Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Eckhart Lewering feiert heute seinen
60. Geburtstag. Ich gratuliere im Namen des Hauses sehr
herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Äußerungen des Bundesumweltministeriums, die Vernichtung
von Arbeitsplätzen durch das Dosenzwangspfand sei politisch gewollt ({1})
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Seib,
Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im Hochschulbereich - der Bologna-Prozess als Chance für den Wissenschaftsstandort Deutschland
- Drucksache 15/1787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H. Carstensen
({3}), Dr. Peter Paziorek, Bernhard SchulteDrüggelte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Multitalent nachwachsender Rohstoff effizient fördern
- Drucksache 15/1788 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Heinen, Julia
Klöckner, Uda Carmen Freia Heller, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Verbraucher aufklären und schützen - Innovation und
Vielfalt in der Produktentwicklung und Werbung für
Lebensmittel erhalten
- Drucksache 15/1789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des
Rechtsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sorgerecht für nichteheliche Kinder vor In-Kraft-Treten
der Kindschaftsrechtsreform regeln
- Drucksachen 15/757, 15/1807 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Irmingard Schewe-Gerigk
Sibylle Laurischk
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,
Dirk Niebel, Daniel Bahr ({7}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Reform der Arbeitsstättenverordnung muss zu einem echten Bürokratieabbau für Unternehmen in Deutschland
führen
- Drucksache 15/1699 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Des Weiteren ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b - Mautvertrag und Güterkraftverkehrsgewerbe -, 18 - Normenflut begrenzen - und
20 b - Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - abzusetzen. Der Tagesordnungspunkt 15 - Änderung des Hochschulrahmengesetzes - soll bereits heute
als letzter Tagesordnungspunkt aufgerufen werden.
Sodann möchte ich Sie darüber informieren, dass die
erste Beratung der Rentengesetze morgen gegen 11 Uhr
aufgerufen wird.
Redetext
Präsident Wolfgang Thierse
Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der in der 43. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur
Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen und Kreditinstituten
- Drucksache 15/1653 überwiesen:
Finanzausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss
Der in der 51. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur
Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung über die
Zustimmung zur Änderung der Satzung des
Europäischen Systems der Zentralbanken und
der Europäischen Zentralbank
- Drucksache 15/1654 überwiesen:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung - 14./15. Legislaturperiode
- Drucksache 15/1303 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen verbessern
- Drucksache 15/1329 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({12})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Rahmenbedingungen, Infrastruktur und Marketing für Wassertourismus in Deutschland
verbessern
- Drucksache 15/1595 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({13})
Sportausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Ernst Hinsken, Edeltraut Töpfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Schaffung einer familienfreundlichen, verkehrsentlastenden und wirtschaftsfördernden
Ferienregelung
- Drucksachen 15/934, 15/1286 Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Zum tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Wolfgang Clement das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe das Vergnügen, Ihnen den tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung zu erläutern
und damit auch zu den Anträgen, die zur Tourismuspolitik in Deutschland gestellt worden sind, Stellung zu nehmen.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass der Tourismus
einer der wichtigsten Motoren unserer Dienstleistungswirtschaft und damit ein handfester Wirtschaftsfaktor ist.
Ich denke, wir stimmen auch in der Zielsetzung überein,
den Tourismus in Deutschland und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Tourismuswirtschaft zu stärken. Gerade
in der jetzigen wirtschaftlichen Phase ist dies von außerordentlicher Bedeutung.
Die Reisetätigkeit - ob Urlaubsreisen oder Reisen zu
geschäftlichen Zwecken - steuert etwa 8 Prozent zum
Bruttoinlandsprodukt in Deutschland bei. Diese Zahl
führen sich wenige vor Augen. Vom Tourismus insgeBundesminister Wolfgang Clement
samt hängen direkt und indirekt etwa 2,8 Millionen Arbeitsplätze ab. Allein in der Hotellerie und in der Gastronomie in Deutschland werden etwa 1 Million Menschen
beschäftigt. Die Tourismuswirtschaft hat sich zu einem
außerordentlich wichtigen Ausbildungssektor entwickelt. Etwa 100 000 junge Leute werden in diesem Bereich ausgebildet.
Wenn man den Tourismus von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet, dann stellt man fest, dass Deutschland neben den USA interessanterweise die wichtigste
touristische Quellregion der Welt ist. Das hört sich etwas
vornehm an. Es bedeutet, dass viele Deutsche außerhalb
der Bundesrepublik Deutschland Urlaub machen. Als jemand, der aus dem Ruhrgebiet kommt und die Sehnsucht
des Reviermenschen nach Mallorca und nach anderen
Regionen kennt, weiß ich, was das bedeutet: Ziemlich
viel Kraft und Geld werden ins Ausland getragen.
Unser Land ist aber gleichzeitig ein bedeutendes Ziel
für den Tourismus, und zwar in zunehmenden Maße sowohl für uns Deutsche selbst - das werde ich noch zeigen - als auch für Gäste aus dem Ausland. Die Bundesbürger bewegen bei Reisen in Deutschland jährlich etwa
100 Milliarden Euro.
Wichtig ist, dass Deutschland als Messestandort
weltweit an Platz eins steht, was die nach Deutschland
kommenden ausländischen Gäste anbelangt. Hier nehmen wir eine absolut führende Position im weltweiten
Vergleich ein.
({0})
Die unternehmerischen Strukturen in der Tourismusbranche sind sehr vielgestaltig. Wir haben einerseits die
Big Players des Tourismus wie TUI - wahrscheinlich
weltweit das größte Tourismusunternehmen -, Thomas
Cook und REWE-Touristik. Wir haben mit der Lufthansa
und der Deutschen Bahn auch Unternehmen, die ganz
überwiegend im Tourismussektor tätig sind. Andererseits
haben wir auch sehr ausgeprägte kleine und mittelständische Strukturen in Form von Hotels und Gaststätten, Reiseveranstaltern und Reisebüros, Busunternehmen und
Reedereien. Sie alle sind für die Tourismuswirtschaft von
außerordentlicher Bedeutung.
Das heißt zugleich, dass die Tourismuswirtschaft wie
andere mittelständisch strukturierte Bereiche unserer
Wirtschaft von den mittelstandspolitischen Initiativen
der Bundesregierung profitiert, etwa von unseren Bemühungen zur Unterstützung von Existenzgründung oder
um Bürokratieabbau. Sie sind für den kleinstrukturierten
Reisebürosektor ebenso wichtig wie für Hotels und Restaurants. Nehmen Sie als ein ganz kleines Beispiel den
Abbau von statistischen Verpflichtungen der Unternehmen.
Über die allgemeine Wirtschaftspolitik hinaus unternehmen wir einige Anstrengungen, um den Deutschlandtourismus gezielt voranzubringen. Reisen in und
nach Deutschland kommen nämlich nicht nur der Tourismuswirtschaft unmittelbar zugute, sondern auch anderen
Branchen, etwa dem Einzelhandel, der Konsumgüterindustrie, dem Fahrzeugbau oder anderen. Letztlich birgt
das Kommen von Gästen aus dem Ausland immer auch
die Chance der Imagewerbung für den Standort Deutschland, das heißt für die Landschaft, die Produkte, die
Dienstleistungen, also insgesamt für unser Land.
Was tun wir nun konkret? Die tragende Säule der
Tourismuspolitik des Bundes ist die Deutsche Zentrale
für Tourismus mit Sitz in Frankfurt am Main. Diese
DZT wirbt im Auftrag der Bundesregierung im Ausland
für Deutschland als Reise- und Urlaubsziel. Die Bundesregierung hat die Arbeit der DZT, die aus dem Haushalt
des Wirtschafts- und Arbeitsministeriums finanziert
wird, bewusst ausgebaut. Wir haben in diesem Jahr die
Zuwendungen an die DZT erneut erhöht, auf jetzt
23,5 Millionen Euro.
({1})
Ich denke, dass der Erfolg uns Recht gibt: Die DZT
arbeitet vorzüglich und hat sich in den letzten Jahren
- das ist, wie ich erfahren habe, allgemein anerkannt mit professioneller Arbeit hohe Anerkennung bei uns in
der Politik ebenso wie in der Wirtschaft erworben. Auch
die Zahlen, die sie mit beeinflusst, sprechen eine deutliche Sprache: Die Anzahl der Übernachtungen ausländischer Gäste hat in den sieben Jahren von 1996 bis 2002
um 17,4 Prozent, bis zum Jahr 2000 - da kam der Rückschlag durch terroristische Anschläge und anderes - sogar um ein Viertel zugenommen. Deutschland ist als
Reiseziel im Aufwind.
Wir unterstützen über die Deutschlandwerbung hinaus
die mittelständische Tourismuswirtschaft, um sie noch
leistungsfähiger und besser zu machen. Wir tun das mit
recht bescheidenen Haushaltsmitteln. Ich meine, dass wir
damit recht fruchtbare Anstöße geben können. Ich nenne
als Beispiele den so genannten barrierefreien Tourismus.
Dabei geht es um Reisen von Menschen mit Behinderungen, denen wir besondere Aufmerksamkeit schenken.
Das wirkt sich sehr positiv auf die touristischen Möglichkeiten von behinderten Menschen aus. Wir haben ebenso
im Themenbereich naturnaher Tourismus Akzente gesetzt und damit den Deutschlandtourismus gestärkt. Immerhin verbrachten 58 Prozent der Deutschen im vergangenen Jahr ihren Urlaub in Deutschland. Dieser
Tourismus wurde natürlich besonders auch durch die
Temperaturen begünstigt.
Wir machen mit der Tourismuspolitik natürlich nicht
an unseren Grenzen Halt. Eine wichtige Aufgabe sehen
wir darin, neue Quellmärkte zu erschließen, also Gäste
aus dem Ausland für Reisen nach Deutschland zu gewinnen. Ein besonders hervorhebenswertes Ereignis ist gewiss der Abschluss eines Memorandum of Understanding mit der Volksrepublik China Mitte letzten Jahres.
Es ermöglicht jetzt zum ersten Mal chinesischen Bürgerinnen und Bürgern, private Gruppenreisen nach
Deutschland zu unternehmen. Wir sind ein ganz klein
wenig stolz darauf, als erstes Mitgliedsland der Europäischen Union einen solchen Status im Reiseverkehr mit
China erreicht zu haben.
({2})
Es ist völlig klar, dass China ein besonders interessanter
Quellmarkt, wie es so wunderschön heißt, ist und angesichts des in der nächsten Zeit wachsenden Potenzials
eine besondere Aufmerksamkeit verdient.
