Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/23/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Kollege Eckhart Lewering feiert heute seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses sehr herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Äußerungen des Bundesumweltministeriums, die Vernichtung von Arbeitsplätzen durch das Dosenzwangspfand sei politisch gewollt ({1}) ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im Hochschulbereich - der Bologna-Prozess als Chance für den Wissenschaftsstandort Deutschland - Drucksache 15/1787 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({3}), Dr. Peter Paziorek, Bernhard SchulteDrüggelte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Multitalent nachwachsender Rohstoff effizient fördern - Drucksache 15/1788 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Heinen, Julia Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Verbraucher aufklären und schützen - Innovation und Vielfalt in der Produktentwicklung und Werbung für Lebensmittel erhalten - Drucksache 15/1789 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sorgerecht für nichteheliche Kinder vor In-Kraft-Treten der Kindschaftsrechtsreform regeln - Drucksachen 15/757, 15/1807 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Ute Granold Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Dirk Niebel, Daniel Bahr ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Reform der Arbeitsstättenverordnung muss zu einem echten Bürokratieabbau für Unternehmen in Deutschland führen - Drucksache 15/1699 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Des Weiteren ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b - Mautvertrag und Güterkraftverkehrsgewerbe -, 18 - Normenflut begrenzen - und 20 b - Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - abzusetzen. Der Tagesordnungspunkt 15 - Änderung des Hochschulrahmengesetzes - soll bereits heute als letzter Tagesordnungspunkt aufgerufen werden. Sodann möchte ich Sie darüber informieren, dass die erste Beratung der Rentengesetze morgen gegen 11 Uhr aufgerufen wird. Redetext Präsident Wolfgang Thierse Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam: Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten - Drucksache 15/1653 überwiesen: Finanzausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss Der in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Zustimmung zur Änderung der Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank - Drucksache 15/1654 überwiesen: Finanzausschuss ({10}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung - 14./15. Legislaturperiode - Drucksache 15/1303 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen verbessern - Drucksache 15/1329 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({12}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rahmenbedingungen, Infrastruktur und Marketing für Wassertourismus in Deutschland verbessern - Drucksache 15/1595 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({13}) Sportausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Schaffung einer familienfreundlichen, verkehrsentlastenden und wirtschaftsfördernden Ferienregelung - Drucksachen 15/934, 15/1286 Berichterstattung: Abgeordnete Bettina Hagedorn Zum tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.

Wolfgang Clement (Minister:in)

Politiker ID: 11005291

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe das Vergnügen, Ihnen den tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung zu erläutern und damit auch zu den Anträgen, die zur Tourismuspolitik in Deutschland gestellt worden sind, Stellung zu nehmen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass der Tourismus einer der wichtigsten Motoren unserer Dienstleistungswirtschaft und damit ein handfester Wirtschaftsfaktor ist. Ich denke, wir stimmen auch in der Zielsetzung überein, den Tourismus in Deutschland und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Tourismuswirtschaft zu stärken. Gerade in der jetzigen wirtschaftlichen Phase ist dies von außerordentlicher Bedeutung. Die Reisetätigkeit - ob Urlaubsreisen oder Reisen zu geschäftlichen Zwecken - steuert etwa 8 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt in Deutschland bei. Diese Zahl führen sich wenige vor Augen. Vom Tourismus insgeBundesminister Wolfgang Clement samt hängen direkt und indirekt etwa 2,8 Millionen Arbeitsplätze ab. Allein in der Hotellerie und in der Gastronomie in Deutschland werden etwa 1 Million Menschen beschäftigt. Die Tourismuswirtschaft hat sich zu einem außerordentlich wichtigen Ausbildungssektor entwickelt. Etwa 100 000 junge Leute werden in diesem Bereich ausgebildet. Wenn man den Tourismus von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, dann stellt man fest, dass Deutschland neben den USA interessanterweise die wichtigste touristische Quellregion der Welt ist. Das hört sich etwas vornehm an. Es bedeutet, dass viele Deutsche außerhalb der Bundesrepublik Deutschland Urlaub machen. Als jemand, der aus dem Ruhrgebiet kommt und die Sehnsucht des Reviermenschen nach Mallorca und nach anderen Regionen kennt, weiß ich, was das bedeutet: Ziemlich viel Kraft und Geld werden ins Ausland getragen. Unser Land ist aber gleichzeitig ein bedeutendes Ziel für den Tourismus, und zwar in zunehmenden Maße sowohl für uns Deutsche selbst - das werde ich noch zeigen - als auch für Gäste aus dem Ausland. Die Bundesbürger bewegen bei Reisen in Deutschland jährlich etwa 100 Milliarden Euro. Wichtig ist, dass Deutschland als Messestandort weltweit an Platz eins steht, was die nach Deutschland kommenden ausländischen Gäste anbelangt. Hier nehmen wir eine absolut führende Position im weltweiten Vergleich ein. ({0}) Die unternehmerischen Strukturen in der Tourismusbranche sind sehr vielgestaltig. Wir haben einerseits die Big Players des Tourismus wie TUI - wahrscheinlich weltweit das größte Tourismusunternehmen -, Thomas Cook und REWE-Touristik. Wir haben mit der Lufthansa und der Deutschen Bahn auch Unternehmen, die ganz überwiegend im Tourismussektor tätig sind. Andererseits haben wir auch sehr ausgeprägte kleine und mittelständische Strukturen in Form von Hotels und Gaststätten, Reiseveranstaltern und Reisebüros, Busunternehmen und Reedereien. Sie alle sind für die Tourismuswirtschaft von außerordentlicher Bedeutung. Das heißt zugleich, dass die Tourismuswirtschaft wie andere mittelständisch strukturierte Bereiche unserer Wirtschaft von den mittelstandspolitischen Initiativen der Bundesregierung profitiert, etwa von unseren Bemühungen zur Unterstützung von Existenzgründung oder um Bürokratieabbau. Sie sind für den kleinstrukturierten Reisebürosektor ebenso wichtig wie für Hotels und Restaurants. Nehmen Sie als ein ganz kleines Beispiel den Abbau von statistischen Verpflichtungen der Unternehmen. Über die allgemeine Wirtschaftspolitik hinaus unternehmen wir einige Anstrengungen, um den Deutschlandtourismus gezielt voranzubringen. Reisen in und nach Deutschland kommen nämlich nicht nur der Tourismuswirtschaft unmittelbar zugute, sondern auch anderen Branchen, etwa dem Einzelhandel, der Konsumgüterindustrie, dem Fahrzeugbau oder anderen. Letztlich birgt das Kommen von Gästen aus dem Ausland immer auch die Chance der Imagewerbung für den Standort Deutschland, das heißt für die Landschaft, die Produkte, die Dienstleistungen, also insgesamt für unser Land. Was tun wir nun konkret? Die tragende Säule der Tourismuspolitik des Bundes ist die Deutsche Zentrale für Tourismus mit Sitz in Frankfurt am Main. Diese DZT wirbt im Auftrag der Bundesregierung im Ausland für Deutschland als Reise- und Urlaubsziel. Die Bundesregierung hat die Arbeit der DZT, die aus dem Haushalt des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums finanziert wird, bewusst ausgebaut. Wir haben in diesem Jahr die Zuwendungen an die DZT erneut erhöht, auf jetzt 23,5 Millionen Euro. ({1}) Ich denke, dass der Erfolg uns Recht gibt: Die DZT arbeitet vorzüglich und hat sich in den letzten Jahren - das ist, wie ich erfahren habe, allgemein anerkannt mit professioneller Arbeit hohe Anerkennung bei uns in der Politik ebenso wie in der Wirtschaft erworben. Auch die Zahlen, die sie mit beeinflusst, sprechen eine deutliche Sprache: Die Anzahl der Übernachtungen ausländischer Gäste hat in den sieben Jahren von 1996 bis 2002 um 17,4 Prozent, bis zum Jahr 2000 - da kam der Rückschlag durch terroristische Anschläge und anderes - sogar um ein Viertel zugenommen. Deutschland ist als Reiseziel im Aufwind. Wir unterstützen über die Deutschlandwerbung hinaus die mittelständische Tourismuswirtschaft, um sie noch leistungsfähiger und besser zu machen. Wir tun das mit recht bescheidenen Haushaltsmitteln. Ich meine, dass wir damit recht fruchtbare Anstöße geben können. Ich nenne als Beispiele den so genannten barrierefreien Tourismus. Dabei geht es um Reisen von Menschen mit Behinderungen, denen wir besondere Aufmerksamkeit schenken. Das wirkt sich sehr positiv auf die touristischen Möglichkeiten von behinderten Menschen aus. Wir haben ebenso im Themenbereich naturnaher Tourismus Akzente gesetzt und damit den Deutschlandtourismus gestärkt. Immerhin verbrachten 58 Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr ihren Urlaub in Deutschland. Dieser Tourismus wurde natürlich besonders auch durch die Temperaturen begünstigt. Wir machen mit der Tourismuspolitik natürlich nicht an unseren Grenzen Halt. Eine wichtige Aufgabe sehen wir darin, neue Quellmärkte zu erschließen, also Gäste aus dem Ausland für Reisen nach Deutschland zu gewinnen. Ein besonders hervorhebenswertes Ereignis ist gewiss der Abschluss eines Memorandum of Understanding mit der Volksrepublik China Mitte letzten Jahres. Es ermöglicht jetzt zum ersten Mal chinesischen Bürgerinnen und Bürgern, private Gruppenreisen nach Deutschland zu unternehmen. Wir sind ein ganz klein wenig stolz darauf, als erstes Mitgliedsland der Europäischen Union einen solchen Status im Reiseverkehr mit China erreicht zu haben. ({2}) Es ist völlig klar, dass China ein besonders interessanter Quellmarkt, wie es so wunderschön heißt, ist und angesichts des in der nächsten Zeit wachsenden Potenzials eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Wir bemühen uns in ähnlicher Weise um die immer interessanter werdenden Märkte in Mittel- und Osteuropa; auch diese Märkte sind nicht zu unterschätzen. Die Länder in dieser Region sind sowohl als Zielländer für den Tourismus aus Deutschland als auch als Quellländer, deren Bürger in zunehmender Zahl unser Land besuchen, interessant. Die Zahlen, was gerade den Tourismus aus den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas angeht, sind sehr ermutigend. Aber ebenso wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass die Lage nicht immer nur rosig ist. Terroranschläge, der Irakkrieg und die Lungenkrankheit SARS hatten die Tourismuswirtschaft schwer getroffen. Wir haben mit unseren Mitteln und Möglichkeiten versucht, vor allen Dingen die Sicherheit im Flugreiseverkehr zu erhöhen. Nachdem wir einige dieser Herausforderungen gemeistert haben, scheint es so zu sein, dass die Reiseveranstalter und die Fluggesellschaften die Talsohle durchschritten haben. Beim Gipfeltreffen der Tourismuswirtschaft vor wenigen Wochen in Berlin hat sich gezeigt - das haben diejenigen Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament, die sich für die Tourismuswirtschaft besonders interessierenm miterlebt -, dass die Zuversicht in die weitere Entwicklung zurückgekehrt ist. Ich möchte auch noch gerne darauf hinweisen, dass wir uns in Deutschland angewöhnen sollten, bestimmte Ereignisse als imagefördernde Werbung für unser Land und damit auch für tourismuspolitische Belange stärker zu nutzen, als es bisher der Fall war. Ich denke beispielsweise an ein Ereignis wie die Fußballweltmeisterschaft 2006. Die Bedeutung dieses Ereignisses ist uns vielleicht nicht ausreichend bewusst. In anderen Staaten wird der Stellenwert eines solches Ereignisses mehr zur Kenntnis genommen. Wahrscheinlich ist die Fußballweltmeisterschaft 2006 - unsere Nationalmannschaft wird ja daran teilnehmen; wir hoffen, dass sie bis dahin noch einige Fortschritte erzielt - das wichtigste Ereignis für die Bundesrepublik Deutschland innerhalb dieses Jahrzehnts, was das Ansehen Deutschlands und das Interesse für Deutschland angeht. Es wird innerhalb dieses Jahrzehnts vermutlich kein Ereignis geben, das weltweit eine solche Aufmerksamkeit auf Deutschland ziehen wird wie die Fußballweltmeisterschaft 2006. Angesichts eines solchen Ereignisses empfiehlt es sich, alle Register zu ziehen und zu zeigen, was wir in Deutschland leisten können. Wir sollten also alles tun, um diese Fußballweltmeisterschaft, deren Austragungsorte in allen Regionen Deutschlands liegen, zu einer groß angelegten Werbeveranstaltung für Deutschland zu machen. ({3}) - Herr Kollege Benneter, Ihr Hinweis ehrt Sie ganz besonders; ich vermute, dass Sie deshalb diesen Zwischenruf gemacht haben. Ich gratuliere der Frauennationalmannschaft. Ich sprach aber von der Fußballweltmeisterschaft der Männer, was man mir verzeihen möge. ({4}) Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland kann ein großartiges touristisches Ereignis für unser Land werden. Das Beherbergungsgewerbe rechnet mit zusätzlich 5 Millionen Übernachtungen. Ich denke, dass wir dieses Ereignis nutzen sollten, um noch mehr für Deutschland zu werben. Die Deutsche Zentrale für Tourismus bemüht sich schon darum. Ich möchte noch drei Anmerkungen zu Anträgen der Oppositionsfraktionen zum Tourismus machen. Zum einen fordern Sie eine Stärkung der Förderung von Geschäftsreisen in die Bundesrepublik. Die DZT, die schon erwähnte Deutsche Zentrale für Tourismus, ist dabei, in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kongressbüro, dem alle renommierten deutschen Tagungs- und Kongressstandorte Deutschlands angehören, das Thema „Tagungen, Kongresse und Geschäftsreisen“ sehr intensiv zu bearbeiten. Die DZT hat die Werbung im Ausland für 2003 ausdrücklich unter dieses Thema gestellt. Zum Thema Wassertourismus. Es ist zweifellos richtig, dass wir in Deutschland bisher nicht genügend von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Im Vergleich mit den Niederlanden, mit Großbritannien, den USA und Kanada nutzen wir das Potenzial des Wassertourismus in Deutschland bisher nicht ausreichend. In den Städten und Ländern müssen in diesem Bereich noch erhebliche Investitionen getätigt werden; das gilt auch für das Land, für das ich bis vor einiger Zeit die politische Verantwortung getragen haben. Wir können in diesem Bereich erheblich mehr Tourismus, auch internationalen Tourismus, auf uns ziehen. Wir wollen uns jetzt vor allen Dingen auf softe Themen wie die Charterscheinregelung und die bundesweite Einführung der „Gelben Welle“ konzentrieren. Mit der neuen Sommerferienregelung, die die Ministerpräsidentenkonferenz für das Jahr 2005 schon auf den Weg gebracht hat, sind einige Kolleginnen und Kollegen noch ein wenig unzufrieden. Die Ferienspanne liegt jetzt bei 85 Tagen; das ist nicht das Maximum - sie könnte auf 90 Tage ausgedehnt werden -, allerdings schon deutlich mehr als bei der Ferienregelung, die für dieses Jahr galt und die nicht besonders günstig war, wie zu Recht allgemein festgestellt wurde. Die Regelung, die wir jetzt vorliegen haben, ist dagegen eine deutliche Verbesserung. Deshalb schlage ich Ihnen vor, mit dieser Neuregelung erst einmal Erfahrungen zu sammeln, anstatt sie schon jetzt infrage zu stellen. Zum tourismuspolitischen Bericht habe ich die Bitte, dass wir möglichst gemeinsam daran weiterarbeiten, den Tourismus in unserem Land zu stärken. Ich denke, es lohnt sich für unser Land und für alle, die in der TourisBundesminister Wolfgang Clement muswirtschaft besondere Interessen haben, wenn wir auch bei diesem Thema an einem Strang ziehen. Ich danke Ihnen sehr. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Hinsken, CDU/CSU-Fraktion.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen, verehrter Herr Präsident, der Sie gestern Ihren 60. Geburtstag feiern konnten, auf das Herzlichste - sicherlich im Namen aller hier Versammelten - zu gratulieren. ({0}) Nun zur Sache. Die Haupturlaubszeit und die Reisezeit sind vorbei. Heute wird tourismuspolitisch Bilanz gezogen. Verehrter Herr Minister Clement, Sie haben versucht, vieles schönzumalen. So ist es aber nicht. Ich werde Ihnen den Beweis dafür bringen. Ich bin dankbar dafür, dass gerade heute die Möglichkeit besteht, diese Debatte im Rahmen der Kernzeit durchzuführen; denn dadurch wird die Bedeutung der Tourismuswirtschaft für die Bundesrepublik Deutschland besonders unter Beweis gestellt. Machen wir alle uns nichts vor: Der Tourismus ist die Leitökonomie der Zukunft. Es gab im vergangenen Jahr weltweit 715 Millionen Reisende. Die WTO rechnet mit jährlichen Steigerungsraten von 12 Prozent. Weltweit sind 225 Millionen Menschen im Tourismus beschäftigt. Nach den Rückschlägen durch SARS und andere Umstände - Sie, Herr Minister Clement, haben das angesprochen - ist der Tourismus dabei, sich wieder zu erholen. Ich möchte es nicht versäumen, auch einige Zahlen zu nennen, die speziell für uns in der Bundesrepublik Deutschland von besonderer Bedeutung sind. 140,6 Milliarden Euro Umsatz im Tourismus entsprechen 8 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Zählt man den vorund nachgelagerten Bereich hinzu, kommt man auf circa 2,8 Millionen Beschäftigte. Das sind dreimal so viel Beschäftigte wie im Baugewerbe, viermal so viel Beschäftigte wie in der Automobilindustrie bzw. sechsmal so viel Beschäftigte wie in der chemischen Industrie. Zudem - das ist mir besonders wichtig, gerade in der heutigen Zeit - stellt die Tourismuswirtschaft 107 000 Ausbildungsplätze. ({1}) Meine Damen und Herren, ein bisschen Werbung ist in diesem Falle durchaus angebracht: Vom Kochlehrling zum Hoteldirektor, solche Karrieren sind im Tourismus kein Einzelfall. ({2}) Hier gibt es die Möglichkeit dazu. Wir müssen die jungen Leute nur motivieren. Leider ist nicht zu leugnen, dass der Tourismus auch bei uns in einer schweren Krise steckt. Wir haben Grund zur Sorge: 52 Prozent der Deutschen haben in diesem Sommer keine Urlaubsreise angetreten. Große Reiseveranstalter schreiben dicke Verluste: Der eine muss feststellen, dass sein Verlust doppelt so hoch ist wie im vergangenen Jahr; der andere - ohne jetzt Namen zu nennen - verzeichnet einen gar zwölfmal so hohen Verlust. Wir müssen uns gerade heute die Frage stellen: Was hält die Leute vom Reisen ab? Erstens ist es die Konsumzurückhaltung, zweitens die Konjunkturflaute, drittens die Angst um den Arbeitsplatz und viertens die Arbeitslosigkeit. Für diese vier Posten ist die Bundesregierung verantwortlich; das möchte ich besonders unterstreichen. ({3}) Bei der wichtigsten Zielgruppe in Sachen Tourismus, bei der Gastronomie, ist es besonders katastrophal. Der Umsatz im vergangenen Jahr lag bei minus 7,2 Prozent. Verehrter Herr Minister Clement, das Jahr 2002 war das schlechteste Jahr für die Gastronomie seit 1949. Leider wahr! Seit 1974 ist die Anzahl der Betriebe von 274 000 auf 248 000 geschrumpft. Auch hier also ein Minus von 10 Prozent, obwohl die Bevölkerungszahlen nach oben deuten. Ein probates Mittel, um dem Gastronomiegewerbe zu helfen, wäre die Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze. Herr Minister Clement, bereits auf der ITB 1999 hat Ihr Vorgänger, Herr Bundesminister Müller, angekündigt, dass er sich dafür verwenden werde. Geschehen ist nichts. Alles Schall und Rauch! Ein entsprechender Richtlinienvorschlag, aus Brüssel kommend, liegt bei Ihnen auf dem Tisch. Aber Bundesfinanzminister Eichel tritt auf die Bremse. Obwohl auch Tourismuspolitiker der SPD und insbesondere unser wichtigster Bündnispartner in der Europäischen Union, Frankreich, eine solche Reduzierung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie befürworten, wird das nicht gemacht. ({4}) Wie ist es zu rechtfertigen, Herr Schmidt, dass die Mehrwertsteuer für Leistungen im Hotelbereich in zwölf Ländern der EU niedriger ist als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland? In Frankreich liegt sie bei 5,5 Prozent und in Österreich bei 10 Prozent. Aber wir sind mit 16 Prozent Spitze. Warum ist in zehn Ländern der Europäischen Union der Mehrwertsteuersatz für Angebote von Freizeitparks niedriger als bei uns? Warum ist in acht Ländern der Europäischen Union der Mehrwertsteuersatz für Leistungen in der Gastronomie niedriger als bei uns? Wettbewerbsverzerrungen über Wettbewerbsverzerrungen! Wir alle sind aufgefordert, dem entgegenzusteuern und dafür zu sorgen, dass bestimmte Wirtschaftsbereiche bei uns im Vergleich zu denen in anderen Ländern in der Europäischen Union nicht weiter durch Steuern belastet werden. ({5}) Eine ganz besondere Herausforderung steht vor der Tür: Die EU wird erweitert. Tschechien, Ungarn und Polen treten ein. Diese behalten aber ihre niedrigeren Mehrwertsteuersätze bei. Deshalb fordere ich nochmals, darüber nachzudenken, ob es nicht gewisse Korrekturen geben sollte. Auch bei den Kur- und Heilbädern ist ein schärferer Wind zu erwarten. Wir sind darüber besorgt, dass bei der Leistungserbringung im In- und Ausland keine einheitlichen Qualitätsstandards vorhanden sind. Darum sollten wir ganz besonders besorgt sein. Unsere deutschen Kurorte brauchen vor allen Dingen zusätzliche Einnahmen über die Gemeindefinanzreform, um Geld für den Ausbau und den Erhalt ihrer Infrastruktur zur Verfügung zu haben, damit sie mit den Kurorten in anderen Ländern konkurrieren können. ({6}) Der Gesundheitstourismus gewinnt an Bedeutung. Im Jahr 2030 wird die Zahl der über 60-Jährigen von heute 17 Millionen auf 26 Millionen angestiegen sein. Schon heute gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 3,3 Millionen Mitbürger, die älter als 80 Jahre sind. Vor allem die frönen dem Gesundheitstourismus. Aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Die Senioren gelten übrigens schon heute als Wachstumsmotor des Tourismus. 2002 sind mehr als 12 Millionen Deutsche über 60 Jahre mindestens einmal im Jahr in den Urlaub gefahren; das waren 67 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass in 20 Jahren 80 Prozent der Senioren in den Urlaub fahren werden. Sie brauchen ein auf sie zugeschnittenes Angebot und der Tourismusbereich benötigt von uns den politischen Flankenschutz, also Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, für Senioren besondere Programme aufzulegen. ({7}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas ausführen, was im Zusammenhang mit dem Tourismus besonders wichtig ist: Wir brauchen einen funktionierenden Verkehr. Speziell spreche ich hier das Auto an; denn 60 Prozent der Deutschen wählen das Auto, um in Urlaub zu fahren. Verehrter Herr Minister Clement, durch die Ökosteuer haben Sie das Autofahren nicht gerade billiger gemacht. Insofern ist es ein kleiner Luxus, mit dem Auto in den Urlaub zu fahren. Als Beleg dafür nehme ich einen Hamburger, Herr Kollege Klimke, der bereit ist, seinen Urlaub im Berchtesgadener Land zu verbringen. 1 000 Kilometer hin, 1 000 Kilometer zurück und ein paar Kilometer dazwischen ergeben einen Spritverbrauch von etwa 200 Litern. Mit der Ökosteuer ziehen Sie dem Bürger 200 mal 15 Cent aus der Tasche. Das sind sechs gute Mittagessen, die Sie dem Bürger nicht gönnen. ({8}) In diesem Zusammenhang erteile ich der von verschiedener Seite geforderten PKW-Maut eine Absage, weil sie weitere Umsatzeinbrüche beim Gastronomiegewerbe mit sich brächte. Eine Bemerkung zur Bustouristik: Verehrter Herr Minister Clement, Sie haben dieses Thema hier nur ganz knapp abgehandelt, obwohl 6 000 mittelständische Unternehmen mit über 65 000 Beschäftigten im Bustouristikgewerbe tätig sind. Gerade in der jetzigen Zeit ist es wichtig, ein Bekenntnis zur Bustouristik abzulegen, weil der Bus nach wie vor das sicherste Verkehrsmittel in der Bundesrepublik Deutschland ist; er ist 62-mal sicherer als das Auto. An dieser Stelle muss ich auch die Bürokratie ansprechen. Es passt nicht zusammen, meine Damen und Herren, wenn ewig von Bürokratieabbau gesprochen, aber nichts getan wird. 5 000 Gesetze und 85 000 Verordnungen machen insbesondere der Tourismuswirtschaft zu schaffen. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass jemand, der in einem Hotel unter Kopfweh leidet, aufgrund des deutschen Arzneimittelrechts von der Hotelrezeption keine Kopfschmerztablette bekommen kann und an die nächste Apotheke, die ein paar Kilometer entfernt wird, verwiesen werden muss. Hier sind wir alle gefordert, etwas zu unternehmen. ({9}) Deutschland ist Messeplatz Nummer eins. Zwei Drittel aller internationalen Messen finden hier statt. Zusammen sind hier 220 000 Aussteller betroffen, die 17 Millionen Besucher anlocken. Wir müssen für den Messetourismus mehr tun, um unseren Rang, wichtigster Messeplatz der ganzen Welt zu sein, behalten zu können. Dies geht nicht von selbst; vielmehr ist es erforderlich, das Notwendige zu tun. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Gerade die mittelständische Tourismuswirtschaft ist auf günstige Rahmenbedingungen wie zu verkraftende Steuern, Arbeitsmarktflexibilität, zügige Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie, eine ergänzende Ferienregelung usw. angewiesen. Wir dürfen nicht nur über den Tourismus reden, sondern müssen auch entsprechend handeln. Es ist das Gebot der Stunde, dass wir seitens der Politik die vernünftigen Rahmenbedingungen schaffen. ({10}) Ich fordere uns alle, insbesondere aber die Bundesregierung, vertreten durch Sie, Herr Minister Clement, auf, das Notwendige zu tun, damit dieser wichtige Wirtschaftszweig auch in der Bundesrepublik Deutschland wieder richtig in Schwung kommt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Besucherrängen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Bericht der Bundesregierung sind eine Menge Zahlen genannt worden; im Entschließungsantrag der FDP sind sie wiederholt worden und auch Herr Hinsken hat sich eben zum Teil auf sie berufen. Diese Zahlen belegen, einen welch wichtigen Wirtschaftsfaktor die Tourismuswirtschaft in unserem Lande darstellt. Sie, Herr Minister, haben dankenswerterweise sehr klar formuliert, dass der Tourismus zu den Schwergewichten unserer Volkswirtschaft gehört und dass die Bundesregierung diesen Wirtschaftszweig sehr ernst nimmt. Herr Hinsken, ich kann nicht recht verstehen, warum Sie diesen Wirtschaftszweig und seine momentanen Chancen schlechtreden. ({0}) Ich werde Ihnen eine Zeitung überreichen, ({1}) der man nicht nachsagen kann, dass sie den Grünen oder Rot-Grün besonders freundlich gesonnen ist. Diese Zeitung schreibt auf der Titelseite: Reisebranche kann hoffen, Umsatzplus von 5 Prozent möglich. ({2}) Ich glaube nicht, dass ein Wirtschaftszweig so etwas verkünden würde, wenn er diese Hoffnung nicht hätte. In aller Regel neigt man doch dazu, eher zu klagen und viele Änderungen zu fordern. ({3}) Ich kann wirklich nicht verstehen, wie Sie diese Zahlen heranziehen konnten, um eine Branche, die für unser Land wichtig ist, schlechtzureden. Reisen ist unbestritten eine der schönsten Seiten des Lebens und obwohl der Tourismussektor nicht nur aus Urlaubsreisen besteht, sind Fernweh und Urlaubswunsch die wichtigsten Impulse, um diesen zu einem führenden und schnell wachsenden Wirtschaftszweig weltweit zu machen. Gleichzeitig müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen: Der Tourismus ist ein sehr anfälliger Wirtschaftszweig, der auch Zufällen unterworfen ist. Politische Unruhen, Terroranschläge, spektakuläre Entführungen, Krankheiten wie SARS, Naturkatastrophen in den Zielregionen, aber auch konjunkturelle Schwankungen in den Herkunftsländern der Touristen können die Nachfrage nach einem Reiseland in kürzester Zeit zusammenbrechen lassen. Die starken Konkurrenzen unter den einzelnen Reiseländern und ihre zunehmende Austauschbauten machen die Situation zusätzlich schwierig und lassen den Gast sehr leicht umschwenken. Dies wiederum kann zu dramatischen Folgen für die Tourismusregionen führen. Was heißt das auf unser eigenes Land bezogen? Was müssen wir tun, um dem Tourismus in Deutschland auf die Beine zu helfen? Es wurde bereits gesagt, dass die Nachfrage nach deutschen Reisezielen erfreulicherweise gestiegen ist. Deutsche reisen wieder verstärkt nach Deutschland und das ist gut so. Die Umsatzzahlen in Gastronomie und Hotellerie stabilisieren sich; auch das ist gut. Das zeigt: Wir haben die im Rahmen der Bundeszuständigkeit gegebenen Möglichkeiten in den zurückliegenden fünf Jahren ernsthaft und gut genutzt und die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Deutschlandtourismus verbessert. Der Bericht der Bundesregierung dokumentiert das. ({4}) Aber auch international haben wir deutliche Anstrengungen unternommen, um die Zukunftsfähigkeit, also die Nachhaltigkeit des Tourismus - auch ich möchte das viel bemühte Wort verwenden - zu sichern. Ich nenne beispielhaft den im Herbst 2002 mit Unterstützung der Bundesregierung überarbeiteten Entwurf der Richtlinie für Tourismus und Biodiversität, der jetzt der 7. Vertragsstaatenkonferenz mit der Empfehlung zur Annahme vorliegt. Der Entwurf ist eine Art Leitfaden für die Tourismusentwicklung. Er bezieht sich auf alle Formen und Aktivitäten des Tourismus, sowohl auf den traditionellen konservativen Massentourismus als auch auf den Ökotourismus. Darüber hinaus bezieht er sich auf alle geographischen Regionen. Wir beweisen mit solchen Aktivitäten, dass wir uns der ökologischen Konsequenzen des Tourismus und der daraus resultierenden Aufgaben sehr wohl bewusst sind und auch handeln wollen. Wir alle wissen: Für den Tourismus ist intakte Natur ein überaus wichtiger Faktor. Die von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen jährlich durchgeführte Reiseanalyse bestätigt, dass der Wunsch, Natur zu erleben, zu einem der wichtigsten Reisemotive der Deutschen zählt. Fakt ist aber auch, dass der Tourismus in erheblichem Maße zu den vorhandenen Umweltproblemen beiträgt. Ich meine damit zum Beispiel seine allgemeinen Auswirkungen auf das Klima; sie stellen den direkten Bezug zur Ökosteuer her. Der von Deutschland ausgehende Tourismus verursachte 1999 mehr als 75 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen. Die chemische Industrie, die allgemein zu den großen Emittenten zählt, hat im gleichen Zeitraum 37,5 Millionen Tonnen, also die Hälfte, emittiert. Ich glaube, das verdeutlicht die Dimension des Problems, vor dem wir stehen. 80 Prozent der Treibhausgase, die aus dem Tourismus resultieren, verursacht der Flugverkehr. Wenn die Prognosen der Reiseanalysen zutreffen, wird sich dieses Problem in Zukunft noch verschärfen. Auch aus diesem Grund werden wir Bemühungen, attraktive Urlaubsangebote in Deutschland zu schaffen, unterstützen. ({5}) Undine Kurth ({6}) Uns ist aber klar: Auch wer nicht das Flugzeug nutzt, muss nicht unbedingt „sündenfrei“ reisen. Immer noch werden 70 Prozent der inländischen Urlaubsreisen - diese Zahl liegt mir vor - mit dem Auto angetreten, nicht einmal 20 Prozent der Gäste reisen mit der Bahn. Das kann man nicht als Erfolg verkaufen. Wenn es uns gelingt, attraktive und zuverlässige Serviceangebote zu machen, schaffen wir es vielleicht, mehr Kunden zur Bahn zu bringen. Herr Klimke könnte dann eventuell die Bahn nutzen und sich ein Essen mehr leisten. Damit wäre doch allen geholfen. ({7}) - Das Fahrrad wäre noch eine wunderbare Ergänzung. Es ist in unser aller Interesse, wenn wir nicht in erster Linie daran denken, den Urlaub mit dem Auto billiger zu machen, sondern überlegen, ob es andere Möglichkeiten gibt, den Urlaubsort bequem, gut und zuverlässig zu erreichen. Schließlich bleibt das nahezu sprichwörtliche Ökogewissen der Deutschen auch im Urlaub erhalten. 84 Prozent der Deutschen legen Wert auf umweltfreundliches Verhalten im Urlaub. Deshalb war es richtig, die Dachmarke Viabono für umweltorientierte touristische Angebote zu entwickeln. Sie bietet Verbraucherinnen und Verbrauchern in Bezug auf natur- und umweltverträgliche touristische Angebote eine einfache Entscheidungshilfe. Ich appelliere von dieser Stelle aus noch einmal an alle Hoteliers, Gastronomen, Betreiber von Bauernhöfen, Campingplätzen, Naturparks und Heilbädern sowie an die Kommunen: Sie alle sollten überlegen, ob sie diese Dachmarke nicht der Natur und ihren Gästen zuliebe sowie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen. ({8}) Die ostdeutschen Länder können hiervon besonders profitieren. Hier entstanden in den letzten Jahren durch Förderungen und sehr viel Eigeninitiative zahlreiche neue, moderne touristische Angebote, die sich für eine Verbindung mit Viabono geradezu anbieten. Die zur Überweisung anstehenden Anträge will ich angesichts der Kürze der Zeit nicht im Einzelnen behandeln. Wir haben dazu in den Ausschüssen sicherlich ausgiebig Zeit. Ich möchte nur eines versichern: Wir werden sinnvolle Vorschläge nicht ignorieren, billige Polemik aber freundlich zurückweisen. Ich möchte noch etwas anderes ansprechen, wofür sich die Vielschichtigkeit der eben erwähnten Anträge gut als Beispiel eignet: Hätten wir jetzt ausreichend Zeit, würden wir über Geschäftsreisen, die Ferienregelungen und über den Wassertourismus debattieren, und das sicher auch zu Recht. Das sind jeweils Aspekte des Tourismus, die erheblich in andere Politikfelder hineinreichen und die klar machen: Tourismus ist eine Querschnittsaufgabe. Querschnitt sollte aber nicht heißen: Jeder macht irgendetwas, alle machen es gleichzeitig, aber keiner hat den Überblick. Deshalb glaube ich, noch einmal betonen zu müssen: Im Moment gibt es viele gute tourismuspolitische Ansätze in den einzelnen Ressorts. Sie werden nebeneinander entwickelt. Seien wir ehrlich: Wir alle sind schon einigermaßen erstaunt, wenn wir von einem uns bisher völlig unbekannten Modellprojekt eines Ressorts erfahren. Ich frage mich und Sie, ob es nicht an der Zeit ist, dieser Zersplitterung der Verantwortung für die Entwicklung des Tourismus zumindest auf Bundesebene entgegenzuwirken. Mir erscheint es als eine erhebliche Vergeudung finanzieller und personeller Ressourcen, wenn in jedem Bundesressort die Tourismuspolitik neu erfunden wird. ({9}) - Es freut mich, dass Sie applaudieren, dass wir da einer Meinung sind. Eine Bündelung der Ressourcen und der Verantwortung im eigentlich zuständigen Wirtschaftsministerium erscheint mir nicht nur sinnvoll, sondern auch erstrebenswert. Ich weiß, dass dazu Umstrukturierungen erforderlich sind, und ich weiß, dass das nicht einfach sein wird. Das kann aber nicht dazu führen, dass man eine als notwendig erachtete Aufgabe nicht angeht. Ich glaube, dass wir gemeinsam versuchen sollten, auf diesem Gebiet etwas zu erreichen, um die vielen guten Ansätze, die es bereits gibt, weiterzuführen und um für diesen wirklich wichtigen Wirtschaftszweig in unserem Land etwas zu erreichen. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDPFraktion, das Wort.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich glaube, die Ausgangsbasis dessen, worüber wir heute reden, ist tatsächlich ziemlich kompliziert. ({0}) Der weltweite Tourismus hat eine große Krise, bedingt durch den 11. September 2001, den Irakkrieg, SARS und andere Dinge, hinter sich. Im Augenblick gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es uns gelingt, diese Krise ein Stück weit zu überwinden. Das bezieht sich aber leider weniger auf die Binnennachfrage. Von daher erfordert die Situation eine sehr differenzierte Betrachtungsweise. Es gibt einige Bereiche, die mir wirklich Sorgen bereiten. Das ist zunächst der Hotel- und Gaststättenbereich, der für mich die Basis jeglichen Tourismus in Deutschland ist. Wenn es im Hotel- und Gaststättenbereich nicht stimmt, brauchen wir über den Tourismus eigentlich nicht zu reden. ({1}) Wir müssen zusehen - die Entwicklungen in diesem Punkt betrachte ich mit großer Sorge -, dass sich die Ertragslage bei den Betrieben wieder so entwickelt, dass sie investieren können. Denn sonst werden sie die Qualität nicht bieten können, die sie bieten müssen. ({2}) Auch bei den Reisebüros ist die Situation schwierig. In dieser Branche gab es, wie wir wissen, eine Krise, die weiterhin besteht. Niemand weiß im Augenblick, wie sich die Veränderungen bei der Buchung von Pauschalreisen - ich nenne nur das Internet - und andere Veränderungen auf die Reisebüros auswirken werden. Auch in dieser Branche stehen viele Tausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel. Es gibt etwas, um das wir, Herr Minister, uns wirklich noch einmal kümmern müssen, nämlich um die Ferienregelung. Wir alle miteinander hatten bei der Ferienregelung ja schon einen Erfolg erzielt. Aber die Erfahrung in diesem Jahr hat gezeigt, dass das nicht ausreicht. Wir müssen dieses Thema noch einmal problematisieren und versuchen, die Gesamtzeit etwas auszuweiten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird viel Kritisches in dieser Zeit gesagt. Lassen Sie mich deswegen auch einmal ein paar lobende Worte sagen. Ich möchte die leistungsfähige Abteilung Tourismus im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit mit ihren hoch engagierten Mitarbeitern loben. ({4}) Ich bitte Sie, Herr Minister, dieses Lob weiterzugeben. Hier wird hervorragende Arbeit geleistet. Das wissen wir aus unserer Ausschussarbeit. Ich möchte auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen im Tourismusausschuss, loben. Vieles haben wir gemeinsam versucht. Manches ist uns nicht ganz gelungen. In manchen Fragen sind wir politisch weit auseinander. In manchen Punkten haben Sie leider in der eigenen Fraktion keine Mehrheit gefunden. - Schade. ({5}) Einiges aber ist uns gemeinsam gelungen: Ich freue mich nach wie vor, dass wir es vor allem auf intensiven Druck der FDP in der letzten Legislaturperiode geschafft haben, dass das Haus einstimmig die Trinkgeldbesteuerung abgeschafft und damit ein deutliches Zeichen gesetzt hat. ({6}) Ich freue mich, dass wir im Bereich der touristischen Beschilderung wenigstens einen kleinen Schritt weitergekommen sind, auch wenn wir, liebe Kollegin Faße, erheblich mehr gewollt haben. Zumindest dieser kleine Schritt ist uns aber gelungen. Gemeinsam haben wir Einiges für das Schaustellergewerbe in Deutschland getan. ({7}) Auf anderen Gebieten allerdings waren wir weniger erfolgreich. Vier Jahre lang haben wir gegen die unsinnige Rücknahme der 630-Mark-Regelung gekämpft. Jetzt haben wir eine solche Regelung wieder, zwar mit mehr Bürokratie, aber immerhin haben Sie nach fünf Jahren gelernt. Es ist ein Befreiungsschlag für die Branche, dass es jetzt wenigstens die Minijobs gibt. Wenn Sie das fünf Jahre vorher nicht abgeschafft hätten, wäre die Branche heute in einer viel besseren Lage. ({8}) Ich sage auch Lob für den Haushalt, was die Deutsche Zentrale für Tourismus anbetrifft. Ich finde es gut, dass es gelungen ist, die Mittel dafür zu erhöhen. Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Was gestern im Tourismusausschuss geschehen ist, kann ich nicht mittragen. Bei einem Haushaltstitel wurden 100 000 Euro draufgelegt, danach wurden 200 000 Euro in manchen Bereichen bei drei Organisationen zweckgebunden für Klientel der Grünen. Diese Klientelpolitik werden wir nicht mitmachen. ({9}) Es gibt Bereiche, bei denen wir leider nicht weitergekommen sind: bei den Sperrzeiten insbesondere für die Außengastronomie und beim Jugendarbeitsschutzgesetz; das wird sich vielleicht heut Mittag noch zeigen. Es gibt Vieles, was nach wie vor zu tun ist. Einiges ist besonders wichtig. ({10}) Dazu zählt die Förderung des barrierefreien Tourismus. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine Große Anfrage dazu gestellt. Daraus müssen wir jetzt etwas machen. Wir haben einen Antrag zum Wassertourismus vorgelegt. Ich will dem Kollegen Hinsken beim Thema Bustourismus ausdrücklich zustimmen: Es kann nicht sein, dass der Bustourismus durch ungerechtfertigte Wettbewerbsverzerrungen, zum Beispiel durch die Ökosteuer, benachteiligt ist. Das werden wir immer anmahnen. ({11}) Bei allen positiven Zeichen: Tourismuspolitik von Rot-Grün ist nach wie vor ideologisch zu verbrämt. Sie ist viel zu mutlos. Die Rahmenbedingungen sind völlig falsch gesetzt. Hierzu gibt es übrigens ein schönes Zitat von Wilhelm Busch: Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt man hat die Mittel. ({12}) Genau das ist das Problem. Ich möchte Ihnen einen Satz aus einem vor zwei Wochen erschienenen Prognos-Gutachten zitieren. Dort heißt es: Die Reiseausgaben der Deutschen stiegen in den 90er-Jahren kontinuierlich, stagnierten 2001 und sanken 2002 und 2003 geringfügig. Damit wurde der mit 25 Prozent Marktanteil wichtigste europäische Quellmarkt ähnlich stark von exogenen Marktentwicklungen betroffen wie andere Quellmärkte. Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland wird dabei von „hausgemachten“ wirtschaftlichen Hemmnissen stärker tangiert als die Entwicklung in den meisten anderen europäischen Staaten, die bereits wieder auf Wachstum eingeschwenkt sind. Herr Minister, hier wird deutlich gesagt: Sie tragen die Verantwortung dafür, dass es uns im Gegensatz zu all unseren Nachbarn nicht gelingt, beim Tourismus wieder aus dem Tief herauszukommen, und dass die Nachfrageflaute bei uns nach wie vor bestimmend ist. Das müssen Sie auf Ihre Kappe nehmen. ({13}) Sie haben es nicht geschafft, Bürokratie abzubauen. Die FDP hat die Aktion „Bürokratie abbauen - Wir machen es einfacher“ gestartet. Wir haben jede Woche einen konkreten Vorschlag für Bürokratieabbau gemacht. Leider haben Sie so gut wie keinem zugestimmt. Wir erwarten, dass Sie endlich nicht nur reden, sondern auch handeln. ({14}) Sie haben nicht dereguliert, sondern mehr reguliert. Vor allem bei den Reformen im Arbeitsrecht, die für das Gewerbe wichtig sind, sind sie total blind. Wenn wir an das Arbeitsrecht nicht herangehen, werden wir die Probleme dieser Branche nicht lösen können. ({15}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss im Bild des Tourismus bleiben: Die Regierung nimmt uns seit 1998 auf eine Abenteuerreise mit. Dabei gab es durchaus einige schöne Strecken; das sei zugegeben. Insgesamt war es jedoch eine Abenteuerreise. Die Reisenden wollen aber etwas anderes. Herr Minister, sie wollen das Ziel kennen und wissen, wohin es geht. Das ist das Entscheidende. Die Reisenden wollen auch wissen, wie lang eine solche Reise dauern wird. ({16}) Sie lassen sich nicht ewig auf den Sankt-NimmerleinsTag vertrösten. Es muss ja keine Pauschalreise sein, bei der alles vorbestimmt ist. Die Reisenden sind sehr wohl bereit, auch einmal steile Berge zu überqueren und Baustellen in Kauf zu nehmen. ({17}) Sie wollen dann aber auch wissen, dass sie nach einer abschätzbaren Zeit an dem richtigen Ziel ankommen. Genau das ist Ihr Problem: Weder Zeit noch Ziel sind bekannt. Deshalb wäre es die beste Maßnahme für den Deutschlandtourismus, wenn wir der Regierung eine Fahrkarte in die Opposition schenken und wieder die richtigen Leute an das Steuer lassen würden. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion, das Wort.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist eine Sternstunde für die Tourismuspolitiker des Deutschen Bundestages, weil wir den tourismuspolitischen Bericht in der Kernzeit debattieren können. Das freut uns und ist der Bedeutung des Tourismus angemessen. ({0}) Wir danken der Bundesregierung für diesen sehr aussagekräftigen Bericht, ({1}) in dem erstmals auch der Gender-Gedanke berücksichtigt wird. ({2}) In dem Bericht wird der Tourismus unter anderem auch als Wirtschaftsfaktor behandelt. Minister Clement hat dies soeben sehr ausführlich dargelegt. Deshalb kann ich darauf verzichten. Ich möchte hier heute auf die Rolle des Parlaments und insbesondere auf die der Regierungsfraktionen für den Tourismus in Deutschland ausführlicher eingehen. Unser Bestreben war und ist es, den Stellenwert des Tourismus für Wachstum und Beschäftigung bei den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft ins Bewusstsein zu bringen. Deshalb kann es als Erfolg bezeichnet werden, dass es gelungen ist, bei den Fraktionen des Deutschen Bundestages mehr Aufgeschlossenheit für Tourismusthemen zu erzielen, was auch durch gemeinschaftliche Anhörungen mit verschiedenen anderen Ausschüssen zum Ausdruck kommt. Dafür möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken. ({3}) Erfreulich ist auch, dass der Tourismus nun als Fachbereich beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag und beim BDI etabliert ist. Wir erhoffen uns hiervon starke Wachstumsimpulse für den Deutschlandtourismus. Eine Erfolgsstory ist auch das von der Bundesregierung initiierte länderübergreifende Inlandsmarketing durch die Deutsche Zentrale für Tourismus, das nun seit drei Jahren besteht und das sich insbesondere bei der Hochwasserkatastrophe im letzten Jahr als Instrument für die betroffenen Regionen positiv ausgewirkt hat. Ich hoffe, dass es diese Zusammenarbeit auch über 2006 hinaus geben wird. Ein Blick zurück sei mir dennoch erlaubt. Zur Zeit unserer Regierungsübernahme war die touristische Situation von Stagnation und rückläufigen Zahlen geprägt. ({4}) - Nein, Herr Vorsitzender, so ist es nicht. Wenn Sie sich die Zahlen anschauen, dann werden Sie eines Besseren belehrt werden. ({5}) In Ihrer Regierungszeit hatten Sie geplant, die Mittel für die Deutsche Zentrale für Tourismus um 11 Millionen DM - damals haben wir noch in D-Mark gerechnet auf 25 Millionen DM zu kürzen. Dies wäre ein Kahlschlag gewesen. ({6}) Das haben wir aufgrund der Änderung der Mehrheitsverhältnisse in diesem Haus stoppen können. ({7}) Wir haben den Haushaltsansatz für die Deutsche Zentrale für Tourismus von einstmals 25 Millionen DM, die Sie angepeilt hatten, im Jahre 2004 auf 24,474 Millionen Euro erhöht. ({8}) Damit haben wir das Ergebnis im Vergleich zu Ihnen fast verdoppelt. ({9}) Unter anderem der guten Arbeit der DZT ist es zu verdanken, dass wir im Jahre 2002 fast 38 Millionen Übernachtungen von Ausländern in Deutschland hatten. Hierzu nur ein Zahlenvergleich: Von 1998 bis zum Jahr 2002 hat sich die Zahl der Übernachtungen in Deutschland trotz SARS, trotz des Irakkriegs, trotz der Ereignisse vom 11. September 2001 insgesamt um 24 Millionen erhöht. Dies ist ein Faktum, das Sie nicht wegdiskutieren können. ({10}) - Das sind die insgesamt getätigten Übernachtungen in Deutschland. Nur das ist eine aussagekräftige Zahl. ({11}) Die Maßnahmen der DZT geben der Branche vielfache Wachstumsimpulse. Dadurch werden zielgerichtet Potenziale für den Deutschlandtourismus erschlossen. Ich möchte mich deshalb auch bei Frau Schörcher von der Deutschen Zentrale für Tourismus und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken. ({12}) Im Bund-Länder-Ausschuss „Tourismus“ wurde vor einer Woche eine Studie der DZT mit ersten Zahlen, Daten und Fakten zum Inlandstourismus vorgestellt. Ein Ergebnis dieser Repräsentativbefragung bestätigt: Urlaub in Deutschland ist in. ({13}) Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestätigen dies. Nach der Statistiknovelle, die wir angeregt haben und nach der seit Januar dieses Jahres erstmals die Zimmerauslastung erfasst wird, ist die Auslastung der Zimmer im ersten Halbjahr kontinuierlich von 27 Prozent im Januar auf 43 Prozent im Juli gestiegen. Sie strafen sich also Lügen mit Ihren Aussagen, die Sie hier getroffen haben. ({14}) Insgesamt kommt man damit für das erste Halbjahr auf eine Auslastung von 37 Prozent, bei den Hotels auf mehr als 40 Prozent. Das ist mehr, als in Ihrer Regierungszeit zu verzeichnen war. ({15}) Von Januar bis August wurden 234 Millionen Gästeübernachtungen gezählt; das entspricht in etwa dem Vorjahresergebnis. Die Zahl der Gästeübernachtungen im August ist im Vergleich zu dem entsprechenden Vorjahresmonat um 6 Prozent bzw. zum Juli dieses Jahres um 8 Prozent höher. ({16}) Der Auslandstourismus hat im August sogar um 1 Prozent zugenommen. - Aber ich möchte mich jetzt nicht weiter mit Zahlen aufhalten. Deutschland ist ein sicheres Reiseland. Deshalb entscheiden sich viele Gäste, zu uns zu kommen. Die Bundesregierung hat in der Zeit nach dem 11. September 2001 und den vielen anderen Ereignissen mit umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen dafür gesorgt, dass unser Land ein sicheres Reiseland bleibt. Deutschland hat von der Ferienwohnung bis zum Fünf-Sterne-Hotel gute Unterkünfte, eine gute Küche, köstliche Weine und ein gutes Bier, das sich international messen lassen kann. ({17}) Deutschland hat ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Wir sind zwar bei den Dienstleistungen bestimmt noch keine Weltmeister, aber wir stärken Qualität durch verschiedene Modellprojekte, die der Bund finanziert hat. Damit kommen wir dem Ziel „Der Kunde ist König“ näher. Deshalb gilt mein Dank allen Dienstleistern im Tourismus. ({18}) In der vergangenen Legislaturperiode haben wir die Trinkgeldbesteuerung abgeschafft. ({19}) - Dass dies auf Initiative der FDP geschah, ist ein Märchen. Aber die FDP hat uns dabei unterstützt. ({20}) Dadurch haben wir die Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe motiviert, höchste Leistungen zu erbringen. Dies gilt auch für die Betriebsrente, die durch die Zusammenarbeit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und des DEHOGA eingeführt wurde. Auf die Mehrwertsteuer will ich nicht mehr eingehen. Da befinden wir uns in Europa in einem guten Mittelfeld. Diese Sache ist es nicht wert, dass man sich damit noch einmal auseinander setzt; das alles haben wir schon längst abgehandelt. Deutschland hat vielfältige attraktive touristische Angebote und eine gute Verkehrsinfrastruktur, die durch den Bundesverkehrswegeplan noch einmal verbessert werden wird. Deshalb kommen viele ausländische Gäste zu uns. China wurde schon erwähnt. ({21}) Deutschland hat ein interessantes Kulturangebot. Gerade Ostdeutschland hat die Chance, im Tourismus weiter voranzukommen. Leider wird hierzu im Bericht nichts ausgeführt. Wir werden in einer gemeinsamen Anhörung mit dem Kulturausschuss entsprechende Akzente setzen. Deutschland hat - Frau Kollegin Kurth hat es schon angesprochen - viel Natur zu bieten. Familienurlaub in Deutschland wird unser nächstes Thema sein. Ich freue mich, dass wir mit unserem Antrag im Sommer dieses Jahres gerade im Bereich des barrierefreien Tourismus Schwerpunkte gesetzt haben. Ich sehe, dass meine Zeit abläuft.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Es ist doch nur Ihre Redezeit. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - In Deutschland wird sich das Freizeitverhalten verändern. Deshalb erwarten wir uns von der von uns in Auftrag gegebenen Herbststudie „Zukunftstrends im Tourismus“ neue Grundlagen für die Tourismuspolitik und die Branche. Ich denke, dass wir diese Klientel im Sinne von mehr Wachstum und Beschäftigung stärken können. Qualität und Qualitätssteigerung, das ist der rote Faden, der sich durch unsere Politik zieht. Nur mit Qualität werden wir uns auf dem heiß umkämpften Markt behaupten können. Deshalb werden wir nicht nur gewerbepolitischen Forderungen nachkommen, sondern langfristige Ziele in der Tourismuspolitik setzen, damit das, was im Bericht steht, wahr wird, dass der Tourismus einerseits ein Instrument der Völkerverständigung und andererseits ein Markt der Zukunft ist. Wir wollen erreichen, dass sich dies in Deutschland auszahlt. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Klimke, CDU/ CSU-Fraktion.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Studieren des Berichtes, aber auch während der einführenden Worte von Minister Clement bin ich bisweilen an den Katalog eines unseriösen Reiseanbieters erinnert worden, gegen den wir als Bürger und Politiker immer wettern. ({0}) Darin wird ein Zimmer mit Meerblick versprochen, aber das Meer liegt 20 Minuten zu Fuß entfernt. Man kann Ihnen nur den Abschluss einer Schadensersatzversicherung empfehlen; denn der Bericht formuliert Ziele, die nicht erreicht werden können. Es handelt sich um Scheinangebote. Ich darf das an vier Beispielen belegen. Ein Beispiel haben wir angesprochen - im Bericht wird es nicht erwähnt, Herr Minister -, nämlich die Situation der Geschäftsreisenden. Dieses Reisesegment wird von der Bundesregierung ignoriert. Dabei geht es um 10 Millionen Geschäftsreisende, von denen jeder 22 Reisen im Jahr unternimmt. Das sind 50 Milliarden Euro Umsatz im Jahr. Das ist fast ein Drittel des Gesamtumsatzes. ({1}) Hinzu kommt noch Folgendes: Im Gegensatz zu den Urlaubsreisen, bei denen drei Viertel des Geldes im Ausland ausgegeben werden, bleiben 70 Prozent des Geldes, für Geschäftsreisen im Inland. Somit schaffen und sichern Geschäftsreisen bundesweit ganzjährig Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt von diesen Ausgaben abhängig sind. Das muss immer wieder deutlich gemacht werden. Aber trotz vollmundiger Versprechen, die wir vorhin noch einmal gehört haben, nämlich dieses Marktsegment zu fördern, wird nichts getan. Es heißt in dem Bericht: „Darüber hinaus profitiert die Tourismuswirtschaft von den allgemeinen wirtschaftspolitischen Initiativen der Bundesregierung, …“ ({2}) Das ist schlicht und einfach eine Drohung für den Tourismus. ({3}) Schauen Sie sich unseren Antrag an, was die Geschäftsreisen betrifft! Richten Sie die Auslandswerbung über die DZT stärker auf Geschäftsreisen aus! Wer Deutschland beruflich besucht, der kommt auch später sicherlich mit seiner Familie hierher. Hier besteht also Zuwachspotenzial. ({4}) Reduzieren Sie die Bürokratie - das ist ein wichtiges Thema, das wir hier immer wieder angesprochen haben - durch eine Vereinfachung der steuerlichen Behandlung von Bewirtungs-, Hotel- und Mietwagenbelegen! Das alles ist im Moment fürchterlich bürokratisch. Ich weiß das. Ermöglichen Sie bessere Ausbildungsmöglichkeiten für Spezialisten im Bereich der Geschäftsreisen und professionalisieren Sie dieses Arbeitsplatzpotenzial! Denn auch hier ist der Tourismus eine Jobmaschine. Weitere Anregungen, Herr Minister, können Sie unserem Antrag entnehmen. Mein zweiter Punkt betrifft das Defizit beim Hauptstadtmarketing. Im gesamten Bericht findet sich kein Wort dazu. ({5}) Ich fordere: Berlin muss als deutsche Hauptstadt touristisch endlich in der ersten Liga spielen, ({6}) genauso wie Rom, London, Paris oder auch New York, obwohl Letzteres nicht Hauptstadt ist. ({7}) Die Bundesregierung aber sagt: Das sollen andere machen, zum Beispiel die Berlin Tourismus Marketing GmbH, bei der wir gestern gewesen sind und die ihre Arbeit im Übrigen hervorragend macht. Aber Berlin ist fast pleite und hat kein Geld. Zu sagen: „Andere sollen die Arbeit machen“ reicht nicht. Was Berlin fehlt, ist ein Netzwerk von Land, Bund und Tourismuswirtschaft. ({8}) Dass eine solche Symbiose funktioniert, zeigt das Beispiel Hamburg. Ich will mich hier nicht dem Verdacht aussetzen, meine hanseatische Eitelkeit zu befriedigen, aber der Erfolg spricht für sich. Dieses Jahr wird in Hamburg die Zahl der Besucher auf 5 Millionen steigen. Hamburg hat als einzige Region in Deutschland mit 6 Prozent einen starken Zuwachs, während die Zahlen für Gesamtdeutschland um 4 Prozent zurückgegangen sind. Das muss doch Gründe haben. Es wird auf die Musicals verwiesen, aber das Entscheidende ist das so genannte One-Stop-Shopping, das heißt: Alles aus einer Hand. So wird die Hamburger Tourismuszentrale von den wichtigsten Interessenvertretern der Stadt mitgestaltet. Die Wirtschaftsbehörde ist eng mit der Tourismuszentrale verbunden, aber bevormundet sie nicht. Was wichtig ist: Wo Hamburg draufsteht, ist auch Hamburg drin. Hamburg wird als Marke verkauft. Genauso brauchen wir ein Label „Hauptstadt Berlin“ ({9}) und eine Schnittstelle zwischen dem Land und dem Bund, mit der dieses Hauptstadtmarketing unterstützt werden kann. Das heißt nicht, dass wir unendlich viel Geld dort hineinstecken wollen. Nein, wir müssen einfach kreativer sein und die Potenziale nutzen. Wir haben die DZT, die das intensiver machen könnte, wir haben deutsche Botschaften im Ausland, wir haben Auslandshandelskammern, wir haben die Goethe-Institute und die politischen Stiftungen. ({10}) Hier stärker zu kooperieren und Berlin stärker als Hauptstadt zu vermarkten ist eine ganz wichtige Sache, ({11}) gerade jetzt, wo die EU-Osterweiterung Berlin große Chancen bietet, sich stärker als das Zentrum in Mitteleuropa zu profilieren. Das dritte Beispiel ist die Ostseekooperation. Auch hier verliert sich die Bundesregierung in Ankündigungen. Es gebe keine einheitliche Linie, kein einheitliches Image, beklagte sie. Wird sie jedoch aktiv? - Nein. ({12}) Um in der Ostseepolitik Profil zu zeigen, muss auch in dieser Frage eine Zusammenarbeit der Anrainerstaaten notwendig werden. Es gilt auch hier, die Ostsee als Marke zu verkaufen. In Brüssel gibt es den so genannten Club Méditerranée. In ihm sind all diejenigen vertreten, die ein Interesse am Mittelmeer und an dessen Vermarktung haben. Deutschland liegt aber nicht am Mittelmeer, sondern an der Ostsee. ({13}) - An der Nordsee, aber auch an der Ostsee. Ich rede jetzt über die Ostsee. Schaffen wir doch einen Club Mare Balticum, zum Beispiel unter Einbindung der Russen! Damit hätten wir ein geeignetes Instrument, um europäischen Belangen mehr Aufmerksamkeit zu sichern. ({14}) Tourismus darf, wie wir wissen, nicht nur auf Europa beschränkt sein. Auch die Entwicklungsländer sind ein lohnendes Ziel. In diesem Zusammenhang müssen aber auch Themen wie Ausbeutung, soziokulturelle und ökologische Beeinträchtigung, mangelnde Sicherheit für Touristen und - das ist besonders tragisch - die sexuelle Ausbeutung von Kindern berücksichtigt werden. An dieser Stelle ist der Bericht der Bundesregierung sehr ausführlich. Wir unterstützen wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz von Kindern. Bei dieser Form der Ausbeutung handelt es sich nicht um Kavaliersdelikte. Es sind vielmehr Straftatbestände, die auch in der Bundesrepublik konsequent verfolgt werden müssen. Ansonsten gilt: Internationaler Tourismus kann nur funktionieren, wenn er nachhaltig und langfristig ist, wenn die lokalen Wirtschaftssysteme integriert werden und die Bevölkerung vor Ort in die Planung und Realisierung von Projekten einbezogen wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Klimke, Sie müssen zum Ende kommen.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich darf das Bild des Reisekatalogs, das ich zu Beginn meiner Rede erwähnt habe, noch einmal aufgreifen. Der Bericht enthält viele Scheinangebote, ein paar Ankündigungen, Lockangebote und vielleicht einige Ausrufungszeichen. Aber der Tourismus als Jobmaschine ist viel zu wenig berücksichtigt worden. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Polemik und Schlechtreden helfen der Branche nicht. ({0}) Was Sie heute Morgen betreiben, wird keinen Boom und Aufwuchs bringen. Die Menschen werden vielmehr sagen: Mein Gott, warum soll ich eigentlich in Deutschland Urlaub machen? Die Bundesregierung hat einen hervorragenden Bericht vorgelegt, in dem hervorragende Zukunftsperspektiven dargestellt werden. Ich möchte allen Menschen, die uns heute zuhören, Mut machen: Urlaub in Deutschland lohnt sich! ({1}) Ich möchte zu einem speziellen Bereich des Tourismus Stellung nehmen, und zwar zum Wassertourismus. Wassersport und Tourismus auf unseren Wasserstraßen haben seit 1990 stark an Bedeutung gewonnen. Auf diese Entwicklung hat die Bundesregierung umgehend reagiert und in ihren tourismuspolitischen Berichten dem Wassertourismus einen eigenen Punkt gewidmet. Es gibt in Deutschland ein Wasserwandernetz von circa 10 000 Kilometern Länge. Damit verfügen wir über eines der attraktivsten Wassersportgebiete innerhalb Europas. ({2}) Neben den Bundeswasserstraßen gibt es die Landesgewässer und viele Fließgewässer, die nur von Kanus und Ruderbooten befahrbar sind. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland über 6,3 Millionen Wassersportler. Etwa 17 Millionen Bundesbürger verbringen ihre Freizeit oder ihren Urlaub in, an oder auf dem Wasser. ({3}) - Ja, auch unter Wasser. Manchmal würde ich auch Sie ganz gern einmal unter Wasser sehen, Herr Hinsken. ({4}) Die Wassersportwirtschaft nimmt mit einem Umsatz von 1,7 Milliarden Euro eine gute Position ein. Die Zahlen sprechen für sich. Wir haben erkannt, dass sich dieser Wirtschaftszweig zu entwickeln lohnt und dass in diesem Bereich neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. ({5}) Die rot-grüne Bundesregierung wird dieses touristische Marktsegment weiter fördern. Für Bau, Betrieb und Unterhaltung der Wasserstraßen wenden wir jährlich über 1 Milliarde Euro auf. In der Erschließung historischer und romantischer Kanäle liegen weitere Möglichkeiten. Ein gutes Beispiel dafür ist der Finowkanal nordöstlich von Berlin, der gemeinsam mit dem Land Brandenburg für den Wassersport erschlossen wird. Die zunehmende Nutzung unserer Wasserstraßen erfordert allerdings auch angemessene Regelungen. Ohne Regeln geht es nicht; zu viele allderdings behindern die wirtschaftliche Entwicklung. An dieser Stelle möchte ich als Beispiel dafür, dass wir bereits Regelungen verändert bzw. gestrichen haben, den so genannten Charterschein nennen, den die Bundesregierung im Jahr 2000 - zunächst als Feldversuch - eingeführt hat. Der Bundesverkehrsminister hat im April dieses Jahres den ersten Ergebnisbericht vorgelegt. Aus diesem ist eine Verordnung hervorgegangen, die gestern im Verkehrsausschuss beschlossen wurde. Es steht fest, dass sich der Charterschein bewährt hat. ({6}) Somit ist die Befristung aufgehoben und die Ausdehnung auf geeignete, weitere Wasserstraßen im Osten unseres Landes vorgenommen worden. Auch an den bisherigen Regelungen betreffend die Personenzahl und die Länge eines Bootes haben wir Korrekturen vorgenommen. Dies ist ein Zeichen gerade für den Osten unseres Landes, wo es sehr viele Wasserstraßen gibt. ({7}) Die Erfordernisse der Sicherheit werden dabei weiter beachtet. Wir haben die entsprechenden Regelungen erweitert: Im Bereich der Schleusen und des Begegnungsverkehrs gelten neue Kriterien. Wie vielfältig die Urlaubsform „Wassertourismus“ ist, verdeutlicht die Grundlagenuntersuchung zum Wassertourismus, die das Wirtschafts- und Arbeitsministerium in Auftrag gegeben hat und deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Neben dem Wassertourismus im engeren Sinne, zu dem Wasserwandern, Kanutourismus, Segeln, Motorbootfahren, Surfen, Wasserski, Tauchen sowie Angeln und Fischen gehören, gibt es den Wassertourismus im weiteren Sinne, der alle Aktivitäten am Wasser wie beispielsweise Strand- und Campingtourismus sowie Ruderbootverleihe umfasst. Maritime Großveranstaltungen, Werftbesichtigungen und Schifffahrtsmuseen werden in der Untersuchung als „mit dem Wassertourismus verbundene Segmente“ bezeichnet. Gerade die Großveranstaltungen, wie wir sie von der Küste her kennen, haben Magnetwirkung. Der ganze Bereich der Fahrgastschifffahrt, von der Kreuzfahrtschifffahrt über die Flussschifffahrt bis hin zu der Fährschifffahrt, ist ein sehr wichtiges Segment für Nord- und Ostsee, Herr Kollege Klimke. Schon im Jahr 1998 gab es tourismuspolitische Kontakte betreffend den Ostseeraum. 1999 gab es die ersten Modellprojekte. Sie sollten fairerweise zugeben, dass auch das im tourismuspolitischen Bericht enthalten ist. ({8}) Lassen Sie mich die Forderungen zum Wassertourismus nennen, die sich aus dem Bericht ergeben. Landesweite Entwicklungskonzepte gibt es leider nicht in allen, sondern nur in einigen Bundesländern. Wir haben uns auch mit Regelwerken auseinander zu setzen, die keinem ausländischen Gast verständlich zu machen sind. So ist es einem ausländischen Gast kaum zu vermitteln, dass sein Angelschein nur für die Gewässer eines Bundeslandes gilt und dass er einen Gesetzesverstoß begeht, wenn er die Grenze zu einem anderen Bundesland überschreitet und dort angelt. ({9}) Nach der öffentlichen Anhörung werden wir an diesem Wochenende in Cuxhaven eine Veranstaltung mit ausländischen Gästen durchführen; denn bei diesem Thema können wir von England, Irland, den Niederlanden und Frankreich lernen. Ich möchte gerne noch ein paar abschließende Sätze sagen. Verkehrspolitik und Tourismuspolitik - Herr Hinsken hat in seiner Art schon darauf hingewiesen haben sehr viel miteinander zu tun. Erstens. Wir sollten ganz deutlich darstellen, dass die Sicherheit der Busse auch nach den Unglücken, mit denen wir leider leben müssen, weiterhin große Priorität hat. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Bundesländern gehandelt. Dort, wo es notwendig ist, werden wir die entsprechenden Regelungen ändern. Die Sicherheit unserer Gäste in den Bussen zu gewährleisten bleibt weiterhin ein vorrangiges Ziel. Zweitens. Es gibt zum ersten Mal einen nationalen Radwegeplan. Für seine konsequente Umsetzung haben wir im Haushalt des Bundesverkehrsministeriums jeweils 2 Millionen Euro über drei Jahre eingestellt. Wir haben auch eine personelle Verstärkung gefordert. Herr Hinsken, Verkehr und Tourismus bedeuten nicht ausschließlich Auto und Tourismus. Es gibt auch viele andere Verkehrsmittel. ({10}) Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Gäste sowie unsere Bürgerinnen und Bürger das Verkehrsmittel nutzen können, das sie gerne nutzen möchten. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Wilhelm Josef Sebastian, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung und die heutige Debatte zeigen uns die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus in unserem Land. Aber es ist auch zu konstatieren, dass sich Dinge verändert haben, nicht nur durch den 11. September 2001, sondern auch durch die wirtschaftliche Lage in unserem Land. Aber es heißt ja so schön: Jede Krise bietet auch eine Chance. - Viele Menschen in unserem Land haben nun entdeckt, wie schön Deutschland wieder ist oder auch immer gewesen ist. Urlaub im eigenen Land hat große Vorzüge. Als ich die Ausführungen von Frau Irber eben gehört habe, fiel mir ein Lied ein, das vor Jahren ein großer Schlager war - ich singe es Ihnen einmal vor -: ({0}) „Wann wirds mal wieder richtig Sommer?“ ({1}) Eine Zeile hieß: „Denn schuld daran ist nur die SPD!“ ({2}) Als ich Ihnen eben gelauscht habe, habe ich gedacht, Sie hätten sagen wollen, der schöne Sommer dieses Jahres sei allein der SPD zu verdanken. ({3}) Nein, so ist das wirklich nicht. Der großartige Sommer, den wir gemeinsam erlebt haben, hat vielen Menschen einfach Anlass gegeben, zu Hause zu bleiben oder Urlaub im eigenen Land zu machen. Nordsee, Ostsee, Bayerischer Wald, Eifel, Erzgebirge, unzählige Urlaubsziele in unserem Land haben besonderen Reiz. Die Bedürfnisse der Menschen sind natürlich anders geworden. Viele Junge fahren immer noch in den Süden, wollen da sein, wo etwas los ist. Aber Ältere - dazu zähle ich mich auch schon ({4}) haben mehr das Bedürfnis, geruhsame Tage zu erleben, gut zu essen, guten Wein zu trinken. Das ist in unserem Land ganz hervorragend möglich. Wir reden seit einigen Wochen über die Strukturveränderungen im Gesundheitswesen. Dabei spielt Tourismus für mich auch eine Rolle; ({5}) denn in unserem Land gibt es hervorragende Heilbäder und Kurorte, die die Menschen dazu einladen, etwas für ihre Gesundheit zu tun. Wir wissen, dass wir zukünftig selbst sehr viel mehr Vorsorge für unsere Gesundheit treffen müssen und auch mit höheren Eigenanteilen rechnen müssen. Das verändert natürlich auch die Landschaft der Kurorte und Heilbäder. Die Heilbäder allein sind in der Kürze der Zeit nicht in der Lage, die sich verändernden Anforderungen zu erfüllen. Hinzu kommt - Ernst Hinsken hat es angesprochen -, dass es durch die EUErweiterung einen stärkeren Wettbewerb gibt. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass er unter gleichen Bedingungen stattfindet, ({6}) dass es nicht zu Verschiebungen kommt, ({7}) dass nicht in anderen Ländern, in denen andere Standards gelten, Leistungen mit unseren Mitteln gleich honoriert werden. ({8}) Ein wichtiger Bestandteil des Tourismus - darauf hat eben schon die Kollegin Faße hingewiesen - ist der Wassertourismus in Deutschland. Ich will kurz darauf eingehen, weil wir bereits im Mai einen Antrag zum Wassertourismus in Deutschland eingebracht haben. Heute steht der Antrag der Kollegen der FDP auf der Tagesordnung. Das Thema ist zeitgemäß. Nicht umsonst steht das Motto „Faszination Wasser“ im kommenden Jahr im Zentrum der Aktivitäten der Tourismusverbände. Es ist unser Anliegen, auf die Bedeutung dieses äußerst breit gefächerten touristischen Segments aufmerksam zu machen, um den Wassertourismus in Deutschland zu einem noch höheren Stellenwert zu verhelfen. Wenn man bedenkt, dass es in Europa 40 000 Kilometer Wasserwege gibt, davon allein 10 000 Kilometer in Deutschland, dann erkennt man: Das ist eine große Chance. Aber es muss zu mehr Gemeinsamkeiten kommen. Vor nicht allzu langer Zeit hat die zuständige Bund-Länder-Kommission eine einheitliche Beschilderung gefordert. Minister Clement hat heute Morgen gesagt, dass man auf dem Weg ist, die so genannte Gelbe Welle einzuführen. Hier ist gesagt worden, dass für eine einheitliche Beschilderung in der Bundesrepublik 340 000 Euro notwendig sind. Das ist, gemessen an den Gesamtausgaben, ein minimaler Betrag. Jeder in den Tourismus investierte Euro bringt das Doppelte und Dreifache an Wirtschaftswachstum mit sich. Es ist immer ein gut angelegter Euro - bei aller Knappheit, die wir haben. Wassersport lässt sich vielfältig beschreiben. Eben ist gesagt worden, mit welchen Dingen er zu tun hat. Es geht aber nicht nur um die, die den Wassersport ausüben, sondern auch um die, die sozusagen begleitend tätig sind. Die Gastronomie und viele andere, beginnend vom Bootsbauer bis hin zum Reiseveranstalter, partizipieren daran. Ich kann ebenso erfreut feststellen, dass sich der Deutsche Industrie- und Handelstag dieser Dinge angenommen hat. Er fordert eine moderne Infrastruktur am Wasser, kreative Wassersportangebote und vor allen Dingen ein professionelles Marketing. Diese Dinge müssen wir gemeinsam verbessern; denn - man schaue auf unsere Nachbarn! - die Konkurrenz ist groß. Ich komme zum Schluss. Wir sollten nicht nur reden, sondern auch handeln. Gerade die Regierung hat in der Vergangenheit oftmals zu wenig gehandelt. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion, das Wort.

