander reden. Dieser Faktor entspricht zwar nicht im Detail, aber in der Zielsetzung genau unserem demographischen Faktor. Aber ein Punkt ist für die Union völlig inakzeptabel, nämlich die vorgesehene Abschaffung der Anrechnungszeiten für die Schulausbildung und für das Studium bei der Rentenberechnung. ({10}) Diese Änderung führt für alle unter 60-jährigen Versicherten, die bisher eine dreijährige Anrechnungszeit haben, zu einer monatlichen Rentenkürzung um über 58 Euro. Das entspricht im Durchschnitt etwa einer Rentenkürzung um 5 Prozent. Sie haben Recht: In der Vergangenheit gab es noch längere Anrechnungszeiten. In den 90er-Jahren sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass drei Jahre ein angemessener Zeitraum sind; er bedeutet keine zu lange Anerkennung von Ausbildungszeiten. Aber darauf zu verzichten wäre völlig unangemessen. Auch in unseren Nachbarländern werden sie in der Regel anerkannt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem wir über die Stärkung des Bildungsstandortes Deutschland miteinander diskutieren, wäre es geradezu absurd, das Signal zu senden, dass derjenige bei der Alterssicherung bestraft wird, der in Bildung investiert. Deshalb noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion, die als „Abweichler“ große Beachtung gefunden haben. Liebe Frau Skarpelis-Sperk, lieber Kollege Schreiner, ({11}) wenn Ihre Zustimmung schon zu dem Dumpingpreis zu haben ist, dass statt einer dreijährigen Übergangszeit, wie von der Ministerin angedacht, eine vierjährige Übergangszeit geschaffen werden soll, dann ist das eine Lachnummer. Denn das würde bedeuten, dass nicht die heute unter 60-Jährigen, sondern „nur“ die unter 59-Jährigen betroffen wären. Eine solche Bonsailösung kann doch nicht allen Ernstes der Preis für diejenigen sein, die zu Recht ihre Zustimmung nicht geben wollen. ({12}) Um es zum Schluss noch einmal ganz deutlich zu sagen: Dieses kurzfristige Notsparpaket ist völlig unangemessen. Die großen Verlierer sind die Rentner. Das müssen Sie alleine schultern. Wir sind bereit, im kommenden Jahr über eine gemeinsame Rentenreform zu reden. Aber wenn die vorgesehene Abschaffung der Anrechnung der Ausbildungszeiten bei der Rente ein Eckpfeiler des im nächsten Jahr von Ihnen geplanten, langfristig angelegten Rentenpakets sein sollte, dann würde dies eine klare Absage an eine parteiübergreifende Rentenreform bedeuten. Deshalb gehen Sie in sich ({13}) und legen Sie einen besseren Vorschlag vor! ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Storm, lassen Sie mich vorab eines sagen: Ich habe bis zur letzten Sekunde darauf gewartet, dass Sie uns in aller Freundlichkeit endlich einmal Ihre Vorschläge zur Überwindung der aktuell schwierigen Situation, in der wir uns befinden, unterbreiten. ({0}) Sie haben sich wieder einen schlanken Fuß gemacht, Herr Storm. Aber zur Opposition werde ich noch kommen. ({1}) Lassen Sie mich eines feststellen: Der Beschluss der Koalition vom letzten Sonntag, für das nächste Jahr in der Rente keine Beitragserhöhung, sondern eine Stabilisierung des Beitragssatzes bei 19,5 Prozent festzuschreiben, ist ein notwendiger und konsequenter Schritt, um die Investitionen in Arbeit im nächsten Jahr zu stärken. Sie, Herr Storm, haben genau das Gegenteil vorgeschlagen. ({2}) Wir stehen heute an der Schwelle einer wirtschaftlichen Belebung - noch längst nicht an der Schwelle eines Aufschwungs. ({3}) In dieser Situation ist es absolut notwendig, klare Prioritäten für mehr Arbeit zu setzen. Dazu gehört, die Rentenbeiträge für das nächste Jahr zu stabilisieren. Dazu gehören ebenso das Vorziehen der Steuerreform, die Hartz-Reformen, durch die wir übrigens die Beschäftigungsschwelle schon auf 1,8 Prozent gesenkt haben, sowie die schwierigen Schritte in der Gesundheitsreform. Eines ist völlig klar: Es wäre Gift für die Konjunktur, wenn wir die Beiträge in dieser Situation erhöht hätten. Deswegen haben wir uns so entschieden. Ich weiß, dass das für viele sehr schwierig ist; denn Beitragszahlen sind abstrakte Zahlen und eine Nichterhöhung der Renten trifft Menschen ganz konkret. Aber wir müssen uns immer wieder klar machen: Eine Erhöhung der Beiträge um 1 Prozent bedeutet 100 000 Arbeitslose mehr und das können wir uns nicht leisten. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Fuchs?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie sprachen gerade davon, dass wir an der Schwelle eines Aufschwungs stehen würden.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Einer Belebung, habe ich gesagt.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können Sie mir dafür irgendwelche Indikatoren nennen? Zurzeit haben wir die größte Pleitewelle; gestern stand es in den Zeitungen. 42 000 Unternehmen werden in diesem Jahr Pleite gehen. Das hat mit Aufschwung nicht allzu viel zu tun. Wir haben ein Minuswachstum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man minus wachsen kann. Das ist für mich eine Schrumpfung. Das ist die Folge Ihrer Politik. Erklären Sie mir bitte, wo Sie die Hoffnung hernehmen, dass wir jetzt an der Schwelle eines Aufschwungs stehen! Diesen kündigen Sie seit drei Jahren an; aber ich kann nicht feststellen, wo er ist. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich fände es schön, wenn Sie zuhören würden, wenn man hier eine Rede hält. Ich habe davon gesprochen, dass wir an der Schwelle einer wirtschaftlichen Belebung und noch längst nicht an der Schwelle eines Aufschwungs stehen. ({0}) Dass Sie diesen Unterschied nicht erkennen, zeigt Ihre wirtschaftspolitische Kompetenz. ({1}) Es gibt Indikatoren dafür. Lesen Sie einmal wirtschaftspolitische Zeitungen - und nicht nur die „Bild“Zeitung, wenn sich Frau Böhmer darin ausbreitet -, ({2}) die deutlich schreiben, dass wir in Deutschland, gerade was die Exportentwicklung anbelangt, wieder auf dem Vormarsch sind, allerdings - auch das sage ich; das ist ein Wermutstropfen - noch nicht so stark in den neuen Ländern. Deswegen ist es absolut notwendig, mit der Stabilisierung der Rentenbeiträge alles dafür zu tun, der konjunkturellen Entwicklung keine Steine in den Weg zu legen. Dies sind unbequeme Wahrheiten; ich weiß das. Es ist eine unbequeme Wahrheit, wenn man sagen muss: Es gibt im nächsten Jahr keine Rentenerhöhung, weil wir ansonsten den Zuwachs an Arbeitsplätzen gefährden würden. Das ist richtig. Es ist auch richtig, dass wir hier die Solidarität der Rentnerinnen und Rentner mit den Arbeitslosen einfordern. Aber ich habe mich gefreut, feststellen zu können - auch darauf will ich hinweisen -, dass nach Umfragen 54 Prozent der Rentnerinnen und Rentner dazu bereit sind. Herr Storm, Sie haben in dieser Debatte mehrere Behauptungen eingebracht - sie sind schlichtweg falsch -, um in einer schwierigen politischen Situation zu zündeln. Sie sagen, wir hätten in Deutschland noch nie eine Nullrunde gehabt. ({3}) Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir 1983 unter der Regierung Kohl eine Nullrunde hatten; die Renten wurden damals nicht erhöht. Sie haben gesagt, wir hätten noch nie eine Rentenkürzung gehabt. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir im Jahre 1995, als die Pflegeversicherung eingeführt worden ist, einen Beitrag der Rentnerinnen und Rentner zur Pflegeversicherung von 0,5 Prozent festgelegt haben. Genau das tun wir auch heute. Sie hetzen heute dagegen. Das Gleiche haben Sie damals gemacht. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Storm?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dückert, Sie haben eben behauptet, es habe bei der Einführung der Pflegeversicherung eine Rentenkürzung gegeben. Können Sie mir bestätigen, dass die Renten im Jahre 1994 in den alten Bundesländern um 3,39 und in den neuen Bundesländern um 3,45 Prozent und im Jahre 1995 in den alten Ländern um 0,5 und in den neuen Ländern um 2,48 Prozent angehoben worden sind und dass angesichts der Einführung eines Beitrags der Rentner zur Pflegeversicherung von einem halben Prozentpunkt von einer Rentenkürzung keine Rede sein kann? ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Storm, ich kann Ihnen genau das bestätigen, was ich eben gesagt habe, ({0}) nämlich dass die Rentnerinnen und Rentner im Jahre 1995 zusätzlich mit einem Pflegeversicherungsbeitrag von 0,5 Prozent belastet worden sind. Das ist genau das, was wir jetzt machen. ({1}) Herr Storm, Sie haben noch etwas anderes behauptet: dass wir mit dem demographischen Faktor von Blüm und der blümschen Rentenreform insgesamt nicht in diese Situation gekommen wären. ({2}) Auch das, Herr Storm, ist nachweislich falsch. Mit der Riester-Treppe, die wir eingeführt haben, haben wir eine stärkere Wirkung auf die Rentenentwicklung erzielt, als dies mit dem blümschen demographischen Faktor der Fall gewesesn wäre. Mit der Einführung der Ökosteuer haben wir zusätzliche Mittel für die Finanzierung der Renten erschlossen. Ohne diese Maßnahmen läge der Beitragssatz bei 21 Prozent. Das ist die Wahrheit. ({3}) Mit Ihrer Politik gäbe es keine dritte Säule, die private Vorsorge, in der Rentenversicherung und wir hätten last, but not least nicht die bedarfsorientierte Grundsicherung für Rentnerinnen und Rentner. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, Altersarmut zu verhindern. Was tragen Sie uns vor? Sie haben konkret nichts vorgetragen. ({4}) - An kurzfristigen Lösungen haben Sie uns nichts vorgetragen. Sie haben gesagt, das sei nicht Ihre, sondern unsere Sache. ({5}) Sie haben das Herzog-Konzept in die Debatte gebracht. In diesem Konzept - jetzt sind wir wieder bei der Frage der Lohnnebenkosten - schlagen Sie vor, die Beiträge zur Pflegeversicherung von 1,7 Prozent auf 3,4 Prozent anzuheben, also zu verdoppeln. Das bedeutet erstens, wie in unseren Vorschlägen, eine zusätzliche Belastung der Rentner. Sie aber polemisieren dagegen, obwohl die Anhebung in Ihrem eigenen Konzept steht. Zweitens bedeutet es, dass die Arbeitnehmer doppelt so stark wie heute belastet werden, und gleichzeitig sprechen Sie davon, dass Familien entlastet werden sollen. An dieser Stelle kann man doch nur lachen. ({6}) Drittens werden die Rentenkassen zusätzlich belastet. Das würde zu Beitragserhöhungen führen. Die Diskussion, die Sie hier führen, gibt keine Antworten und verschleiert die Wahrheit. Ich denke aber, wir sollten über die Wahrheiten reden. ({7}) Ich komme nun zu einem weiteren Punkt, den Sie angesprochen haben: die Akademikerinnen und Akademiker. Es ist richtig, dass wir zu einer nachhaltigen Finanzierung der Rentenversicherung kommen müssen. Dazu leisten die Akademikerinnen und Akademiker einen Beitrag. Diejenigen, die in der Schule eine Berufsausbildung erhalten, müssen diesen Beitrag übrigens nicht leisten. Mir ist sehr wichtig, dass das hier noch einmal zur Sprache gebracht wird. Es ist nicht richtig, Herr Storm, dass Ihre Kollegin, Frau Böhmer, über die „Bild“-Zeitung die Rentnerinnen und Rentner gegen dieses Projekt aufhetzen will. Es ist zwar richtig, dass wir jetzt drei Jahre zusätzlicher Rentenaufstockung streichen wollen, aber Frau Böhmer verschweigt, dass Sie in den 90er-Jahren dafür verantwortlich waren, dass zehn Jahre gestrichen wurden. ({8}) Ich frage Sie und Frau Böhmer: Wo waren Sie damals mit Ihrer Gerechtigkeitsdebatte? ({9}) Es ist und bleibt eine verlogene Diskussion. Ich komme zum Schluss. ({10}) Wir befinden uns in einer sehr schwierigen Situation. Wir müssen die Lohnnebenkosten senken. Auf dem Arbeitsmarkt sind harte Reformen nötig. Eins gilt für uns alle: Wir können den Sozialstaat und den Arbeitsmarkt nur zukunftsfest machen, wenn wir den Mut zu diesen Reformen haben. Ich gebe Ihnen von der Union für die Verhandlungen im Bundesrat einen guten Rat. ({11}) Zeigen Sie Ihrem Blockade-Koch an dieser Stelle die schwarze Karte. Das ist für die Rentenentwicklung in Deutschland notwendig. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dückert, Sie haben gerade eine große Chance vertan. ({0}) Anstatt hier Ihre Ahnungslosigkeit in wirtschaftlichen und sozialversicherungsrechtlichen Zusammenhängen zu demonstrieren, hätten Sie wie Ihr Bundeskanzler sagen sollen: Ja, es ist richtig, wir haben einen Fehler gemacht, wir stehen vor einem Scherbenhaufen; lasst uns gemeinsam an die Aufarbeitung herangehen. Das wäre Ihre Chance gewesen. ({1}) Man muss es ganz nüchtern sehen, Frau Kollegin Dückert: Mit den heute zu debattierenden Vorschaltgesetzen dokumentieren Sie einen Tiefpunkt in der deutschen Rentenpolitik seit der Einführung der umlagefinanzierten Rente im Jahr 1957. ({2}) Rot-grüne Rentenpolitik, Herr Kollege Müntefering, macht alle Beteiligten zu Verlierern: ({3}) die jungen Menschen, die zusammengerechnet mit der Ökosteuer, dem Rentenbeitrag an der Zapfsäule, die höchsten Abgaben für die gesetzliche Rentenversicherung zu erbringen haben, im Gegenzug aber nur noch die geringsten Leistungen erwarten dürfen, ({4}) die Menschen, die mehr oder weniger kurz vor dem Eintritt in die Rente stehen und die Sie im Wochenrhythmus mit immer neuen Hiobsbotschaften konfrontieren - zuletzt betreffend die Anrechnung von Ausbildungszeiten -, ({5}) und die Rentner, die im kommenden Jahr zum ersten Mal in der Geschichte der umlagefinanzierten Rentenversicherung faktisch eine Rentenkürzung hinnehmen müssen. ({6}) Herr Dreßen, nicht lautes Aufbegehren, sondern in sich zu gehen und Reue zu zeigen wäre für Sie das Gebot der Stunde. ({7}) Eines muss Sie doch nachdenklich stimmen: Das Vertrauen der Menschen in Deutschland in die Rentenversicherung ist als Folge rot-grüner Politik mittlerweile auf nahezu null gesunken. ({8}) Gerade noch 7 Prozent der Bürger unseres Landes halten die Rente für sicher. Besonders groß sind die Zweifel bei den unter 40-Jährigen. Bescheidene 4 Prozent von ihnen glauben, dass die Renten sicher sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün - Herr Dreßen, Frau Schaich-Walch und wie Sie alle heißen -, es ist Ihre traurige Verantwortung, wenn in einer solch essenziellen Frage fast 95 Prozent der Bürger kein Vertrauen mehr zu ihrer Regierung haben. ({9}) Dieses Vertrauen haben Sie durch Ihre leichtfertige und sprunghafte Rentenpolitik der letzten Jahre verspielt. Eine Tüte Milch aus dem Supermarkt hat mittlerweile eine längere Haltbarkeit als ein rentenpolitischer Beschluss von Rot-Grün. ({10}) Am letzten Freitag haben Sie die Kürzung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung um 2 Milliarden Euro beschlossen. Schon heute debattieren wir im Rahmen der Diskussion über den Entwurf eines zweiten SGB -VI-Änderungsgesetzes über die Rücknahme der Kürzung dieses Bundeszuschusses. Herr Müntefering, das ist wirklich neuer deutscher Rekord, zugleich aber ein einmaliger Vorgang. Es unterstreicht auch die Kurzatmigkeit Ihrer Politik und erklärt, warum diese Bundesregierung das Vertrauen der Menschen in unserem Land in absehbarer Zeit nicht mehr wird zurückgewinnen können. Dafür sind Sie verantwortlich. ({11}) - Das ist jetzt der Gipfel. Der Kollege Dreßen sagt, Sie müssten unsere Fehler reparieren. Jetzt hören Sie einmal gut zu, Herr Kollege Dreßen: Wir haben 1997 die Einführung des demographischen Faktors beschlossen. Sie haben ihn nach dem Regierungswechsel 1998 wieder abgeschafft, ({12}) ohne eine Antwort auf die Frage zu geben, was denn an seine Stelle treten soll. Hätten Sie den demographischen Faktor beibehalten, hätten wir heute 3 Milliarden Euro mehr in der Rentenkasse. ({13}) Das gibt Ihr Bundeskanzler mittlerweile auch zu und Sie sollten das auch tun. Wir, Herr Dreßen, haben 1997 eine Reform der Lohnund Einkommensteuer mit deutlichen Nettoentlastungen beschlossen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die Beschäftigungsquote zu erhöhen. Sie haben diese Reform damals im Bundesrat blockiert. ({14}) Deswegen, Herr Dreßen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Die Schuld dafür, dass Sie heute am Abgrund eines Rentenloches stehen, liegt ausschließlich bei Ihnen. ({15}) Im Übrigen gilt: Wer nicht beizeiten handelt und sich Optionen eröffnet, hat kurzfristig keine Alternative. ({16}) Das ist jetzt Ihr Problem. Das gilt gerade für die Rentenpolitik, wo wir mit langen Übergangszeiträumen arbeiten müssen. Eines müssen Sie uns zugestehen: An Aufforderungen an Sie - mehr kann die Opposition jetzt nicht tun -, zu handeln, hat es wahrlich nicht gefehlt. ({17}) Im Ausschuss, im Plenum und in Pressemitteilungen in dichter Folge haben wir Sie dazu aufgefordert. Ich habe Ihnen, Herr Müntefering, schon im März dieses Jahres gesagt, dass der Rentenbeitragssatz im Jahre 2004 nicht bei 19,5 Prozent gehalten werden kann. Im Mai habe ich Ihnen vorausgesagt, dass der Rentenbeitragssatz im nächsten Jahr ohne weitere Maßnahmen über die 20-Prozent-Grenze steigen wird. Sie haben meine Warnungen ebenso wie die des Kollegen Storm und aller Sachverständigen ignoriert und überhaupt keine Vorkehrungen getroffen, sondern stur an Ihren mittlerweile überholten Prognosen festgehalten. Und das werfen wir Ihnen vor. ({18}) Die Menschen in Deutschland wären bereit, Verzicht zu leisten. 