Wir bemühen uns in ähnlicher Weise um die immer
interessanter werdenden Märkte in Mittel- und Osteuropa; auch diese Märkte sind nicht zu unterschätzen.
Die Länder in dieser Region sind sowohl als Zielländer
für den Tourismus aus Deutschland als auch als Quellländer, deren Bürger in zunehmender Zahl unser Land
besuchen, interessant. Die Zahlen, was gerade den Tourismus aus den Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas
angeht, sind sehr ermutigend.
Aber ebenso wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass die
Lage nicht immer nur rosig ist. Terroranschläge, der
Irakkrieg und die Lungenkrankheit SARS hatten die
Tourismuswirtschaft schwer getroffen. Wir haben mit
unseren Mitteln und Möglichkeiten versucht, vor allen
Dingen die Sicherheit im Flugreiseverkehr zu erhöhen.
Nachdem wir einige dieser Herausforderungen gemeistert haben, scheint es so zu sein, dass die Reiseveranstalter und die Fluggesellschaften die Talsohle durchschritten haben.
Beim Gipfeltreffen der Tourismuswirtschaft vor wenigen Wochen in Berlin hat sich gezeigt - das haben diejenigen Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament,
die sich für die Tourismuswirtschaft besonders interessierenm miterlebt -, dass die Zuversicht in die weitere
Entwicklung zurückgekehrt ist.
Ich möchte auch noch gerne darauf hinweisen, dass
wir uns in Deutschland angewöhnen sollten, bestimmte
Ereignisse als imagefördernde Werbung für unser Land
und damit auch für tourismuspolitische Belange stärker
zu nutzen, als es bisher der Fall war. Ich denke beispielsweise an ein Ereignis wie die Fußballweltmeisterschaft
2006. Die Bedeutung dieses Ereignisses ist uns vielleicht
nicht ausreichend bewusst. In anderen Staaten wird der
Stellenwert eines solches Ereignisses mehr zur Kenntnis
genommen.
Wahrscheinlich ist die Fußballweltmeisterschaft 2006
- unsere Nationalmannschaft wird ja daran teilnehmen;
wir hoffen, dass sie bis dahin noch einige Fortschritte erzielt - das wichtigste Ereignis für die Bundesrepublik
Deutschland innerhalb dieses Jahrzehnts, was das Ansehen Deutschlands und das Interesse für Deutschland angeht. Es wird innerhalb dieses Jahrzehnts vermutlich
kein Ereignis geben, das weltweit eine solche Aufmerksamkeit auf Deutschland ziehen wird wie die Fußballweltmeisterschaft 2006. Angesichts eines solchen Ereignisses empfiehlt es sich, alle Register zu ziehen und zu
zeigen, was wir in Deutschland leisten können. Wir sollten also alles tun, um diese Fußballweltmeisterschaft,
deren Austragungsorte in allen Regionen Deutschlands
liegen, zu einer groß angelegten Werbeveranstaltung für
Deutschland zu machen.
({3})
- Herr Kollege Benneter, Ihr Hinweis ehrt Sie ganz
besonders; ich vermute, dass Sie deshalb diesen Zwischenruf gemacht haben. Ich gratuliere der Frauennationalmannschaft. Ich sprach aber von der Fußballweltmeisterschaft der Männer, was man mir verzeihen
möge.
({4})
Die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland kann
ein großartiges touristisches Ereignis für unser Land
werden. Das Beherbergungsgewerbe rechnet mit zusätzlich 5 Millionen Übernachtungen. Ich denke, dass wir
dieses Ereignis nutzen sollten, um noch mehr für
Deutschland zu werben. Die Deutsche Zentrale für Tourismus bemüht sich schon darum.
Ich möchte noch drei Anmerkungen zu Anträgen der
Oppositionsfraktionen zum Tourismus machen. Zum einen fordern Sie eine Stärkung der Förderung von Geschäftsreisen in die Bundesrepublik. Die DZT, die schon
erwähnte Deutsche Zentrale für Tourismus, ist dabei, in
enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kongressbüro, dem alle renommierten deutschen Tagungs- und
Kongressstandorte Deutschlands angehören, das Thema
„Tagungen, Kongresse und Geschäftsreisen“ sehr intensiv zu bearbeiten. Die DZT hat die Werbung im Ausland
für 2003 ausdrücklich unter dieses Thema gestellt.
Zum Thema Wassertourismus. Es ist zweifellos
richtig, dass wir in Deutschland bisher nicht genügend
von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Im Vergleich
mit den Niederlanden, mit Großbritannien, den USA und
Kanada nutzen wir das Potenzial des Wassertourismus in
Deutschland bisher nicht ausreichend. In den Städten
und Ländern müssen in diesem Bereich noch erhebliche
Investitionen getätigt werden; das gilt auch für das Land,
für das ich bis vor einiger Zeit die politische Verantwortung getragen haben. Wir können in diesem Bereich erheblich mehr Tourismus, auch internationalen Tourismus, auf uns ziehen. Wir wollen uns jetzt vor allen
Dingen auf softe Themen wie die Charterscheinregelung
und die bundesweite Einführung der „Gelben Welle“
konzentrieren.
Mit der neuen Sommerferienregelung, die die Ministerpräsidentenkonferenz für das Jahr 2005 schon auf
den Weg gebracht hat, sind einige Kolleginnen und Kollegen noch ein wenig unzufrieden. Die Ferienspanne
liegt jetzt bei 85 Tagen; das ist nicht das Maximum - sie
könnte auf 90 Tage ausgedehnt werden -, allerdings
schon deutlich mehr als bei der Ferienregelung, die für
dieses Jahr galt und die nicht besonders günstig war, wie
zu Recht allgemein festgestellt wurde. Die Regelung, die
wir jetzt vorliegen haben, ist dagegen eine deutliche Verbesserung. Deshalb schlage ich Ihnen vor, mit dieser
Neuregelung erst einmal Erfahrungen zu sammeln, anstatt sie schon jetzt infrage zu stellen.
Zum tourismuspolitischen Bericht habe ich die Bitte,
dass wir möglichst gemeinsam daran weiterarbeiten, den
Tourismus in unserem Land zu stärken. Ich denke, es
lohnt sich für unser Land und für alle, die in der TourisBundesminister Wolfgang Clement
muswirtschaft besondere Interessen haben, wenn wir
auch bei diesem Thema an einem Strang ziehen.
Ich danke Ihnen sehr.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Hinsken,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen, verehrter Herr Präsident, der Sie gestern Ihren 60. Geburtstag feiern konnten, auf das Herzlichste - sicherlich im
Namen aller hier Versammelten - zu gratulieren.
({0})
Nun zur Sache. Die Haupturlaubszeit und die Reisezeit sind vorbei. Heute wird tourismuspolitisch Bilanz
gezogen. Verehrter Herr Minister Clement, Sie haben
versucht, vieles schönzumalen. So ist es aber nicht. Ich
werde Ihnen den Beweis dafür bringen. Ich bin dankbar
dafür, dass gerade heute die Möglichkeit besteht, diese
Debatte im Rahmen der Kernzeit durchzuführen; denn
dadurch wird die Bedeutung der Tourismuswirtschaft für
die Bundesrepublik Deutschland besonders unter Beweis
gestellt.
Machen wir alle uns nichts vor: Der Tourismus ist die
Leitökonomie der Zukunft. Es gab im vergangenen
Jahr weltweit 715 Millionen Reisende. Die WTO rechnet mit jährlichen Steigerungsraten von 12 Prozent.
Weltweit sind 225 Millionen Menschen im Tourismus
beschäftigt. Nach den Rückschlägen durch SARS und
andere Umstände - Sie, Herr Minister Clement, haben
das angesprochen - ist der Tourismus dabei, sich wieder
zu erholen.
Ich möchte es nicht versäumen, auch einige Zahlen zu
nennen, die speziell für uns in der Bundesrepublik
Deutschland von besonderer Bedeutung sind. 140,6 Milliarden Euro Umsatz im Tourismus entsprechen 8 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Zählt man den vorund nachgelagerten Bereich hinzu, kommt man auf circa
2,8 Millionen Beschäftigte. Das sind dreimal so viel Beschäftigte wie im Baugewerbe, viermal so viel Beschäftigte wie in der Automobilindustrie bzw. sechsmal so
viel Beschäftigte wie in der chemischen Industrie. Zudem - das ist mir besonders wichtig, gerade in der heutigen Zeit - stellt die Tourismuswirtschaft 107 000 Ausbildungsplätze.
({1})
Meine Damen und Herren, ein bisschen Werbung ist
in diesem Falle durchaus angebracht: Vom Kochlehrling
zum Hoteldirektor, solche Karrieren sind im Tourismus
kein Einzelfall.
({2})
Hier gibt es die Möglichkeit dazu. Wir müssen die jungen Leute nur motivieren.
Leider ist nicht zu leugnen, dass der Tourismus auch
bei uns in einer schweren Krise steckt. Wir haben Grund
zur Sorge: 52 Prozent der Deutschen haben in diesem
Sommer keine Urlaubsreise angetreten. Große Reiseveranstalter schreiben dicke Verluste: Der eine muss feststellen, dass sein Verlust doppelt so hoch ist wie im
vergangenen Jahr; der andere - ohne jetzt Namen zu nennen - verzeichnet einen gar zwölfmal so hohen Verlust.
Wir müssen uns gerade heute die Frage stellen: Was
hält die Leute vom Reisen ab? Erstens ist es die Konsumzurückhaltung, zweitens die Konjunkturflaute, drittens die Angst um den Arbeitsplatz und viertens die
Arbeitslosigkeit. Für diese vier Posten ist die Bundesregierung verantwortlich; das möchte ich besonders unterstreichen.
({3})
Bei der wichtigsten Zielgruppe in Sachen Tourismus,
bei der Gastronomie, ist es besonders katastrophal. Der
Umsatz im vergangenen Jahr lag bei minus 7,2 Prozent.
Verehrter Herr Minister Clement, das Jahr 2002 war das
schlechteste Jahr für die Gastronomie seit 1949. Leider
wahr! Seit 1974 ist die Anzahl der Betriebe von 274 000
auf 248 000 geschrumpft. Auch hier also ein Minus von
10 Prozent, obwohl die Bevölkerungszahlen nach oben
deuten.