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich beschäftige mich hier mit dem Antrag der CDU/CSU zur Ferienregelung. Diese Regelung - sie ist von der Kultusministerkonferenz schon 1999 beschlossen worden - hat uns in diesem Jahr in den Urlaubsregionen in Deutschland erstmals zu schaffen gemacht. Im Antrag der CDU/CSU wird ein Problem beschrieben. Ich unterstreiche gerne: Die CDU/CSU wird hier, in diesem Haus, breite Unterstützung finden. ({0}) Das ist auch kein Wunder, Herr Hinsken, weil die in diesem Antrag enthaltene Problembeschreibung weitestgehend abgeschrieben worden ist. Die SPD-Fraktion im Bundestag hat anlässlich der ITB, die in diesem Jahr im März in Berlin stattgefunden hat, das Thema Ferienregelung auf die Tagesordnung gesetzt. ({1}) Sie hat dieses Problem im Verbund mit den Tourismusverbänden in Deutschland lange vor Ihnen behandelt. Außerdem hat sie ihre engen Kontakte zu den Ländern - es war ein Kultusministerbeschluss; also waren die Länder diejenigen, die erfolgreich handeln konnten - genutzt, um etwas voranzubringen. ({2}) - Sehr geehrter Herr Hinsken, wenn Sie „Wir wollen das auch!“ sagen, dann darf ich Sie daran erinnern, dass ich schon am 4. Juni, als wir dieses Thema im Ausschuss für Tourismus behandelt haben, an Sie appelliert habe, sich in den verbleibenden drei Wochen bei den Ministerpräsidenten der Länder des Südens - das Problem liegt bei Bayern und Baden-Württemberg - dafür einzusetzen, dass sie sich gegen die Kultusminister durchsetzen und den Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz vom 14./15. Mai dieses Jahres umsetzen. ({3}) Das haben Sie offenbar entweder versäumt oder Sie waren bei den Ministerpräsidenten, denen Sie politisch nahe stehen, nicht erfolgreich. ({4}) Am 26. Juni hat die Ministerpräsidentenkonferenz letzten Endes einen Beschluss gefasst, der eindeutig in die richtige Richtung geht, auch wenn er keine Maximallösung ist. Die Forderung der Wirtschaftsministerkonferenz ist mit der des Antrags der CDU/CSU-Fraktion absolut identisch. Leider ist es so, dass Sie sich aufgrund der mangelnden Unterstützung der CDU- oder CSUregierten Länder nicht durchsetzen konnten. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin Hagedorn, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich insbesondere der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber nachhaltig für eine neue Ferienregelung verwandt hat? Sind Sie zudem bereit, uns bei einem neuen Anlauf, die Ferienregelung auf mindestens 90 Tage auszuweiten, zu unterstützen? ({0})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, die Federführung in der Wirtschaftsministerkonferenz - ihr lag ein Antrag vor, der mit dem, den Ihre Fraktion hier vorgelegt hat, identisch ist - hatte der schleswig-holsteinische Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, Bernd Rohwer. Die Wirtschaftsministerkonferenz ist dieser Vorlage auch gefolgt, die Ministerpräsidentenkonferenz leider eben nicht. Ich habe hier das Ergebnisprotokoll der Besprechung der Regierungschefs der Länder am 26. Juni 2003 in Berlin. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es dort heißt: Die Regierungschefs der Länder nehmen den modifizierten Vorschlag der Kultusministerkonferenz vom 12. Juni 2003 zur Regelung der Sommerferientermine zustimmend zur Kenntnis. Protokollerklärung der Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern: - ich muss an dieser Stelle nicht erwähnen, von wem diese Länder regiert werden ({0}) Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern unterstützen die von der Wirtschaftsministerkonferenz mit Beschluss vom 14./15.05.2003 vorgeschlagene Neuregelung der Sommerferientermine. Sie sehen, hierfür gibt es eine breite Koalition. ({1}) - Es wäre schön, wenn ich jetzt weitersprechen dürfte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie dürfen.

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ungeachtet der Tatsache, dass Frau Irber schon zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es ausgesprochen positive Anzeichen für eine Verbesserung der Situation bei den Übernachtungszahlen gibt - das Sommerhoch „Michaela“ hat sicherlich ein Stück weit dazu beigetragen -, muss, um die ganze Wahrheit darzustellen, selbstverständlich auch gesagt werden, dass die Sommerferienregelung, die 1999 beschlossen worden ist, negative Auswirkungen gehabt hat, die wir dieses Jahr zum ersten Mal gespürt haben. Die Zahlen von 2003 hätten nämlich noch besser sein können. Das soll nicht unerwähnt bleiben. Auf der Basis der Zahlen von Schleswig-Holstein - die bundesweiten Zahlen liegen mir noch nicht vor kann ich feststellen, dass es in den Monaten von Januar bis Juli ein deutliches Minus von 5 bis 8 Prozent an Übernachtungen in Pensionen, Ferienwohnungen und Jugendherbergen gegeben hat. Man könnte auch andere Einrichtungen betrachten; ich habe aber diese Unterbringungsmöglichkeiten zum Beleg herangezogen, weil sie unter anderem für Familien besonders interessant sind. Das Minus bei den Übernachtungszahlen in diesem Zeitraum hängt natürlich mit der Ferienregelung zusammen, weil sich ja erst Ende Juli 41 Millionen Einwohner Baden-Württembergs, Bayerns und Nordrhein-Westfalens fast gleichzeitig auf den Weg in die Ferien begeben konnten. Das hat zu dramatischen Engpässen in unseren Ferienregionen, auch in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, geführt und stellte natürlich auch ein Ärgernis für die betroffenen Urlauberinnen und Urlauber dar. Ich würde mich freuen, wenn die Länderchefs, die in den südlichen Ländern Verantwortung tragen, einen Beitrag zu einer weiteren Optimierung der Sommerferienregelung leisten würden. ({0}) Tatsache ist aber auch, dass das Supersommerwetter im August die Gesamtstatistik noch einmal deutlich verbessern wird. Bei den Übernachtungsformen, die ich gerade angesprochen habe, verzeichnen wir in Schleswig-Holstein für diesen Zeitraum teilweise ein Plus von bis zu 18 Prozent. Zu Ihrem Antrag ist schließlich noch zu sagen: Das Urheberrecht, die Probleme richtig erkannt zu haben, die Sie in Ihrem Antrag darstellen, können Sie nicht für sich beanspruchen ({1}) und die Lösungsvorschläge, die Sie dazu machen, sind völlig kontraproduktiv. Wir können unter anderem deshalb Ihrem Antrag nicht zustimmen, weil darin gefordert wird, dass sich der Bund in eine Sache einmischt, für die die Zuständigkeit allein bei den Ländern liegt. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wir haben gerade vor einer Woche gemeinsam eine Kommission ins Leben gerufen, die die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern parteiübergreifend und im Dialog zwischen Bund und Ländern neu definieren soll. Da können wir ja gemeinsam über diese Dinge diskutieren. Aber sich jetzt von Bundesseite, wie Sie es wünschen, in eine Länderangelegenheit einzumischen, ist sicherlich nicht der richtige Weg. Ein solches Vorgehen würde von den Ländern mit Sicherheit auch nicht begrüßt werden. Darüber hinaus regen Sie an, dass Vertreter der Tourismuswirtschaft in Zukunft bei Beschlüssen der Kultusminister ein Wörtchen mitreden sollen. Damit würden wir ein völlig systemfremdes Element einführen. ({2}) Das ist auch nicht nötig, weil die Ministerpräsidentenkonferenz auf Vorschlag von Frau Simonis bereits am 27. März dieses Jahres beschlossen hat, dass die Kultusministerkonferenz nur im Einvernehmen mit der Wirtschaftsministerkonferenz eine neue Beschlusslage herbeiführen soll. ({3}) - Das ist richtig; das ist gut so. Dabei handelte es sich aber um eine Initiative von Frau Simonis und nicht um eine, die von Ihrer Seite ausgegangen ist. ({4}) Vor diesem Hintergrund - ich muss zum Schluss kommen - möchte ich noch eines sagen: Sie werden mit Sicherheit, wenn es um eine weitere Optimierung geht, die SPD-Fraktion, die Tourismusverbände und insbesondere auch die Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern an Ihrer Seite haben. ({5}) - Es wäre schön, wenn Sie mich ausreden lassen würden. - Der Kompromiss, den jetzt die Ministerpräsidenten erreicht haben, wird ja für eine deutliche Verbesserung der Terminierung der Ferienzeiten sorgen. Das bedeutet bei 1,05 Millionen Übernachtungen und einem Durchschnittspreis von 69 Euro pro Ferientag ein Plus für die Tourismuswirtschaft von 385 Millionen Euro, das ab 2005, wenn die neue Ferienregelung greift, zu erzielen sein wird. Es wäre allerdings viel besser gewesen, wenn sich die Wirtschaftsminister der Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern durchgesetzt hätten. Dann wäre es nämlich zu einer Ferienregelung gekommen, die in den nächsten Jahren bis 2010 im Durchschnitt für sieben weitere Ferientage gesorgt hätte. Das hätte zu einem weiteren Plus von 420 Millionen Euro pro Jahr aufseiten der Tourismuswirtschaft geführt. Sie sehen: Wir werden mitarbeiten, die von Herrn Burgbacher hier genannten hausgemachten Hemmnisse, die es in Deutschland gibt, zu beseitigen. ({6}) Der von Ihnen so gerne erzeugte Eindruck, dass für diese Hemmnisse immer die SPD-geführte Bundesregierung zuständig ist, ({7}) ist von mir an dieser Stelle widerlegt worden. Wie so häufig gilt: Der Knüppel liegt bei den Ländern des Südens. ({8}) Es wäre schön, wenn Sie Ihren Einfluss geltend machen würden, an dieser Stelle für Bewegung zu sorgen. Danke. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Klaus Brähmig, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung und dankt ausdrücklich den Mitarbeitern des Tourismusreferats im Superministerium für Wirtschaft und Arbeit. Dieser Bericht ist eine wichtige Grundlage für die Diskussion über die richtigen Strategien, die notwendig sind, Deutschland als Tourismusstandort zu stärken. Bisher wird unser Land in der Öffentlichkeit meist nur als Industriestandort wahrgenommen. Diese einseitige Sichtweise ist aber angesichts der beeindruckenden Umsatz- und Beschäftigungszahlen im Tourismusbereich nicht gerechtfertigt. ({0}) Die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben darauf schon hingewiesen. So steht Deutschland im internationalen Reiseverkehr bei den Gästeankünften immerhin auf Platz 10. Wie wir diese Position halten und sogar verbessern können ist Inhalt der heutigen Debatte. Grundsätzlich mangelt es dem vorgelegten Bericht aber an Strategien für die Zukunft; er ist fast ausschließlich rückwärts gewandt. Der Teil, der die Ziele und die Instrumente der Tourismuspolitik der Bundesregierung darstellen soll, ist mit nicht einmal einer halben Seite nun wirklich sehr knapp, wenig wegweisend und nicht sehr konkret. ({1}) Zusätzlich werden ernsthafte Probleme der Tourismusbranche wie etwa die Wettbewerbsverzerrung durch unterschiedliche Mehrwertsteuersätze im Gastgewerbe innerhalb der EU, die Ökosteuer oder die Probleme bei der Nutzung von Urheberrechten totgeschwiegen. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt deshalb grundsätzlich die jährliche Vorlage des Tourismusberichts vor, der neben einer reinen Marktbeschreibung auch Zukunftsperspektiven und Handlungsempfehlungen aufzeigen sollte. Ich nenne zum Beispiel die Probleme bezüglich der Demographie, Entwicklung der Kaufkraft, Reiseverhalten, neue Trends und anderes mehr. In Verbindung mit fundiertem und umfassendem Zahlenmaterial - ich nenne zum Beispiel das OSGV-Tourismusbarometer - könnte der Bericht als grundlegende Planungshilfe für die gesamte Branche dienen. Die Bundesregierung widmet sich auch anderen Bereichen mit jährlichen Berichten. So gibt es den Waldzustandsbericht, den Migrationsbericht, den Agrarbericht und einen Strahlenbelastungsbericht. Warum soll es nicht einen jährlichen Tourismusbericht geben? Leider wird dem Tourismus vonseiten der Bundesregierung nicht die Bedeutung beigemessen, die ihm eigentlich zukommen müsste. Sehr geehrter Herr Minister Clement, Sie haben in Ihrer Rede das Ruhrgebiet erwähnt. Ich bin der festen Überzeugung: Gerade Rhein und Ruhr sind touristisch noch sehr unterentwickelt. Dort gibt es riesige Potenziale. Wie in den letzten 20 Jahren der Strukturwandel gerade im Bereich von Tourismus und Dienstleistung vollzogen wurde, ist schon sehr respektabel. Im Rahmen der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass es in Frankreich wie in vielen anderen Ländern einen Staatssekretär für Tourismus gibt. Da der Tourismus in Deutschland etwa denselben Anteil am Bruttoinlandsprodukt wie in Frankreich hat, bleiben wir bei unserer Forderung, dass es auch in Ihrem Hause einen Staatssekretär geben sollte, der sich hauptsächlich dem Tourismus widmet. ({2}) Mit der Koordination tourismuspolitischer Fragestellungen in den Bundesressorts und der Verbesserung der Kommunikation mit den zuständigen Ressorts in den Bundesländern dürfte ein Staatssekretär ausreichend ausgelastet sein. In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden, dass auch das Fachreferat Tourismus im Bundeswirtschaftsministerium logistisch und personell zu schlecht aufgestellt ist. Durch die Zusammenlegung der Ressorts Wirtschaft und Arbeit ist die Bedeutung dieses Referats noch weiter geschrumpft. Aus diesem Grund fordert die CDU/CSU eine deutliche Stärkung der Stellung des Tourismusreferats innerhalb dieses Bundesministeriums. ({3}) Eine der volkswirtschaftlich wichtigsten Branchen muss auch von einem schlagkräftigen Team betreut werden. Herr Clement, Sie empfinden zwar durchaus Sympathie für den Tourismus, doch weder Sie noch Ihr Vorgänger haben sich mehr als einmal im Jahr im zuständigen Ausschuss blicken lassen. Diese Aussage sollten Sie auch als Einladung auffassen. Wie wichtig es für die Tourismusbranche wäre, dass beim Bund eine zentrale Anlaufstelle zur Koordinierung der Tourismuspolitik installiert würde, zeigt sich am Beispiel der Sommerferienregelung. Ich habe gestern den Vorschlag gemacht, eine weitere Anhörung der betroffenen Branche zu diesem Thema durchzuführen und gemeinsam mit den Ländern nach weiteren Lösungen zu suchen. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen dazu ein. Das Statistische Bundesamt meldet für den Juli 2003 gegenüber dem Vorjahresmonat - da gab es noch keinen Einfluss des Hochwassers; dieser kam erst im August - einen deutlichen Rückgang bei den Übernachtungszahlen, und zwar um insgesamt 4 Prozent auf - in Euro ausgedrückt 40 Millionen Euro. Diese Entwicklung beruht ausschließlich auf der sinkenden Zahl von Übernachtungen inländischer Gäste. Zu Recht hat der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband darauf hingewiesen, dass das unter anderem die katastrophalen Folgen der neuen Ferienregelung sind. Wegen der Verkürzung des Sommerferienzeitraums auf 75 Tage durch die Kultusministerkonferenz konnten in der ersten Hälfte des Monats Juli wesentlich weniger Bundesbürger in Urlaub fahren. ({4}) Ein Teil der Betten hat daher leer gestanden. Im August gab es dank des Jahrhundertsommers einen großen Ansturm auf deutsche Reiseziele: Die Zimmer hätten doppelt oder dreifach vergeben werden können. Mit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom Juni 2003 zu einer Neufeststellung der Ferienregelung von 2005 bis 2010 sind die Probleme aus Sicht der CDU/CSU und der Tourismuswirtschaft noch immer nicht befriedigend gelöst. Zu dem von der CDU/CSU geforderten Gesamtferienzeitraum von 90 Tagen gibt es keine Alternative. ({5}) Die Bundesregierung muss koordinierend tätig werden, wenn auch - das ist uns klar - in vielen Fragen die Zuständigkeit bei den Bundesländern liegt. In der Tourismuspolitik beobachten wir seit einigen Jahren ein Phänomen, das wir auch aus anderen Politikbereichen kennen: Hinweise auf sich abzeichnende Probleme und Meldungen über eine negative Entwicklung quittiert die rot-grüne Bundesregierung mit der Argumentation, die Opposition rede unser Land schlecht und betreibe Panikmache. ({6}) Tatsache ist aber, dass Hotels, Gaststätten, Reisebüros und Reiseveranstalter gegenwärtig unter der allgemeinen Konsumzurückhaltung, der weit verbreiteten Angst um die Arbeitsplätze sowie steigenden Steuern und Abgaben leiden. ({7}) Die kurzatmigen Reformversuche der Bundesregierung, die ohne übergreifendes Konzept eine Notfalllösung nach der anderen produziert, verunsichern die Bevölkerung zusätzlich. Die Folgen: Es wird weniger gereist und viel weniger ausgegeben. ({8}) Die nur leicht rückgängigen Übernachtungszahlen zeigen aber noch lange nicht den dramatischen Ernst der Lage. ({9}) Die Umsatzeinbrüche führen zu Entlassungen, Betriebsauflösungen in der Tourismuswirtschaft, im Einzelhandel und auch im Handwerk sowie im Dienstleistungssektor. ({10}) Im Moment steht pro Tag 1 Million Betten leer, wie der DEHOGA neulich anmerkte. Es geht aber nicht nur darum, dass die Betten belegt werden, sondern wichtig ist auch, von wem und zu welchem Preis sie belegt werden. Das gilt nicht nur für das Hotel oder die Pension, sondern für die gesamten Dienstleistungs- und Einzelhandelsunternehmen in einer Stadt oder Region. So sind etwa ausländische Gäste, Geschäftsreisende oder Messeund Kongressbesucher besonders ausgabefreudig und haben mehr Kaufkraft als andere. ({11}) Meine Damen und Herren, um diese Potenziale wirksam auszuschöpfen, gibt es die Deutsche Zentrale für Tourismus, die - mit Unterstützung des Bundes - im Ausland für Reisen nach Deutschland wirbt. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, sehr geehrte Frau Kollegin Irber, dass falsche Sachverhalte auch dann nicht richtig werden, wenn man sie ständig wiederholt. ({12}) Während wichtige Konkurrenzländer ihre öffentlichen Ausgaben für touristische Vermarktung massiv erhöhen, bleibt der Mittelansatz im Bundeshaushalt 2004 für die DZT mit einer Erhöhung um 1 Million Euro auf 24,5 Millionen Euro vergleichsweise sehr gering. ({13}) Spanien zum Beispiel investiert in die nationale Tourismuswerbung fast viermal so viel öffentliche Mittel wie Deutschland, Großbritannien fast dreimal so viel und selbst das kleine Österreich fast doppelt so viel. Beim Vergleich der Pro-Kopf-Ausgaben für die öffentliche Förderung des Auslandsmarketings bildet Deutschland innerhalb der Europäischen Union sogar mit Abstand das Schlusslicht. Den Glauben an die Macht des Marketings hat die rot-grüne Bundesregierung schon, aber nur dann, wenn es um die eigenen Interessen geht. ({14}) Für ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit will sich die Bundesregierung für 2004 einen satten Zuwachs, von 78 Millionen Euro auf 88 Millionen Euro, genehmigen - Selbstbedienung vom Feinsten. ({15}) In diesem Zusammenhang lehne ich auch einen Subventionsabbau nach Rasenmähermethode, wie im Koch/ Steinbrück-Papier vorgeschlagen, ab. ({16}) Bei den DZT-Mitteln handelt es sich nicht um eine künstliche Maßnahme zur Lebensverlängerung eines nicht wettbewerbsfähigen Industriezweiges, sondern um Investitionen in eine Zukunftsbranche, die vor allem dem Mittelstand in Deutschland zugute kommen. ({17}) Neben den positiven wirtschaftlichen Effekten ist eine intensivere Werbung für den Tourismusstandort Deutschland grundsätzlich auch eine verbesserte Imagewerbung, die Deutschland insgesamt als Wirtschafts-, Wissenschafts-, Kultur- und Verkehrsstandort sichert und stärkt. ({18}) Mehr Werbung für den Tourismusstandort Deutschland ist auch deswegen wichtig, weil der Tourismus eine besonders arbeitsplatzintensive Branche mit Beschäftigungspotenzialen auch für gering qualifizierte Arbeitnehmer ist. Der große Vorteil ist: Diese Arbeitsplätze sind nicht exportierbar. Produziert werden müssen diese Dienstleistung und der Service an Ort und Stelle, also hier in Deutschland. Sehr geehrter Herr Minister Clement, wenn Sie die Jobmaschine Tourismus wieder flottmachen wollen, müssen Sie als Wirtschaftsminister endlich das Steuer herumreißen. Wir brauchen eine Aufbruchstimmung sowie klare Signale für mehr Wachstum und Beschäftigung statt eines kleinkarierten Stopfens von Haushaltslöchern ohne übergreifendes Konzept. Die Tourismusbranche wird zu den ersten Gewinnern in unserem Land gehören, wenn die Verunsicherung der Verbraucher und die Angst um den Arbeitsplatz von hoffnungsvolleren Zukunftsaussichten abgelöst werden. ({19}) Meine Damen und Herren, es gibt keine rechte oder linke Tourismuspolitik, sondern nur eine gute oder schlechte Politik. Es gibt in unserem Land viel zu tun. Lassen Sie uns dies gemeinsam anpacken! ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/1303, 15/1329 und 15/1595 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1799 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 15/1303 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 3 d, Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus, Drucksache 15/1286, zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Schaffung einer familienfreundlichen, verkehrsentlastenden und wirtschaftsfördernden Ferienregelung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/934 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({0}), Dr. Christian Ruck, Christa Reichard ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Verantwortung für die Sicherung der Welternährung übernehmen - Chancen der grünen Gentechnik nutzen - Drucksache 15/1216 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Peter Carstensen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({3})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Erst einmal auch von mir nachträglich herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich habe Ihnen kein Geschenk mitgebracht. Aber ich bin gestern extra zum Friseur gegangen, weil ich Ihnen ordentlich gegenübertreten wollte. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Planungssicherheit ist in der Politik ein hoher Wert. Die Bundesregierung ist von Planungssicherheit weit entfernt. ({1}) Die Halbwertszeit einiger Beschlüsse - ob das in der Sozial-, in der Renten-, aber auch in der Agrarpolitik ist wird immer geringer. Nur in einem Bereich kann man sich darauf verlassen, dass die Feindbilder gleich bleiben: in der Agrarpolitik. ({2}) Eines der größten Feindbilder der Regierungskoalition ist die grüne Gentechnik. Wer eine Zukunftstechnologie, wie es die Biotechnologie ist, derart ideologisch und mit Vorurteilen behandelt, wie es die Bundesregierung tut, macht sich doppelt schuldig. ({3}) Zum einen werden Investitionen zurückgehalten und zum anderen werden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten nicht mehr von deutschen Wissenschaftlern und Studenten an den heimischen Universitäten durchgeführt. Diese wandern vielmehr ins Ausland ab. Peter H. Carstensen ({4}) Die Bundesregierung wird damit nicht nur ihrer nationalen Verantwortung nicht gerecht, sondern verhält sich, auch global betrachtet, verantwortungslos. Die Gentechnik ist eine der Schlüsseltechnologien der Zukunft und wird helfen, die Welternährung im 21. Jahrhundert zu sichern. Dies ist im Übrigen nicht nur meine private Einschätzung, sondern auch die Auffassung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen. ({5}) Fatal und makaber an der momentanen Politik sind zwei Dinge: Zum Ersten werden die Auswirkungen nicht heute, sondern erst übermorgen sichtbar, wenn uns die Entwicklung der Weltbevölkerung dazu zwingen wird, die Erträge pro Hektar auf ein Vielfaches des heutigen Niveaus zu steigern. Zum Zweiten werden die Leidtragenden einer falschen Weichenstellung von heute nicht die Länder der Weichensteller wie die satte Bundesrepublik sein, sondern die Länder Afrikas und Südostasiens. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich gefragt, wie Menschen, die in der Verantwortung stehen, gegen gute Argumente so resistent sein können. Wenn die besseren Argumente seit 1998 immer wieder von der Opposition kommen, ({6}) dann kann ich es ja begreifen, wenn eine Regierung sie nicht zur Kenntnis nimmt. Aber ich habe kein Verständnis für die Taubheit, wenn die gleichen Argumente aus den Reihen von Wissenschaftlern an die Regierung herangetragen werden und sie trotzdem nicht zur Kenntnis genommen werden. ({7}) Vonseiten der Grünen und von Teilen der SPD - ich sage ganz bewusst: von Teilen der SPD - wird immer wieder gern behauptet, wir würden das Argument der Sicherung der Welternährung nur instrumentalisieren, um unsere Vorstellungen in den Gesetzgebungsverfahren durchzudrücken. ({8}) Dazu kann ich nur sagen: Das stimmt. - Aber wenn wir dieses Argument nicht einmal mehr vorbringen dürfen und über grüne Gentechnik nicht gesprochen werden darf, lieber Kollege Weisheit, obwohl 820 Millionen Menschen auf dieser Erde hungern, dann ist dies ein trauriges Faktum. ({9}) Für die Union ist die grüne Gentechnik ein zentrales Instrument, um die Ernährung der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert sicherzustellen. ({10}) - Engstirnig? Also sind diejenigen, die sich öffnen, engstirnig, während diejenigen, die von Ideologie behaftet sind, offen sind. Liebe Frau Kollegin Wolff, Sie sind ganz schön weit von der Wirklichkeit entfernt. ({11}) Ich wiederhole: Für die Union ist die grüne Gentechnik ein zentrales Instrument, um die Ernährung der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert sicherzustellen. ({12}) Aber bitte unterstellen Sie uns nicht, dass wir die Komplexität des Hungers nicht verstünden und davon überzeugt wären, dass die grüne Gentechnik das einzige Instrument zur Lösung des Hungerproblems ist. Spätestens seit der grünen Revolution in Asien wissen wir aber, dass die Weitergabe von Wissen und Technologie ein sehr wirksamer Ansatzpunkt ist, mit dem der gordische Knoten des Hungers zerschlagen werden kann. Die grüne Revolution ist vor allem durch die Entwicklung ertragreicher Reissorten vorangetrieben worden. Wir müssen uns darauf einstellen, dass im Jahre 2020 zwischen 7 und 8 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden. Diese Bevölkerung ausreichend mit Nahrung, Wasser, Gesundheitsdiensten, Bildung und Arbeit zu versorgen ist die größte globale Herausforderung der kommenden Jahre. Dieser Herausforderung werden Sie nicht mit Flächenstilllegung und Extensivierung gerecht, sondern dadurch, dass wir auf den begrenzten Flächen die Produktion um 60 Prozent erhöhen. Meine Damen und Herren, die Frage ist erlaubt, welche Probleme die Gentechnik mit sich bringen kann. Seit zehn Jahren wird sie angewandt und wir machen den Menschen immer noch vor, dass es bei uns überall von Gentechnik freie Nahrung gäbe. Wir haben bei uns einen weißen Kreis. Aber diejenigen, die Verantwortung übernehmen wollen, dürfen sich nicht nur fragen, was passieren wird, wenn Gentechnik eingesetzt wird, sondern sie müssen sich genauso fragen, welche Folgen es haben wird, wenn Gentechnik nicht eingesetzt wird. ({13}) Deswegen empfinde ich es schon als makaber, dass die Reichen und Satten dieser Welt denjenigen eine neue Technologie vorenthalten, die sie brauchen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Bundesministerin Renate Künast das Wort. ({0})

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach übereinstimmender Auffassung aller internationalen Hilfsorganisationen und der Vereinten Nationen sind die Hauptursachen für Hunger und Armut fehlender Zugang zu Ressourcen wie Land, Saatgut und dem LeBundesministerin Renate Künast bensmittel Nummer eins, Wasser, das Fehlen geeigneter Lager- und Transportbedingungen, unfaire Handelsbedingungen und eine unfaire Agrarpolitik sowie Krieg, Korruption und Misswirtschaft. ({0}) Man muss deshalb meines Erachtens sagen, dass 800 Millionen von Hunger bedrohte Menschen Folge eines tief greifenden Politikversagens sind. Ich freue mich deshalb, aus den Worten des Herrn Carstensen schließen zu können, dass auch er für eine Agrarwende innerhalb der EU ist. Na endlich, Herr Carstensen! ({1}) Wenn wir bei der Bekämpfung des Hungers erfolgreich sein wollen, müssen wir bei den konkreten Lebensund Arbeitsbedingungen der Menschen ansetzen. Wir stellen fest: Von den über 800 Millionen Menschen, die auf der Welt hungern, leben 70 Prozent im ländlichen Raum; das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: 70 Prozent der Hungernden leben dort, wo Mann und Frau normalerweise Lebensmittel produzieren. Das besonders Perfide daran ist, dass sie zu einem großen Teil sogar in der Landwirtschaft arbeiten. Aber sie arbeiten auf großen Plantagen zu extremen Hungerlöhnen, mit denen sie ihre Familien nicht ernähren können. Sie arbeiten meist auf Plantagen, die Futtermittel herstellen. Herr Carstensen, es sollte uns christlich Erzogenen eigentlich in der Seele wehtun, dass man in der Sojaproduktion zum Beispiel, statt das Produkt zu nutzen, um viele Menschen zu ernähren, das Prinzip umdreht und Soja dem Tierfutter beimischt. Statt mit dieser Menge Soja zehn oder 20 Menschen zu ernähren, landet das Fleisch später als kleines Steak auf unseren Tellern. Das tut mir in der Seele weh. ({2}) Das ist falsch organisiert, weil man die gleiche Menge Soja, statt sie durch das Tier zu schicken, nutzen könnte, um viel mehr Menschen zu ernähren. Für diese Menschen ist nicht die erste Sorge, wie sie jedes Jahr ohne Nachbaurecht das teure gentechnisch veränderte Saatgut kaufen können, sondern ihre Frage lautet: Wie kann ich hier und heute die Ernährung meiner Familie organisieren? ({3}) Wir wissen, dass die teure grüne Gentechnik für den kommerziellen Landbau entwickelt wurde und entsprechend designed ist. Deshalb ist die erste gentechnisch veränderte Pflanze Soja, Futtersoja. ({4}) Produktentwicklungen zur Bekämpfung des Hungers der Menschen standen nicht im Vordergrund. Sonst hätte als Erstes gentechnisch verändertes Maniok entwickelt werden müssen; denn das essen die Menschen zum Beispiel in Afrika. ({5}) Doch es ging nicht darum, Produkte im Interesse der Hungrigen zu entwickeln. Es ist mir ehrlich gesagt mittlerweile egal, wie oft Sie die ideologische Keule ins Feld führen. ({6}) Die Gentechnikfirmen haben Soja für das Tierfutter und nicht die Nahrungsmittel entwickelt, die die Menschen in den Regionen gewöhnt sind. ({7}) Sie sagen oft - das steht auch in vielen Werbebroschüren -, dass zum Beispiel Vitamin-A-haltiger Reis der große Retter in Hungergebieten sei, um mangelernährte Menschen vor Blindheit zu schützen. ({8}) Vandana Shiva, die alternative Novelpreisträgerin, hat die Sache klar auf den Punkt gebracht, als sie fragte: Wenn sich die Menschen in diesen Gebieten nicht einmal normalen Reis kaufen können, wie sollen sie sich eigentlich gentechnisch veränderten Reis als Saatgut kaufen können? Das ist eine logische Frage. ({9}) Er ist teurer, weil man das dazu passende Herbizid braucht ({10}) und weil die Menschen dort kein Nachbaurecht haben. ({11}) Sie dürfen den Samen nicht selber herstellen, sondern sind wegen der Patentrechte verpflichtet, jährlich neu zu kaufen. ({12}) Deshalb ist er teurer. ({13}) - Das ist nicht falsch. Die in dem von Ihnen so geschätzten Landwirtschaftsministerium tätigen Mitarbeiter haben es recherchiert; deshalb kann es nur richtig sein, Herr Carstensen. Sie selber sagen doch immer, ich soll auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hören. Das tue ich. ({14}) Wir wollen etwas anderes: Wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe und nicht neue finanzielle Abhängigkeiten. Deswegen haben wir und hat auch unsere Entwicklungshilfepolitik hier einen ganz anderen Ansatz. Ich will Ihnen sagen, wie das geht: So hat beispielsweise der brasilianische Staatspräsident Lula mit einem Aktionsplan zur Bekämpfung von Hunger angefangen. ({15}) Auch Sierra Leone hat damit angefangen. Wir meinen, dass nicht immer nur die Eliten in einem Land von Geld profitieren sollen, sondern dass Aktionspläne zur Bekämpfung von Hunger tatsächlich ein zwingender Bestandteil von Good Governance werden sollen. Deshalb gibt es jetzt zum Beispiel in Sierra Leone mithilfe der GTZ entsprechende Projekte. Dabei geht es darum, das regionale Saatgut der Menschen zu sichern und sie im Kampf gegen Hunger zu unterstützen. Ich meine - das muss ich an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU sagen -, Sie versuchen, mit dem Stichwort Hungerbekämpfung ein Deckmäntelchen über Ihre Position zur Gentechnik zu legen. ({16}) Sie versuchen, an dieser Stelle unter dem Schlagwort „Verantwortung für die Welternährungssituation“ eine ganz andere Diskussion zu führen. Das ist aus mehreren Gründen falsch: Wir müssen zunächst - das ist meine Leitlinie - Wahlfreiheit für die Landwirte hier herstellen. Ihr Text enthält die Aussage: Wir sollen hier verstärkt mit Gentechnik veränderte Pflanzen anbauen, damit wir das Welthungerproblem lösen können. ({17}) - In Ihrem Antrag steht hinter einem Spiegelstrich, die Bundesregierung solle dafür Sorge tragen, hier mehr gentechnisch veränderte Pflanzen anzubauen, damit so ein Beitrag zur Sicherstellung der Welternährung geleistet werden kann. Ich sage Ihnen: Die hiesigen Landwirte wollen das zu 70 Prozent nicht. Wir müssen hier also die Wahlfreiheit geben und an dieser Stelle entsprechende Regeln einführen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Bitte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unser Antrag nicht auf die Ausweitung des Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen in der Bundesrepublik Deutschland zielt, sondern dass wir dafür sorgen wollen, dass gerade unsere Forschungseinrichtungen in diesem Bereich wieder wesentlich mehr tun können, damit sie ihre Ergebnisse an die Länder der Dritten Welt weiterleiten können? ({0})