52 Prozent sagen: Ja, wir akzeptieren, dass die Renten langsamer steigen als die Löhne. Auch die Rentner selbst wären dazu bereit. Sie erwarten im Gegenzug aber ein langfristig tragfähiges Konzept und keine Politik mit dem Notfallkoffer, wie sie von Ihnen gemacht wird. ({19}) Zu dem, was Sie heute vorlegen, fällt mir nur noch ein Satz von Walter Benjamin ein: Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe. ({20}) Die Maßnahmen der Vorschaltgesetze reichen nach meiner Auffassung nicht aus, um das Defizit von 8 Milliarden Euro in der gesetzlichen Rentenversicherung zu kompensieren und damit den Beitragssatz im kommenden Jahr bei 19,5 Prozent zu halten. Erneut gehen Sie mit einem Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent vom best case, also von der besten denkbaren Entwicklung aus. Das ist, auch nach den Erfahrungen der letzten Jahre, nicht nur sehr ehrgeizig, sondern muss als wenig realistisch bezeichnet werden. Ich will hier nicht die Rolle der Rentenkassandra übernehmen, werde aber wohl noch auf die Risiken hinweisen dürfen. Sie wollen durch die Absenkung der Schwankungsreserve von 0,5 auf 0,2 Monatsausgabe 4,8 Milliarden Euro realisieren. Die Schwankungsreserve beträgt aktuell aber nur 0,39. Sie hoffen, gestützt durch die Annahmen des Schätzerkreises, dass Sie bis zum Jahresende wieder auf 0,42 steigen wird. Erreicht sie diesen Wert aber nicht, entstehen neue Finanzierungsprobleme. ({21}) Es gibt viele Faktoren, die dazu beitragen, dass es soweit kommen könnte, Herr Dreßen. Als Stichworte nenne ich nur die Entgeltumwandlung, den Verdi-Tarifabschluss und die Kürzung bzw. Streichung des Weihnachtsgeldes in vielen Branchen. Eine Finanzierungslücke von 1 bis 1,5 Milliarden Euro, die allein darauf zurückzuführen ist, ist aus meiner Sicht nicht unwahrscheinlich. Die von Ihnen aufgrund der Beitragssatzsenkung erwartete Einsparung von 500 Millionen Euro in der Krankenversicherung der Rentner ist ein sehr optimistischer Ansatz. Der Parlamentarische Staatssekretär Thönnes hat in dieser Woche auf meine Anfrage erklärt, man habe eine durchschnittliche Senkung der Krankenkassenbeiträge um 0,7 Prozent unterstellt. Das ist doch utopisch! Die Krankenversicherungsträger haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es keine Garantie für eine Beitragssatzsenkung im nächsten Jahr geben könne, weil die Krankenkassen deutlich höher verschuldet sind, als sie bisher zugegeben haben. Sie müssen umkehren. Wir sind zur Mitarbeit bereit, ({22}) wenn Sie an der katastrophalen Finanzsituation wirklich etwas ändern wollen. Aber Sie müssen jetzt den Mut aufbringen, zu handeln. Aus unserer Sicht hat Priorität, die im Arbeitsförderungsrecht immer noch bestehenden Frühverrentungsanreize zu beseitigen. Die Frühverrentung stellt eine Subvention zulasten der Beitragszahler und Rentenkassen dar und ist nicht mehr vertretbar. Wir haben Ihnen heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem wir die Anreize zur Frühverrentung nehmen. ({23}) - Mit Wirkung vom 1. Januar 2004. Wir haben einen Vertrauensschutz zugunsten derjenigen vorgesehen, die die Anspruchsvoraussetzungen bis dahin erfüllt haben. Dann muss damit aber auch Schluss sein; das sage ich klipp und klar. Die Lebenserwartung und die Rentenbezugsdauer sind deutlich gestiegen. Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen liegt in Deutschland mit 41,5 Prozent weit unter der anderer wirtschaftlich erfolgreicher Länder. Die Schweiz hat beispielsweise eine Erwerbstätigenquote von 68 Prozent, Schweden von 70 Prozent. Wir müssen also die Anreize zur Frühverrentung verringern, müssen gleichzeitig aber auch dafür sorgen, dass ältere Menschen wieder bessere Chancen am Arbeitsmarkt haben und dass ihnen Angebote auf Beschäftigung gemacht werden. Das kann nach meiner Auffassung nur über veränderte gesetzliche und tarifliche Rahmenbedingungen gelingen. Dazu haben wir Ihnen bereits in der letzten Legislaturperiode einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Jetzt müssen die Vorschriften neu justiert werden; denn man muss sehen: Je älter Arbeitnehmer sind, desto teurer und besser geschützt sind sie. Das vermindert aus Sicht der Unternehmen ihre Chancen auf Einstellung und Reintegration.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kolb, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin, noch ein Schlusssatz. Die Vorschaltgesetze werden ihr Ziel nicht erreichen. Sie basieren allein auf dem Prinzip Hoffnung. Die rentenpolitischen Weichen müssen neu gestellt werden, um verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Für Gespräche, die das Ziel haben, die Rente wieder sicherer zu machen, stehen wir zur Verfügung, für kurzfristige Flickschusterei nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Lotz, SPDFraktion. ({0})

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich denke, Herr Kolb, es wird spannend werden, ob Sie tatsächlich zur Verfügung stehen werden oder nicht. Ich frage mich, wie lange Sie zur Verfügung stehen werden. Werden Sie so lange dabei sein wie bei den Verhandlungen über das Gesundheitsmodernisierungsgesetz? Zum demographischen Faktor. FDP und CDU/CSU beklagen, dass wir den demographischen Faktor ausgesetzt haben. Das hätte für die Rentenkasse eine Verbesserung von 3 Milliarden Euro bedeutet. Sagen Sie aber bitte dazu, bei wem Sie das eingespart hätten. Auf der einen Seite beklagen Sie die Maßnahmen, die wir ergreifen, auf der anderen Seite sagen Sie, dass der demographische Faktor es gebracht hätte. Dies hätte aber doch auch Auswirkungen auf die Rentnerinnen und Rentner gehabt. Sagen Sie das doch auch dazu! ({0}) Mein lieber Herr Storm, ich komme zum „Flickwerk“ und denke an das Jahr 1996. Damals haben Sie das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz verabschiedet, den Kündigungsschutz vermindert, die Regelungen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verändert, die Altersgrenze für langjährig Versicherte angehoben, die Bedingungen für Frauen nach der Arbeitslosigkeit verändert und die Altersteilzeit eingeführt. Herr Kolb will die Altersteilzeit bereits zum Januar wieder abschaffen. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen müssen das doch wissen. Wir müssen laut verkünden, dass die FDP bereits im Januar die Altersteilzeit ohne irgendwelche Übergangsfristen abschaffen will. Das geht so nicht. ({1}) - Sie sagen: mit Vertrauensschutz. Die Betriebe und Arbeitnehmer müssen sich darauf doch einstellen können. ({2}) Nun komme ich zu dem, was vor uns liegt. Am vergangenen Freitag haben wir die beiden Hartz-Gesetze verabschiedet. Ziel ist die Konzentration auf die Vermittlung. Das bedeutet, dass wir mehr Menschen in Arbeit bringen wollen. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nun einmal schwierig. Die Arbeitnehmer wissen und spüren das. Viele mussten bereits Abstriche beim Urlaubsgeld und beim Weihnachtsgeld hinnehmen. Dies bedeutet letztendlich weniger Einkommen. Bei der Rentenversicherung macht es sich ebenfalls bemerkbar; auch das wissen sie. Nach Vorlage des Ergebnisses, zu dem der Schätzerkreis in der vergangenen Woche gekommen ist, standen wir vor der Frage, ob wir die Beiträge heraufsetzen oder eine andere Lösung bevorzugen sollten. Wir haben uns für die andere Lösung entschieden, weil eine Heraufsetzung des Beitragssatzes nicht gut für den Arbeitsmarkt und die Stimmung wäre; auch dann nicht, wenn die Steigerung nur gering ausfallen würde. Wir haben dem Arbeitsmarkt also einen absoluten Vorrang eingeräumt. Dieser ist nun einmal die Finanzgrundlage für die gesetzliche Rentenversicherung. ({3}) Damit wir den Beitragssatz nicht erhöhen müssen, treffen wir eine Reihe von Maßnahmen. Eine davon betrifft die Schwankungsreserve, die wir auf 20 Prozent einer Monatsausgabe senken wollen. Herr Storm hat ein Horrorszenario an die Wand gemalt. ({4}) Um hier gleich Missverständnissen vorzubeugen, will ich eines ganz klar sagen: Rentnerinnen und Rentner brauchen um ihre monatliche Rente nicht zu bangen. ({5}) - Mit dem, was Sie hier an die Wand gemalt haben, verfolgen Sie doch das Ziel, die Rentner und Rentnerinnen zu verunsichern. Das ist nicht in Ordnung. ({6}) Mit der Schwankungsreserve sollen Liquiditätsschwankungen, die innerhalb eines Jahres auftreten, ausgeglichen werden. Diese treten immer auf; sie sind auch zu Ihren Zeiten aufgetreten. Die Einnahmen der Rentenversicherung sind beispielsweise wegen quartalsmäßiger Kündigungen oder aufgrund der Zahlung von Urlaubsgeld nicht gleich bleibend, während die Ausgaben ziemlich konstant sind. Deshalb ist es wichtig, eine Schwankungsreserve zu haben. Natürlich ist eine höhere Schwankungsreserve wünschenswert. Durch das Vorziehen des Bundeszuschusses kann eine Einnahmedifferenz - das Vorliegen einer solchen ist von Ihnen an die Wand gemalt worden - ausgeglichen werden. ({7}) Außerdem steht der Bund für die Rente ein. Das ist wohl bei keinem anderen Versicherungswerk so. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Lotz, hierbei befinden Sie sich ja nicht mehr im Stadium der Jungfräulichkeit. Im Jahre 2001 betrug die Schwankungsreserve 1,0. Sie hatte also die Höhe einer vollen Monatsausgabe. Wir haben uns damals hier versammelt und sie wurde auf 0,8 abgesenkt. Staatssekretärin Mascher erklärte damals, dass es zwar bitter, aber gerade noch vertretbar sei. Im Dezember 2002 haben wir uns wieder hier getroffen. Die Schwankungsreserve lag weiterhin bei 0,8. Damals legten Sie ein Gesetz vor, durch das ein Korridor eingeführt wurde, sodass sie auf 0,5 bis 0,7 Monatsausgaben abgesenkt werden konnte. Es hieß erneut, dass das zwar sehr hart, aber gerade noch das Unterste des Vertretbaren sei. Jetzt beträgt die Schwankungsreserve 0,39 Monatsausgaben und Sie wollen sie faktisch abschaffen. Man muss dabei nämlich im Hinterkopf haben, dass es bei der Schwankungsreserve auch noch hohe immobile Anteile gibt; ich nenne die GAGFAH. ({0}) Sie können uns hier doch nicht ernsthaft erzählen, dass Sie eine verantwortliche Politik betreiben. Sie betreiben wirklich eine Politik nach Kassenlage. ({1}) Sind Sie bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich bin noch nicht einmal bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Herr Kolb, reden wir doch einmal über die Alternative! Die Alternative wäre, den Beitragssatz anzuheben. Das halte ich aber nicht für verantwortlich ({0}) und im Grunde geht es Ihnen doch auch so. Wir bewegen uns in einem Spannungsverhältnis zwischen der Verbesserung der Arbeitsmarktsituation und der Sicherung der Rentenzahlungen. Es besteht ja auch die Absicht, die Schwankungsreserve wieder anzuheben. ({1}) Dafür aber müssen zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden. Dazu gehört auch die Schaffung von Arbeitsplätzen. Daran arbeiten wir und dabei sollten Sie uns unterstützen. Das wäre besser als das, was Sie hier machen. ({2}) Eine weitere Maßnahme ist das Aussetzen der Rentenanpassung zum 1. Juli 2004; das ist schon gesagt worden. Ich weiß, dass die Rentnerinnen und Rentner dadurch belastet werden. Trotzdem werbe ich um Verständnis. Es geht um die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation, es geht um die Verbesserung der Chancen ihrer Enkel. Das Gleiche trifft für die Maßnahme im Bereich der Pflegeversicherung zu. Diese jüngste Säule der Sozialversicherung wird faktisch allein von den Arbeitnehmern finanziert; denn als Kompensation für den Arbeitgeberbeitrag wurde ein Feiertag, der Buß- und Bettag, gestrichen. Nur das Land Sachsen ist diesen Schritt nicht gegangen. Dort zahlen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - Frau Michalk, Sie wissen das - den Beitrag tatsächlich alleine. Im Fall der Rentner hat die Rentenversicherung den Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung finanziert. In Zukunft sollen dies die Rentner und Rentnerinnen selbst bezahlen. Da kommt kein Jubel auf; das weiß auch ich. Wir ergreifen diese Maßnahme auch nicht frohen Herzens. Hätten wir dies nicht gemacht, wäre der Beitragssatz in der Rentenversicherung von 19,5 Prozent nicht zu halten gewesen, und zwar mit allen Folgewirkungen. Auch an dieser Stelle möchte ich um Verständnis werben und alle bitten, mit dazu beizutragen, dass es zu einer Erholung am Arbeitsplatzmarkt kommt. Was die Finanzlage angeht, so hatten wir im letzten Jahr eine ähnliche Situation. ({3}) Damals haben wir die Beitragssätze um 0,2 Prozent und auch die Beitragsbemessungsgrenze erhöht. Damit haben die Aktiven einen Beitrag geleistet. Diesmal müssen wir dies den Rentnern und Rentnerinnen zumuten. Eine Entlastung stellt jedoch die Senkung der Krankenkassenbeiträge dar. Wir werden dafür sorgen, dass dies so schnell wie möglich bei den Rentnern und Rentnerinnen ankommt. Jeder Einzelne kann einmal einen Blick auf seinen Krankenkassenbeitrag werfen. Für Rentenneuzugänge wird der Auszahlungstermin der Rente auf das Monatsende verlegt. Dem muss der Bundesrat zustimmen. Wenn wir den Auszahlungstermin nicht verlegen können - Sie haben schon gesagt, das Ganze sei knapp gerechnet -, ist der Beitragssatz von 19,5 Prozent nicht zu halten. An dieser Stelle appelliere ich auch an Sie, auf Ihre Ministerpräsidenten einzuwirken, sich nicht bockig anzustellen und dieser Regelung zuzustimmen. ({4}) Die Maßnahmen, die ich genannt habe, müssen kurzfristig greifen. Wegen der demographischen Entwicklung dürfen wir auf diesem Weg aber nicht stehen bleiben. Wir werden daher im weiteren Verfahren zusätzliche Maßnahmen vorsehen. Die Unternehmen können nicht die Heraufsetzung des Rentenalters fordern, aber gleichzeitig zulassen, dass in 60 Prozent der Unternehmen niemand beschäftigt wird, der 50 Jahre und älter ist. Hier müssen sich die Unternehmen bewegen. Es wäre gut gewesen, wenn Sie, Herr Kolb, einen entsprechenden Appell an die Unternehmer gerichtet hätten. ({5}) Es gibt schließlich genügend Angebote seitens der Politik, Unternehmen, die ältere Arbeitnehmer einstellen, zu unterstützen. Lassen Sie mich noch etwas zu dem sagen, was in der Öffentlichkeit breit diskutiert wird, zu der Regelung, dass die schulische Ausbildungszeit nicht mehr als bewertete Anrechnungszeit gelten soll. Die Union hat gesagt - ich spreche hier Frau Dr. Böhmer an -, alle sollten sich beim Bundesverfassungsgericht beschweren. Ich frage mich schon: Wo waren Sie 1992 oder auch 1996? Denn ursprünglich lag die Anrechnungszeit bei 13 Jahren. Ich muss schon sagen: Ich halte es für ziemlich scheinheilig, jetzt zum Widerstand aufzurufen und 1996 ähnliche Einschränkungen mitgetragen zu haben. Ein anderer Punkt ist die Anrechnung von Studienzeiten. Die Forderung nach Einführung einer Studiengebühr kommt doch immer aus Ihren Reihen. Wer hat denn beim BAföG dafür gesorgt, dass auch junge Menschen aus ärmeren Familien die Chance haben zu studieren? Das waren wir. Sie hingegen haben die jungen Leute im Stich gelassen. ({6}) Das, was Sie an dieser Stelle machen, ist Populismus pur. Worum geht es? Wer zum Beispiel eine Hochschule oder eine Fachhochschule besucht, bekommt zurzeit ab dem 17. Lebensjahr für drei Jahre Schule oder Studium Entgeltpunkte für die Rente gutgeschrieben, ohne dafür Beiträge zu zahlen. Eine Änderung dieser Regelung werden wir gründlich beraten. Ich denke, das Prinzip der Lohn- und Beitragsbezogenheit muss gestärkt werden. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, dass wir auch an die denken müssen, deren Ausbildung an beruflichen Schulen stattfindet, zum Beispiel Altenpflege- oder Krankenpflegeschulen. Wir müssen prüfen, ob diejenigen, die ganz unten im System eine Ausbildung anfangen, tatsächlich hinterher oben ankommen und ein gutes Einkommen beziehen. Auf jeden Fall muss das Prinzip der Lohn- und Beitragsbezogenheit weiterhin Gültigkeit haben. Trotz aller Finanznot werden wir genau prüfen, wie wir hier vorgehen. Sie sind eingeladen, hieran mitzuwirken, damit wir angesichts der gesellschaftlichen Änderungen zu tragbaren Lösungen kommen, und zwar für alle. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gerald Weiß, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Lotz, der Einladung zur Giftmischerei werden wir nicht Folge leisten. ({0}) Ich glaube, dass Ihr Beitrag für Sie selbst eine verwickelte Sache war, weil Sie sachkundig und eine sehr redliche Kollegin sind. Sie wissen genauso wie wir: Diese Rentenbeschlüsse sind ein Vertrauensbruch gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern. ({1}) Frau Lotz, Sie wissen genauso wie wir, dass das, was uns hier als ernsthafte Gesetzentwürfe angeboten wird, eine schlampige Notoperation ist. Diese Maßnahmen werden der Rentenversicherung nicht helfen, sondern zu einer ungerechten Behandlung der Rentner führen. Dieses Resümee können wir schon jetzt ziehen. Sie wissen genauso wie wir, dass diese abschüssige Bahn der rot-grünen Rentenwillkür, die Sie jetzt betreten haben, zu einer staatskassenabhängigen Willkürrente führen wird. Der Staatseingriff in die Rentenmechanik wird bei Ihnen Methode. Das lassen wir Ihnen natürlich nicht durchgehen. ({2}) Frau Dückert, Ihre ganze Schönfärberei hilft nicht weiter. Sie haben darauf verwiesen, dass es Kürzungen bei der Rente schon früher gegeben hat. Nein, das, was wir jetzt erleben, ist eine traurige Weltpremiere. Zum ersten Mal wird der Rentenzahlbetrag - die Kollegen Storm und Kolb haben dies schon gesagt - gekürzt. ({3}) Bei Ihren Berechnungen ist die Inflationsrate noch gar nicht berücksichtigt. Dies wird zu einem massiven Kaufkraftverlust bei den Rentnerinnen und Rentnern führen. Das hat mit Generationen- und Rentengerechtigkeit nicht das Geringste zu tun. ({4}) Überhaupt muss man bei Ihnen Anspruch und Wirklichkeit miteinander vergleichen. Alle Ihre Prognosen, die Sie hier im Hause abgegeben haben und die in den Protokollen nachzulesen sind, sind falsch. Die riestersche Reform, hier von diesem Pult verkündet - Sie haben etwas mit Wilhelm II. gemeinsam; es muss immer monumental und groß sein -, haben Sie Jahrhundertreform genannt. Diese Jahrhundertreform sah nach zwei Jahren fürchterlich alt aus. Es war alles falsch, was Sie verheißen haben. Das ist eine Erschütterung des Vertrauens. ({5}) Mit dem Vertrauensbruch, den Sie jetzt sehenden Auges begehen, werden Sie das Zutrauen der älteren Menschen, Gerald Weiß ({6}) aber auch der jüngeren in dieses Alterssicherungssystem weiter unterhöhlen. ({7}) Sie setzen diesen unheilvollen Weg weiter fort. ({8}) „Unanständig“ nannte der Bundeskanzler den blümschen demographischen Faktor, durch den die Renten etwas langsamer als die Löhne, dafür aber generationengerecht und belastungsgerecht wachsen sollten. ({9}) Es war die Rede davon, Verlässlichkeit zu schaffen. Was Sie hier machen, ist genau das Gegenteil davon. Wenn der demographische Faktor unanständig war, durch den es zu langfristig berechenbaren, realen Rentensteigerungen gekommen wäre, wie soll man dann das nennen, was Sie jetzt veranstalten, Frau Lotz? ({10}) Das kann man eigentlich nur mit einem im Parlament nicht zugelassenen Ausdruck belegen. Sie bemühen immer wieder den Begriff der Nachhaltigkeit. In der virtuellen Welt des Herrn Rürup wird die Schwankungsreserve, die Vermögensrücklage, erhöht. In der realen Welt der Ulla Schmidt und des Gerhard Schröder wird die Schwankungsreserve bis zur Unkenntlichkeit gekürzt. Das ist ein besonders schwerwiegender Prozess. Das wissen auch Sie, Frau Lotz. Die Schwankungsreserve ist auch so etwas wie ein Sperrriegel gegen die Abhängigkeit von der Staatskasse. Wenn Sie die Schwankungsreserve, die letzte Rücklage, bis zur Unkenntlichkeit kürzen und verfrühstücken mit dem Ergebnis, dass mittlerweile die Rentenversicherungsträger ihre Wohnungsbestände verramschen müssen, dann wird künftig der Finanzminister sehr viel stärker über die Rentenzahlungen bestimmen als die Rentenformel. Das kann doch nicht unser Wollen sein. ({11}) Ich komme jetzt dazu, dass die Ausbildungszeiten bei der Rente nicht mehr angerechnet werden sollen. Das bedeutet für die durchschnittliche Angestelltenrente eine Kürzung von 6,73 Prozent. Das sind 55 Euro pro Monat. Das ist keine zu vernachlässigende Größe. Hier wird die Quadratur des Irrsinns geprobt, Herr Kollege Dreßen. „Bildungsförderung“ durch Nichtanrechnung der Ausbildungszeiten bei der Rente. Das ist Bal paradox in der Sozialpolitik. Das ist kontraproduktiv und völlig inakzeptabel, ({12}) auch wenn Sie eine etwas längere Übergangsfrist einräumen wollen. ({13}) Ich muss Ihnen jetzt einmal etwas sagen. Sie fahren mit der Dampfwalze in eigentumsgleichen Rentenansprüchen herum. ({14}) Menschen sind unter bestimmten Bedingungen in das Erwerbsleben eingetreten oder sind gerade dabei, dies zu tun. ({15}) Sie können diese Anwartschaften nicht wie etwas Beliebiges behandeln. Sie sind verfassungsrechtlich eigentumsgleich zu sichern. Was Sie jetzt vorsehen, grenzt an Verfassungsbruch. ({16}) Nullrunde, Verschiebung des Auszahlungstermins der Renten, höherer Pflegebeitrag, Senkung der Schwankungsreserve ({17}) all das ist - ich bleibe dabei - eine schlampige Notoperation, die die Union nicht mitmachen wird. ({18}) - Zu diesem Schrei aus dem Abgrund nach den Alternativen: Was unsere mittel- und langfristige Konzeption angeht - darüber werden wir noch diskutieren -, so ist zu sagen: Schlag nach bei Herzog. ({19}) Was die kurzfristigen Maßnahmen anbelangt, stelle ich fest: Wenn jemand, der ein Auto in den Graben gesteuert hat - ich glaube, Sie haben das Bild auch schon verwendet, Herr Kolb -, nach einer Alternative fragt, dann lautet die Antwort: Man hätte - es geht immerhin um das Gesamtkonzept der Politik und um die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Rentenpolitik im engeren Sinne, das heißt um den deutschen Sozialstaat - alles tun müssen, damit das Auto auf der Fahrbahn bleibt. Sie aber haben es in den Graben gesteuert. Wir werfen Ihnen vor, dass die Frage nach der Alternative zu der geplanten Notoperation in Form dieses miesen Kurzfristgesetzes nur eine Verschleierung Ihrer eigenen Verantwortung darstellt. ({20}) Im Jahre 6 der Regierung Schröder ({21}) Gerald Weiß ({22}) - ja, Schröder/Fischer - verfügen 43 Prozent der Haushalte über ein frei verfügbares Einkommen von weniger als 100 Euro im Monat. ({23}) Das ist leider eine dynamisch wachsende Größe. Vor zwei Jahren waren es 37 Prozent, vor vier Jahren 29 Prozent. Rot-Grün macht die Republik und die Menschen arm. Jetzt fordern Sie die Menschen, die privat vorsorgen sollen, auf: Nehmt 4 Prozent vom Einkommen und spart! Dank Ihrer Politik können die Leute aber keine Vorsorge treffen und sparen. Deshalb werden die Riester-Produkte auch nur von 16 Prozent der Bevölkerung angenommen. Jetzt wollen Sie Korrekturen vornehmen und sich dafür feiern lassen. Zuerst haben Sie ein monströses Gebilde der Bürokratie aufgebaut, das Sie jetzt feierlich schlachten wollen, und dafür wollen Sie sich auch noch loben lassen. Das ist doch keine Politik, die Sie allen Ernstes stolz vorführen können! ({24}) Wir haben letzte Woche ein gutes Gespräch mit dem DGB-Vorsitzenden, Michael Sommer, geführt und stimmen ihm zu, wenn er sagt, diese willkürhafte Rentenpolitik sei ein Sündenfall. Michael Sommer hat Recht. Eine solche Rentenpolitik kann nicht akzeptiert werden. Rentenwillkür ist mit der Union nicht möglich. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({25})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Weiß, liebe Kollegen von der Opposition, ich glaube, dass Sie sich damit, wie Sie die Diskussion führen - von wegen Rentenwillkür! -, kein gutes Zeugnis ausstellen. ({0}) Dem gesamten Diskurs nach dem Motto „Wir haben es schon immer gewusst“ muss ich entgegenhalten: Erstens ist das nicht der Fall. ({1}) Zweitens. Wenn es so wäre, würde Sie das nicht der Aufgabe entheben, angesichts eines Milliardenlochs in der Rentenkasse dafür zu sorgen, dass die Beiträge nicht steigen und die Renten auch längerfristig finanzierbar bleiben. ({2}) Dafür haben Sie kein Konzept. ({3}) Sie beschränken sich darauf, zu allen Vorhaben Nein zu sagen. ({4}) Sie sagen Nein zur Absenkung der Schwankungsreserve und zur Verschiebung der Pflegeversicherungsbeiträge auf die Rentner. Sie sagen auch Nein zu einer Nullrunde bei den Renten. Zu einer Verschiebung der Auszahlung der Rentenbeträge für Neurentner haben Sie keine Meinung. Das ist der einzige Punkt, der zustimmungspflichtig ist. Stattdessen treten Sie mit Ihren Sprüchen die Flucht in die populistische Neinsagerei an, wie ich es nenne. Anders gesagt: Die Opposition übt Politikverzicht. ({5}) Herr Kollege Weiß, Sie haben ausgeführt, die Menschen seien zu arm, um Altersvorsorge zu betreiben. Richtig ist vielmehr: Wir würden sie arm machen, wenn wir die Rentenbeiträge erhöhen würden. Das wäre nämlich die Konsequenz Ihrer Neinsagerei. Aber genau das tun wir eben nicht, weil wir den Leuten kein Geld aus der Tasche ziehen ({6}) und insbesondere den Faktor Arbeit nicht weiter belasten wollen. ({7}) Zur Schwankungsreserve - von wegen Rentenwillkür! -: Man kann unterschiedlicher Meinung sein, ob die Schwankungsreserve eine gute Einrichtung ist oder ob es besser wäre, die Liquidität anders zu sichern. Aber die Behauptung, dass die Höhe der Schwankungsreserve bzw. ihre Existenz etwas mit der Finanzierbarkeit der Renten zu tun habe, ist falsch. ({8}) Genauso gut könnten Sie behaupten, die Finanzierbarkeit hänge vom Wetterbericht ab. Das ist eben nicht der Fall. ({9}) Auch ohne Schwankungsreserve wäre die Auszahlung der Renten über den Bundeshaushalt abgesichert. ({10}) Die Finanzierung der Renten wird dagegen über den Beitragssatz gesichert. Übrigens, zum Thema „böser Staat“: In die Rentenversicherung fließt immerhin ein steuerfinanzierter Bundeszuschuss in Höhe von fast 78 Milliarden Euro. Deswegen darf man dem Bund durchaus vertrauen, Herr Weiß. Sie haben des Weiteren von einem Vertrauensbruch gesprochen, weil die Rentner belastet werden. Keine Frage, es handelt sich um eine Belastung, wenn es eine Nullrunde bei den Renten gibt, wenn also die Rentner und Rentnerinnen die Stabilisierung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung alleine tragen. Aber ich frage Sie: Glauben Sie wirklich, dass es richtig ist, sich zu Besitzstandswahrern für die Rentner zu machen? ({11}) Die Rentner und Rentnerinnen selber wissen es besser. Meine Kollegin hat schon darauf hingewiesen, dass sie mehrheitlich eine Nullrunde im Interesse der Beitragssatzstabilität unterstützen. Wollen Sie in der jetzigen Situation entweder einen höheren Bundeszuschuss - das würde eine höhere Verschuldung bedeuten - oder höhere Rentenbeiträge als Alternativen in Kauf nehmen? ({12}) Wenn Sie das wollen, dann müssen Sie das auch sagen und dafür in der Öffentlichkeit einstehen. ({13}) Genau davor versuchen Sie sich zu drücken. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({14}) Wir haben ein Paket geschnürt, das insgesamt vertretbar ist. Wir haben die Priorität gesetzt, den Beitragssatz nicht zu erhöhen. Genau das ist das richtige Signal für die wirtschaftliche Erholung, die wir brauchen. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS im Bundestag lehnt die vorliegenden Gesetzentwürfe ab; denn das, was Rot-Grün als Reform verkauft, ist schlicht Rentenklau; das ist schlimm. Das wissen auch Sie. ({0}) Obendrein garnieren Sie das Ganze mit dümmlichen Lügen, und zwar permanent. Ich möchte hier wenigstens drei dieser Lügen anreißen. Sie behaupten, zur Sicherung der Renten müssten alle, auch die Rentnerinnen und Rentner, einen Beitrag leisten. Es sei ungerecht, behaupten Sie weiter, das Problem auf die Jüngeren abzuwälzen. Sie verschweigen dabei aber, dass die Rentenkürzungen nicht nur die aktuellen, sondern auch die künftigen Rentnerinnen und Rentner treffen; denn in Wahrheit kürzen Sie die Rentenansprüche sowohl der Älteren als auch der Jüngeren. So weit zur ersten Lüge. Sie behaupten weiter, Sie müssten die Rentenansprüche kürzen, damit die monatlichen Rentenbeiträge die 20-Prozent-Marke nicht überschritten. Das ist die zweite Lüge; denn die monatlichen Beiträge liegen längst jenseits der 20-Prozent-Marke, allerdings nur für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich weiß, dass Sie nicht mehr gern über die Riester-Rente sprechen. Aber Sie haben schon damals die Renten deutlich gesenkt. Sie haben gesagt: Wer dennoch Renten wie vordem beziehen will, dem empfehlen wir eine Zusatzversicherung, die so genannte Riester-Rente. Wer aber für die RiesterRente einzahlt, der kommt schon jetzt - wenn man alles addiert - auf einen Rentenbeitrag von über 20 Prozent. Übrigens, das Prinzip der Riester-Rente - das habe ich Ihnen schon in der vergangenen Legislaturperiode erklärt - lässt sich auf eine ganz einfache Formel bringen. Stellen Sie sich vor, dass Ihnen ein Taschendieb die Handtasche entreißt und Ihnen anschließend eine private Diebstahlversicherung anbietet. Das ist das Prinzip der Riester-Rente. ({1}) Nun zur dritten Lüge: Sie bedauern, dass Sie die Rente kürzen müssen. Aber schließlich müssten ja alle Opfer bringen. Ich weiß nicht, was Sie unter „alle“ verstehen. Würden Sie mit „alle“ wirklich alle meinen, dann hätten Sie alle Chancen auf eine wirkliche Reform. Aber Sie meinen mit „alle“ immer nur die Bedürftigen und die Bezieher von Leistungen; denn im selben Zuge, da Sie die Renten kürzen und die Beiträge erhöhen, senken Sie die Sozialbeiträge der Unternehmen. Vor einem Jahr gab es eine Initiative von Euromillionären. Sie boten von sich aus an, einen höheren Beitrag für den Sozialstaat und für die Solidarsysteme zu leisten. Bislang gibt es allerdings keine Initiative von Rot-Grün, geschweige denn von Schwarz-Gelb, dieses Angebot aufzugreifen. Übrigens wurde dieses Angebot am Wohnort des Bundeskanzlers, in Hannover, gestartet. Dabei würde es sich lohnen, sich dieses Angebot einmal anzusehen. Es gibt in Deutschland nicht nur mehr als 4 Millionen Arbeitslose; es gibt inzwischen auch 370 000 Euromillionäre, die insgesamt über ein Vermögen von 4 Billionen Euro verfügen. Das ist im Vergleich zu den irdischen 2 Milliarden Euro, über die wir akut streiten, ein Universum. Würden Sie diese Euromillionäre nur 1 Prozent ihres Vermögens als Notcent leisten lassen, dann wären das 40 Milliarden Euro, Tendenz steigend - und das jährlich. Diese Rechnung blendet Rot-Grün komplett aus. Stattdessen durfte ein namhafter Oppositionspolitiker bei Christiansen am letzten Wochenende unwidersprochen sagen: Deutschland ist in den letzten Jahren ärmer geworden. - Armes Deutschland, das so belogen wird! Natürlich muss es eine Reform im Rentensystem geben - das fordert auch die PDS seit Jahren -, aber eben eine Reform und nicht eine Deform. Eine Reform beginnt damit, dass Besserverdienende in die allgemeine Rentenkasse einbezogen werden. Das erfordert, den Arbeitgeberanteil vom Lohn abzukoppeln und an den Gewinn anzudocken. Das Ganze muss gerecht und solidarisch sein. Es gibt also Alternativen. Sie sind durchgerechnet und sie sind machbar. ({2}) Was heute hier beraten wird, hat aber weder etwas mit Reformen noch mit Gerechtigkeit zu tun. Es ist schlicht rot-grünes Raubrittertum. Auch deshalb hoffe ich sehr, dass möglichst viele der derzeit Betroffenen und der zukünftig Betroffenen am 1. November dieses Jahres an der Demonstration in Berlin - dazu wurde bundesweit aufgerufen - gegen diesen Unfug teilnehmen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ulla Schmidt. ({0})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kolb, da Sie in Ihrer Rede die Umfragen zitiert haben, hätten Sie auch die heutige Umfrage zitieren müssen. Da gibt es nämlich zwei bemerkenswerte Ergebnisse: Erstens. Auf die Frage „Wer ist denn schuld an der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise?“ antwortet die Mehrheit der Deutschen: die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP. ({0}) - Die Mehrheit. Mehrheit ist Mehrheit, Herr Kollege. ({1}) Das zweite und wesentlich wichtigere Ergebnis für die heutige Debatte ist: 66 Prozent der Menschen vertrauen auf das umlagefinanzierte System. ({2}) Sie tun es zu Recht. Es trifft zu, dass die Menschen verunsichert sind. Aber das gilt nicht nur für die Rentner und Rentnerinnen. Seit drei Jahren haben wir ein Nullwachstum; ({3}) es gibt international Probleme. Wir stehen mit diesen Problemen nicht allein in Europa. ({4}) Alle unsere Nachbarländer stehen vor den gleichen Problemen und in den gleichen Diskussionen. Es geht um die Frage: Wie schaffen wir es, unter veränderten ökonomischen Bedingungen in einer Zeit, in der Arbeit und Wissen weltweit vorhanden sind, dafür zu sorgen, dass Wachstum in Europa und auch bei uns in Deutschland stattfindet, damit es Beschäftigung gibt? Denn eines wissen wir: Nur ein Mehr an Beschäftigten, nur Wachstum können auf Dauer unsere sozialen Sicherungssysteme garantieren. Deswegen finden in allen unseren Nachbarländern und auch bei uns heftige Debatten statt. Wir alle wissen: Wir müssen strukturelle Reformen auf den Weg bringen, damit wir soziale Sicherheit für unsere Kinder und auch noch für unsere Enkelkinder bewahren können. Das ist der Grund dafür, dass wir Politik machen und dass wir über die Zukunftssicherung der Rentenversicherung reden. ({5}) Die Menschen vertrauen in dieses System. Trotz der Probleme, die wir in der gesetzlichen Rentenversicherung haben, erleben sie nämlich, dass alle kapitalgedeckten Systeme sehr viel größere Probleme haben. ({6}) In den letzten drei Jahren haben die deutschen Lebensversicherungen allein durch die Entwicklung der Aktienkurse 100 Milliarden Euro verloren. In der Schweiz, die uns immer als Beispiel vorgeführt wird, musste die Regierung 20 Milliarden Euro an die Pensionsfonds geben, weil die Kapitaldeckung nicht ausreicht. Im Jahre 2002 beliefen sich die Verluste der Pensionsfonds weltweit auf 1 400 Milliarden Dollar. Vor einer Woche haben wir hier im Deutschen Bundestag Hilfen im Steuerrecht beschlossen, damit diejenigen, die Lebensversicherungen abgeschlossen haben, Sicherheit bekommen. Es wird ja oft behauptet, dass die Kapitaldeckung und die Privatisierung das Beste seien. Herr Kollege Kolb, ich glaube, wir tun gut daran, in Deutschland die Probleme, die wir in unseren Sicherungssystemen haben, gemeinsam anzugehen und zu lösen. ({7}) Wir müssen dafür sorgen, durch effizientere Strukturen und eine effektivere Bereitstellung von Leistungen das Maß an Sicherheit zu bekommen, das alle brauchen. ({8}) Alle Kommissionen, die Enquete-Kommission, die Herzog-Kommission, die Rürup-Kommission - ich kann sie jetzt nicht alle aufzählen -, sagen: Wir stehen vor großen demographischen Herausforderungen. ({9}) - Das wussten Sie auch ohne Kommissionen; aber Sie haben das ja in den 90er-Jahren nicht angepackt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) - Sie sprechen den demographischen Faktor an. Die Beamten, die jetzt in meinem Haus tätig sind, sind dieselben, die damals für den Kollegen Blüm die Berechnungen aufgestellt haben. Diese Beamten haben auch den Verlauf berechnet, der sich bei Anwendung des demographischen Faktors ergibt. Sie wissen ja: Minister kommen und gehen; die Beamten bleiben bestehen. Ihre Berechnungen besagen: Der demographische Faktor allein reicht nicht. ({11}) - Die Ökosteuer wirkt doch auf Sie wie das Weihwasser auf den Teufel. ({12}) Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie das gemacht! ({13}) Sie hätten vielleicht die Mehrwertsteuer erhöht. Mit dem demographischen Faktor wären wir heute bei einem Beitragssatz von über 21 Prozent. Hätten Sie all das gemacht, was wir gemacht haben, hätten Sie die Ökosteuer eingeführt, Maßnahmen zur Umfinanzierung ergriffen usw., dann hätten wir kein Defizit von 8 Milliarden Euro, sondern eines von 7 Milliarden Euro. Es will doch niemand von Ihnen behaupten, dass wir mit einem Defizit von 7 Milliarden weniger Probleme hätten. Der Beitragssatz läge lediglich um 0,1 Prozentpunkte niedriger. Die Herzog-Kommission arbeitet mit einer Modifizierung des demographischen Faktors; wir haben den Nachhaltigkeitsfaktor. Beides geht in die gleiche Richtung. In Bezug auf zukünftige Rentenanpassungen müssen wir berücksichtigen, wie sich das Verhältnis der Zahl der Beitragszahler zu der der Rentenbezieher verändert. Deswegen werden wir mit einem solchen Faktor - wir nennen ihn Nachhaltigkeitsfaktor; Sie nennen ihn demographischen Faktor; die Zielrichtung ist die gleiche - dafür sorgen müssen, dass bei abnehmendem Beschäftigungsvolumen auch die Anpassungen geringer ausfallen. Wenn es uns aber gelingt, Beschäftigung und Wohlstand in diesem Lande zu schaffen, können die Anpassungen für die Rentnerinnen und Rentner höher ausfallen. Das ist der einzige Weg, den wir gehen können. Wir können nicht mehr verteilen als das, was vorher erwirtschaftet wurde. Wir haben alle zusammen möglicherweise den Fehler gemacht, große Teile der Sozialpolitik und der Arbeitsmarktpolitik in die Rente hinein verlagert zu haben. Stattdessen müssten Arbeitsmarktfragen in der Arbeitsmarktpolitik angegangen werden, Familienfragen in der Familienpolitik und Bildungsfragen in der Bildungspolitik. Herr Storm, wir sind es gewesen, die Kindererziehungszeiten zu anrechenbaren Beitragszeiten gemacht haben. ({14}) Wir haben dafür gesorgt, dass Einnahmen aus der Ökosteuer in die Rentenversicherung fließen. Die Zeiten der Kindererziehung einer Frau - in der Regel ist es die Frau; selten ist es der Mann - werden bei der Berechnung der Rente dergestalt berücksichtigt, als hätte die Frau durchgängig ein Durchschnittseinkommen erzielt. Dafür haben wir mit der Rentenreform 2001 gesorgt. Mit dieser Reform haben wir auch die Anrechnungszeiten erhöht. Außerdem haben wir eine Höherbewertung der Teilzeitarbeit durchgeführt. ({15}) Herr Kollege Storm, Sie haben heute über die Bildungspolitik gesprochen. Sie sagen: Wenn die Koalition dabei bleibt, dass sie Privilegien von Akademikern und Akademikerinnen - sie verdienen oft besonders gut abschafft, dann kann es mit uns keinen Konsens geben. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ich weiß, dass Sie Akademiker sind. Wenn wir von allen Menschen Akzeptanz dafür erwarten, dass sich das Anwachsen des Wohlstands in Zukunft verlangsamt - der Nachhaltigkeitsfaktor trägt dem Rechnung -, dann kann es doch nicht Maßstab unserer Politik sein, bei denjenigen Halt zu machen, deren Einkommen im Alter im Durchschnitt doppelt so hoch liegt wie das derjenigen, die eine handwerkliche Ausbildung haben. Sie wissen ganz genau, dass nur diejenigen 58 Euro weniger erhalten, die ihr ganzes Arbeitsleben mindestens ein Durchschnittseinkommen erzielt haben. ({16}) Vielleicht sollten Sie manchmal an Ihre eigene Geschichte denken; das wäre gar nicht so schlecht. Ich erinnere an eine Debatte im Deutschen Bundestag aus dem Jahre 1997. Damals ging es um das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz. Sie wollten für Wachstum und Beschäftigung sorgen und haben daher eine ganze Menge Streichungen vorgenommen. Wir haben das damals bekämpft. ({17}) Man sieht: Die Geschichte wiederholt sich. Im Hinblick auf künftige Verhandlungen sollte man daran denken: Jeder kommt einmal in die Situation des anderen. Der Kollege Blüm hat damals zu Recht gesagt: Wir reduzieren die beitragsfreien Ausbildungszeiten, die bisher mit maBundesministerin Ulla Schmidt ximal sieben Jahren angerechnet werden, auf drei Jahre. Diese Reduzierung war massiv - übrigens mit einer Übergangsfrist von vier Jahren. Ich habe mich an Ihre Vorgaben gehalten. Wie Sie sehen, sind es immer dieselben Beamten, die Vorschläge machen. ({18}) Was Norbert Blüm uns damals gefragt hat, frage ich jetzt Sie, Herr Kollege Storm: Wollen Sie, dass ein Maurer, der mit 15 Jahren angefangen hat, auf dem Bau zu arbeiten, für die Ausbildungszeiten eines Bauingenieurs, der mit 30 Jahren ins Berufsleben eingetreten ist, in die Rentenkasse zahlt? Halten Sie das für gerecht, Herr Kollege Storm? Sie werden wahrscheinlich sagen, dass die Reduzierung von sieben Jahren auf drei Jahre richtig war. Dazu sage ich Ihnen eines: Um die Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung im nächsten Jahr stabil zu halten - auch aus psychologischen Gründen möchten wir das entstehende Wachstum nicht von vornherein durch eine Beitragssatzanhebung gefährden; es handelt sich nicht nur um eine finanzielle Frage -, sind wir gezwungen - die Rentnerinnen und Rentner zu belasten. Wir machen das nicht gerne. Vor diesem Hintergrund muss man auch in diesem Land die Frage stellen, ob die Privilegien von Menschen aufrechterhalten werden können, die aufgrund ihrer guten Ausbildung bessere Chancen im Berufsleben haben und in der Regel mehr verdienen, als jemand, der eine einfache Berufsausbildung hat. Ich sage Ihnen ganz klar: Als ich zu studieren begann, dachte ich nicht daran, anschließend zwei Entgeltpunkte in der Rentenversicherung zu bekommen; ich war vielmehr froh, dass mir, einem Arbeiterkind, der Staat über das Honnefer Modell die Finanzierung meines Studiums ermöglichte. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Storm?

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Ja.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, dass viele Beamte Ihres Ministeriums schon seit vielen Jahren dort arbeiten. Das heißt, sie haben auch an der von Ihnen erwähnten Debatte Mitte der 90er-Jahre mitgewirkt. Können Sie bestätigen, dass damals sehr intensiv darüber diskutiert worden ist, die Anrechnung von Ausbildungszeiten ganz abzuschaffen? Können Sie bestätigen, dass man sich für die Anrechnung von drei Jahren bewusst entschieden hat, weil dieser Zeitraum der Dauer beruflicher Ausbildungen entspricht? Können Sie bestätigen, dass das, was Sie vorhaben, also eine extreme Benachteiligung derjenigen ist, die keine berufliche Ausbildung haben? Können Sie zum Zweiten bestätigen, dass diejenigen, deren Schulausbildung über das 17. Lebensjahr hinaus fortdauert, nicht zwingend später extrem hohe Rentenansprüche erwerben und von daher die Rentenkürzung um 58 Euro pro Monat für einen beträchtlichen Teil dieser Menschen eine enorme Härte darstellen wird?

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Storm, diejenigen mit längerer Schulausbildung, die während ihrer Erwerbszeit keine hohen Einkommen erzielen, bekommen auch schon heute die 58 Euro nicht; denn die Höherbewertung ihres eigenen Einkommens ({0}) - richtig, ihres Durchschnittseinkommens - führt lediglich dazu, dass sie maximal 75 Prozent des allgemeinen Durchschnittssatzes bekommen. Das heißt, sie müssen schon insgesamt das durchschnittliche Einkommen oder mehr erzielt haben, damit sie überhaupt Anspruch auf diese 58 Euro haben. Es gibt viele - vor allen Dingen Akademikerinnen, die wir jetzt mit der Anrechnung von Kindererziehungszeiten besser stellen, aber auch viele, die unterbrochene Erwerbsbiografien haben -, die von dieser Höherbewertung nur mit 10 oder 5 Euro pro Monat profitieren. Es gibt aber auch einige, die gar nichts bekommen. Sie haben richtigerweise festgestellt, dass die Höherbewertung für berufliche Ausbildung und schulische Ausbildung, die einer beruflichen Ausbildung gleichzusetzen ist, bestehen bleibt. Ich will nicht vom Tisch wischen, dass es die entsprechenden Debatten schon gegeben hat, als man die Anrechnung von Ausbildungszeiten von 13 Jahren auf sieben Jahre und als man sie von sieben Jahren auf drei Jahre verkürzt hat. Man ist dabei immer von der Frage ausgegangen: Was können wir uns denn noch leisten? Der Kollege Blüm hat die Anrechnungszeiten von sieben auf drei Jahre verkürzt, weil sich die ökonomischen Rahmenbedingungen und die Beschäftigung in den 90erJahren verändert haben. Er hat sich gefragt, wo er in diesem System sozial verantwortbar Einsparungen vornehmen kann, und hat sich dann dafür entschieden. Jetzt haben wir eine ähnliche Situation. Ich hoffe, dass wir deshalb die Rentenreform im nächsten Jahr gemeinsam machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Privilegien für Akademiker der einzige Punkt sind, warum die Union nicht zu einer gemeinsamen Rentenreform bereit sein sollte. Das glaube ich nicht; denn wir haben ganz andere Probleme zu bereden. Angesichts der derzeitigen Wirtschaftslage müssen wir prüfen, was man dem Einzelnen zumuten kann und wie wir erreichen können, dass - wie es ein Journalist in dieser Woche gesagt hat da, wo Rente draufsteht, auch Rente drin ist, das heißt nur beitragsfinanzierte Rentenanteile in die Berechnung der Gesamtrente einfließen. Herr Kollege Storm, Sie können mir glauben, dass ich die Maßnahmen, über die wir heute reden, nicht gerne ergreife. Das würde kein Sozialminister und keine Sozialministerin gerne machen. Auch meine Vorgänger haben so etwas nicht gerne gemacht. Aber angesichts der aktuellen Situation, die Einsparungen von insgesamt 10 Milliarden erfordert - zum einen ein Defizit von 8 Milliarden; hinzu kommt eine Kürzung des Bundeszuschusses von 2 Milliarden -, musste ich mich entscheiden, ob ich den aktuellen Beitragssatz von 19,5 Prozent auf 20,5 Prozent anhebe oder ob ich sie anders gegenfinanzieren kann. Sicherlich geht es hier nicht alleine um eine wirtschaftliche Frage. Aber in der jetzigen Situation, in der langsam Anzeichen für ein Wirtschaftswachstum in Sicht kommen, das leider nicht sofort Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation haben wird, den Beitragssatz zu erhöhen wäre falsch, falsch gerade auch vor dem Hintergrund, dass wir im Gesundheitsbereich Operationen vorgenommen und ein Vorziehen der Steuerreform beschlossen haben, um ein weiteres Ansteigen der Lohnnebenkosten zu verhindern und um diese Impulse weiter zu verstärken. Ein Anheben der Beitragssätze wäre zwar politisch die einfachste Lösung, aber unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht die beste. Deswegen wollen wir die 10 Milliarden anders gegenfinanzieren. 2,2 Milliarden tragen die jetzigen Rentner und Rentnerinnen durch den Verzicht auf eine Rentenanpassung im kommenden Jahr und die Übernahme des 50-prozentigen Beitragsanteils für die Pflegeversicherung, den bisher die Rentenkassen getragen haben. Ich weiß, dass die Rentnerinnen und Rentner im kommenden Jahr weniger haben werden. Ich kann doch rechnen. Ich will aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen, Herr Kollege Storm. Die Renten fielen auch geringer aus, als unter dem Kollegen Blüm 1995 die Pflegeversicherung eingeführt wurde. Die Rentnerinnen und Rentner mussten sich zunächst mit 0,5 Prozent beteiligen. Im Juli dieses Jahres - das ist keine Frage - gab es eine Anpassung. ({1}) Wie gesagt, die Rentnerinnen und Rentner tragen eine Belastung in Höhe von 2,2 Milliarden Euro; die Steuerzahler tragen eine Belastung in Höhe von 2 Milliarden Euro, die in anderen Bereichen eingespart werden. Ich bin froh, dass meine Kolleginnen und Kollegen im Kabinett bereit waren - darüber musste diskutiert werden -, diese Aufgabe gemeinsam zu schultern und die Einsparung nicht zulasten der Rentenversicherung durchzuführen. Die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler werden mit 5 Milliarden Euro belastet; denn die Schwankungsreserve, die wir jetzt absenken, muss über die Beiträge aufgefüllt werden. Eine Belastung in Höhe von 700 Millionen Euro tragen diejenigen, die jetzt noch in Arbeit sind und später ihre Rente erst am Ende des Monats ausgezahlt bekommen. Das ist verantwortbar, weil sie ihr Gehalt auch erst am Ende des Monats erhalten, und bringt langfristige Zinsvorteile für die Rentenversicherung. Ich hoffe auf die Zustimmung des Bundesrates in diesem Punkt. Es ist eine schwierige Entscheidung. Aber ich habe heute keinen einzigen Vorschlag gehört, wie man die Finanzierung dieser 10 Milliarden Euro besser regeln könnte. Vielleicht macht der Herr Kollege Zöller, der nach mir spricht, einen Vorschlag. Wenn Sie bessere Vorschläge haben, sind wir gerne bereit, uns überzeugen zu lassen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, jetzt spricht nicht der Kollege Zöller. Ich gebe zunächst das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Verständnis. Was die Frau Ministerin gesagt hat, kann nicht im Raum stehen bleiben. Die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag muss sich wirklich nicht vorwerfen lassen, nicht beizeiten auf die anstehenden Probleme hingewiesen zu haben. 1993 hat der damalige Bundeswirtschaftsminister Günther Rexrodt dieses Thema in aller Öffentlichkeit unmissverständlich angesprochen. Ich erinnere mich an die öffentliche Diskussion und an den Sturm der Entrüstung, der damals über uns hereingebrochen ist. Auch das muss man der Ehrlichkeit halber hier sagen. Es gab eine Kampagne „Die Rente ist sicher“. Aber die Rente war schon damals langfristig gesehen nicht sicher, weil die Babyboomer schon geboren waren und weil es den Pillenknick gab, der für die geburtenschwachen Jahrgänge sorgte, die uns ab 2010 Probleme bereiten werden. Frau Ministerin Schmidt, man muss auch Folgendes sehen. Wir hatten während unserer Regierungszeit die nicht einfache Aufgabe, ({0}) die Rentner aus den neuen Bundesländern, also aus der früheren DDR, in unser Rentensystem zu integrieren, was wir im Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz mit Bravour, wie ich finde, geschafft haben. Es ist eine große Leistung unseres Rentensystems, dass wir diese Aufgabe schultern konnten. Ich will aber auch sagen: Die FDP-Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode, als es hier noch eine breite Mehrheit für eine Fortschreibung der Altersteilzeit gab, als einzige Fraktion gegen die Verlängerung dieses Subventionstatbestandes gestimmt. All das ist Geschichte, muss aber zur Erläuterung an dieser Stelle gesagt werden. Frau Ministerin Schmidt, Sie können nicht so einfach hier sagen: Wenn der demographische Faktor anstelle der Ökosteuer eingeführt worden wäre, würden wir heute an dieser oder jener Stelle stehen. Die Entwicklung der Rentenfinanzen, die Sie dargestellt haben und die Sie auch beklagen, ist die Quittung für Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik. Sie haben fünf wertvolle Jahre verloren, weil die Steuerreform nicht zum Tragen kam ({1}) und weil Sie im Zuge der Arbeitsmarktreformen das Gegenteil dessen getan haben, was eigentlich erforderlich gewesen wäre. ({2}) Deswegen kann man es nicht einfach prolongieren. Wir hätten heute eine vollkommen andere Situation, wenn es einen Impuls für die Wirtschaft über die Steuerreform und wenn es mehr Beschäftigung am Arbeitsmarkt durch ein Aufbrechen der verkrusteten Strukturen gegeben hätte. Dazu ist es nicht gekommen, weil Sie nicht gehandelt haben. Das ist die Wahrheit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, bitte.