Ein probates Mittel, um dem Gastronomiegewerbe zu
helfen, wäre die Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze. Herr Minister Clement, bereits auf der ITB 1999
hat Ihr Vorgänger, Herr Bundesminister Müller, angekündigt, dass er sich dafür verwenden werde. Geschehen
ist nichts. Alles Schall und Rauch! Ein entsprechender
Richtlinienvorschlag, aus Brüssel kommend, liegt bei Ihnen auf dem Tisch. Aber Bundesfinanzminister Eichel
tritt auf die Bremse. Obwohl auch Tourismuspolitiker
der SPD und insbesondere unser wichtigster Bündnispartner in der Europäischen Union, Frankreich, eine solche Reduzierung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie
befürworten, wird das nicht gemacht.
({4})
Wie ist es zu rechtfertigen, Herr Schmidt, dass die
Mehrwertsteuer für Leistungen im Hotelbereich in zwölf
Ländern der EU niedriger ist als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland? In Frankreich liegt sie bei 5,5 Prozent und in Österreich bei 10 Prozent. Aber wir sind mit
16 Prozent Spitze.
Warum ist in zehn Ländern der Europäischen Union
der Mehrwertsteuersatz für Angebote von Freizeitparks
niedriger als bei uns? Warum ist in acht Ländern der Europäischen Union der Mehrwertsteuersatz für Leistungen in der Gastronomie niedriger als bei uns? Wettbewerbsverzerrungen über Wettbewerbsverzerrungen!
Wir alle sind aufgefordert, dem entgegenzusteuern
und dafür zu sorgen, dass bestimmte Wirtschaftsbereiche
bei uns im Vergleich zu denen in anderen Ländern in der
Europäischen Union nicht weiter durch Steuern belastet
werden.
({5})
Eine ganz besondere Herausforderung steht vor der
Tür: Die EU wird erweitert. Tschechien, Ungarn und Polen treten ein. Diese behalten aber ihre niedrigeren
Mehrwertsteuersätze bei. Deshalb fordere ich nochmals,
darüber nachzudenken, ob es nicht gewisse Korrekturen
geben sollte.
Auch bei den Kur- und Heilbädern ist ein schärferer
Wind zu erwarten. Wir sind darüber besorgt, dass bei der
Leistungserbringung im In- und Ausland keine einheitlichen Qualitätsstandards vorhanden sind. Darum sollten
wir ganz besonders besorgt sein. Unsere deutschen Kurorte brauchen vor allen Dingen zusätzliche Einnahmen
über die Gemeindefinanzreform, um Geld für den Ausbau und den Erhalt ihrer Infrastruktur zur Verfügung zu
haben, damit sie mit den Kurorten in anderen Ländern
konkurrieren können.
({6})
Der Gesundheitstourismus gewinnt an Bedeutung.
Im Jahr 2030 wird die Zahl der über 60-Jährigen von
heute 17 Millionen auf 26 Millionen angestiegen sein.
Schon heute gibt es in der Bundesrepublik Deutschland
3,3 Millionen Mitbürger, die älter als 80 Jahre sind. Vor
allem die frönen dem Gesundheitstourismus. Aber die
Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Die Senioren gelten übrigens schon heute als Wachstumsmotor des Tourismus. 2002 sind mehr als 12 Millionen Deutsche über 60 Jahre mindestens einmal im Jahr
in den Urlaub gefahren; das waren 67 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass in 20 Jahren 80 Prozent der
Senioren in den Urlaub fahren werden. Sie brauchen ein
auf sie zugeschnittenes Angebot und der Tourismusbereich benötigt von uns den politischen Flankenschutz,
also Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, für Senioren besondere Programme aufzulegen.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas
ausführen, was im Zusammenhang mit dem Tourismus
besonders wichtig ist: Wir brauchen einen funktionierenden Verkehr. Speziell spreche ich hier das Auto an; denn
60 Prozent der Deutschen wählen das Auto, um in Urlaub
zu fahren. Verehrter Herr Minister Clement, durch die
Ökosteuer haben Sie das Autofahren nicht gerade billiger
gemacht. Insofern ist es ein kleiner Luxus, mit dem Auto
in den Urlaub zu fahren. Als Beleg dafür nehme ich einen
Hamburger, Herr Kollege Klimke, der bereit ist, seinen
Urlaub im Berchtesgadener Land zu verbringen. 1 000 Kilometer hin, 1 000 Kilometer zurück und ein paar Kilometer dazwischen ergeben einen Spritverbrauch von etwa
200 Litern. Mit der Ökosteuer ziehen Sie dem Bürger
200 mal 15 Cent aus der Tasche. Das sind sechs gute Mittagessen, die Sie dem Bürger nicht gönnen.
({8})
In diesem Zusammenhang erteile ich der von verschiedener Seite geforderten PKW-Maut eine Absage, weil
sie weitere Umsatzeinbrüche beim Gastronomiegewerbe
mit sich brächte.
Eine Bemerkung zur Bustouristik: Verehrter Herr
Minister Clement, Sie haben dieses Thema hier nur ganz
knapp abgehandelt, obwohl 6 000 mittelständische Unternehmen mit über 65 000 Beschäftigten im Bustouristikgewerbe tätig sind. Gerade in der jetzigen Zeit ist es
wichtig, ein Bekenntnis zur Bustouristik abzulegen, weil
der Bus nach wie vor das sicherste Verkehrsmittel in der
Bundesrepublik Deutschland ist; er ist 62-mal sicherer
als das Auto.
An dieser Stelle muss ich auch die Bürokratie ansprechen. Es passt nicht zusammen, meine Damen und Herren, wenn ewig von Bürokratieabbau gesprochen, aber
nichts getan wird. 5 000 Gesetze und 85 000 Verordnungen machen insbesondere der Tourismuswirtschaft zu
schaffen. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, dass
jemand, der in einem Hotel unter Kopfweh leidet, aufgrund des deutschen Arzneimittelrechts von der Hotelrezeption keine Kopfschmerztablette bekommen kann und
an die nächste Apotheke, die ein paar Kilometer entfernt
wird, verwiesen werden muss. Hier sind wir alle gefordert, etwas zu unternehmen.
({9})
Deutschland ist Messeplatz Nummer eins. Zwei Drittel
aller internationalen Messen finden hier statt. Zusammen
sind hier 220 000 Aussteller betroffen, die 17 Millionen
Besucher anlocken. Wir müssen für den Messetourismus
mehr tun, um unseren Rang, wichtigster Messeplatz der
ganzen Welt zu sein, behalten zu können. Dies geht nicht
von selbst; vielmehr ist es erforderlich, das Notwendige
zu tun.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Gerade die mittelständische Tourismuswirtschaft ist auf
günstige Rahmenbedingungen wie zu verkraftende Steuern, Arbeitsmarktflexibilität, zügige Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie, eine ergänzende Ferienregelung usw. angewiesen. Wir dürfen nicht nur über den
Tourismus reden, sondern müssen auch entsprechend
handeln. Es ist das Gebot der Stunde, dass wir seitens
der Politik die vernünftigen Rahmenbedingungen schaffen.
({10})
Ich fordere uns alle, insbesondere aber die Bundesregierung, vertreten durch Sie, Herr Minister Clement, auf,
das Notwendige zu tun, damit dieser wichtige Wirtschaftszweig auch in der Bundesrepublik Deutschland
wieder richtig in Schwung kommt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile das Wort der Kollegin Undine Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren auf den Besucherrängen! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Im Bericht der Bundesregierung sind eine
Menge Zahlen genannt worden; im Entschließungsantrag der FDP sind sie wiederholt worden und auch Herr
Hinsken hat sich eben zum Teil auf sie berufen. Diese
Zahlen belegen, einen welch wichtigen Wirtschaftsfaktor die Tourismuswirtschaft in unserem Lande darstellt.
Sie, Herr Minister, haben dankenswerterweise sehr klar
formuliert, dass der Tourismus zu den Schwergewichten
unserer Volkswirtschaft gehört und dass die Bundesregierung diesen Wirtschaftszweig sehr ernst nimmt.
Herr Hinsken, ich kann nicht recht verstehen, warum
Sie diesen Wirtschaftszweig und seine momentanen
Chancen schlechtreden.
({0})
Ich werde Ihnen eine Zeitung überreichen,
({1})
der man nicht nachsagen kann, dass sie den Grünen oder
Rot-Grün besonders freundlich gesonnen ist. Diese Zeitung schreibt auf der Titelseite: Reisebranche kann hoffen, Umsatzplus von 5 Prozent möglich.
({2})
Ich glaube nicht, dass ein Wirtschaftszweig so etwas verkünden würde, wenn er diese Hoffnung nicht hätte. In aller Regel neigt man doch dazu, eher zu klagen und viele
Änderungen zu fordern.
({3})
Ich kann wirklich nicht verstehen, wie Sie diese Zahlen
heranziehen konnten, um eine Branche, die für unser
Land wichtig ist, schlechtzureden.
Reisen ist unbestritten eine der schönsten Seiten des
Lebens und obwohl der Tourismussektor nicht nur aus
Urlaubsreisen besteht, sind Fernweh und Urlaubswunsch
die wichtigsten Impulse, um diesen zu einem führenden
und schnell wachsenden Wirtschaftszweig weltweit zu
machen. Gleichzeitig müssen wir aber auch zur Kenntnis
nehmen: Der Tourismus ist ein sehr anfälliger Wirtschaftszweig, der auch Zufällen unterworfen ist. Politische Unruhen, Terroranschläge, spektakuläre Entführungen, Krankheiten wie SARS, Naturkatastrophen in den
Zielregionen, aber auch konjunkturelle Schwankungen
in den Herkunftsländern der Touristen können die Nachfrage nach einem Reiseland in kürzester Zeit zusammenbrechen lassen. Die starken Konkurrenzen unter den
einzelnen Reiseländern und ihre zunehmende Austauschbauten machen die Situation zusätzlich schwierig
und lassen den Gast sehr leicht umschwenken. Dies wiederum kann zu dramatischen Folgen für die Tourismusregionen führen.
Was heißt das auf unser eigenes Land bezogen? Was
müssen wir tun, um dem Tourismus in Deutschland auf
die Beine zu helfen? Es wurde bereits gesagt, dass die
Nachfrage nach deutschen Reisezielen erfreulicherweise
gestiegen ist. Deutsche reisen wieder verstärkt nach
Deutschland und das ist gut so. Die Umsatzzahlen in
Gastronomie und Hotellerie stabilisieren sich; auch das
ist gut. Das zeigt: Wir haben die im Rahmen der Bundeszuständigkeit gegebenen Möglichkeiten in den zurückliegenden fünf Jahren ernsthaft und gut genutzt und die
Voraussetzungen für einen erfolgreichen Deutschlandtourismus verbessert. Der Bericht der Bundesregierung
dokumentiert das.