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie die Forschung an dieser Stelle ausweiten wollen. Ich glaube auch, dass es durchaus gute Forschungsergebnisse gibt. Es sollte allerdings nicht wieder für die Tierhaltung, sondern mit Blick auf eine Lösung der Probleme der Menschen vor Ort geforscht werden. ({0}) Herr Carstensen, die Frage lautet: Was will man über die Gene von Pflanzen wissen? Unter einem Spiegelstrich fordern Sie aber auch den Anbau grüner Gentechnik hier in Europa, damit ein Beitrag zur Bekämpfung des Welthungers geleistet werden kann. Jetzt habe ich Ihren Antrag nicht hier, sondern nur meine eigene Rede, sodass ich Ihnen die entsprechende Passage aus Ihrem Antrag nicht vorlesen kann. ({1}) Ich habe beides in Ihrem Antrag wiedergefunden. Ich meine, Sie sollten den Mut haben, die Debatten über Welternährung einerseits und über die Gentechnik hier und ihre Bedingungen andererseits zu trennen. Sie sollten auch wissen, dass Sie neue Abhängigkeiten schaffen, wenn Sie hier Nahrungsmittel für andere produzieren. Der richtige Weg heißt Hilfe zur Selbsthilfe. Genauso machen wir unsere Entwicklungshilfepolitik. Die Menschen sollen in ihren Ländern, in ihren Regionen Nahrungsmittel anbauen können. Wenn sie hungern, dann sollen sie Lebensmittel aus ihren jeweiligen Regionen und nicht aus dem Überfluss des Nordens zukaufen. ({2}) Ich meine, dass die katholische Soziallehre an dieser Stelle nicht falsch ist. Auch sie betont: Hilfe zur Selbsthilfe ist das Prinzip. ({3}) In Großbritannien zum Beispiel, einem Land, das nun wirklich nicht verdächtig ist, eine kritische Haltung zur roten oder grünen Gentechnik einzunehmen, haben neueste Befragungen unter Wissenschaftlern ergeben - auf diese Untersuchungen hat Herr Carstensen gar nicht BeBundesministerin Renate Künast zug genommen; ich würde mich freuen, wenn Sie auch so etwas einmal sehen würden -, dass sich die grüne Gentechnik negativ auf die Artenvielfalt auswirkt. Da wir alle christlich erzogen sind, gehe ich davon aus, dass auch die CDU/CSU die Artenvielfalt erhalten möchte. ({4}) Nach all dem kann man meines Erachtens nur eines sagen: Der Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts zur Bekämpfung von Hunger will gut überlegt sein. Wir sollten uns an dieser Stelle genau überlegen, ob wir gut beraten wären, über die Köpfe anderer hinweg zu agieren. Es gilt auch, die Wahlfreiheit der Menschen, die hungern, zu berücksichtigen. ({5}) - Herr Carstensen, die haben selber viele gute Forderungen wie zum Beispiel die, dass wir unsere Agrarpolitik ändern, damit sie Produkte anbauen können und darüber zu Deviseneinnahmen kommen, um in ihren Ländern die hungernde Bevölkerung in den Städten zu ernähren. ({6}) - Genau, für solche Gespräche fahre ich nach Brasilien. Ich werde bestimmt mit vielen Informationen für Sie zurückkommen. ({7}) In Ihrem Antrag hat mich am meisten die Aufforderung irritiert, im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit Freilandversuche zu genehmigen und zu unterstützen. Ich komme ja auf brillante Ideen, aber auf den Gedanken, Freilandversuche mit Gentechnik zwecks Öffentlichkeitsarbeit durchzuführen, bin ich nun nicht gekommen und möchte auch nach Lektüre Ihres Antrags nicht darauf kommen. ({8}) Die größten Ursachen von Hunger und Elend kann man nur beheben, indem man den Menschen in den Ländern selbst die Möglichkeit gibt, Anbau zu betreiben. ({9}) Damit wir hier zu einem Ergebnis kommen, müssen wir die guten und positiven WTO-Verhandlungen unterstützen. Es muss ein Recht auf Nahrung geben. Diese Länder müssen - unterstützt durch unsere Entwicklungshilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit - dafür sorgen, dass die Menschen ihre Lebensmittel selber produzieren können. Darin liegt die Lösung und nicht darin, zu versuchen, Umwege über die grüne Gentechnik zu gehen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan, FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, Pflanzenzuchtunternehmen richten ihre Strategie nach ihren eigenen Verdienstmöglichkeiten aus und das ist auch gut so. Ansonsten müssten wir den Mitarbeitern Sozialhilfe bezahlen. ({0}) Sie, Frau Künast, richten Ihre Strategie nach den grünen Klientelinteressen satter Menschen aus. ({1}) Deswegen haben die Menschen der armen Länder bei Ihnen keine Chance. Das kann man sehr deutlich daran erkennen, dass Sie in einer solchen Debatte als Erstes die Frage der Wahlfreiheit thematisieren. Als ob derjenige, der Hunger hat, gerne wählen möchte! ({2}) Er möchte einfach nur essen und satt werden, nichts anderes. ({3}) Sie haben hier Hilfe zur Selbsthilfe propagiert. Das ist richtig. Das ist übrigens ein liberales Prinzip. Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis: 6 Millionen Kleinbauern in den Schwellenländern und in der Dritten Welt bauen bereits transgene Pflanzen an und haben damit gute Erfahrungen gemacht; denn jedes Jahr werden es mehr. ({4}) Haben Sie die FSE, die Farm Scale Evaluations, wirklich einmal gelesen? Dabei geht es nicht um Negativwirkungen transgener Organismen, sondern um nichts weiter als um Unkrautmanagement. Dort, wo weniger Beikräuter wachsen und es weniger Tiere und Insekten gibt, die auf diesen leben, sind die Erträge höher. Von daher ist dieses Beispiel absolut ungeeignet. ({5}) Die Ernährungsprobleme in der Dritten Welt sind groß. Ursache sind die Armut und die Verantwortungslosigkeit totalitärer Regime - dazu zählt zum Beispiel das kommunistische Regime in Nordkorea -, aber auch die wachsende Weltbevölkerung, der kaum vermehrbare Ackerflächen gegenüberstehen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Intensität der landwirtschaftlichen Produktion zu steigern, damit alle Menschen statt werden. Die Probleme bei der Welternährung konnten in den letzten Jahrzehnten deutlich verringert werden. Es wurden neue Sorten entwickelt. Wir können erwarten, dass mit gentechnischen Methoden Erträge weiter gesichert und die Qualität der Nahrungsmittel weiter verbessert wird. Deutsche Unternehmen wollen sich ihrer Verantwortung bei der Entwicklung neuer Sorten stellen. Dafür brauchen sie praktikable Rahmenbedingungen, die ihnen die rot-grüne Regierung noch immer verweigert. Der Bundeskanzler ist einmal angetreten, im kritischen Diskurs eine verantwortbare Position zur Gentechnik zu finden. Im Zuge von BSE hat ihn der Mut verlassen. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, allein Ihre Abwesenheit dokumentiert: ({6}) Welternährung ist nicht Ihr Thema, ({7}) grüne Gentechnik ist es auch nicht mehr. ({8}) Sie haben grüne Gentechnik wegen BSE kurz vor dem erfolgreichen Abschluss gestoppt. Schade! ({9}) - Herr Westerwelle weiß, dass ich eine gute Rede halte. Er muss nicht hier sein. ({10}) Dennoch muss der Streit zwischen Frau Künast und Herrn Clement sowie Frau Bulmahn endlich im Sinne der grünen Gentechnik entschieden werden. Herr Bundeskanzler, nehmen Sie Ihre Richtlinienkompetenz wahr, sprechen Sie ein Machtwort, beenden Sie die Grabenkämpfe und bringen Sie diese Innovation in Deutschland voran! ({11}) Mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung mit der grünen Gentechnik zeigt: Die grüne Gentechnik ist verantwortbar, durch ihr Innovationspotenzial hilft sie, in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen, und sie ist zur Verbesserung der Ernährung der Menschen in den ärmsten Ländern der Erde ethisch geboten. Daher unterstützt die FDP den Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Grundsatz. Herr Kollege Carstensen, in einem Punkt widersprechen wir dem Antrag aber ausdrücklich: ({12}) Kennzeichnungsschwellenwerte oberhalb der technischen Machbarkeitsgrenze sind anders, als Sie es sagen und als Sie es in Ihrem Antrag fordern, sehr wohl akzeptabel. ({13}) Bei der Festlegung der Schwellenwerte müssen die technischen Machbarkeitsgrenzen berücksichtigt werden, aber nicht mehr. Dabei orientiert man sich am Umweltund Gesundheitsschutz. Transgene Pflanzensorten werden geprüft wie andere, sie haben dieselben Risiken wie andere und sie verhalten sich in der Umwelt wie andere, auch wenn die Grünen meinen, etwas anderes behaupten zu müssen. Eine Sonderstellung transgener Sorten ist daher durch nichts gerechtfertigt. ({14}) Das sieht auch Staatssekretär Catenhusen, SPD, aus dem Forschungsministerium so. In einem Interview in der „Zeit“ hält er gesonderte Haftungsregelungen für den Umgang mit transgenen Sorten für nicht erforderlich. Ihr Staatssekretär hat Recht. Wer Recht hat, soll auch Recht behalten. Gesundheitsschäden werden in unserer Gesellschaft zumeist durch falsche Ernährung und Umweltschäden, insbesondere durch den Schadstoffeintrag, verursacht. Das haben auch die Bürgerinnen und Bürger erkannt. Deswegen finden sie es gut, wenn mit gentechnischen Methoden Pflanzen und Tiere gezüchtet werden, die gegen Schädlinge immun sind. Nach einer Umfrage, die vom Bundespresseamt in Auftrag gegeben wurde, sind 46 Prozent dafür. Die Grünen sind dagegen. Aber: Welche in der Zeit seit ihrer Gründung etablierten Zukunftstechnologien haben die Grünen jemals befürwortet? ({15}) Kurzzeitig oder längerfristig wurden abgelehnt: die friedliche Nutzung der Kernenergie, der Computer - der Beschluss existiert noch immer -, das Handy, der Transrapid, die PET-Flaschen und die rote Gentechnik. ({16}) - Danke, Herr Carstensen. Der jetzige Außenminister hat im Hessischen Landtag die Turnschuhe eingeführt und den Bau der Anlage zur gentechnischen Herstellung von Humaninsulin 14 Jahre lang verzögert. Mit dieser Lebensleistung wurde er dann Außenminister. ({17}) Mit dem Kulturpessimismus der Grünen wären die Ernährungsprobleme Europas nie gelöst worden. ({18}) Daher ist der Kulturpessimismus der Grünen auch nicht geeignet, den Menschen in den ärmsten Ländern der Erde zu helfen. ({19}) Noch immer folgen die Grünen ganz treu Karl Valentin: Die Zukunft war früher auch besser. ({20}) Warum unterstützt eine SPD, die sich immer auf ihre soziale Verantwortung beruft, diese Politik? Sie ist unDr. Christel Happach-Kasan ethisch, weil sie verhindert, dass die Möglichkeiten der grünen Gentechnik zur Entwicklung leistungsfähiger Sorten genutzt werden. Sie ist umweltfeindlich, weil sie die Potenziale der grünen Gentechnik zur Verminderung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln nicht nutzt. Sie ist verbraucherfeindlich, weil sie sich nicht am Wunsch der Verbraucher nach sicheren Lebensmitteln orientiert - transgene Sorten werden besser geprüft als andere. Schließlich ist sie unsozial, weil sie die Abwanderung von Arbeitsplätzen ins Ausland fördert. Ich fordere die SPD auf, eine derartig dem Gemeinwohl zuwiderlaufende Politik des grünen Koalitionspartners zu verhindern. ({21}) Laufen Sie den Grünen nicht wie die Lemminge hinterher und springen Sie nicht in den Abgrund! In den letzten zehn Jahren wurden transgene Sorten mit sehr interessanten und für die Ernährungssituation der Menschen in den ärmsten Ländern der Erde wichtigen Eigenschaften entwickelt. Golden Rice ist das bekannteste Beispiel; es gibt einige andere mehr. Die Frage, ob transgene Sorten verantwortbar sind, ist beantwortet: Sie sind verantwortbar. Inzwischen stellt sich die Frage, ob es ethisch verantwortbar ist, den Landwirten in den Entwicklungsländern diese Sorten weiter zu verweigern. ({22}) Professor von Weizsäcker hat in seiner Rede zum Cartagena-Protokoll über ein Beispiel aus Indien berichtet, bei dem sich der Anbau einer transgenen Sorte nicht bewährt haben soll. Das mag so sein. Vor solchen Sorten muss aber niemand geschützt werden. Professor von Weizsäcker, ich bedauere sehr, sagen zu müssen: Dieses einzige Beispiel in Ihrer Rede zum Cartagena-Protokoll war unter Ihrem Niveau. 6 Millionen Landwirte haben im vergangenen Jahr transgene Kulturpflanzen angebaut. 75 Prozent davon waren Kleinbauern in Entwicklungs- und Schwellenländern. Ihre Anzahl ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Der Beauftragte für Welternährungsfragen des Evangelischen Entwicklungsdienstes stuft den Beitrag der grünen Gentechnik zur Sicherung der Welternährung als gering ein und sieht die Gefahr der Abhängigkeit der Kleinbauern von Patentinhabern. Die Realität sieht anders aus. Den theoretischen Vorbehalten stehen ganz konkrete Vorteile der grünen Gentechnik gegenüber, wie zum Beispiel sichere Ernten durch Bt-Mais in China. Das Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften in München hat einen Leitfaden entwickelt, mit dem transgene Sorten nach ökologischen, ökonomischen und sozialen Kriterien individuell bewertet werden können. Ein solcher Leitfaden ist ethisch sehr viel wertvoller als die grüne Fundamentalopposition gegen die grüne Gentechnik. ({23}) Er ermöglicht es, die Eignung einzelner Sorten zu bewerten, statt alle pauschal zu verdammen. Eine wachsende Weltbevölkerung stellt steigende Anforderungen an die Landwirtschaft. Diese Herausforderungen können wir nur meistern, wenn wir Armut und totalitäre Regime bekämpfen

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- ich bin beim letzten Satz - und die Intelligenz sowie den Erfindungsreichtum von Menschen für die Weiterentwicklung der Landwirtschaft nutzen. Die grüne Gentechnik kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herta DäublerGmelin, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Carstensen und Frau Happach-Kasan, ich schätze Sie beide sehr. Aber ich muss sagen: Nach Ihren beiden Redebeiträgen ist, glaube ich, auch dem letzten Zuhörer klar, worum es Ihnen heute Morgen geht: Es geht um das alte Ritual: „Wie beschimpft die Opposition die Regierung?“ und das wieder möglichst laut in der Öffentlichkeit. Ich finde es außerordentlich schade, dass Sie die wichtige und ernste Frage der Bekämpfung des Welthungers und die Frage, was wir dazu beitragen können, mit diesem Ritual vermischen. Das tut dem Thema nicht gut und das tut auch dem Deutschen Bundestag nicht gut. ({0}) Dabei sind und waren wir schon weiter. Die Frage des Welthungers und seiner Bekämpfung beschäftigt Sie genauso wie uns im Agrarausschuss. Gerade gestern haben wir über einen Antrag - übrigens der SPD - zur Frage der Landreform geredet, die selbstverständlich mit der Frage der Bekämpfung des Welthungers zu tun hat; denn in den Entwicklungsländern bedarf es insbesondere der Sicherung von bäuerlichen Familienexistenzen und einer vernünftigen Sozialstruktur. Das fehlt jedoch in Ihrem Antrag; das wissen Sie auch. Gerade gestern hat der Kollege Deß von der CDU/ CSU einen sehr bemerkenswerten Beitrag geleistet. Er hat darauf hingewiesen, dass auch im Zusammenhang mit der Zuckerordnung sehr sorgfältig auf die Sicherung der bäuerlichen Familienbetriebe und damit den Aufbau von Sozialstrukturen in der Dritten Welt geachtet werden muss, die für die Bekämpfung des Welthungers dringend erforderlich sind. Wo ist denn das in Ihrem Antrag? ({1}) Ich habe den Eindruck, dass Sie wieder einmal eine polemische Diskussion und keine seriöse Diskussionsgrundlage gesucht haben. Ich kann das nur bedauern und alle auffordern, das im Zuge der weiteren Diskussion zu ändern; denn es ist doch völlig klar: Das Recht auf Nahrung gehört zu den Grundrechten jedes Menschen. Darüber wird sich dieses Haus doch wohl auch im Klaren sein. ({2}) Wenn Sie, Herr Carstensen, was ich gut finde, die Dokumente der FAO zitieren, dann tun Sie es doch bitte richtig. ({3}) Ich lese es Ihnen gerne noch einmal vor. In der letzten Woche, nämlich am 16. Oktober, war Welternährungstag. Am Welternährungstag hat der Generaldirektor der FAO ausdrücklich dazu aufgefordert, gemeinsam eine Allianz gegen den Hunger zu bilden, die die Ursachen für den Hunger bekämpft. Zu den Ursachen des Hungers gibt es eine Menge an wirklich wichtiger internationaler Übereinstimmung. So weist zum Beispiel der Welternährungsgipfel deutlich darauf hin, dass „Hunger sowohl Ursache als auch Auswirkung von extremer Armut ist, durch den die Armen dieser Welt davon abgehalten werden, von neuen Entwicklungen zu profitieren“. Das müssen wir berücksichtigen und angehen. Da spielt natürlich auch die deutsche Agrarpolitik und die europäische Agrarpolitik eine große Rolle. Wir alle wissen ganz genau, dass die Agrarmärkte der Entwicklungsländer auch durch die Subventionen der EU beim Agrarexport mit kaputt gemacht werden. Mit den Überlegungen, das zu ändern, haben wir uns in diesem Sommer beschäftigt. Mich ärgert, dass die CDU den deutschen Bauern immer wieder erklärt, das gehöre zu der schlechten Agrarpolitik dieser Regierung oder der EU. ({4}) - Sehen Sie, das ist gerade die Widersprüchlichkeit, die mich dazu bringt, zu sagen: Es geht Ihnen eben um Polemik und Rituale, nicht etwa um die Sicherung der Welternährung. ({5}) Zur Stabilisierung der Märkte - bitte akzeptieren Sie auch das - sind Landreformen in vielen Teilen der Welt notwendig. Wenn Sie das genauso sehen, dann unterstützen Sie es doch. ({6}) Wichtig sind auch Technologie- und Wissenstransfer. Wer will das denn bestreiten? Wir alle wissen, dass die Erwartungen an die Biotechnologie - ich meine nicht nur die grüne Gentechnik, Sie müssen den Gesamtbereich sehen - sehr hoch sind. Wir dürfen aber nicht nur diese Erwartungen sehen, sondern wir müssen auch die Erfahrungen und Probleme zur Kenntnis nehmen. Diese werden übrigens in allen internationalen Dokumenten - außer Ihrem Antrag - auch diskutiert. Das ist auch erforderlich, um das Thema richtig anzugehen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Später gerne. Zunächst möchte ich ein paar Punkte, die vielleicht seine Zwischenfrage beantworten werden, weiter ausführen. Aber keine Sorge, die Zeit für Ihre Zwischenfrage habe ich noch. Richtig seriös wäre es, wenn Sie diese Aspekte in Ihrem Antrag nennen würden. Aber auch Ihr Beitrag hat gezeigt, dass Sie daran kein Interesse haben. Ihr Antrag ist eine ärgerliche Mischung aus Einbahnstraßendenken - er vermittelt den Eindruck, als könne man mit einem Knopfdruck und der richtigen Technik die Welternährungsprobleme lösen ({0}) und Vernebelungstaktik, wo es um klare Feststellungen gehen müsste, zum Beispiel bei der Kennzeichnungspflicht. Darauf werde ich gleich noch eingehen. Außerdem liest sich Ihr Antrag streckenweise wie der Werbewaschzettel der entsprechenden Industrie, die ihr Produkt verkaufen will. Das gilt auch für Functional Food, die ja mit Gentechnik nicht zwangsweise etwas zu tun haben muss. Diese Art von Lebensmitteln wird heute schon vielfach ohne Gentechnik hergestellt. Ich finde Ihren Antrag deswegen so ärgerlich, weil der Generalsekretär der Vereinten Nationen in seinem jüngsten Bericht, der jetzt in der Generalversammlung diskutiert wird, den Industrieländern viel konkreter Richtiges und Verpflichtendes ins Stammbuch geschrieben hat. Er hat deutlich gemacht, dass die Abhängigkeit der Entwicklungsländer nicht vergrößert werden darf, sondern vermindert werden muss. Was aber finden wir in Ihrem Antrag? Die Bundesregierung soll sicherstellen, dass Kleinbauern nicht abhängig werden, sagen Sie und wollen gleichzeitig deren Abhängigkeit von Patenten erhöhen. Auch Ihr Widerstand gegen die EU-Agrarreform muss in diesem Zusammenhang benannt werden. ({1}) Sie müssen einmal laut sagen, was Sie wollen, und sich nicht in Unverbindlichkeiten ergehen. Lesen Sie einmal nach, was Genetiker aus Äthiopien vom „Goldenen Reis“ und vor allem von seinen Auswirkungen auf die Ernährungslage oder die Sozialstruktur im ländlichen Raum halten. Das ist doch keineswegs nur positiv, sondern sehr problembehaftet. Ich komme zu einem Punkt, der mich zusätzlich ärgert: Ihre Äußerungen zur Kennzeichnungspflicht. Da habe ich Frau Happach-Kasan überhaupt nicht verstanden. Ich habe immer gedacht, Sie würden mit mir die Grundauffassung teilen, dass die Wahlfreiheit der Landwirte und der Verbraucher ein hohes Gut ist. Wenn Sie die grüne Gentechnik mit Schwellenwerten einführen wollen, von denen Sie gerade gesprochen haben, hat weder der Verbraucher noch der Landwirt irgendeine Chance zu Wahlfreiheit. Sie als Biologin müssten das eigentlich laut sagen. Ich halte nichts davon, den Menschen - unter welchem Vorwand auch immer - ein X für ein U vorzumachen. Wer Wahlfreiheit und die Chance für Koexistenz will, darf bei der Kennzeichnung nicht über die technische Nachweisgrenze gehen. (Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage. Ich bedaure es sehr, dass die Union in ihrem Antrag einen sehr vagen Begriff von „technischer Machbarkeit“ benutzt und nicht klar herausstellt, dass der Grenzwert von 0,1 Prozent beim Saatgut - das muss jetzt entschieden werden - die Grundlage für Wahlfreiheit und Koexistenz ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, inzwischen wollen zwei Kollegen eine Zwischenfrage stellen. Herr Kollege Carstensen, bitte schön.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, dass Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen haben. ({0}) Ich habe weiterhin den Eindruck, dass Sie mir nicht zugehört haben. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen - das ist Ihnen vielleicht entgangen -, dass die grüne Gentechnik für die Union ein Instrument ist und sie sehr wohl um die Komplexität des Themas Hunger weiß. Können Sie mir aufgrund Ihres landwirtschaftlichen Sachverstands sagen, wie Sie den Herausforderungen der nächsten Jahre begegnen wollen? Die FAO spricht davon, dass wir eine Steigerung der Erträge um 60 Prozent brauchen, davon notwendigerweise 80 Prozent durch eine Steigerung des Flächenertrags. Wie wollen Sie diese Steigerung erreichen, wenn Sie den Entwicklungsländern nicht moderne Technologien zur Verfügung stellen? Lassen Sie mich bitte eine letzte Frage stellen. Wenn das Thema so wichtig ist, wieso gibt es eigentlich keinen Antrag zu diesem Bereich von der Koalition? ({1}) Warum haben Sie nicht die Möglichkeit genutzt, Ihre Position in einem Antrag deutlich zu machen? Wieso gibt es denn einen Streit zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Umweltminister und dem Verbraucherschutzministerium? Die Forschungsministerin und der Wirtschaftsminister sagen, wir müssten viel mehr Geld in die neuen Biotechnologien investieren, andererseits aber wird die Biotechnologie abgeblockt. Wir können Ihre Politik nicht mehr begreifen. Können Sie uns das erklären?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Carstensen, es würde eine Antwort viel leichter machen, wenn nicht aus jedem Wort herauszuhören wäre, dass Sie die Antwort eigentlich gar nicht interessiert. ({0}) Ich will es dennoch probieren. Lassen Sie mich noch einmal wiederholen: Ich habe jedem Wort, das Sie vorhin gesagt haben, ehrfürchtig, so wie es der Respekt vor Ihnen gebietet, zugehört. Natürlich haben Sie auch diesen Satz vorgetragen. Jetzt haben Sie ihn wiederholt. Ich bin froh darum, weil er dadurch vielleicht eine größere Bedeutung bekommt. Er hat vorher auch nicht länger gedauert als wenige Sekunden und Sie haben insgesamt rund 7,5 Minuten geredet. Das war der einzige Satz. ({1}) Über die Frage Ihrer Gewichtung und der damit verbundenen Wertigkeit sollten Sie jetzt vielleicht noch einmal nachdenken. Der zweite Punkt ist folgender: Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Hungerproblem - Sie wissen, dass ich gerade bei der FAO in Rom war - zeigt, dass es in der Tat richtig ist, dass die Erwartung von Mitte der 90er-Jahre, man könne die Zahl der Menschen, die auf der Welt Hunger leiden, bis 2015 halbieren, im Moment skeptisch beurteilt wird. Wenn man sich anschaut, welche Länder der Welt bei der Verbesserung der Hungersituation Erfolg haben und welche Länder nicht, dann stößt man auf das auch von Frau Happach-Kasan, allerdings in falschem Zusammenhang, erwähnte Indien. Indien ist ein Land, das seit Jahren GMOs einsetzt, das Nahrungsmittel exportiert und ein steigendes Hungerproblem hat, trotz all der hervorragenden Ergebnisse, die Indien unzweifelhaft erreicht hat. Schon dieses müsste jedem sagen, dass das Hungerproblem, was auch auf dem World Food Summit gesagt wurde, ein Verteilungs- und Armutsproblem ist. Dass die Technik und der Techniktransfer aus den verschiedenen Zonen der Welt eine Rolle spielen, ist gar keine Frage, aber keine entscheidende. Schauen Sie doch einmal in den Bericht des UN-Generalsekretärs! Dann werden Sie genau das feststellen. Ich will Ihnen die Passage gerne zitieren, damit Sie nicht meinen, ich würde etwas Falsches sagen. Der Generalsekretär schreibt in seinem Bericht an die Generalversammlung der Vereinten Nationen: Biotechnology has yet to deliver products in agriculture, health industry and environment in developing countries. ({2}) - Er spricht nun einmal Englisch. Ich finde gut, dass Sie so deutlich machen, dass Sie es verstehen. ({3}) Ich übersetze es aber bei Bedarf auch gerne. Er führt fort: Es gibt ein bisher ausgesprochen begrenztes Interesse des privaten Sektors, transgene Produkte von einigermaßen großer Bedeutung an die sich entwickelnden Länder zu übergeben. ({4}) Das sind die Probleme, mit denen wir es zu tun haben. Da geht es um Geld und Gewinne, nicht um die Überwindung des Welthungers. Das ist in Ihrem Antrag, der durch Einbahnstraßendenken gekennzeichnet ist, leider Gottes in keiner Weise ersichtlich. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Heiderich, ich gehe wegen Ihrer Reaktion davon aus, dass Ihre Frage bereits vom Kollegen Carstensen gestellt worden ist. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie können fortfahren.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Happach-Kasan hatte sich auch noch gemeldet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Happach-Kasan hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet, wenn ich das richtig verstanden habe.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte um Entschuldigung. Lassen Sie mich noch einmal Folgendes sagen: Ich fände es ausgesprochen gut, es gäbe in diesem Haus einige Zukunftsthemen, die wir von allen Seiten mit vergleichbarer Seriosität behandeln würden, und - ({0}) - Zur Seriosität gehört auch, Herr Goldmann, dass man zunächst einmal die erste Hälfte eines Satzes anhört, bevor man gleich in Jubel oder Klagen ausbricht. Die Bekämpfung des Welthungers und die Frage, was wir dazu beitragen können, gehört ohne Zweifel zu den wichtigen Zukunftsthemen. ({1}) Wie gesagt, das Recht auf Nahrung - dazu gehört auch die Sicherung der Pflanzen und der so genannten genetischen Ressourcen in allen Ländern - ist ein Menschenrecht. Deswegen - das darf ich noch ausführen, bevor Frau Happach-Kasan ihre Kurzintervention vorträgt - sind Ihre Ausführungen zur Artenvielfalt und deren Sicherung problematisch. Ich bin sicher, dass wir noch öfter über dieses Thema diskutieren werden. Aber wenn Sie die neue Studie, die in England erstellt wurde, einfach abtun, werden wir nicht vorankommen. Ich hatte gestern die Gelegenheit, mit einigen englischen Kollegen zu reden. Auch die Biologen bzw. Molekularbiologen oder Genetiker unter ihnen nehmen sich die Zeit, die Studie sehr sorgfältig zu prüfen, bevor sie sie bewerten. Das sollten auch wir tun. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich erteile der Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan zu einer Kurzintervention das Wort.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Däubler-Gmelin, Sie haben mich als Biologin nach meiner Meinung gefragt, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Denn ich meine, dass gerade in der grünen Gentechnik Biologiekenntnisse sehr wohl von Bedeutung sind. ({0}) Ich habe mich in der Tat mit den Farm Scale Evaluations beschäftigt. In diesem Zusammenhang habe ich mich mit Botanikern auseinander gesetzt und mich über die tatsächlichen Ergebnisse informiert. Festzustellen ist, dass die Ergebnisse nicht so eindeutig sind, wie Sie und auch Ministerin Künast es darstellen. Aus den Ergebnissen geht schlicht und ergreifend hervor, dass bei dem Anbau von herbizidtolerantem Raps die Menge der Unkräuter sinkt. Wenn es in einem Rapsfeld weniger Beikräuter gibt, ist auch weniger Nahrung für Insekten vorhanden, die auf solchen Beikräutern leben. Von daher ist es richtig, dass die Artenvielfalt in einem Rapsfeld - in dem allerdings ohnehin in erster Linie Raps wachsen soll - dadurch sinkt. Gleichzeitig steigt aber auch der Ertrag, weil der Boden verstärkt dem Raps zugute kommt statt den Beikräutern. ({1}) Das ist eine Frage des Unkrautmanagements; es geht dabei nicht darum, auf welche Art und Weise die Herbizidtoleranz in einem Rapsfeld hergestellt wurde. Das ist mit gentechnischen Methoden wie auch mit anderen Zuchtmethoden möglich. Im Ergebnis kommt es zu einer geringeren Artenvielfalt im Rapsfeld. Das bedeutet aber nicht, dass sie außerhalb des Rapsfeldes ebenfalls sinkt. Von daher rate ich Ihnen Frau Kollegin: Beschäftigen Sie sich doch ein bisschen gründlicher mit dieser Thematik und fragen Sie auch einen Botanikprofessor nach der Frage der Artenvielfalt im Rapsfeld, unabhängig davon, ob es sich bei der angebauten Pflanze um eine transgene Sorte handelt oder nicht! Ich darf auch darauf hinweisen, Frau DäublerGmelin, dass sich der Antrag der CDU/CSU-Fraktion auch mit der Sicherung der Welternährung befasst. Wenn wir diese Aufgabe Ernst nehmen, dann spielt die Wahlfreiheit, die nur in satten Gesellschaften, nicht aber in der Dritten Welt ein Thema ist, in diesem Zusammenhang keine Rolle. Das gilt auch für die Kennzeichnungspflicht. Sind Ihnen die Zahlen bekannt, wie viele Menschen in den ärmsten Ländern der Erde lesen und schreiben können? Was hilft diesen Menschen eine Kennzeichnung, wenn sie hungrig sind und nicht lesen können? Sie sprechen Punkte an, die in der Auseinandersetzung in Deutschland an Relevanz gewonnen haben, weil wir eine reiche und satte Gesellschaft sind und es uns leisten können, die Trennung von aus transgenen Pflanzen und aus anderen Pflanzen hergestellten Lebensmitteln zu fordern. Ich bitte Sie herzlich, das Thema Welternährung in den Mittelpunkt zu stellen, statt sich an Fragen abzukämpfen, die nur in der Auseinandersetzung innerhalb Deutschlands ein Rolle spielen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zur Erwiderung hat nun Frau Kollegin Dr. DäublerGmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Happach-Kasan, Sie wissen, dass ich immer für Ratschläge dankbar bin. Aber darf ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf den letzten Spiegelpunkt auf Seite 3 des Antrags der CDU/CSU lenken. Dort wird auf die Frage der Kennzeichnung ziemlich ausführlich eingegangen. Darauf habe ich mich bezogen. Vielleicht sollten Sie - wenn ich das zurückgeben darf - den Antrag einfach einmal lesen. Dann werden Sie feststellen, dass die Frage der Kennzeichnung sehr wohl angesprochen wird. Dort, wo der Kennzeichnungsschwellenwert als klare Voraussetzung für Wahlfreiheit und Koexistenz eine Rolle spielen sollte, muss man sich festlegen. Man kann man nicht argumentieren - das tun Sie bedauerlicherweise -: Einerseits, andererseits, ich meine aber gar nichts! Wer so verfährt, nimmt unseren Bauern jede Chance für Wahlfreiheit und Koexistenz. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass zum Beispiel der Träger des Alternativen Nobelpreises des letzten Jahres, ein Biologe und Genetiker aus Äthiopien, der sicherlich auch Ihren strengen fachlichen Ansprüchen genügt, sehr deutlich die Mängel des Goldenen GV-Reises kritisiert hat. Er meinte auch, das die Grundsätze von Wahlfreiheit und Nichtabhängigkeit, auf die wir für unsere Bauern Wert legen, auch für die Bauern in den sich entwickelnden Ländern gelten müssten. Er wies auch deutlich auf die Probleme von GMO beispielsweise für Auswirkungen auf die Sozialstruktur und die Abhängigkeit von gewerblichen Schutzrechten hin. Er befürchtet sogar, dass sich das Armutsproblem durch den Einsatz der grünen Gentechnik vielfach verschärfen werde - aber auch das ist zunächst nur eine Meinung -, und weist außerdem darauf hin, dass man die Bedeutung der Artenvielfalt, also der Biodiversität, selbstverständlich auch unter biologischen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu nehmen habe. Das ist das, was auch ich tue und empfehle. Lassen Sie mich nochmals deutlich sagen, dass bei einem Schwellenwert über der technischen Nachweisbarkeit für die Kennzeichnung von Futtermitteln die Chancen für Wahlfreiheit und Koexistenz nicht mehr bestehen. Das ist so. Und darüber, welche der Erwartungen an Biotechnologie und grüne Gentechnik tatsächlich erfüllbar sein können, sollten wir - dafür habe ich plädiert - sehr sorgfältig beraten. Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt zu der Studie aus England ansprechen. Ich habe es mir angewöhnt, dass ich eine neue Studie - die jetzt vorliegende ist in der Tat im Internet zu bekommen und ist sehr dick - erst einmal lese und sie dann mit Kollegen und Fachleuten bespreche. Da die Studie aus England erst in dieser Woche veröffentlicht wurde, wird man noch Zeit benötigen, um sie genau einzuschätzen. Ich denke, dazu wird in unserem Ausschuss jede Möglichkeit bestehen. Wenn Sie, Frau Happach-Kasan, diese Studie offenbar per Handauflegen bewerten können, dann sage ich Ihnen: Ich kann das nicht und bisher hat nur Carlo Schmid so etwas geschafft. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Tagen trifft sich die FAO in Rom, um dort erneut über den „Kampf gegen den Hunger“ zu debattieren. Sie wird dort sicherlich die Forderungen betreffend die Nutzung der Bio- und Gentechnik fortschreiben, die sie bereits beim Weltgipfel im vergangenen Jahr formuliert hat. Frau Künast und Frau Däubler-Gmelin, auch das ist Bestandteil der Forderungen internationaler Organisationen. Warum wird genau dieser Punkt von Ihnen in allen Ihren Reden unterschlagen? Auch das sollten Sie eigentlich erwähnen. ({0}) Denn alle Fachleute kommen weltweit übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass diese Technologie in den nächsten Jahrzehnten wichtige Beiträge zur Ernährung der Weltbevölkerung leisten kann. Wir behaupten nicht, dass sie die Ernährung der Weltbevölkerung alleine sicherstellen kann. Aber sie kann, wie gesagt, einen Beitrag leisten. Wenn man sie verhindert, dann verhindert man auch eine positive Entwicklung. Zwei Entwicklungen stehen unverrückbar fest: Erstens. Die Weltbevölkerung wird sich in absehbarer Zeit mehr als verdoppeln. Zweitens. Die verfügbare landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf wird auf weniger als die Hälfte zusammenschrumpfen. Als Fachleute behaupten wir nicht, dass diese Herausforderungen alleine mit der Biotechnik zu meistern seien. Aber sie werden auch nicht alleine durch Ihren Antrag zur Landreform sowie das, was Sie jetzt vorgetragen haben, gemeistert werden. Die Erfolge der grünen Revolution haben jedenfalls gezeigt, wie deutlich solche neuen Technologien zur Bekämpfung des Hungers beitragen können. Die Biotechnik steht noch am Anfang, obwohl sie bereits auf 60 Millionen Hektar eingesetzt wird. Aber sie bietet unendlich viele Möglichkeiten, die wir uns gerade erst zu erarbeiten beginnen. Trotzdem, Frau Künast, blockiert die Bundesregierung deren Erforschung, Entwicklung und Anwendung in Deutschland bereits seit Jahren. Was Sie eben zu den Grenzwerten vorgetragen haben, Frau Däubler-Gmelin, wird diese Blockade weiter erhöhen. Ich bringe Ihnen einmal eine Warnung der deutschen Wissenschaft zur Kenntnis, die aktuell an uns gerichtet worden ist: Mit diesen neuen Gentechnikregeln von Frau Künast wird Forschung zur grünen Gentechnik in Deutschland nicht mehr möglich sein. - Die Leute wissen, wovon Sie reden. ({1}) Inzwischen ist die Bundesregierung in sich völlig zerstritten. Die BMBF-Ministerin Bulmahn hat am Montag dieser Woche erklärt: Nach weltweiten Schätzungen wird im Jahr 2020 jede zweite Innovation mit einem biotechnologischen Verfahren zusammenhängen. - Der BMWAMinister Clement - er war vorhin noch hier - sagte im Mai 2003 in Washington: Ich werde mit Nachdruck dafür eintreten, dass Europa sein De-facto-Moratorium bei gentechnisch veränderten Produkten aufgibt. - Liebe Frau Däubler-Gmelin, würden Sie sagen, dass auch diese beiden jede Seriosität in der Diskussion um dieses Thema vermissen lassen, oder haben Sie da eine andere Messlatte, als wenn Sie über uns reden? ({2}) Die positiven Einstellungen werden durch die ideologische Verklemmung von BMVEL-Ministerin Künast ständig ausgebremst und konterkariert. Die Ministerin redet öffentlich zwar immer von Wahlfreiheit, meint damit aber wohl eher, dass sich jeder in diesem Lande ihrem einseitigen Weltbild völlig unterwerfen müsse. ({3}) Sie haben uns vorhin vorgeworfen, dass wir Polemik in die Diskussion hineinbringen. Ich sage Ihnen: Die Rede von Frau Künast war eine einzige Attacke auf unseren Antrag und auf die Auffassung der CDU/CSUBundestagsfraktion. ({4}) Ich will einige wenige Beispiele dazu vortragen, wie wir nach unserer Auffassung die Biotechnik hilfreich im Kampf gegen den Hunger einsetzen könnten. Ich meine, dass wir als Technologienation genau an dieser Stelle etwas leisten müssen, damit die Entwicklungsländer transgene Innovationen in ihren landesüblichen Pflanzenanbau einbringen können. Die Labors haben ja schon einiges entwickelt, zum Beispiel Süßkartoffeln mit einer eingebauten Virusresistenz, wodurch die heute üblichen Ertragsverluste von bis zu 80 Prozent vermieden werden können, oder Bananenpflanzen, die gegen den SigatokaPilz resistent sind. Auf Hawaii ist der Papaya-RingspotVirus durch Gentechnik erfolgreich bekämpft worden. ({5}) Die Papayaproduktion auf Hawaii ist heute überhaupt nur noch möglich, weil eine solche Veränderung stattgefunden hat. Aber das interessiert Frau Künast natürlich nicht. Sie redet lieber mit anderen, statt sich solche Argumente anzuhören. Ein weiteres Beispiel ist die Bekämpfung der Wurzelunkräuter in der Saharazone in Afrika. Heute müssen die Menschen dort, im Wesentlichen die Kinder und die Frauen, jeden Tag auf das Feld gehen und diese Unkräuter von Hand ausreißen. Trotzdem müssen sie am Schluss einen Ernteverlust hinnehmen. Frau DäublerGmelin, wo ist da Ihr Blick auf die Sozialstruktur? Haben Sie auch einmal über dieses Thema nachgedacht? ({6}) Es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten, die bereits vorhandenen Entwicklungen auch zum Nutzen der Entwicklungsländer umzusetzen, aber wir müssen etwas dafür tun. Da frage ich Sie, Frau Künast: Wo sind der Beitrag Ihres Ministeriums und der Beitrag Deutschlands als Forschungsnation, um den Entwicklungsländern in dieser Frage zu helfen? Eines ist doch klar: Die großen privaten internationalen Organisationen kümmern sich zunächst um die weit verbreiteten Nahrungsmittel, weil sie ja ihren Ertrag erzielen müssen. Aber wir mit unseren Universitäten und Institutionen hätten die Möglichkeit, etwas für die für die Entwicklungsländer so wichtigen Früchte und Nahrungsmittel zu entwickeln und mit ihnen gemeinsam so umzusetzen, dass diese Technik dort erfolgreich angewendet werden kann. Hier liegt unsere Aufgabe. Wir sollten einiges tun, um den Entwicklungsländern, wie Sie gesagt haben, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Gerade die kleinen Landwirte dort brauchen keine neue technische Ausstattung. Sie müssen keine großen Kapitalinvestionen vornehmen, um mit dem biotechnisch fortentwickelten Saatgut Erfolge erzielen zu können. Es geht doch nicht an, dass wir uns verpflichten, den Entwicklungsländern zu helfen - in der letzten Woche haben wir den Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll von Cartagena verabschiedet -, und gleichzeitig, wenn es um diese Fragen geht, außen vor bleiben und lieber über Bürokratieabbau in Deutschland statt über Erfolge für die Entwicklungsländer diskutieren. Hier sind wir in der Pflicht und hier muss die Bundesregierung endlich etwas tun. Schönen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPDFraktion.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Hunger in der Welt bekämpfen, das ist eine Vorstellung, die wir alle teilen. Den Hunger in der Welt mit grüner Gentechnologie bekämpfen, das ist eine große, eine sehr interessante Herausforderung. Aber ist es eine realistische Herausforderung? Diese Frage muss erlaubt sein. Ist der Hunger in der Welt zum Beispiel nicht eher - Frau Ministerin Künast und auch Herta Däubler-Gmelin haben darauf hingewiesen - ein Problem der ungerechten Verteilung? Müsste dieses Problem nicht politisch gelöst werden? ({0}) Kann man ein politisches Problem mit einer technischen Antwort lösen? ({1}) Ich glaube, auch das ist eine interessante Frage. Ich habe meine Zweifel, ob grüne Gentechnologie die richtige Antwort auf diese Frage ist. Ich will das auch begründen. Wir haben einigen Optimismus gehört. Wenn man optimistisch ist, dann kann man sagen, dass der verstärkte Anbau gentechnisch veränderter Organismen und Nahrungsmittel die Produktion der Entwicklungsländer erhöhen könnte. Aber ist diese optimistische Sicht realistisch? Ich stelle diese Frage, weil der Zeitraum der Erfahrungen, die wir mit grüner Gentechnologie haben, gemessen an der Evolution sehr klein ist. Ist es nicht geradezu notwendig, Pro und Kontra in einer Angelegenheit, die möglicherweise nicht rückholbar ist, abzuwägen? Herr Carstensen und Sie von der FDP haben heute wie üblich behauptet, wir seien vorurteilsbehaftet und ideologieverblendet. Es wird langsam langweilig. Es war fast herausragend, dass Herr Heiderich auch einmal ein paar positive Beispiele genannt hat. Ich will Ihnen einige Argumente nennen, die mindestens zum Nachdenken anregen sollten. Mein Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker hat letzte Woche von dieser Stelle von seiner Reise nach Indien in diesem Monat berichtet. Er traf dort Bauern, die eine gentechnisch veränderte Baumwollart anpflanzen. Dieser Baumwollart wurde ein Gen aus einem Bodenbakterium eingepflanzt, das das Insektizid gegen den ärgsten Feind selbst produziert. Dieses Saatgut ist zwar viermal so teuer wie das bisher verwandte konventionelle; aber die Mittel für die höheren Kosten sollten dadurch wieder hereinkommen, dass die Bauern weniger Pestizide einsetzen müssen. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen; das Gegenteil ist eingetreten. Der Pestizideinsatz der Bauern ist größer geworden, weil auch andere Schädlinge auftraten, und der Ernteertrag war deutlich geringer als beim Einsatz des konventionellen Saatgutes. Den Schaden haben nun die Bauern in Indien, die weit weg von diesem Hause sind. Ich glaube, das muss man berücksichtigen. ({2}) Das Bt-Insektengiftgen ist übrigens eines der Vorzeigeprodukte der grünen Gentechnologie. Auch wird immer propagiert, wie sinnvoll der Einsatz des so genannten Bt-Maises gegen den ärgsten Feind des Maises, den Maiszünsler, sein könne. Man ist zunächst geneigt, zu glauben, dass man im Vergleich zu normalen Maispflanzen weniger Pestizide, also weniger Insektengift, ausbringen muss. Bt ist übrigens das einzige im ökologischen Landbau zugelassene Gift. Es wird bei Befall der Pflanzen in seiner inaktiven Kristallform auf die Felder versprüht. Erst im Magen der Insekten wird es - diese interessante Variante kennen wahrscheinlich die wenigsten - in die aktive, giftige Form umgewandelt. Wenn es von den Insekten nicht aufgenommen wird, dann wird es vom Sonnenlicht binnen weniger Stunden zerstört; das Gift kann nicht mehr aktiv werden und es bilden sich keine Resistenzen. Genau das ist der elementare Unterschied zum gentechnisch veränderten Mais; er produziert dieses Gift nämlich ständig in seiner aktiven Form. Untersuchungen haben gezeigt, dass dieses Gift nach der Ernte im Pflanzenabfall noch persistent ist. Das führt schlicht und einfach dazu, dass die Gefahr sehr groß ist, dass die Schadinsekten Resistenzen ausbilden. Wenn Resistenzen ausgebildet werden, dann bedeutet das automatisch das Aus für den ökologischen Landbau und die Nutzung des Bt-Giftes.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Röspel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heiderich?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Heiderich, bitte, Sie haben das Wort.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Röspel, da Sie hier über die Frage des Bt-Maises sprechen, sind Ihnen sicherlich auch die Studien aus Nordamerika bekannt, die genau zu diesem Problem der Resistenzen gemacht worden sind. Im Endergebnis hat man in allen Studien festgestellt, dass es selbst dort nicht zu solchen Resistenzen gekommen ist, wo man keine Refuges, also Bt-Mais-freien Zonen, eingerichtet hat. So hat sich das Problem, das Sie eben angesprochen haben, in der landwirtschaftlichen Praxis nicht bewahrheitet.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das stimmt in dieser Konsequenz nicht. Es gibt zwar in der Tat diese Studien, es gibt aber auch andere Studien, die zu anderen Ergebnissen gekommen sind. Das hat dazu geführt, dass die US-amerikanische Umweltbehörde, die für die Zulassung zuständig ist, die EPA, den Anbau von Bt-Mais nur zulässt, wenn ein Insektenresistenz-Managementprogramm nachgewiesen wird. Das wiederum beinhaltet, dass auf 20 Prozent jeder Anbaufläche konventioneller Mais angebaut werden muss. Der wissenschaftliche Beirat bei der EPA hat übrigens einen Anteil von 50 Prozent gefordert, das heißt, man hätte auf der Hälfte der Fläche konventionellen Mais anbauen müssen, um sicherstellen zu können, dass es zu keinen Resistenzen kommt. Gerade aufgrund der Erkenntnisse in den USA, dass es Resistenzen gibt, hat die EPA, die nun wirklich nicht technikfeindlich ist, dieses Management in den USA vorgeschrieben. An diesem Punkt wird deutlich, dass diese Technologie schlicht und einfach nicht dazu geeignet ist, unter in Entwicklungsländern herrschenden Bedingungen angewandt zu werden. Dort gibt es in der Regel wenig große Flächen. Außerdem setzt diese Technologie ein Vorgehen und eine Kenntnis von Landwirtschaft voraus, die üblicherweise in den kleinbäuerlichen Strukturen nicht vorhanden sind. ({0}) Es gibt übrigens andere Wege - es wird ja immer nach Alternativen gefragt -: 65 000 Kleinbauern in Bangladesh versuchen künftig, ohne Chemie Landwirtschaft zu betreiben, das heißt auch ohne Abhängigkeit von Importen und großen Konzernen. Sie bauen im Wechsel Früchte wie Zwiebeln, Knoblauch, Rettich, Linsen, Kartoffeln, Kürbisse und Zuckerrohr an. Statt Kunstdünger nehmen sie stickstoffhaltige Hülsenfrüchte oder Wasserhyazinthen; man kann immer noch dazulernen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie bezeichnen in Ihrem Antrag an anderer Stelle - das haben wir heute schon mehrfach gehört - den so genannten goldenen Reis als mögliche Waffe gegen VitaminA-Mangel, der ja leider sehr häufig Kinder in der Dritten Welt betrifft. Was ist das nun für ein Reis? In diesen hat man gentechnisch Betacarotinmoleküle eingebaut, die die Vorstufe von Vitamin A darstellen. Die Chemiker und Biologen, verehrte Kollegin von der FDP, wissen, dass Betacarotin ein fettlösliches Molekül ist. Das heißt, Sie können es nur für den Körper verfügbar machen, wenn Sie geeignete fettreiche Nahrung zu sich nehmen. Deswegen essen wir den Salat mit Öl, um diese Moleküle überhaupt mobilisieren zu können. Nun gibt es aber gerade in den Bereichen, wo Vitamin-A-Mangel kombiniert mit anderen Mangelerscheinungen auftritt, keine Möglichkeit, sich fettreich zu ernähren. Das heißt, wer will, dass Golden Rice als Mittel gegen Mangelerscheinungen geliefert und angebaut wird, muss auch für fettreiche Ernährung sorgen, damit dessen Wirkungen überhaupt mobilisiert werden können. Ansonsten wird Betacarotin vom Körper ausgeschieden, ohne dass es in Vitamin A umgewandelt wurde. Das ist schlicht und einfach wissenschaftliche Erkenntnis, die berücksichtigt werden muss. Golden Rice bringt also auch Schwierigkeiten mit sich. Das Verrückte an dieser ganzen Geschichte ist: Der ursprünglich in den Entwicklungsländern angebaute Reis, der braune Reis, enthält in seiner Schale genug Betacarotin und sogar Vitamin A. Er ist aber von dem in der westlichen Zivilisation bevorzugten weißen Reis verdrängt worden. Dadurch, dass kein brauner Reis mehr angebaut bzw. dieser nicht mehr ungeschält gegessen wird, entstand das Vitamin-A-Problem. ({1}) Eines ist allen Technologien gemeinsam, die wir in die Dritte Welt exportieren: Sie werden einheimische, standortgerechte, bodenständige, traditionelle Verfahren und Saatgute verdrängen und neue Abhängigkeiten von großen Konzernen der ersten Welt schaffen und wahrscheinlich kleinbäuerliche Strukturen dauerhaft zerstören. Es ist nicht zu erwarten, dass diese teure Technologie den Entwicklungsländern dauerhaft gratis zur Verfügung gestellt wird. Das Eigeninteresse der Industrieländer wird natürlich bestehen bleiben. Einige Kollegen und ich haben das gestern wieder direkt erfahren können. Wir hatten Besuch von einem Reisbauern aus Thailand. Dieser Besuch wurde vermittelt von einer Organisation, die nicht unbedingt verdächtig ist, der Gentechnik mit Vorurteilen zu begegnen, nämlich von Misereor, dem Hilfswerk der katholischen Kirche. Dieser Reisbauer aus Thailand hat uns nicht nur die Situation seiner Familie, sondern auch die Situation von 5 Millionen Kleinbauern in der Region, in der er lebt, geschildert. Diese Bauern leben vom Anbau des Jasminreises. Das ist ein Reis mit einem besonderen Aroma, der in die USA exportiert wird. Damit erzielen die Bauern einen Teil ihrer Erlöse. Die USA versuchen nun im Rahmen eines Forschungsprojekts, diesen Reis mit gentechnischen Verfahren an die klimatischen Bedingungen in den USA anzupassen. Gelingt der Anbau in den USA, wird den thailändischen Bauern die Existenzgrundlage entzogen. Dann werden wir wieder eine Debatte führen und uns wahrscheinlich überlegen, mit welchen gentechnischen Methoden wir diesen Bauern helfen können. ({2}) Regelmäßig erscheinen neue wissenschaftliche Arbeiten zu den Auswirkungen der Gentechnologie auf die Umwelt, manchmal mit gegensätzlichen Aussagen: Mendelsohn et al. relativieren in der September-Ausgabe von „Nature Biotechnology“ die Auswirkungen von BtPflanzen auf die Umwelt. In Großbritannien gibt es die weltweit größte Studie zu den Auswirkungen gentechnisch veränderter Nutzpflanzen. Im Rahmen dieser StuRené Röspel die wird von massiven Auswirkungen auf die Vielfalt von Ackerkräutern und auf die Insektenfauna gesprochen. Wir wissen also nicht eindeutig, welche Folgen das Ausbringen von gentechnisch veränderten Pflanzen in die Natur haben kann. Ich habe vor einigen Wochen zusammen mit Herrn Bundestagspräsident Thierse von der Aktion „Mensch“ das Ergebnis der Kampagne „www.1000fragen.de“ überreicht bekommen. Eine der Fragen hat mich sehr beeindruckt: Dürfen wir ein Spiel spielen, dessen Regeln wir nicht verstehen? Wenn wir nicht wissen, welche Konsequenzen es haben kann, ein Gen aus einem Bodenbakterium in eine höhere Pflanze einzubauen, ist es dann nicht sinnvoller, eher zurückhaltend zu sein? Sollten wir nicht gerade gegenüber den Entwicklungsländern aufhören, zu glauben, dass unsere Technologie besser sei als ihre Tradition? ({3}) Mein letzter Punkt. Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass Gentechnik helfen könnte, Pflanzen zum Beispiel gegen Salz toleranter zu machen. Vielleicht sind die Entwicklungsländer schon weiter, als wir glauben. Ein thailändischer Forscher hat sich die 7 000 einheimischen Reissorten vorgenommen und hat 230 Varietäten unter salzhaltigen Bedingungen in seinem Institut angebaut. Vier Sorten haben diese salzhaltigen Bedingungen ertragen. In ihrem Anbau liegt die Zukunft in dieser salzhaltigen Region: ohne Gentechnik und mit Sorten, die die einheimischen Bauern bezahlen können und die sie selbst vermehren können, weil diese Sorten seit Jahrhunderten an die dortigen Bedingungen angepasst sind. Ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig erläutern können, warum ich glaube, dass wir das Problem der Welternährung nicht technisch lösen können. Die wichtigsten Ursachen haben andere schon erwähnt. Technik hilft da wenig. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Albert Deß, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Bedeutung der grünen Gentechnik für die Welternährung gibt Gelegenheit, auf die Chancen der modernen Biotechnologie hinzuweisen und die Öffentlichkeit erneut über die unsinnige Bremserrolle von Rot-Grün bei der Nutzung dieser Zukunftstechnologie aufzuklären. ({0}) Dass immer noch über 800 Millionen Menschen, hauptsächlich in den Entwicklungsländern, an Unterernährung leiden, ist schlichtweg ein Skandal. Neben eigenen Anstrengungen der betroffenen Länder ist die Völkergemeinschaft politisch und moralisch gefordert, alles zu tun, um die Eigenversorgung der von Unterernährung betroffenen Länder zu verbessern. Ein Mittel zur Hungerbekämpfung stellt ohne Zweifel der Einsatz der grünen Gentechnik zur Produktivitätssteigerung in den Entwicklungsländern dar. Diese moderne Technologie, Herr Kollege Röspel, ergänzt die konventionellen Verfahren zur Ertragssteigerung. Für eine gesicherte Ernährung der rasant wachsenden Weltbevölkerung ist der Einsatz der grünen Gentechnik unverzichtbar. ({1}) Jüngstes Beispiel ist die genetische Schaffung des so genannten Goldenen Reises - er wurde gerade schon angesprochen - durch Professor Ingo Potrykus von der Technischen Hochschule in Zürich und Professor Peter Beyer von der Universität Freiburg. Beide Biologen haben die Gene von Reispflanzen so verändert, dass sie Vitamin A produzieren. Diese revolutionäre Entwicklung ist für mehr als 2 Milliarden Menschen in der Dritten Welt, die sich hauptsächlich von Reis ernähren, von größter Bedeutung. 400 Millionen Menschen hat die einseitige Ernährung krank gemacht. Denn herkömmlichem Reis fehlt das lebenswichtige Vitamin A. Wegen dieses Vitaminmangels wird jedes Jahr rund eine halbe Million Kinder blind geboren. Wie das ZDF am 29. Juli 2003 in „Frontal 21“ eindrucksvoll berichtete, kann laut Professor Potrykus mit einer Tagesration von 200 Gramm von diesem Goldenen Reis der Vitamin-A-Mangel für rund 2 Milliarden Menschen beseitigt werden. Wenn hier behauptet wird, dass dadurch eine Abhängigkeit von Konzernen geschaffen werde, ist das - das sage ich mit aller Deutlichkeit - gerade in diesem Fall eine glatte Lüge und nichts anderes. ({2}) Dieser Goldene Reis geht kostenlos, ohne Einschränkungen und ohne irgendeine Limitierung an die Reiszüchter in den Entwicklungsländern und wird zurzeit weiterentwickelt, um dort die notwendigen lokalen und regionalen Sorten für die Bevölkerung herzustellen. Wie wollen Sie hier eine Abhängigkeit erklären, wenn die Patente kostenlos dorthin geliefert werden? Vitamin-Gene werden in traditionelle Reissorten eingekreuzt. Reisforscher sprechen von einem historischen Ereignis: Goldener Reis werde - Rot-Grün wird das nicht verhindern - die Gesundheit der Menschen verbessern. In den USA gelten die Erfinder schon als Nobelpreiskandidaten. Die Heimatländer der Erfinder aber, Deutschland und die Schweiz, bewilligen ihnen nicht einmal Forschungsgelder. So kann man mit seinen führenden Wissenschaftlern nicht umgehen. Deshalb fordere ich die rot-grüne Bundesregierung auf, ihre ideologischen Scheuklappen abzulegen und die Forscher Professor Ingo Potrykus und Professor Peter Beyer als Nobelpreisträger vorzuschlagen. ({3}) Die selbst ernannten Menschheitsbeglücker von Greenpeace aber kritisieren den Goldenen Reis als Trojanisches Pferd der Saatgutindustrie und beschwören angebliche Gefahren. Wie der genannte ZDF-Bericht zeigt, bringt Greenpeace aber nicht Frieden, sondern Unfrieden: So zerstörte kürzlich eine Greenpeace-Gruppe ein gentechnisches Versuchsfeld in Gotha, das vorher von den zuständigen Bundesbehörden genehmigt worden war. Wo, Frau Ministerin Künast, bleibt Ihre eindeutige Distanzierung von diesem Gesetzesbruch? ({4}) Frau Künast lehnt die Gentechnik als Mittel zur Hungerbekämpfung ab, schließt sich der Desinformation von Greenpeace an und behauptet in dieser ZDF-Sendung sogar, dass die grüne Gentechnik nur den Interessen der internationalen Saatguthersteller diene. Frau Künast, wenn Sie etwas für die Kleinbauern in der Dritten Welt tun wollen, dann - ich habe das gestern in der Ausschusssitzung angesprochen - müssen Sie sich bei der WTO für eine ganz andere Richtung einsetzen, als sie heute verhandelt wird. Denn wenn die Agrarmärkte vollständig liberalisiert werden, werden die Leidtragenden die Kleinbauern in den Entwicklungsländern sein, weil dann nur noch die Agrarkonzerne in den Industrieländern und in den Entwicklungsländern überleben werden. Aber dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. ({5}) Biologen in der Dritten Welt halten die Ablehnung der grünen Gentechnik als Mittel zur Welthungerbekämpfung zu Recht für westliche Arroganz und werfen den Industrieländern vor, den weltweiten Hunger nicht ernst zu nehmen. Ein Professor aus Nairobi sagte in dieser Sendung: Das reiche Europa hat die Wahl: Genfood - ja oder nein? Segen oder Fluch? - Hungerländer haben sie nicht. Wir sollten den Ländern, in denen Hunger herrscht, helfen, indem wir ihnen die Ergebnisse unserer Forschung kostenlos zur Verfügung stellen, damit sie den Hunger im eigenen Land besser bekämpfen können. Dies wäre wirkungsvolle Entwicklungshilfe. Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Mit sozialistischen Ideen lässt sich der Hunger in der Welt nicht bekämpfen. Da kann mit grüner Gentechnik wesentlich mehr erreicht werden. ({6}) Wie unglaubwürdig die Bundesregierung ist, möchte ich an einem Beispiel darstellen. Bundeskanzler Schröder besuchte im Juni 2000 die Saatgutfirma KWS. Er sprach dort den Forschern und Unternehmern im Bereich der grünen Gentechnik höchstes Lob aus und bot ihnen an, dass der Staat und die Wirtschaft gemeinsam ein Anbau- und Forschungsprogramm fördern. ({7}) Das ist doch genau das Gegenteil von dem, was heute von Rot-Grün vorgetragen wird. Aber Widersprüche gehören zu dieser Bundesregierung; das sind wir gewohnt. Wir werden mit unserem Antrag dafür sorgen, dass in der Öffentlichkeit über die grüne Gentechnik im Zusammenhang mit der Welternährung sachgerecht diskutiert wird. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich ganz herzlich bei der CDU/ CSU-Fraktion für die Möglichkeit, diese Debatte heute zu führen. Damit hört der Dank aber auch schon auf; denn ich finde Ihre Argumente wirklich gruselig. Sie sind voller Ideologie. ({0}) Ihre Ideologie, die Sie unter dem Deckmantel, das Hungerproblem in der Welt - das nehme ich Ihnen übel - mit der Gentechnik lösen zu wollen, verbreiten, finde ich infam. Das ist ein leeres Versprechen, von dem keiner satt wird. ({1}) Ich gehe noch einmal - eigentlich wollte ich es nicht tun - auf den Golden Rice, diese angebliche Wunderwaffe, ein. Erstens wird er - das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hat hier nachgeforscht - nicht kostenlos abgegeben. Zweitens ist diese Art von Zwangsmedikation - das möchte ich den Ausführungen meines Kollegen Röspel hinzufügen - keineswegs positiv für die menschliche Gesundheit. In der EU wurden extra, von Deutschland unterstützt, Grenzwerte in Bezug auf Betacarotin eingeführt, weil die Verwendung von Betacarotin für die Gesundheit problematisch ist. Drittens beinhaltet das Recht auf Nahrung die Möglichkeit - damit komme ich noch einmal auf die WTOKonferenz in Cancun zurück; das möchte ich den Ausführungen der Ministerin hinzufügen -, die Zwangsbeglückung in Form von gentechnisch veränderten Nahrungsmittelhilfe zurückzuweisen, wie das Sambia nach den Problemen, die in Mexiko bestehen, zu Recht getan hat. Das betrifft darüber hinaus die Aspekte der Nachhaltigkeit. Denn die Ackerflächen gehen doch aufgrund nicht standortgemäßer Bewirtschaftung verloren. Hier muss etwas getan werden. ({2}) Erneuerbare Energien wären zum Beispiel ein gutes Mittel, um die Armut in diesen Ländern bekämpfen zu helfen und die Hilfe zur Selbsthilfe voranzutreiben. ({3}) Den Ausführungen über Indien will ich hinzufügen: Dort ist gerade die gentechnisch veränderte Sorte eines Partners von Monsanto zurückgewiesen worden, weil sie die lokalen bzw. regionalen Sorten gefährdet, die eine bessere Resistenz gegen einen dort vorherrschenden Schädling haben. Damit komme ich zum Thema Resistenzen - Sie berücksichtigen offensichtlich überhaupt nicht die in diesem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse -: In den USA - davon hat der Kollege Röspel gesprochen - gibt es die Erkenntnis, dass es drei neue Mutationen gibt, und zwar im Zusammenhang mit dem Bt-Mais. Auch hier gibt es warnende Schilder, die in Anbaumanagementplänen gipfeln und die in allen betroffenen Ländern - auch bei uns - eingeführt werden müssten. Ich möchte auf die Studie aus Großbritannien zu sprechen kommen. Sie ist die aktuellste; einige Teile liegen seit längerem vor. In ihr werden wesentliche Punkte dargestellt: Erstens ist der Einsatz von gentechnisch veränderten Agrarprodukten und Lebensmitteln - das deckt sich übrigens mit unseren Erkenntnissen - unwirtschaftlich, weil sie unverkäuflich sind. Der Markt will sie nicht; der LEH lehnt sie ab. ({4}) - Aber natürlich. Es gibt Dutzende von Untersuchungen in Großbritannien. - Sie sind zweitens unwirtschaftlich, weil sie nicht zu gesicherten höheren Erträgen führen; die entsprechenden Studien kann man zuhauf wiederholen. Zudem führen sie zu geringeren Kosten. Sie sind drittens umweltschädlich; sogar die Vögel sind bedroht. Die Auskreuzungen sind wesentlich bedrohlicher, als bisher angenommen. Bisher ging man von 800 bis 900 Metern aus. Jetzt ist in Großbritannien von 26 Kilometern die Rede. Das heißt, man muss diese Erkenntnisse einbeziehen. Das „Handelsblatt“ schreibt heute: „Die Gentechnik ist tot.“ Es verweist darauf, dass Monsanto Großbritannien verlassen hat. Ich sage einmal: Monsanto hat es wahrscheinlich getan, weil es sowieso pleite ist. ({5}) Wir brauchen - das ist für uns wichtig - klare Regelungen zur Sicherung der gentechnikfreien Produktion; dies ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Koalitionsvertrages. Sie ist die Voraussetzung für die Wahlfreiheit der Verbraucher, die Sie doch alle wollen. All das, was an gesetzlichen Rahmenbedingungen dazugehört, ist keine Formalität, sondern zwingende Notwendigkeit: ({6}) verursachergerechte Haftung, Standortregister, Monitoring, Schutz der ökologisch sensiblen Gebiete. All dies gehört zur Wahlfreiheit. Wer sich diesen Regelungen von der Industrieseite widersetzt - die uns immer gesagt hat, die Koexistenz sei möglich, jetzt aber plötzlich Zweifel äußert und anders lautende Aussagen trifft -, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass dies ein Angriff auf die Demokratie, die Souveränität der Menschen und die Freiheit von Unternehmern und Verbrauchern ist. Der Mensch ist, was er isst; das ist seine Intimsphäre. Wer sie verletzt, verletzt damit auch die Persönlichkeitsrechte des Menschen. Deswegen begrüßen wir mit allem Nachdruck, dass die Ministerin Künast in Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie ein neues Gentechnikgesetz ({7}) in die Diskussion und in die Ressortabstimmung gebracht hat. Ihnen, insbesondere denen, die vor allem die Wirtschaft im Auge haben, lege ich nahe, was die Bauern sagen. Sie sagen, sie brauchten den Frieden in den Dörfern, sie brauchten Schwellenwerte - die 0,1 Mikrogramm sind gerade nach den britischen Studien wichtig -, ({8}) die es in der Praxis ermöglichen, dass man die Food- und Feed-Verordnung tatsächlich einhalten kann. Ferner sagen die Bauern, sie wollten keine Kosten für diejenigen, die gentechnikfrei produzieren. Ich füge hinzu: Wir wollen auch nicht, dass der Bundeshaushalt mit weiteren Kosten belastet wird. Der Bundesverband für Verbraucherschutz lehnt ebenfalls jede Maßnahme ab, die die Wahlfreiheit der Verbraucher gefährden könnte. In diesem Sinne werden wir in die Diskussion gehen, um den Schutz der gentechnikfreien Produktion zunächst einmal national zu gewährleisten; die EU hat sich ja um Regelungen herumgedrückt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden - auch unterstützt von der heutigen Diskussion; hier bin ich ganz zuversichtlich - damit erfolgreich sein. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich beginne mit einer Meldung von gestern: In Deutschland haben mittlerweile jedes fünfte Kind und jeder dritte Teenager Übergewicht. Die meisten essen zu viel, zu fett oder zu süß. Mit einer groß angelegten Kampagne will Bundesverbraucherministerin Renate Künast nun dem Übergewicht der Jugend in Deutschland zu Leibe rücken. Die Welternährungsorganisation meldet zur selben Zeit, dass über 800 Millionen Menschen an Hunger litten und weitere 1,5 Milliarden von Mangelernährung betroffen seien, und sagt, es seien verstärkte Anstrengungen erforderlich, um das Millenniumsziel überhaupt noch erreichen zu können. Diese Meldungen zeigen uns, dass sowohl der Mangel als auch der Überfluss Probleme bereiten. Wir können und dürfen nicht zusehen, wenn Millionen von Menschen hungern. Im Gegenteil, wir im reichen Norden stehen gerade deshalb in der Verantwortung, weil wir mit unserem wissenschaftlichen und technischen Know-how dazu beizutragen können, diese Not entscheidend zu lindern. Fruchtbares Ackerland ist in den meisten Entwicklungsländern ein knappes Gut, das durch Wüstenbildung sogar zusätzlich gefährdet ist. Daher muss auf derselben Fläche eine höhere Ernte erzielt werden, möglichst ohne Böden und Grundwasser stärker zu belasten. Dafür brauchen wir auch neue Ansätze und müssen die Erkenntnisse von Wissenschaft und Forschung für diese Aufgaben nutzbar machen. Natürlich sind gute Regierungsführung, der Zugang zu Wasser und Land und funktionierende Märkte von großer Bedeutung; das will hier niemand infrage stellen. Aber es wird eben auch die grüne Gentechnik gebraucht. Sie schließt keine der anderen Strategien aus. Mit unserem Antrag wollen wir besonders die Chancen der grünen Gentechnik bei der Bekämpfung von Hunger und Mangelernährung in den Mittelpunkt einer parlamentarischen Debatte stellen. ({0}) Durch gentechnische Methoden können Pflanzen gegen tierische Schädlinge, aber auch gegen Virus- und Pilzerkrankungen resistent werden. Der Verlust von Ernten ließe sich entscheidend reduzieren. Gentechnik kann helfen, Pflanzen in Bezug auf Einflüsse von Dürre und Salz tolerant zu machen, sodass sie auch auf schlechten Böden besser wachsen können. Auch die Qualität von Nahrungsmitteln ließe sich deutlich verbessern. Wir haben es schon mehrfach gehört: Durch Vitaminanreicherung im Reis könnte die Kindersterblichkeit um etwa ein Viertel gesenkt werden. Das glaubt nicht irgendwer, sondern das ist die Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation. ({1}) Besonders hervorheben möchte ich die positiven Umweltaspekte. Resistente Pflanzen können zu einem deutlich reduzierten Einsatz von chemischen Pflanzenschutzund mineralischen Düngemitteln führen. Dagegen spricht auch nicht das eine oder andere Beispiel, bei dem das nicht der Fall ist. Aber durch diese Technik erhalten wir Chancen. ({2}) Sie helfen uns, Böden und Grundwasser vor Belastungen zu schützen. Ist Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, eigentlich klar, dass die grüne Gentechnik auch große Chancen für den Naturschutz bietet? Ertragreiche Sorten können helfen, die Rodung von Regenwäldern und Savannen zu verhindern. Sie leisten damit einen Beitrag zum Klimaschutz. ({3}) - Das ist überhaupt nicht zum Lachen, Herr Kollege. Vor allem aus ideologischen Gründen verschließen Sie die Augen vor dieser Schlüsseltechnologie. Lassen Sie mich auf ein Beispiel aus meinem Wahlkreis verweisen. ({4}) Dort will die Bundesanstalt für Züchtungsforschung nach langjähriger, öffentlich finanzierter Forschung genveränderte Apfelbäume freisetzen, um die Resistenz gegen Schädlinge zu testen. Grüne Bundestagsabgeordnete kämpfen nun gegen die Freisetzung dieser Bäume und stellen damit den Erfolg dieser Investition infrage. ({5}) Um den Erhalt dieser Forschungseinrichtung hatte ich mich vor Jahren erfolgreich bemüht ({6}) und bin über die zukunfts-, forschungs- und standortfeindliche Aktion dieser Abgeordneten entsetzt. Natürlich dürfen wir mögliche Risiken nicht außer Acht lassen. Auch die Risikobewertung muss Teil der Forschung sein und bleiben. Das ist doch selbstverständlich. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Öffentlichkeit endlich objektiv und nicht einseitig über die grüne Gentechnik zu informieren. ({7}) Ich erwarte, dass das angekündigte 100-Millionen-EuroProgramm für Biotechnologieunternehmen, das am Montag dieser Woche verkündet wurde, auch für die Förderung der grünen Gentechnik eingesetzt wird. Angesichts der Potenziale der grünen Gentechnik für die Welternährung und die Umwelt ist eine Politik, welChrista Reichard ({8}) che Forschung, Entwicklung und Anwendung der grünen Gentechnik hemmt, einfach verantwortungslos. Wir haben die Chance, einen Beitrag gegen Hunger und Mangelernährung zu leisten. Nutzen wir sie! ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Antrag, über den wir heute debattieren, wird mit Recht auf den Welternährungsgipfel des Jahres 1996 und seine Abschlusserklärung verwiesen. Es wird im Antrag deutlich, dass die Nachfolgekonferenz im Jahr 2002 noch einmal die Brisanz der Welternährungskrise bewusst gemacht hat. In der Abschlusserklärung wurde auch betont, dass weltweit kaum Fortschritte erzielt wurden. ({0}) Vor allem wurden die Rahmenbedingungen national und international nicht so verbessert, dass mit besseren Produktionsbedingungen für Nahrungsmittel sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht zu rechnen ist. Der im Antrag erwähnte so genannte versteckte Hunger, also Mangelernährung, konnte nicht eingeschränkt werden. Die Bemühungen im Rahmen des Welternährungsprogramms, auf das verwiesen wird, für und in bestimmten Notstandsgebieten haben im Übrigen dazu beigetragen - zum Teil mit Miniüberlebensrationen aus gentechnisch verändertem Mais bzw. Soja -, dass die Zahl der Verhungerten bzw. Verhungernden vorübergehend zurückgegangen ist und weiter zurückgeht, Herr Carstensen. Allerdings wurden und werden damit keine Chancen für ein lebenswertes Leben eröffnet. Aber - das ist das Entscheidende - insgesamt ist die Produktions-, Verteilungs- und damit auch die Versorgungssituation zurzeit so, dass - darauf ist schon hingewiesen worden die Ziele des Aktionsprogramms 2015 weltweit auch nicht annähernd erreicht werden können. Das ist das eigentliche Problem und der eigentliche Skandal. Ein Mangel an Nutzung der Chancen der grünen Gentechnik bestand und besteht in diesem Zusammenhang - so stellt es auch die FAO dar - nicht, wie es die CDU/ CSU in ihrem Antrag direkt oder indirekt unterstellt. Aber es besteht nach wie vor ein Mangel darin, die Auswirkungen der Kolonialzeit abzustellen und die Bedingungen der Globalisierung sowie die ungerechte Welthandelsordnung mit tief sitzenden spürbaren strukturellen Problemen zu ändern. Dafür müssen wir uns einsetzen. ({1}) Hinzu kommt, dass sich die Besitz- und Eigentumsverhältnisse nicht geändert haben. Diese wurden oft sogar politisch und ökonomisch stabilisiert und verstärkt. Das ist ein weiterer Skandal. So führen zum Beispiel fehlende Bestimmungen über Mindestbetriebsflächen, das Fehlen einer Grundsteuer in vielen Ländern, fehlgeleitete Subventionen und Steuervorteile und die allgemeine Orientierung der bestimmenden Gesetze am Prinzip des Großfarmbetriebes weiterhin zu einer ungerechten Landverteilung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hemker, ich bin Ihrer Meinung, dass in vielen Entwicklungsländern die Besitz- und Eigentumsverhältnisse nicht in Ordnung sind. Aber sind Sie mit mir der Meinung, dass in Simbabwe durch die Veränderung der Besitzverhältnisse, die dort vorgenommen worden ist bzw. wird, die Ernährungssicherung für das Land verstärkt wird, sodass dort die Einkommenssituation der Bevölkerung verbessert wird?