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Kollege Kolb, die deutsche Rentenversicherung leistet auch heute noch vieles für eine Angleichung der Renten in Ost und West. ({0}) Es handelt sich um einen Betrag in Höhe von 10 Milliarden Euro, den die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler - er wird nicht steuerfinanziert; das ist auch gut so jedes Jahr aufbringen. Das Zweite: Auch Sie können nicht so tun, als gäbe es heute keine wirtschaftlichen Probleme. Wenn das Problem nur Deutschland beträfe, könnte man anders damit umgehen. Aber es besteht in Europa und weltweit. Um Ihnen zu zeigen, wie unterschiedlich mit Problemen umgegangen werden kann und dass Verantwortungsbewusstsein eine große Rolle spielt, erinnere ich Sie an Folgendes: Am 30. Oktober 1997 musste der damalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm erklären, dass die Beitragssätze zur Rentenversicherung wohl um 0,7 Prozent steigen müssten. Er hat deutlich gemacht, dass das keine gute Nachricht und nicht wünschenswert sei, denn das sei negativ für die Arbeitsplätze und das Wachstum in Deutschland. Deshalb - so hat er der SPD gesagt - sei keine Zeit für Parteitaktik, sondern Opposition und Regierung müssten zusammenhalten, ({1}) um einen Anstieg der Beitragssätze auf 21 Prozent zu verhindern. - Wir haben uns damals darauf eingelassen und gemeinsam beschlossen, stattdessen die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt anzuheben. In der heutigen Situation, Herr Kollege Kolb, wäre ein solcher Beschluss nicht richtig. Es gab Zeiten, zu denen die Steuern erhöht werden konnten, und Zeiten, zu denen die Beiträge angehoben werden konnten. ({2}) Man muss jeweils entscheiden, was der richtige Schritt ist. Eines ist anscheinend nicht wegzudiskutieren: das besondere Phänomen, dass die Freie Demokratische Partei in diesem Land zwar 23 Jahre mitregiert hat, aber für nichts verantwortlich ist. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie haben die Frage gestellt: Wo bleiben die Alternativen? - Ich kann Ihnen einen Hinweis geben: Schauen Sie einmal in den Papierkörben von Rot-Grün nach. Alle Gesetze, die wir vor sechs Jahren beschlossen haben, haben Sie wieder zurückgenommen. Bei allen neuen Vorschlägen, die wir gemacht haben, haben Sie uns mit Ihrer Mehrheit überstimmt. Heute jedoch stellen Sie sich hier hin und fragen, wo unsere Alternativen bleiben. Die sind in Ihren Papierkörben gelandet! ({0}) Die Steuerreform und die Rentenreform könnten seit über sechs Jahren wirken. Während Ihrer heutigen Redebeiträge habe ich den Eindruck gewonnen, Sie regierten erst seit 14 Tagen. Aber Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung. ({1}) Das scheinen Sie zu vergessen. Etwas, was schnell und gut wirken würde, Frau Ministerin - das wäre eine wirkliche Alternative -, wären Neuwahlen. Dann würde ein Ruck durch Deutschland gehen. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich etwas zu unserem derzeitigen Umgang mit der parlamentarischen Arbeit sagen: Mit gewissenhafter Arbeitsweise hat das nichts mehr zu tun. ({3}) - Statt so viel dazwischenzurufen, wäre es gar nicht verkehrt, wenn Sie einmal zuhören würden; denn es geht auch um Ihr Selbstverständnis als Parlamentarier. ({4}) Im Haushaltsbegleitgesetz war vorgesehen, den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung um 2 Milliarden Euro zu kürzen. Am vorletzten Mittwoch wurde unser Antrag im Gesundheitsausschuss, das nicht durchzuführen, von Rot-Grün abgelehnt. Heute erklären Sie hier, dass die Kürzung verkehrt gewesen wäre, weil dann der Beitrag hätte angehoben werden müssen. Genau das war unsere Begründung, die Sie im Gesundheitsausschuss abgelehnt haben. Das heißt, Sie haben innerhalb einer Woche eine Wende um 180 Grad gemacht. Es kommt aber noch viel schöner. Wie mussten Sie als Sozialpolitiker rumeiern, um das zu begründen! Bei der namentlichen Abstimmung am letzten Freitag in diesem Haus haben zehn Abgeordnete von der SPD eine persönliche Erklärung abgegeben, dass sie die Kürzung um 2 Milliarden Euro für falsch halten, ({5}) dass sie aber aus grundsätzlichen Erwägungen trotzdem zustimmen würden. ({6}) In der Kabinettsklausur, gleich am Wochenende danach, wurde genau das beschlossen, was wir als Antrag eingebracht hatten und Sie in der namentlichen Abstimmung abgelehnt haben. Heute schlagen Sie in erster Lesung wieder das Gegenteil dessen vor, was Sie am letzten Freitag beschlossen haben. Können Sie sich ein größeres Durcheinander vorstellen? Ich mir nicht! ({7}) Das geht langsam an das Selbstwertgefühl aller Abgeordneten. Leider schlägt das auch auf andere Bereiche durch. Ich will dies an einem Beispiel klar machen - deshalb habe ich die entsprechenden Unterlagen mitgebracht -: Ich wollte im Plenarprotokoll 15/67 nachlesen, wer in der namentlichen Abstimmung für die Zweimilliardenkürzung gestimmt hat. Dort heißt es: Abgegebene Stimmen 602. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 297. Ich schaue in der Namensaufzählung nach. Dort sind allerdings keine 305, sondern nur 46 Ja-Stimmen aufgeführt. Ich gebe zu, das könnte eine Verwechslung sein, indem ein verkehrtes Abstimmungsergebnis abgedruckt worden ist. Jetzt kommt es aber noch dicker. Als ich gestern Abend in mein Büro kam, lag dort das Plenarprotokoll mit der gleichen Nummer in neuer Fassung. Ich schlage die gleiche Seite auf; auch dort heißt es wieder: Abgegebene Stimmen 602. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 297. Ich schaue wiederum auf die Liste mit den einzelnen Namen; sie wird jetzt wohl richtig sein. Aber siehe da: In der Aufzählung der Namen hat die SPD plötzlich eine Stimme mehr - sie hat jetzt 306 - und wir eine weniger, nämlich 296. Schlampiger geht es nicht! ({8}) Dies und das Durcheinander während der Auszählung hängen mit Ihrer chaotischen Zeitplanung zusammen. Man nimmt sich nicht mehr ausreichend Zeit, ordentlich zu debattieren. ({9}) Ich sage Ihnen eines - damit hier kein verkehrter Zungenschlag hineinkommt -: Ich habe höchsten Respekt davor, was die Leute im Stenografischen Dienst leisten. Die haben mit dieser Situation wirklich nichts zu tun. Heute beraten wir zwei Gesetzentwürfe, die im Anschluss an die Kabinettsklausur am letzten Sonntag als Notoperation vorgelegt wurden. Sie müssen zugeben, dass das für die 20 Millionen Rentner bestimmt keine freudigen Nachrichten sind. Die Rentenanpassung soll ausgesetzt, die Schwankungsreserve soll erneut auf 0,2 Monatsbeiträge gesenkt und die Rentner sollen bei den Beiträgen zur Pflegeversicherung voll belastet werden. Frau Ministerin, auch in diesem Punkt muss ich Ihnen widersprechen: Sie können hier nicht sagen, künftig müsse in der Rente sein, was Rente ist, und in der Pflege, was Pflege ist. Jetzt bringen Sie wieder einen Gesetzentwurf ein, in dem im Rahmen eines Notopfers zur Rente das geregelt werden soll, was eigentlich im Rahmen der Pflegeversicherung getan werden müsste. Hier machen Sie genau das Gegenteil von dem, was Sie gerade gesagt haben. ({10}) Auch das Verschieben der Rentenauszahlungen auf das Monatsende für alle neuen Ruheständler ist letztendlich eine Rentenkürzung um einen Monatsbeitrag. Das sollte man ehrlich darstellen. ({11}) Rot-Grün macht einen Fehler. ({12}) Sie gehen, wenn irgendwo im Finanzsystem Löcher entstehen, den einfachsten Weg und sagen: Wir nehmen Kürzungen bzw. Streichungen vor. Es wäre sinnvoller, wenn Sie sich unserer Philosophie anschließen würden. ({13}) Wir haben einen wesentlich nachhaltigeren Ansatz: Wir müssen an die Ursachen für die Löcher, die in den Systemen entstehen, herangehen. Priorität Nummer eins ist natürlich unser Arbeitsmarkt. Schauen Sie sich an, welche Vorschläge wir zur Belebung des Arbeitsmarktes gemacht haben! Diese haben Sie abgelehnt. Wir sagen auch: Wir müssen der Familienpolitik noch mehr Gewicht geben, weil die Entwicklung der Kinderzahlen mit einer der wesentlichsten Gründe dafür ist, dass die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme nicht nachhaltig gesichert ist. Wir müssen auch endlich dafür sorgen, dass der Griff in die Sozialkassen von Staatsseite endlich aufhört; da schließe ich keine Regierung aus. Seien wir ehrlich zu uns selber: In den letzten Jahrzehnten wurden von Staats wegen aus manchen Sozialkassen bis zu 30 Milliarden Euro entnommen. Die gleichen Leute haben sich dann beschwert, dass wir in diesen Systemen Finanzierungsprobleme haben. ({14}) Gehen wir also gemeinsam die Ursachen an! Dann erreichen wir wesentlich mehr, als wenn wir nur kurzfristig wirkende Maßnahmen vorschlagen. Ich bitte, eines zu beachten: Im Zusammenhang mit den Belastungen für die Rentner tun wir so, als hätten wir in Deutschland ein durchschnittliches Rentenniveau von über 2 000 Euro. Die Renten liegen bei den Männern im Westen durchschnittlich bei 1 157 Euro und bei den Frauen bei 593 Euro. Wir dürfen doch nicht vergessen, dass wir die Rentner schon in anderen Bereichen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, belastet haben. Sie müssen den vollen Krankenkassenbeitrag auf Betriebsrenten und Versorgungsbezüge erbringen, erhöhte Zuzahlungen leisten und die Kosten für Fahrten und nicht verschreibungspflichtige Medikamente übernehmen. All diese Belastungen haben die Rentner zusätzlich zu tragen. Und noch eines kann ich Ihnen nicht ersparen: Als wir entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt hatten - rechtzeitig! -, sind wir von Ihnen mit „sozialer Kahlschlag“ beschimpft worden. Sie machen jetzt zum Teil noch viel größere Einschnitte und wenn wir diese kritisieren, heißt es, man stehe vor der Alternative: höhere Beiträge oder Leistungen kürzen. ({15}) Nein, die Alternative hätte gelautet: rechtzeitig diese Maßnahmen einführen! Wir hätten seit sechs Jahren wesentlich bessere Rahmenbedingungen haben können. ({16}) Das hätte dazu geführt, dass mehr Menschen in Arbeit gekommen wären. ({17}) - Sie wären froh, wenn die Rahmenbedingungen noch so gut wären wie zu dem Zeitpunkt, als Sie die Regierung übernommen haben. Heute sind die Bedingungen schlechter als 1998. ({18}) Das Paket, das Sie uns heute zur Beratung vorgelegt haben, ist wirklich nicht geeignet, die Probleme auch nur annähernd zu lösen. Mit der heute von Ihnen angekündigten Reform ist es wie mit der Rücktrittsdrohung des Kanzlers: Ankündigungen, die nicht problemlösend umgesetzt werden, können nicht zum Ziel führen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Zöller, Sie haben in Ihrer Rede den bedauerlichen Fehler am letzten Freitag angesprochen, der bei der Auszählung passiert ist. Damit sich kein falscher Eindruck bei unseren Besucherinnen und Besuchern auf der Tribüne verfestigt, muss ich feststellen, dass an dieser Auszählung nicht nur Schriftführerinnen und Schriftführer aus den Koalitionsfraktionen, sondern auch Schriftführerinnen und Schriftführer aus der CDU/CSUFraktion beteiligt waren. Ich stelle das hier klar, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, dass dieser bedauerliche Fehler, der natürlich immer einmal passieren kann, wenn Menschen arbeiten, auf die Koalitionsfraktionen zurückzuführen ist. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1830, 15/1831, 15/1810 und 15/1832 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik transparent machen - Drucksachen 15/655, 15/1776 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Lale Akgün Dr. Michael Bürsch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Josef Philip Winkler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPD-Fraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsparteien, damit meine ich insbesondere die Kollegen Grindel und Schröder! Die Richtlinienentwürfe zur europäischen Migrationspolitik sind in den letzten Monaten von den Innenpolitikern wahrlich intensiv diskutiert worden. ({0}) In vielen Sitzungswochen gab es Treffen der Berichterstatter. Im Juli hat eine öffentliche Anhörung zu den einzelnen Richtlinien stattgefunden und der Innenausschuss hat mehrfach einzelne Richtlinien diskutiert und wird auch jede weitere diskutieren, die eingebracht wird. Was die Information durch das Bundesinnenministerium angeht, so habe ich als Parlamentarierin nichts zu beanstanden. Anfang dieser Woche haben wir den Vorbericht mit der vorläufigen Tagesordnung zum Rat der Innen- und Justizminister am 8. November erhalten. Dadurch haben wir reichlich Vorlaufzeit, um uns zu den anstehenden Themen zu positionieren. Ich weiß, dass Sie bedauern, in den Vorberichten seitens des BMI nicht schon die Verhandlungsergebnisse mitgeteilt zu bekommen, aber das liegt in der Natur der Sache. Ich möchte gar nicht viel zum Verfahren sagen. Ich möchte auch nicht intensiv auf die Diskussion einzelner Richtlinien eingehen, weil der Verfahrensstand heute vielfach ein ganz anderer ist als bei der Formulierung Ihres Antrags. Mir geht es vielmehr darum, einen Gesamtzusammenhang darzustellen und Ihre Forderung zu bewerten, deutsches Recht auf europäischer Ebene eins zu eins abzubilden. Ich habe bereits einmal erwähnt, dass unser Bundesinnenminister beim Einbringen deutscher Positionen sehr erfolgreich ist. ({1}) Er tut das übrigens nicht, weil Sie, Herr Grindel, ihn vor sich hertreiben, ({2}) sondern weil er ein guter und überzeugender Verhandler ist. Das werden Sie in den Debatten im Vermittlungsausschuss zum Zuwanderungsgesetz noch merken. ({3}) Das ist aber gar nicht der entscheidende Aspekt. Was mir Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass es Ihnen offensichtlich an Verständnis für die Zusammenhänge der Migrationspolitik fehlt. Auch mangelt es Ihnen an europäischem Bewusstsein. ({4}) Sie beklagen in Ihrem Antrag den - ich zitiere - „weitgehenden Verlust der nationalen Gestaltungsfähigkeit in Asyl-, Ausländer- bzw. Zuwanderungsfragen“. Sie erwarten, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen über die Richtlinien anstrebt, das deutsche Ausländerrecht eins zu eins abzubilden, und Sie gehen so weit, zu fordern, dass die Bundesregierung gar ein Veto einlegen muss, ({5}) wenn dies nicht vollständig gelingt. Das heißt in der Konsequenz: ein Veto gegen eine gemeinsame europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik. ({6}) Aber gleich in einem der nächsten Kapitel Ihres Antrages formulieren Sie folgenden Satz: Ziel einer europäischen Ausländer-, Zuwanderungs- und Asylpolitik muss es sein, im gesamten Raum der EU gleiche Regelungen für Aufnahme, Aufenthalt und Aufenthaltsbeendigung von Flüchtlingen und Bürgerkriegsflüchtlingen zu schaffen … Den letzten Satz kann ich nur begrüßen. Die Europäische Union befindet sich zurzeit in genau diesem Prozess, nämlich in dem schwierigen Prozess, die in den Mitgliedstaaten häufig unterschiedlichen Probleme von Zuwanderung und Integration zu koordinieren; Probleme übrigens, die häufig die gleichen Ursachen haben. Wie wichtig das ist, möchte ich nur anhand von zwei Ereignissen aus jüngster Zeit andeuten. Von dem einen Ereignis komme ich gerade selbst zurück, nämlich von der Parlamentarierinnenkonferenz der EU- und Mittelmeeranrainerstaaten in Amman. Dort ging es um interkulturellen Dialog, um Friedenspolitik, aber eben auch um Migrationsfragen. Die Mittelmeeranrainer sind häufig Herkunftsländer, viel mehr aber noch Transitländer für die Flüchtlingsströme aus den Krisengebieten Schwarzafrikas und Asiens; Flüchtlingsströme übrigens, von denen hier in Europa und insbesondere in Deutschland nur ein Bruchteil ankommt. Wer solchen Konferenzen beiwohnt, der merkt schnell, wie wichtig es ist, eine europäische Koordinierung in den Beziehungen zu den Nachbarstaaten herzustellen. Ich hätte mir gewünscht, dass auch eine Vertreterin der Opposition das Angebot zur Teilnahme an der Konferenz wahrgenommen hätte. Man lernt dort nämlich, über den Tellerrand der innenpolitischen Rechtsverordnungen zu schauen. ({7}) Das zweite Ereignis hat in der Presse dieser Woche einen breiten Raum eingenommen, nämlich das Flüchtlingsdrama vor Lampedusa, bei dem bis zu 80 Afrikaner auf einem Flüchtlingsschiff auf grausamste Weise starben. Für sie, wie für viele andere, war der erhoffte Weg in die Freiheit ein Weg in den Tod. Wir alle wissen, dass dies kein Einzelfall ist, und wir wissen, dass dieses Flüchtlingsdrama eine lange Vorgeschichte hat, bei der skrupellose und menschenverachtende Schleusung über das Mittelmeer nur die letzte Station ist. Die Menschen, die dieses Schicksal erleiden, tun alles, sie riskieren sogar ihr Leben, um Massakern, Kriegen, Bürgerkriegen, Hungersnöten oder wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit zu entfliehen. Dabei lassen sie sich von nichts abschrecken, nicht von den inhumanen Methoden der Schleuser - das Schleusen von Menschen ist mangels anderer Perspektive zur wirtschaftlichen Grundlage für manches Sahelland geworden, wie zum Beispiel für den Niger -, nicht von den unmenschlichen Bedingungen und dem Rassismus in den Flüchtlingslagern der arabischen Länder, nicht von den Berichten von Verwandten und Landsleuten, die es geschafft haben und merken, dass Europa nicht das erhoffte Paradies ist, ja, nicht einmal durch den Verlust von Freunden und Angehörigen, die bei Dramen wie dem in dieser Woche ihr Leben im Mittelmeer gelassen haben. Glauben Sie wirklich, Kolleginnen und Kollegen von der Union, diese Menschen ließen sich davon abschrecken bzw. ihre Situation würde sich dadurch verbessern, dass ein Halbsatz aus der deutschen Rechtsprechung in die europäische Richtlinie XY aufgenommen wird? Glauben Sie wirklich, dass darin die Lösung bei der Gestaltung europäischer Zuwanderungspolitik liegt? Ich glaube, so naiv können nicht einmal Sie sein. ({8}) Sie müssten es doch besser wissen. Sie müssten wissen, dass Zuwanderung nach Europa über ganz andere Faktoren gesteuert wird. Was wir deswegen tun müssen, ist: Erstens. Wir müssen unter Berücksichtigung von Demographie, Arbeitsmarkt, humanitären und anderen relevanten Gesichtspunkten gemeinsam überlegen, wie viel und welche Zuwanderung Europa in den kommenden Jahrzehnten braucht und will. Zweitens. Es bedarf einer gemeinsamen Strategie zur zielgerichteten Integration der Zugewanderten, die in Europa bereits leben bzw. noch zu uns kommen werden. Wohlgemerkt: Wir brauchen keine Gleichschaltung von Integration, sondern eine gemeinsame Strategie. Drittens. Es müssen gemeinsame Aktivitäten zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität aufgebaut werden, die koordiniert werden. Es muss eine gemeinsame Koordinierung der Grenzkontrollen stattfinden. Viertens. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie zur Kooperation mit Transit- und Herkunftsländern zur Fluchtursachenbekämpfung. Letzteres hat auch mit Fragen des Welthandels und der Entwicklungshilfe zu tun. Nebenbei gesagt: Auch bei der Entwicklungshilfe hat die rot-grüne Koalition einen sinnvollen Wandel hin zu multilateralen Kooperationsprojekten herbeigeführt. Sie dagegen wollen wieder zurück zu den wenig effektiven bilateralen Kleinprojekten. Alle diese Ziele, die ich erwähnt habe, lassen sich aber nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Kooperation und Koordination sinnvoll angehen. Dazu wird auf europäischer Ebene gerade dieser notwendige gemeinsame Rechtsrahmen erarbeitet. Noch einmal: Ein gemeinsamer europäischer Rechtsrahmen bedeutet eben nicht die Gleichschaltung der nationalen Gesetzgebung, sondern das Schaffen von gemeinsamen Mindestnormen und Arbeitsgrundlagen. Ich bezweifle, dass das deutsche Recht dabei das Maß aller Dinge sein kann. Ich will als Beispiel nur die Integration von Neuzuwanderern nennen. Wir alle sind uns darüber einig, dass die Notwendigkeit besteht, dass Neuzuwanderer in Deutschland Sprachkurse besuchen. Darüber gibt es im Zuwanderungsgesetz keinen Dissens. Aber uns allen muss auch klar sein, dass dieses für Deutschland sinnvolle Instrument unter anderen Umständen völlig unsinnig ist, beispielsweise beim Zuzug westafrikanischer Zuwanderer nach Frankreich, die in ihrem Herkunftsland mit Französisch als Muttersprache aufwachsen. Es macht daher keinen Sinn, so etwas als europäischen Standard festzuschreiben. ({9}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, dass Sie das deutsche Ausländerrecht für das Beste unter allen europäischen halten, bleibt Ihnen unbenommen. Was an Ihrem Antrag aber unverzeihlich ist, ist die Kernforderung, nämlich die Aufforderung an die Bundesregierung, per Veto zu einzelnen Richtlinien einen gemeinsamen europäischen Rahmen für die Migrations-, Integrations- und Flüchtlingspolitik zu blockieren, falls das deutsche Recht nicht eins zu eins in europäisches Recht umgesetzt wird. Dies ist im Kern eine Absage an die europäische Integration. Damit liegen Sie nicht nur gefährlich falsch, sondern befinden sich auch im Widerspruch zur Politik Ihrer Partei seit den Zeiten Konrad Adenauers. ({10}) Daher mein Appell an Sie: Hören Sie mit Ihrer kleinkarierten Sichtweise auf und gestalten Sie Europa mit! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit einem Thema, bei dem es schon auf den inneren Zusammenhalt in unserem Land ankommt. Weil Frau Akgün die Flüchtlingsströme angesprochen hat, möchte ich schon auf unsere gemeinsamen asylpolitischen Erfahrungen aufmerksam machen. Wir dürfen nicht vergessen, dass der massive Zustrom von Asylbewerbern und illegalen Ausländern in den Jahren 1992 und 1993 zu erheblichen Verwerfungen in unserem Land geführt hat. ({0}) Es waren die beiden großen Volksparteien und die FDP, die sich damals für eine grundlegende Änderung des Ausländer- und Asylrechts in Deutschland eingesetzt haben. Der Asylkompromiss von damals war richtig und erfolgreich. Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland hat sich seitdem deutlich reduziert. Das ging nicht zulasten der tatsächlich politisch Verfolgten, die immer noch einen sehr kleinen Anteil - weniger als 2 Prozent aller Zuwanderer werden als solche anerkannt - an den Zuwanderern ausmachen. Frau Akgün, der entscheidende Punkt ist, dass wir spätestens seit der Anhörung zu den geplanten EU-Asylrichtlinien im Juli wissen: Wenn die Richtlinienentwürfe der EU-Kommission tatsächlich beschlossen werden sollten, dann würde unser gemeinsames und bewährtes Asylrecht ausgehebelt und es müsste erneut mit einem drastischen Zuwanderungsdruck nach Deutschland gerechnet werden. ({1}) Angesichts der sozialen Lage in unserem Land können wir das alle gemeinsam nicht wollen; das kann kein vernünftiger Mensch wollen. Unser Antrag enthält deshalb im Grunde eine zentrale Aufforderung an die Bundesregierung und insbesondere an den Bundesinnenminister: Sorgen Sie durch Ihren Einsatz in Brüssel dafür, dass die Grundsäulen des Asylkompromisses - ich sage noch einmal: unseres gemeinsamen Asylkompromisses! - nicht eingerissen werden und dass wir hier in Deutschland eine Ausländerpolitik machen können, die mehr tut für Integration und die nicht wegen einer ungesteuerten Zuwanderung zum Scheitern verurteilt ist! Um diese Aufforderung geht es. ({2}) Es war Bundeskanzler Gerhard Schröder, der wegen dieser Überlegungen beim EU-Gipfel in Nizza dafür gesorgt hat, dass über die Ausländer- und Asylpolitik innerhalb der EU einstimmig entschieden werden muss ({3}) nicht weil wir wollen, dass am deutschen Wesen die Welt genesen soll, wie Frau Akgün gesagt hat, ({4}) sondern weil wir wissen, dass es kein anderes Land innerhalb der EU gibt, das einen Individualanspruch auf Asyl kennt, dass es kein anderes Land gibt, das solche Zuzugszahlen hat, und dass es kein anderes Land gibt, in dem es so lange Verfahren gibt. Auch am deutschen Sozialwesen - das werden wir sicher alle gemeinsam sagen - kann die Welt nämlich nicht genesen. Auch damit wären wir überfordert. Es war der Bundeskanzler, der diese Einstimmigkeit aus gutem Grund gewollt hat. Insofern hat das nichts mit irgendeinem Alleingang oder einem falschen Verständnis von Europa zu tun. ({5}) Bei dieser Gelegenheit möchte ich - Frau Staatssekretärin, Sie haben mich im Ausschuss dazu aufgefordert; dem komme ich gerne nach - den Einsatz des Bundesinnenministers für eine Beibehaltung der Drittstaatenregelung innerhalb der EU ausdrücklich unterstützen. Im Kampf gegen den Missbrauch des Asylrechts haben wir damit gute Erfahrungen gemacht. Gerade angesichts des noch unterentwickelten Grenzschutzes in den Beitrittsländern wäre es völlig falsch, wenn man etwa Polen oder Ungarn die Möglichkeit einer Drittstaatenregelung verweigern würde. Wir brauchen sie auch an den neuen EU-Außengrenzen. Da das in der Tat traurige Schicksal der Menschen im Mittelmeer angesprochen worden ist, will ich festhalten: Wir dürfen den Schleppern und Schleusern ihr menschenverachtendes Geschäft doch nicht dadurch erleichtern, dass sie in den Herkunftsländern Hoffnungen wecken können - nach dem Motto: Jetzt, nach der Erweiterung der EU und mit den neuen Asylrichtlinien, ist es wieder einfacher, nach Deutschland zu kommen und hier zu bleiben. Warum ist denn zum Beispiel der Zustrom von Rumänen, von Bulgaren nach dem Asylkompromiss von 1993 zurückgegangen? Herr Wiefelspütz weiß es doch am besten: ({6}) weil die Zuwanderer in ihren Heimatländern erzählt haben, dass sie schon nach zwei bis drei Tagen wieder zurück gewesen sind - weil sie aufgrund der neuen Rechtsregel sofort abgeschoben wurden - und dass es sich nicht lohnt, den Schleppern das Geld zu geben, weil man keine Chance auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland hat. Deswegen sage ich Ihnen: Wir brauchen Hilfe in den Herkunftsländern. Dann wird man solche Schicksale bekämpfen können. Es ist aber der falsche Ansatz, hier irgendwelche falschen Anreize zu geben, damit sich die Menschen auf den Weg nach Deutschland machen. Frau Akgün, so legt man den Schleppern mit Sicherheit nicht das Handwerk. Dazu gehört auch, dass diejenigen, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben, auch tatsächlich ausReinhard Grindel reisen oder abgeschoben werden. Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich Herr Schily beim letzten EU-Innenministerrat klar dafür ausgesprochen hat, gegenüber Drittstaaten, die ihre Staatsangehörigen nicht zurücknehmen, auch repressive Maßnahmen anzuwenden. Ich frage mich nur: Warum warten wir dabei auf die EUKommission? ({7}) Warum fangen wir damit in Deutschland nicht schon einmal an? ({8}) Frau Staatssekretärin, die Herkunftsländer sind nach dem Völkerrecht verpflichtet, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Wir dürfen uns da weder finanziell noch durch andere Gegenleistungen von diesen Staaten erpressen lassen. Ich bin der Auffassung: Wenn wir bei der Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer konsequenter und im Ergebnis erfolgreicher sind, ist es integrationspolitisch auch einfacher, über eine umfassende Härtefallregelung nachzudenken. Das ist doch unser Ziel: Wir wollen uns auf die Integration der ausländischen Mitbürger konzentrieren. Wir wollen, dass dies gelingt. Bei ungesteuerter Zuwanderung ist dies nicht der Fall. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Beck, hat mir nach unserer letzten Debatte einen Vortrag von Professor Heckmann aus Bamberg über Bedingungen erfolgreicher Integration zugeschickt. Darin wird Sprachkompetenz der Zuwanderer verlangt und vor einer ungesteuerten Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt gewarnt. ({9}) Dann heißt es wörtlich: Die Bevölkerung darf nicht überfordert werden in dem Sinne, dass Zuwanderung und Zuwanderungspolitik von gesellschaftlicher Akzeptanz getragen werden sollten. Auch im Bereich sozialer Integration gilt, dass gesteuerte Zuwanderung eine Erfolgsbedingung von Integration ist. Die Übersendung dieses Vortrags kann ich nur als ein Angebot zur Verständigung auffassen, liebe Frau Beck. ({10}) Wer in diesen Tagen die Presse verfolgt, der stellt fest, dass sich auch bei den Grünen erstaunliche Erkenntnisse durchsetzen. Gestern erschien im „Handelsblatt“ der Artikel „Kurswechsel bei den Grünen - Integration statt Zuwanderung“. Das ist ja unser Motto. Frau Beck, Sie haben offensichtlich letzten Dienstag ein Hintergrundgespräch geführt. Hier ist ein Zitat von Ihnen: Ich stelle fest, dass die Zeiten für zusätzliche Zuwanderung schlechter geworden sind. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ heißt es: Es sei „zu prüfen, ob die ursprünglichen Motive überhaupt noch Bestand haben“, ob „wir uns tatsächlich noch eine Debatte um Zuwanderungsgestaltung leisten“ … Ich sage nur: Willkommen im Klub! Das haben wir immer gesagt. ({11}) Warum haben wir eigentlich so heftig gestritten? Ist es nicht Zeit, dass Sie die bösen Angriffe auch gegen unsere Fraktion, hier würde Ausländerfeindlichkeit geschürt, endlich einmal zurücknehmen? Ich frage Sie dies vor dem Hintergrund, dass Sie selbst mit solchen Thesen kommen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Frage der Kollegin Beck?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Beck, bitte schön.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Grindel, sind Sie mit mir der Meinung, dass wir beide froh sein sollten über die vielfältige Presselandschaft, die wir im freien Deutschland haben? Ich würde Sie dann aber bitten, auch die dpa-Meldung zu zitieren, in der ich gesagt habe, dass das zentrale Motiv dieses Zuwanderungsgesetzes die Gestaltung von Arbeitsmigration war und dass wir nicht einen Teil aus diesem Gesetz herausbrechen lassen werden, weil ansonsten das ursprüngliche Motiv dieses Gesetzes entfallen würde. Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass es auch diese Pressemeldung gegeben hat?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Beck, wir müssen uns schon einmal darüber unterhalten, ob wir von Marieluise Beck oder von Volker Beck sprechen; denn ich habe in den letzten Tagen festgestellt, dass das ein gewaltiger Unterschied ist. ({0}) Von Ihnen, Frau Beck, von Marieluise, habe ich in der Tat gelesen - das steht sowohl im Artikel des „Handelsblatt“ als auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ -, dass Sie gesagt haben, es sei angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt mit den vielen, auch ausländischen Arbeitslosen nicht die Stunde, über zusätzliche Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt zu reden. Das wird jedenfalls in dem Artikel in der „FAZ“ von Herrn Leithäuser deutlich gemacht, der offensichtlich bei dem Hintergrundgespräch anwesend war. Es heißt, es sei jetzt eher Ihr Ziel, sich auf Integrationsmaßnahmen zu verständigen. - Ich will zugeben, dass auch ich dieser Auffassung bin. Ich habe aber heute zur Kenntnis genommen, dass Herr Volker Beck gesagt hat, eine Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt sei weiter notwendig. Er fragt uns, die CDU/CSU-Fraktion, mit Blick auf die morgigen Gespräche, wie verhandlungsfähig wir seien. Diese Frage sollten sich die Grünen zunächst einmal selber beantworten; denn ich stelle fest, liebe Frau Marieluise Beck, dass bei Ihnen erheblicher Klärungsbedarf besteht. Es gilt das Motto: Nicht überall, wo „Beck“ draufsteht, ist auch „Beck“ drin. Das ist ein erhebliches Problem. Insofern könnte man vielleicht sagen: Volker, höre die Signale! Es geht in Richtung Integration und nicht in Richtung Ausweitung der Zuwanderung. Darum geht es auch in unserem Antrag. Wir wollen nicht über den Umweg Brüssel in der Zuwanderungsdebatte vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Wir wollen von der EU-Kommission auch nicht an einer erfolgreichen Integrationspolitik gehindert werden. Das hat nichts mit Europaskepsis zu tun, Frau Akgün, sondern mit der selbstverständlichen Wahrnehmung nationaler Interessen für eine Integrationspolitik. Darum bitten wir, dazu fordern wir die Bundesregierung auf. Schönen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Winkler von Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Die innen- und europapolitischen Diskussionen überlappen sich in den letzten Jahren zunehmend. Dies gilt insbesondere auch für das Asyl- und Flüchtlingsrecht, das durch den Amsterdamer Vertrag im Wesentlichen in die so genannte erste Säule des EG-Vertrages transformiert worden ist. In diesem Prozess spielt Deutschland eine wichtige Rolle. Das ist für die Grünen als Teil der rot-grünen Regierung von großer Bedeutung. Dies wird derzeit bei dem Richtlinienentwurf zu Asylverfahren besonders deutlich. Zu diesem Richtlinienentwurf, der Ende 2003 verabschiedet werden soll, möchte ich für die grüne Fraktion drei Anmerkungen machen. Zu den Regelungen zu sicheren Drittstaaten: Was hier an Verwirrungen entstanden ist oder herbeigeführt wurde, insbesondere durch die Opposition, muss jeden aufbringen, der die Diskussionen um den deutschen Asylkompromiss 1993 miterlebt bzw. miterlitten hat. Die CDU/CSU hat angedeutet, dass aus ihrer Sicht in der Richtlinie festgelegt werden soll, dass die deutsche Drittstaatenregelung für alle Mitgliedstaaten möglich ist. Sie hat jedoch in der Öffentlichkeit nicht deutlich gemacht, was dies bedeutet. Wer grundsätzlich von einer Prüfung des individuellen Vorbringens des Asylbewerbers in den Fällen absehen will, in denen die Einreise aus einem so genannten sicheren Drittstaat erfolgt ist - also analog zum deutschen Konzept -, der muss sicher sein, dass der Drittstaat ähnlich hohe rechtliche Standards wie er selbst gewährt. Das gilt gerade dann, wenn - wie im deutschen Recht - auch die Grenzbehörden, die in Asylfragen unkundig sind, ohne Prüfung in den sicheren Drittstaat abschieben dürfen. ({0}) Der deutsche Asylkompromiss von 1993 - nicht gerade das rot-grüne Lieblingsprojekt - hat in der Verfassung festgelegt, dass wir nur von einer vergleichbaren Sicherheit ausgehen dürfen, wenn die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist. Herr Kollege Grindel, wenn Sie es im Grundgesetz nicht finden: Art. 16 a Abs. 2 Satz 1. Das ist eine klare und eindeutige Festlegung. ({1}) Wenn die CDU/CSU nun signalisiert, unsere tschechischen und insbesondere unsere polnischen Nachbarn sollten gegenüber ihren Nachbarstaaten so vorgehen können wie der verfassungsändernde Gesetzgeber 1993 in Deutschland, dann überschätzt sie die bisherigen rechtsstaatlichen und bürgerrechtlichen Entwicklungen etwa in Staaten wie Weißrussland und der Ukraine. ({2}) Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, die Drittstaatenregelung in dem Richtlinienentwurf zu Asylverfahren so auszugestalten, dass eine individuelle Einzelfallprüfung zur tatsächlichen Sicherheit des Betreffenden in dem sicheren Drittstaat in jedem Fall erfolgen muss. Bei einer solchen Konzeption sind formale Kriterien, die bestimmen, was einen sicheren Drittstaat ausmachen soll, nicht von so außerordentlicher Bedeutung wie im deutschen Konzept. Im Konzept der EU-Kommission fände in jedem Fall eine Einzelfallprüfung statt, in der sich der Schutzsuchende zur Sicherheit im Drittstaat äußern könnte. Das ist der deutliche Unterschied zum deutschen Konzept. Die Übernahme allein dieses Konzeptes der Kommission in der Richtlinie hätte zur Folge gehabt, dass Art. 16 a Abs. 2 des Grundgesetzes keine Anwendung mehr hätte finden können. Deshalb hat die Bundesregierung in Brüssel einen Änderungsantrag eingebracht, der im Wesentlichen die Möglichkeit eröffnen soll, dass Mitgliedstaaten auch - ich betone: auch - das deutsche Konzept zur Regelung zu sicheren Drittstaaten anwenden dürfen. In den Diskussionen in Brüssel wird die deutsche Seite noch klarer als bisher machen müssen, dass das deutsche Konzept ein Konzept mit hohen menschenrechtlichen Anforderungen und ein im eigentlichen Sinne europäisches Konzept ist. ({3}) Das heißt, Drittstaaten, die die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht sicherstellen, können aus deutscher Sicht niemals sichere Drittstaaten sein. Hiermit wären insbesondere Länder gemeint, die die Konventionen nur ratifiziert haben, ihre Anwendung aber in der Praxis nicht tatsächlich sicherstellen. Ich denke hier etwa an die Europaratsmitglieder Russland, die Ukraine, aber auch an die Türkei. Auch Staaten, die eine der beiden Konventionen nicht ratifiziert haben, wie