({4})
Aber auch international haben wir deutliche Anstrengungen unternommen, um die Zukunftsfähigkeit, also
die Nachhaltigkeit des Tourismus - auch ich möchte das
viel bemühte Wort verwenden - zu sichern. Ich nenne
beispielhaft den im Herbst 2002 mit Unterstützung der
Bundesregierung überarbeiteten Entwurf der Richtlinie
für Tourismus und Biodiversität, der jetzt der
7. Vertragsstaatenkonferenz mit der Empfehlung zur Annahme vorliegt. Der Entwurf ist eine Art Leitfaden für
die Tourismusentwicklung. Er bezieht sich auf alle Formen und Aktivitäten des Tourismus, sowohl auf den traditionellen konservativen Massentourismus als auch auf
den Ökotourismus. Darüber hinaus bezieht er sich auf
alle geographischen Regionen.
Wir beweisen mit solchen Aktivitäten, dass wir uns
der ökologischen Konsequenzen des Tourismus und der
daraus resultierenden Aufgaben sehr wohl bewusst sind
und auch handeln wollen. Wir alle wissen: Für den Tourismus ist intakte Natur ein überaus wichtiger Faktor.
Die von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen
jährlich durchgeführte Reiseanalyse bestätigt, dass der
Wunsch, Natur zu erleben, zu einem der wichtigsten
Reisemotive der Deutschen zählt. Fakt ist aber auch,
dass der Tourismus in erheblichem Maße zu den vorhandenen Umweltproblemen beiträgt.
Ich meine damit zum Beispiel seine allgemeinen Auswirkungen auf das Klima; sie stellen den direkten Bezug
zur Ökosteuer her. Der von Deutschland ausgehende
Tourismus verursachte 1999 mehr als 75 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen. Die chemische Industrie,
die allgemein zu den großen Emittenten zählt, hat im
gleichen Zeitraum 37,5 Millionen Tonnen, also die
Hälfte, emittiert. Ich glaube, das verdeutlicht die Dimension des Problems, vor dem wir stehen.
80 Prozent der Treibhausgase, die aus dem Tourismus
resultieren, verursacht der Flugverkehr. Wenn die Prognosen der Reiseanalysen zutreffen, wird sich dieses Problem in Zukunft noch verschärfen. Auch aus diesem
Grund werden wir Bemühungen, attraktive Urlaubsangebote in Deutschland zu schaffen, unterstützen.
({5})
Undine Kurth ({6})
Uns ist aber klar: Auch wer nicht das Flugzeug nutzt,
muss nicht unbedingt „sündenfrei“ reisen. Immer noch
werden 70 Prozent der inländischen Urlaubsreisen
- diese Zahl liegt mir vor - mit dem Auto angetreten,
nicht einmal 20 Prozent der Gäste reisen mit der Bahn.
Das kann man nicht als Erfolg verkaufen. Wenn es uns
gelingt, attraktive und zuverlässige Serviceangebote zu
machen, schaffen wir es vielleicht, mehr Kunden zur
Bahn zu bringen. Herr Klimke könnte dann eventuell die
Bahn nutzen und sich ein Essen mehr leisten. Damit
wäre doch allen geholfen.
({7})
- Das Fahrrad wäre noch eine wunderbare Ergänzung.
Es ist in unser aller Interesse, wenn wir nicht in erster
Linie daran denken, den Urlaub mit dem Auto billiger zu
machen, sondern überlegen, ob es andere Möglichkeiten
gibt, den Urlaubsort bequem, gut und zuverlässig zu erreichen. Schließlich bleibt das nahezu sprichwörtliche
Ökogewissen der Deutschen auch im Urlaub erhalten.
84 Prozent der Deutschen legen Wert auf umweltfreundliches Verhalten im Urlaub. Deshalb war es richtig, die
Dachmarke Viabono für umweltorientierte touristische
Angebote zu entwickeln. Sie bietet Verbraucherinnen
und Verbrauchern in Bezug auf natur- und umweltverträgliche touristische Angebote eine einfache Entscheidungshilfe.
Ich appelliere von dieser Stelle aus noch einmal an
alle Hoteliers, Gastronomen, Betreiber von Bauernhöfen, Campingplätzen, Naturparks und Heilbädern sowie
an die Kommunen: Sie alle sollten überlegen, ob sie
diese Dachmarke nicht der Natur und ihren Gästen zuliebe sowie zu ihrem eigenen Vorteil nutzen.
({8})
Die ostdeutschen Länder können hiervon besonders profitieren. Hier entstanden in den letzten Jahren durch Förderungen und sehr viel Eigeninitiative zahlreiche neue,
moderne touristische Angebote, die sich für eine Verbindung mit Viabono geradezu anbieten.
Die zur Überweisung anstehenden Anträge will ich
angesichts der Kürze der Zeit nicht im Einzelnen behandeln. Wir haben dazu in den Ausschüssen sicherlich ausgiebig Zeit. Ich möchte nur eines versichern: Wir werden
sinnvolle Vorschläge nicht ignorieren, billige Polemik
aber freundlich zurückweisen.
Ich möchte noch etwas anderes ansprechen, wofür
sich die Vielschichtigkeit der eben erwähnten Anträge
gut als Beispiel eignet: Hätten wir jetzt ausreichend Zeit,
würden wir über Geschäftsreisen, die Ferienregelungen
und über den Wassertourismus debattieren, und das sicher auch zu Recht. Das sind jeweils Aspekte des Tourismus, die erheblich in andere Politikfelder hineinreichen und die klar machen: Tourismus ist eine
Querschnittsaufgabe. Querschnitt sollte aber nicht heißen: Jeder macht irgendetwas, alle machen es gleichzeitig, aber keiner hat den Überblick.
Deshalb glaube ich, noch einmal betonen zu müssen:
Im Moment gibt es viele gute tourismuspolitische Ansätze in den einzelnen Ressorts. Sie werden nebeneinander entwickelt. Seien wir ehrlich: Wir alle sind schon einigermaßen erstaunt, wenn wir von einem uns bisher
völlig unbekannten Modellprojekt eines Ressorts erfahren. Ich frage mich und Sie, ob es nicht an der Zeit ist,
dieser Zersplitterung der Verantwortung für die Entwicklung des Tourismus zumindest auf Bundesebene entgegenzuwirken. Mir erscheint es als eine erhebliche Vergeudung finanzieller und personeller Ressourcen, wenn
in jedem Bundesressort die Tourismuspolitik neu erfunden wird.
({9})
- Es freut mich, dass Sie applaudieren, dass wir da einer
Meinung sind.
Eine Bündelung der Ressourcen und der Verantwortung im eigentlich zuständigen Wirtschaftsministerium
erscheint mir nicht nur sinnvoll, sondern auch erstrebenswert. Ich weiß, dass dazu Umstrukturierungen erforderlich sind, und ich weiß, dass das nicht einfach sein
wird. Das kann aber nicht dazu führen, dass man eine als
notwendig erachtete Aufgabe nicht angeht. Ich glaube,
dass wir gemeinsam versuchen sollten, auf diesem Gebiet etwas zu erreichen, um die vielen guten Ansätze, die
es bereits gibt, weiterzuführen und um für diesen wirklich wichtigen Wirtschaftszweig in unserem Land etwas
zu erreichen.
Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDPFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich glaube, die Ausgangsbasis dessen, worüber wir
heute reden, ist tatsächlich ziemlich kompliziert.
({0})
Der weltweite Tourismus hat eine große Krise, bedingt
durch den 11. September 2001, den Irakkrieg, SARS und
andere Dinge, hinter sich. Im Augenblick gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es uns gelingt, diese Krise ein
Stück weit zu überwinden. Das bezieht sich aber leider
weniger auf die Binnennachfrage. Von daher erfordert
die Situation eine sehr differenzierte Betrachtungsweise.
Es gibt einige Bereiche, die mir wirklich Sorgen bereiten. Das ist zunächst der Hotel- und Gaststättenbereich, der für mich die Basis jeglichen Tourismus in
Deutschland ist. Wenn es im Hotel- und Gaststättenbereich nicht stimmt, brauchen wir über den Tourismus eigentlich nicht zu reden.
({1})
Wir müssen zusehen - die Entwicklungen in diesem
Punkt betrachte ich mit großer Sorge -, dass sich die Ertragslage bei den Betrieben wieder so entwickelt, dass
sie investieren können. Denn sonst werden sie die Qualität nicht bieten können, die sie bieten müssen.
({2})
Auch bei den Reisebüros ist die Situation schwierig.
In dieser Branche gab es, wie wir wissen, eine Krise, die
weiterhin besteht. Niemand weiß im Augenblick, wie
sich die Veränderungen bei der Buchung von Pauschalreisen - ich nenne nur das Internet - und andere Veränderungen auf die Reisebüros auswirken werden. Auch in
dieser Branche stehen viele Tausende von Arbeitsplätzen
auf dem Spiel.
Es gibt etwas, um das wir, Herr Minister, uns wirklich
noch einmal kümmern müssen, nämlich um die Ferienregelung. Wir alle miteinander hatten bei der Ferienregelung ja schon einen Erfolg erzielt. Aber die Erfahrung
in diesem Jahr hat gezeigt, dass das nicht ausreicht. Wir
müssen dieses Thema noch einmal problematisieren und
versuchen, die Gesamtzeit etwas auszuweiten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird viel Kritisches in dieser Zeit gesagt. Lassen Sie mich deswegen
auch einmal ein paar lobende Worte sagen. Ich möchte
die leistungsfähige Abteilung Tourismus im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit mit ihren hoch engagierten Mitarbeitern loben.
({4})
Ich bitte Sie, Herr Minister, dieses Lob weiterzugeben.
Hier wird hervorragende Arbeit geleistet. Das wissen
wir aus unserer Ausschussarbeit.
Ich möchte auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der anderen Fraktionen im Tourismusausschuss, loben.
Vieles haben wir gemeinsam versucht. Manches ist uns
nicht ganz gelungen. In manchen Fragen sind wir politisch weit auseinander. In manchen Punkten haben Sie
leider in der eigenen Fraktion keine Mehrheit gefunden. - Schade.