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Deß, Sie wissen, dass ich in letzter Zeit an der Erarbeitung vieler Anträge beteiligt war, in denen auf die skandalöse Landverteilung sowie die daraus resultierenden Konflikte hingewiesen worden ist. Einen solchen Konflikt gibt es in der Tat in Simbabwe im Zusammenhang mit den schlimmen und ungerechten Methoden des Regimes und der Mobilisierung von jungen Kräften, den so genannten Green Bombers, die abseits aller gesellschaftlichen Strukturen gelebt haben und deswegen mobilisiert werden können. Genau deswegen - darauf verweise ich noch einmal - geht es darum, die strukturellen Bedingungen grundsätzlich zu verbessern, ({0}) damit nicht Diktatoren oder solche Leute wie in Simbabwe, zum Beispiel Herr Mugabe, diese Menschen mobilisieren können. Das ist unser Anliegen. Darum geht es bei jeder Welternährungsdebatte. Es muss klar sein, dass der größte Teil der Bevölkerung - das gilt und galt übrigens auch in Simbabwe keinen direkten Zugang zu eigenen nutzbaren Landflächen hat. Oder sie haben wie in vielen Entwicklungsländern viel zu kleine Flächen - und dann auch noch ohne Besitztitel - für eine angemessene, effiziente Produktion. Daraus folgt nicht nur für mich - darüber müssen wir bei einem solchen Antrag wie dem heute vorliegenden diskutieren -: Die Welternährungskrise ist vor allem durch strukturelle Probleme bedingt. Dieser Aspekt muss folglich auch bei den Reformbemühungen als wesentliche Ursache berücksichtigt werden, an denen sich im Übrigen unser Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung seit fünf Jahren international und national sehr intensiv beteiligen. ({1}) Neben dem Regelungsrahmen der Konvention über biologische Vielfalt und des Cartagena-Protokolls - darüber wurde hier vor einiger Zeit debattiert - ist für die Reformen, die Lösungsansätze und Programme die Vereinbarung für die Schaffung eines internationalen Rechts auf Nahrung von entscheidender Bedeutung. Lieber Kollege Carstensen, dazu haben wir im Übrigen vor einigen Monaten bereits einen Antrag vorgelegt. Ich hoffe nun, dass durch den Druck der USA und der international im GVO-Bereich tätigen Konzerne die anstehenden Vereinbarungen nicht aus wirtschaftlichen und politischen Eigeninteressen boykottiert und das Setzen auf GVO-Produkte einseitig verfolgt wird, wie das teilweise in der Vergangenheit der Fall war. Für die Lösungen bedarf es politischer Entscheidungen für umfassende Agrar- und Bodennutzungsreformen, die nicht durch ein einseitiges - da bedanke ich mich insbesondere bei dem Kollegen René Röspel, weil er die Details schon dargestellt hat - technisches Konzept ersetzt werden. ({2}) Hinzu kommt: Politische Entscheidungen zur Bekämpfung der Welternährungskrise müssen zunächst in den Industrieländern getroffen werden; auch darauf ist schon hingewiesen worden. Diese müssen darauf zielen, dass Subventionen für solche Produkte Schritt für Schritt gekürzt werden, die von uns aus in den Export und in den Handel gehen, und dass der Import solcher Produkte gefördert wird, die mit dem Transfair-Siegel ausgestattet sind und die aus den Ländern der Dritten Welt zu uns kommen. Die Bekämpfung der Hungerkrise sollte also vor allem durch eine Optimierung der Landnutzung erfolgen, die unter anderem durch eine effektivere und am Standort ausgerichtete Gestaltung der Bodennutzung, durch Qualifizierung der Farmbesitzer und der Arbeiter, durch Berücksichtigung des Nachhaltigkeitsaspektes und durch verbesserte Arbeitsbedingungen erreicht werden kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hemker, Sie wissen, dass ich Ihnen gerne zuhöre, weil Sie sehr sachkundig und sehr überlegt reden. Ich stimme Ihnen zu, dass bei der Bekämpfung des Hungers in der Welt eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig sind. Aber können Sie mir erläutern, warum Sie noch immer gegen eine dieser Maßnahmen in diesem großen Bündel, nämlich die technische Maßnahme Gentechnologie - sie stellt eine bestimmte Facette dar -, argumentieren? ({0})

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Carstensen, Sie verweisen in Ihrem Antrag darauf - und zwar, wie ich finde, ein wenig kritisch -, dass sich zum Beispiel die Consultative Group of International Agricultural Research mit diesen Fragen beschäftigt. Weiter schränken Sie sich insoweit ein, als Sie sagen, insbesondere die Förderung der grünen Technologie müsse weiter ausgebaut werden, was auch die Einschätzung dieses Institutes ist. Dieses Institut wird übrigens von den USA gefördert; ich nenne nur die Rockefeller-Stiftung. Das müssen wir hier aber nicht im Detail besprechen, sondern können das auf die Ausschussberatungen verschieben. Sie erwähnen an dieser Stelle aber nicht, dass es eine Reihe von internationalen Instituten gibt, die sich zum Beispiel für die Weiterentwicklung traditioneller Saatgutsorten einsetzen und zum Beispiel durch Mischung oder durch Verzicht auf Monokulturen bessere Ergebnisse erreichen als diejenigen Institute, zu denen hier heute auch schon kritische Anmerkungen zu hören waren. ({0}) Bei der Bekämpfung der Welternährungskrise geht es nicht nur darum, sich hinter die FAO und diese Institute zu stellen, sondern man muss sich zunächst auf die Rahmenbedingungen konzentrieren und darf nicht einen Teil besonders hervorheben und besonders positiv darstellen. Wir haben doch das Problem, lieber Kollege Carstensen, dass für all die Maßnahmen zur Bodennutzungs- und Landreform und zur Unterstützung der internationalen Institute noch kein Geld vorhanden ist, aber dass sich auf der anderen Seite viele Konzerne mit Unterstützung zum Beispiel der US-amerikanischen Regierung oder der kanadischen Regierung dafür einsetzen, die grüne Gentechnik weiter nach vorne zu bringen. Eigentlich besteht gar kein Mangel bei der Förderung der grünen Gentechnik. Stattdessen sollte etwas mehr für die Verbesserung der Rahmenbedingungen getan werden. Das ist ein anderer Ansatz. Sie haben vorhin darauf hingewiesen, wir hätten zu dieser Frage keine parlamentarischen Initiativen entwickelt. Das stimmt einfach nicht. Sie haben in Ihrer Intervention eben sogar Initiativen genannt. Wir haben vor den Verhandlungen in Cancun einen sehr umfangreichen Antrag vorgelegt, in dem wir auf die Rahmenbedingungen eingegangen sind. Wir haben einen Antrag zur Bodennutzungs- und Landreform vorgelegt; darüber haben wir gestern im Fachausschuss sogar noch gesprochen. Es gibt darüber hinaus einen Antrag von uns - er ist noch nicht in der parlamentarischen Beratung, ist aber schon eingebracht -, der sich mit der Frage Recht auf Nahrung beschäftigt; darauf hat Frau Ministerin Künast in ihrer Eingangsrede dankenswerterweise hingewiesen. So gesehen, lieber Kollege Carstensen, haben wir das Gesamtkonzept dargestellt; in diesem Zusammenhang wäre auch über Ihren Antrag zu diskutieren. Aber dass Sie diese Diskussion so eng führen, das lehnen wir ab. ({1}) Ich möchte Ihnen deswegen sagen: Es kommt jetzt darauf an, dass wir dies in der parlamentarischen Debatte und dann in den Debatten in den Ausschüssen deutlicher machen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hemker, sehen Sie bitte einmal auf die Uhr.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich beantworte doch die Frage des Kollegen Carstensen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Sie beantworten die Frage des Kollegen Carstensen schon lange nicht mehr. Ich habe genau darauf geachtet, dass die Uhr während Ihrer Beantwortung angehalten wurde. ({0})

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich war der Meinung, dass ich noch die Frage beantwortet habe. Ich werde dem Kollegen Carstensen dies im Ausschuss noch einmal erläutern, damit er versteht, in welchem Gesamtzusammenhang nicht nur mein, sondern unser politisches Engagement steht. Ich komme zum Abschluss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege Hemker, Ihre Redezeit ist deutlich abgelaufen. Bitte schließen Sie schnell ab.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich schließe mit drei ganz kurzen Hinweisen aus einem Papier ab. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Hemker, ich lasse diese drei kurzen Hinweise nicht mehr zu. Ihre Redezeit ist abgelaufen. ({0})

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Dann sage ich nur noch: FAO ist eben nicht nur GMO ({0}) und Welternährung ist mehr als Gentechnik. Schauen Sie sich die Erklärung von „Misereor“ und „Brot für die Welt“ sehr genau an! ({1}) Dort wurden kritische Anmerkungen für die Öffentlichkeit gemacht. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Voodoo, Zauberei, schwarze Magie, Hexenwerk manchmal könnte man meinen, man spräche von solchen Machwerken, wenn die grüne Gentechnik angeschnitten wird. Mittlerweile sind wir weit davon entfernt, sachlich über die Gentechnik - gar nicht zu sprechen von der grünen Gentechnik - diskutieren zu können. Ich muss sagen: leider. Die Medien spielen auf dieser Klaviatur ebenso gerne mit. Horrorszenarien werden aufgemalt und damit Emotionen sowie Ressentiments in der Bevölkerung geschürt, die für meine Begriffe der Sache nicht gerecht werden, sondern ihr eher schaden. Die Prämisse der Bundesregierung, unter der sie ihre Haltung zu diesem Thema darlegt, scheint Handeln durch Nichthandeln zu sein. ({0}) Im Falle des De-facto-Moratoriums auf europäischer Ebene hat die Bundesregierung ebenso durch Nichtstun geglänzt. Der Vorstoß von Wirtschaftsminister Clement in diesem Frühjahr war, wie ich meine, richtig. Was ist damit geschehen? Er wurde unter Protest von Rot-Grün begraben. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, im „Handelsblatt“ steht heute, dass die Versicherungen in Großbritannien das Risiko im Zusammenhang mit der Gentechnik ähnlich bewerten wie das Risiko des Terrorismus oder die Gefährdungen durch Contergan und ähnliche Dinge. Würden Sie das auch als Voodoo bezeichnen? ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das bezeichne ich nicht als Voodoo, aber es passt zu dem, was ich vorhin gesagt habe, dass Medien nämlich sehr gerne - fast ausschließlich und in erster Linie Horrorszenarien aufnehmen. Deshalb wurde das logischerweise auch als Erstes aufgenommen. ({0}) Im Übrigen stellt unsere Frau Ministerin für Verbraucherschutz Künast Unternehmen der Biotechnologie öffentlich an den Pranger. Frau Ministerin Künast, das haben Sie auch heute wieder getan. Haben Sie unseren Antrag überhaupt gelesen? Sie haben nämlich nur herzlich wenig dazu gesagt, dass die grüne Gentechnik als Chance begriffen werden kann. Lehrer würden in diesem Zusammenhang sagen: Thema verfehlt. Sie haben mit Recht auf Risiken hingewiesen. Chancen, die zweifelsohne auch vorhanden sind, haben Sie aber mit keinem Wort erwähnt. Sie haben es ungeprüft abgelehnt, zur Kenntnis zu nehmen, dass Chancen existieren. Das halte ich für Ideologie pur. ({1}) Es ist der falsche Weg, Unternehmen der Biotechnologie schlechtzureden. Die deutschen Unternehmen der Biotechnologie verlieren ihre Kompetenz, betroffene Unternehmen wandern ins Ausland ab und der Standort Deutschland ist um Arbeitsplätze wesentlich ärmer. Dies nimmt die Bundesregierung billigend in Kauf. Das ist eine falsche Politik. Sie hilft Deutschland nicht und sie verdeckt die vorhandenen Chancen der grünen Gentechnik völlig. Die Politik ist ideologisch motiviert. Uns, liebe Frau Kollegin Höfken, Ideologie vorzuwerfen halte ich doch für etwas verfehlt. ({2}) Ich plädiere daher vehement dafür, dass wir zu einer sachlichen und offenen Auseinandersetzung über das Thema zurückkehren. Dabei - das sehe ich genauso wie Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün - dürfen die Risiken nicht außen vor bleiben. Jede Medaille hat zwei Seiten, auch diese. Es lohnt sich, beide zu betrachten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Pfeiffer, ich habe vor kurzem gelesen, dass die Grünen vor etwa 20 Jahren einen Parteitagsbeschluss gefasst haben, mit dem sie sich gegen die Einführung der EDV-Technik ausgesprochen haben. Meine Frage ist: Sind Sie mit mir der Meinung, dass die Grünen mit ihrem Widerstand gegen die grüne Biotechnologie weltweit genauso scheitern werden, wie sie mit ihrem Widerstand gegen die Einführung der EDV-Technik gescheitert sind? ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Deß, jeder, der Zukunft nicht zur Kenntnis nimmt, jeder, der, ideologisch verbrämt, sich die Zukunft selbst verbaut, jeder, der Zukunftstechnologien nicht als Chance begreift, wird zwangsläufig scheitern; das ist keine Frage. ({0}) Wir sind uns darin einig, werte Kolleginnen und Kollegen, dass die Themen Welternährung und Gesundheit, Hunger und Armut auch uns betreffen. Grüne Gentechnik kann unter anderem oder auch - das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen: unter anderem oder auch - als Ergänzung oder Lösung dafür dienen. Diese Ergänzungen zur Kenntnis zu nehmen ist, denke ich, auch Ihre Aufgabe, die Aufgabe von Rot-Grün. Dies sage ich auch im Anschluss an das, was Kollege Deß eben gesagt hat. Die grüne Gentechnik könnte dem versteckten Hunger den Kampf ansagen. Die vielfältigen Möglichkeiten muss Politik zur Kenntnis nehmen, müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir dürfen sie nicht von vornhinein ablehnen. Es geht nicht an, dass wir sie nicht zur Kenntnis nehmen oder überhaupt nicht darüber diskutieren. Im Gegenteil: Man sollte ihnen in Teilbereichen nachgehen. Ich fordere Sie auf, genau das zu tun, nämlich von Ihrer kategorischen Ablehnung zurückzukehren zu einer sachlich geführten Diskussion, damit wir nicht mehr über Hexenwerk, Teufelswerk, schwarze Magie und Ähnliches reden müssen. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1216 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 f sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: 19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung steuerlicher Vorschriften ({0}) - Drucksachen 15/1621, 15/1798 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses ({2}) des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität ({3}) - Drucksache 15/1719 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Internationalen Übereinkommens von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See und zum Internationalen Code für die Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen - Drucksache 15/1780 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfunddreißigsten Strafrechtsänderungsgesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln ({6}) - Drucksache 15/1720 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({7}) Innenausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. November 2002 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten für Europol, die Mitglieder der Organe, die stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten von Europol - Drucksache 15/1648 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. April 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die Festlegung der Grenze auf den ausgebauten Strecken des Rheins - Drucksache 15/1650 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({9}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im Hochschulbereich - der Bologna-Prozess als Chance für den Wissenschaftsstandort Deutschland - Drucksache 15/1787 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen ({11}), Dr. Peter Paziorek, Bernhard Schulte-Drüggelte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Multitalent nachwachsender Rohstoff effizient fördern - Drucksache 15/1788 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Heinen, Julia Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Verbraucher aufklären und schützen - Innovation und Vielfalt in der Produktentwicklung und Werbung für Lebensmittel erhalten - Drucksache 15/1789 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorge- schlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 c bis 20 j sowie den Zusatzpunkt 3 auf: 20 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Übergangsregelung zum Kindschaftsrechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete Eltern - Drucksache 15/1552 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15}) - Drucksache 15/1807 - Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Ute Granold Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 15/1469 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17}) - Drucksache 15/1793 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Danckert d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. März 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Verlauf der Staatsgrenze in den Grenzabschnitten Bargen/Blumberg, Barzheim/Hilzingen, Dörflingen/Büsingen, Hüntwangen/Hohentengen und Wasterkingen/ Hohentengen - Drucksache 15/1187 ({18}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({19}) - Drucksache 15/1717 - Berichterstattung: Abgeordnete Petra Ernstberger Bernd Schmidbauer Dr. Ludger Volmer e) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({20}) Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht - Drucksache 15/1614 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 65 zu Petitionen - Drucksache 15/1701 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 66 zu Petitionen - Drucksache 15/1702 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 67 zu Petitionen - Drucksache 15/1703 - i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 68 zu Petitionen - Drucksache 15/1704 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 69 zu Petitionen - Drucksache 15/1705 ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({26}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sorgerecht für nichteheliche Kinder vor In- Kraft-Treten der Kindschaftsrechtsreform re- geln - Drucksachen 15/757, 15/1807 - Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Ute Granold Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 20 a: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung einer Übergangsregelung zum Kindschafts- rechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete El- tern, Drucksache 15/1552. Der Rechtsausschuss emp- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1807, den Gesetzentwurf in der Aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Zusatzpunkt 3: Unter Buchstabe b seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 15/1807 empfiehlt der Rechtsausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/757 mit dem Titel „Sorgerecht für nicht- eheliche Kinder vor Inkrafttreten der Kindschaftsrechts- reform regeln“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 20 c: Abstimmung über den Ge- setzentwurf des Bundesrates zur Änderung luftverkehrs- rechtlicher Vorschriften, Drucksache 15/1469. Zu die- sem Tagesordnungspunkt liegen zwei schriftliche Erklärungen nach § 31 GO vor.1) Der Ausschuss für Ver- kehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/1793, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- men. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- men. Tagesordnungspunkt 20 d: Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie- rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 5. März 2002 mit der Schweizerischen Eidgenossen- schaft über den Verlauf der Staatsgrenze in bestimmten Grenzabschnitten, Drucksache 15/1187. Der Auswär- tige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1717, dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- genommen. Tagesordnungspunkt 20 e: Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/1614 zur 1) Anlage 2 Übersicht 4 über Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 20 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 65 zu Petitionen - Drucksache 15/1701 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 65 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 20 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 66 zu Petitionen - Drucksache 15/1702 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 66 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 20 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 67 zu Petitionen - Drucksache 15/1703 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 67 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 20 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 68 zu Petitionen - Drucksache 15/1704 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 68 ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 20 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 69 zu Petitionen - Drucksache 15/1705 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Sammelübersicht 69 ist mit den Stimmen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({32}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({33}) - Drucksachen 15/1104, 15/1800 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Rolf Mützenich Dr. Ludger Volmer b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Petra Ernstberger, Hans Büttner ({34}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Marianne Tritz, Volker Beck ({35}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen durch Abrüstung und kooperative Rüstungskontrolle - Drucksache 15/1786 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({36}) Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern war ein guter Tag für die Politik der Nichtverbreitung. Wir alle haben mit Erleichterung das Ergebnis der Gespräche der drei europäischen Außenminister - Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands - mit Teheran zur Kenntnis genommen und die gute Nachricht in den Ausschüssen diskutiert. ({0}) Iran sagt zu, das Zusatzprotokoll der Internationalen Atomenergie-Organisation zu zeichnen, das weit reichende Inspektionen der Atomanlagen ermöglicht. Iran sagt außerdem zu, dieses Protokoll schon vor der Ratifizierung zu implementieren. Iran sagt weiterhin zu, die Urananreicherung und Wiederaufarbeitung auszusetzen und volle Transparenz bezüglich seines Atomprogramms herzustellen. Dies ist ein großartiger Erfolg einer weisen Dialogund Verhandlungsdiplomatie. Ich möchte Herrn Außenminister Fischer und seinen beiden Kollegen ausdrücklich von dieser Stelle aus danken. Dies ist ein schöner Erfolg. Frau Staatsministerin, wir bitten Sie, das weiterzusagen. ({1}) An dieser Stelle sagen wir aber auch der IAEO für ihre stringenten Bemühungen Dank, Iran zu einer völligen Offenlegung der Nuklearprogramme zu bewegen. Dieses Ergebnis ist möglicherweise ein dramatischer Wendepunkt in der Frage der Eindämmung von nuklearer Proliferation, vorausgesetzt, diese Vereinbarungen werden auch umgesetzt. Iran muss seine Zusagen schnell und ohne Abstriche erfüllen. Es muss darauf verzichten, einen geschlossenen Brennstoffkreislauf aufzubauen, und damit auch auf die Option verzichten, waffenfähiges Spaltmaterial zu produzieren. Tut es dies nicht, steht nicht nur die Stabilität einer ganzen Region auf dem Spiel, sondern auch das ohnehin gefährdete Gefüge des Nichtverbreitungsregimes. Mich erfüllt die Hoffnung, dass dieses Lösungsmodell auch ein Lösungsmodell für den schwierigen Fall Nordkorea sein kann. Mit dem KEDO-Prozess wurde ein solcher Versuch bereits früher unternommen. Er ist leider gescheitert. Aber wir haben keine andere Chance, als einen Dialog und eine Verhandlungslösung zu suchen. Präemptive Militärschläge stellen keine Lösung dar, weder für Nordkorea noch für Iran oder sonst ein anderes Land. Sie sind völkerrechtswidrig und führen zur Eskalation und zur Destabilisierung. Sie unterminieren das System kollektiver Sicherheit, das Grundlage der UNCharta ist. Es gibt keine Alternative zur Stärkung multilateraler Rüstungskontrollregime, wenn die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen unser Ziel ist. Diese Regime müssen gestärkt werden. Es ist völlig richtig, wenn die USA die kollektive Verantwortung aller Teilnehmerstaaten für die Einhaltung der Nichtverbreitungs- und Abrüstungsverträge einklagen, wie es der Vertreter der USA, Herr Rademaker, soeben vor dem Ersten Ausschuss der UN gemacht hat. Gelingen kann dies allerdings nur, wenn alle Teilnehmerstaaten ohne Ausnahme ihre Verpflichtungen vollständig erfüllen. ({2}) Die Umsetzung der Vertragsbestimmungen, aber auch die Fortentwicklung der Verträge angesichts neuer Herausforderungen ist notwendig. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Die Universalisierung, also das Drängen auf Beitritt aller Staaten zu den Konventionen, muss ein zentrales Anliegen multilateraler Rüstungskontrolle sein. Lassen Sie mich das einmal am Beispiel des Nichtverbreitungsvertrages durchdeklinieren. Vor 30 Jahren hatte man noch befürchtet, dass um das Jahr 2000 etwa 25 Staaten über Nuklearwaffen verfügen würden. Tatsächlich haben aber viele Staaten ihre heimlichen Nuklearprogramme aufgegeben und sind dem Nichtverbreitungsvertrag beigetreten, zum Beispiel Südafrika, Brasilien und Argentinien. Im Jahr 1995 gelang es, diesen Vertrag unbegrenzt zu verlängern. Das ist ein wichtiger Punkt. Nicht zuletzt der Abrüstungsprozess zwischen den großen Nuklearmächten mag dazu beigetragen haben, aber vor allen Dingen auch das Versprechen der Atommächte, alle Atomwaffen abzurüsten. Ein schrittweiser Prozess der Einlösung der Abrüstungsverpflichtungen aus dem Art. VI zeichnete sich ab. Der Atomteststoppvertrag lag auf dem Tisch, ein Mandat zum Abkommen über den Stopp der Produktion waffenfähigen Spaltmaterials - das ist der so genannte Cut-off - wurde diskutiert. Im Jahr 2000 einigte sich die Überprüfungskonferenz auf 13 Punkte zur Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages und zur Einlösung dieser Verpflichtungen. Seither aber gab es leider fast keine Fortschritte. Der Atomteststoppvertrag ist nicht in Kraft getreten, Verhandlungen zu einem Cut-off finden nicht statt, der ABM-Vertrag ist aufgekündigt worden, der START-IIVertrag zur Abrüstung strategischer Waffen wird nicht in Kraft treten. Dafür ist ein Vertrag zwischen Moskau und den USA geschlossen worden, der keine bindende Verpflichtung zur Abrüstung von Nuklearwaffen enthält. Die Umsetzung dieses Vertrages ist umkehrbar, nicht verifizierbar und nicht transparent. Indien, Pakistan und Israel sind die einzigen Staaten, die dem Nichtverbreitungsvertrag nicht beigetreten sind. Sie entwickeln stattdessen ihre nukleare Rüstung weiter. Nordkorea hat den Nichtverbreitungsvertrag aufgekündigt und droht mit nuklearer Aufrüstung. Japan und Saudi-Arabien stellen Überlegungen an, sich nukleare Abschreckungspotenziale zuzulegen. In den USA werden Forschungen zur Entwicklung neuer, operativer Nuklearwaffen angestellt und es ist vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, dass das Testmoratorium fällt. Kolleginnen und Kollegen, das alles zeigt, dass es Zeit für neues Denken in der Nichtverbreitungspolitik ist und dass neue Instrumente notwendig sind. ({3}) Die bereits erwähnten 13 Punkte aus dem Überprüfungsvertrag von 2000 sind zum Teil überholt. Das ist deutlich erkennbar. Deshalb müssen diese 13 Punkte - auch wenn nicht alle obsolet geworden sind - überprüft werden. Es gibt dazu bereits Vorschläge, zum Beispiel von der Middle Powers Initiative, die ich allen Abrüstern und Abrüsterinnen zur Lektüre empfehle. Ich bitte die Bundesregierung an dieser Stelle ganz offiziell, in diesem Jahr im Ersten Ausschuss der Resolution der New Agenda Coalition zuzustimmen. ({4}) Es gibt nicht einen Punkt in dieser Resolution, den wir mit unserer Politik nicht voll unterstützen würden und den die Bundesregierung ablehnen müsste. ({5}) - Das ist hervorragend; noch eine gute Nachricht. Es gibt keinen Multilateralismus à la carte. Bisherige Abkommen können nicht selektiv genutzt werden. Konsensbildung - so mühsam sie ist - ist nicht ein Auslaufmodell des Kalten Krieges, wie der bereits erwähnte Assistant Secretary of State der USA, Rademaker, vor dem Ersten Ausschuss der VN erklärt hat. Sie ist vielmehr eine zwingende Notwendigkeit, wenn man die Welt nicht in gute Staaten und Schurkenstaaten aufteilen will. Multilateralität bedeutet, die Sicherheitsbedürfnisse aller Staaten zu beachten, Stabilität durch Vertrauensbildung zu fördern sowie Transparenz und Überprüfbarkeit der Einhaltung von Verpflichtungen zu garantieren. Die Beteiligung an multilateralen Abkommen muss eine win-win-Situation für alle gewährleisten. Ich glaube, für das jetzt verabredete Prozedere mit dem Iran liegt der Charme genau darin, dass für beide Seiten eine absolute win-win-Situation entsteht. Nur dann kann die „noncompliance“ - das heißt die Nichteinhaltung von Verträgen - mit Fug und Recht von der internationalen Staatenwelt sanktioniert werden. Die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen auf Staatenebene bleibt die größte Herausforderung der Nichtverbreitungspolitik. Aber ein weiteres Kernanliegen zukünftiger Nichtverbreitungspolitik muss die Sicherung von atomaren, chemischen und biologischen Stoffen vor unbefugtem Zugriff, zum Beispiel durch Terroristen, sein. In diesem Zusammenhang möchte ich die G-8-Initiative „Globale Partnerschaft“ hervorheben, die auf diesem Felde eine hohe Priorität besitzt. Jeder einzelne Staat, der über solche Stoffe verfügt, trägt selber große Verantwortung für ihre Sicherung. Aber es ist auch in unserem eigenen Interesse, anderen Staaten bei der Sicherung dieser Stoffe zu helfen, wenn das für diese Staaten - an dieser Stelle ist Russland namentlich zu nennen - mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. ({6}) Deswegen möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir in diesem Bereich schon sehr viel getan haben, zum Beispiel mit der Anlage in Gorny zur Vernichtung chemischer Waffenbestände in Russland. Wir werden das im Rahmen der G-8-Initiative in Kambarka weiterführen, wo ein ähnliches Projekt aufgelegt wird. Wir werden des Weiteren in die Sicherung nuklearer Stoffe einsteigen. Ich halte das für einen sehr wichtigen Bereich, in dem wir in Zukunft noch mehr tun sollten. Darüber hinaus gibt es ein Projekt im Zusammenhang mit der Entsorgung von U-Booten, die in der SaidaBucht liegen. Das alles sind sicherlich sinnvolle Projekte. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung einen Beitrag von 1,5 Milliarden Euro über zehn Jahre zugesagt hat, mit denen diese Projekte vorangetrieben werden sollen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch kurz die neue Proliferation Security Initiative anführen, die den illegalen Transfer von Massenvernichtungswaffen verhindern und zur Stärkung und Verbesserung internationaler Nichtverbreitungsinitiativen beitragen soll. Wichtig ist, dass die Bundesregierung und die anderen europäischen Regierungen - dafür bedanke ich mich - darauf dringen, dass dies immer im Rahmen des internationalen Rechts geschieht. Das ist ein wichtiger Punkt. Der Jahresabrüstungsbericht 2002 zeigt Erfolge und die Wichtigkeit multilateraler Nichtverbreitungsabkommen, aber auch Stagnation, die Rückschläge und die Gefährdung des Erreichten auf. Kooperative Sicherheit - das sollte ein Leitgedanke sein - ist kein veraltetes Modell des Kalten Krieges, sondern eine Chance, auch den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Dazu möchten wir mit unserem gemeinsamen Antrag von Rot-Grün einen Beitrag leisten. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die Unionsfraktion fand, dass gestern, als die Nachricht über das Einlenken der iranischen Regierung kam, ein guter Tag war. Wir sehen das als einen ersten wichtigen Schritt an, der zu Hoffnungen berechtigt. Ich hoffe - ich glaube, das tun wir alle -, dass man im Rückblick das, was gestern gelungen ist, als einen entscheidenden Durchbruch bezeichnen wird. Auch wir zollen der Leistung unserer Diplomaten und des Außenministers Anerkennung. ({0}) Es gibt aber auch ein Jubiläum. Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren, am 22. Oktober 1983, hat die große Demonstration gegen die Nachrüstung und gegen den NATO-Doppelbeschluss auf den Bonner Hofgartenwiesen stattgefunden. ({1}) Damals gab es einen tiefen Konflikt darüber, ob Abrüstung einseitig oder gleichgewichtig und kontrolliert erfolgen solle. Unsere Position - Frieden schaffen mit immer weniger Waffen - erschien damals vielen Demonstranten als unglaubwürdig und illusionär; das weiß ich noch genau. Heute wird in dem von der Bundesregierung vorgelegten Jahresabrüstungsbericht 2002 der Moskauer Vertrag, der im Jahre 2002 zur strategischen Abrüstung zwischen den USA und Russland geschlossen wurde und der eine Reduzierung der Zahl der nuklearen Offensivwaffen um zwei Drittel bis zum Jahre 2010 vorsieht, richtigerweise als Erfolg verbucht. Heute könnte also die Formel „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen“ unser aller gemeinsames Ziel beschreiben. Grundsätzlich gibt es ja eine große Übereinstimmung im Unterausschuss „Abrüstung und Rüstungskontrolle“. Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird festgestellt, dass sich die Rüstungskontrolle in einer Krise befindet. Ich stimme dieser Feststellung ausdrücklich zu. Es gibt einen neuen Rüstungswettlauf in Asien und im Nahen Osten. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass er auch eine nukleare Dimension hat; denn Nordkorea und Iran streben - vermutlich oder tatsächlich - nach Atomwaffen. Welches sind die Ursachen für die Krise der Rüstungskontrolle? Erstens. Die bestehenden Mechanismen der Rüstungskontrolle wurden für den Ost-West-Konflikt entwickelt. Man hat auf eine gleichwertige gegenseitige Abrüstung und gegenseitige Kontrolle gesetzt. Man ging außerdem von der Grundprämisse einer gegenseitigen Abschreckung aus. Man unterstellte sich damit gegenseitig ein kalkulierbares und rationales Verhalten. Zweitens. Die Mechanismen, die wir bisher kennen, wurden im Hinblick auf die Rüstung von Staaten entwickelt. Man hat gemeinsam bestimmte Kategorien von Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen verboten. Man hat multilaterale Abkommen geschlossen, multilaterale Überprüfungen festgelegt und gemeinsame Institutionen wie etwa die IAEO zur Überwachung und Kontrolle geschaffen. Aber heute - das macht die veränderte Lage aus - gibt es zusätzliche oder veränderte Konfliktlagen und Bedrohungswahrnehmungen. Innerstaatliche Kriege, also Bürgerkriege, werden von den bisher bestehenden Rüstungskontrollregimen gar nicht erfasst. Die Privatisierung des Krieges wird davon nicht erfasst. Wir haben das Problem von Terrorismus und Failed States, also zerfallenen Staaten, sowie das Problem der Verbindung von Terrorismus und Staaten, die uns Sorgen machen, die von den Amerikanern „Rough States“ genannt werden. Wenn man über die Krise der Rüstungskontrollbemühungen spricht, muss man sich natürlich auch mit den Ursachen für die Hochrüstung und für die zunehmenden Rüstungsanstrengungen auseinander setzen. Es sind im Wesentlichen fünf Ursachen: Erstens: die jeweilige Bedrohungswahrnehmung. Zweitens: das Streben nach Vormacht, nach Einfluss, nach Prestige. Drittens: innenpolitischer Machterhalt. Denken wir nur daran, dass Saddam Hussein nicht nur die eigenen Streitkräfte zur Absicherung der diktatorischen Herrschaft gedient haben; er hat sogar die Massenvernichtungswaffen unter diesem Aspekt eingesetzt. Viertens: Unternehmer in Sachen Gewalt, die Rüstung als lukratives Geschäft betreiben. Denken wir zum Beispiel an die Situation der Warlords in Afghanistan. Fünftens: terroristische Ziele einschließlich des Strebens nach Massenvernichtungswaffen. Ich komme zu einem sehr schwierigen Punkt, der aus meiner Sicht ebenfalls eine Ursache für Rüstung sein kann, wahrscheinlich auch schon ist. Ich meine die Nebenwirkungen - so will ich es einmal nennen - unserer Sicherheitsstrategien. Wenn die Streitkräfte von klassischer Landesverteidigung auf Interventionsfähigkeit umgestellt werden, wenn wir aus humanitären Gründen intervenieren - aus unserer Sicht völlig berechtigt; wir haben es auch gemeinsam beschlossen -, dann bedeutet das in der Wahrnehmung mancher Dritte-Welt-Staaten - wie man verkürzt sagen könnte - natürlich eine latente Bedrohung und führt zu zusätzlichen Rüstungsanstrengungen. Auch die Erforschung so genannter Mini-Nukes, durch die die Schwelle eines Atomwaffeneinsatzes gesenkt wird - jetzt nur auf der Forschungsebene, aber es besteht die Gefahr, dass das dann auch operativ umgesetzt wird -, ist sicherlich eher rüstungstreibend als rüstungsbegrenzend. Natürlich gehört in diesen Kontext auch die Diskussion über Prävention und Präemption. Der Koalitionsantrag stellt also zu Recht fest, dass sich die Rüstungskontrolle in einer Krise befindet und deshalb neuer Impulse bedarf. Er umfasst 21 Punkte und - ich habe es gezählt - 13 Unterpunkte. Das zeigt auf der einen Seite, dass Sie ganz fleißig waren, und auf der anderen Seite zeigt es natürlich auch die Dichte des bisherigen Regelwerks. Im Grunde lauten die Vorschläge, die Sie zur Weiterentwicklung machen, in aller Regel: mehr von demselben, dasselbe noch etwas besser. Das sage ich gar nicht kritisch. In die Richtung geht es im Wesentlichen. Dass Sie die Bundesregierung ausdrücklich auffordern, finanzielle Zusagen auch einzuhalten - das habe ich mit etwas Schmunzeln gesehen -, versteht in diesem Hause angesichts der finanzpolitischen Unzuverlässigkeit der Bundesregierung nun wirklich jedermann. ({2}) - Klar, aber es kommt noch mehr. Sie haben in Ihrem Antrag eine Strategie, die präemptive Militärschläge zulässt, ausdrücklich abgelehnt. Das ist angesichts der Diskussion um das Solana-Papier eine, glaube ich, voreilige Festlegung. In dem Papier steht immerhin, dass man in Europa eine strategische Kultur entwickeln soll, die ein frühzeitiges, rasches und, wenn nötig, robustes Eingreifen begünstigt. In dem Solana-Papier heißt es auch: Für eine normgestützte Weltordnung gilt, dass die Gesetze mit den Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globale Erwärmung Schritt halten müssen. Auch in einem anderen Punkt haben Sie sich meines Erachtens falsch festgelegt. Sie fordern Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats als zwingende Voraussetzung für die Verhängung von Sanktionen. Das geht weit über das gegenwärtige Völkerrecht hinaus. Das gegenwärtige Völkerrecht lässt Sanktionen auch ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats zu. Ich weiß nicht, ob es klug ist, dass sich die Europäische Union beispielsweise eines solchen Instruments begibt, so wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. ({3}) Um zu Abrüstungserfolgen zu kommen, müssen auch die neuen Konflikte angegangen werden. Im Hinblick auf Failed States ist Nation Building erforderlich. Gefordert ist eine Antiproliferationpolitik mit Exportkontrollen, aber auch dem Abfangen von Lieferungen von Massenvernichtungswaffen zum Beispiel auf hoher See. Da sind Sie schon an einem Punkt, an dem das Völkerrecht weiterentwickelt werden muss. Auch bei der Terrorismusbekämpfung werden Sie ohne den Gedanken der Prävention nicht weiterkommen. Dort ist eine Weiterentwicklung des Völkerrechts erforderlich. In der Präventionsdebatte geht es nämlich vor allen Dingen um die letzten beiden Punkte: Antiproliferation und Terrorismusbekämpfung. Natürlich muss jede gefundene Regelung - an diesem Punkt sind wir uns sicherlich einig - allgemein gelten, also auch für Indien und Pakistan, und sie darf nicht konflikteskalierend wirken. Um zu erreichen, dass weitere Staaten, die miteinander im Konflikt stehen, abrüsten, dürfte es darauf ankommen, ob und wieweit es gelingt, den Grundgedanken durchzusetzen, dass man Sicherheit nicht gegen oder vor einem anderen Staat gewinnen kann, sondern nur miteinander. Nun komme ich auf den Nahen Osten zurück. Man sollte die Bundesregierung auffordern, sich für nahöstliche Rüstungskontrollgespräche stark zu machen. Es hat sie nach der Nahostkonferenz von Madrid von 1992 bis 1995 schon gegeben. Die Veränderungen, die im Irak zuletzt stattgefunden haben, und auch die Veränderungen, die sich im Iran hoffentlich abzeichnen, könnten ein Momentum für solche Gespräche darstellen. ({4}) Ich mache mir keine Illusionen: Ein Abkommen zur Abrüstung ist im Nahen Osten vorläufig nicht zu erreichen; aber ein Forum könnte dazu dienen, Bedrohungswahrnehmungen der beteiligten Staaten auf den Tisch zu bringen. Syrien könnte, anders als damals, bereit sein, teilzunehmen. Es hat nämlich selbst vorgeschlagen, die amerikanischen Vorwürfe, man habe Massenvernichtungswaffen, nicht bilateral mit den Amerikanern, sondern im internationalen Rahmen zu behandeln. Natürlich müssten, anders als damals, auch der Iran und der Irak - notfalls die dortige Übergangsregierung dazu eingeladen werden. Solche nahöstlichen Rüstungskontrollgespräche wären auch eine Chance für die USA und den Iran. Es gibt aus unterschiedlichen Gründen für beide Regierungen bisher keine offiziellen Möglichkeiten, sich in bilateralen Gesprächen auszutauschen; aber im multilateralen Rahmen könnte man Positionen gegenseitigen Interesses klären.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Letztlich wäre eine solche Initiative - an ihr müssten Europäer und Amerikaner nämlich in jedem Fall teilnehmen - auch ein Signal, dass Frieden und Sicherheit im Nahen Osten ein gemeinsames transatlantisches Interesse ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt die Staatsministerin Kerstin Müller das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht erst seit dem 11. September 2001 wissen wir, dass sich die Sicherheitslage seit dem Ende des Kalten Krieges völlig verändert hat. Wir sind mit ganz neuen, komplexeren sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert - Kollege Polenz hat einige davon erwähnt -: mit der Terrorismusgefahr, regionalen Instabilitäten, der Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Failed States. Angesichts dieser neuen, komplexeren Herausforderung brauchen wir die Rüstungskontrolle mehr denn je. Da dabei kein Staat im Alleingang Aussicht auf Erfolg haben kann, setzt die Bundesregierung auf Zusammenarbeit und natürlich auf Konfliktprävention, und das vor allem im multilateralen Rahmen. ({0}) Ich stimme den Prämissen des Koalitionsantrages ganz ausdrücklich zu. Ein Ansatz, der allein auf militärische Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit setzt, ist verfehlt. Wir müssen die zur Verfügung stehenden internationalen Rüstungskontrollmechanismen effektiv nutzen und verbessern, um adäquate und wirksame Antworten auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu finden und um vor allem das Risiko zu mindern, dass Terroristen Zugriff auf solche Waffen erhalten könnten. Die Gespräche der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands vorgestern in Teheran wurden hier erwähnt. Diese Gespräche haben uns gezeigt, dass eine kooperative Sicherheitspolitik mit den Mitteln der Diplomatie erfolgreich sein kann, auch wenn es schwierig ist. Der Iran hat sich zur vollen Kooperation mit der IAEO sowie zur Zeichnung und Umsetzung des Zusatzprotokolls klar bekannt. Er hat zugesagt, alle Aktivitäten zur Urananreicherung und zur Wiederaufbereitung vorläufig zu suspendieren. Damit werden zentrale Forderungen der internationalen Gemeinschaft in der Tat vorerst erfüllt. Ich glaube, das Ergebnis eröffnet wirklich die Chance für eine längerfristige Lösung und dafür, dass internationales Vertrauen wieder hergestellt werden kann. Es stärkt aber auch insgesamt das Nichtverbreitungsregime bzw. den Nichtverbreitungsvertrag. Wir hoffen wirklich, dass es nun auch zur Umsetzung dieser Zusagen kommt. Darauf wird vor allen Dingen die IAEO, darauf werden aber auch wir achten. Das Beispiel zeigt: Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sind der beste Ansatz für friedliche Lösungen auf globaler wie regionaler Ebene. Es muss mehr denn je darum gehen, die vorhandenen Instrumentarien im Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbereich zu stärken. Darum bemüht sich die Bundesregierung. Angesichts neuer Rüstungswettläufe - das wurde schon erwähnt - hoffe ich wirklich, dass wir dabei mit den Mitteln der Diplomatie in Zukunft erfolgreich sein werden. ({1}) Im Kampf gegen Proliferation spielen aber auch die Ausfuhr von kleinen und leichten Waffen, zugehöriger Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung sowie die Lieferungen von Dual-use-Gütern in Drittländer eine sehr große Rolle. Sie erlauben, dass ich auch in der Debatte zum Jahresabrüstungsbericht auf dieses Thema eingehe. Hier leistet die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag, weil sie auf diesem Feld eine äußerst restriktive Rüstungsexportpolitik betreibt. So sollen unter anderem künftig in Drittländern außerhalb von NATO und EU keine neuen Herstellungslinien für Kleinwaffen oder entsprechende Munition mehr eröffnet werden. Ferner beabsichtigen wir, den Exportgrundsatz „neu für alt“ anzuwenden, wo immer dies möglich ist. Das heißt, Lieferverträge sollen so gestaltet werden, dass außer Dienst gestellte Kleinwaffen zu vernichten sind und so dem Weiterverkauf entzogen werden. ({2}) Wir haben für diese Politik auch auf der Ersten VNKonferenz zum Kleinwaffenaktionsprogramm im Juli dieses Jahres in New York nachdrücklich geworben und uns für die Kontrolle von Rüstungsexporten und Waffenvermittlungsgeschäften eingesetzt. Dies ist uns eine zutiefst humanitäre Verpflichtung wie auch unsere fortgesetzten Bemühungen für ein umfassendes Verbot von Antipersonenminen. Außerdem ist die Genehmigungspraxis der Bundesregierung bei der Ausfuhr von Dual-use-Gütern, die neben ihrem regulären zivilen Zweck auch für Massenvernichtungswaffenprogramme missbraucht werden könnten, seit langem sehr restriktiv; sie genießt nicht zuletzt deswegen internationale Wertschätzung. Mit Blick auf die fortgesetzten Beschaffungsversuche einiger Staaten und auf die Gefahr des Zugriffs von Terroristen auf Massenvernichtungswaffen arbeiten wir hier aktuell an einer Verschärfung bei der Umsetzung der einschlägigen Instrumentarien der Exportkontrolle. Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich Ihnen allen noch einmal für Ihre Unterstützung bei dieser schwierigen Aufgabe der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung danken. Ich hoffe, dass wir auch zukünftig mit Ihrem Rückhalt rechnen können, wenn es darum geht, diese Herausforderungen als ein prioritäres Aufgabenfeld für die EU fest zu verankern. Da stehen wir am Anfang. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir auch hier weiterkommen und zukünftig eine wichtige Rolle bei Abrüstung und Rüstungskontrolle spielen werden. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen zu verhindern ist wichtiger und dringlicher als je zuvor. Das hat die aktuelle Situation im Iran gezeigt. Ich selber war vor wenigen Tagen mit dem Auswärtigen Ausschuss im Iran, um mir selbst ein Bild über die Lage vor Ort zu machen. Während dieses Besuchs versuchte die iranische Führung, uns davon zu überzeugen, dass sie mit ihrem Nuklearprogramm nur zivile Nutzung anstrebt. Wie Sie wissen, waren wir jedoch anderer Meinung. Inzwischen scheint die iranische Regierung umzudenken: Sie wird das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterschreiben und Inspektionen vor Ort zustimmen. Dies, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist in der Tat ein bemerkenswerter Erfolg unseres Außenministers und seines britischen und seinem französischen Amtskollegen. Hierfür drücke ich die Anerkennung auch der FDP-Fraktion aus. ({0}) Wie Sie wissen, ist die FDP mit der derzeitigen deutschen Außenpolitik nicht immer einverstanden, so auch in der Frage des Kunduz-Einsatzes in Afghanistan. Am Dienstag hat sich gezeigt, dass eine einheitliche europäische Außenpolitik erfolgreich sein kann. Bei aller Zuversicht muss ich dennoch sagen: Der Iran muss den Worten jetzt Taten folgen lassen. Ich hoffe nicht, dass der Iran irgendwann sein Atomwaffenprogramm fortsetzt. Das jetzt zugesagte Aussetzen des Programms stimmt zwar optimistisch, lässt aber Hintertüren offen. Auch ohne dieses Nuklearprogramm geht vom Iran eine potenzielle militärische Gefahr aus. Wie Sie wissen, verfügt der Iran über Langstreckenraketen, die Israel erreichen können. Das Beispiel Iran zeigt, wie schnell eine internationale Bedrohung von einem Land ausgehen kann, wenn es Massenvernichtungswaffen entwickelt oder herstellt. Wir müssen in diesem Bereich die Ursachen sozusagen an der Wurzel packen. Ohne Material und Knowhow aus dem Ausland wäre selbst ein Land wie der Iran kaum in der Lage, ein Nuklearprogramm voranzutreiben. Ob durch Unterstützung russischer Unternehmen oder durch Unterstützung aus Nordkorea: Immer wieder weisen Spuren in diese Länder, wenn es um Nuklearprogramme geht. Wir müssen dazu beitragen, dass Rüstungsexporte, die der Herstellung von Massenvernichtungswaffen dienen, endlich unterbunden werden. Iran ist abrüstungspolitisch ein wichtiges Thema, aber bei weitem nicht das einzige. Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung für 2002 ist schön aufgearbeitet und liest sich in weiten Teilen wie eine einzige Erfolgsstory. ({1}) Dass dieser Bericht aber nicht nur schön, sondern leider auch schönfärberisch geschrieben ist, zeigt schon die Tatsache, dass die Regierungsfraktionen zum Abrüstungsbericht heute einen eigenen Antrag einbringen. ({2}) In diesem Antrag ist die Aussage enthalten - Herr Polenz hat schon darauf hingewiesen -: Die Rüstungskontrolle befindet sich in einer Krise und bedarf deshalb neuer Impulse. Das ist wohl wahr. Viele der unzähligen Abrüstungsabkommen stammen in der Tat aus der Zeit, als die Welt noch in Ost und West geteilt war. Sie passen heute nicht mehr. Für die Bewältigung der neuen Herausforderungen sind diese Abkommen unzureichend. Das ist der Grund dafür, dass einzelne - wie wir wissen: ganz maßgebliche - Länder sich nicht mehr auf die multilateralen Instrumente der Rüstungskontrolle verlassen, sondern auf Bedrohungen inzwischen unilateral reagieren. Abrüstungspolitik braucht deshalb - mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts dringend eine Bestandsaufnahme. Damit meine ich nicht eine Auflistung der unterschiedlichen Instrumente; diese Auflistung ist in dem Abrüstungsbericht enthalten. Ich meine eher eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit den Fragen, was diese Instrumente heute noch leisten können, wie wir sie an grundlegend veränderte Situationen anpassen können und wie neue Instrumente möglicherweise aussehen sollten. Genau das bietet der Abrüstungsbericht eben nicht. In der ersten Lesung des Abrüstungsberichts haben Sie, Frau Staatsministerin Müller, für die Bundesregierung angekündigt: Wir müssen die vorhandenen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsinstrumente stärken und schärfen. Ich fordere die Bundesregierung auf, das nicht nur anzukündigen, sondern auch in diesem Bereich zu handeln und gleichzeitig mit den Partnern auf internationaler Ebene zu prüfen, ob wir möglicherweise neue, effektivere Instrumente brauchen. Gerne hätte ich in diesem Abrüstungsbericht gelesen, was vonseiten der Bundesregierung getan wird, um Rüstungskontrollen in Zukunft zu verbessern. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger von der SPD-Fraktion.