zum Beispiel Weißrussland die Europäische Menschenrechtskonvention, können im deutschen Konzept nie sichere Drittstaaten sein. Es wird und darf in Brüssel mit deutscher Zustimmung keine Regelung zu sicheren Drittstaaten geben, die die menschenrechtlichen Voraussetzungen der deutschen Drittstaatenregelung übergeht oder die Elemente der beiden vorliegenden Konzepte so kombiniert, dass politischer oder gar europarechtlicher Druck auf den Asylkompromiss von 1993 entstehen kann. Insbesondere die Vorschläge der Briten im Bereich der Regelung zu sicheren Drittstaaten, die das Konzept auch dann anwenden wollen, wenn ein Gebietskontakt zu einem bestimmten Drittstaat nicht stattgefunden hat oder eine Rückführung nicht gesichert ist, sind aus flüchtlingspolitischer Sicht problematisch. Sie würden voraussehbar zu Situationen führen, in denen Staaten um die Aufnahme streiten und den Flüchtlingen ihre Rechte vorenthalten werden. Man spricht von so genannten Flüchtlingen „in orbit“. Das werden wir wie auch die Bundesregierung weiterhin ablehnen. ({4}) Meine zweite Anmerkung betrifft die Haftmöglichkeiten während des Asylverfahrens. In der Richtlinie der EU zu Asylverfahren muss deutlich werden, dass die Inhaftierung von Asylbewerbern eine wirkliche Ausnahme bleibt. Eine Inhaftierung erschwert es in aller Regel, den Asylantrag letztendlich erfolgreich bis zur Anerkennung zu betreiben. Die Regelung im deutschen Asylverfahrensgesetz ist eine solche Ausnahmeregelung. Sie funktioniert aus meiner Sicht teilweise ungenügend. Aber sie geht nicht so weit wie viele der in Brüssel verhandelten Vorschläge anderer Mitgliedstaaten oder gar der EUKommission zu Art. 17 des Richtlinienentwurfs. Wir werden nicht zulassen, dass über einen künftigen europäischen Mindeststandard, sei er nun verpflichtend oder nur als Kannregelung ausgestaltet, politischer Druck insbesondere auf die Beitrittsländer erzeugt werden kann. Wir halten es vielmehr für erforderlich, sicherzustellen, dass etwa Eltern durch Haft nicht von ihren Kindern getrennt werden dürfen. Eine Harmonisierung nach „unten“ wird es nicht geben. Wir verhandeln in Brüssel in Richtung hoher Menschenrechtsstandards, ob Ihnen das passt oder nicht. Dritte und letzte Anmerkung: Rechtsschutz gegen ablehnende behördliche Entscheidungen. Das bezieht sich auf Art. 39 Abs. 5 des Richtlinienentwurfs. Effektiver Rechtsschutz ist ein Kernelement nicht nur des deutschen Rechtsstaats. Der allzu lange Katalog von Möglichkeiten im Richtlinienentwurf, bereits die Beantragung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels auszuschließen, sollte erheblich gekürzt werden. Wir sind hier auf einem guten Weg. Das deutsche Recht kennt einen solchen Ausschluss der Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz erhalten zu können, eben aus guten Gründen nur bei der Regelung zu sicheren Drittstaaten und nicht auch bei offensichtlich unbegründeten Anträgen oder bei Folgeasylanträgen. Auch im Bereich des Rechtsschutzes wäre es blauäugig, wenn man - bei aller Kompromissbereitschaft, die selbstverständlich auch nötig ist - zuließe, dass Formulierungen Eingang in den Richtlinienentwurf fänden, die in zu vielen Fallkonstellationen Ausnahmen von dieser rechtsstaatlichen Grundregel erlaubten. Es reicht auch hier nicht aus, sich von deutscher Seite darauf zurückzuziehen, es würde sich in Art. 39 Abs. 5 des Richtlinienentwurfs nur um Kannregeln handeln, die Deutschland nicht unmittelbar verpflichten, das innerstaatliche Recht in allen angeführten Fällen zu ändern bzw. zu verschärfen. Uns muss es um die Schaffung eines guten europäischen Standards gehen. Dieses Ziel haben wir auch im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der SPD vereinbart. ({5}) Die Ausführungen im vorliegenden Unionsantrag sind in dieser Hinsicht vollkommen untauglich, ein Schritt in die falsche Richtung und werden deshalb von uns mit allem Nachdruck abgelehnt. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es heute mit dem seltenen Fall zu tun, dass gleich ein Antrag abgelehnt werden wird, nämlich der Antrag der CDU/CSU, ({0}) dieser Antrag aber dennoch einen politischen Erfolg bewirkt hat, den die Antragsteller beabsichtigt haben. Wir von der FDP werden diesen Antrag ablehnen, denn er hat zum Inhalt, dass das geltende deutsche Asyl- und Ausländerrecht als verbindliche Verhandlungsposition für Verhandlungen der Bundesregierung auf EU-Ebene festgeschrieben werden soll. ({1}) Ohne auf den Inhalt einzugehen, muss ich doch daran erinnern, dass es immer die gemeinsame Haltung aller Fraktionen des Hohen Hauses gewesen ist, vernünftigerweise einer Bundesregierung bei Verhandlungen mit etlichen anderen Mitgliedstaaten auf EU-Ebene einen gewissen Verhandlungsspielraum zu gewähren. ({2}) Es versteht sich doch von selbst, dass wir für ein europäisches Asylrecht sind. Dieses kann aber nur dann zustande kommen, wenn Kompromisse geschlossen werden. Von daher haben wir die Idee, die früher bei den Grünen eine Rolle gespielt hat, nämlich die Bundesregierung mit einem imperativen Mandat nach niederländischem Beispiel völlig zu binden, immer abgelehnt. ({3}) Daher werden wir auch Ihren Antrag ablehnen. ({4}) Gleichwohl, meine Kollegen von der CDU/CSU, haben Sie bei der Bundesregierung offenbar Wirkung erzielt. Denn wir stellen fest, dass die Bundesregierung bzw. Minister Schily in den Verhandlungen über die beiden entscheidenden Richtlinien, um die es jetzt geht - dabei handelt es sich um die Richtlinie zur Definition des Flüchtlingsstatus, die so genannte Qualifizierungsrichtlinie, und um die Asylverfahrensrichtlinie -, in Brüssel sehr, sehr vorsichtig agiert. ({5}) Ich stelle aus Sicht der FDP fest, dass zum Beispiel die Qualifizierungsrichtlinie verabschiedungsfähig wäre. Alle Mitgliedstaaten sind sich einig, aber der Vorbehalt der Bundesregierung verhindert die Verabschiedung dieser wichtigen Richtlinie. ({6}) Es war immer die Position von Edzard SchmidtJortzig, dem ehemaligen Justizminister, und der FDPFraktion, dass nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung für den Flüchtlingsbegriff mit maßgebend sein muss. ({7}) Nichts anderes steht in dieser Richtlinie. Deswegen würden wir die Bundesregierung ermutigen, an dieser Stelle einen Schritt voranzugehen. Dies geschieht aber nicht - in diesem Zusammenhang bin ich anderer Meinung als Frau Akgün -, weil die Bundesregierung die Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz, die morgen beginnen, im Hinterkopf hat. Minister Schily will dieses Gesetz durchsetzen ({8}) und braucht dafür die CDU/CSU. ({9}) Aus diesem Grund - das war Ihr politisches Anliegen scheuen Sie sich, die auf EU-Ebene bereits vollendeten Tatsachen auch auf Bundesebene umzusetzen. Dadurch haben Sie eine Wirkung erzielt, die ich allerdings nicht für besonders glücklich halte. ({10}) Denn es geht auch um die Asylverfahrensrichtlinie. In diesem Zusammenhang erwecken Sie immer wieder den Eindruck, Herr Grindel, diese Richtlinie würde dazu führen, dass der Asylkompromiss der Bundesrepublik Deutschland von 1993 ausgehebelt würde. ({11}) - Hören Sie einmal zu, Herr Grindel! - Die Anhörung hat bereits vor mehreren Wochen stattgefunden. Mittlerweile hat sich der Verhandlungsstand verändert. Es geht um das Konzept der sicheren Drittstaaten. Dies bedeutet, dass ein Asylsuchender, der aus einem sicheren Drittland kommt, in dem die Standards der Menschenrechtskonvention, der Europäischen Flüchtlingskonvention und eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens eingehalten werden, keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland oder Frankreich hat, sondern darauf verwiesen werden kann, sein Asylbegehren in dem Land vorzubringen, aus dem er kommt. ({12}) Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, es ist sozusagen die dialektische Umkehrung Ihres Anliegens eingetreten. Auf EU-Ebene wird jetzt in einer Weise diskutiert, durch die dieses rechtsstaatliche Merkmal nicht mehr gesichert ist. Denn nach der neuesten Entwicklung der Diskussion soll auch die Zurückweisung von Asylsuchenden in solche Länder möglich werden, die nicht die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben. ({13}) Man muss beinahe Ihrem Antrag zustimmen, wenn Sie verlangen, Schily möge auf EU-Ebene das deutsche Recht durchsetzen; denn dieses ist rechtsstaatlicher als das, was in der EU neuerdings diskutiert wird. ({14}) Ich würde es begrüßen, wenn Sie von der CDU/CSU sich ebenfalls so vehement dafür einsetzen würden, unsere rechtsstaatlichen Grundsätze auf EU-Ebene umzusetzen. Ich möchte zum Schluss noch eines feststellen: Die gesamte Debatte ist nur der Prolog zu den Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz. Dazu will ich nur eine Bemerkung machen, Herr Grindel. Zum wiederholten Male versuchen Sie, im Deutschen Bundestag den Eindruck zu erwecken, als wäre mit einem Zuwanderungsgesetz eine automatische Zunahme der Zuwanderung nach Deutschland verbunden. ({15}) Das lassen wir Ihnen nicht mehr durchgehen. Sie wissen ganz genau, dass mit dem Gesetzentwurf, den auch die FDP unterstützt - das kommt in unserem Kompromissvorschlag deutlich zum Ausdruck -, ein Instrumentarium geschaffen werden soll, das eine gesteuerte Zuwanderung auf den deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht, wenn es erforderlich ist, das es aber auch so beschaffen ist, dass die Zuwanderung auf null zurückgefahren werden kann. Darüber entscheiden der Bundestag und der Bundesrat. Das, was Sie vorgaukeln, entspricht also in keiner Weise der Wirklichkeit. ({16}) Ich möchte wie Frau Akgün die Gelegenheit nutzen, an Rot-Grün und die CDU/CSU zu appellieren: Lassen Sie uns in der morgigen Sitzung der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses den ernsthaften Versuch machen, für die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt ein vernünftiges Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, die humanitären Regelungen der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland beizubehalten und - das ist unser gemeinsames Ziel - für mehr Integration in Deutschland zu sorgen. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ole Schröder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Asylbewerberzahlen sind seit ihrem Rekordniveau von 438 000 - das war, bevor der Asylrechtskompromiss von 1993 gegriffen hat - auf 70 000 im Jahr 2002 zurückgegangen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind nur noch 26 000 Personen zu uns gekommen. Die Tendenz ist also weiterhin rückläufig. Wir alle spüren, dass die Ausländerfeindlichkeit in unserem Land seitdem zurückgegangen ist. Niemand denkt gerne an die damaligen Übergriffe auf Asylbewerberheime zurück. Seit zehn Jahren besteht nun der Asylrechtskompromiss. Worauf basiert denn der Erfolg der Asylrechtsneuregelung des Art. 16 a des Grundgesetzes? Das sind drei Säulen: die Drittstaatenregelung, die Flughafenregelung und das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten. Diese erfolgreichen Regelungen sind in Gefahr. Wenn die in Brüssel verhandelten Richtlinien in Kraft treten, werden diese drei Säulen eingerissen. ({0}) Die momentan in Brüssel zur Entscheidung anstehenden Richtlinien, die den deutschen Gesetzgeber künftig in seiner Asyl- und Außenpolitik binden werden, werden dazu führen, dass der Asylmissbrauch in Europa und damit auch in Deutschland zunehmen wird. Erstens: die Drittstaatenregelung. Nach heutigem Stand der Verhandlungen im Europäischen Rat ist es dem Bundesinnenminister nicht gelungen, an dem Grundsatz der sicheren Drittstaaten festzuhalten. Dieses bewährte Instrumentarium zur Grenzabweisung ohne vorherige bürokratische Einzelfallprüfung - genau darauf kommt es an; das Prinzip der normativen Vergewisserung fällt nach dem neuesten Entwurf weg - droht nun Geschichte zu werden. ({1}) Die Grenzbehörden werden künftig nicht mehr befugt sein, Asylsuchende bei der Einreise aus einem sicheren Drittstaat an der Grenze zurückzuweisen. Zweitens: die Flughafenregelung. Das Flughafenverfahren steht ebenfalls vor dem Aus. Das Erfordernis einer richterlichen Freiheitsentziehung stellt die Durchführbarkeit dieses Verfahrens im Grundsatz infrage. Drittens: die Herkunftsstaatenregelung. Wir haben Gleiches in Bezug auf die Herkunftsstaatenregelung zu befürchten. Zwar ist man hier inzwischen auf einem besseren Weg. Im Gegensatz zur Drittstaatenregelung und zum Flughafenverfahren hat der Bundesinnenminister hier tatsächlich einen kleinen Erfolg vorzuweisen. Es liegt seit der letzten Tagung des JI-Rates Anfang des Monats nun endlich ein vernünftiger Kompromissvorschlag vor. Es ist aber nicht gesichert, dass dieser vernünftige Kompromiss auch tatsächlich Bestand hat. ({2}) Wenn in den kommenden Verhandlungen nicht erreicht wird, dass alle drei Verfahren in der EU akzeptiert werden, dann werden die vorliegenden Rechtssetzungsvorschläge der EU-Kommission zu mehr Zuwanderung nach Europa und damit auch nach Deutschland führen. Aber damit nicht genug, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Asylkompromiss soll in weiteren Bereichen aufgeweicht werden. Es ist geplant, nichtstaatliche Verfolgung und selbst geschlechtsspezifische Verfolgung als Fluchtgrund anzuerkennen. ({3}) Die Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft auf solche, die geschlechtsspezifische Verfolgung anführen, lässt jegliche Diskriminierung wegen des Geschlechts zum Asylgrund werden. ({4}) Das betrifft zum Beispiel die Pflicht zur Beachtung religiöser Kleidungsvorschriften und - in Kombination mit der nichtstaatlichen Verfolgung - den in der neuesten Stellungnahme des UNHCR auch erwähnten prügelnden Ehemann. Aufgrund der Richtlinie zur Familienzusammenführung ist sogar zu befürchten, dass ein solcher prügelnder Ehemann dann nach Deutschland nachreisen kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schröder, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Schröder, ich danke Ihnen dafür, dass ich Ihre Tiraden unterbrechen darf. Wollen Sie ernstlich bezweifeln - wir beide sind Mitglieder des Innenausschusses -, dass Bundesinnenminister Otto Schily in Brüssel andere Interessen vertritt als unsere nationalen deutschen Interessen? Wollen Sie hier ernsthaft den Eindruck erwecken, als würden unsere Interessen dort nicht angemessen und mit Nachdruck vertreten? Wo ist eigentlich Ihr Problem, Herr Schröder?

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gern, dass wir diese für unser nationales Recht maßgebenden Richtlinien hier diskutieren. Ich möchte gern, dass der Bundesinnenminister hier klar Stellung nimmt, seinen Standpunkt darlegt und sagt, wie weit er bei Verhandlungen gehen würde. Ich möchte erreichen - das ist, denke ich, unser aller Ziel -, dass uns der Asylrechtskompromiss, der eine Erfolgsgeschichte ist, der Art. 16 a des Grundgesetzes, weiterhin erhalten bleibt, damit wir in unserem Land nicht die Zustände wie vor dem Asylrechtskompromiss haben. ({0}) Wie ist die Kommission eigentlich dazu gekommen, einen solchen Richtlinienvorschlag vorzulegen? Der Anteil von Nicht-EU-Ausländern ist in der EU sehr unterschiedlich. In Deutschland haben wir einen Anteil von Nicht-EU-Ausländern von 9,3 Prozent. In anderen EULändern beträgt er 4,8 Prozent. In Portugal, dem Land, das den verantwortlichen EU-Kommissar Vitorino stellt, ist der Anteil der Nicht-EU-Ausländer 0,1 Prozent. ({1}) Kann es sein, dass die Brisanz dieses Themas in Portugal etwas anders gesehen wird als in Deutschland? ({2}) Es liegt eben in der Verantwortung jedes einzelnen Landes, auch unseres Landes, seine Interessen geltend zu machen, zumal es um einen Bereich geht, in dem das Prinzip der Einstimmigkeit gilt. Die organisierte Schleuserkriminalität ist ein zentrales Problem in unserem Land. ({3}) Wie können wir die organisierte illegale Einwanderung, die das Asylrecht so missbraucht, bekämpfen? Wie können wir den Schleuserbanden das Handwerk legen? Organisierte illegale Einwanderung lässt sich dauerhaft nur bekämpfen, indem wir ihre Attraktivität und damit die Nachfrage nach Schlepperleistungen drastisch reduzieren. Eine nachhaltige Verminderung der Attraktivität der illegalen Einwanderung nach Europa lässt sich nur dann erreichen, wenn es nach einer illegalen Einreise alsbaldig zu einer Aufenthaltsbeendigung kommt. Die auf europäischer Ebene zur Entscheidung anstehenden Regelungen haben genau das Gegenteil zur Folge. ({4}) Über diese Problematik müssen wir im Deutschen Bundestag reden. Deshalb haben wir bewusst diesen Antrag gestellt. Wir wollen diese Politik transparent machen. Die Bevölkerung darf verlangen, dass die Bundesregierung ihre Verantwortung in diesem Bereich wahrnimmt. Wie unzureichend dies geschieht, ist vorgestern ja im Innenausschuss wieder einmal deutlich geworden. Im Vorbericht zum Rat für Justiz und Inneres am 6. November 2003 stehen gerade einmal sechs nichtssagende Zeilen zu dieser entscheidenden Verfahrensrichtlinie. ({5}) Will die Regierung damit sagen, dass sie nicht weiß, was auf der Tagesordnung steht? - Machen wir uns bewusst: Es geht hier um die Außerkraftsetzung eines Teils unserer Verfassung, nämlich um die Abschaffung des Asylrechtskompromisses. Art. 16 a des Grundgesetzes legt das Konzept des deutschen Asylrechts fest; hier sind die genannten drei Säulen festgelegt. Daher verhält sich die Bundesregierung verfassungswidrig, wenn sie diese Instrumente in ihrem Bestand gefährdet. ({6}) Die Bundesregierung versteckt sich immer hinter der Behauptung, sie wolle ihre Verhandlungsstrategie nicht frühzeitig preisgeben. ({7}) Tatsächlich hat sie nicht den Mut, der Öffentlichkeit zu erklären, dass sie sich einem erweiterten Zuzug Asylsuchender in die EU nicht ausreichend widersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir fordern hier im Deutschen Bundestag den Bundesinnenminister daher auf, in Europa seine Stimme geltend zu machen. ({0}) Der erfolgreiche Asylrechtskompromiss von 1993 darf nicht aufgeweicht werden. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ute Vogt.