({5})
Einiges aber ist uns gemeinsam gelungen: Ich freue
mich nach wie vor, dass wir es vor allem auf intensiven
Druck der FDP in der letzten Legislaturperiode geschafft
haben, dass das Haus einstimmig die Trinkgeldbesteuerung abgeschafft und damit ein deutliches Zeichen gesetzt hat.
({6})
Ich freue mich, dass wir im Bereich der touristischen Beschilderung wenigstens einen kleinen Schritt weitergekommen sind, auch wenn wir, liebe Kollegin Faße, erheblich mehr gewollt haben. Zumindest dieser kleine Schritt
ist uns aber gelungen. Gemeinsam haben wir Einiges für
das Schaustellergewerbe in Deutschland getan.
({7})
Auf anderen Gebieten allerdings waren wir weniger
erfolgreich. Vier Jahre lang haben wir gegen die unsinnige Rücknahme der 630-Mark-Regelung gekämpft.
Jetzt haben wir eine solche Regelung wieder, zwar mit
mehr Bürokratie, aber immerhin haben Sie nach fünf
Jahren gelernt. Es ist ein Befreiungsschlag für die Branche, dass es jetzt wenigstens die Minijobs gibt. Wenn Sie
das fünf Jahre vorher nicht abgeschafft hätten, wäre die
Branche heute in einer viel besseren Lage.
({8})
Ich sage auch Lob für den Haushalt, was die Deutsche Zentrale für Tourismus anbetrifft. Ich finde es
gut, dass es gelungen ist, die Mittel dafür zu erhöhen. Ich
möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Was gestern im
Tourismusausschuss geschehen ist, kann ich nicht mittragen. Bei einem Haushaltstitel wurden 100 000 Euro
draufgelegt, danach wurden 200 000 Euro in manchen
Bereichen bei drei Organisationen zweckgebunden für
Klientel der Grünen. Diese Klientelpolitik werden wir
nicht mitmachen.
({9})
Es gibt Bereiche, bei denen wir leider nicht weitergekommen sind: bei den Sperrzeiten insbesondere für die
Außengastronomie und beim Jugendarbeitsschutzgesetz;
das wird sich vielleicht heut Mittag noch zeigen.
Es gibt Vieles, was nach wie vor zu tun ist. Einiges ist
besonders wichtig.
({10})
Dazu zählt die Förderung des barrierefreien Tourismus.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine Große
Anfrage dazu gestellt. Daraus müssen wir jetzt etwas machen. Wir haben einen Antrag zum Wassertourismus vorgelegt. Ich will dem Kollegen Hinsken beim Thema Bustourismus ausdrücklich zustimmen: Es kann nicht sein,
dass der Bustourismus durch ungerechtfertigte Wettbewerbsverzerrungen, zum Beispiel durch die Ökosteuer,
benachteiligt ist. Das werden wir immer anmahnen.
({11})
Bei allen positiven Zeichen: Tourismuspolitik von
Rot-Grün ist nach wie vor ideologisch zu verbrämt. Sie
ist viel zu mutlos. Die Rahmenbedingungen sind völlig
falsch gesetzt. Hierzu gibt es übrigens ein schönes Zitat
von Wilhelm Busch: Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt man hat die Mittel.
({12})
Genau das ist das Problem.
Ich möchte Ihnen einen Satz aus einem vor zwei Wochen erschienenen Prognos-Gutachten zitieren. Dort
heißt es:
Die Reiseausgaben der Deutschen stiegen in den
90er-Jahren kontinuierlich, stagnierten 2001 und
sanken 2002 und 2003 geringfügig. Damit wurde
der mit 25 Prozent Marktanteil wichtigste europäische Quellmarkt ähnlich stark von exogenen Marktentwicklungen betroffen wie andere Quellmärkte.
Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland wird
dabei von „hausgemachten“ wirtschaftlichen Hemmnissen stärker tangiert als die Entwicklung in den
meisten anderen europäischen Staaten, die bereits
wieder auf Wachstum eingeschwenkt sind.
Herr Minister, hier wird deutlich gesagt: Sie tragen die
Verantwortung dafür, dass es uns im Gegensatz zu all
unseren Nachbarn nicht gelingt, beim Tourismus wieder
aus dem Tief herauszukommen, und dass die Nachfrageflaute bei uns nach wie vor bestimmend ist. Das müssen
Sie auf Ihre Kappe nehmen.
({13})
Sie haben es nicht geschafft, Bürokratie abzubauen.
Die FDP hat die Aktion „Bürokratie abbauen - Wir machen es einfacher“ gestartet. Wir haben jede Woche einen konkreten Vorschlag für Bürokratieabbau gemacht.
Leider haben Sie so gut wie keinem zugestimmt. Wir erwarten, dass Sie endlich nicht nur reden, sondern auch
handeln.
({14})
Sie haben nicht dereguliert, sondern mehr reguliert.
Vor allem bei den Reformen im Arbeitsrecht, die für
das Gewerbe wichtig sind, sind sie total blind. Wenn wir
an das Arbeitsrecht nicht herangehen, werden wir die
Probleme dieser Branche nicht lösen können.
({15})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss im Bild des Tourismus bleiben: Die Regierung
nimmt uns seit 1998 auf eine Abenteuerreise mit. Dabei
gab es durchaus einige schöne Strecken; das sei zugegeben. Insgesamt war es jedoch eine Abenteuerreise. Die
Reisenden wollen aber etwas anderes. Herr Minister, sie
wollen das Ziel kennen und wissen, wohin es geht. Das
ist das Entscheidende. Die Reisenden wollen auch wissen, wie lang eine solche Reise dauern wird.
({16})
Sie lassen sich nicht ewig auf den Sankt-NimmerleinsTag vertrösten. Es muss ja keine Pauschalreise sein, bei
der alles vorbestimmt ist. Die Reisenden sind sehr wohl
bereit, auch einmal steile Berge zu überqueren und Baustellen in Kauf zu nehmen.
({17})
Sie wollen dann aber auch wissen, dass sie nach einer
abschätzbaren Zeit an dem richtigen Ziel ankommen.
Genau das ist Ihr Problem: Weder Zeit noch Ziel sind bekannt. Deshalb wäre es die beste Maßnahme für den
Deutschlandtourismus, wenn wir der Regierung eine
Fahrkarte in die Opposition schenken und wieder die
richtigen Leute an das Steuer lassen würden.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich erteile Kollegin Brunhilde Irber, SPD-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dies ist eine Sternstunde für die Tourismuspolitiker des Deutschen Bundestages, weil wir den tourismuspolitischen Bericht in der Kernzeit debattieren können. Das freut uns und ist der Bedeutung des Tourismus
angemessen.
({0})
Wir danken der Bundesregierung für diesen sehr aussagekräftigen Bericht,
({1})
in dem erstmals auch der Gender-Gedanke berücksichtigt wird.
({2})
In dem Bericht wird der Tourismus unter anderem auch
als Wirtschaftsfaktor behandelt. Minister Clement hat
dies soeben sehr ausführlich dargelegt. Deshalb kann ich
darauf verzichten.
Ich möchte hier heute auf die Rolle des Parlaments
und insbesondere auf die der Regierungsfraktionen für
den Tourismus in Deutschland ausführlicher eingehen.
Unser Bestreben war und ist es, den Stellenwert des
Tourismus für Wachstum und Beschäftigung bei den
Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft ins Bewusstsein zu bringen. Deshalb kann es als Erfolg bezeichnet werden, dass es gelungen ist, bei den Fraktionen des
Deutschen Bundestages mehr Aufgeschlossenheit für
Tourismusthemen zu erzielen, was auch durch gemeinschaftliche Anhörungen mit verschiedenen anderen Ausschüssen zum Ausdruck kommt. Dafür möchte ich mich
bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken.
({3})
Erfreulich ist auch, dass der Tourismus nun als Fachbereich beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag und beim BDI etabliert ist. Wir erhoffen uns hiervon
starke Wachstumsimpulse für den Deutschlandtourismus.
Eine Erfolgsstory ist auch das von der Bundesregierung initiierte länderübergreifende Inlandsmarketing
durch die Deutsche Zentrale für Tourismus, das nun
seit drei Jahren besteht und das sich insbesondere bei der
Hochwasserkatastrophe im letzten Jahr als Instrument
für die betroffenen Regionen positiv ausgewirkt hat. Ich
hoffe, dass es diese Zusammenarbeit auch über 2006 hinaus geben wird.
Ein Blick zurück sei mir dennoch erlaubt. Zur Zeit
unserer Regierungsübernahme war die touristische Situation von Stagnation und rückläufigen Zahlen geprägt.
({4})
- Nein, Herr Vorsitzender, so ist es nicht. Wenn Sie sich
die Zahlen anschauen, dann werden Sie eines Besseren
belehrt werden.
({5})
In Ihrer Regierungszeit hatten Sie geplant, die Mittel
für die Deutsche Zentrale für Tourismus um 11 Millionen DM - damals haben wir noch in D-Mark gerechnet auf 25 Millionen DM zu kürzen. Dies wäre ein Kahlschlag gewesen.
({6})
Das haben wir aufgrund der Änderung der Mehrheitsverhältnisse in diesem Haus stoppen können.
({7})
Wir haben den Haushaltsansatz für die Deutsche Zentrale für Tourismus von einstmals 25 Millionen DM, die
Sie angepeilt hatten, im Jahre 2004 auf 24,474 Millionen
Euro erhöht.
({8})
Damit haben wir das Ergebnis im Vergleich zu Ihnen fast
verdoppelt.
({9})
Unter anderem der guten Arbeit der DZT ist es zu verdanken, dass wir im Jahre 2002 fast 38 Millionen Übernachtungen von Ausländern in Deutschland hatten. Hierzu
nur ein Zahlenvergleich: Von 1998 bis zum Jahr 2002 hat
sich die Zahl der Übernachtungen in Deutschland trotz
SARS, trotz des Irakkriegs, trotz der Ereignisse vom
11. September 2001 insgesamt um 24 Millionen erhöht.
Dies ist ein Faktum, das Sie nicht wegdiskutieren können.
({10})
- Das sind die insgesamt getätigten Übernachtungen in
Deutschland. Nur das ist eine aussagekräftige Zahl.
({11})
Die Maßnahmen der DZT geben der Branche vielfache Wachstumsimpulse. Dadurch werden zielgerichtet
Potenziale für den Deutschlandtourismus erschlossen.