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Leibrecht, es gibt eine ganz einfache Möglichkeit, nämlich unserem Antrag zuzustimmen. ({0}) Auch ich möchte, wie schon viele Vorrednerinnen und Vorredner, Erleichterung über und Dank für den Erfolg zum Ausdruck bringen, den die Außenminister Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens auf ihrer Iran-Mission errungen haben. ({1}) Man stelle sich nur einmal vor, was passiert wäre, wenn der Erfolg ausgeblieben wäre. Der Iran gehört nämlich zu den Unterzeichnern des Nichtverbreitungsvertrages. Die Glaubwürdigkeit vertragsgestützter Abrüstung und Rüstungskontrolle steht und fällt doch mit der Bereitschaft der Staaten, die Verträge, die sie unterschrieben haben, einzuhalten. Ein Vertragsbruch bzw. der Ausstieg aus diesem Nichtverbreitungsvertrag hätten sowohl für die Region als auch für die Politik der Rüstungskontrolle zu unabsehbaren Konsequenzen führen können. Sogar eine Eskalation bis hin zu einem Krieg wäre denkbar gewesen. Im Augenblick können wir aufatmen; aber es ist keinesfalls so, dass alle Fragen geklärt wären. Das Zusatzprotokoll bezüglich der Safeguards der IAEO ist noch nicht unterschrieben. Die Urananreicherung ist lediglich ausgesetzt. Es bleiben also noch offene Fragen. Es ist eine Tür aufgestoßen worden; jetzt muss weitergearbeitet werden. Wir begrüßen die Schritte der drei Außenminister, weil sie zur Deeskalation beigetragen haben. Sie haben gezeigt, dass die Europäer in der Frage der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen handlungsfähig sind und erfolgreich sein können, wenn sie in den Zielen und bei den einzusetzenden politischen Mitteln einig sind und an einem Strang ziehen. ({2}) Deswegen macht es Sinn, die Politik der Deeskalation weiterzuentwickeln. Staaten dagegen zu einer „Achse des Bösen“ zu zählen ist in meinen Augen wenig hilfreich und kann das Gegenteil von Deeskalation bewirken. Wir dürfen deshalb nicht darin nachlassen, nach Wegen einer politischen Einbeziehung zu suchen, auch wenn uns der Charakter von bestimmten Regimen nicht gefällt. E kommt auf die richtige Mischung aus politischem Druck und politischer Einbeziehung an. ({3}) Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung enthält zahlreiche Beispiele dafür, was unter Einbeziehung zu verstehen ist, und zahlreiche Gründe dafür, warum hierdurch Sicherheit und Stabilität zu gewinnen sind. Die wichtigste Maßnahme, um die Sicherheit durch Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge zu erhöhen, ist die Universalisierung bereits bestehender Abkommen. Es müssen alle beitreten, liebe Kolleginnen und Kollegen, eben auch „die Bösen“. Bei der Nichtverbreitung von Atomwaffen ist das bereits weitestgehend gelungen. Nach dem Beitritt Kubas zum Nichtverbreitungsvertrag im letzten Jahr sind es eigentlich nur noch drei Staaten, die nicht beigetreten sind und sich somit auch nicht den Verpflichtungen des Vertrages unterworfen haben, nämlich Indien, Pakistan und Israel. Es ist sicherheitspolitisch sinnvoll, auch diese drei Staaten nicht auszugrenzen oder mit Sanktionen zu belegen; man muss ihnen vielmehr Möglichkeiten der Mitwirkung beim internationalen Dialog und eine Mitsprache bei Entscheidungen über globale Sicherheitsfragen einräumen. Indien hatte sich früher beklagt, bei wichtigen internationalen Sicherheitsfragen keine Beachtung zu finden. Das hat sich geändert - seit den indischen Atomtests. Diese Verquickung können wir nicht wollen. Deshalb müssen wir künftig mehr tun, um sie unattraktiv zu machen. Bei den beiden anderen Massenvernichtungswaffen, den C- und B-Waffen, sowie den Trägersystemen ist noch längst keine Universalität erreicht. Insbesondere die Länder des Nahen und Mittleren Ostens müssen gedrängt werden, die Verträge zu unterzeichnen und den daraus erwachsenden Verpflichtungen nachzukommen. Der Abrüstungsbericht 2002 ist - wie alle seine Vorgänger - informativ und eine gute Basis für die Arbeit in unserem Unterausschuss. In diesem Jahr ist er besonders von den Terrorangriffen am 11. September 2001 und den Entwicklungen im Irak geprägt. Er spiegelt die BemüPetra Ernstberger hungen der Einzelstaaten und der verschiedenen internationalen Organisationen und Allianzen um die Bekämpfung des Terrorismus wider und thematisiert insbesondere die Möglichkeit, dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Terroristen gelangen. Für die Beurteilung all dieser Maßnahmen ist es zweckmäßig, sich die bisherigen Daten über den Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen vor Augen zu halten. In den letzten 25 Jahren hat es vier signifikante Angriffe von Terroristen, also nicht von Staaten, gegeben, die Giftgas, Krankheitserreger oder radioaktives Material als Waffe eingesetzt haben. Der erste Fall war 1984, als eine religiöse Sekte im Zusammenhang mit Lokalwahlen den Salat eines Restaurants in Oregon mit Salmonellen vergiftete: 751 Erkrankte. Der zweite Fall war 1990, als die Liberation Tigers of Tamil Eelam, die LTTE, die Streitkräfte von Sri Lanka mit Chlorgas angriffen: 60 Verletzte. Der dritte Fall fand 1995 statt, als die japanische Aum-Shinrikyo-Sekte die U-Bahn von Tokio mit flüssigem Sarin angriff. Der letzte Fall fand im September 2001 nach den Terroranschlägen in den USA statt, als es Angriffe mit Milzbrand- und Anthraxbriefen gab. Im Abrüstungsbericht werden zusätzlich Ricinfunde in Großbritannien und Blaupausen zum Bau radiologischer Waffen bei nicht näher charakterisierten Terroristen thematisiert. Dies ist eigentlich eine relativ schmale Datenbasis für verallgemeinerbare Kenntnisse über die Bereitschaft von Terroristen, Massenvernichtungswaffen zu erwerben, zu produzieren oder sie direkt einzusetzen. Entsprechend beliebig erscheinen die im Abrüstungsbericht aufgeführten Maßnahmen, um dieser Problematik Herr zu werden. Einleuchtend und relativ naheliegend sind alle Maßnahmen, die sich auf die Sicherung von nuklearen Materialien, Nuklearwaffen und chemischen Substanzen sowie auf die Vernichtung von C-Waffen in Russland beziehen. Frau Kollegin Zapf hat bereits die Global Partnership erwähnt, die ein Erfolgsmodell Deutschlands ist, weil wir im Rahmen der Anlage in Gorny Vorarbeit für die Vertrauensbildung mit Russland geleistet haben. ({4}) Dies ist wirklich gut angelegtes Geld; denn die Kontrolle der Risikobestände von hoch angereichertem Uran, Plutonium und der chemischen Waffen in Russland ist besonders vordringlich. Ebenso bedeutsam wäre es, einen Vertrag über ein Verbot der Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwecke abzuschließen. Auch das Thema Cut-off-Abkommen hat Frau Kollegin Zapf bereits angesprochen. Diese Verträge, über die im Prinzip schon seit 1978 verhandelt wird, scheitern immer wieder daran, dass die Interessenlage Chinas und der USA sehr unterschiedlich ist. Es ist sehr anzuerkennen, dass im vorliegenden Abrüstungsbericht nicht nur die Erfolge und die positiven Schritte der bisherigen Abrüstungsarbeit dargestellt, sondern auch verpasste Chancen thematisiert werden. Zu einer dieser verpassten Chancen gehört die Uneinigkeit über ein brauchbares Kontrollregime für den B-Waffen-Vertrag und den Teststoppvertrag, die beide nach wie vor noch nicht in Kraft sind, obwohl hierfür bereits vor längerer Zeit in Wien eine Kontrollbehörde geschaffen wurde. Die so genannten neuen Bedrohungen, das heißt die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln, der Terrorismus und die unkontrollierte Macht von kriminellen Organisationen in schwachen oder zerfallenden Staaten, haben neue Anforderungen an die Rüstungskontrolle gestellt. Die Staatenwelt muss sich insgesamt sicher sein, dass die Verträge, die die Staaten unterschreiben, auch wirklich eingehalten werden. Dafür müssen die entsprechenden Überprüfungsmechanismen deutlich erweitert werden. ({5}) Wenn wir all dies nicht hätten und nicht weiter forcieren würden, wäre die Alternative, Zwangsmittel einzusetzen oder militärische Gewalt anzuwenden. Aber wir Abrüster können, so glaube ich, einstimmig sagen: Abrüstung durch Krieg ist für uns völlig unakzeptabel. ({6}) Diese Position, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir aber nur durchhalten, wenn es uns gelingt, Abrüstung durch Verträge als eine realistische Strategie darzustellen, die zum Erfolg führt. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Lamers von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über den Jahresabrüstungsbericht 2002. ({0}) Rüstung und Abrüstung haben schon immer in der Geschichte die Geister bewegt. Der britische Journalist und Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton hat einmal gesagt - ich empfehle dieses Zitat Ihrer Aufmerksamkeit -: Es ist nur verständlich, dass die Wölfe die Abrüstung der Schafe verlangen, denn deren Wolle setzt dem Biss einen gewissen Widerstand entgegen. ({1}) So kann es natürlich nicht gehen, meine Damen und Herren. Abrüstung heißt nicht, dass die Starken die Schwachen zur Abrüstung zwingen, um anschließend umso leichtere Beute zu haben. Abrüstung heißt, Vertrauen zu bilden, Stabilität zu schaffen und Sicherheit zu stärken. ({2}) und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. Karl A. Lamers ({3}) Das wichtigste abrüstungspolitische Ereignis dieser Tage war in der Tat die Nachricht aus Teheran, dass der Iran eingelenkt und sein nukleares Anreicherungsprogramm ausgesetzt habe. Das hört sich gut an. Ich bitte die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass dies im Ergebnis auch gut wird; ({4}) denn der Iran gehört nach dem vorliegenden Abrüstungsbericht zu den so genannten Problemstaaten, deren Nuklearprogramm nicht eindeutig eine militärische Nutzung ausschließt. Der Verdacht ist gewiss nicht von der Hand zu weisen, der Iran entwickle Nuklearwaffen - ein Alptraum für die ganze Welt! Alle Zeitungen haben es berichtet: Der britische, deutsche und französische Außenminister haben die Zusicherung des Iran erreicht, entsprechende Nuklearprogramme auszusetzen und nur noch friedliche Atomenergienutzung zu betreiben. Ich erlaube mir nur die Frage: Wo war Solana? Wäre es nicht besser gewesen, Europa mit einzubeziehen? ({5}) Unabhängig davon gibt ihnen der Erfolg Recht. Meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt, was gemeinsamer, entschlossener und entschiedener Druck in einer solchen Angelegenheit erreichen kann, wenn Amerikaner und Europäer gemeinsam Seite an Seite deutlich machen, dass sie nicht bereit sind, den Appetit von weiteren Staaten auf Atomwaffen hinzunehmen. ({6}) Genau dies ist im Fall Iran geschehen. Da haben alle an einem Strang gezogen: Die Amerikaner auf ihre Weise und die Europäer, die bemerkenswerterweise diesmal zusammenstanden: Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass man aus Fehlern lernen kann. Wie man sieht, mit Erfolg: Im Irak war die Weltgemeinschaft gespalten. Besser gesagt, sie wurde gespalten, nicht zuletzt durch den deutschen Bundeskanzler, (Zuruf des Abg. Winfried Nachtwei ({7}) der im Wahlkampf erklärte - das müssen Sie sich anhören, Herr Nachtwei -, egal was die Waffeninspektionen zutage förderten, Deutschland werde sich auf keinen Fall an Maßnahmen gegen den Irak beteiligen, auch nicht im Rahmen der Vereinten Nationen. ({8}) Das war schlimm; denn hier wurde Außenpolitik innenpolitisch instrumentalisiert und die Weltgemeinschaft durch eine neue Achse Berlin-Paris-Moskau gespalten. Dies hat der Abrüstung einen Bärendienst erwiesen. ({9}) Solche Spaltungen nützen immer dem, den man eigentlich zur Ordnung rufen will. Das war damals Saddam Hussein. Ich freue mich, dass es im Iran jetzt offensichtlich anders ist. Für mich ist diese Erkenntnis auch die Quintessenz aus einem persönlichen Gespräch mit dem Chief Inspector Hans Blix im Dezember des vergangenen Jahres in New York, der sagte, die Weltgemeinschaft habe bei der Abrüstung nur dann Erfolg, wenn sie wirklich zusammenstehe. Aber gerade dies war damals nicht der Fall. Vielleicht hätten wir den Krieg verhindern können, wenn wir glaubwürdig, geschlossen und mit einer Stimme aufgetreten wären. ({10}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung verfolgt nach ihren eigenen Worten einen kooperativen und präventiven sicherheitspolitischen Einsatz. Das geht in Ordnung. Ich frage aber, ob sie hier nicht schon wieder einen Gegensatz zur Haltung unserer amerikanischen Freunde aufbaut, wenn sie in diesem Bericht wörtlich ausführt, dass „der Schwerpunkt des US-Ansatzes ... in Maßnahmen zur Counterproliferation sowie militärischer Abschreckung“ liege, die sich alle Optionen der hoch entwickelten US-Militärtechnologie offen halte.“ Um es klar zu sagen: Ich sehe darin keinen Gegensatz, für mich gehört beides zusammen. Wir alle wollen eine Welt mit weniger Waffen. Wir wollen keine weitere Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Kampfmitteln. In Afghanistan hat die Weltgemeinschaft ein Zeichen gesetzt, dass sie nicht willens ist, Gewalt und Terrorismus hinzunehmen. Auch im Irak gibt es ein entsprechendes Signal. Die Welt hat in beiden Fällen Verantwortung übernommen. Ein Scheitern hier wie dort würde das Ende jeder Abschreckung bedeuten und nur die Falschen ermuntern. Im Jahresabrüstungsbericht sind Erfolge, aber auch Defizite und Schattenseiten aufgelistet worden. Bezüglich des Iraks habe ich darauf hingewiesen, dass es die Möglichkeit gegeben hätte, gemeinsam erfolgreich zusammenzustehen. Nordkorea ist jetzt in der Tat ein Krisenherd. Ich meine, wir sind alle gut beraten, der nordkoreanischen Regierung ein deutliches Signal zu geben. Auch hier muss die Weltgemeinschaft zusammenstehen. Nordkorea braucht keine Nuklear- und Langstreckenwaffen, um in der Zukunft bestehen zu können, sondern Reis, Brot und Energie. ({11}) In dieser Welt sind alle Verantwortlichen aufgerufen, dem Konfrontationskurs Nordkoreas so zu begegnen, dass es nicht zu einer Katastrophe kommt. Reden wir miteinander und zeigen wir dem Regime in Nordkorea die Grenzen auf! Dr. Karl A. Lamers ({12}) Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung zu den Ausführungen über die Entwicklung des Streitkräftepotenzials in Deutschland machen. In dem Bericht steht etwas von Reform der Bundeswehr. Von neuen Prioritäten und Herausforderungen ist die Rede. Dann aber kommt die Sache mit dem Geld. Wir haben gestern im Verteidigungsausschuss deutlich gemacht, dass wir den Verteidigungshaushalt ablehnen, Herr Staatssekretär - Sie wissen das, Sie sind ein ehrlicher Mensch -, ({13}) weil wir überzeugt sind, dass Sie mit diesem Haushalt in Höhe von 24,3 Milliarden Euro die alten und neuen Aufgaben der Bundeswehr nicht bewältigen können. ({14}) Wir brauchen einen klaren Auftrag der Bundeswehr und, daraus abgeleitet, das dafür notwendige Geld. Das, was Rot-Grün macht, geht auf keinen Fall. Es können nicht immer mehr Aufgaben und Einsätze mit deutlich weniger Geld bestritten werden. ({15}) So kann man Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in diesem Land nicht gestalten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einen Satz noch. - Lassen Sie mich mit Robert Schuman enden, der einmal gesagt hat: Die Abrüstung der Geister muss der Abrüstung der Waffen vorausgehen. ({0}) Das entspricht auch meiner Überzeugung. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat erneut einen umfangreichen Bericht zur Abrüstung vorgelegt. Großen Raum nehmen darin die Massenvernichtungswaffen, deren Nichtverbreitung und Rückbau ein. Meine dreiminütige Rede bezieht sich weniger auf das, was Sie an Positivem auflisten, sondern mehr auf das, was Sie schwammig umschreiben oder ganz verschweigen. Erstes Beispiel: Sie verweisen darauf, dass Nordkorea aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten ist. Sie kritisieren das zu Recht und warnen vor den unkalkulierbaren Risiken. Sie verschweigen aber, dass Indien, Pakistan und Israel, ebenso mutmaßlich Kernwaffen besitzende Staaten, dem Vertrag bislang überhaupt noch nicht beigetreten sind. Sie verschweigen darüber hinaus, dass die USA an der Entwicklung einer neuen Generation von Kernwaffen arbeiten, dafür neue Testgelände erschließen und so eklatant gegen bestehende Verträge verstoßen. Ich vermisse auch eine eindeutige Position zum Einsatz von uranangereicherter Munition durch die USA und Großbritannien wie jüngst im Irakkrieg. ({0}) Hinzu kommt: Die Wahrscheinlichkeit ist riesengroß, dass sich weitere Länder in ein nukleares Abenteuer stürzen, nachdem die USA völkerrechtswidrig einen Eroberungskrieg gegen den Irak geführt haben. Diese Bedrohungen sind nicht minder groß als die von Ihnen aufgelisteten. Daher gehören auch sie in einen seriösen Bericht. Zweites Beispiel: Sie schreiben mehrfach über bessere Kontrollen, um Rüstungsexporte einzudämmen. Sie widmen sich in Abschnitt VII des Berichts den so genannten Kleinwaffen, leichten Waffen und Antipersonenminen. Das tun Sie wiederum zu Recht; denn die bewaffneten Konflikte der vergangenen Jahre, zum Beispiel in Afrika, wurden zu einem großen Teil mit solchen Kleinwaffen ausgetragen. Jemand hat sie einmal die Massenvernichtungsmittel der heutigen Kriege genannt. Zu den am meisten exportierten und eingesetzten Kleinwaffen aber zählt neben der Kalaschnikow das deutsche G3-Schnellfeuergewehr von Heckler & Koch. Davon wurden 7 Millionen exportiert. In 17 Ländern wird es in Lizenz gebaut und in 64 Ländern wird es eingesetzt. Sie erklären, Sie wollen Rüstungsexporte eindämmen. Gut, dann fangen Sie zu Hause, hier in Deutschland an und nehmen Sie endlich auch Ihre eigenen Richtlinien ernst. ({1}) Demnach untersagen Sie sich nämlich selbst, Rüstungsgüter in Krisenregionen zu exportieren. Sie tun es dennoch unvermindert, wie auch das Beispiel Israel zeigt. Drittes und letztes Beispiel: Sie widmen im vorliegenden Bericht dem internationalen Terrorismus viel Platz. Das war zu erwarten. Das macht den Bericht allerdings nicht besser. Die PDS im Bundestag bleibt dabei: Den Kampf gegen den Terrorismus kann man gewinnen, einen Krieg dagegen nicht; denn Krieg löst keine Probleme, Krieg schafft neue Probleme. Deshalb ist auch die NATO-Strategie falsch, die Sie im Bericht loben, ebenso die Militarisierung der EU. Da wir hier über wirkliche Abrüstung reden: Die laufende Hoch- und Umrüstung der Bundeswehr ist das Gegenteil davon. Das steht auch nicht in dem Bericht, gehört jedoch dazu. Ein letzter Punkt: Eigentlich hätten wir schon heute Morgen in der Kernzeitdebatte, als wir hier das weite Thema Tourismus behandelt haben, über einen echten Abrüstungsschritt reden müssen, nämlich darüber, endlich das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide zu schließen, statt in ein solches Tourismusgebiet einen Bombenabwurfplatz hineinzupflanzen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie gestatten, dass auch ich mit gestern anfange, allerdings mit gestern vor 20 Jahren, als Hunderttausende von Menschen in der damaligen Bundesrepublik auf die Straße zogen, um gegen neue Atomwaffen in der Bundesrepublik zu protestieren. So viele Positionen sich sonst auch in der Zwischenzeit geändert haben mögen: Dieser Protest damals war und ist richtig. Es war ein Protest gegen den Wahnwitz der Atomrüstung. ({0}) Heute, 20 Jahre danach, ist der Ost-West-Konflikt Gott sei Dank überwunden und sind die riesigen Atomwaffenarsenale erheblich abgebaut worden. In diesem Zusammenhang kann ich allerdings nicht verstehen, warum laut Presseberichten noch 64 Atombomben mit einer Sprengkraft von 600 Hiroschima-Bomben in der Bundesrepublik lagern. Dies ist ein Überbleibsel des Kalten Krieges und meiner Auffassung nach nicht zu rechtfertigen. ({1}) Zugleich stellt die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen an neue staatliche und nicht staatliche Akteure eine neue Herausforderung dar. Der Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung macht deutlich, wie vielfältig die Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sind und dass diese sehr zu Unrecht im Schatten öffentlicher Aufmerksamkeit stehen. Auch ich will hier nur zwei gute Beispiele nennen, die weitgehend unbekannt sind: Das ist erstens die G-8-Initiative „Globale Partnerschaft“, die im vorigen Jahr von Kanzler Schröder und Präsident Putin angestoßen wurde, um mit den Altlasten des Kalten Krieges im Bereich der Massenvernichtungswaffen aufzuräumen. Die Bundesrepublik leistet in diesem Bereich hervorragende Beiträge. Das erste gemeinsame deutsch-russische Projekt zur Chemiewaffenvernichtung ist das einzige Projekt in Russland, welches in diesem Bereich überhaupt funktioniert. ({2}) Das zweite gute Beispiel ist die Selbstverpflichtung der Bundesregierung, alle ausgemusterten Kleinwaffen der Bundeswehr, eben gerade die G3-Gewehre, zu vernichten. Das sind Hunderttausende von Gewehren. ({3}) Wir müssen aber auch sehr nüchtern feststellen: Das letzte Jahr war ein schlechtes Jahr für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die verschiedenen Aspekte sind - das ist schon genannt worden - der deutliche Anstieg der Weltrüstungsausgaben, die zerfallenen Staaten mit der privatisierten Gewalt, Rüstungswettlauf in Asien und - leider treibend bei der Krise der Rüstungskontrolle - die USRegierung, die mit der Nuclear Posture Review und der Entwicklung von Kleinstatomwaffen die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen deutlich absenkt und deren so genannter Präventivkrieg gegen den Irak ein Schlag gegen das Völkerrecht und die multilaterale Abrüstung war. ({4}) Ich kann nicht verstehen, Kollege Lamers, und zwar heute noch weniger als damals, dass Sie dieser Art von völkerrechtswidrigem Krieg im Grunde genommen noch immer zustimmen. Das sprechen Sie nicht ehrlich und offen aus, aber Sie äußern hier indirekt Zustimmung. ({5}) Vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen und der Krise der Rüstungskontrolle ist der Antrag der Koalitionsfraktionen von besonderer und höchster Aktualität. In ihm wird die Krise der Rüstungskontrolle partnerschaftlich, aber deutlich beim Namen genannt. Er macht deutlich, dass neue Impulse unbedingt notwendig sind, um zu einer Stärkung und Universalisierung der multilateralen Abkommen zu kommen. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, das Instrument der multilateralen Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung wirksamer zu machen. Wodurch soll es wirksamer gemacht werden? Erstens kann das über den politischen Dialog geschehen, bei dem die Sicherheitsinteressen der anderen Seite wahrgenommen werden und bei dem man nicht einfach davon ausgeht, dass die anderen die Bösen sind, die dann sozusagen platt gemacht werden. Zweitens kann die Verifikation, also die Überprüfung, mit Sanktionsmöglichkeiten dazu beitragen. Aber politisch wirksam werden diese Maßnahmen nur, wenn sie auf dem Boden des Völkerrechts und mit der Stärke des Rechts durchgeführt werden. ({6}) Ich empfinde es als ausgesprochen ermutigend, dass sich die Europäische Union mit ihrem Entwurf einer Sicherheitsstrategie auf diesem Weg befindet. Ich empfinde es als ausgesprochen ermutigend, dass die AußenWinfried Nachtwei minister von Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik auf dieser Basis gegenüber dem Iran agiert haben und einen ersten Durchbruch erzielt haben. Schließlich finde ich es ermutigend, dass wir in der Frage Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung in diesem Hause - vor allem der erste Sprecher der Unionsfraktion hat das deutlich gemacht - weitgehend an einem Strang ziehen. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Nachtwei, ich unterstütze Sie bei dem, was Sie in Ihrem letzten Satz gesagt haben, dass wir in vielen Punkten weitgehend an einem Strang ziehen. Ich will nicht auf gestern zurückblicken, weil ich die Bewertung mit allen in diesem Hause teile. Ich will aber einen Blick zurück in den vergangenen Juni werfen sowie einige Kritikpunkte nennen, die sich insbesondere auf den Antrag, den wir heute behandeln, beziehen. Im vergangenen Juni war ein hörbarer Seufzer der Erleichterung in der Bundesregierung zu vernehmen, dass endlich und ohne eigenes Zutun der Entwurf einer europäischen Sicherheitsstrategie auf den Weg gebracht wurde. Diese Strategie in Form des Solana-Papiers enthält, wie wir gehört haben, wichtige Ansätze zur Abrüstung und Rüstungskontrolle. Diese Strategie ist in ihren wesentlichen Inhalten auf die einvernehmliche Zustimmung der derzeitigen und kommenden europäischen Mitglieder gestoßen. Im Dezember ist aller Voraussicht nach eine Entscheidung bezüglich dieses Papiers zu erwarten. Es gibt viele Punkte in Ihrem Antrag, die sehr lobenswert sind. Es verwundert aber doch, dass nur vier Monate später und so kurz vor jenem Dezember ein Antrag zur Beratung vorliegt, der in elementaren politischen und strategischen Punkten insbesondere im Begründungsteil eine Abstimmung mit den Vorschlägen Solanas nicht erkennen lässt. So schließt der Text des Solana-Papiers - es mag vielleicht ein wenig schwärmerisch sein, aber nicht minder bedeutsam - mit einem Appell an die transatlantische Zusammenarbeit, nämlich die europäische und die amerikanische Sicherheitsstrategie, die ebenfalls essenzielle Abrüstungs- und Rüstungskontrollfragen umfasst, aufeinander abzustimmen. Diesbezüglich ist es lohnend, den Begründungsteil Ihres Antrags zu überprüfen. Im Ergebnis bietet er - das kann ich Ihnen leider nicht ersparen - ein ärmliches Bild, weil hier erneut lediglich Pauschalurteile und Verurteilungen mit einer Konzentration auf die Vereinigten Staaten abgegeben werden. Die „nationale Sicherheitsstrategie“ der Vereinigten Staaten wird wie immer holzschnittartig - das mussten wir so oft hören - auf den Begriff Präemption verkürzt. Ähnlich wird die „Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen“ behandelt. Ich glaube, wir werden in dieser Zeit aufpassen müssen, dass wir unsere Stammtische durch den sprachlichen Stil nicht aufrüsten. Das wäre der falscheste Beitrag, den wir mit der Begründung eines durchaus richtigen Antrages leisten könnten. ({0}) Frau Zapf, die vielen durchaus begrüßenswerten und nicht unvernünftigen Einzelforderungen - Ruprecht Polenz hat sie benannt - erfahren mit einer solchen Ummantelung eine bedauerliche Abwertung. ({1}) Wenn Sie diese Diktion in Ihrem Antrag beibehalten, dann leisten Sie einen erneuten Beitrag zur Pflege der transatlantischen Verwerfungen. Das wünscht niemand in unserem Haus. ({2}) Wie auf diese Weise die notwendige Zusammenführung und Feinabstimmung der beiden vorhandenen großen Strategien bewerkstelligt werden sollen, bleibt Ihr Geheimnis. Allerdings ist es dann konsequent - diesen Punkt konnte ich auch nicht finden -, dass kein wirklich überzeugender Zusammenhang innerhalb der Bedrohungstrias Proliferation, internationaler Terrorismus und Failed States hergestellt wird. Damit fällt es leicht, jeglichem Einsatz von militärischen Mitteln, so wie Sie es tun, scharf entgegenzutreten und diesem im Forderungsteil durch ein geradezu apodiktisches Nichtnennen eine entsprechende Wertung zuteil werden zu lassen. ({3}) Das mag Ihrer respektablen Überzeugung sicher sehr entsprechen. Allerdings muss man die Frage stellen, ob man in diesem Gesamtzusammenhang damit einen europäischen Konsens herstellt. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf - ich darf das zitieren -, die Erarbeitung einer europäischen Nichtverbreitungs- und Sicherheitsstrategie zu nutzen, um die Bedeutung vertraglich verankerter und kooperativer Rüstungskontrolle zu stärken … Schön und gut und richtig. Weiterhin steht in Ihrem Antrag, dass die internationale Gemeinschaft geschlossen auf Verletzungen von Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregeln reagieren soll. Wenn Ihr Beitrag zur Geschlossenheit im Begründungsteil in der Nichtbeachtung gewisser gemeinsamer - europäischer und amerikanischer - Erkenntnisse besteht, nämlich dass beispielsweise - was sicherlich nie wünschenswert ist - als Ultima Ratio auch der Einsatz militärischer Mittel nicht ausgeschlossen werden kann, dann leisten Sie - ich sage es noch einmal - keinen gewichtigen Beitrag zu jener Geschlossenheit und für die Zusammenführung dieser Strategien. Deshalb darf man schon die Frage stellen - in eineinhalb Monaten stehen wir möglicherweise vor ihr -: Wollen Sie nun Solana oder nicht? Ich erwarte von der Bundesregierung und der rot-grünen Koalition irgendwann eine Festlegung, damit wir wissen, woran wir hier sind. ({4}) Sie fordern zu Recht ein multilaterales Handeln. Effektiver Multilateralismus gründet sich gelegentlich aber auch auf einen angemessenen Tonfall und entsprechende Umgangsformen mit unseren Partnern. Beides lassen Sie in diesem Antrag - wiederum im Begründungsteil - vermissen. Effektiver Multilateralismus verbietet auch unreflektierte Pauschalierungen wie Kritiklosigkeit. Natürlich muss, darf und soll Kritik auch gegenüber unseren Partnern möglich sein. Das müssen wir uns ohne Frage gegenseitig gestatten. Wir müssen nur sehr aufpassen, dass wir in all diesen Dingen Kritik nicht zur Manie werden lassen, nämlich dann, wenn man die Suppe vor lauter Haaren nicht mehr schmeckt. ({5}) Das transatlantische Verhältnis bzw. der Atlantik scheint in meinen Augen aber noch voll von Haaren zu sein. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Jahresabrüstungsbericht 2002 der Bundesregierung, Drucksachen 15/1104 und 15/1800. Der Ausschuss empfiehlt, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen und die Bundesregierung zu bitten, mit der jährlichen Berichterstattung fortzufahren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1786 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldzustandsbericht 2002 - Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Cornelia Behm, Volker Beck ({1}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Waldzustandsbericht 2002 - Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - Drucksachen 15/270, 15/745, 15/1027 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Cornelia Behm Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion das Wort.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sieht es in unseren Wäldern aus? Aus dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung wird deutlich: Seit 1995 hat sich der Zustand unserer Wälder nicht weiter verschlechtert. Das in Deutschland befürchtete Waldsterben konnte gestoppt werden. Das ist ein Erfolg, aber leider auch nur ein sehr schwacher Trost; denn noch immer sind zwei von drei Bäumen in unseren Wäldern krank. Die rotgrüne Bundesregierung hat deshalb in den letzten Jahren enorme Anstrengungen zum Schutz der Wälder unternommen. Bedauerlicherweise ist jedoch schon heute abzusehen, dass sich die Situation auch im kommenden Jahr kaum verbessern wird. Woran liegt das? Ich bin mir sicher, wir alle hier haben die südeuropäischen Sommermonate bei uns in Deutschland sehr genossen. Für viele Wälder sind die Folgen dieses Sommers mit lang anhaltender Trockenheit jedoch katastrophal. In einigen Regionen sind ganze Kulturen und Jungbestände von Aufforstungen abgestorben. Die Trockenheit hat zu einer massiven Vermehrung der Borkenkäfer geführt. Die Käfer haben den durch die Dürre gestressten Bäumen vor allem in strukturarmen Monokulturen im wahrsten Sinne des Wortes den Saft abgedreht. Um das Problem der massenhaften Ausbreitung der Borkenkäfer in den Griff zu bekommen, mussten die befallenen Bäume vorzeitig abgeholzt und verkauft werden. Das wiederum führt zu einem Überangebot, drückt auf die Holzpreise und zwingt einige Forstbetriebe in die Knie. Sind wir der Situation hilflos ausgeliefert? - Nein, meine Damen und Herren, das sind wir nicht. Wir können etwas tun und wir müssen etwas tun, damit unsere Wälder die zunehmenden Klimaschwankungen, zum Beispiel Dürre und Sturm, langfristig besser überstehen. ({0}) Wir brauchen dafür keine aufwendigen Aufforstungsprogramme, keine teuren und umweltbelastenden Pestizideinsätze, zum Beispiel gegen die Borkenkäferplage oder gegen schädlichen Pilzbefall. Wir brauchen auch keine flächendeckenden Düngungen. Sie sind nicht nötig, um unsere Wälder in wetterextremen Zeiten wachsen zu sehen. ({1}) Die Lösung ist recht einfach: Wir müssen den eingeschlagenen Weg der naturnahen Bewirtschaftung unserer Wälder konsequent fortsetzen. ({2}) Es hat sich gezeigt, dass Mischwälder mit naturnahem Wirtschaftskonzept Trockenperioden deutlich besser überstehen als Monokulturen. Die gefährlichen Killerkäfer haben in einem Mischwald sehr viel geringere Chancen, sich auszubreiten. Auch Jungbestände, die sich selbst angesamt haben, sind durch Wetterextreme in der Regel nicht gefährdet. Das Geld für Neuanpflanzungen können wir hier also einsparen. ({3}) Es ist deshalb richtig, naturnahe Waldbewirtschaftung im Bundeswaldgesetz verpflichtend festzuschreiben. Dafür setzen wir uns ein. ({4}) Wir brauchen starke, widerstandsfähige Wälder. ({5}) Monokulturen sind in Deutschland Kunstwälder. Sie gehören nicht in unser Land. Sie sind zu anfällig, zu teuer und deshalb betriebs- und volkswirtschaftlich höchst problematisch. ({6}) Wälder bilden die wirtschaftliche Grundlage für die vielen Waldbauern und die Holz verarbeitende Industrie in unserem Lande. Daher ist es ein wichtiges Ziel - dies haben wir in unserem vorliegenden Antrag genau beschrieben -, die Rahmenbedingungen für die Forstund Holzwirtschaft in Deutschland zu verbessern. ({7}) Mehr als 700 000 Arbeitsplätze hängen an diesem wichtigen Wirtschaftszweig. Das sind mehr als in der chemischen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeugung zusammen. Auf diese Arbeitsplätze werden wir nicht verzichten. ({8}) Wir müssen uns noch mehr anstrengen, die Waldwirtschaft voranzubringen und als wichtigen Wirtschaftsfaktor in Deutschland zu stärken. Wie können wir das erreichen? ({9}) Wir müssen die Schadstoffeinträge weiter reduzieren; das ist gar keine Frage. Wir brauchen hohe Qualitätsstandards, um auf dem Markt bestehen zu können. Ich nenne ein Beispiel: Der Möbelriese Ikea - er ist uns allen bekannt - will zukünftig nur noch Massivholzmöbel mit Qualitätssiegel auf höchstem Niveau verkaufen. Andere Unternehmen stehen ebenfalls in den Startlöchern. Wir dürfen dieses deutliche Signal hin zu hochwertigen Zertifizierungsstandards in Deutschland nicht verschlafen. ({10}) Wir müssen uns massiv anstrengen, damit genügend entsprechend zertifiziertes Holz aus Deutschland zur Verfügung steht; denn die Konkurrenz - da bin ich mir ganz sicher - schläft nicht, während wir in Deutschland im Gezänk um Qualitätsstandards wichtige Marktchancen aus den Augen zu verlieren drohen. Die Möbelindustrie wird ihr Holz dann aus europäischen Nachbarländern beziehen. Da ist man im Übrigen schon sehr viel weiter als bei uns. Der englische Staatswald ist bereits nach FSC zertifiziert. Aber auch über die EU hinaus gibt es immer mehr Bestrebungen, sich hohen Standards zuzuwenden. In Russland gibt es immer mehr zertifizierte Betriebe. Das sollte uns aufrütteln. Wir brauchen hohe Qualitätsstandards. Wir müssen uns zur Stärkung der heimischen Forst- und Holzwirtschaft aber auch gegen ruinöse internationale Wettbewerbsverzerrungen zur Wehr setzen. Ich bin sehr froh, dass sich auf EU-Ebene endlich etwas bewegt und die Mitgliedstaaten einen Aktionsplan gegen illegale Holzimporte erarbeiten. Billigholzimporte schwächen den europäischen und auch den heimischen Holzmarkt und gefährden den Bestand der letzten Urwälder auf unserer Erde. Die Waldbestände vor allem in den Entwicklungsländern sind durch Raubbau enorm zurückgegangen. In den letzten fünf Jahren wurde eine Waldfläche von der Größe Frankreichs vernichtet. Sie ist unwiederbringlich verloren. In Deutschland nehmen die Waldbestände Gott sei Dank wieder zu. ({11}) Uns steht ein jährliches Potenzial von rund 60 Millionen Kubikmetern Holz zur Verfügung. 20 Millionen Kubikmeter bleiben jedoch zurzeit ungenutzt. Das bedeutet, dass noch enorme Kraftreserven zum Klimaschutz in un5946 seren Wäldern schlummern. Diese Kraftreserven müssen wir mobilisieren. ({12}) So sichern wir Arbeitsplätze, stützen die heimische Forst- und Holzwirtschaft und tun gleichzeitig etwas für die Umwelt. ({13}) Wie machen wir das? Das ist eigentlich ganz einfach. Holz ist genug da. ({14}) Am Absatz mangelt es. Wir fördern also den Absatz. Wir schmieden ein weitreichendes Aktions- und Organisationsbündnis in Deutschland, die Charta Holz, um Holz vor allem in den Bereichen Wohnen, Bauen und Heizen aus seinem derzeitigen Schattendasein herauszuholen. ({15}) Die Skandinavier machen uns vor, wie es geht. Sie verbrauchen pro Kopf zwei- bis dreimal so viel Holz wie wir. Da sind also noch enorme Potenziale. Holz als nachwachsender Bau- und Heizstoff wird bei uns leider noch nicht so akzeptiert und hat sich noch nicht so durchgesetzt, wie es nötig wäre. Das wollen wir ändern. Das macht ökonomisch und ökologisch Sinn. Das machen wir mit der Charta Holz. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Charta Holz einen wichtigen Prozess in Gang gesetzt. Im Dezember sollen die ersten Ergebnisse vorliegen. Ich bin sehr gespannt und ich bin guter Hoffnung, dass wir hier einen Schritt weiterkommen. ({16}) Es ist schon erstaunlich: In Deutschland wird ganz offensichtlich der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. ({17}) Obwohl wir tolle Waldbestände in Deutschland haben, wird Holz bei Bauvorhaben häufig sträflich benachteiligt. ({18}) Ich nenne ein Beispiel: Es lag ein Angebot vor, die Messehalle in München in Holzbauweise zu errichten, das sogar noch 20 Millionen Euro günstiger als ein anderes Angebot war. Trotzdem hat man sich gegen dieses Angebot entschieden. Woran liegt das? Ganz offensichtlich ist die Stahl- und Betonlobby in Deutschland besser aufgestellt als die Forst- und Holzwirtschaft. Diese Schieflage wollen wir mit der Charta Holz ein wenig geraderücken. Die hohe Qualität von Holz auch bei Großkonstruktionen ist inzwischen bewiesen. Ich nenne als Beispiel das Holzgroßbauprojekt auf dem ehemaligen EXPO-Gelände. Diese Halle erhielt das größte Holzdach Europas. Es geht also. Holz sollte nicht nur bei Neubauten verstärkt zum Zuge kommen, auch bei Renovierungs- und Sanierungsmaßnahmen gibt es einen enormen Bedarf an Holz. In Deutschland sind zurzeit 25 Millionen Wohnungen modernisierungsbedürftig. Da könnte man Holz sehr gut einsetzen. Auch als Heizstoff ist Holz eine Alternative zu Kohle, Öl und Gas. ({19}) Warum nutzen wir diesen attraktiven nachwachsenden Rohstoff nicht noch viel stärker? ({20}) Tun wir es doch! - Ich hoffe, dass wir mit der Charta Holz den Durchbruch in Deutschland schaffen werden, und bedanke mich. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Schirmbeck von der CDU/CSU-Fraktion.

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Hiller-Ohm, wenn Sie heute die Charta Holz statt eines prosaischen Entschließungsantrags vorgelegt hätten, dann wären wir einen Schritt weiter. Ich kann Ihnen nur zustimmen, dass Holz ein idealer Baustoff ist und wir Holz viel stärker energetisch nutzen könnten. Aber diese Feststellung, über die wir uns alle einig sind, braucht man nicht zum siebenundzwanzigsten Mal zu wiederholen. Man muss vielmehr konkrete Schritte einleiten, damit die Marktnachteile, die zurzeit vorhanden sind - was Sie über die Lobby ausgeführt haben, kann man auch nur unterstreichen -, ausgemerzt werden und wir damit einen Schritt weiterkommen. Wir sprechen heute über den Waldzustandsbericht 2002. Die Daten, die darin enthalten sind, stammen teilweise aus dem Jahr 2001 und berücksichtigen nicht die reale Lage. Frau Hiller-Ohm, Sie haben richtig gesagt, dass der Sommer für alle, die Urlaub machen wollten, gut, für den Wald aber eine Katastrophe war. Deshalb ist die Lage erheblich schlechter, als sie in dem jetzt vorliegenden Bericht, den wir hier diskutieren, zum Ausdruck kommt. Aber was braucht der Wald? Notwendig sind konkrete Maßnahmen, wenn wir auf die bestehende Situation reagieren wollen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel, wo Sie als Regierung etwas bewegen können. Viele Neuanpflanzungen, die gefördert worden sind, sind in diesem Jahr nicht hochgekommen. Wenn im nächsten Jahr die Anpflanzung wiederholt werden muss, stellt sich die Frage, ob dafür in allen Bundesländern erneut Fördermittel fließen. Wenn Ihre Ministerin gemeinsam mit der Agrarministerkonferenz und den Bundesländern in diesem Zusammenhang entsprechende Regelungen erarbeiten würde, dann wäre das eine konkrete Hilfe. Aber wie sieht die reale Lage aus? Festzustellen ist, dass diese Fördermittel, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe bereitgestellt werden, gekürzt werden. Das heißt, auch in diesem Bereich, in dem Fördermittel aus dem Bundeshaushalt und aus den Landeshaushalten zur Verfügung gestellt werden ({0}) - ich komme gleich auf diesen Punkt zu sprechen -, ist aufgrund der Kürzungen keine zusätzliche Maßnahme möglich. Entlarvend war Ihre Äußerung, dass im Wald nicht gedüngt werden soll. Unter Düngen verstehen Sie doch wahrscheinlich das Waldkalken. Es ist die erklärte Aussage Ihrer Bundesregierung, dass die Waldkalkungen für die Waldböden, die teilweise sauer wie Essig sind, noch über einen sehr langen Zeitraum notwendig sind. Faktisch finden aber in diesem Jahr keine Waldkalkungen mehr statt, weil die Spitzenfinanzierung nicht mehr sichergestellt ist. Wir wissen, dass eine hundertprozentige Finanzierung bei der derzeitigen Gesetzeslage nicht möglich ist. Die Mitfinanzierung über die Kommunen, die in der Vergangenheit üblich war, ist nicht mehr möglich, weil die Kommunen wegen Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik pleite sind. Faktisch finden keine Kalkungen mehr statt, sodass eine sinnvolle Sanierungsmaßnahme nicht mehr umgesetzt wird. Das, was Sie auf den Weg bringen könnten, wenn Sie es denn wollten - das gehört zu Ihren Regierungsaufgaben -, unterlassen Sie. Sie schaden damit unserem Wald. ({1}) Sie haben ausgeführt, Ikea werde zukünftig nur noch gutes Holz aus zertifizierten Beständen verarbeiten. Sie sollten in diesem Zusammenhang auch zur Kenntnis nehmen, dass im Privatwald durch die Initiative der Eigentümer mittlerweile 60 Prozent des Bestandes nach PEFC zertifiziert sind, das das in Europa vorherrschende System ist. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass im Privatwald diejenigen, die ein besonderes Interesse am Wald haben, aus eigenem Antrieb tätig sind! In Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie, Systeme zur Zertifizierung zu unterstützen, die pestizidfrei wirtschaften. Sie sollten den Grafen Hatzfeld fragen, ob das für die FSC-Zertifizierung zutrifft. Die Umsetzung Ihrer Forderung hätte zur Folge, dass es in Deutschland gar kein System zur Zertifizierung mehr gäbe. Sie sollten insofern die Realität berücksichtigen, statt Forderungen zu stellen, die an den Fakten vorbei gehen. Nach wie vor besteht ein wesentliches Problem darin, dass die Schadstoffe durch die Luft eingetragen werden. Von entscheidender Bedeutung für die Luftqualität sind die vom Verkehr verursachten Belastungen. Ich habe gelesen, dass Sie den Verkehr durch geeignete Maßnahmen - Genaueres bleibt, wie üblich, im Dunkeln - reduzieren wollen. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Ihre Regierung angegeben hat, dass der Verkehr - sowohl von LKW als auch von PKW - in den nächsten Jahren noch drastisch zunehmen wird. Die Realität sieht also anders aus.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, Herr Präsident. - Insofern helfen uns Ihre prosaischen Ausführungen nicht weiter. Sie müssen vielmehr endlich handeln, soweit konkrete Regierungsmaßnahmen erforderlich sind. Für die Sicherung der Qualität unseres Waldes brauchen wir keine Worte, sondern Taten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schirmbeck, dann wollen wir einmal von den Reden zu den Taten kommen. ({0}) Ich glaube, dass der Wald es verdient, dass wir innerhalb dieses Hauses einen Konsens entwickeln, nämlich dass die Waldpolitik eine stärkere Aufmerksamkeit verdient, als sie in den vergangenen Jahren gelegentlich vorhanden war. Denn mir fällt immer wieder auf, dass diejenigen, die sich für den Wald interessieren - sowohl die Waldbesitzer als auch die Umweltschützer -, viel mehr gemeinsame Interessen haben als Streitpunkte. Dennoch ist die politische Diskussion hauptsächlich von dem Streit geprägt. Es ist das konkrete Ziel der Bundesregierung, auf den Gemeinsamkeiten aufzubauen. Deswegen habe ich mich sehr darüber gefreut, dass wir in der Diskussion über das Nationale Waldprogramm ein sehr umfangreiches Papier beider Seiten bekommen haben, das sich mit der Frage der Zukunft unseres Waldes befasst. Ein wesentlicher Bestandteil - Frau Hiller-Ohm hat darauf hingewiesen - ist die naturnahe Waldwirtschaft. Wenn sich beide Seiten einig sind, dass die Zukunft dem naturnah bewirtschafteten Wald gehört, also einem Wald, der sich selber regenerieren kann, in dem die Baumarten wieder von selbst wachsen und bei dem man nicht auf Monokulturen, sondern auf Vielfalt und auf Pflanzen setzt, die standortverträglich sind, dann rechne ich fest damit, dass Sie unserem Entwurf eines Bundeswaldgesetzes, den wir noch vorlegen werden, zustimmen Parl. Staatssekretär Matthias Berninger werden; denn genau in diesem Gesetzentwurf werden wir die naturnahe Waldbewirtschaftung zum künftigen Standard erheben. Schließlich wollen wir nicht, dass sich die Fehler der Vergangenheit - das sind die großen Monokulturen - in der Zukunft fortsetzen. Diese Fehler bereiten uns ja hauptsächlich Sorgen. ({1}) Wann immer Stürme über das Land hinweggefegt sind, wiesen die Monokulturwälder die Hauptschäden auf. Auch bei der momentanen Diskussion über die Probleme mit dem Borkenkäfer - dazu gibt es eine Anfrage der Abgeordneten Happach-Kasan - stellt man fest, dass das Hauptproblem bei den Wäldern besteht, die wir künftig nicht mehr wollen. Unterstützen Sie also unser Ansinnen, naturnahe Waldwirtschaft künftig nach vorne zu bringen. Ein weiteres Beispiel ist die Naturverjüngung von Wäldern. Jeder, der sich mit Wäldern auskennt, weiß, dass der zu hohe Wildbestand uns in den allermeisten Wäldern große Probleme bereitet, weil dadurch die Naturverjüngung enorm erschwert wird. Nun wird aus dem Bundesjagdgesetz, dessen Reform eine notwendige Maßnahme ist, um die Naturverjüngung der Wälder nach vorne zu bringen, ein heiliger Gral gemacht. Angesichts dessen, was hier abläuft, kann ich manchmal nur den Kopf schütteln. Auch bei dieser sehr konkreten Maßnahme könnte die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag statt eine Lobby, die Einzelinteressen vertritt, die Waldbesitzerinnen und Waldbesitzer sowie die Umweltverbände in Deutschland sehr tatkräftig unterstützen. ({2}) - Herr Kollege Deß sagt gerade, dass die Jäger ganz anständige Menschen seien. Diese Meinung teile ich vollkommen. Wir wollen durch die Reform des Bundesjagdgesetzes auch nicht die Jagd verbieten, sondern die Jägerinnen und Jäger in die Lage versetzen, den Wald so zu bewirtschaften und in ihm so zu jagen, dass letztendlich das Gleichgewicht zwischen Wald auf der einen Seite und Tieren auf der anderen Seite zu einer Verbesserung der Situation führt. Hier brauchen wir in der Tat die Unterstützung der Jägerinnen und Jäger, nicht aber derjenigen, die meinen, dass ein Gesetz, das 1934 vom Reichsjägermeister Göring geschaffen worden ist, bis in alle Zukunft zu gelten habe. Ausweislich des Waldzustandsberichts 2002 ist der Gesundheitszustand der Eichen relativ gut. Meine beiden Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass es nächstes Jahr aufgrund der besonderen Situation in diesem Jahr - es herrschte sehr große Trockenheit - Probleme geben wird. Das kann man schon jetzt aufgrund der Daten für den Waldzustandsbericht 2003 sagen. Die Situation wird insbesondere für die Eichen ernster. Wir werden hier mit großen Problemen zu kämpfen haben. Diese kann man in der Tat durch Emissionsminimierung bekämpfen. Wenn es stimmt, dass der Verkehr zunimmt, dann ist auf jeden Fall eine Politik notwendig, die für eine Verteuerung von Treibstoffen sorgt sowie Innovationen wie zum Beispiel Benzin sparende Autos fördert. Hier brauchen wir Ihre Unterstützung und nicht Ihre Belehrung, Herr Kollege Schirmbeck. ({3}) Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die mir einfallen, auf die alle ich aber aus Zeitgründen nicht eingehen kann. Wichtig ist mir, dass es uns gelingt, gemeinsam das Produkt Holz stärker nach vorne zu bringen. Ich denke, auch das ist ein Feld, auf dem wir mit der Charta Holz gemeinsame Initiativen ergreifen können. Ich teile Ihre diesbezügliche Einschätzung: Der Worte sind viele gewechselt. Wir sollten versuchen, den Streit zwischen verschiedenen Zertifizierungsorganisationen produktiv aufzulösen. Das bedeutet aber, dass wir Standards definieren sollten, an die sich alle halten müssen. Das wird die Bundesregierung mit der Vorlage einer nationalen Beschaffungsrichtlinie in den nächsten Monaten tun. Wir werden Ihnen 2003/04 - das ist im Koalitionsvertrag verankert - die Entwürfe eines Bundeswaldgesetzes und eines Bundesjagdgesetzes, Zertifizierungsstandards für den Wald sowie den Entwurf einer Charta Holz vorlegen, die helfen wird, gerade die ökonomischen Fragen des Waldes zu beantworten. Wir haben die Hoffnung, dass wir mit diesen Maßnahmen etwas für die Waldpolitik tun. Ich habe die herzliche Bitte, dass wir dafür die Unterstützung des ganzen Hauses bekommen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Berninger, erlauben Sie noch sozusagen eine Abschlussfrage des Kollegen Schirmbeck? Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Ja.