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nicht so unverschämt wäre, was Sie uns geboten haben und bieten, ({0}) dann - das muss ich Ihnen sagen - wäre es fast schon rührend, wie Sie sich bemühen, den Bundesinnenminister als jemanden darzustellen, der nicht gut und optimal verhandelt. Es glaubt Ihnen doch kein Mensch in Deutschland und übrigens auch nicht in Europa, dass ausgerechnet der deutsche Bundesinnenminister es nicht schaffen würde, die wichtigen politischen Vorhaben, die er sich vorgenommen hat, auch umzusetzen. ({1}) Wenn Sie hier Scheinwelten aufbauen und Szenarien entwerfen, die von einer Realitätsferne sind, wie man sie kaum beschreiben kann, dann muss ich Ihnen entgegenhalten: Sie erzeugen hier Panik vor Richtlinien, wohl wissend, dass sie keine einzige relevante Richtlinie benennen können, die unverändert beschlossen worden wäre, im Gegenteil: Über eine Reihe von Richtlinien, die alle relevant sind, ist oft über Jahre verhandelt worden, gerade weil Deutschland hart geblieben ist, seine Linie konsequent verfolgt hat und einen maximalen Erfolg erzielen konnte. Sie erzeugen den Eindruck, als sei der Ursprungsentwurf einer Richtlinie deckungsgleich mit dem, was dann hinterher verabschiedet wurde. Das zeigt, dass Sie ganz schön weit weg von jeglicher Art von Regierungsfähigkeit sind. ({2}) Sie fordern Berichte. Sie fordern in Ihrem Antrag, wir sollen vor und nach den einschlägigen Treffen berichten. Das tun wir gern und regelmäßig. Aber dann würde ich Sie, Herr Schröder, bitten, diesen Berichten, wenn sie im Innenausschuss des Bundestages erstattet werden, auch Gehör zu schenken. ({3}) Wenn Sie in der letzten Innenausschusssitzung, der vorletzten und in den vielen Sitzungen zuvor zugehört hätten, dann wäre Ihnen bewusst, dass das, was Sie heute über unsere Position zur Drittstaatenregelung erzählt haben, großer Unsinn ist. Vielmehr ist es gerade der deutsche Innenminister gewesen, der gesagt hat: Wir müssen weiter verhandeln, gerade weil wir eine Regelung wollen - Herr Grindel hat das erfreulicherweise im Ausschuss immerhin begrüßt -, die dem entspricht, was wir in Deutschland haben. Deshalb kann das auch noch eine Weile dauern. Wir können Ihnen die Verhandlungsergebnisse nicht schon vor dem Ende der Verhandlung vorlegen. Statt nun Berichte zu fordern, setzen Sie sich bitte mit den Ihnen vorliegenden Berichten auseinander! Behaupten Sie nichts Gegenteiliges; denn Sie müssten es eigentlich besser wissen! ({4}) Sie haben ein neues Verfahren gefordert. Ich sage Ihnen: Das brauchen wir nicht. Schauen Sie ins Grundgesetz! Art. 23 legt in Bezug auf die Information des Bundestages durch die Bundesregierung ganz eindeutig fest, dass wir den Bundestag in Angelegenheiten der EU nach einem festgelegten Verfahren regelmäßig unterrichten. Dieses Verfahren hat damals übrigens eine unionsgeführte Regierung ins Leben gerufen und offensichtlich für ausreichend gehalten. Sie kennen die Berichtsbögen dazu. Die Handhabung entspricht dem, was im Grundgesetz steht. Dort steht aber auch: Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen bei den Verhandlungen. Dort steht nicht, dass ausgerechnet das rechtlich bindend ist, was sich die Opposition wünscht. ({5}) Das zeigt wieder, dass Sie offenbar kein Gespür dafür haben, was man tun muss, wenn man regiert. Wer Verhandlungsspielraum braucht, der legt sich doch selbst Handfesseln an, wenn er mit der strikten Vorgabe in eine Verhandlung geht, einen Beschluss eins zu eins umzusetzen. Wenn ich höre, was Sie in Bezug auf Verhandlungen und auf Regierungsfähigkeit sagen, dann frage ich mich: In welcher Welt leben Sie eigentlich? Es tut Ihnen sehr weh, dass der Bundesinnenminister Otto Schily viel mehr Erfolge als zum Beispiel seine Vorgänger aus der Zeit, als Sie regierten, vorweisen kann. ({6}) - Herr Kollege Koschyk, ich glaube, es wäre gut, wenn Sie sich ab und zu an die Realität erinnerten. Wir scheuen den Vergleich mit dem, was Sie in der Innenpolitik geboten haben, jedenfalls nicht. Wir wissen, was Sie in diesem Bereich schmerzt. ({7}) Sie wünschen, dass wir Ihnen noch umfassender, noch detaillierter, noch häufiger berichten. Ich frage Sie wirklich: Was ist Ihrer Meinung nach eigentlich sinnvolles Regierungshandeln? ({8}) Sollen wir für Sie über jedes Verhandlungsdatum, über jede Vorschrift, über jede abweichende Meinung und über jedes Telefonat, das innerhalb einer Verhandlung geführt wird, einen Bericht erstellen? Haben Sie so viel Zeit? Es ist schön für Sie, wenn Sie zu wenig zu tun haben. Die Bundesregierung zieht es jedenfalls vor, die personellen Kapazitäten dort einzusetzen, wo es unserem Land etwas bringt: bei Verhandlungsführungen in Brüssel. Das ist unser Schwerpunkt und das liegt im Interesse unseres Landes. ({9}) Ich bitte Sie - vor allen Dingen diejenigen, deren Berufsbezeichnung Jurist oder Anwalt ist oder die in diesem Bereich tätig sind -, in Bezug auf die in Ihrem Antrag enthaltene Idee, ein Mandatsgesetz auf den Weg zu bringen, wirklich auf Ihre juristischen Kenntnisse zurückzugreifen. Schauen Sie, ob sich ein Gesetz, das den Verlauf von Verhandlungen festlegt, mit der Verfassung vereinbaren lässt! Sie haben das schlüssige Gesamtkonzept noch nicht verstanden. Daher möchte ich es ein weiteres Mal erläutern und ein paar Grundlinien nennen. Die Grundlinien spiegeln sich selbstverständlich auch in dem wider, was wir auf nationaler Ebene, auch im Zuwanderungsgesetz, beschlossen haben. Ich darf Sie von der Opposition als gute Demokraten daran erinnern, dass das Zuwanderungsgesetz vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Es ist falsch, immer wieder zu behaupten, das Zuwanderungsgesetz habe keinerlei Grundlage und Rechtfertigung. ({10}) Uns liegt ein Beschluss vor, der den Willen der Mehrheit im Deutschen Bundestag eindeutig festlegt. ({11}) Nun bringe ich Ihnen noch ein paar Einzelbeispiele aus dem Gesamtkonzept. Zunächst möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass wir sehr wohl eine klare Differenzierung zwischen Asyl- und Flüchtlingspolitik vornehmen und auch im Zuwanderungsgesetz vorgenommen haben. Auf der einen Seite wollen wir, dass es möglichst umfassenden Schutz, wie es Art. 16 des Grundgesetzes gebietet, für diejenigen gibt, die tatsächlich schutzberechtigt sind. Auf der anderen Seite muss es eine ausreichende Differenzierung zu denjenigen geben, die nicht schutzbedürftig oder -würdig sind. Hier brauchen auch die nationalen Staaten insgesamt Handlungsspielraum. Jetzt komme ich zu dem, was schon mehrfach einige Rednerinnen und Redner gesagt haben: Bekehren Sie die Widerspenstigen in Ihren eigenen Reihen und stimmen Sie dem Zuwanderungsgesetz zu! ({12}) Dort ist nämlich ausdrücklich eine Differenzierung vorgesehen. ({13}) Wenn Sie die Einwanderungspolitik insgesamt betrachten würden, dann wüssten Sie genau, dass wir mithilfe eines Zuwanderungsgesetzes die Möglichkeit hätten, den Zuzug zu begrenzen und zu steuern und ihn darauf abzustellen, was im Interesse von Deutschland liegt. Wir haben bei unseren Verhandlungen - daran möchte ich Sie auch noch einmal erinnern - einige große Erfolge verbucht. So wurde zum Beispiel im Juni dieses Jahres Einvernehmen über den Richtlinienvorschlag zum Daueraufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen erzielt. Ich will drei Regelungen herausgreifen, bei denen wir uns durchgesetzt haben: So kann der Erwerb eines Daueraufenthaltstitels davon abhängig gemacht werden, dass Integrationsbereitschaft besteht und auch das Erfüllen dieser Bedingungen nachgewiesen wird. ({14}) - Das steht übrigens auch im Zuwanderungsgesetz drin. ({15}) Das könnten und sollten Sie ohne Probleme unterstützen. ({16}) Auf deutsche Initiative hin wurde in dieser Richtlinie festgelegt, dass daueraufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige auch hinsichtlich der Sozialleistungen nicht mit Inländern gleichgestellt werden. Auch hier sind wir der Forderung nach Differenzierung nachgekommen. Schließlich orientiert sich der Ausweisungsschutz - keine unwesentliche Forderung - nicht am erhöhten Ausweisungsschutz, der für EU-Bürger gilt. Diese Punkte, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden von Ihnen bewusst nicht genannt, weil Sie sonst keine Chance hätten, fundierte Kritik anzubringen. Wenn Sie sich nämlich den Realitäten stellen würden, müssten Sie das, was in Verhandlungen erreicht worden ist, benennen und als Tatsachen anerkennen. In den Kernpunkten der Richtlinie - das habe ich Ihnen an wenigen Beispielen deutlich gemacht - haben wir jedenfalls unsere Forderungen durchgesetzt. Nachdem wir über die Richtlinie zur Familienzusammenführung, über die wir ja schon häufiger inhaltlich gestritten haben, drei Jahre verhandelt haben, durften wir jetzt erleben, dass sie im Oktober 2003 in Kraft getreten ist. Auch hier haben wir die Chance ergriffen und dafür gesorgt, dass darin das, was wir für Deutschland für richtig halten, festgelegt wurde. Wir können mit den Ergebnissen zufrieden sein. Wenn man mit Ihnen außerhalb des Plenums spricht, machen Sie ja auch deutlich, dass Sie keine Einwände bezüglich der Verhandlungsziele des Bundesinnenministers haben ({17}) und der Auffassung sind, dass er die Interessen unseres Landes in Brüssel sehr gut vertritt. ({18}) Kein Geschrei und kein noch so lautes Getöse von Ihrer Seite und auch nicht die von Ihnen an die Wand gemalten Horrorszenarien können widerlegen, ({19}) dass die innenpolitischen Interessen Deutschlands in der Europäischen Union optimal vertreten werden und wir in den Verhandlungen Ergebnisse erreicht haben, die Sie nicht einmal für durchsetzbar gehalten haben. ({20}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, scheint mir der eigentliche Hintergrund für Ihre Kritik zu sein. Ein wenig perfide finde ich dieses Vorgehen schon. Ich glaube, es gibt genug Themen, über die wir trefflich streiten könnten. Die Art, wie Sie hier Fakten entstellen, und Ihre Versuche, Dinge, die nur scheinbar da sind, als Tatsachen darzustellen, um sie dann widerlegen zu können, mögen vielleicht nette rhetorische Tricks sein, ({21}) haben jedenfalls mit der Realität in Deutschland und den Anforderungen an deutsche Innenpolitik nichts zu tun. Ich würde mir wünschen, dass Sie jenseits solcher Schauanträge zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zurückfinden. Wir sollten nicht auf das Niveau abrutschen, lieber Herr Kollege, das Sie in Ihren Reihen anscheinend pflegen. In der Sozialdemokratie ist es nicht üblich, dass die Abgeordneten Frauen diffamieren. Das sollte überall der Vergangenheit angehören. ({22}) - Dann seien Sie ein bisschen leiser! Dann stört es niemanden. - Mir wäre es Recht, wenn wir uns in Zukunft über die Sache unterhalten könnten, wenn Sie die Punkte, in denen wir einer Meinung sind, ehrlicherweise nennen würden und wenn Sie nicht versuchen würden, Diskussionen zu beginnen, die jeglicher Grundlage entbehren. Die Innenpolitik hat früher auch aufgrund der guten Zusammenarbeit mit der Opposition einen guten Ruf gehabt. Man war sich über die Grundlagen einig. ({23}) Heute ist eine realitätsnahe Innenpolitik leider allein Sache der Regierung. Aber etwas mehr konstruktive Opposition wäre wirklich hilfreich. Wir sollten ein bisschen mehr auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Ich hoffe, Herr Koschyk, dass Sie dazu die Kurve kriegen. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag, der mehr Transparenz in der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik und auch mehr Mitwirkungsrechte des Parlaments zum Inhalt hat, hat im Innenausschuss leider keine Mehrheit gefunden. Ich muss feststellen, meine werten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dass Sie nach sechs Jahren mehr oder weniger schlecht wahrgenommener Regierungsverantwortung nicht über mehr Mitwirkungsrechte des Parlamentes reden wollen. Ich denke beispielsweise an den Entwurf zur europäischen Verfassung. Wir müssen darauf achten - das haben wir in unserem Antrag angedeutet -, ({0}) dass ein Parlament wie der Deutsche Bundestag auch nach der Verabschiedung eines europäischen Verfassungsentwurfs noch hinreichend Mitwirkungsrechte hat. Dass dieses Thema für Sie als Parlamentarier überhaupt nicht mehr interessant ist und dass Sie sich in diesem Punkt nicht mehr herausgefordert fühlen, ist zu bedauern. Es zeigt aber auch, dass Macht manchmal korrumpiert. ({1}) Ich möchte noch etwas anderes sagen. Es ist auch deutlich geworden, dass die Inhalte, um die wir heute streiten, ganz eng mit der Debatte um ein Zuwanderungsgesetz zusammenhängen. Lieber Herr Stadler, ich darf sehr deutlich sagen: CDU/CSU und FDP sind in vielen Punkten beieinander, aber in dieser Frage sind wir auseinander. ({2}) Ich glaube, es schadet überhaupt nicht, wenn die deutsche Öffentlichkeit durch eine solche Debatte erfährt, dass die einzige politische Kraft, der es wirklich um Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland geht, die Union ist. ({3}) Die Union ist, was diese Frage angeht, vielleicht im Parlament in der Minderheit. Aber ich glaube schon, dass wir mit unserer Position zur Zuwanderung nach Deutschland und zu ihrer Begrenzung und Steuerung die große Mehrheit unserer Bevölkerung repräsentieren. ({4}) Liebe Frau Staatssekretärin, ich will konzedieren, dass die Verhandlungen über die Richtlinien als ein Prozess zu begreifen sind und dass am Schluss nicht der ursprüngliche Richtlinienentwurf verabschiedet wird. Aber in der Anhörung des Innenausschusses im Juni - die Union hatte darauf gedrängt - wurde deutlich, dass viele Bedenken, die wir gegenüber den sich noch in den Verhandlungen befindlichen Richtlinien haben, von Fachleuten geteilt wurden. ({5}) Ein anerkannter Rechtslehrer, nämlich Herr Professor Huber von der Ludwig-Maximilian-Universität in München, hat bei dieser Anhörung gesagt, dass es auch eine verfassungsrechtliche Frage ist, ob ein deutscher Innenminister in Brüssel Richtlinienentwürfen zustimmen kann, die das deutsche Asylrecht bezüglich der mühsam zustande gekommenen Reform von 1993 aushebeln. Diese Bedenken sollten Sie nicht einfach beiseite schieben. ({6}) Ich will einmal darstellen, wie von Ihnen hier über die Bande gespielt wird. Der Kollege Grindel hat Sie, liebe Frau Beck, vorhin für die Überschrift des „Handelsblatt“-Artikels gelobt, auch wenn Sie für diese gar nicht verantwortlich sind. In diesem Artikel und in anderen Hintergrundberichten - es ist kein Zufall, dass sich das in der Presse gerade vor unseren morgigen Verhandlungen breit macht - ist von einem „Drohmittel“ die Rede: Sollte sich die Union diesen Wünschen von RotGrün - in der nationalen Zuwanderungsdebatte verweigern, kann Berlin in Brüssel sein Veto bei der neuen EU-Flüchtlingsrichtlinie zurückziehen und damit einem wesentlich liberaleren Flüchtlingsrecht die Vorfahrt einräumen. ({7}) Weiter heißt es: Nach Angaben der Grünen ist diese Position der Integrationsbeauftragten sowohl mit den entsprechenden Arbeitsgremien und vor allem mit dem Unterhändler im Ausschuss, Volker Beck, abgesprochen. ({8}) Das werden wir nicht mitmachen: dass Sie das, was Sie aufgrund unserer Bundesratsmehrheit vielleicht nicht Gesetz werden lassen können, über die Bande spielen, indem Sie es über Brüssel zu erreichen versuchen. ({9}) Deswegen ist es so wichtig, dass wir diese Debatte hier führen. Sie zeigt übrigens auch einen Zusammenhang, den ich für entscheidend halte, nämlich dass wir, nachdem der EU-Verfassungsvertragsentwurf aufgeschnürt wird, nun erneut über die die Asyl- und Einwanderungsfragen betreffenden Regelungen, die in diesem Vertrag festgelegt werden sollen, sprechen können. ({10}) Wir meinen, dass asyl- und flüchtlingspolitische Vorgaben im Verfassungsvertrag auf Mindestnormen beschränkt bleiben sollten. Auch das Recht, den Zugang von Asylbewerbern und Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt zu regeln, muss den Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben. Hinsichtlich der Asyl- und Flüchtlingspolitik muss es beim geltenden Einstimmigkeitserfordernis bleiben. Dieses Einstimmigkeitserfordernis muss auch in Zukunft für alle anderen einwanderungspolitischen EU-Regelungen gelten. Ich will durchaus würdigen, dass der Bundeskanzler in Thessaloniki in letzter Minute angekündigt hat: Hier wird es den Wunsch Deutschlands geben, dass es beim Einstimmigkeitserfordernis bleibt. - Nur, so wie das im gegenwärtigen Verfassungsvertragsentwurf angelegt ist, ist uns das Schwert ein wenig zu stumpf, um es einmal so zu formulieren. Deutschland und Frankreich haben anfangs die Auffassung vertreten, den Verfassungsvertragsentwurf nicht aufzuschnüren. Wenn er aber jetzt aufgeschnürt wird, muss man erneut darüber reden, dass klar geregelt wird, dass es auch in Zukunft sowohl im Bereich Asyl- und Flüchtlingspolitik als auch im Bereich Einwanderungspolitik, vor allem bezüglich des Zugangs zum Arbeitsmarkt, beim Einstimmigkeitserfordernis bleibt. ({11}) Rufen wir uns einmal in Erinnerung, wie die Gemengelage im Vorfeld des vor zehn Jahren gefundenen Asylkompromisses war: Die Union wollte die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Regelungen in Gänze umsetzen; wir wären sogar noch weiter gegangen. Teile der SPD wollten zustimmen, andere Teile nicht. Ich höre noch heute, wie Renate Schmidt - die jetzige Bundesfamilienministerin - damals gesagt hat, das sei alles Unsinn, das sei nur hektischer gesetzgeberischer Aktionismus; nach der Asylrechtsreform werde nicht ein einziger Asylbewerber weniger nach Deutschland kommen. Die Zahlen sind vorhin genannt worden: Es ist ein Rückgang von über 400 000 auf 70 000 zu verzeichnen. ({12}) Jetzt befinden wir uns in derselben Situation: Die Union fordert, dass es bei einer zuzugsbegrenzenden und zuzugssteuernden Politik sowohl in unserem Land als auch in Europa bleibt. Teile der SPD sind - das ist meine feste Überzeugung - in diesem Punkt, ebenso wie bei der Asylrechtsreform 1993, an unserer Seite. ({13}) Ich glaube, dass auch der Bundesinnenminister in seinem Innern ({14}) mit dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz, wie es verabschiedet worden ist, nicht leben kann und leben will und jetzt auf uns setzt. Ich bin sicher: Wenn die SPD von der elektronischen Fußfessel der Grünen befreit ist, ({15}) dann könnte es in der Tat sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene eine Zuwanderungspolitik geben, die deutschen Interessen dient. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede der Kollegin Petra Pau nehmen wir zu Pro- tokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des In- nenausschusses auf Drucksache 15/1776 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik transparent machen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/655 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- genstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reden zu den folgenden Tagesordnungspunkten werden zu Protokoll genommen. Ich bitte Sie aber, mir bei den Verfahrens- und Sachentscheidungen zu helfen, damit wir das or- dentlich abwickeln können. Das dauert nicht mehr lange. 1) Anlage 4 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Entschädigungsgesetzes und anderer Vorschriften ({0}) - Drucksache 15/1180 ({1}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 15/1808 - Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Hilsberg Manfred Kolbe b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/1809 - Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Walter Schöler Antje Hermenau Otto Fricke Die Reden der Kollegen Stephan Hilsberg, SPD, Manfred Kolbe und Dr. Peter Jahr, CDU/CSU, Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen, Rainer Funke, FDP, und - für die Bundesregierung - der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks werden zu Proto- koll gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung und Ergänzung des Entschädigungsgesetzes und anderer Vorschriften, Drucksache 15/1180. Der Finanz- ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1808, den Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Lesung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- nommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- rung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen und zur Ände- rung anderer Vorschriften - Drucksache 15/1783 - 1) Anlage 5 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegen Karl Hermann Haack ({5}), SPD, Hubert Hüppe, CDU/CSU, Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, und Daniel Bahr ({6}), FDP.2) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- fes auf Drucksache 15/1783 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 a und 17 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Neustrukturierung der Außenwirtschaftsförderung als Beitrag zur Schaffung von Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 15/746 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({7}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Doha-Verhandlungen nach dem Scheitern von Cancun konstruktiv und zügig voranbringen - Drucksache 15/1567 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Auch hier nehmen wir die Beiträge zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kollegin Dr. Sigrid 2) Anlage 6 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Skarpelis-Sperk von der SPD, des Kollegen Erich Fritz von der CDU/CSU sowie der Kolleginnen Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen und Gudrun Kopp von der FDP.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/746 und 15/1567 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 15/746 soll zusätzlich an den Umweltausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Dirk Niebel, Daniel Bahr ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform der Arbeitsstättenverordnung muss zu einem echten Bürokratieabbau für Unter- nehmen in Deutschland führen - Drucksache 15/1699 - 1) Anlage 7 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({10}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Wir nehmen die Reden der Kollegen Wolfgang Grotthaus, SPD, Alexander Dobrindt, CDU/CSU, Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, und Birgit Homburger, FDP, zu Protokoll.2) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 15/1699 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. November 2003, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.