Ich möchte mich deshalb auch bei Frau Schörcher von
der Deutschen Zentrale für Tourismus und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken.
({12})
Im Bund-Länder-Ausschuss „Tourismus“ wurde vor
einer Woche eine Studie der DZT mit ersten Zahlen, Daten und Fakten zum Inlandstourismus vorgestellt. Ein
Ergebnis dieser Repräsentativbefragung bestätigt: Urlaub in Deutschland ist in.
({13})
Die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes
bestätigen dies. Nach der Statistiknovelle, die wir angeregt haben und nach der seit Januar dieses Jahres erstmals die Zimmerauslastung erfasst wird, ist die Auslastung der Zimmer im ersten Halbjahr kontinuierlich von
27 Prozent im Januar auf 43 Prozent im Juli gestiegen.
Sie strafen sich also Lügen mit Ihren Aussagen, die Sie
hier getroffen haben.
({14})
Insgesamt kommt man damit für das erste Halbjahr auf
eine Auslastung von 37 Prozent, bei den Hotels auf mehr
als 40 Prozent. Das ist mehr, als in Ihrer Regierungszeit
zu verzeichnen war.
({15})
Von Januar bis August wurden 234 Millionen Gästeübernachtungen gezählt; das entspricht in etwa dem Vorjahresergebnis. Die Zahl der Gästeübernachtungen im
August ist im Vergleich zu dem entsprechenden Vorjahresmonat um 6 Prozent bzw. zum Juli dieses Jahres um
8 Prozent höher.
({16})
Der Auslandstourismus hat im August sogar um
1 Prozent zugenommen. - Aber ich möchte mich jetzt
nicht weiter mit Zahlen aufhalten.
Deutschland ist ein sicheres Reiseland. Deshalb entscheiden sich viele Gäste, zu uns zu kommen. Die Bundesregierung hat in der Zeit nach dem 11. September
2001 und den vielen anderen Ereignissen mit umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen dafür gesorgt, dass unser
Land ein sicheres Reiseland bleibt.
Deutschland hat von der Ferienwohnung bis zum
Fünf-Sterne-Hotel gute Unterkünfte, eine gute Küche,
köstliche Weine und ein gutes Bier, das sich international messen lassen kann.
({17})
Deutschland hat ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis.
Wir sind zwar bei den Dienstleistungen bestimmt noch
keine Weltmeister, aber wir stärken Qualität durch verschiedene Modellprojekte, die der Bund finanziert hat.
Damit kommen wir dem Ziel „Der Kunde ist König“ näher. Deshalb gilt mein Dank allen Dienstleistern im Tourismus.
({18})
In der vergangenen Legislaturperiode haben wir die
Trinkgeldbesteuerung abgeschafft.
({19})
- Dass dies auf Initiative der FDP geschah, ist ein Märchen. Aber die FDP hat uns dabei unterstützt.
({20})
Dadurch haben wir die Beschäftigten im Hotel- und
Gaststättengewerbe motiviert, höchste Leistungen zu erbringen. Dies gilt auch für die Betriebsrente, die durch
die Zusammenarbeit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und des DEHOGA eingeführt wurde.
Auf die Mehrwertsteuer will ich nicht mehr eingehen.
Da befinden wir uns in Europa in einem guten Mittelfeld. Diese Sache ist es nicht wert, dass man sich damit
noch einmal auseinander setzt; das alles haben wir schon
längst abgehandelt.
Deutschland hat vielfältige attraktive touristische Angebote und eine gute Verkehrsinfrastruktur, die durch
den Bundesverkehrswegeplan noch einmal verbessert
werden wird. Deshalb kommen viele ausländische Gäste
zu uns. China wurde schon erwähnt.
({21})
Deutschland hat ein interessantes Kulturangebot.
Gerade Ostdeutschland hat die Chance, im Tourismus
weiter voranzukommen. Leider wird hierzu im Bericht
nichts ausgeführt. Wir werden in einer gemeinsamen
Anhörung mit dem Kulturausschuss entsprechende Akzente setzen.
Deutschland hat - Frau Kollegin Kurth hat es schon
angesprochen - viel Natur zu bieten. Familienurlaub in
Deutschland wird unser nächstes Thema sein. Ich freue
mich, dass wir mit unserem Antrag im Sommer dieses
Jahres gerade im Bereich des barrierefreien Tourismus
Schwerpunkte gesetzt haben.
Ich sehe, dass meine Zeit abläuft.
Es ist doch nur Ihre Redezeit.
({0})
Ich komme zum Schluss. - In Deutschland wird sich
das Freizeitverhalten verändern. Deshalb erwarten wir
uns von der von uns in Auftrag gegebenen Herbststudie
„Zukunftstrends im Tourismus“ neue Grundlagen für die
Tourismuspolitik und die Branche. Ich denke, dass wir
diese Klientel im Sinne von mehr Wachstum und Beschäftigung stärken können.
Qualität und Qualitätssteigerung, das ist der rote Faden, der sich durch unsere Politik zieht. Nur mit Qualität
werden wir uns auf dem heiß umkämpften Markt behaupten können. Deshalb werden wir nicht nur gewerbepolitischen Forderungen nachkommen, sondern langfristige Ziele in der Tourismuspolitik setzen, damit das, was
im Bericht steht, wahr wird, dass der Tourismus einerseits ein Instrument der Völkerverständigung und andererseits ein Markt der Zukunft ist. Wir wollen erreichen,
dass sich dies in Deutschland auszahlt.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Klimke, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Studieren des Berichtes, aber auch während der einführenden Worte von Minister Clement bin ich bisweilen an
den Katalog eines unseriösen Reiseanbieters erinnert
worden, gegen den wir als Bürger und Politiker immer
wettern.
({0})
Darin wird ein Zimmer mit Meerblick versprochen, aber
das Meer liegt 20 Minuten zu Fuß entfernt.
Man kann Ihnen nur den Abschluss einer Schadensersatzversicherung empfehlen; denn der Bericht formuliert Ziele, die nicht erreicht werden können. Es handelt
sich um Scheinangebote. Ich darf das an vier Beispielen
belegen.
Ein Beispiel haben wir angesprochen - im Bericht
wird es nicht erwähnt, Herr Minister -, nämlich die Situation der Geschäftsreisenden. Dieses Reisesegment
wird von der Bundesregierung ignoriert. Dabei geht es
um 10 Millionen Geschäftsreisende, von denen jeder
22 Reisen im Jahr unternimmt. Das sind 50 Milliarden
Euro Umsatz im Jahr. Das ist fast ein Drittel des Gesamtumsatzes.
({1})
Hinzu kommt noch Folgendes: Im Gegensatz zu den
Urlaubsreisen, bei denen drei Viertel des Geldes im Ausland ausgegeben werden, bleiben 70 Prozent des Geldes,
für Geschäftsreisen im Inland. Somit schaffen und sichern Geschäftsreisen bundesweit ganzjährig Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt von diesen Ausgaben abhängig sind. Das muss immer wieder deutlich gemacht
werden.
Aber trotz vollmundiger Versprechen, die wir vorhin
noch einmal gehört haben, nämlich dieses Marktsegment
zu fördern, wird nichts getan. Es heißt in dem Bericht:
„Darüber hinaus profitiert die Tourismuswirtschaft von
den allgemeinen wirtschaftspolitischen Initiativen der
Bundesregierung, …“
({2})
Das ist schlicht und einfach eine Drohung für den Tourismus.
({3})
Schauen Sie sich unseren Antrag an, was die Geschäftsreisen betrifft! Richten Sie die Auslandswerbung
über die DZT stärker auf Geschäftsreisen aus! Wer
Deutschland beruflich besucht, der kommt auch später
sicherlich mit seiner Familie hierher. Hier besteht also
Zuwachspotenzial.
({4})
Reduzieren Sie die Bürokratie - das ist ein wichtiges
Thema, das wir hier immer wieder angesprochen
haben - durch eine Vereinfachung der steuerlichen Behandlung von Bewirtungs-, Hotel- und Mietwagenbelegen! Das alles ist im Moment fürchterlich bürokratisch.
Ich weiß das. Ermöglichen Sie bessere Ausbildungsmöglichkeiten für Spezialisten im Bereich der Geschäftsreisen und professionalisieren Sie dieses Arbeitsplatzpotenzial! Denn auch hier ist der Tourismus eine
Jobmaschine. Weitere Anregungen, Herr Minister, können Sie unserem Antrag entnehmen.
Mein zweiter Punkt betrifft das Defizit beim Hauptstadtmarketing. Im gesamten Bericht findet sich kein
Wort dazu.
({5})
Ich fordere: Berlin muss als deutsche Hauptstadt touristisch endlich in der ersten Liga spielen,
({6})
genauso wie Rom, London, Paris oder auch New York,
obwohl Letzteres nicht Hauptstadt ist.
({7})
Die Bundesregierung aber sagt: Das sollen andere machen, zum Beispiel die Berlin Tourismus Marketing
GmbH, bei der wir gestern gewesen sind und die ihre
Arbeit im Übrigen hervorragend macht. Aber Berlin ist
fast pleite und hat kein Geld. Zu sagen: „Andere sollen
die Arbeit machen“ reicht nicht. Was Berlin fehlt, ist ein
Netzwerk von Land, Bund und Tourismuswirtschaft.
({8})
Dass eine solche Symbiose funktioniert, zeigt das
Beispiel Hamburg. Ich will mich hier nicht dem Verdacht aussetzen, meine hanseatische Eitelkeit zu befriedigen, aber der Erfolg spricht für sich. Dieses Jahr wird
in Hamburg die Zahl der Besucher auf 5 Millionen steigen. Hamburg hat als einzige Region in Deutschland mit
6 Prozent einen starken Zuwachs, während die Zahlen
für Gesamtdeutschland um 4 Prozent zurückgegangen
sind. Das muss doch Gründe haben. Es wird auf die
Musicals verwiesen, aber das Entscheidende ist das so
genannte One-Stop-Shopping, das heißt: Alles aus einer
Hand. So wird die Hamburger Tourismuszentrale von
den wichtigsten Interessenvertretern der Stadt mitgestaltet. Die Wirtschaftsbehörde ist eng mit der Tourismuszentrale verbunden, aber bevormundet sie nicht. Was
wichtig ist: Wo Hamburg draufsteht, ist auch Hamburg
drin. Hamburg wird als Marke verkauft. Genauso brauchen wir ein Label „Hauptstadt Berlin“
({9})
und eine Schnittstelle zwischen dem Land und dem
Bund, mit der dieses Hauptstadtmarketing unterstützt
werden kann. Das heißt nicht, dass wir unendlich viel
Geld dort hineinstecken wollen. Nein, wir müssen einfach kreativer sein und die Potenziale nutzen. Wir haben
die DZT, die das intensiver machen könnte, wir haben
deutsche Botschaften im Ausland, wir haben Auslandshandelskammern, wir haben die Goethe-Institute und die
politischen Stiftungen.