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie durch die nationale Beschaffungsrichtlinie praktisch FSC-Standards festschreiben wollen? Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Nein. Ich glaube, dass ich mich anders ausgedrückt habe. Ich möchte, dass wir durch die nationale Beschaffungsrichtlinie Standards definieren, die die naturnahe Waldwirtschaft befördern. Parl. Staatssekretär Matthias Berninger Ich bin für Wettbewerb der Zertifizierungsorganisationen. Alle die, die diese Standards einhalten können, sollen bei der nationalen Beschaffung besonders berücksichtigt werden. Wir sind nicht nur für die Forsten, sondern auch für den Verbraucherschutz zuständig. Was wir nicht wollen, ist eine nationale Beschaffungsrichtlinie, an deren Ende Etikettenschwindel steht. ({0}) Wir wollen eine Zertifizierung unterstützen, die eine naturnahe Waldbewirtschaftung fördert. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Waldbauern in Deutschland und auch möglichst viele in Deutschland tätige Zertifizierungsorganisationen mitmachen. Bei der Zertifizierung gilt das, was in der Waldpolitik insgesamt gilt: Der Konsens unter denen, die sich da bemühen, ist eigentlich größer als der Dissens. Wir streiten uns bei der Zertifizierung in einem Kleinkrieg über mehrere Fragen, die wir im Detail im Ausschuss diskutieren können und von denen ich glaube, dass sie lösbar sind. Die Bundesregierung wird in Abstimmung von Wirtschaftsministerium, Umweltministerium und Verbraucherschutzministerium handeln. Die Zertifizierungsorganisationen können, denke ich, einen Kompromiss finden, an dessen Ende steht: Mehr Holz aus Wäldern, die naturnah bewirtschaftet werden, wird bei der Beschaffung des Bundes und hoffentlich auch der Länder und der Kommunen berücksichtigt. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist hier ein kleiner, aber offensichtlich ausgesprochen waldinteressierter Kreis. Ich hoffe, dass wir ihn in Zukunft etwas vergrößern können. ({0}) Herr Berninger, Sie haben die Maßnahmen angesprochen, die sich die Bundesregierung vorgenommen hat. Ich möchte dazu anmerken: Global betrachtet ist der illegale Holzeinschlag in vielen Wäldern anderer Erdteile das gravierende, das ganz große Problem. An diesem Problem ändern wir nichts, wenn wir in Deutschland weitere Regelungen schaffen. Ihr Waldgesetz wird weitere Regelungen und zusätzliche Standards zur Zertifizierung enthalten. Wir brauchen ein bisschen mehr Vertrauen in unsere Waldbesitzer, die ihre Wälder in Jahrzehnten ordentlich entwickelt haben. Stattdessen sollen sie mit weiterer Bürokratie belastet werden. ({1}) Der Wald wächst, die Holzbodenfläche nimmt zu und der Holzvorrat nimmt ebenfalls zu. Die Apokalypse des Waldsterbens ist erkennbar nicht eingetreten. RotGrün hat daran, glaube ich, keinen Anteil. ({2}) Gleichzeitig - darum kann man nicht herumreden werden in alten Waldformen deutliche Schäden beobachtet. Das ist kein Widerspruch. Das eine schließt das andere nicht aus. Darüber kann auch eine Äußerung von Ministerin Künast nicht hinwegtäuschen. Sie hat davon gesprochen, dass der Trend gestoppt ist. Leider ist er es nicht. Der Zustand der Waldböden ist besorgniserregend. Die Schadstoffeinträge haben die Waldflächen großflächig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigt. Als Gegenmaßnahme empfiehlt der Bericht Waldkalkungen. Ich möchte Ihnen vorlesen, was die ehemalige Ministerin Martini in Rheinland-Pfalz gesagt hat: Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irreparablen Schäden preis und gefährdet die Nachhaltigkeit der Waldwirtschaft und die Qualität unserer Wasserressourcen. Ich fordere die Regierungskoalition auf, die Maßnahmen gegen Waldschäden, die im Bericht genannt werden, auch zu realisieren. Dazu gehören Waldkalkungen. Dafür brauchen wir angesichts der schlechten Ertragssituation der Wälder eine öffentliche Förderung. Außerdem muss deutlich gemacht werden: Nur gesunde Waldböden können gesunde Wälder tragen. Anders funktioniert es nicht. Der heiße Sommer hat dramatische Borkenkäferschäden in den Wäldern zur Folge gehabt. Die Schadbilder, die ich in den vergangenen Wochen gesehen habe, sind ausgesprochen schlimm. Es steht zu befürchten, dass für einige Bestände der Kahlschlag der einzige Weg ist, die Voraussetzungen für die Neubegründung von Wald zu schaffen. Die Borkenkäferkalamität hat aber auch deutlich gemacht, dass die eigentlichen Probleme in Fehlern vergangener Jahrzehnte liegen - es gibt Wälder, die nicht stabil sind; es gibt Monokulturen, die so nicht weiter betrieben werden können; deswegen werden wir ja so große Schäden haben -, dass FSC und die Polarisierung zwischen zwei Zertifizierungssystemen nicht die Antwort sind, die wir brauchen. Frau Hiller-Ohm, Sie haben darauf abgehoben, dass Sie die Arbeitsplätze im Wald erhalten wollen. FSCHolz erzielt zurzeit einen geringeren Preis als anderes Holz. Damit ist es kaum geeignet, die Arbeitsplätze im Wald zu erhalten. Solange die Zertifizierungssysteme nicht darauf Rücksicht nehmen, dass in Deutschland eine sehr kleinteilige Struktur gegeben ist - 1,3 Millionen Waldbesitzer -, und solange nicht sichergestellt ist, dass die Standards in den einzelnen Länder gleich sind, kann ein solches Zertifizierungssystem meines Erachtens keinen Bestand haben. Ich fordere die Regierung auf, die Berichte, die sie verfasst, auch wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Wir können es uns nämlich sparen, Geld für solche Berichte auszugeben, wenn sie hinterher nicht konsequent umgesetzt werden. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ein Satz zum Antrag der Regierungskoalition: Er enthält - ich habe ihn in meiner ersten Rede bewertet durchaus Sinnvolles - das will ich hier deutlich sagen -, aber es fehlt sehr viel und einiges ist überflüssig. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Cajus Caesar von der CDU/CSU-Fraktion.

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bedeutung des Waldes muss zukünftig mehr Beachtung geschenkt werden. Schauen wir uns die positiven Wirkungen des Waldes an. Ich nenne hierzu die Stichworte Luft, Wasser, Klima, Boden, Artenvielfalt und, nicht zu vergessen, die Wirtschaft; die rund 800 000 Arbeitsplätze in diesem Bereich sind nicht zu vernachlässigen. Der Waldzustandsbericht beinhaltet eine Analyse und eine Zustandsbeschreibung. Beides ist richtig und wichtig. Wo sind aber die Taten der Regierung? Wir suchen sie vergebens. Außer Papier und Reden findet man herzlich wenig. ({0}) Wir haben Erfolge bei der Schadstoffreduzierung zu verzeichnen; aber in der Statistik werden nicht umsonst die Zeiten der CDU/CSU-geführten Regierung wesentlich einbezogen. Von 1990 bis 2000 ist die Emission von Schwefeldioxiden um 85 Prozent zurückgegangen; die Emission von Stickoxiden ist um 41 Prozent zurückgegangen. ({1}) Dennoch gibt es dringenden Handlungsbedarf; aber Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, die notwendigen Dinge auf den Weg zu bringen. Die Bodenversauerung schreitet weiter voran: 80 Prozent der Flächen weisen einen pH-Wert unter 5 auf. Einige Standorte weisen einen pH-Wert unter 3 auf. Sie wissen: Ein Sinken des pH-Wertes um zwei Punkte bedeutet eine Verhundertfachung der Versauerung. Das hat eine Verdrängung von Pflanzennährstoffen, einen Verlust an Vitalität, die Anreicherung von Schwermetallen, einen Verlust von Artenvielfalt und, Herr Staatssekretär, insbesondere eine Verringerung des Laubholzanteils zur Folge; denn gerade das Laubholz benötigt einen hohen pH-Wert. Darüber sollten Sie nachdenken. Verehrte Kollegin, Sie haben vorhin vorgetragen, dass möglichst keine Düngung und damit keine Waldkalkung auf ganzer Fläche vorgenommen werden soll. Ich darf Ihnen darstellen, was die Regierung auf eine Anfrage von mir aus diesem Jahr geantwortet hat: Die Bodenschutzkalkung ist - neben Luftreinhaltemaßnahmen - die einzige praktikable Maßnahme, um weiteren Bodenschäden durch Nährstoffauswaschung und Bodenversauerung entgegenzuwirken. Sie haben es doch erkannt. Tun Sie auch etwas! Tatsache ist auch: Die Kalkungsfläche der Staatswälder ist von 70 000 Hektar auf 39 000 Hektar zurückgegangen. Die Kalkung der Privatwälder wurde ausgeweitet. Die entsprechenden Bundesmittel sind von 5,5 Millionen Euro auf 4,4 Millionen Euro zurückgegangen. Das sind die tatsächlichen Zahlen, die die Bundesregierung hier auf den Tisch legt. Das können wir nicht hinnehmen. Wir von der Union wollen uns für die 1,3 Millionen Waldbesitzer in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin einsetzen und sie unterstützen. ({2}) „Keine Zukunft vermag gutzumachen, was man in der Gegenwart versäumt.“ Das hat Albert Schweitzer gesagt. Es ist ein Zitat, das Sie sich zu Herzen nehmen sollten. Sie führen stattdessen immer mehr Bürokratie und Belastungen - Steuern, wie die Ökosteuer, sowie Gesetze, Verordnungen, Leitbilder, Richtlinien, Verbote, Gebote und Festsetzungen - ein. Das sind Ihre Handlungsvorgaben. Sie legen mit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes und des Bundesjagdgesetzes noch eins drauf. Sie wollen dem einzelnen kleinen Waldbesitzer vorschreiben, auf welchem Quadratmeter er welche Pflanze in welcher Größe und von welcher Sorte pflanzen soll. Gleichzeitig vernachlässigen Sie Ihre internationale Verantwortung. Wo sind denn die Gelder für den Tropenwald, wo täglich Tausende von Hektar verloren gehen? Sie kürzen sie doch! Das ist nicht unsere Politik; das ist nicht die Politik der Union. ({3}) Wir wollen Taten statt Worte: Wir wollen, dass mehr Forschung sowie Marketing für Holz und Wald - es tut beiden gut - betrieben wird, dass die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des nachwachsenden Rohstoffes Holz ausgenutzt werden. Das wollen wir voranbringen. Es wäre ein Beitrag zur Reduzierung von CO2, zum Klimaschutz und zur Verbesserung der Ertragslage. Es fördert die Waldpflege und stärkt insbesondere unseren ländlichen Raum. Dies ist eine Chance für unser Holz, für unseren Wald, für die Biomasse. Diese haben es verdient. Sie sind gefordert, Ihrer Verantwortung gerecht zu werden: Bewahren Sie das Erbe eines gesunden Waldes für die Bürger unseres Landes, aber auch für unsere Kinder. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Abschließend hat der Kollege Albert Deß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen SPD und Grüne zum Waldzustandsbericht 2003, über den wir hier bereits im April ausführlich debattiert haben, bringt nur wohlfeile Waldlyrik. Der Wald wird dort fast ausschließlich unter dem Ökoaspekt betrachtet. Die Umweltfunktion des Waldes ist aber nur die eine Seite. Genauso wichtig ist die wirtschaftliche Funktion des Waldes. Fast ein Drittel unseres Landes ist mit Wald bewachsen. Durch die Aufforstung weiterer Flächen nimmt die Waldfläche in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern, wo leider riesige Waldflächen gerodet werden, zu. Allein in Bayern wurden in den vergangenen zehn Jahren 20 000 Hektar neue Waldfläche geschaffen. Der Aufwuchs von 1 Festmeter Holz entzieht der Atmosphäre 1 Tonne Kohlendioxid. Wird Holz nach dem Aufwuchs zum Beispiel beim Bau verwendet, bleibt dieses CO2 für lange Zeit gebunden. Der vermehrte Einsatz von Holz in den verschiedensten Bereichen, verbunden mit einer sinnvollen Waldwirtschaft, gibt uns die Möglichkeit, eine noch bessere CO2-Bilanz zu erreichen. Weil ich immer großen Wert darauf lege, dass Reden und Handeln zusammenpassen, habe ich beim Umbau meines Wohnhauses im vergangenen Winter möglichst viel Holz verwendet; das Ganze schaut auch noch gut aus. ({0}) Nur wenn wir das Ökosystem des Waldes bewahren und stärken, können wir seine für uns ebenso wichtigen Funktionen als Erholungsraum und Erwerbsgrundlage dauerhaft nutzen. Der Wald bietet vielfältige Möglichkeiten zur Entspannung und schafft Einkommen und Arbeitsplätze in der Forst- und Holzwirtschaft. Es ist ein Fortschritt, dass selbst von den Grünen, den Panikmachern und -profiteuren der Nation, nicht mehr der Alarmruf „Waldsterben!“ in den Mund genommen wird. ({1}) Es gab in den 80er-Jahren fast keine Veranstaltung der Grünen, in der das Thema Waldsterben nicht auf der Tagesordnung stand. ({2}) „Der Wald stirbt!“ war eine der unverantwortlichen Parolen zu dieser Zeit. Ich bin froh, dass sich die Waldbesitzer davon nicht entmutigen ließen und die Pflege ihrer angeblich hoffnungslos erkrankten Wälder nicht aufgegeben haben. ({3}) Sie haben trotz der grünen Panikmache weiter in die Wälder investiert. Damit haben sie einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die Situation unseres Waldes trotz negativer Umwelteinflüsse nicht schlechter geworden ist. Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und den Forstbesitzern, den echten Grünen, die durch unermüdliche Arbeit unseren Wald pflegen und erhalten. ({4}) Von den selbst ernannten grünen Aposteln braucht sich die Holz- und Forstwirtschaft nicht vorwerfen lassen, dass sie den ökologischen Aspekt des Waldes nicht beachtet. Die Forst- und Holzwirtschaft war es, die den Begriff der Nachhaltigkeit geprägt und seit langem ihre Praxis danach ausgerichtet hat. Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft lässt sich aber nur mit den Betroffenen, vor allem den rund 1,3 Millionen Kleinwaldbesitzern, verwirklichen und nicht gegen sie. ({5}) Unsere Waldbauern brauchen keine Belehrungen von Sachunkundigen, die mit Modulationsmitteln dem Wald helfen wollen, die vorher meinen Berufskollegen aus der Tasche gezogen wurden. ({6}) Die Waldbauern wären schon zufrieden, wenn sie bei der Bewirtschaftung ihrer Waldflächen von Rot-Grün nicht ständig schikaniert würden. Überflüssig ist auch die besonders von den Grünen geforderte Novellierung des Jagdrechts. Ich bin kein Jäger. Deshalb kann ich ohne Hintergedanken sagen: Hier wollen sich die grünen Ideologen eine neue Spielwiese schaffen, auf der sie ihren Vorurteilen gegen die Jagd und Jäger freien Lauf lassen können. Das Jagdrecht ist untrennbar mit dem Eigentum an Grund und Boden verbunden und darf nicht angetastet werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind uns alle einig, dass bei der Novellierung des Energieeinspeisegesetzes die Biomasse einen höheren Stellenwert erhalten kann. Wenn die Bundesregierung und Rot-Grün dies vorhaben, dann werden wir als Opposition bei diesem Punkt konstruktiv mitarbeiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Deß, kommen Sie bitte zum Schluss!

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Die thermische Verwertung von Holz bietet eine interessante Perspektive. Wir sollten die Möglichkeiten, die damit verbunden sind, nutzen. Ich möchte mich zum Schluss bei allen bedanken, die heute gekommen sind, um bei dieser Walddebatte dabei zu sein. Ich möchte mich besonders, ohne dass ich damit andere zurücksetzen will, bei meinen drei Fraktionskollegen Ulla Heinen, Gitta Connemann und Peter Bleser bedanken, die auf meinen Wunsch hin gekommen sind, obwohl sie einen anderen wichtigen Termin gehabt hätten. ({0}) Vielen Dank, dass ihr gekommen seid. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Deß, die Anwesenheit von Kollegen bedarf keines besonderen Dankes. Das gehört zu ihren Aufgaben. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1027 zum Waldzustandsbericht 2002 und zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen hierzu. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2002 auf Drucksache 15/270 den Entschließungsantrag auf Drucksache 15/745 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ({1}) ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. Ich darf fragen, ob es eine andere Meinung gibt? - Das ist nicht der Fall. ({2}) - Sie können sicher sein, dass abgezählt wurde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche - Drucksache 15/1490 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich dem Kollegen Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen Tag debattieren wir den Gesetzentwurf des Bundesrats zur Aufhebung der in den neuen Ländern geltenden Sonderregelung zur Verwertungskündigung, die dort ausgeschlossen ist. Hintergrund des Gesetzentwurfs ist insbesondere die in den neuen Ländern bestehende Leerstandsproblematik und damit ein wichtiges und durchaus komplexes Problem. Der Gesetzentwurf reagiert dabei auf eine Entwicklung, die vor einer Dekade in dieser Schärfe sicherlich kaum vorhersehbar gewesen ist. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stand dem Gesetzgeber noch ein ganz anderes Bild vor Augen. Damals befürchtete man eine Welle von Kündigungen in den neuen Ländern und damit die Verdrängung von Mietern aus ihren Wohnungen, aus ihrer vertrauten Umgebung. Das sollte vermieden werden. Deshalb hat man für das Gebiet der neuen Länder ein Verbot der Verwertungskündigung in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch aufgenommen. Heute tut sich mit den erheblichen Leerständen in den Städten und Kommunen Ostdeutschlands allerdings ein völlig anderes Szenario auf. Eine Verdrängung von Mietern ist angesichts des großen Angebots von Mietraumwohnungen derzeit nicht zu befürchten. Ganz im Gegenteil: Die Wohnungswirtschaft bei uns im Osten wirbt um jeden Mieter. Bereits im Rahmen der Mietrechtsreform vor etwas über zwei Jahren hatte die Bundesregierung den neuen Bundesländern signalisiert, dass sie das Verbot im Rahmen der Reform aufheben würde, wenn sich die Länder darauf einigen könnten. Dazu kam es damals jedoch nicht. Nach der Reform gab es stattdessen vonseiten der Länder Vorschläge für ein spezielles Sonderkündigungsrecht mit ganz neuen städtebaulichen Tatbestandsmerkmalen. Ein solches Sonderkündigungsrecht war unter den Ländern aber leider nicht konsensfähig. Über den Vorschlag des Bundesrates, der jetzt auf dem Tisch liegt und der in der Vergangenheit bereits andiskutiert worden ist, sollten wir nun ernsthaft nachdenken. Die hinter der Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung stehende Intention ist klar: Damit würde für noch aus der DDR stammende Mietverträge der vermutlich letzte große mietrechtliche Unterschied zwischen Ost und West beseitigt. Die Aufhebung des Verbots würde also mitnichten zu einer Sonderbehandlung bzw. Schlechterstellung ostdeutscher Mieter mit Altverträgen führen. Sie würden lediglich gleich behandelt werden wie alle anderen Mieter. Wichtig ist für mich als Rechtspolitiker aber auch der verfassungsrechtliche Aspekt, den wir hier sicherlich nicht aus den Augen verlieren sollten. Das Verbot der Verwertungskündigung berührt nämlich das in Art. 14 des Grundgesetzes geschützte Eigentumsrecht, das auch für Vermieter gilt. Beschränkungen der Rechte von Eigentümern müssen verhältnismäßig sein. Angesichts des zunehmend entspannten Wohnungsmarktes in Ostdeutschland sehe ich die Verhältnismäßigkeit des Verbots der Verwertungskündigung mittlerweile infrage gestellt. Wir sollten also sorgfältig prüfen, ob nicht die Aufhebung des Verbots inzwischen schon allein mit Blick auf das Eigentumsrecht der Vermieter verfassungsrechtlich geboten ist. Von der Pflicht zur sorgfältigen Prüfung entbindet uns meiner Auffassung nach auch nicht die Rechtsprechung zur so genannten Abrisskündigung. Diese Rechtsprechung hat bisher nur in extremen Einzelfällen eine Kündigung durch den Vermieter ermöglicht, nämlich dann, wenn ein einziger Mieter in einem großen und ansonsten leer stehenden Wohnkomplex verblieben war. Eine Prognose, ob diese Rechtsprechung auch in anderen Fällen zu einer zulässigen Kündigung führt - wenn zum Beispiel der Leerstand nicht 90 Prozent, sondern nur 75 Prozent oder 80 Prozent beträgt und der Abriss vom Grundsatz her genehmigt ist -, ist nicht möglich. Unklar ist auch, wie die Rechtsprechung bei einem Fortbestehen des Verbots der Verwertungskündigung mit den übrigen von der Verwertungskündigung erfassten Fällen, wie etwa dem einer umfassenden Sanierung, umgeht. Voraussichtlich für das nächste Jahr können wir zu diesem Themenbereich eine Stellungnahme des Bundesgerichtshofes erwarten, dem diesbezüglich gerade ein Urteil des Landgerichtes Gera zur Entscheidung vorliegt. Unabhängig von dieser Entscheidung meine ich, dass uns deswegen nicht die Hände gebunden zu sein brauchen, hier gesetzgeberisch aktiv zu werden. Ganz im Gegenteil, denn wenn der BGH die Rechtsprechung zur Abrisskündigung nicht bestätigen sollte, bliebe bei einer Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung die Möglichkeit, auf diese zurückzugreifen. Damit stünden in der Praxis in jedem Fall verlässliche Instrumentarien zur Verfügung, mit denen auf das Leerstandsproblem reagiert werden könnte. Den Mieterschutz sehe ich hierdurch - das ist meine Meinung als Rechtspolitiker - nicht gefährdet. In der Regel werden Mietverhältnisse in Abrissfällen ohnehin einvernehmlich beendet. Ist dies nicht der Fall, bleibt ein ausreichender Mieterschutz auch bei Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung sichergestellt; der Kollege Spanier wird das in dieser Debatte noch näher ausführen. Die Hürden für eine Verwertungskündigung sind bereits so hoch, dass der Mieter hinreichend geschützt ist. Im Übrigen gibt es noch die so genannte Sozialklausel, also das Recht zum Widerspruch gegen die Kündigung, und den Räumungs- und Vollstreckungsschutz. Ich meine deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen - damit komme ich zum Abschluss -, dass wir dem Gesetzentwurf des Bundesrates aufgeschlossen gegenüberstehen und ihn ausführlich diskutieren sollten. ({0}) Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz von der CDU/CSU-Fraktion.