({10})
Hier stärker zu kooperieren und Berlin stärker als Hauptstadt zu vermarkten ist eine ganz wichtige Sache,
({11})
gerade jetzt, wo die EU-Osterweiterung Berlin große
Chancen bietet, sich stärker als das Zentrum in Mitteleuropa zu profilieren.
Das dritte Beispiel ist die Ostseekooperation. Auch
hier verliert sich die Bundesregierung in Ankündigungen. Es gebe keine einheitliche Linie, kein einheitliches
Image, beklagte sie. Wird sie jedoch aktiv? - Nein.
({12})
Um in der Ostseepolitik Profil zu zeigen, muss auch
in dieser Frage eine Zusammenarbeit der Anrainerstaaten notwendig werden. Es gilt auch hier, die Ostsee als
Marke zu verkaufen. In Brüssel gibt es den so genannten
Club Méditerranée. In ihm sind all diejenigen vertreten,
die ein Interesse am Mittelmeer und an dessen Vermarktung haben. Deutschland liegt aber nicht am Mittelmeer,
sondern an der Ostsee.
({13})
- An der Nordsee, aber auch an der Ostsee. Ich rede jetzt
über die Ostsee.
Schaffen wir doch einen Club Mare Balticum, zum
Beispiel unter Einbindung der Russen! Damit hätten wir
ein geeignetes Instrument, um europäischen Belangen
mehr Aufmerksamkeit zu sichern.
({14})
Tourismus darf, wie wir wissen, nicht nur auf Europa
beschränkt sein. Auch die Entwicklungsländer sind ein
lohnendes Ziel. In diesem Zusammenhang müssen aber
auch Themen wie Ausbeutung, soziokulturelle und ökologische Beeinträchtigung, mangelnde Sicherheit für
Touristen und - das ist besonders tragisch - die sexuelle
Ausbeutung von Kindern berücksichtigt werden. An dieser Stelle ist der Bericht der Bundesregierung sehr ausführlich.
Wir unterstützen wirkungsvolle Maßnahmen zum
Schutz von Kindern. Bei dieser Form der Ausbeutung
handelt es sich nicht um Kavaliersdelikte. Es sind vielmehr Straftatbestände, die auch in der Bundesrepublik
konsequent verfolgt werden müssen.
Ansonsten gilt: Internationaler Tourismus kann nur
funktionieren, wenn er nachhaltig und langfristig ist,
wenn die lokalen Wirtschaftssysteme integriert werden
und die Bevölkerung vor Ort in die Planung und Realisierung von Projekten einbezogen wird.
Kollege Klimke, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich darf
das Bild des Reisekatalogs, das ich zu Beginn meiner
Rede erwähnt habe, noch einmal aufgreifen. Der Bericht
enthält viele Scheinangebote, ein paar Ankündigungen,
Lockangebote und vielleicht einige Ausrufungszeichen.
Aber der Tourismus als Jobmaschine ist viel zu wenig
berücksichtigt worden.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile der Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Polemik und Schlechtreden helfen der Branche
nicht.
({0})
Was Sie heute Morgen betreiben, wird keinen Boom und
Aufwuchs bringen. Die Menschen werden vielmehr sagen: Mein Gott, warum soll ich eigentlich in Deutschland Urlaub machen?
Die Bundesregierung hat einen hervorragenden Bericht vorgelegt, in dem hervorragende Zukunftsperspektiven dargestellt werden. Ich möchte allen Menschen, die
uns heute zuhören, Mut machen: Urlaub in Deutschland
lohnt sich!
({1})
Ich möchte zu einem speziellen Bereich des Tourismus Stellung nehmen, und zwar zum Wassertourismus.
Wassersport und Tourismus auf unseren Wasserstraßen
haben seit 1990 stark an Bedeutung gewonnen. Auf
diese Entwicklung hat die Bundesregierung umgehend
reagiert und in ihren tourismuspolitischen Berichten dem
Wassertourismus einen eigenen Punkt gewidmet.
Es gibt in Deutschland ein Wasserwandernetz von
circa 10 000 Kilometern Länge. Damit verfügen wir
über eines der attraktivsten Wassersportgebiete innerhalb Europas.
({2})
Neben den Bundeswasserstraßen gibt es die Landesgewässer und viele Fließgewässer, die nur von Kanus und
Ruderbooten befahrbar sind. Schätzungen zufolge gibt
es in Deutschland über 6,3 Millionen Wassersportler.
Etwa 17 Millionen Bundesbürger verbringen ihre Freizeit oder ihren Urlaub in, an oder auf dem Wasser.
({3})
- Ja, auch unter Wasser. Manchmal würde ich auch Sie
ganz gern einmal unter Wasser sehen, Herr Hinsken.
({4})
Die Wassersportwirtschaft nimmt mit einem Umsatz
von 1,7 Milliarden Euro eine gute Position ein. Die Zahlen sprechen für sich. Wir haben erkannt, dass sich dieser Wirtschaftszweig zu entwickeln lohnt und dass in
diesem Bereich neue Arbeitsplätze geschaffen werden
können.
({5})
Die rot-grüne Bundesregierung wird dieses touristische Marktsegment weiter fördern. Für Bau, Betrieb und
Unterhaltung der Wasserstraßen wenden wir jährlich
über 1 Milliarde Euro auf. In der Erschließung historischer und romantischer Kanäle liegen weitere Möglichkeiten. Ein gutes Beispiel dafür ist der Finowkanal nordöstlich von Berlin, der gemeinsam mit dem Land
Brandenburg für den Wassersport erschlossen wird.
Die zunehmende Nutzung unserer Wasserstraßen erfordert allerdings auch angemessene Regelungen. Ohne
Regeln geht es nicht; zu viele allderdings behindern die
wirtschaftliche Entwicklung. An dieser Stelle möchte
ich als Beispiel dafür, dass wir bereits Regelungen verändert bzw. gestrichen haben, den so genannten Charterschein nennen, den die Bundesregierung im Jahr 2000
- zunächst als Feldversuch - eingeführt hat. Der Bundesverkehrsminister hat im April dieses Jahres den
ersten Ergebnisbericht vorgelegt. Aus diesem ist eine
Verordnung hervorgegangen, die gestern im Verkehrsausschuss beschlossen wurde. Es steht fest, dass sich der
Charterschein bewährt hat.
({6})
Somit ist die Befristung aufgehoben und die Ausdehnung auf geeignete, weitere Wasserstraßen im Osten unseres Landes vorgenommen worden. Auch an den bisherigen Regelungen betreffend die Personenzahl und die
Länge eines Bootes haben wir Korrekturen vorgenommen. Dies ist ein Zeichen gerade für den Osten unseres
Landes, wo es sehr viele Wasserstraßen gibt.
({7})
Die Erfordernisse der Sicherheit werden dabei weiter beachtet. Wir haben die entsprechenden Regelungen erweitert: Im Bereich der Schleusen und des Begegnungsverkehrs gelten neue Kriterien.
Wie vielfältig die Urlaubsform „Wassertourismus“
ist, verdeutlicht die Grundlagenuntersuchung zum Wassertourismus, die das Wirtschafts- und Arbeitsministerium in Auftrag gegeben hat und deren Ergebnisse jetzt
vorliegen. Neben dem Wassertourismus im engeren
Sinne, zu dem Wasserwandern, Kanutourismus, Segeln,
Motorbootfahren, Surfen, Wasserski, Tauchen sowie Angeln und Fischen gehören, gibt es den Wassertourismus
im weiteren Sinne, der alle Aktivitäten am Wasser wie
beispielsweise Strand- und Campingtourismus sowie
Ruderbootverleihe umfasst. Maritime Großveranstaltungen, Werftbesichtigungen und Schifffahrtsmuseen werden in der Untersuchung als „mit dem Wassertourismus
verbundene Segmente“ bezeichnet. Gerade die Großveranstaltungen, wie wir sie von der Küste her kennen, haben Magnetwirkung. Der ganze Bereich der Fahrgastschifffahrt, von der Kreuzfahrtschifffahrt über die
Flussschifffahrt bis hin zu der Fährschifffahrt, ist ein
sehr wichtiges Segment für Nord- und Ostsee, Herr Kollege Klimke. Schon im Jahr 1998 gab es tourismuspolitische Kontakte betreffend den Ostseeraum. 1999 gab es
die ersten Modellprojekte. Sie sollten fairerweise zugeben, dass auch das im tourismuspolitischen Bericht enthalten ist.
({8})
Lassen Sie mich die Forderungen zum Wassertourismus nennen, die sich aus dem Bericht ergeben. Landesweite Entwicklungskonzepte gibt es leider nicht in allen,
sondern nur in einigen Bundesländern. Wir haben uns
auch mit Regelwerken auseinander zu setzen, die keinem ausländischen Gast verständlich zu machen sind. So
ist es einem ausländischen Gast kaum zu vermitteln,
dass sein Angelschein nur für die Gewässer eines Bundeslandes gilt und dass er einen Gesetzesverstoß begeht,
wenn er die Grenze zu einem anderen Bundesland überschreitet und dort angelt.
({9})
Nach der öffentlichen Anhörung werden wir an diesem
Wochenende in Cuxhaven eine Veranstaltung mit ausländischen Gästen durchführen; denn bei diesem Thema
können wir von England, Irland, den Niederlanden und
Frankreich lernen.
Ich möchte gerne noch ein paar abschließende Sätze
sagen. Verkehrspolitik und Tourismuspolitik - Herr
Hinsken hat in seiner Art schon darauf hingewiesen haben sehr viel miteinander zu tun.
Erstens. Wir sollten ganz deutlich darstellen, dass die
Sicherheit der Busse auch nach den Unglücken, mit denen wir leider leben müssen, weiterhin große Priorität
hat. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den Bundesländern gehandelt. Dort, wo es notwendig ist, werden
wir die entsprechenden Regelungen ändern. Die Sicherheit unserer Gäste in den Bussen zu gewährleisten bleibt
weiterhin ein vorrangiges Ziel.