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst, Herr Kollege Manzewski, sei mir gestattet, Folgendes zu sagen: Ich finde es sehr erfreulich, dass von der SPD-Fraktion jetzt - im Gegensatz zu der Debatte, die wir im Juli dieses Jahres geführt haben - zumindest Prüfbedarf gesehen wird. ({0}) - Sie haben damals nicht geredet, das ist richtig. - Wenn Sie das schon etwas früher erkannt hätten, dann hätte auch die Prüfung schon etwas eher erfolgen können. Nichtsdestotrotz: Da ich nicht sicher bin, ob das auch Ihre Kolleginnen und Kollegen erkannt haben, glaube ich, dass zu der Entstehung dieser Regelung noch einiges gesagt werden sollte. Die hier in Rede stehende Sonderregelung des Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch erweist sich - das habe ich bereits in meiner Rede im Juli gesagt - zunehmend als Hemmschuh für die weitere wohnungswirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern. Diese Regelung verbietet es dem Vermieter, sich bei einem vor dem 3. Oktober 1990 abgeschlossenen Mietverhältnis - das betrifft noch eine große Zahl an Mietern auf ein berechtigtes Interesse für eine Kündigung zu berufen, wenn er durch die Fortführung des Mietverhältnisses an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung gehindert wäre. Die Anwendung des Kündigungstatbestandes in § 573 BGB, den Sie schon ansprachen und der dies ermöglichen würde, ist für diese Mietverhältnisse nach der genannten Vorschrift ausdrücklich ausgeschlossen. Durch diese besondere Rechtslage wird es den Eigentümern erschwert, Gebäude grundlegend zu sanieren, um- oder neu zu gestalten, abzureißen bzw. in ihrer Gesamtgröße oder in ihrem Gesamtzuschnitt den geänderten Verhältnissen auf dem Wohnungsmarkt anzupassen. Diese Vorschrift gilt, wie schon ausgeführt, nur für die neuen Länder; sie geht auf den Einigungsvertrag zurück. Zweck war es, wie ebenfalls schon richtig angesprochen, Mieter von preisgünstigem Wohnraum in Anbetracht der herrschenden Wohnungsknappheit in der ehemaligen DDR vor Kündigung zu schützen. Fortgeführt wurden aber auch - ich denke, das sollten wir hier erwähnen - die mietrechtlichen Schutzvorschriften des ZGB der ehemaligen DDR, in denen aufgrund der völlig anderen Eigentümerstruktur im Bereich des Wohnraumes eine Kündigungsmöglichkeit zur Verwertung des Grundstücks nicht vorgesehen war. Wenn man sich nochmals die Wohnraumsituation zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung vergegenwärtigt, so hatte diese Regelung zu diesem Zeitpunkt durchaus ihre Berechtigung. Mittlerweile hat sich jedoch auf dem Wohnungsmarkt vieles grundlegend verändert - und das nicht erst im letzten halben Jahr. Wir sollten beispielsweise die in großem Umfang getätigten Sanierungen oder die vielen Neubauten und nicht zuletzt den seit Ende der 90er-Jahre wieder erhöhten Abwanderungsdruck im Osten nicht aus den Augen verlieren. Allein in den letzten vier Jahren ist der Leerstand, bezogen auf das Gebiet der neuen Länder, um mehr als 300 000 Wohnungen auf nunmehr rund 1,2 Millionen Wohnungen angestiegen. In einigen Gebieten steht fast jede fünfte Wohnung leer. Damit einhergehend steht genügend preiswerter, sanierter Wohnraum zur Verfügung. Der Ausschluss der Verwertungskündigung führt nun dazu, dass Vermieter, wenn sich Mieter weigern auszuziehen - das sind nach meiner Einschätzung leider keine Einzelfälle -, die Gebäude in mehr oder weniger unverändertem Zustand erhalten müssen. Mit den Mieteinkünften kann aber vielfach nur ein kleiner Teil der Kosten für die Gebäudeunterhaltung abgedeckt werden. Gerade die kommunalen Wohnungsbaugenossenschaften und -gesellschaften, die in den neuen Ländern in sehr großer Zahl vorhanden sind, sind in ihrer Existenz oftmals dadurch bedroht, dass gerade Plattenbauten, aber auch andere Altbauten nicht abgerissen werden können. Vielfach bleibt nur die Möglichkeit, den letzten verbliebenen Mieter mit großzügigen Umzugsprämien - wenn man sie so bezeichnen will; wenn man mit den Betroffenen spricht, ist teilweise von fünfstelligen Summen die Rede - dazu zu bewegen, auszuziehen. Aber selbst darauf lassen sich Mieter teilweise nicht ein. Sie bestehen vielmehr darauf, in ihrer Wohnung wohnen zu bleiben. Eigentümer müssen dann Vermögensverluste hinnehmen, denen sie mangels Verkäuflichkeit des Grundstücks - das ist leider traurige Realität - nicht ausweichen können. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese Sonderregelung gefährdet den Erfolg des „Stadtumbaus Ost“ insgesamt. ({1}) Eine Wohnungsgenossenschaft, die ein zum Abriss ausgewähltes Quartier derzeit nicht leer ziehen kann, wird resignieren und nicht Jahre später, wenn die Rechtslage geändert wurde, wieder mit neuen Planungen beginnen und neue Konzepte entwerfen - falls es diese Genossenschaft dann überhaupt noch gibt. Die Entwicklung der Mietpreise - auch das sei an dieser Stelle gesagt - gefährdet bereits jetzt den Wohnungsmarkt in den neuen Ländern nicht unerheblich. Deshalb ist eine Aufhebung der Sonderregelung geboten, zumal es sich um die einzig verbliebene mietrechtliche Sonderregelung in den neuen Ländern seit Überführung des Mietrechts des ZGB in unser BGB im Bereich des Kündigungsschutzes handelt. Ich möchte in diesem Zusammenhang Folgendes klarstellen: Es geht uns nicht - das konnte ich jüngst in der „Mieter-Zeitung“ des Deutschen Mieterbundes lesen - um ein „Sonderkündigungsrecht Ost“. Wir wollen - ganz im Gegenteil - ein nicht mehr zu rechtfertigendes „Sonderrecht Ost“ aufheben und damit die Rechtslage in Ost und West in einem Rechtsgebiet vereinheitlichen, in dem kein sachgerechter Grund mehr für unterschiedliche Regelungen besteht. Durch die Aufhebung dieser Sondervorschrift - Kollege Manzewski hat es angesprochen - werden keine berechtigten Interessen der Mieter verletzt. Zum einen setzt § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB dem Kündigungsrecht des Vermieters enge Grenzen, weil nur dann gekündigt werden darf, wenn der Vermieter andernfalls erhebliche wirtschaftliche Nachteile erlitte. Zum anderen sind die Mieter durch zu beachtende Kündigungsfristen geschützt. Außerdem bleibt ihnen die Möglichkeit, der Kündigung zu widersprechen, wenn diese für sie eine unzumutbare Härte bedeutete. Diese Schutzmechanismen haben sich in den alten Ländern selbst in Gebieten, in denen Wohnungsknappheit vorherrscht, als praktikabel und zureichend erwiesen. Mit den Kündigungsmöglichkeiten des allgemeinen Mietrechts kann die gerade die neuen Länder betreffende Leerstandsproblematik wesentlich entschärft werden, da auch Kündigungen zum Zwecke des Gebäudeabrisses ermöglicht würden. Nun verweist die Bundesregierung - so tat sie es zum Beispiel in der Debatte im Juli - auf vereinzelte Rechtsprechung aus jüngster Zeit, in der die Auffassung vertreten wird, der bloße Gebäudeabriss sei keine wirtschaftliche Verwertung. Diese Rechtsprechung ist aber - so meine ich - ersichtlich aus der Not geboren. Nur dadurch, dass die Gerichte davon ausgegangen sind, der bloße Abriss sei kein Fall der Verwertungskündigung, war der Weg eröffnet, die Kündigung von Altmietverhältnissen trotz des Ausschlusses der Verwertungskündigung zumindest auf die Generalklausel stützen zu können. Hätte man, was meiner Auffassung nach zutreffender ist, auch die Abrisskündigung der aufzuhebenden Sondervorschrift unterworfen, wäre ein Rückgriff auf die Generalklausel nicht möglich gewesen. Diese Rechtsprechung wird im Übrigen in der Literatur gerade deshalb zu Recht heftig kritisiert. Wenn ein Vermieter berechtigt ist, zur wirtschaftlichen Verwertung zu kündigen, muss dies schon nach dem Zweck der Kündigungsregel erst recht gelten, wenn es darum geht, ohne lukrativere Nutzungsmöglichkeit künftige wirtschaftliche Einbußen abzuwenden, die ohne den Gebäudeabriss zweifellos einträten. Zudem lagen den beiden in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Entscheidungen der Amtsgerichte Halle-Saalkreis und Jena ausgesprochene Extremfälle zugrunde. Auch darüber haben wir in diesem Hause schon gesprochen. In beiden Fällen waren die Gebäude elfgeschossige Plattenbauten, die bis auf einen letzten verbliebenen Mieter leer gezogen waren. In dem Fall, über den das Amtsgericht Halle-Saalkreis zu befinden hatte, standen jährliche Mieteinnahmen von 4 000 Euro Kosten zur Unterhaltung des Gebäudes in Höhe von mehr als 50 000 Euro gegenüber. Daher lässt sich sicherlich nicht behaupten, dass eine Aufhebung der Sonderregelung angesichts veränderter Rechtsprechung obsolet geworden sei, zumal die weitere Entwicklung im Unklaren bleibt und von einer einheitlichen Entscheidungspraxis noch keine Rede sein kann. Insoweit ist die Stellungnahme der Bundesregierung zum vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, dem eine Initiative der Freistaaten Sachsen und Thüringen sowie des Landes Sachsen-Anhalt zugrunde liegt - drei der neuen Bundesländer konnten sich also einigen -, zumindest schwer nachvollziehbar. Es heißt dort: Es sollte aber im weiteren Verfahren geprüft werden, ob angesichts der Rechtsprechung eine Gesetzesänderung erforderlich ist. Ich habe ihre Initiative anders, nämlich eher dahin gehend verstanden, dass es um eine sorgfältige Prüfung des vorliegenden Antrages gehe. Das, was die Bundesregierung hier in ihrer Stellungnahme schreibt - sie stellt das Ob und nicht das Wie infrage -, trifft das Problem also nicht. Das Abschaffen einer Sonderregelung und damit die Geltung einer vorhandenen gesetzlichen Regelung im gesamten Bundesgebiet ist doch besser geeignet, Rechtssicherheit zu schaffen, als eine sich langsam entwickelnde Rechtsprechung, die stets nur den Einzelfall betreffen kann. Außerdem wäre es für Sie, Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, doch eine schöne Sache, statt zu reden und zu prüfen - dies tun Sie auch auf diesem Gebiet schon eine ganze Weile - einmal etwas mit uns zusammen zu machen. ({2}) Den Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Stadtentwicklung Ost - Mehr Effizienz und Flexibilität, weniger Regulierung und Bürokratie“ haben Sie abgelehnt. Geben Sie sich doch zumindest heute einmal ob der überschaubaren Materie einen Ruck, sachpolitisch und nicht ideologisch zu handeln. ({3}) - Dieses Eindrucks kann man sich zumindest bei den Ländern nicht erwehren, deren Regierungen sich diesem Antrag verweigert haben. Die Sonderregelung begegnet auch im Hinblick auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz verfassungsrechtlichen Vorbehalten. Ich verkenne nicht, dass der Eigentümer in Anbetracht der Sozialpflichtigkeit des Eigentums umso größere Einschränkungen seiner Eigentumsbefugnisse hinnehmen muss, je stärker das Eigentumsobjekt soziale Funktionen erfüllt. Stets muss aber ein sachlicher Grund für solche Einschränkungen gegeben sein. Sachliche Gründe dafür, die Verwertungskündigung gänzlich auszuschließen, sind aber nicht mehr ersichtlich, schon gar nicht, wenn die Beschränkung auf die neuen Bundesländer begrenzt ist, in denen im Gegensatz zu manchen Großstädten in den alten Bundesländern ausreichend Wohnraum zur Verfügung steht. Jeder, der für eine Angleichung der Lebensverhältnisse eintritt, müsste schon aus diesem Grunde den Antrag unterstützen. Der Schutzzweck einer früher berechtigten Sondervorschrift hat sich ins Gegenteil verkehrt. Ich meine, wir sollten sie daher aufheben. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen sehen: Wir haben es hier mit zwei Themen zu tun, die sich überlagern. Das eine ist der Anspruch, Rechtsgleichheit zwischen Ost und West im Mietrecht herzustellen - ich habe volles Verständnis dafür, dass das vor allem den Rechtspolitikern sehr wichtig ist -, das andere ist der Anspruch, die Probleme des Leerstands im Osten und des Stadtumbaus Ost mit dem Instrument der Verwertungskündigung zu lösen. Ich möchte sehr deutlich für Prüfung und Nachdenklichkeit werben und das auch begründen. Zunächst zur Seite des Eigentümers: Ich finde es in gewisser Weise schwierig, wenn der Eigentümer sagt, eine angemessene wirtschaftliche Verwertung könne nur dadurch vollzogen werden, dass er ein Haus abreißen oder einen Teil des Gebäudes zurückbauen muss. Das hat einen komischen Beigeschmack. Ähnlich ist es auf der Seite des Mieters: Auch er hat ein eigenartiges Gefühl, wenn ihm zur Verwertung des Objekts gekündigt wird und er weiß, dass es um den Abriss des Hauses geht. Es sollte also wirklich geprüft werden, ob das Instrument Verwertungskündigung für diesen Zweck - man kann sicher darüber diskutieren, ob es für andere Zwecke sinnvoll ist - das richtige Instrument ist. Man sollte dies vor allem vor dem Hintergrund tun, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Ost und West besteht: Im Osten gibt es einen dramatischen Leerstand - darauf haben meine beiden Vorredner schon hingewiesen -, im Westen hat es ihn in dieser Weise nie gegeben; die Verwertungskündigung war dort glücklicherweise nie ein Instrument, das in großem Umfang eingesetzt werden musste. Dort gab es sie nur für Einzelfälle. Wir wünschen dem Westen, dass er nie in eine solche Situation kommen wird. Mein Hauptanliegen ist: Wir müssen beim Stadtumbau Ost - das ist eine schwierige Situation für Vermieter und Mieter - dafür sorgen, dass der soziale Frieden gewahrt wird. Insofern müssen wir prüfen, welches das richtige Instrument ist. Auf der einen Seite darf der Vermieter nicht in die Situation geraten, dass noch der berühmte letzte oder vorletzte Mieter in seinem Haus wohnt und er die Kosten für die Bewirtschaftung des ganzen Hauses tragen muss. Auf der anderen Seite aber müssen auch die Interessen des Mieters bei einer Kündigung gewahrt bleiben. Nur dann werden die Mieter - das ist bisher der Fall - in konstruktiver Weise am Stadtumbauprozess mitwirken. Wir dürfen also nicht ein Instrument beschließen, das den sozialen Frieden, der zurzeit beim Stadtumbau herrscht, gefährdet. Von daher werbe ich dafür, dass wir mit diesem Instrument sehr achtsam umgehen ({0}) und nicht besserwisserisch vorab behaupten, das eine oder andere wäre das Richtige. Ich muss gestehen, dass ich zu denjenigen gehöre, die meinen, eine Kündigung aus berechtigtem Interesse erfüllt diese Kriterien. Richtig ist - das wurde hier bereits gesagt -, dass wir noch nicht wissen, wie es mit der Rechtsprechung weitergehen wird. Das muss noch geklärt werden. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir wahrscheinlich im Zuge der Novellierung des Baugesetzbuches die Möglichkeit eröffnen, Stadtumbaugebiete qua kommunaler Satzung definieren zu können. Auch insofern sollten wir prüfen, welches rechtliche Instrument geeignet ist, entsprechend zu reagieren. Ich möchte also dafür werben, dies zu prüfen und sich die Stellungnahme des Bundesgerichtshofes anzusehen. Anschließend können wir § 573 BGB zur Entscheidung bringen. Ich glaube nicht, dass es hilft zu sagen: Rechtsangleichung ist automatisch ein sinnvolles Instrument für den Umgang mit dem Stadtumbau Ost. So einfach ist es nicht. Wir brauchen den Interessenausgleich zwischen Vermieter und Mieter. Insofern melde ich deutlichen Beratungsbedarf bei diesem sensiblen Thema an. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Günther von der FDP-Fraktion.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates entspricht den Vorstellungen der FDP. Das in den neuen Bundesländern geltende Sonderrecht, das die Möglichkeit einer Verwertungskündigung ausschließt, wird der heutigen Situation nicht mehr gerecht und sollte schnellstmöglich verschwinden. ({0}) Bereits in den parlamentarischen Debatten zur Mietrechtsreform 2001 haben wir darauf hingewiesen, dass sich dieses Sonderrecht erledigt hat und es daher schnell aus dem Gesetz herausgenommen werden sollte. Auch zu diesem Zeitpunkt war das Wohnungsüberangebot im Osten Deutschlands schon bekannt und wussten wir, dass es dort einen wachsenden Leerstand an Wohnungen geben würde. Inzwischen sind es 1,4 Millionen leer stehende Wohnungen. Zum Glück hat sich die Einsicht in diese Richtung verändert. Ich finde es gut, dass Sie mit uns darüber diskutieren wollen. Aber die Leerstandsproblematik in den neuen Ländern hat sich weiter verschärft. Das muss man ganz deutlich sagen. Trotz des Programms Stadtumbau Ost, das wir von seinem Grundanliegen her unterstützen, wächst der Leerstand schneller, als Wohnungen im Osten Deutschlands abgerissen werden. Das ist das Problem. Heute geht es darum, den geplagten Wohnungsunternehmen aus einer groben Einengung ihres Verfügungsrechts herauszuhelfen. Die bekannten Fälle aus den Amtsgerichten Halle und Jena haben bereits verdeutlicht, dass die rechtlichen Hemmnisse auf dieser Strecke nach wie vor groß sind. Dazu gehört auch die hier in Rede stehende Möglichkeit, Mietern zu kündigen, die freiwillig nicht bereit sind, ihre Wohnung in einem zum Abriss vorgesehenen Gebäude zu räumen. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein elfgeschossiger Wohnblock in Erfurt mit 176 Wohneinheiten ist für den Abriss vorgesehen. Die meisten Mieter waren bereit umzuziehen. Ein Mieter blieb wohnen. Nach geltendem Recht musste das Wohnhaus weiter betriebswirtschaftlich erhalten werden, was die Gesellschaft jährlich 77 000 Euro kostete. Der eine Mieter von 176, der noch dort gewohnt hat, hat eine Warmmiete von 310 Euro im Monat gezahlt. Das kann sich kein Unternehmen mehr leisten. Deshalb muss sich hier etwas ändern. Dass sich die Wohnungsunternehmen hierbei um soziale Abfederung bemühen, haben sie zur Genüge bewiesen. Diesem Mieter in Erfurt wurden eine vergleichbare Wohnung im Nachbarhaus, sogar ein Reihenhaus plus 20 000 Euro Abstandszahlung angeboten. Ich finde das ungerecht gegenüber den Mietern, die aufgrund der Situation bereit waren auszuziehen. Dieser Ausnutzung müssen wir einen Riegel vorschieben. ({1}) Das Gesetz schreibt die soziale Abfederung vor. Das brauchen wir nicht weiter auszuführen. Im Übrigen ist mir kein Wohnungsunternehmen bekannt, das bei solchen Umzügen bisher Druck auf die Mieter in der Form ausgeübt hat, möglichst viele finanzielle Vorteile zu erreichen. Im Gegenteil. Sie haben mehr als den Umzug bezahlt und haben mit den Mietern ordentlich gesprochen. Deshalb bin ich froh über den Entwurf des Bundesrates. Ich würde mich aber genauso freuen, Frau EichstädtBohlig, wenn wir nicht sehr lange über diesen Entwurf diskutierten, sondern noch in diesem Jahr zu einem Ergebnis kämen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich jetzt dem Kollegen Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion das Wort.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich betrachte den Gesetzentwurf des Bundesrates aus dem Blickwinkel eines Wohnungspolitikers. Es ist sicherlich unsere gemeinsame Überzeugung, dass wir zwischen den Rechten der Eigentümer und den Rechten der Mieter eine Balance zu wahren haben. Deswegen war es richtig und vernünftig, dieses Verbot einer Verwertungskündigung in den Einigungsvertrag einzubauen. Schließlich war die Situation damals eine völlig andere; vor allen Dingen wollten wir Mieterinnen und Mieter nicht verunsichern und verängstigen. Problematisch finde ich es allerdings, Mieterschutzrechte mit der jeweiligen Situation am Wohnungsmarkt in Zusammenhang bringen zu wollen. Ich finde, beides müssen wir unabhängig voneinander betrachten. Deswegen ist für mich auch der Hinweis auf den wachsenden Leerstand nicht das entscheidende Argument, um hier über die Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung neu nachzudenken. Vielmehr müssen wir die Eigentümerrechte unter dem Aspekt des Stadtumbaus sehen. Das ist für mich entscheidend. Wir müssen nämlich nicht nur die finanziellen, sondern auch die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Programm zum Stadtumbau Ost, das so erfolgreich angelaufen ist, zum notwendigen Erfolg führt. Zur Schaffung rechtlicher Voraussetzungen gehört - Frau Eichstädt-Bohlig hat das bereits angesprochen -, dass Änderungen im Baugesetzbuch vorgenommen und Regelungen wie die, um die es heute geht, überprüft werden. Dass wir uns im Rahmen der Mietrechtsreform nicht über eine Änderung verständigen konnten, lag schlicht und einfach daran, dass sich in dieser Frage damals auch die neuen Bundesländer uneins waren. Das hat die Regierung in ihrer Gegenäußerung noch einmal bekräftigt. Heute ist die Situation anders, was wiederum eine ganz andere Voraussetzung ist. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die Rechtsprechung gezeigt hat, dass Abrisskündigungen durchgesetzt werden können, ({0}) und dass der BGH möglicherweise im nächsten Jahr eine Grundsatzentscheidung in dieser Frage treffen wird. Dennoch stimmen wir mit den Rechtspolitikern in der Koalition überein, dass wir, wie die Bundesregierung schon angekündigt hat, die neuen Sachverhalte sorgfältig prüfen müssen. Das ist kein fauler Kompromiss, sondern ist angesichts der Güterabwägung das einzig Sinnvolle. ({1}) Für sehr problematisch halte ich alle Überlegungen zu einem Sonderkündigungsrecht, auch wenn man es nur für bestimmte Stadtquartiere aussprechen wollte. Ich glaube, die Kernfrage, um die es in den nächsten Wochen geht, ist, ob wir das Verbot aufheben wollen oder nicht. Wichtig beim Stadtumbau ist, dass die Vermieter mit dieser schwierigen Situation - es ist eine schwierige Situation, nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für die Mieterinnen und Mieter - sorgsam umgehen; das hat Frau Eichstädt-Bohlig bereits gesagt. In der Regel tun die Unternehmen das auch, zum Beispiel durch das Angebot guter Ersatzwohnungen, durch Umzugshilfen etc. Wir müssen aber auch erkennen - das ist vollkommen richtig -, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass einzelne Mieter die Möglichkeit zur Blockade erhalten. Die Extrembeispiele, die genannt worden sind, sind natürlich mehr als ärgerlich. Aber in der Regel laufen solche Vorgänge einvernehmlich ab. Wir haben zu prüfen, ob die guten Mieterschutzrechte, die wir glücklicherweise haben, auch in dieser besonderen Situation des Stadtumbaus Ost ausreichen. Das wird in den nächsten Wochen in den anstehenden Sitzungen der Ausschüsse in Ruhe abzuwägen und zu beraten sein. Ich denke, dass es am Ende eine Regelung geben wird, die einen vernünftigen rechtlichen Rahmen für den Stadtumbau im Osten und demnächst sicherlich auch stärker im Westen unseres Landes bringen wird, die aber auf der anderen Seite die gesicherten Mieterschutzrechte an keiner Stelle auch nur im geringsten in Frage stellt. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1490 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus Haupt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes - Drucksache 15/756 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1}) - Drucksache 15/1593 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Grotthaus Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema, so scheint mir, ist unerschöpflich. Gegen eine entsprechende Gesetzesänderung hat sich die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP sowie auf Schreiben der DEHOGA und der NGG schon des Öfteren ausgesprochen. Zuletzt haben wir noch am 5. Juni dieses Jahres hier im Plenum darüber diskutiert. Man könnte also meinen, das Thema sei ausdiskutiert. Ich sage gleich zu Beginn, dass wir diesen Antrag der FDP ablehnen werden. Damit könnte die Diskussion für uns beendet sein, weil wir uns schon beim letzten Mal zu dieser Thematik ausgetauscht haben. Da ich aber davon ausgehe, dass die FDP ihre Argumente noch einmal vortragen wird, will ich die Gelegenheit nutzen und dies für die SPD auch tun. Neue Erkenntnisse liegen aufgrund der Kürze der Zeit natürlich nicht vor. Es stellt sich die Frage, was die FDP mit ihrem Antrag will. Gemäß ihrem Gesetzentwurf möchte die FDP-Fraktion den Beginn der Nachtruhe für Jugendliche im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie im Schaustellergewerbe von bisher 22 Uhr auf 24 Uhr und an den Abenden vor Berufsschultagen von bisher 20 Uhr auf 21 Uhr heraufsetzen. Mit den Änderungen - so die Argumentation - soll eine bessere Ausschöpfung des Ausbildungspotenzials in diesen Branchen ermöglicht und so der Jugendarbeitslosigkeit entgegengewirkt werden. In dem Antrag heißt es weiter weiter: Zudem werden die Möglichkeiten von Haupt- und Realschülern für eine Ausbildung … verbessert. Die früheren Reifeprozesse und veränderten persönlichen Nachtruhezeiten der über 16-Jährigen lassen diese punktuelle Lockerung der Vorschriften zu, ohne dass der notwendige Schutz der arbeitenden Jugendlichen gefährdet würde. Dies hört sich erst einmal gut an, vor allem dann, wenn man bedenkt, dass es insbesondere um Ausbildungsplätze für junge Menschen geht. Wenn man sich die uns vorliegenden Zahlen einmal im Detail ansieht, dann erkennt man, dass sie jedoch eine ganz andere Sprache sprechen. Mit den FDP-Maßnahmen wird keine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze erreicht werden. Allerdings, so halten wir für uns fest, würden damit die Grundwerte des Jugendarbeitsschutzgesetzes über Bord geworfen. Die FDP spricht von einer Lockerung, ich spreche von einer Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Die Gewährleistung einer ausreichenden Nachtruhe ist insbesondere für junge Menschen, die in der Entwicklung stehen, wichtig. Im Jugendarbeitsschutzgesetz wird den Besonderheiten im Gaststätten- und Schaustellergewerbe durch Ausnahmeregelungen zur Nachtruhe schon jetzt Rechnung getragen. Die Nachtruhe vor Berufsschultagen soll sicherstellen, dass Jugendliche am Folgetag ausgeruht und aufnahmefähig am Berufsschulunterricht teilnehmen können. Was sagen die Zahlen? Im Gegensatz zu anderen Branchen, in denen durchgängig ein Rückgang an Ausbildungsplätzen feststellbar ist, konnte im Hotel- und Gaststättengewerbe ein Plus von 0,3 Prozent neu abgeschlossener Ausbildungsverträge verzeichnet werden. Bricht man diese Aussage konkret auf das Gaststättengewerbe herunter, dann erkennt man, dass es im Jahre 2002 - dies sind die letzten Zahlen, die mir vorliegen 91 900 Ausbildungsplätze gab. Dies bedeutet eine Steigerung von fast 50 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. Ich meine, man sollte dem Gewerbe einmal Dankeschön sagen, dass es sich für junge Menschen engagiert einsetzt. ({0}) - Herr Burgbacher, Sie sagen, dass da noch viel mehr getan werden kann. Auch wir sind dieser Auffassung. Es bleibt dem Hotel- und Gaststättengewerbe selbst überlassen, hier noch mehr zu tun. Dies wird sich aber nicht an einer oder zwei Stunden festmachen lassen. - Diese hervorragende Ausbildungsleistung erfolgte trotz des geltenden Jugendarbeitsschutzgesetzes. Negative Auswirkungen auf die Ausbildungsbereitschaft sind deshalb nicht zu erkennen. Die vorliegenden Daten belegen zudem, dass volljährige Auszubildende bei der Einstellung gegenüber Haupt- und Realschülern nicht bevorzugt werden. Die Branche bildet erheblich mehr Haupt- und Realschüler als Abiturienten aus. Einige Beispiele: Bei den Restaurantfachleuten sind rund 78 Prozent Haupt- und Realschüler, bei den Fachkräften im Gaststättengewerbe sind es rund 70 Prozent und bei den Hotelfachleuten sind es 64 Prozent usw. usf. Hier ist nicht die Differenz zu erkennen, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben. Die geltenden Regelungen stellen somit kein Ausbildungshindernis dar. Es erscheint mir deshalb wichtig, an dieser Stelle nochmals auf den besonderen Wert des Jugendarbeitsschutzgesetzes im Arbeitsrecht hinzuweisen. Ein wie auch immer verändertes Ausgehverhalten als Begründung für eine Gesetzesänderung heranzuziehen ist nicht stichhaltig. Mögliche Freizeitaktivitäten beeinflussen weder die besondere Schutzbedürftigkeit Jugendlicher im Erwerbsleben noch den Schutzzweck des Gesetzes. Zudem, so meine ich, besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass die Jugendlichen die Dauer ihrer Freizeitaktivitäten selbst bestimmen können, während sie sich einer täglichen Arbeitszeit bis 24 Uhr nicht entziehen können. Ich fasse zusammen: Die SPD-Fraktion wird den Antrag aus zwei Gründen ablehnen. Zum einen erreichen wir mit den von der FDP vorgeschlagenen Maßnahmen nicht das angestrebte Ziel. Die zugrunde gelegte BewerWolfgang Grotthaus tung, das geltende Recht behindere die Schaffung von Ausbildungsplätzen, habe ich anhand der dargestellten Zahlen widerlegt. Zum anderen ist die Begründung, die Jugendarbeitsschutzregelung aufgrund veränderten Freizeitverhaltens vernachlässigen zu dürfen, mehr als dürftig. Dies gilt für den gesamten Antrag der FDP: Er ist mehr als dürftig. Deswegen lehnen wir ihn ab. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht bei dem Antrag nur vordergründig um die Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Das eigentliche Anliegen des FDP-Antrages ist es, an einer Stelle eine Korrektur vorzunehmen, durch die ein Hemmnis abgebaut werden kann, um so die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen zu ermöglichen. Es ist nicht ganz stichhaltig, Herr Grotthaus, dass Sie sagen, in diesem Bereich seien es plus 0,3 Prozent. Was hindert uns daran, durch eine Regelung einen Beitrag dazu zu leisten, dass in dem Bereich plus 0,5 oder plus 0,6 Prozent neue Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze entstehen? ({0}) Der Antrag geht in die richtige Richtung; denn er zielt darauf ab, ein Stellschräubchen zu korrigieren, wodurch ein Hemmnis, das im Gaststätten- und Hotelgewerbe gesehen wird, abgebaut werden kann. Da ich eine relativ lange Redezeit habe, möchte ich den Versuch unternehmen, in die Betrachtung die Situation einzubeziehen, in der wir uns momentan befinden. Wir haben in dieser Woche das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute bekommen. Darin wird festgestellt, dass die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Jahr alles in allem um rund 600 000 niedriger sein wird als im Jahre 2002. Des Weiteren wird festgestellt, dass wir in diesem Jahr im Schnitt 4,4 Millionen Arbeitslose haben werden und dass diese Zahl um rund 330 000 über der des letzten Jahres liegen wird. Nun sagte die Bundesregierung, vertreten durch Minister Clement, gestern in der Ausschusssitzung und auch hier im Plenum, dass wir in diesem Jahr im Schnitt 4,39 Millionen Arbeitslose haben werden. Laut Herbstgutachten werden wir im nächsten Jahr 4,45 Millionen Arbeitslose haben, während die Bundesregierung die Zahl von 4,36 Millionen nennt. Auf den Streit, ob es um 60 000 nach oben oder um 30 000 nach unten geht, will ich mich gar nicht einlassen. Aber die Frage, ob es im nächsten Jahr 30 000 Arbeitslose weniger sein werden, wie es die Auffassung der Bundesregierung ist, oder ob es 50 000 mehr sein werden, wie es die Verfasser des Herbstgutachtens sagen, zeigt, über welche Größenordnung wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit reden. Das ist eine Marge, bei der es sich wirklich lohnt, an jeder Stelle zu schauen, ob wir nicht noch ein paar Stellschräubchen haben, durch die wir Hilfestellung leisten können. Wenn Sie die Situation am Ausbildungsmarkt verfolgt haben, dann wissen Sie, dass diese in diesem Jahr besonders schwierig war. Ende September waren - das sind die Eckdaten, die immer Ende September kommen 14 800 Ausbildungsstellen noch unbesetzt. Es gibt aber noch 35 000 Bewerber, die als nicht vermittelt gelten. Auch diese Zahlen zeigen, dass es uns wirklich jeden Schmalz Wert sein muss, ein bisschen darüber nachzudenken, ob wir nicht an kleinsten Stellen, sozusagen als Testfall für die Flexibilität der Fraktionen Rot-Grün, Stellschräubchen ändern können. ({1}) Ich glaube, der Antrag geht in die richtige Richtung. Es geht nämlich nicht darum, Herr Grotthaus, wie Sie gesagt haben, den Jugendarbeitsschutz auszuhöhlen oder den Gesundheitsschutz auszusetzen. Es geht auch nicht, wie das in der ersten Lesung von einem Vertreter der Grünen gesagt worden ist, um Ausbeutung oder Frühkapitalismus. Ich finde, wir sollten uns solche Vokabeln nicht an den Kopf werfen. ({2}) Es geht allein um die Frage, ob in bestimmten Fällen Veränderungen möglich sind. Ich will an einem konkreten Beispiel verdeutlichen, worum es geht. Die Frage ist, ob ein 17-jähriger Kochlehrling im Hotel- und Gaststättengewerbe um 22 Uhr den Löffel fallen lassen, durch den Hinterausgang seinen Arbeitsplatz verlassen und durch den Vordereingang wieder hineinkommen kann, um dort zu essen und ein Bier zu trinken, weil er bis 24 Uhr ausgehen darf. Dieser Fall ist möglich. ({3}) Ich will das Freizeitverhalten der jungen Leute nicht als Begründung heranziehen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir offensichtlich beim Jugendarbeitsschutz und beim Jugendschutz mit zweierlei Maß messen. In beiden Gesetzen sind Schutzgrenzen verankert. Es stellt sich die Frage, ob dieser 17-Jährige im Hotelund Gaststättengewerbe einen Ausbildungsplatz bekommt, weil dort bis 23 Uhr gearbeitet wird. Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes klagen zunehmend darüber, dass dies ein Ausbildungshemmnis für Hauptund Realschüler darstellt. Schauen wir uns einmal das Ausbildungseintrittsalter im Hotel- und Gaststättengewerbe an! Ich nenne Ihnen die Zahlen. Im Bereich der Fachleute für Systemgastronomie sind 85 Prozent 18 Jahre oder älter. Bei Hotelkaufleuten sind fast 90 Prozent 18 Jahre oder älter. Selbst bei den Hotelfachleuten sind 63 Prozent über der Grenze von 18 Jahren. So könnte man alle Berufsgruppen durchgehen. Das heißt, die Auszubildenden sind überwiegend 18 Jahre alt. Diese Regelung ist eine Bremse für Haupt- und Realschüler. ({4}) Sie sind nämlich wesentlich jünger. Dadurch entsteht eine Hürde bei der Einstellung. Es geht also darum, diese Hürde abzubauen, nicht darum den Jugendschutz auszuhöhlen. Diese Zahlen haben wir übrigens nicht erfunden, sondern sie stammen vom Bundesinstitut für Berufsbildung. Es geht einfach um die Frage, ob wir nicht auch denjenigen eine Chance geben wollen, die mit 16 oder 17 Jahren ihren Haupt- oder Realschulabschluss gemacht haben und nun eine Ausbildung beginnen wollen. Die FDP stellt einen Antrag, Jugendliche bis 24 Uhr arbeiten zu lassen. Wir als CDU/CSU haben schon in der ersten Lesung einen Vermittlungsvorschlag gemacht und vorgeschlagen, die Grenze bei 23 Uhr festzulegen. Wir wollen nicht um Stunden feilschen, sondern diese Grenze bei 23 Uhr gibt es schon. Sie wissen, dass in mehrschichtigen Betrieben auch 17-jährige Auszubildende bis 23 Uhr arbeiten müssen. Nun frage ich mich ernsthaft, wie Sie das mit dem Gesundheitsschutz und dem Jugendarbeitsschutz in Übereinstimmung bringen wollen. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen, um zu zeigen, dass diese Regelungen unlogisch sein können: Es ist erlaubt, dass bei McDonald’s die Ausbildung bis 23 Uhr dauert. In dem kleinen Restaurant nebenan aber ist dies nicht möglich. Mit Gesundheits- und Jugendarbeitsschutz hat diese Regelung nichts zu tun; denn in dem kleinen Restaurant ist ein Auszubildender nicht schützenswerter oder weniger gesund als bei McDonald’s. ({5}) - Nein, das ist kein Grund, das abzuschaffen, aber ernsthaft darüber nachzudenken. Warum ist die Arbeit bis 23 Uhr in dem einen Bereich erlaubt und in dem anderen nicht? Warum ermöglichen wir nicht auch den kleinen und mittelständischen Betrieben, in denen nicht mehrschichtig gearbeitet wird, Ausbildungsplätze dadurch bereitzustellen, dass Jugendliche länger arbeiten dürfen? An dieser Stelle lohnt sich die Überlegung. Für mich ist das der Testfall, ob Sie sich an dieser wirklich kleinen Stelle, die von der Logik des Jugendarbeitsschutzes vorgegeben ist - dort ist die Uhrzeit von 23 Uhr festgeschrieben -, bewegen. Das zeigt, wie reformfähig wir in Deutschland sind, wenn Rot-Grün an der Regierung ist. Ich fasse zusammen: In dem einen von Ihnen geschützten Bereich in Betrieben, in denen mehrschichtig gearbeitet wird, können Jugendliche im Alter von 17 Jahren bis 23 Uhr arbeiten, dort gilt der Jugendarbeitsschutz und der Gesundheitsschutz für Jugendliche. In dem anderen Bereich liegt diese Grenze bei 22 Uhr. Logisch begründen können Sie das nicht mehr. ({6}) Das ist dasselbe Alter und das ist dieselbe Gruppe. Es handelt sich einfach nur um einen anderen Betrieb. ({7}) Den Testfall haben wir leider in der zweiten und dritten Lesung nicht hinbekommen können, in der Ausschussberatung auch nicht. Deswegen ist das ein Bereich, in dem wir auch mit kleinen Kompromissen nicht weiterkommen. Wir reden nicht über die großen Reformen der Agenda 2010, nicht über Hartz III und Hartz IV. Das sind große Gesetze. Da kann man sich an vielen Stellen schwer tun. Wir reden über ein kleines Stellschräubchen, über eine Bestimmung, mit der wir einen Beitrag leisten könnten, in diesen kleinen Gastronomiebereichen 300, 400 oder 500 Ausbildungsplätze mehr zu schaffen. Das wird nicht gelingen, weil Sie Gesundheits- und Jugendarbeitsschutz auf zweierlei Art und Weise interpretieren. In dem einen Bereich darf man bis 23 Uhr arbeiten, im anderen nicht. ({8}) Logisch ist das jedenfalls nicht mehr zu begründen. Wir haben uns im Ausschuss für die 23-Uhr-Grenze statt der von der FDP vorgeschlagenen 24-Uhr-Grenze ausgesprochen, um Ihnen eine Brücke zu bauen. Aber selbst dazu waren Sie nicht bereit. Ich kann das jedenfalls keinem Vertreter des Hotel- und Gaststättengewerbes erklären ({9}) und auch keinem 16- oder 17-Jährigen, der mit einem normalen Hauptschul- oder Realschulabschluss dort eine Ausbildungsstelle haben möchte, sie aber nicht bekommt, weil das als Ausbildungshemmnis angesehen wird. Wenn Sie das versuchen, wird Ihre Logik durcheinander geraten. ({10}) Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Ich wollte an diesem einfachen Beispiel nur zeigen, wo wir die Möglichkeit hätten, etwas zu ändern. Selbst bei solch kleinen Stellen gibt es starre Fronten, keine wirkliche Beratung im Ausschuss, kein Aufeinander-Zugehen. Wir werden uns heute der Stimme enthalten, ({11}) weil wir die 24-Uhr-Grenze nicht wollen. Wir sehen das Problem auch. Ich war in der vorletzten Periode Berichterstatter für Jugendarbeitsschutz und weiß, worüber ich rede. Ich lasse mir von Ihnen nicht vorwerfen, dass wir den Jugendarbeitsschutz aushöhlen, ganz bestimmt nicht. Wir haben deswegen als Vermittlungsvorschlag die 23-Uhr-Grenze angeboten. Die ist im Gesetz schon vorgesehen. Sie hätten leicht mitmachen können. Aber offensichtlich ist die Zusammenarbeit auch an kleinen Stellen nicht gewollt. Wir haben noch die Möglichkeit, das über den Vermittlungsausschuss zu korrigieren. Ich vermute aber, dass wir das da auch nicht hinbekommen werden, weil dann andere Größenordnungen eine Rolle spielen. Ich bedauere, dass selbst solch kleine Schritte nicht möglich sind, weil Sie nicht mit uns den Versuch gemacht haben, diese Logik ins Gesetz zu bringen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein Wort an den Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion. Wenn Sie Ihre Reformfähigkeit dadurch beweisen, dass Sie sich, wenn zwei Vorschläge auf dem Tisch liegen, enthalten, dann gute Nacht, Deutschland. ({0}) Jetzt zur FDP. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sie, meine Damen und Herren von der FDP, den Beweis antreten, das unser jetziges Jugendarbeitsschutzgesetz geändert werden muss, weil es zu starr sei, nicht mehr gut genug sei und sich zulasten der jungen Menschen auswirke. Die Änderungen, die Sie vorschlagen, wurden jetzt schon mehrfach vorgetragen. Damit wollen Sie erreichen, dass die Ausbildungsmöglichkeiten für Haupt- und Realschüler verbessert werden. Der Jugendarbeitsschutz soll aufgeweicht werden, weil der aus Ihrer Sicht frühere Reifeprozess von Jugendlichen eine Lockerung angeblich zulässt. Ich sage Ihnen klipp und klar: Es stimmt laut Statistik überhaupt nicht, dass Haupt- und Realschüler benachteiligt sind, weil Unternehmer angeblich volljährige Auszubildende bevorzugen, die in der besonders arbeitsintensiven Phase zwischen 23 und 24 Uhr eingesetzt werden könnten. Alle vorliegenden Daten belegen, dass Abiturientinnen und Abiturienten bei der Einstellung im Hotel- und Gaststättengewerbe eben nicht bevorzugt werden. ({1}) Fast drei Viertel aller Auszubildenden sind Haupt- und Realschüler. Ich kann Ihnen das noch einmal aufschlüsseln. Es geht nicht nur um das Alter, sondern auch darum, welcher Ausbildungsgang besucht wurde. 78 Prozent der Auszubildenden im Bereich der Restaurantfachleute sind Haupt- und Realschüler. Im Gastgewerbe sind es immer noch 70 Prozent. Unter den Hotelfachleuten sind es 64 Prozent, unter den Fachleuten für Systemgastronomie 57 Prozent und selbst bei den Hotelkaufleuten ist es noch ein gutes Drittel. Was die FDP bewogen hat, in ihren Antrag auch noch das Schaustellergewerbe mit aufzunehmen, bleibt ihr Geheimnis. ({2}) Unseres Wissens hat sich kein einziger Schausteller gegenüber der Bundesregierung für eine Verkürzung der Nachtruhe ausgesprochen. Insofern ist der angebliche Bedarf völlig aus der Luft gegriffen. Weil beide Gewerbe in § 14 des Gesetzes geregelt sind, haben Sie sich wahrscheinlich gedacht - so erkläre ich mir das -, man könne das in einem Abwasch regeln. Ich meine, das war schludrig gearbeitet, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP. ({3}) Es ist schon mehr als abenteuerlich, dass das veränderte Ausgehverhalten von Jugendlichen dafür herhalten soll, sinnvolle Regelungen zum Schutz der arbeitenden Jugend abzuschaffen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich das Ausgehverhalten in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Dass meine Großeltern ein anderes Unterhaltungsprogramm haben als ich oder als es meine Kindern haben werden, verstehen wir sicherlich alle. Dadurch wird aber kein Sinnzusammenhang nach dem Motto „Wer mit 16 Jahren in die Disko gehen kann, der kann auch bis 24 Uhr kellnern“ erkennbar. Es ist ein völlig neuer Aspekt, wenn Sie Arbeit und Freizeitverhalten in einen Sinnzusammenhang bringen. ({4}) Ich habe das bisher immer so verstanden, dass das eine Entspannung und Vergnügen und das andere Konzentration und harte Arbeit bedeutet. ({5}) Ihre Aussage, wenn das eine möglich sei, dann müsse auch das andere erlaubt sein, tragen wir nicht mit. Denn in der persönlichen Freizeitgestaltung kann sich jeder selbst entscheiden und gehen, wann er will. Aber hinsichtlich der täglichen Arbeitszeit ist das doch wohl in den seltensten Fällen möglich. ({6}) Wenn man dann noch berücksichtigt - das wurde bereits erwähnt -, dass eine Steigerung um fast 50 Prozent auf über 90 000 Ausbildungsverhältnisse stattgefunden hat, ohne dass das Gesetz geändert wurde, dann wird Ihr Gesetzentwurf endgültig zur Lachnummer. Die CDU/CSU hat in der ersten Beratung im Juni festgestellt: Wir müssen die Jugend vor diesem Gesetz schützen. Richtig ist hingegen, dass wir die Jugendlichen mit diesem Gesetz schützen müssen, ({7}) und zwar zum einen, damit die Ausbildungsqualität erhalten bleibt, und zum anderen, weil junge Menschen besonders geschützt werden müssen, damit ihre Entwicklung ungestört verläuft und ihre Gesundheit nicht gefährdet wird. Meine Damen und Herren, hier soll ein Gesetz geändert werden, das sich in der Praxis bewährt hat. In Wirklichkeit geht es der Opposition nicht um den Abbau von Jugendarbeitslosigkeit, sondern um den Abbau von Ihnen lästigen Schutzrechten für junge Menschen und damit auch von Arbeitnehmerrechten. ({8}) Gerade weil junge Menschen in der Regel das schwächste Glied einer Kette sind, werden wir das nicht zulassen. Insofern lehnen wir den Gesetzentwurf ab. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Winkler, Sie hätten die Werturteile, die Sie gebracht haben, besser weglassen und sich stärker auf Ihre eigenen Argumente konzentrieren sollen. ({0}) Ich habe heute Morgen in der Tourismusdebatte festgestellt, dass ein Problem von Rot-Grün darin besteht - das ist manchmal unerträglich -, dass Sie manchmal eine ideologisch verbrämte Politik betreiben. Sie haben gerade den Beweis dafür angetreten. ({1}) Es geht doch nicht um die Ausweitung von Arbeitszeiten und um den Abbau von Jugendschutzrechten. Sie haben vorhin ausgeführt, Herr Grotthaus, Grundwerte des Jugendarbeitsschutzgesetzes würden über Bord geworfen. Was soll dieser Unsinn? Es geht doch um etwas ganz anderes. Es gibt Schutzvorschriften und selbstverständlich bekennen wir uns alle zum Jugendschutz wie zum Jugendarbeitsschutz. Wenn sich solche Schutzrechte aber darin auswirken, dass Jugendlichen Chancen genommen werden, dann müssen sie infrage gestellt werden. Das tun wir auch, und zwar in sehr verantwortungsvoller Weise. Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Zunächst zu den Zahlen, die Sie beide genannt haben: Die Prozentzahlen sind völlig unsinnig; denn die Praxis sieht anders aus. In der Praxis wird ein Haupt- oder Realschüler nicht nur abgelehnt, vielmehr wird ihm geraten, ein oder zwei Jahre zu überbrücken und es erneut zu versuchen, wenn er 18 Jahre geworden ist. In der Zwischenzeit besucht er dann eine Schule, wie Sie das übrigens zum System machen. ({2}) Das ist die Praxis, die auch Sie einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Mir wird niemand den Sinn einer Regelung erklären können, wonach ein Jugendlicher, der einen Ausbildungsplatz will, noch ein, zwei Jahre etwas anderes machen muss, nur weil er angeblich noch nicht alt genug für eine Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe ist. Ich möchte auf zwei konkrete Beispiele eingehen. Erstens. Viele Hotels, vor allem die Spitzenhotels, nehmen praktisch nur noch Abiturienten, und zwar nicht weil sie Abiturienten generell bevorzugen, sondern weil sie, wenn sie jüngere Schulabgänger nehmen, Probleme mit dem Alter der jugendlichen Auszubildenden bekommen. - Sie sollten nicht den Kopf schütteln. Sie sollten sich lieber die Praxis einmal anschauen. Zweitens. Als ich in bestimmten Betrieben - ich kann Ihnen gerne die Namen der betreffenden Betriebe nennen, aber nicht jetzt - darauf hingewiesen habe, dass ein Teil der Belegschaft, der noch nach 23 Uhr arbeitet, keine 18 sei, wurde mir gesagt, dass die Betreffenden nur eingestellt worden seien, weil die Eltern versprochen hätten, nichts dagegen zu unternehmen. Auch das ist Praxis. Ich meine, dass man aus einer sich verändernden Situation Konsequenzen ziehen muss. ({3}) Verändertes Ausgehverhalten bedeutet nicht nur, dass Jugendliche durchschnittlich länger aufbleiben. Ich möchte natürlich keinen direkten Zusammenhang zwischen Freizeit und Arbeitszeit herstellen. Aber dass es auch hier wesentliche Verschiebungen gibt, sollte man schon zur Kenntnis nehmen. Übrigens hat die Kollegin Homburger völlig Recht, wenn sie Sie auffordert, sich lieber um die Einhaltung von Lärmschutzvorschriften in den Diskos zu kümmern. Aber hieran wagen Sie sich nicht. Auch in der Gastronomie hat sich vieles verändert, weil sich die Zeiten, zu denen man essen geht, nach hinten verschoben haben. Es war früher bei uns nicht übErnst Burgbacher lich, spät zu essen. Das bürgert sich aber immer mehr ein. Die Hauptarbeitszeiten der Restaurants sind also später. ({4}) Zeigen Sie mir bitte die jungen Menschen, die im Hotelund Gaststättengewerbe lernen und die um 22 Uhr, wenn der Betrieb brummt, sagen: Tschüs, ich muss jetzt gehen. - Die meisten jungen Menschen bleiben natürlich. Das wollen sie auch selber; denn zum Glück gibt es nicht nur ideologisch verbildete Jugendliche, die das Gesetz unter dem Arm tragen, sondern auch Jugendliche, die in den Betrieben vernünftig mitarbeiten wollen. ({5}) Ich weiß, dass das nicht in Ihr Weltbild passt. Deshalb machen Sie auch nichts. ({6}) Wo wir nur können, drehen wir im Augenblick an den Stellschrauben, um Jugendlichen mehr Chancen zu geben. Hier könnte man eine Veränderung vornehmen, die niemandem schaden und nichts kosten würde. Trotzdem macht man nichts. Man belastet die Menschen, wie man will. Aber hier, wo man etwas machen könnte, tut man nichts, weil es nicht ins Weltbild passt. Lassen Sie mich noch ein paar Takte zur CDU/CSU sagen. Ganz ehrlich, ich verstehe Ihr Verhalten nicht ganz. Herr Dr. Göhner hat während der ersten Lesung eine flammende Rede zugunsten unseres Vorschlags gehalten. Er wollte sogar noch über ihn hinausgehen. Sie haben das im Prinzip auch heute wieder getan. Daher verstehe ich nicht ganz, warum Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen. Natürlich können wir über den Kompromissvorschlag reden, den Beginn der Nachtruhe für Jugendliche im Hotel- und Gaststättengewerbe und im Schaustellergewerbe auf 23 Uhr festzulegen. Aber nach allem, was Sie gesagt haben, müssten sie unserem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen. Ich halte es für bedenklich, mit welcher Nonchalance über einen Vorschlag hinweggegangen wird - er wird sogar lächerlich gemacht -, der Jugendlichen zusätzliche echte Ausbildungschancen bieten könnte, wenn er umgesetzt würde. Ich stelle wieder einmal fest: Die FDP ist die einzige Partei mit einem klaren Kurs. Ich bin ganz sicher, dass wir in dieser Legislaturperiode noch einmal darüber diskutieren werden. Wie in so vielen anderen Fällen werden Sie uns auch hier wieder folgen und das, was wir vorgeschlagen haben, mit zeitlichem Verzug umsetzen. Wir werden Sie dabei unterstützen. Dann können Sie wieder sagen, dass Sie es gewesen seien. Das wird uns aber völlig egal sein, wenn nur unser Vorschlag im Interesse der jungen Menschen umgesetzt wird, die einen Ausbildungsplatz suchen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute werden wir in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der FDP zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes ablehnen. Dafür gibt es gute Gründe. Ich meine, dass wir einen anderen Blickwinkel haben. Er ist stärker werteorientiert. ({0}) Herr Burgbacher, Sie von der FDP haben die Forderung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes eins zu eins übernommen, ({1}) und zwar völlig unreflektiert. Sie beklagen, dass durch das starre Arbeitsrecht das Ausbildungspotenzial im Gaststätten- und Schaustellergewerbe nicht ausgeschöpft werden kann. Nach der bestehenden Ausnahmeregelung - das haben wir heute schon oft gehört - dürfen Jugendliche ab 16 Jahren bereits jetzt bis 22 Uhr und im Schichtbetrieb bis 23 Uhr arbeiten. Sie fordern, darüber hinaus die Beschäftigung bis 24 Uhr zu ermöglichen. Dass ein Bedarf für eine solche Gesetzesänderung besteht, ist völlig aus der Luft gegriffen. Ich rate Ihnen, mehr mit den Jugendlichen und Auszubildenden zu sprechen ({2}) und nicht immer nur die Sicht der Arbeitergeber und der Arbeitgeberinnen darzustellen. ({3}) Als Jugend- und Tourismuspolitikerin freut es mich, dass die Ausbildungsquote gerade im Gastgewerbe mit 12 Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Wirtschaft liegt. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Was er sagen will, habe ich vorher schon gehört. Im Jahr 2002 gab es im Hotel- und Gaststättengewerbe 91 968 Ausbildungsverhältnisse. ({0}) - Ja. ({1}) Während die Zahl der Beschäftigten in der Branche deutlich zurückgegangen ist, wurde die Zahl der Ausbildungsplätze in den vergangenen zehn Jahren um fast 50 Prozent gesteigert. Drei Viertel aller Auszubildenden - ich führe das noch einmal an; Herr Winkler hat es schon vorhin im Einzelnen deutlich gemacht - sind Haupt- und Realschülerinnen und -schüler. ({2}) Diese Daten belegen, dass volljährige Auszubildende, also Abiturientinnen und Abiturienten, im Hotel- und Gastgewerbe nicht bevorzugt werden. Seit circa acht Jahren - das wissen auch Sie - werden verstärkt Abiturientinnen und Abiturienten für Ausbildungsberufe mit neuen Zusatzqualifikationen, die speziell auf Abiturientinnen und Abiturienten zugeschnitten sind, geworben. ({3}) Ich nenne die Hotelfachfrau oder den Hotelfachmann mit Euroqualifikation, das heißt mit Kenntnissen in drei Fremdsprachen und im Hotelmanagement. Damit soll - das haben Sie vorhin auch kurz erwähnt - die Qualität unseres Tourismusstandorts gesteigert werden. Mit großer Sorge erfüllt mich, dass 60 Prozent nach der Ausbildung die Branche wechseln. Beunruhigend ist auch die hohe Zahl derer, die - das gehört, finde ich, ebenfalls in diesen Zusammenhang - ihre Ausbildung abbrechen. Die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverhältnisse im Verhältnis zu den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen insgesamt lag in BadenWürttemberg im Jahr 2001 bei 22 Prozent. Die Quote im Hotel- und Gaststättenbereich ist mehr als doppelt so hoch. Sie liegt bei 46,4 Prozent. Das muss man sich einmal vorstellen! ({4}) Als Gründe nennen die Jugendlichen insbesondere - ich beziehe mich auf die Antwort der Landesregierung von Baden-Württemberg auf eine Große Anfrage der SPD aus dem Jahr 2002 -: Es gibt Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten, mit den Ausbildern. Die Ausbildung entspricht nicht ihren Vorstellungen. Dabei wird explizit erwähnt: unattraktive Arbeitszeiten, keine Wochenarbeitszeitpläne. ({5}) - Sie müssen sich einmal überlegen, wie das alles so zusammenkommt. - Darüber hinaus werden finanzielle Gründe angeführt. Das hat etwas damit zu tun, dass die Bezahlung geringer ist als beispielsweise in der Industrie. Es geht also darum, wie attraktiv wir diese Berufe gestalten. Ich bin der Meinung, dass Sie da ein Stück rückwärts gehen. Auffällig ist, dass es eklatante Verstöße gegen das bestehende Jugendarbeitsschutzgesetz gibt. Das ist innerhalb und außerhalb der Branche bekannt. Sie haben hier Beispiele dafür genannt, auf welche Ideen Arbeitgeber kommen. Darüber hinaus kritisiert der Bericht der Bundesregierung über Kinderarbeit in Deutschland insbesondere die Ausbeutung von Kindern im Gaststättenbereich. ({6}) - Aber da gibt es doch eine Tendenz! ({7}) - Ich habe da wohl einen wunden Punkt getroffen. Herr Burgbacher, Sie führen an - Sie haben es heute wieder getan -, dass sich das Freizeitverhalten der Jugendlichen verändert hat. Das Argument, das da immer wieder kommt, lautet: Wer nachts in die Disko gehen kann, kann in dieser Zeit auch arbeiten. - In meiner Freizeit entscheide ich, wie lange ich ausgehe oder wie lange ich aufbleibe. Wenn die Arbeitszeit bis 24 Uhr geht, kann ich mich dem nicht entziehen. Wir haben der Branche geholfen, indem wir die Trinkgeldbesteuerung abgeschafft und Minijobs ermöglicht haben. Übrigens, späte Arbeitszeiten sind natürlich auch mit Minijobs sehr gut auszufüllen. Anstatt dem Fetisch der Flexibilisierung beim Jugendarbeitsschutzgesetz anzuhängen, könnte ich mir vorstellen, dass man die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit, deren Umfang gerade im Hotel- und Gaststättengewerbe beschämend groß ist, fördert.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit überschritten.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die bundesweite Schwerpunktaktion von Zoll und Bundesanstalt für Arbeit Ende August 2003 hat ergeben, dass bei jeder vierten beschäftigten Person Anhaltspunkte für das Vorhandensein von Unregelmäßigkeiten bestehen. Sie hätten einmal mithelfen sollen, dagegen vorzugehen. Danke. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, Drucksache 15/756. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit empfiehlt auf Drucksache 15/1593, den Gesetzentwurf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU und gegen die Stimmen der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen - Drucksache 15/1328 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Günter Baumann, CDU/CSU-Fraktion.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union zehn neue Mitglieder aufnehmen. Deutschland wird damit ins geographische Zentrum des vereinten Europas rücken. Dieser Prozess erfüllt uns angesichts der Vergangenheit Europas, von Kriegszeiten und von Vertreibungen gekennzeichnet, mit großer Freude und natürlich auch mit Hoffnungen. Das vereinte Europa bietet für alle beteiligten Länder, auch für die gegenwärtig wirtschaftlich recht schwachen Regionen Ostdeutschlands, große Chancen. Es birgt aber auch Risiken. Diesen Risiken können und müssen wir durch gezielte Maßnahmen frühzeitig begegnen, zum Beispiel durch eine Verbesserung der Arbeit des Bundesgrenzschutzes. Das ist der Kerngedanke des Antrages „Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen“, den die CDU/CSU-Fraktion dem Deutschen Bundestag heute vorlegt. Die Grenzsicherheit ist - ich denke, da stimmen wir überein - ein unverzichtbarer Faktor der inneren Sicherheit. Das haben die Fahndungsergebnisse des BGS gerade in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen; aber der Grenzschutz steht heute angesichts der EU-Erweiterung vor neuen großen Herausforderungen, auf die er aus unserer Sicht noch nicht ausreichend vorbereitet ist. Ich erinnere an die gegenwärtigen Probleme der organisierten internationalen Kriminalität: Schleusungen, Menschenhandel und Schmuggel gefährlicher Güter. Die entsprechenden Zahlen brauche ich nicht zu wiederholen, da wir sie hier bereits letzte Woche diskutiert haben. Da die Beitrittsstaaten den Schengenstandard noch nicht sofort umsetzen können, darf es in den kommenden Jahren beim Bundesgrenzschutz keinen Abbau geben; vielmehr müssen wir ihn technisch wie personell auf das notwendige Niveau bringen. ({0}) Dabei sind wir - das möchte ich eindeutig feststellen - in den vergangenen Jahren ein großes Stück vorangekommen. An dieser Stelle möchte ich den Chef der Gewerkschaft der Polizei des Bundes, Knut Paul, zitieren: Der BGS ist eine spezialisierte Fahndungspolizei geworden mit Erfahrungen bei der Identitätsfeststellung, der Bekämpfung illegaler Einwanderung und bei Abschiebemaßnahmen. Diese Fähigkeiten wollen wir ausbauen. Die Erfolge des BGS bei der verdachtsunabhängigen Personenkontrolle haben wir hier bereits letzte Woche diskutiert und, wie ich finde, auch parteiübergreifend gewürdigt. Wer noch einmal das Plenarprotokoll vom vergangenen Donnerstag zur Hand nimmt, der kann erkennen, dass es eine breite parlamentarische Mehrheit für die Erweiterung dieser Befugnisse gab. Das Protokoll dokumentiert aber auch die sicherheitspolitische Selbstblockade innerhalb der Regierung. Der Bundesinnenminister sprach sich nämlich ausdrücklich dafür aus - Zitat -, „dass wir das Gesetz unbefristet gelten lassen sollten“. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine Befristung von dreieinhalb Jahren vorgesehen. Wir von der CDU/CSU fordern fünf Jahre. ({1}) Diese Diskrepanz zwischen Rot-Grün bzw. der Regierung und uns sollte geklärt werden. Ich denke, wir sollten uns hier auf eine Frist einigen. ({2}) Wenn der Bundesinnenminister eine sicherheitspolitische Koalition der Vernunft in einzelnen Punkten wirklich will - ich denke, Herr Staatssekretär Körper, da sind wir uns einig -, steht die CDU/CSU mit ihrem sachlich fundierten Antrag für eine solche Übereinkunft zur Verfügung. ({3}) Unser Antrag geht auch auf die Notwendigkeit ein, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität besser zu vernetzen. Eine technische Voraussetzung dafür ist und bleibt der Digitalfunk. Ich möchte, Herr Staatssekretär, den Disput der vergangenen Woche nicht fortsetzen, aber es ist absolut erfreulich - das haben wir diese Woche im Innenausschuss diskutiert -, dass das Bundesinnenministerium 2004 mit der Ausschreibung beginnen will und dafür 5 Millionen Euro einstellt. Dies entspricht der Aufgabe des Bundesinnenministers: Er muss unserer Meinung nach bei der Verbesserung der sicherheitspolitischen Infrastruktur das Tempo vorgeben. Gewiss haben dann auch die Länder hierbei einen wichtigen Teil der Verantwortung mitzutragen. Herr Staatssekretär, Sie können aus dieser Debatte mitnehmen, dass wir mit den von uns regierten Ländern sprechen werden, um dieses Vorhaben anzuschieben. Deutschland muss in diesen zentralen Bereichen der modernen Sicherheitstechnik endlich vorwärts kommen. Der viele Hickhack der letzten Jahre hat uns überhaupt nichts gebracht. ({4}) Es wäre auch ein wichtiges Signal für die noch im Aufbau befindliche EU-Grenzschutzagentur, wenn man solche Voraussetzungen schaffte. Es muss jetzt darum gehen, durch gezielte Investitionen in unsere Bundespolizei BGS Maßstäbe für einen europäischen Grenzschutz zu setzen, der den Gefahren von Morgen effektiv begegnen kann. Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Einführung von lagebildorientierten Kontrollen des Bundesgrenzschutzes liegen in der Tat zwei Gesetzentwürfe vor, die jeweils eine Befristung vorsehen: der Koalitionsantrag dreieinhalb Jahre mit einer entsprechenden Evaluierungsmöglichkeit und der Antrag der CDU/CSU fünf Jahre. Ich bin der Meinung, dass diese Differenz von anderthalb Jahren hinsichtlich der Befristung sich nicht dazu eignet, zu streiten. ({0}) Bevor man auf die Frage der Einstellung und sachlichen Orientierung des Bundesgrenzschutzes auf die Erweiterung der EU eingeht, sollte man - das ist ganz wichtig - das Verfahren kennen. Eine Mitgliedschaft in der EU bedeutet noch lange nicht, dass man auch Mitglied des Schengenverbundes ist. Hier ist für die neuen EU-Mitgliedstaaten ein von der Ratsgruppe entwickeltes Prüfungsverfahren vorgesehen. Dies dient insbesondere der Sicherheit in Europa. Von daher ist es gut, dass es dieses Verfahren gibt. ({1}) Es geht bei dem Verfahren darum, festzustellen, ob das Schengenniveau erreicht ist und ob ein ordnungsgemäßer Betrieb des Schengener Informationssystems gewährleistet ist. Es ist aber auch zu prüfen, ob die so genannten gemeinsamen Schengenvisa ordnungsgemäß erteilt werden und ob grenzübergreifende Observation und Nacheile möglich sind. Es geht also darum, diese Kriterien einzuhalten. Wir werden dafür Sorge tragen, dass bei den EU-Beitrittsstaaten diese Kriterien auch zukünftig eingehalten werden. ({2}) Ich finde, dass wir auf diesen Prozess stolz sein können. Es ist ja nicht so, dass wir das Rad neu erfinden müssen. Diesen Prozess haben wir an den Westgrenzen unseres Landes schon vollzogen. So muss der Bundesgrenzschutz eben auch an den anderen Grenzen seine Arbeit neu einrichten, wenn weitere Grenzkontrollen der Vergangenheit angehören werden. Es gibt beispielsweise nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 des Bundesgrenzschutzgesetzes die Möglichkeit der verstärkten Kontrollen im grenznahen Raum, in der so genannten 30-km-Zone. Wir haben auch deswegen diesen Gesetzentwurf vorgelegt, weil wir die Möglichkeit für lagebildorientierte Kontrollen in Zügen und auf Bahnanlagen in der Zukunft schaffen wollen. Wenn man ein Resümee zieht, dann braucht man keine Befürchtungen zu haben, dass dieses Verfahren nicht der Sache dient. Wir sind hier auf einem guten Weg, insbesondere was die Arbeitsmöglichkeiten des Bundesgrenzschutzes anbelangt. ({3}) Angesichts der heutigen technischen und personellen Ausstattung des Bundesgrenzschutzes kann man dankbar sein, dass wir diese Möglichkeiten geschaffen haben. ({4}) Ich bin sehr froh, dass der Bundesgrenzschutz technisch hochwertiges Gerät einsetzen kann, ob das im Bereich der Hubschrauber oder der Wärmebildtechnik der Fall ist. Wir haben es erreicht, dass fast alle Angehörigen des Bundesgrenzschutzes, die im operativen Bereich tätig sind, mit Schutzwesten ausgestattet sind. Mit Blick auf die Ausstattungsquote in den Länderpolizeien sage ich: Auch darauf können wir stolz sein. ({5}) Auch was die personelle Vorsorge anbelangt, können wir uns sehen lassen. Wir haben nicht umsonst ein Hebungsprogramm im Bereich des Bundesgrenzschutzes initiiert. Auch auf die Möglichkeit, diese Hebungen im Personalbereich vorzunehmen - die Beamtinnen und Beamten des Bundesgrenzschutzes leisten eine hervorragende Arbeit -, sind wir stolz. ({6}) Ich bin sicher, dass der Bundesgrenzschutz die innovative Fähigkeit hat, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Wir haben Sorge dafür getragen, dass er dies erfolgreich tun kann. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesgrenzschutz arbeitet gut und erfolgreich. ({0}) Damit dies auch in Zukunft so bleibt - auch nach der EU-Osterweiterung -, gilt das, was die FDP ansonsten im Bereich der inneren Sicherheit als Maxime vertritt. Wir brauchen die drei Säulen: eine optimale technische, finanzielle und personelle Ausstattung des Bundesgrenzschutzes. ({1}) Dann kommt lange nichts. Erst danach kommt die Frage, ob denn neue gesetzliche Bestimmungen notwendig sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, leider zeigen Sie immer die Tendenz, diese letzte, in Wahrheit nachrangige Frage überzubetonen. Wenn man Ihre Anträge liest, dann erkennt man, dass Sie dauernd Gesetzesänderungen fordern, die man nur zum Teil braucht und die daher manchmal entbehrlich sind. ({2}) Ich komme zurück zur Ausstattung. Erstens die technische Ausstattung. Herr Staatssekretär, heute vertreten Sie die Bundesregierung. Sie sind von einem etwas duldsameren Naturell als der Minister, ({3}) sodass ich wage, folgenden Punkt anzusprechen: Wir brauchen so schnell wie möglich eine optimale Ausstattung des Bundesgrenzschutzes im Bereich des Digitalfunks. ({4}) Das ist kein Vorwurf an die Bundesregierung, sondern eine Willenserklärung von uns allen, dass Sie im Bund und wir in den Ländern, in denen wir Mitverantwortung tragen, dafür sorgen, dass diese Technik endlich eingeführt und der versprochene Zeitpunkt - nämlich zur Fußballweltmeisterschaft 2006 - auch eingehalten wird. Zweitens die finanzielle und personelle Ausstattung. Das ist schon ein kritischer Punkt in Zeiten, in denen die öffentliche Hand sparen muss. Die FDP ist der Meinung, dass die Motivation, auch beim Bundesgrenzschutz, durch einseitige Sparmaßnahmen wie etwa die Abschaffung oder Einschränkung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht gefördert wird. Das heißt nicht, dass man bei den Personalausgaben nicht sparsam sein sollte. Aber der Kollege Burgbacher hat vor wenigen Wochen an dieser Stelle ein neues Konzept für eine moderne Beamtenbesoldung vorgestellt, das mehr auf Flexibilität und Leistungsanreize setzt. Auch im Zusammenhang mit der Zukunft des Bundesgrenzschutzes ist es notwendig, dass wir endlich darüber diskutieren und dass endlich die Anhörung dazu durchgeführt wird, die wir schon lange verlangen. ({5}) Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die Modernisierung der Beförderungsrichtlinien, die vom Bundesgrenzschutz-Verband zu Recht angemahnt wird. Dagegen haben wir wenig Bedarf an neuen Gesetzen. Es ist richtig: Wenn die Kontrollen an der Grenze zwischen Tschechien und Polen wegfallen, wird eine Schleierfahndung im 30-Kilometer-Grenzraum erforderlich werden. Das sehen auch wir so. Aber die Fortführung der verdachtsunabhängigen Kontrollen, die die CDU/ CSU in ihrem Antrag von letzter Woche befristet, in dem heute vorliegenden Antrag unbefristet fordert - da ist die Koordinierung nicht ganz geglückt -, ({6}) muss mit einer kritischen Diskussion darüber verbunden werden, dass die verdachtsunabhängigen Kontrollen Grenzkontrollen ersetzen sollen und es deshalb einen Bezug dazu geben muss. ({7}) Da scheint uns das momentan geltende Recht verbesserungsbedürftig. Dazu werden wir im Ausschuss Ausführungen machen. ({8}) Mein letzter Punkt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege Stadler, Ihre Redezeit ist schon überschritten.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - In Richtung CDU/CSU sage ich: Ihren pauschalen Vorschlägen, dass zum Beispiel die Kompetenzen des Bundesgrenzschutzes an Bahnhöfen und Flughäfen ausgeweitet werden sollten, werden wir sicher nicht zustimmen. Da müssen Sie schon sagen, wie, was und warum. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin nicht hier, um Ihnen Vergnügen zu bereiten. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Mittwoch hat das italienische Parlament mit einer Schweigeminute der 13 Flüchtlinge gedacht, die tot in einem Fischerboot vor der Insel Lampedusa aufgefunden wurden. Die Flüchtlinge, die auf dem Fischerboot verhungerten und verdursteten, stammten vermutlich aus Somalia. Sie waren auf dem Weg nach Europa. In der anschließenden Debatte im italienischen Parlament sprach Innenminister Pisanu zu Recht von einer Tragödie, die tonnenschwer auf dem Gewissen Europas laste. Ich wähle diesen Einstieg, um deutlich zu machen, dass wir auch im Deutschen Bundestag über die Dimension der europäischen Grenzpolitik und Grenzsicherung diskutieren müssen und den Begriff des Schengenraums nicht auf die nationale Sicherheit Deutschlands reduzieren dürfen, sondern den Schengenraum im europäischen Kontext als Garant von Freiheit, Sicherheit und Recht sehen müssen. Mir fehlt bei dem CDU/CSU-Antrag der Bezug auf die europäische Vereinbarung der vergangenen Jahre und der Gedanke, dass es unsere Aufgabe ist - was RotGrün durchaus so sieht -, die auf EU-Ebene getroffenen Vereinbarungen zum Grenzschutzmanagement in Europa auf den deutschen BGS, die deutsche Bundespolizei, zu übertragen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte heute keine Zwischenfragen beantworten. Die letzten Zwischenfragen von Herrn Grindel haben nicht zur Erhellung des Themas beigetragen. ({0}) Heute möchte ich meine Gedanken im Zusammenhang vortragen. Herr Grindel, wenn Sie sich die Zeit nehmen, zuzuhören, dann führt das vielleicht dazu, dass wir von der CDU/CSU in Zukunft Anträge vorgelegt bekommen, die nicht eine Klein-klein-Gesetzesveränderung für den BGS darstellen, sondern das aufnehmen, was auf europäischer Ebene beschlossen worden ist. Ich beziehe mich auf den Beschluss des Rates der Europäischen Union vom Juni 2002 hinsichtlich des Plans für den Grenzschutz an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich kann hier nur anreißen, welche Herausforderung dies für den deutschen BGS bedeutet. Natürlich ist der Reformprozess des BGS nicht abgeschlossen. Wir haben vielmehr noch einige Punkte, zum Beispiel gemeinsame Standards in der Ausbildung und den Aufbau der europäischen Grenzpolizei, umzusetzen sowie die deutsche Beteiligung an der Finanzierung eines europäischen Grenzmanagements zu klären. Zumindest in den anderen nationalen Parlamenten wird über diese Punkte im Rahmen der Grenzsicherung diskutiert. Auch bei uns sollte diese Diskussion geführt werden. Eine weitere Vereinbarung auf der letzten Justiz- und Innenministerkonferenz in Brüssel betraf die Einführung einer europäischen Grenzschutzagentur, die wir hier umsetzen müssen. Es würde sich lohnen, wenn wir uns im Innenausschuss einmal vom Innenministerium erläutern lassen würden - deswegen unterstütze ich Ihren Vorschlag einer Anhörung -, wie der Plan vom Juni 2002, der rund 40 Seiten umfasst, sehr viele interessante Maßnahmen enthält und von einem integrierten Konzept ausgeht, umgesetzt werden soll. Damit könnten wir dem BGS mehr Sicherheit und mehr Perspektive vermitteln. Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung zu § 22 des BGS-Gesetzes machen: Wir tun uns wirklich keinen Gefallen, wenn wir dies weiter öffentlich im Plenum erörtern. Die CDU/CSU hat letzte Woche einen Gefälligkeitsantrag eingebracht - ich habe schon darauf hingewiesen -, in dem sie gesagt hat: Wir wollen eine Befristung. In Ihrem heutigen Antrag schreiben Sie zum selben Paragraphen, dass sie ihn ohne weitere Diskussion entfristen wollen. ({1}) Wir gehen an dieses Thema sachlich heran und sagen: Wir führen eine Evaluierung durch. Dafür brauchen wir nur wenig Zeit. Nach der Evaluierung sollte zeitnah eine Befristung erfolgen. Das ist sachgerecht. Es kann doch bei der Regelung solcher Befugnisnormen nicht darum gehen, wer dem Vorschlag des Innenministers parteipolitisch am nächsten kommt. Sie machen sich mit diesem Vorgehen lächerlich. Lassen Sie uns darüber sachlich im Innenausschuss diskutieren! Dann werden wir zu der Regelung kommen, dass zunächst eine erneute Evaluierung, dann eine kurze Befristung und schließlich eine Entscheidung erfolgen sollte. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Ralf Göbel, CDU/ CSU-Fraktion.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im nächsten Jahr wird die Europäische Union um zehn weitere Länder erweitert. Es wird aber noch etliche Jahre dauern, bis die Beitrittsländer im Osten die Voraussetzungen, die im Schengen-Abkommen festgelegt sind, erfüllen werden. Auch wenn dies der Fall sein wird, wird die Sicherung der Binnengrenzen noch immer eine wichtige und bedeutende Aufgabe sein. ({0}) Dass dies so sein wird, sehen wir schon heute. Denn die Migrationsströme nach Deutschland kommen nicht nur aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen. Sie kommen zunehmend aus dem Schengen-internen Flugverkehr im Rahmen der Billigflüge. Deshalb ist es wichtig, unsere Sicherheitsbehörden in die Lage zu versetzen, auch in Zukunft im europäischen Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts ihrer Aufgabe nachzukommen. Das ist Ziel des vorliegenden Antrags. Wir sollten die rechtlichen Regeln und Befugnisse überprüfen und die technischen, organisatorischen und personellen Vorbereitungen treffen. Auf den offenen Dissens zwischen Minister Schily und den Regierungsfraktionen, was die Befristung betrifft, will ich nicht weiter eingehen. Ich will nur sagen: Ich finde es nicht lächerlich, wenn die CDU/CSU-Fraktion und der Bundesinnenminister der gleichen Auffassung sind. Ich denke, auch das darf einmal vorkommen. ({1}) Zum Digitalfunk - Herr Baumann hat es schon angesprochen; ich will es hier nicht vertiefen - muss eines, Herr Körper, auch gesagt werden: Das Schengen-Abkommen betrifft auch den Digitalfunk. ({2}) Es ist doch ein etwas seltsamer Zustand, wenn wir zwar darauf achten, ob die neuen Beitrittsländer die SchengenVoraussetzungen erfüllen, wir selber aber bei einer zentralen Voraussetzung, bei der technischen Verfügbarkeit des Kommunikationssystems, die Letzten in Europa sind. ({3}) Der Wegfall der Außengrenzen wird mit einer erheblichen Reduzierung der Zahl der Zollbeamten an der Grenze verbunden sein. Damit wird natürlich auch ein Teil des bisherigen Sicherheitsgefüges an der Grenze wegbrechen. Die Bundesregierung hat im März dieses Jahres in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage versprochen, dass ein Konzept vorgelegt werden wird, aus dem ersichtlich wird, wie die Kompensation stattfinden soll. Es ist nun höchste Zeit, diese Konzeptphase endlich zu Ende zu bringen und uns ein Konzept vorzulegen, wie künftig die Sicherheit an der Grenze nach Wegfall des Zolls gewährleistet sein wird. Auf europäischer Ebene wird über die Schaffung einer operativen Gemeinschaftsstruktur verhandelt; Frau Stokar hat es erwähnt. Auch ich wäre sehr dankbar, wenn die Bundesregierung von sich aus hier eine Konzeption vorlegte und es im Deutschen Bundestag zu einer Debatte über dieses Thema käme. Es geht dabei um eine neue Organisation der Sicherheitsstruktur an den Grenzen, aber auch um die Einführung weiterer technischer Systeme. In diesem Zusammenhang greife ich die heutige Tagespresse auf und gehe auf die Einführung biometrischer Identifikatoren in Visa und Aufenthaltstitel ein. Wir haben auch hierüber im Bundestag mehrfach gestritten. Bei der Einbringung des Haushalts wurde uns erklärt, dass hier noch Untersuchungsbedarf dahin gehend bestehe, welche Methode zu wählen sei; deshalb seien nur Mittel für Modellprojekte in den Haushalt eingestellt worden. Unterdessen schlägt die EU-Kommission in einem Verordnungsentwurf vom 24. September 2003 mit ausführlicher Begründung und unter Bezug auf mehrere Studien vor, die Gesichtsfelderkennung europaweit als zweites Merkmal nach dem Fingerabdruck vorzusehen. Ich frage mich, ob die Bundesregierung überhaupt davon wusste und, wenn ja, warum wir immer noch Gelder bereitstellen, um die Iriserkennung zu erforschen. Wir haben beim Digitalfunk schon genug europäischen Flickenteppich erlebt; dies brauchen wir bei der Biometrie nicht zu wiederholen. ({4}) Auf Bundesebene müssen die Kompetenzen gebündelt und die Zusammenarbeit unter den Bundesbehörden verbessert werden. Hierzu gibt es etliche ernst zu nehmende Vorschläge, die einer vertieften Diskussion würdig sind. Auf eine entsprechende Frage der CDU/CSUFraktion antwortete die Bundesregierung - Bundestagsdrucksache 15/722 - Folgendes: Die Zusammenarbeit zwischen dem BGS und dem BKA besteht auf enger partnerschaftlicher Grundlage innerhalb der gesetzlich zugewiesenen Zuständigkeiten. Das, meine Damen und Herren, ist ein Satz, der einem nur dann einfallen kann, wenn wirkliche Zukunftsperspektiven fehlen. Erfolgreiche Polizeiarbeit bedeutet aber nicht nur gute technische Ausstattung und ausreichende rechtliche Kompetenzen. Der Erfolg hängt auch von der Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. In diesem Zusammenhang lobe ich ausdrücklich die Arbeit der Beamtinnen und Beamten des Bundesgrenzschutzes und der anderen Sicherheitsbehörden an der Grenze. Ich weise aber auch darauf hin, dass es vielfältige Verstimmungen unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, die nach Aussage der Personalvertretungen darauf zurückzuführen sind, dass Entscheidungsprozesse nicht transparent sind und die interne Kommunikation verbesserungsbedürftig ist. Auch aus eigenen Gesprächen mit Angehörigen des BGS ist mir bekannt, dass viele nicht wissen, wie ihre persönliche Zukunft vor allem hinsichtlich ihrer weiteren dienstlichen Verwendung in den künftigen Strukturen des Bundesgrenzschutzes aussehen wird. Transparenz fördert Akzeptanz. Diesem alten Grundsatz der Personalführung muss in diesem Zusammenhang mehr Geltung verschafft werden. Die Sorgen der Beschäftigten müssen ernster genommen werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion. ({0})

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teile die Freude meines Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper über den guten Ausbildungs- und Ausrüstungsstand des Bundesgrenzschutzes. Ich teile ebenso die Freude meines Kollegen Günter Baumann über die künftige Osterweiterung. Damit enden unsere Gemeinsamkeiten, Kollege Baumann; ({0}) denn die CDU/CSU versucht mit ihren Anträgen und Wortbeiträgen, ein weiteres Mal den Eindruck zu erwecken, als ob es schlecht um die innere Sicherheit der Bundesrepublik und damit auch um die Sicherheit der Menschen in der Bundesrepublik stehe. Die Fakten sind andere. Es gibt keine Sicherheitslecks. Die innere Sicherheit ist bei dieser Regierung und dieser Koalition in guten Händen. ({1}) Ihre Redebeiträge und Ihr Antrag dienen ausschließlich dem Ziel, Unsicherheit zu verbreiten. Sie jagen den Menschen Angst ein und veranlassen sie, ein Stück persönlicher Freiheit aufzugeben. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Die Menschen geben mit der Einschränkung der persönlichen Freiheit ein Stück Lebensqualität auf. ({2}) Sie scheuen sich nicht einmal, diese Angstgefühle in Richtung Osterweiterung zu lenken. Das ist einer Partei, die sich einmal ihrer Europafreundlichkeit gerühmt hat, ziemlich unwürdig. ({3}) Da Sie wiederholt die Aussage des Innenministers zur Entfristung angesprochen haben, will ich auf diesen Punkt eingehen. Das Bundesgrenzschutzgesetz ist geändert worden. Der Bundesgrenzschutz hat die Möglichkeit, auf Verkehrsflughäfen, Bahnanlagen und im grenznahen Raum verdachtsunabhängig zu kontrollieren. Sie haben zwei Anträge gestellt und ich möchte jetzt auf die Diskrepanz hinweisen. In der letzten Woche haben Sie einen Antrag gestellt - wir haben auch darüber diskutiert -, in dem Sie die Änderungen des Bundesgrenzschutzgesetzes auf fünf Jahre befristen wollten. ({4}) In dieser Woche diskutieren wir über einen inhaltlich ähnlichen Antrag. Nun wollen Sie die Veränderungen des Bundesgrenzschutzgesetzes entfristen. Sie müssten sich zumindest in der eigenen Fraktion einmal darüber klar werden, was Sie wirklich bei der inneren Sicherheit wollen. ({5}) Es gibt überhaupt keinen Streit darüber, dass die Veränderungen des Bundesgrenzschutzgesetzes richtig waren. Die Erfolge liegen auf der Hand. Sie fordern weiterhin mobile und flexible Einsatzeinheiten im Grenzraum. Lesen Sie doch bitte nach, was Sozialdemokraten und Gewerkschaft der Polizei bei der Bundesgrenzschutzreform II, die von Ihrem Innenminister zusammen mit Ihnen auf den Weg gebracht worden ist, gefordert haben. Sie haben die Installierung flexibler und mobiler Grenzschutzeinheiten gefordert. Dieser Forderung sind Sie nicht gefolgt. Bei der Bundesgrenzschutzreform II haben Sie eine andere Variante gewählt und heute beklagen Sie die Folgen Ihrer eigenen Fehlentscheidung. ({6}) Die heutigen Gesetze reichen aus. Der Bundesgrenzschutz kann an den wichtigen Schnittstellen verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen. Ich bin sicher, dass er das mit großem Einsatz und Erfolg tun wird. Wir haben eine engagierte und motivierte Bundespolizei und der Bundesgrenzschutz hat mein volles Vertrauen. Ich bin sicher, dass er mit Rückendeckung der Politik - er sollte sich auch auf Ihre Rückendeckung verlassen können - gute Arbeit leistet und den Aufgaben gerecht wird. ({7}) Im Übrigen will ich darauf verweisen, dass mit der EU-Osterweiterung im nächsten Jahr keinesfalls eine Veränderung der Grenzkontrollen einhergeht. Ganz im Gegenteil: Ein Wegfall der Grenzkontrollen zu den Beitrittsstaaten ist frühestens im Jahr 2006 zu erwarten, nämlich erst dann, wenn sie den Schengen-Standard erfüllen. Das Theater, das Sie hier veranstalten, ist völlig überflüssig. ({8}) Zur Vermeidung von Sicherheitsdefiziten und Sicherheitslecks kann der Bundesgrenzschutz gemäß § 22 des Bundesgrenzschutzgesetzes Personen anhalten und sie gemäß § 23 kontrollieren. Lagebildabhängig kann er auch Kontrollen in Zügen und auf Flughäfen vornehmen. Das ist gut und richtig. Diese Instrumente sind effektiv und reichen aus. Ich will Ihnen das erklären, damit Sie es richtig verstehen. ({9}) Wenn Sie einen Fisch in einem Fluss fangen wollen, dann tun Sie das normalerweise an den Engstellen des Flusses, spätestens aber an der Flussmündung. Sie warten nicht, bis der Fisch das offene Meer erreicht hat, und fangen dann erst an, ihn zu suchen. Genau diese Instrumente hat der Bundesgrenzschutz ({10}) zur Kontrolle oder - wenn Sie es so ausdrücken möchten - zum Angeln von Straftätern ({11}) an die Hand bekommen. Sie werden wirken und sie sind gut. Zum Ausbildungsstand möchte ich Ihnen eines sagen. In der Regierungszeit der rot-grünen Bundesregierung hat es ein großes Stellenhebungsprogramm mit einer Vielzahl von Beförderungen gegeben. ({12}) - Herr Grindel, stellen Sie eine Zwischenfrage, dann werde ich Ihnen diese beantworten, damit Sie daraus lernen. Aber hören Sie auf, dazwischenzuschreien. ({13}) Wie gesagt, es hat eine Vielzahl von Stellenhebungen mit riesigen Beförderungsmöglichkeiten gegeben. Das hat zu einem engagierten und zufriedenen Bundesgrenzschutz geführt. Sie sollten sich einmal mit den Leuten unterhalten. ({14}) Das Attraktivitätsprogramm des Bundesinnenministers trägt zusätzlich dazu bei. Ausbildung und Ausrüstung sind stark verbessert worden. Schauen Sie sich einmal die GSG 9 an. Dort gibt es gute Hubschrauber, moderne Wasserfahrzeuge und anderes hochwertiges Einsatzgerät. ({15}) Der BGS See hat hervorragende Schiffe. Die Grenzeinsatzkräfte haben hervorragende Fahrzeuge und Wärmebildgeräte. Im Übrigen möchte ich noch ein Wort zum BOSFunk sagen, weil das Thema wiederholt angesprochen worden ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, das eine Wort muss aber kurz und knapp sein, bitte.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werde nur ein kurzes Wort sagen, Frau Präsidentin. ({0}) Es ist so, dass die Bundesregierung sich bemüht, auch den Bundesgrenzschutz mit dem BOS-Funk auszustatten. Allerdings bejammern Sie die Blockade Ihrer eigenen Bundesländer. Sprechen wir mit den Bundesländern, damit es hier keine Probleme mehr gibt. ({1}) Wir sind auf einem guten Weg. Leisten Sie einen Beitrag dazu. Das können Sie am besten, indem Sie Ihren überflüssigen Antrag mit einem Ausdruck des Bedauerns zurückziehen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1328 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Neue EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie - Drucksache 15/1564 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen zehn Jahren haben sowohl die internationalen als auch die europäischen Finanzmärkte eine rasante Entwicklung durchgemacht. In Europa ist das Geschehen nicht zuletzt durch das Bemühen geprägt worden, den rechtlichen Rahmen für einen echten europäischen Finanzmarkt zu schaffen. Maßgeblich für die angestrebte Finanzmarktintegration sind und waren dabei - neben unseren nationalen Aktivitäten - die Aktivitäten der Europäischen Kommission. Mit dem Financial Services Action Plan, FSAP, hat die Kommission 1999 eine offene Agenda für ihre weiteren Aktivitäten im Bereich der Finanzmarktintegration vorgestellt. Jenseits des heute diskutierten Antrages will ich festhalten, dass wir als Deutscher Bundestag noch immer nicht optimal auf die Europäisierung der Finanzmarktgesetzgebung reagiert haben. Angesichts der Tatsache, dass heute zwei Drittel der deutschen Kapitalmarktgesetzgebung auf europäischem Recht beruhen, ist klar, dass wir als nationaler Gesetzgeber nur dann eine Chance haben, nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung unserer Finanzmärkte zu nehmen, wenn wir die Prozesse auf europäischer Ebene frühzeitig begleiten. ({0}) Trotz großer Fortschritte in diesem Bereich - ich darf sagen: insbesondere auf unserer Seite des Hauses - bleibt hier noch viel Verbesserungspotenzial, wenn wir den Finanzplatz Deutschland in Europa optimal positionieren wollen. Die geplante EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie als Bestandteil des Financial Services Action Plan stellt insgesamt ein sehr gutes Beispiel für das eben Gesagte dar. Dies beginnt leider damit, dass unser heute formal eingebrachter Antrag aufgrund der neuesten europäischen Entwicklungen - inzwischen gibt es im Rat einen Kompromiss, der sich weit gehend an den Vorschlägen des Europäischen Parlamentes orientiert - nicht mehr in allen Punkten auf dem aktuellsten Stand ist. Dadurch ändert sich aber nichts an unserer inhaltlichen Positionierung. Wir werden durch Änderungsanträge, die wir den beratenden Ausschüssen in Kürze vorlegen werden, lediglich einige Aktualisierungen vornehmen. Diese Tatsache zeigt deutlich, wie sich der Sachverhalt durch die Vorschläge der Europäischen Union innerhalb von wenigen Monaten ändern kann, was wir wiederum berücksichtigen müssen. Der Bundestag muss angesichts der Entwicklung auf der europäischen Ebene noch schneller agieren als bisher. ({1}) Beispielhaft für die eingangs beschriebene Entwicklung ist die geplante Wertpapierdienstleistungsrichtlinie selbst. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Motivation für diese Richtlinie. Die Vorgängerrichtlinie von 1993 ist angesichts des besagten Wandels nicht mehr zeitgemäß. Neue Produkte und Dienstleistungen, neue Handelsformen und weitere Veränderungen haben in der Zwischenzeit eine Neufassung der Richtlinie unumgänglich gemacht. Die Ziele der neuen EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, mit der die Kommission eine weitere Stärkung der europäischen Finanzmarktintegration erreichen will, lassen sich dabei in drei Gruppen aufteilen. Als erstes Ziel ist die Erweiterung des Anwendungsbereiches der Richtlinie zu nennen. Als zweites Ziel ist die Stärkung des Anlegerschutzes durch eine Garantie der bestmöglichen Orderausführung vorgesehen. Drittens hat die Richtlinie zum Ziel, die Markteffizienz durch eine Harmonisierung der Anforderungen an unterschiedliche Handelssysteme zu sichern. Vor welchem Hintergrund ist das dritte Ziel, Sicherung der Markteffizienz, zu sehen? In den letzten Jahren konnten wir eine zunehmende Fragmentierung der Wertpapiermärkte beobachten. Diese ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Banken und Wertpapierdienstleistungsunternehmen verstärkt Wertpapieraufträge von Kunden nicht an Börsen weiterleiten, sondern auf institutsinternen bilateralen Systemen gegen eigenen Handelsbestand bzw. gegen andere Kundenaufträge ausführen. Diese so genannte Internalisierung ist für Anbieter und Kunden zunächst attraktiv. Die Bank kann mit einer erhöhten Kundenbindung, höheren Erträgen aus der Ausnutzung des Spreads sowie der Einsparung von Börsengebühren rechnen. Der Kunde kann seinerseits mit einer Preisstellung rechnen, die mindestens so gut ist wie der Referenzpreis an der Börse. Gleichzeitig kann er sich über niedrigere Transaktionskosten freuen. Für die Effizienz des Gesamtmarktes kann eine übermäßige Ausweitung der so genannten Internalisierung jedoch dann negative Folgen haben, wenn den Börsen dadurch zu viel Liquidität entzogen wird. Dieses Absinken der Markteffizienz würde sich dann in Form einer Qualitätsverschlechterung der Referenzpreise, die an der Börse erzielt werden, widerspiegeln. Eine solche Verschlechterung würde wiederum auch die Anbieter, vor allem aber die Kunden von Internalisierungssystemen treffen. Die Anleger im Internalisierungssystem wären am Ende trotz der geschilderten Vorteile dieses Verfahrens insgesamt schlechter gestellt als bei üblicher Börsenabwicklung. Da nicht nur Anleger, sondern auch emittierende Unternehmen in Form höherer Kapitalkosten von einem übermäßigen Liquiditätsentzug der Börsen betroffen wären, gilt es, Vorkehrungen zu treffen und zu einem angemessenen Interessenausgleich zwischen Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Kunden zu kommen. ({2}) Der dritte Punkt, den ich gerade angesprochen habe, ist in der Diskussion um die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie mit der wichtigste Punkt. Wir wollen diesen wichtigen Interessen Rechnung tragen. Das Europäische Parlament hat sich gemeinsam mit dem Rat auf den Weg begeben, diese Frage zu klären. Auch wir sollten, wie wir es in solchen Fragen häufig tun, interfraktionell einen Weg suchen. Deshalb bitte ich Sie, unseren Antrag zu unterstützen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Florian Pronold, SPD-Fraktion.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der Union ist ein gutes Beispiel dafür, dass in unserem Haus nicht immer vernetztes Denken Einzug hält. Heute haben wir den Waldzustandsbericht behandelt. Mit diesem Antrag haben Sie, liebe Kollegen von der Union, unsinnigerweise einen Baum geopfert. ({0}) Sie haben schon selber eingestanden, dass Ihr Antrag ein wenig hinterherhinkt. Denn bereits am 7. Oktober hat der Ecofin-Rat alle wesentlichen Dinge, die Sie in Ihrem Entschließungsantrag fordern, beschlossen. Eigentlich müssten wir diesen Antrag mit dem Vermerk „Erledigung durch Zeitablauf“ zu den Akten legen. ({1}) Es ist doch schön, zu sehen, dass die Bundesregierung die Neugestaltung der EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, über die wir heute reden, ernster als die Union nimmt, weil sie nämlich rechtzeitig handelt und die Weichen richtig stellt. ({2}) Zur Zufriedenheit der Börsen- und Bankenwelt in Deutschland hat sie am 7. Oktober übrigens etwas erreicht, das breite Zustimmung findet und das, wie Sie sicherlich wissen, nicht besonders leicht war, weil es im Ecofin-Rat - das war ein seltener Moment - nur eine qualifizierte Mehrheit dafür gegeben hat. Bei der Abstimmung haben sich also nicht alle Länder einheitlich verhalten. Umso besser war es, dass die Bundesregierung dort eine vermittelnde Position einnehmen konnte und einen Kompromiss zustande gebracht hat, der jetzt nicht nur von allen Seiten begrüßt wird, sondern der auch dazu führt, dass Börsen und Banken auf dem EUMarkt zukünftig gleichberechtigt behandelt werden. Ich will jetzt gerne noch zu den einzelnen Punkten Ihrer Forderung Stellung nehmen. Zu den Punkten 1 bis 5 kann ich sagen: Im Großen und Ganzen wurden diese - übrigens in Unkenntnis der Bundesregierung über Ihren Entschließungsantrag - durch den Beschluss des Ecofin-Rates bereits erfüllt. ({3}) Das wird vom ganzen Haus und natürlich auch von unserer Seite geteilt. Punkt 6 überrascht mich ein wenig, weil die Regulierung der öffentlich-rechtlichen Börsenstruktur schon Gegenstand der Beratungen in diesem Hause war. Dies hat mit der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie überhaupt nichts zu tun. ({4}) - Nein, das hat gar nichts damit zu tun. Über das Thema „Stärkung des Finanzplatzes Deutschland“ hat der Bundestag bereits einvernehmlich diskutiert. Ich weiß wirklich nicht, was das hier verloren hat. Über die Anforderungen, die in den Punkten 8 bis 10 stehen, können wir im Finanzausschuss vielleicht noch reden. ({5}) Unter Punkt 9, schreiben Sie, die Bundesregierung möge sich dafür einsetzen, dass über den vorliegenden Richtlinienvorschlag hinaus gemeinsam mit den Verbänden der freien Finanzdienstleister Wohlverhaltensrichtlinien sowie Aus- und Fortbildungsordnungen erarbeitet werden, die weitgehend ohne staatliche Aufsicht ein Maximum an kostengünstigem Schutz bei privaten Anlageentscheidungen sicherstellen … ({6}) Dieses Antragsdeutsch ist wirklich schön. Das brauchen wir hier; denn das führt zu einer breiten Verständlichkeit in der Öffentlichkeit. Dies wirft hier eine entscheidende Frage auf, die Sie offensichtlich sehr einseitig beantworten. Wir sehen es anders. Wenn man die freien Finanzdienstleister nämlich etwas näher unter die Lupe nimmt, dann sieht man, dass es dort nicht nur weiße Schafe, sondern auch viele graue und schwarze Schafe gibt und dass es dort sehr wohl einer sehr genauen Regelung bedarf. Die Richtlinie lässt uns die Möglichkeit offen, diese auf nationaler Ebene auch zu treffen. ({7}) Zusammenfassend kann man sagen: Die Forderungen, die Sie hier eingebracht haben - ich weiß ja nicht, ob Sie den Antrag selbst geschrieben haben -, ({8}) sind von der Bundesregierung zum großen Teil bereits erfüllt worden. Wir können die Bundesregierung jetzt nicht mehr mit einem Antrag auffordern, etwas zu tun, weil sie schon gehandelt hat. Wir könnten allenfalls das Europäische Parlament, welches das in zweiter Lesung beraten wird, auffordern. Ich glaube allerdings, dass das unüblich wäre. ({9}) Wir werden den Antrag an den Finanzausschuss überweisen. Dort werden wir uns vielleicht auch den Anlegerschutz und die grauen und schwarzen Schafe auf dem Finanzdienstleistungsmarkt genauer anschauen. Ich denke, das wäre sinnvoll. ({10}) Alle anderen Dinge sind bereits zur Zufriedenheit erfüllt worden. Ich glaube, Sie sollten Ihren Antrag umformulieren. Die Sätze, in denen Sie die Bundesregierung auffordern, Folgendes durchzusetzen, zu streichen und zu ersetzen, sollten Sie ändern in: Wir danken der Bundesregierung, dass sie das alles schon umgesetzt hat. Vielen Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Professor Dr. Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt meiner Ansicht nach einen sehr wichtigen Impuls dafür, dass wir uns im Plenum und im Ausschuss mit dieser wichtigen Richtlinie über Wertpapierdienstleistungen auseinandersetzen. ({0}) Herr Kollege Pronold, Ihre Arroganz ziert Sie nicht unbedingt; denn Sie hätten Ihre Regierung ermuntern können, mit diesen Informationen in die Beratungen des Finanzausschusses zu gehen. Dann wären Sie tatsächlich proaktiv tätig geworden. Sie sind uns in Ihrem zeitlich sehr umfangreichen Beitrag allerdings eine Aussage dazu schuldig geblieben, was denn im Einzelnen bei den Punkten erreicht worden ist, die seitens der CDU/CSUFraktion vorgetragen worden sind. Es bestünde ja auch Gelegenheit, an dieser Stelle einmal auf die Punkte einzugehen, die Gegenstand dieses Antrages sind. Zielsetzung der Dienstleistungsrichtlinie ist es, den Anlegerschutz zu verbessern und eine EU-weite Tätigkeit der Wertpapierhäuser sicherzustellen. Es soll also durch eine Harmonisierung ein Beitrag für mehr Wettbewerb und für mehr Effizienz auf diesem wichtigen Wachstumssektor in Europa geleistet werden. Diese Ziele unterstützen wir nachdrücklich. ({1}) Man muss sich natürlich auch fragen, nach welchen Prinzipien wir zu mehr Wettbewerb und für mehr Effi5974 zienz auf den Märkten beitragen können. Voraussetzung dafür sind Transparenz, Offenheit der Märkte und Rechtssicherheit. Letztere soll hier geschaffen werden. In dem Antrag klingt an, dass neue Handelssysteme, die sich im Intrabankenmarkt abspielen, zugelassen werden sollen. Ich bin gespannt darauf, was uns die Bundesregierung im Finanzausschuss dazu sagen wird. Ich frage mich, ob wir das tatsächlich tun werden oder ob wir - ich sage das aus meiner Sicht - durch überhöhte Anforderungen an die Transparenz, wie sie in dem Antrag zum Teil vorgeschlagen werden, einen Markt, der sich zumindest für private Anleger bislang noch gar nicht so stark herausgebildet hat, möglicherweise bereits in seinem Entstehen unterminieren. Ich möchte diese Frage jedenfalls einmal in den Raum stellen. Deswegen habe ich einige Vorbehalte, was die Transparenz im Vorhandel anbetrifft. Es ist nicht etwa so, dass sie aus Sicht des Anlegers nicht wünschenswert wäre, soweit es sich um eine Marktinformation handelt. Marktinformationen, die von Anbietern kostenlos zur Verfügung gestellt werden, mindern immer die Transaktionskosten und steigern damit die Effizienz. Das begrüßen wir natürlich außerordentlich. Wenn allerdings mit dieser Vorhandelstransparenz auch eine Art Kontrahierungszwang für die preissetzenden Banken verbunden sein sollte, so könnte sie, gerade was die privaten Anleger, aber auch was den Handel mit großen Paketen anbetrifft, dazu führen, dass der europäische Markt für Finanzdienstleistungen im internationalen Wettbewerb seine Standortvorteile verliert. Letzteres wollen wir auf keinen Fall. Deswegen werden wir hier im Hinblick auf die Internalisierung sehr kritisch im Finanzausschuss nachfragen, Herr Pronold, was Ihre Regierung auf diesem Gebiet in Brüssel so erfolgreich erarbeitet hat. ({2}) Wir haben unterschiedliche Signale dazu vernommen, ob das tatsächlich gelungen ist. Wir werden jedenfalls in den Beratungen Wert darauf legen, dass neue Handelssysteme im Wettbewerb auch mit den Börsenmärkten zugelassen werden, damit die Transaktionskosten für alle Anleger gesenkt werden. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dautzenberg, Sie haben mit Ihrem Antrag den Eindruck zu erwecken versucht, die Bundesregierung bräuchte in dieser Frage ein wenig Nachhilfe von der Opposition, ({0}) so als wären Dinge, die dringend gemacht werden müssen, nicht gemacht worden. Diesen Eindruck hat schon der Kollege Pronold zu Recht zurückgewiesen. Ich weise ihn nochmals zurück. Ich denke, gerade wenn es um den Finanzplatz Deutschland und um den Finanzmarkt insgesamt geht, hat sich diese rot-grüne Bundesregierung nichts vorzuwerfen. ({1}) Diese rot-grüne Bundesregierung hat den Finanzmarkt in den letzten Jahren enorm nach vorne gebracht. Ob es das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, ob es die Schaffung der BaFin war, ob es - um ein aktuelles Beispiel zu nennen, das wir gestern im Ausschuss beraten haben - das Investmentmodernisierungsgesetz war, mit dessen Hilfe wir jetzt sogar Finanzmarktinstrumente wie Hedgefonds in Deutschland zulassen, um den Produktions- und Vertriebsstandort Deutschland zu stärken - all diese Dinge sind von dieser Bundesregierung auf den Weg gebracht worden. Dies wurde im Wesentlichen - das muss man ebenfalls sagen; Herr Dautzenberg, Sie haben es schon angedeutet - zusammen mit der Opposition zustande gebracht. In diesen Punkten wurden immer sinnvolle Absprachen getroffen und es wurde immer vernünftig miteinander umgegangen. Ich denke, das sollte so bleiben. ({2}) Das Thema Finanzmarkt gebietet es, dass man im Parlament relativ einig agiert. ({3}) Man darf aber auch nicht vergessen, wie wichtig gerade der Finanzmarkt für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist. Man muss sich einmal die nüchternen Zahlen vergegenwärtigen, die den meisten nicht bekannt sein dürften: In der Automobilbranche in Deutschland arbeiten 1 Million Menschen. In der Finanzbranche sind 1,5 Millionen Menschen tätig. 4,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden von der Finanzbranche erarbeitet, nur 3 Prozent von der Automobilbranche. Unabhängig von der Tatsache, dass wir den Finanzmarkt dringend brauchen, um unsere Unternehmen, insbesondere die Mittelständler, durch die Finanzmärkte ordentlich zu kapitalisieren, egal ob durch Versicherungen, Banken oder Finanzdienstleister, werden eine ganze Menge Arbeitsplätze geschaffen. ({4}) Aber der Antrag, den Sie heute gestellt haben, geht ins Leere; das wissen Sie auch. So gut wie alles von dem, was Sie in diesem Antrag formuliert haben, hat die Bundesregierung auf EU-Ebene bereits ausgehandelt. ({5}) All diese Punkte sind bereits im Ecofin-Rat eingebracht worden. Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist ein weißer Schimmel. Sie rennen mit Ihrem Antrag offene Türen ein. Sie wissen: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Nichts ist so alt wie der Antrag vom letzten Monat. ({6}) Übertroffen werden kann das nur noch von der Tranfunzeligkeit der FDP, die in den meisten Fragen völlig abgetaucht ist. Herr Dr. Pinkwart, Sie könnten - das haben Sie eben vergessen - dem Running Gag des Deutschen Bundestages, Herrn Westerwelle, einen Aufbaulehrgang in Sachen Finanzmarkt sponsern. Wenn er beim nächsten Mal in einem Container sitzt, kann er etwas Neues erzählen. Das wäre vielleicht ganz hilfreich. ({7}) Doch nun zur Sache. ({8}) Wie es der Kollege Pronold schon angedeutet hat, halten wir es für sinnvoll, diesen Antrag nicht strittig zu behandeln, sondern ihn im Finanzausschuss ernsthaft zu beraten. ({9}) Vielleicht können wir mit einem unterstützenden Antrag das, was die Bundesregierung auf diesem Feld an Erfolgen erzielt hat, deutlich machen. Ich muss es noch einmal erwähnen: Diese gesamte Debatte wird auf europäischer Ebene sehr strittig geführt. Es gibt die Südschiene und die angelsächsische Schiene. Von dieser Seite wurde mit aller Kraft versucht, das zu verhindern, was ansonsten auf EU-Ebene mittlerweile Konsens ist. Angesichts dessen kann es sinnvoll sein, dass das Parlament erklärt: Die Bundesregierung hat in diesem Bereich richtige und gute Arbeit geleistet; wir unterstützen sie in diesem oder jenem Punkt. - Insofern macht es Sinn, darüber im Ausschuss zu reden. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Pronold, wenn Ihnen zu diesem Thema nichts Besseres als der Vergleich mit dem Waldschadensbericht einfällt, werden Sie beiden Themen aus zwei Gründen nicht gerecht: Erstens. Der Waldzustandsbericht ist nicht so überzeugend, dass man damit gute Witze machen kann. Zweitens - das müssten Sie gerade als Vertreter der jungen Generation eigentlich anerkennen -: Mit der Fragestellung, wie wir Wertpapierdienstleistungen und damit Investment- und Anlagekultur in Deutschland behandeln, debattieren wir einen wesentlichen Punkt, der für die junge Generation hinsichtlich der Sicherung ihrer Altersbezüge von wesentlicher Bedeutung ist. ({0}) Dabei kommt dem Zusammenspiel zwischen Börsen einerseits und Banken andererseits große Bedeutung zu. Ich will deutlich machen - der Kollege Dautzenberg ist dabei schon in Vorlage gegangen -, dass es uns als dem Deutschen Bundestag darum geht, wie wir mit den Entwicklungen auf der europäischen Ebene umgehen, wie wir uns in einem der wesentlichen Bereiche für die deutsche Volkswirtschaft - Herr Kollege Ulrich, Sie haben die Zahlen genannt - positionieren und ob wir zulassen, dass Entwicklungen, die den deutschen Finanzmarkt in wesentlichen Teilen betreffen, ohne das Votum des deutschen Parlaments geschehen. ({1}) Auch Ihr Vorwurf, wir wären zu spät dran, geht ins Leere, denn Sie wissen genau, dass wir momentan in der Situation sind, dass einerseits das Europäische Parlament, also der dafür zuständige Wirtschafts- und Währungsausschuss, einen Richtlinienvorschlag erarbeitet hat und andererseits der Ecofin, also die Vertretung der Regierungen auf europäischer Ebene, einen gegensätzlichen Antrag erarbeitet hat. ({2}) Die Stellungnahme des Europäischen Parlaments unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Stellungnahme der Regierungen. Unsere Aufgabe ist es, uns damit auseinander zu setzen, welchen Weg wir eher gehen wollen, und der Bundesregierung an der einen Stelle den Rücken zu stärken, ihr aber vielleicht auch an anderer Stelle durch Beschlüsse Aufgaben mit auf den Weg zu geben und zu prüfen, ob sie sie durchsetzen kann oder nicht. ({3}) Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Wenn Sie die Zeit gehabt hätten, was offensichtlich nicht der Fall war, hätten Sie sich mit der Beschlusslage auseinander setzen können. So fordert zum Beispiel das Europäische Parlament, dass systematische Internalisierer, also diejenigen Banken, die eigene Systeme aufbauen, um Börsenhandel und börsenähnlichen Handel zu treiben, für Transaktionen in standardmäßigen Marktgrößen einen verbindlichen Geld- und Briefkurs offen legen. Die Vorstellung des Ecofin geht aber nur dahin, dass dieselben Eigenhändler nur Kursofferten, also nur Quotes, zu veröffentlichen haben. Man muss genau lesen und sich mit der Sache auseinander setzen. Dann kommt man zu dem Ergebnis, dass das Europäische Parlament verbindliche Handelspreise fordert, der Ecofin aber nur unverbindliche Angebote fordern will. ({4}) Das ist ein wesentlicher Unterschied. Damit müssen wir uns auseinander setzen und müssen möglicherweise der Bundesregierung zum Schutz der Anleger und der Investoren mit auf den Weg geben: Wenn schon Transparenz, dann verbindliche Handelspreise. ({5}) Sie haben den Antrag und die weitere Debatte falsch verstanden, wenn Sie glauben, wir wollten in diesem Teilbereich einfach nur auf die Regierung schimpfen. Nein, wir wollen so wie in vielen anderen Bereichen, die den Finanzplatz angehen, zusammenarbeiten. Ich nenne das Vierte Finanzmarktfördergesetz, das wir im Übrigen gemeinsam hier im Hause in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben und das nicht strittig war, ({6}) ich nenne das Investmentmodernisierungsgesetz, das uns momentan im Finanzausschuss beschäftigt und das wir ebenfalls, soweit es sich momentan abzeichnet, gemeinsam nach vorne bringen und verabschieden werden, und ich nenne Basel II, das uns gemeinsam beschäftigt und woran wir gemeinsam arbeiten wollen. ({7}) Nur weil Sie nicht vorbereitet sind, zu sagen, wir wären zu spät dran, ist zu kurz gesprungen und wird dem Thema nicht gerecht. ({8}) Wir müssen uns schon damit auseinander setzen, was wir in diesem Bereich noch Gutes tun können, und müssen uns fragen, ob wir an der einen oder anderen Stelle nacharbeiten müssen. Ich will Ihnen ein weiteres konkretes Beispiel nennen, das uns beschäftigt. Die aktuelle Beschlusslage des Ecofin-Rates geht auf eine Initiative Hollands zurück, die zum Ziel hat, dass den Internalisierern die Möglichkeit gegeben wird, quasi einen Mengenrabatt auf Handelsgeschäfte zu geben. Das führt dazu, dass jemand, der einen Preis annimmt, gegenüber seinem Händler einen Mengenrabatt vereinbaren kann, bevor er abschließt. Es klingt im normalen Wirtschaftsleben ganz interessant, wenn man für einen großen Kauf einen Mengenrabatt haben will. Gerade in Bezug auf Börsenpreise und Börsenpreisfeststellungen ist aber die Tatsache, dass nach dem Abschluss noch ein Mengenrabatt gegeben wird, eine Preisverfehlung, die der anderen Öffentlichkeit nicht mitgeteilt wird und deshalb den Preis verzerrt. Das, lieber Herr Kollege Pronold, können wir meines Erachtens nicht durchgehen lassen. Es ist unsere Aufgabe als deutsches Parlament, einzuschreiten und die Bundesregierung mit einer anderen Position auszurüsten, um den Börsenplatz Deutschland zu stärken. ({9}) Ich möchte Ihnen zum Schluss noch ein Wort des „Börsenpapstes“ André Kostolany mit auf den Weg geben. Er hat gesagt, dass in den 20er-Jahren in New York an jeder Straßenecke aus Kaffeehäusern Banken gemacht wurden. Normale Finanzmarktarbeit sei erst dann wieder zu machen, wenn aus den Banken, die vorher Kaffeehäuser gewesen seien, wieder Kaffeehäuser würden. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns auf die Debatte mit Ihnen und wollen erneut zum Ausdruck bringen, dass wir durchaus in der Lage sind, unseren Antrag den Entwicklungen auf europäischer Ebene anzugleichen und gemeinsam auf eine gute Wertpapierdienstleistungsrichtlinie in Europa hinzuarbeiten. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1564 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ({0}) - Drucksache 15/1498 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Professor Dr. Peter Frankenberg. Dr. Peter Frankenberg, Minister ({2}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesrat hat am 11. Juli 2003 den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes beschlossen und dem Bundestag zugeleitet. Dabei handelt es sich um eine Initiative aller 16 Bundesländer. ({3}) Das Ziel ist die Verstärkung der Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen - primär die Universitäten - in Studiengängen mit bundesweitem Bewerberüberhang, bei denen bisher die Zuweisung der Studierenden an die Hochschulen über die ZVS erfolgte. Warum sind wir - also alle 16 Bundesländer - für eine verstärkte Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen? In der Lehre - gerade in der universitären Lehre - muss die Verantwortlichkeit der Hochschulen für die Studierenden gestärkt werden. Notwendig ist auch eine bessere Betreuung bzw. eine bessere Betreuungsmentalität. Dies beginnt für die Hochschulen mit der Auswahl ihrer Studierenden. ({4}) Gerade in unseren Universitäten sind die Abbrecherquoten viel zu hoch. Diese Quoten zeigen, dass es zu viele Studierende gibt, die entweder für die entsprechenden Studiengänge nicht motiviert oder nicht dafür geeignet sind. Es zeigt sich, dass das Abitur als alleiniges Prognoseinstrument für ein erfolgreiches Studium nicht ausreicht. ({5}) Die Unterschiedlichkeit der schulischen Qualifikationen und die immer stärkere Ausdifferenzierung der Minister Dr. Peter Frankenberg ({6}) Studiengänge machen es notwendig, die Passgenauigkeit zwischen der Befähigung der Studierenden und dem Angebot der Hochschulen zu verbessern. Das Abitur bleibt in unserem Gesetzentwurf ein wesentliches Kriterium. Es geht aber nicht nur um die Studierfähigkeit, sondern auch um die Berufsfähigkeit. Durch den Numerus clausus ist eine Mentalität der permanenten Notenverbesserung an unseren Schulen entstanden. Aber man muss sich doch fragen, ob ein Abiturient, der das Abitur mit 1,0 bestanden hat, schon damit für das Medizinstudium geeignet ist. Es mag zwar sein, dass er das Studium gut bewältigt, aber wird er dann auch ein guter Arzt? Das kann eben nicht allein über das Abitur festgestellt werden. ({7}) Für die Studierenden bedeutet die verstärkte Selbstauswahl der Hochschulen, dass sie sich in ihrem Studienwunsch und in ihrer Qualifikation noch einmal selber überprüfen können. Wir, die Länder, legen zwei Modelle vor. Wir haben sie aufeinander abgestimmt; sie sind zeitlich getaktet. Den Studierenden wird kein Nachteil daraus entstehen, dass es zwei Modelle gibt. Das eine Modell ist mit dem Namen Baden-Württemberg verbunden: Vorab vergeben die Hochschulen 50 Prozent der Studienplätze an Studierende, die sie selbst auswählen. Weitere 25 Prozent der Studienplätze werden an die Abiturbesten vergeben. Die übrigen 25 Prozent werden nach den bisherigen ZVS-Kriterien vergeben. Das so genannte Nordrhein-Westfalen-Modell beginnt mit 25 Prozent der Studienplätze, die an die Abiturbesten vergeben werden. Dann folgt die 25-prozentige Selbstauswahl durch die Hochschulen. Die übrigen 50 Prozent werden durch die ZVS vergeben. Warum sollen in Deutschland nicht unterschiedliche Verfahren, die aufeinander abgestimmt sind, zugelassen werden? Nach fünf Jahren könnte evaluiert werden, welches Instrument wie gewirkt hat. Die Kultusministerkonferenz hat sich in diesem Punkt als funktionsfähig erwiesen. Wir haben uns in einem einstimmigen Beschluss auf diese beiden Modelle geeinigt. Die Umsetzung dieses Vorhabens wäre ein großer Schritt vorwärts für die Autonomie der Hochschulen und die Verbesserung der Lehrsituation an unseren Hochschulen. ({8}) - Sie sagen es, Herr Rachel. Ich wollte gerade zu den Kritikpunkten der Bundesregierung kommen. Es scheint fast, dass wir uns abgestimmt haben. ({9}) - Richtig, das ist reiner Zufall. Die Bundesregierung behauptet unter anderem, die Quote sei zu gering. Aber eine 50-prozentige Auswahlquote ist im Vergleich zu der bisher nicht existierenden vorrangigen Auswahlquote ein großer Schritt nach vorne. Die Bundesregierung macht sich übrigens viele Argumente von Baden-Württemberg zu Eigen. Wir haben bei den Verhandlungen über den Kompromiss auf der Kultusministerkonferenz nicht alles erreicht. Aber wir halten den nun vorliegenden Kompromiss für sehr vernünftig. Ein anderer war zwischen den Ländern nicht erreichbar. Es wird des Weiteren darauf hingewiesen, die Abgewiesenen könnten über das zweite Verfahren dennoch aufgenommen werden. Das ist rechtlich kaum anders machbar. Wenn man aber zu 50 Prozent die Bestgeeigneten ausgewählt hat, dann kann man vielleicht auch tolerieren, dass der eine oder die andere, der bzw. die vorher abgewiesen worden ist, doch noch studiert. Außerdem wird gefragt, warum nicht auch diejenigen Studiengänge in ein solches Gesetz einbezogen würden, bei denen es keinen bundesweiten Bewerberüberhang gibt. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir es hier mit einem Rahmengesetz zu tun haben. Warum soll ein solches Gesetz etwas regeln, was gar kein bundesweites Problem ist? Für landesweiten Bewerberüberhang gibt es in den jeweiligen Ländern längst entsprechende Regelungen. So gibt es auch in Baden-Württemberg eine entsprechende Selbstauswahlgesetzgebung. Es wird auch gefragt, warum die Detailkriterien nicht geregelt seien. Das ist eine typische Fragestellung für ein zum Teil zur Überregulierung neigendes System. ({10}) Wir wollen den Hochschulen doch gar keine Detailregelungen vorgeben. Es gibt zwar einen Grundsatzbeschluss, dessen Eckpunkte in die jeweiligen Landesgesetzgebungen gefasst werden müssen. Aber die Hochschulen werden nach eigenen Detailkriterien auswählen müssen. Eine juristische Fakultät der Universität A kann andere Primärkriterien festsetzen als die der Universität B. Wir wollen damit den Wettbewerb der Hochschulen stärken. Wir wollen keine Gesetzgebung, die alles so gleichmacht, dass sich gleich nicht Professoren, sondern Computer mit der Auswahl beschäftigen könnten. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass man erst den Beschluss des Wissenschaftsrates abwarten müsse. Der Wissenschaftsrat ist genauso wie die HRK für eine verstärkte Selbstauswahl der Studierenden. Manche fragen dann noch, wer das machen solle. Ich glaube, die vorlesungsfreie Zeit in unseren Universitäten ist lang genug, dass sich Professorinnen und Professoren zwei Wochen lang mit der Auswahl der Studierenden beschäftigen können. ({11}) Das lohnt sich, weil man dann die besten Studierenden hat. Machen Sie den Weg für die Initiative der 16 Bundesländer frei! Das, was wir hier gemacht haben, ist ein Ausweis positiven Föderalismus. Gehen Sie mit uns den Weg der Verbesserung der Lehrsituation an den Hochschulen! Der jetzt vorgeschlagene erste Reformschritt ist groß genug. Wir, das heißt Baden-Württemberg, wären sicherlich weiter gegangen. Aber wir sind Minister Dr. Peter Frankenberg ({12}) froh, dass die übrigen Länder wenigstens die Hälfte unseres Weges gegangen sind. Treten Sie mit uns, den 16 Ländern, für eine entscheidende Verbesserung unseres Hochschulsystems ein! Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie.

Christoph Matschie (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001434

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Initiative des Bundesrates zur Ausweitung der Auswahlrechte der Hochschulen begrüßen wir in ihrer Zielstellung. ({0}) Ich glaube, dass das sinnvoll ist. Die Hochschulen fordern dies übrigens schon seit Jahren. Der Bundesgesetzgeber hat schon in der vierten Novelle zum HRG von 1998 erstmalig Auswahlrechte eingeräumt. Allerdings müssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen, Herr Kollege Frankenberg, warum die Hochschulen bisher nur in Ausnahmefällen von ihren Rechten Gebrauch machen. Ich werde auf diese paradoxe Situation gleich noch zurückkommen. Welchem Zweck soll das Auswahlrecht der Hochschulen beim Zugang dienen? Wir sind der Meinung, dass es uns um die Steigerung der Leistungsfähigkeit des deutschen Hochschulsystems und insbesondere um den Wettbewerb der Hochschulen gehen muss, der dabei unverzichtbar ist. Dazu gehört die Profilbildung in der Forschung, aber auch in der Lehre. Im Bereich der Lehre sind die bundesweit geltenden Rahmenprüfungsordnungen aufgegeben worden. Es gibt nun eine Akkreditierung der Studiengänge, die Profilbildung ermöglicht und die sehr viel differenzierter die Situation der jeweiligen Hochschule sowie die Zielstellungen widerspiegeln kann. Damit - das sehen wir ganz genauso kommt natürlich auch der Auswahl des Hochschulstandorts eine größere Bedeutung als bisher zu. Wettbewerb im Bereich der Lehre bedeutet aber nicht nur Profilbildung bei den Angeboten, sondern auch Wettbewerb der Hochschulen um möglichst leistungsstarke Studienbewerber. Auch dieser Wettbewerb muss möglich sein. Die KMK hat sich im März auf Eckpunkte verständigt. Aus diesen Eckpunkten ist ein Gesetzentwurf geworden, der jetzt vorgelegt worden ist. Ich bedaure ausdrücklich, dass der Bund bei der Erarbeitung der Eckpunkte und des Gesetzentwurfs nicht einbezogen worden ist. ({1}) Es wäre gut gewesen, wenn wir in dieser Frage von vornherein zusammengearbeitet hätten. ({2}) Auch wenn wir uns im Ziel der Neugestaltung des Hochschulzugangs einig sind, hat sich die Bundesregierung gegen den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung ausgesprochen. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Wir sind der Überzeugung, dass die Verfahren, die Sie gewählt haben, nicht wirklich praktikabel sind. Dafür möchte ich einige Gründe nennen: Erstens. Sie haben die Abbrecherquoten angeführt. Wenn man das Problem der Abbrecherquoten angehen will, dann muss man, glaube ich, die gesamte Studieneingangsphase in den Blick nehmen. Dazu gehört die Zulassung. Dazu gehört aber mehr. Dazu gehört die Ausgestaltung der Eingangsphase, beispielsweise mit verbesserten Studienbedingungen und verbesserter Studienberatung. ({3}) Wenn wir über eine verbesserte Eingangsphase und über die Auswahl reden, dann sollten wir nicht nur über die zulassungsbeschränkten Studiengänge reden. Vielmehr - davon bin ich überzeugt - müssen wir über alle Studiengänge reden, wenn wir über den Hochschulzugang und die Auswahl von Studienanfängern reden. ({4}) Der Wissenschaftsrat - das ist schon erwähnt worden - erarbeitet zurzeit Empfehlungen für eine umfassende Neuordnung des Hochschulzugangs. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum Sie nicht bereit sind - Sie haben es auch heute nicht erklären können -, diese Empfehlungen des Wissenschaftsrats, die Anfang kommenden Jahres vorliegen werden, abzuwarten. Warum können wir nicht gemeinsam auf der Basis der Empfehlungen des Wissenschaftsrats an diese Aufgabe herangehen und eine vernünftige Eingangsphase für das Studium gestalten? ({5}) - Herr Rachel, weil Sie so dazwischenrufen, sage ich Ihnen: Die Länder sind an dieser Arbeit des Wissenschaftsrats beteiligt. Trotzdem legen sie einen eigenen Entwurf vor, bevor der Wissenschaftsrat seine Arbeit beendet hat. ({6}) Ich finde das zumindest nicht logisch. Zweitens. Die Hochschulen haben sich bei dem bisherigen Verfahren darüber beklagt, dass Bewerber, die von ihnen im Auswahlverfahren abgelehnt wurden, im weiParl. Staatssekretär Christoph Matschie teren Zulassungsverfahren plötzlich doch in der Hochschule ankommen. ({7}) Das Modell, das Sie uns präsentiert haben, hilft an dieser Stelle überhaupt nicht weiter; im Gegenteil: Es wird dazu führen, dass die eine Hälfte ausgewählt und die andere Hälfte wieder nach dem üblichen Zulassungsverfahren zugeordnet wird. Damit sind die, die abgelehnt worden sind, in aller Regel trotzdem in der Hochschule. Dann fragt sich jede Hochschule: Warum mache ich überhaupt ein Auswahlverfahren, wenn ich am Ende die Studenten, die ich abgelehnt habe, doch in der Hochschule habe? Drittens. Ein erleichtertes Auswahlrecht - die Hochschulen nehmen das Auswahlrecht bisher nicht wahr, weil es für sie zu kompliziert ist - setzt praktikable Auswahlverfahren voraus. Dazu sagt Ihr Gesetzentwurf überhaupt nichts. Auch das bedauere ich sehr. Damit wird an dem Problem, das die Hochschulen jetzt haben, nichts geändert. Im Übrigen ist ein Vorziehen des Bewerbungsschlusses zur Problemlösung allein nicht ausreichend. Die meisten Bewerber verfügen zu dem Zeitpunkt noch nicht über das Ergebnis der Abiturprüfung. Viertens. Der Verzicht auf Regelung der Kriterien für die Auswahl ist aus meiner Sicht auch verfassungsrechtlich problematisch; denn er führt zu 16 unterschiedlichen Auswahlregelungen in den 16 Ländern, die für die Bewerber eigentlich kaum noch überschaubar sind. Wir wollen aber einen überschaubaren und klar definierbaren Zugangsweg. Den können Sie mit Ihrem Modell nicht anbieten. Ich komme zum Schluss. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass wir möglichst schnell zu einer durchdachten Neugestaltung des Hochschulzugangs kommen. ({8}) Für mich sind dafür drei Bedingungen ausschlaggebend: Das Auswahlverfahren muss gerecht sein. Es muss für die Hochschulen praktikabel und es muss für die Bewerber leicht durchschaubar sein. Ich glaube, dass wir auf der Grundlage der Empfehlung des Wissenschaftsrates zu einem entsprechenden Modell kommen können. Ich fordere Sie noch einmal auf: Versuchen Sie, ein solches Modell mit uns gemeinsam zu entwickeln! Die Hochschulen werden es uns danken. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Hartmann, FDP-Fraktion.

Christoph Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003548, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir brauchen in Deutschland eine grundlegende Hochschulreform. Unser Bildungssystem ist auch im Hinblick auf das Studium von Bürokratisierung und staatlichen Eingriffen geprägt. Wir brauchen ein anderes Bildungssystem, das einen wirklichen Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen ermöglicht, das die Verantwortung auf die Schulen sowie auf die Hochschulen überträgt und das es nicht bei der Kultusbürokratie belässt. ({0}) Wir brauchen eine autonome Verantwortung und Profilbildung der Hochschulen. Wer dazu aber Ja sagt, der muss den Hochschulen die Möglichkeit geben, sich die Studenten selbst auszusuchen, und er muss auch den Studenten die Möglichkeit geben, sich ihre Hochschule selbst auszusuchen. Das kann die ZVS nicht leisten. Wer dazu Ja sagt, der muss den Gesetzentwurf des Bundesrates ebenfalls begrüßen. Wir sind uns durchaus bewusst, dass das nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Es reicht uns, der FDP, nicht, dass sich die Hochschulen - je nach Modell - 25 Prozent bzw. 50 Prozent der Studenten aussuchen dürfen. Wir hätten uns mehr gewünscht; aber es ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. ({1}) Herr Staatssekretär, das ist besser als gar kein Schritt; deswegen müssen Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({2}) Alle Gegenargumente, die Sie hier vorgebracht haben, überzeugen nicht; denn wenn wir uns über das Ziel einig sind, dann sollten wir heute beginnen und die Reformen nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder auf das nächste Jahr verschieben. Wenn die von Ihnen regierten Länder zugestimmt haben, müssen wir das, was Sie auch in diesem Haus gesagt haben, als reine Verzögerungstaktik entlarven. ({3}) Wir müssen die Nachfragemacht der Studentinnen und Studenten und die Verantwortung der Hochschulen stärken; denn wenn Studierende wirklich entscheiden können, an welcher Hochschule sie studieren, dann bekommen wir, was wir brauchen: einen Wettbewerb der Hochschulen um möglichst qualifizierte Studierende. Nur wenn das Hochschulrahmengesetz grundsätzlich reformiert wird, können sich die Hochschulen wirklich ohne bürokratische Regelungsdichte entfalten. Wir brauchen - auch zur Finanzierung der Hochschulen - Marktmechanismen. Wir sind für eine Verschiebung der Kompetenz, aber nicht hin zu den Bürokratien der Länder, sondern hin zu den Hochschulen. ({4}) Wer zu einer wettbewerbsfähigen Hochschullandschaft wirklich Ja sagt, der muss den Schritt zur Christoph Hartmann ({5}) autonomen Verantwortung der Hochschulen gehen. Dieser Gesetzentwurf ist ein - wenn auch nur kleiner Schritt in die richtige Richtung; deswegen ist er zu unterstützen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Lage an den Hochschulen ist wirklich schlecht: Es fehlt an Personal; es fehlt eine vernünftige Qualitätssicherung; in Deutschland herrscht ein echter Akademikermangel; auch die Studienabbrecherquote in Deutschland ist enorm hoch. ({0}) Wir müssen unsere Politik - übrigens im Bund wie im Land - daran messen lassen, ob es uns gelingt, diese zukunftsgefährdenden Probleme, die wir alle, wie ich denke, gleich einschätzen, gemeinsam zu lösen. Das ist auch die Messlatte, die wir an das Hochschulrahmengesetz anlegen müssen. Das gilt insbesondere für das Recht der Hochschulen, einen Teil ihrer Studierendenschaft selbst auszuwählen. Ein solches Recht hat viele Vorteile: Die Hochschulen können so die geeignetsten Bewerberinnen und Bewerber für ein Studienfach auswählen. Das sind nicht immer jene Schülerinnen und Schüler, die die beste Abiturnote haben. Für ein solches Auswahlrecht müssen aus unserer Sicht aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens. Das Auswahlrecht darf auf keinen Fall Menschen von einem Studium abschrecken oder abhalten. ({1}) Im Gegenteil: Wir wollen, dass mehr Menschen ein Fach studieren, das ihren jeweiligen Begabungen entspricht. ({2}) So können wir die Abbrecherquote senken und das Niveau der Hochschulen insgesamt heben. Zweitens. Das Auswahlverfahren verlangt einen enormen organisatorischen, zeitlichen und finanziellen Aufwand, vor allem aber erfordert es fachliche Sorgfalt. Das alles aber gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn durch das Auswahlrecht Aufgaben von der ZVS an die deutschen Hochschulen verlagert werden, müssen auch die finanziellen Mittel entsprechend umgelegt werden. Eine Regelung bezüglich der Kompensation dieser Kosten fehlt aber in dem Vorschlag des Bundesrates, den wir hier heute diskutieren. Im Gegenteil: Die zusätzlichen Kosten werden ausdrücklich den Unis und Fachhochschulen aufgedrückt. ({3}) Mit solchen unausgegorenen Konzepten führen Sie die ganze Idee des Auswahlrechts ad absurdum, gerade auch aufgrund der großen Personalkrise an den Hochschulen. ({4}) Sollten die Vorschläge des Bundesrates Wirklichkeit werden, besteht die Gefahr, dass die Universitäten und FHs bei der Auswahl ihrer Studenten auf Schmalspurlösungen setzen, um den Aufwand möglichst gering zu halten. Die Hochschulen würden somit gezwungen, nur auf formale Gesichtspunkte wie etwa die Abiturnote zu setzen; das wurde ja schon angesprochen. ({5}) Bei der Auswahl der Studierendenschaft sollte aber nur die tatsächliche Eignung der Bewerberinnen und Bewerber zählen. Die Eignung erwirbt man aber nicht nur im Schulunterricht. Gerade Aktivitäten jenseits der Schule führen häufig zu einem fundierten Berufswunsch. Wenn eine Abiturientin mit dem Notenschnitt 2,6 schon lange begeistert als Sanitäterin beim Roten Kreuz arbeitet, sollte sie eher Medizin studieren dürfen als ein Einser-Abiturient, der kein Blut sehen kann. ({6}) Wenn solche Kriterien nicht Inhalt eines Auswahlverfahrens werden, dann brauchen wir die ganze Reform meiner Meinung nach nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein neues Auswahlrecht für Hochschulen sehen wir Grüne als weiteren Schritt in Richtung Autonomie der Bildungsinstitution Hochschule. Deshalb muss das Auswahlrecht ein Recht bleiben. Wenn, wie in Baden-Württemberg, dieses Recht zur Pflicht gemacht wird, dann bekommen wir Bürokratie statt Autonomie. ({7}) Wir Grüne wollen, dass die Fachbereiche selbst festlegen, ob und nach welchen Kriterien die besten Studierenden für ihre jeweiligen Studiengänge ausgewählt werden sollen. Diese Kriterien müssen für Bewerberinnen und Bewerber offen einsehbar und überprüfbar sein. ({8}) Landeskinder dürfen durch die Kriterien weder bevorzugt noch benachteiligt werden und das AuswahlverfahGrietje Bettin ren muss für die Bewerberinnen und Bewerber kostenlos sein. Ein Auswahlrecht kann aber nicht die einzige Maßnahme bleiben. Wir brauchen ({9}) insbesondere schon in der Schule eine bessere Vorbereitung auf die Studien- bzw. Berufswahl. Unser Bildungssystem muss auch für Begabte ohne Abitur durchlässiger werden. ({10}) Warum soll der talentierte Krankenpfleger von seiner Oberärztin nicht zum Auswahlverfahren für ein Medizinstudium vorgeschlagen werden können? ({11}) Es geht uns dabei nicht darum, das Abitur abzuwerten. Es muss seinen Status als allgemeine Studienberechtigung beibehalten. Es muss uns darum gehen, die Begabungsreserven in Deutschland zu erschließen. Die Öffnung des Studiums für beruflich Qualifizierte ist hierbei ein erster sehr wichtiger Schritt; ({12}) ein effektives Auswahlverfahren der Hochschulen ein zweiter. Der Wissenschaftsrat wird hierzu Anfang nächsten Jahres ausführliche Vorschläge machen. ({13}) Erst danach sollten sich Bund und Länder zusammensetzen, um gemeinsam die beste Lösung zu finden. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die freie Auswahl der Studenten ist die dringlichste Hochschulreform in Deutschland. Das empfiehlt Gerhard Casper, emeritierter Präsident der Stanford University. Casper wörtlich: Universitäten sollen selbst entscheiden, wen sie für geeignet halten. Doch in Deutschland herrscht bei den NC-Fächern bislang staatlicher Dirigismus. Nur die privaten Hochschulen dürfen ihre Studierenden selbst aussuchen. Die öffentlichen Hochschulen hingegen haben einen viel zu engen Gestaltungsspielraum. Die bestehende Praxis wird weder den Interessen der Studienbewerber noch den Interessen der Universitäten gerecht. ({0}) Deshalb muss die Verteilung von Studienplätzen in den zulassungsbeschränkten Studiengängen durch die ZVS dringend reformiert werden. Die Unionsfraktion begrüßt daher die Initiative der Kultusministerkonferenz unter Führung von Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen, das Auswahlrecht sowohl der Hochschulen als auch das der bestqualifizierten Bewerberinnen und Bewerber zu stärken. Herr Matschie, SPDgeführte Bundesländer wie Rheinland-Pfalz, NordrheinWestfalen und sogar Mecklenburg-Vorpommern sind dafür. Und Sie von der Bundesregierung? - Sie sitzen wieder einmal im Bremserhäuschen und sind dagegen. ({1}) Sie lehnen diesen Vorschlag mit fadenscheinigen Argumenten ab. Für Sie gilt der Satz des ehemaligen Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Professor Roellecke: Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen: die Gefängnisse und die Universitäten. ({2}) Diesen Zustand wollen Sie mit Ihrer Blockadehaltung fortschreiben. ({3}) Die Bundesratsinitiative schlägt zwei sinnvolle Modelle vor. Nach dem ersten Modell können die Hochschulen vorab bis zu 50 Prozent der gesamten Studienplätze vergeben. Nach dem zweiten Modell vergibt zuerst die ZVS 25 Prozent der Studienplätze an die Abiturbesten. Danach vergeben die Hochschulen weitere 25 Prozent der Studienplätze. Ihnen geht das angeblich nicht weit genug. Trotzdem machen Sie keinen eigenen Vorschlag. Sie wollen in Wirklichkeit die Veränderungen auf die lange Bank schieben. Wir wollen aber jetzt weg vom staatlichen Dirigismus und hin zu einem individuell angelegten Auswahlverfahren. ({4}) Wir wissen dabei die Hochschulrektorenkonferenz an unserer Seite; denn sie fordert, „dass die Neuregelung nicht unnötig verzögert wird“. ({5}) Da sollte es in Ihren Ohren klingeln. Von Ihnen, Herr Tauss, kommen in diesen Tagen nur Tiefschläge für den Hochschulstandort Deutschland. Erst kürzen Sie die Mittel für den Hochschulbau um 135 Millionen Euro, sodass es im nächsten Jahr keinen Hochschulneubau in Deutschland geben wird. Seit Sonntag setzen Sie dem Ganzen noch die Krone auf, indem Sie die Studienzeiten nicht mehr als Beitragszeiten für die Rente mehr anerkennen wollen. Das ist ein Skandal und ein Tiefschlag für die Studierenden in Deutschland. ({6}) Sie bestrafen gerade diejenigen, die mit persönlichem Einsatz in ihre Qualifikation investieren. Heute haben Sie die Gelegenheit, Ihre Reformfähigkeit unter Beweis zu stellen. Nutzen Sie diese Chance! Die Initiative des Bundesrates ist ausgewogen. Sie berücksichtigt die Interessen der Studierenden wie die der Hochschulen. Auch die SPD-geführten Länder wollen das und geben Rückenwind. Warum wollen Sie da nicht mitmachen? Der jetzt erzielte Kompromiss ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Denn alle Erfahrungen zeigen, dass Studenten besser motiviert sind, wenn sie sich ihren Studienplatz selbst aussuchen können und nicht von der ZVS gegängelt werden. ({7}) Was ist besser für Universitäten und Fachhochschulen als motivierte Studierende? Motivierte Studenten heißt auch weniger Studienabbrecher. Die Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen ist eine zentrale Voraussetzung für ein wettbewerbliches und international konkurrenzfähiges Hochschulsystem. So machen wir die deutschen Hochschulen stark im Wettbewerb um die besten Köpfe und diesen müssen wir angehen. ({8}) Durch die Zuweisung an eine Hochschule durch die ZVS wird den Studenten heute eine Entscheidung über die Einschreibung praktisch genommen. Das ist planwirtschaftliche Zuteilung, die wir beenden wollen. Dafür wird die ZVS ihr Profil ändern müssen. In Zukunft sollte sie sich als Serviceeinrichtung der Universitäten gerade bei Mehrfachbewerbungen engagieren. Es muss damit Schluss sein, dass überbesetzte Ministerialverwaltungen die Hochschulen „mithilfe von Kaskaden von Verordnungen und Verwaltungsvorschriften wie nachgeordnete Behörden behandeln“. So Klaus Landfried bei seiner Verabschiedung als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Geben Sie den Hochschulen deshalb die Chance zur Profilbildung und zur Qualitätssteigerung durch Wettbewerb! Wenn Sie schon nicht selbst die Initiative ergriffen haben, dann geben Sie den Hochschulen wenigstens mit der Initiative des Bundesrates mehr Freiheit! Machen Sie endlich Ernst mit der Stärkung des deutschen Hochschulstandortes! Stimmen Sie der Bundesratsinitiative zu! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute Berg, SPD-Fraktion. ({0})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im wahren Leben habe ich häufiger einmal das letzte Wort, im Parlament heute zum ersten Mal; das ist auch ganz schön. Es ist schon erstaunlich, welche Schwierigkeiten bei Entscheidungen auftreten können, bei denen doch letztlich alle - das unterstelle ich jetzt einmal - dieselben Ziele haben: Bund, Länder und Hochschulen wollen den Hochschulstandort Deutschland voranbringen. Alle wollen, dass die Zulassung zum Hochschulstudium neu geregelt wird. ({0}) Alle sind sich einig, dass die Hochschulen mehr Autonomie brauchen, um institutionell gestärkt zu werden, eigene Profile zu entwickeln und im Wettbewerb bestehen zu können. Alle wollen - folgerichtig -, dass Hochschulen in der Lage sind, einen Teil ihrer Studenten selbst auszusuchen. Darüber hinaus wollen alle, dass es den bestqualifizierten Bewerbern und Bewerberinnen um einen Studienplatz ermöglicht wird, den gewünschten Studiengang und die gewünschte Hochschule auszuwählen. Über die angestrebten Ziele besteht also keine Uneinigkeit - über den Weg dorthin schon. Der Bundesrat hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Vergaberegeln für bundesweit mit einem Numerus clausus belegte Studiengänge - nur auf solche bezieht er sich - neu geregelt werden sollen. Der Minimalkonsens, den die Länder gefunden haben, lautet: Zwei Modelle stehen zur Auswahl - das so genannte NRW-Modell und das Baden-Württemberger Modell und jedes Land soll nun selbst entscheiden können, welches Modell es einführen will. Das ist wahrlich keine überzeugende Lösung. In einer Zeit, in der unsere Bemühungen auf einen einheitlichen europäischen Hochschulraum abzielen - Stichwort Bologna-Prozess -, schaffen wir es noch nicht einmal innerhalb Deutschlands, in dieser Frage zu einer einheitlichen Lösung zu kommen. ({1}) Abgesehen davon ist es das erklärte Ziel des Bundesrates, dass über den Gesetzentwurf auch noch ganz schnell und endgültig entschieden wird, damit der Start des neuen Zulassungssystems mit dem Wintersemester 2004/2005 erfolgen kann. Ist dieses Ziel aber realistisch zu erreichen? Wie sieht es mit der konkreten Umsetzbarkeit aus? Das BadenWürttemberger Modell - es wurde gerade schon vorgeUte Berg stellt - sieht vor, dass die Hochschulen in Fächern, die bundesweit mit einem NC belegt sind, 50 Prozent ihrer Studenten selbst aussuchen können. Zurzeit liegt dieser Anteil bei 24 Prozent. ({2}) Die Hochschulen nehmen ihr Recht bisher nicht einmal in diesem Umfang in Anspruch, weil sie vielfach noch keine objektiven, transparenten und gerichtsfesten Kriterien entwickelt haben und/oder den Aufwand, den die Auswahl von Studenten bereitet, insgesamt scheuen. Von bundesweit 225 Fakultäten, die NC-Fächer wie Medizin, Psychologie oder Betriebswirtschaft anbieten, machen bis jetzt nur 31 von ihrem Recht Gebrauch, Studierende auszusuchen. Davon wählen die meisten einfach nach dem Notendurchschnitt aus, weil sie - wie eben schon erwähnt - sonst überfordert wären. Angesichts dieser Situation sehe ich also keine Veranlassung, jetzt einen politischen Schnellschuss abzugeben, der womöglich an der Zielscheibe vorbeifliegt und dabei auch noch Schaden anrichtet. ({3}) - Herr Rachel, Sie reden gerne - das weiß ich -, aber Sie reden zu laut. Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie möchten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zum Bundesrat strebt die Bundesregierung transparente bundesweite Regelungen an, die den Hochschulzugang für sämtliche Bewerberinnen und Bewerber und in allen Studiengängen regeln. ({4}) - Nein, es gibt noch keinen Vorschlag, weil wir nämlich auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates warten. Das ist auch sehr sinnvoll. ({5}) Der Wissenschaftsrat wird sich voraussichtlich im Januar 2004 umfassend zur Frage des Hochschulzugangs äußern. Er arbeitet zurzeit - wie Sie wissen - entsprechende Empfehlungen aus, damit angehende Studenten den für sie geeigneten Studiengang wählen und - das ist wohl das Hauptziel - erfolgreich absolvieren können. Die Vorbereitung auf die Berufswahl schon durch die Schulen, die Verbesserung der Studierfähigkeit - auch der Herr Minister hat eben darauf hingewiesen -, die Zulassung zum „richtigen“ Studiengang und eine verbesserte Studieneingangsphase können eben nicht isoliert betrachtet werden, sondern gehören in einen Gesamtzusammenhang. Dieser Tatsache trägt der Wissenschaftsrat bei seinen Empfehlungen für eine Neuregelung des Hochschulzugangs Rechnung. Jetzt frage ich Sie: Warum um alles in der Welt sollen wir jetzt, unmittelbar vorher, im Hauruckverfahren ein Gesetz durchpeitschen, das alles andere als überzeugend ist? ({6}) Warum sollen wir uns über die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, eines wirklich hochkarätigen und allseits anerkannten Expertengremiums, einfach ignorant hinwegsetzen? Meine Fraktion jedenfalls plädiert dafür, dieses Gutachten abzuwarten und zu prüfen. Dann allerdings sollten sich der Bund und die Länder in einem zügigen Verfahren zu gemeinsamen Lösungen durchringen. ({7}) Es darf keine Hängepartie geben; da bin ich mit Ihnen, Herr Rachel, einer Meinung. Denn das würde die Hochschulen und die Studierenden zu Recht frustrieren. ({8}) - Herr Hartmann, sehr richtig: Deshalb warten wir auf eine fundierte Grundlage. ({9}) Meine Aufforderung an die Bundesregierung und an die Länder nach der Vorlage der Empfehlungen des Wissenschaftsrates, also mit dieser fundierten Grundlage, lautet: Es gibt viel zu tun. Packt es unverzüglich an! ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1498 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. Oktober 2003, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.