Zweitens. Es gibt zum ersten Mal einen nationalen
Radwegeplan. Für seine konsequente Umsetzung haben
wir im Haushalt des Bundesverkehrsministeriums jeweils 2 Millionen Euro über drei Jahre eingestellt. Wir
haben auch eine personelle Verstärkung gefordert. Herr
Hinsken, Verkehr und Tourismus bedeuten nicht ausschließlich Auto und Tourismus. Es gibt auch viele andere Verkehrsmittel.
({10})
Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass unsere Gäste
sowie unsere Bürgerinnen und Bürger das Verkehrsmittel nutzen können, das sie gerne nutzen möchten.
Danke schön.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Wilhelm Josef
Sebastian, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der Bericht der Bundesregierung und die heutige Debatte zeigen uns die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus in unserem Land. Aber es ist auch zu konstatieren, dass sich Dinge verändert haben, nicht nur durch
den 11. September 2001, sondern auch durch die wirtschaftliche Lage in unserem Land. Aber es heißt ja so
schön: Jede Krise bietet auch eine Chance. - Viele Menschen in unserem Land haben nun entdeckt, wie schön
Deutschland wieder ist oder auch immer gewesen ist.
Urlaub im eigenen Land hat große Vorzüge.
Als ich die Ausführungen von Frau Irber eben gehört
habe, fiel mir ein Lied ein, das vor Jahren ein großer
Schlager war - ich singe es Ihnen einmal vor -:
({0})
„Wann wirds mal wieder richtig Sommer?“
({1})
Eine Zeile hieß: „Denn schuld daran ist nur die SPD!“
({2})
Als ich Ihnen eben gelauscht habe, habe ich gedacht,
Sie hätten sagen wollen, der schöne Sommer dieses Jahres sei allein der SPD zu verdanken.
({3})
Nein, so ist das wirklich nicht.
Der großartige Sommer, den wir gemeinsam erlebt
haben, hat vielen Menschen einfach Anlass gegeben, zu
Hause zu bleiben oder Urlaub im eigenen Land zu machen. Nordsee, Ostsee, Bayerischer Wald, Eifel, Erzgebirge, unzählige Urlaubsziele in unserem Land haben
besonderen Reiz. Die Bedürfnisse der Menschen sind
natürlich anders geworden. Viele Junge fahren immer
noch in den Süden, wollen da sein, wo etwas los ist.
Aber Ältere - dazu zähle ich mich auch schon ({4})
haben mehr das Bedürfnis, geruhsame Tage zu erleben,
gut zu essen, guten Wein zu trinken. Das ist in unserem
Land ganz hervorragend möglich.
Wir reden seit einigen Wochen über die Strukturveränderungen im Gesundheitswesen. Dabei spielt Tourismus für mich auch eine Rolle;
({5})
denn in unserem Land gibt es hervorragende Heilbäder
und Kurorte, die die Menschen dazu einladen, etwas für
ihre Gesundheit zu tun. Wir wissen, dass wir zukünftig
selbst sehr viel mehr Vorsorge für unsere Gesundheit
treffen müssen und auch mit höheren Eigenanteilen
rechnen müssen.
Das verändert natürlich auch die Landschaft der Kurorte und Heilbäder. Die Heilbäder allein sind in der
Kürze der Zeit nicht in der Lage, die sich verändernden
Anforderungen zu erfüllen. Hinzu kommt - Ernst
Hinsken hat es angesprochen -, dass es durch die EUErweiterung einen stärkeren Wettbewerb gibt. Es muss
dafür Sorge getragen werden, dass er unter gleichen Bedingungen stattfindet,
({6})
dass es nicht zu Verschiebungen kommt,
({7})
dass nicht in anderen Ländern, in denen andere Standards gelten, Leistungen mit unseren Mitteln gleich honoriert werden.
({8})
Ein wichtiger Bestandteil des Tourismus - darauf hat
eben schon die Kollegin Faße hingewiesen - ist der
Wassertourismus in Deutschland. Ich will kurz darauf
eingehen, weil wir bereits im Mai einen Antrag zum
Wassertourismus in Deutschland eingebracht haben.
Heute steht der Antrag der Kollegen der FDP auf der Tagesordnung. Das Thema ist zeitgemäß. Nicht umsonst
steht das Motto „Faszination Wasser“ im kommenden
Jahr im Zentrum der Aktivitäten der Tourismusverbände. Es ist unser Anliegen, auf die Bedeutung dieses
äußerst breit gefächerten touristischen Segments aufmerksam zu machen, um den Wassertourismus in
Deutschland zu einem noch höheren Stellenwert zu verhelfen.
Wenn man bedenkt, dass es in Europa 40 000 Kilometer Wasserwege gibt, davon allein 10 000 Kilometer in
Deutschland, dann erkennt man: Das ist eine große
Chance. Aber es muss zu mehr Gemeinsamkeiten kommen. Vor nicht allzu langer Zeit hat die zuständige
Bund-Länder-Kommission eine einheitliche Beschilderung gefordert. Minister Clement hat heute Morgen gesagt, dass man auf dem Weg ist, die so genannte Gelbe
Welle einzuführen. Hier ist gesagt worden, dass für eine
einheitliche Beschilderung in der Bundesrepublik
340 000 Euro notwendig sind. Das ist, gemessen an den
Gesamtausgaben, ein minimaler Betrag. Jeder in den
Tourismus investierte Euro bringt das Doppelte und
Dreifache an Wirtschaftswachstum mit sich. Es ist immer ein gut angelegter Euro - bei aller Knappheit, die
wir haben.
Wassersport lässt sich vielfältig beschreiben. Eben ist
gesagt worden, mit welchen Dingen er zu tun hat. Es
geht aber nicht nur um die, die den Wassersport ausüben,
sondern auch um die, die sozusagen begleitend tätig
sind. Die Gastronomie und viele andere, beginnend vom
Bootsbauer bis hin zum Reiseveranstalter, partizipieren
daran.
Ich kann ebenso erfreut feststellen, dass sich der
Deutsche Industrie- und Handelstag dieser Dinge angenommen hat. Er fordert eine moderne Infrastruktur am
Wasser, kreative Wassersportangebote und vor allen
Dingen ein professionelles Marketing. Diese Dinge müssen wir gemeinsam verbessern; denn - man schaue auf
unsere Nachbarn! - die Konkurrenz ist groß.
Ich komme zum Schluss. Wir sollten nicht nur reden,
sondern auch handeln. Gerade die Regierung hat in der
Vergangenheit oftmals zu wenig gehandelt.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile der Kollegin Bettina Hagedorn, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich beschäftige mich hier mit dem Antrag der CDU/CSU zur Ferienregelung. Diese Regelung
- sie ist von der Kultusministerkonferenz schon 1999 beschlossen worden - hat uns in diesem Jahr in den Urlaubsregionen in Deutschland erstmals zu schaffen gemacht. Im Antrag der CDU/CSU wird ein Problem
beschrieben. Ich unterstreiche gerne: Die CDU/CSU
wird hier, in diesem Haus, breite Unterstützung finden.
({0})
Das ist auch kein Wunder, Herr Hinsken, weil die in diesem Antrag enthaltene Problembeschreibung weitestgehend abgeschrieben worden ist. Die SPD-Fraktion im
Bundestag hat anlässlich der ITB, die in diesem Jahr im
März in Berlin stattgefunden hat, das Thema Ferienregelung auf die Tagesordnung gesetzt.
({1})
Sie hat dieses Problem im Verbund mit den Tourismusverbänden in Deutschland lange vor Ihnen behandelt.
Außerdem hat sie ihre engen Kontakte zu den Ländern
- es war ein Kultusministerbeschluss; also waren die
Länder diejenigen, die erfolgreich handeln konnten - genutzt, um etwas voranzubringen.
({2})
- Sehr geehrter Herr Hinsken, wenn Sie „Wir wollen das
auch!“ sagen, dann darf ich Sie daran erinnern, dass ich
schon am 4. Juni, als wir dieses Thema im Ausschuss für
Tourismus behandelt haben, an Sie appelliert habe, sich
in den verbleibenden drei Wochen bei den Ministerpräsidenten der Länder des Südens - das Problem liegt bei
Bayern und Baden-Württemberg - dafür einzusetzen,
dass sie sich gegen die Kultusminister durchsetzen und
den Beschluss der Wirtschaftsministerkonferenz vom
14./15. Mai dieses Jahres umsetzen.
({3})
Das haben Sie offenbar entweder versäumt oder Sie waren bei den Ministerpräsidenten, denen Sie politisch
nahe stehen, nicht erfolgreich.
({4})
Am 26. Juni hat die Ministerpräsidentenkonferenz
letzten Endes einen Beschluss gefasst, der eindeutig in
die richtige Richtung geht, auch wenn er keine Maximallösung ist. Die Forderung der Wirtschaftsministerkonferenz ist mit der des Antrags der CDU/CSU-Fraktion absolut identisch. Leider ist es so, dass Sie sich aufgrund
der mangelnden Unterstützung der CDU- oder CSUregierten Länder nicht durchsetzen konnten.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken?
Ja.
Verehrte Frau Kollegin Hagedorn, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich insbesondere der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber nachhaltig für
eine neue Ferienregelung verwandt hat? Sind Sie zudem
bereit, uns bei einem neuen Anlauf, die Ferienregelung
auf mindestens 90 Tage auszuweiten, zu unterstützen?
({0})
Herr Hinsken, die Federführung in der Wirtschaftsministerkonferenz - ihr lag ein Antrag vor, der mit dem,
den Ihre Fraktion hier vorgelegt hat, identisch ist - hatte
der schleswig-holsteinische Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr, Bernd Rohwer. Die Wirtschaftsministerkonferenz ist dieser Vorlage auch gefolgt, die Ministerpräsidentenkonferenz leider eben nicht. Ich habe hier
das Ergebnisprotokoll der Besprechung der Regierungschefs der Länder am 26. Juni 2003 in Berlin. Ich möchte
Sie darauf aufmerksam machen, dass es dort heißt:
Die Regierungschefs der Länder nehmen den modifizierten Vorschlag der Kultusministerkonferenz
vom 12. Juni 2003 zur Regelung der Sommerferientermine zustimmend zur Kenntnis.
Protokollerklärung der Länder Schleswig-Holstein
und Mecklenburg-Vorpommern:
- ich muss an dieser Stelle nicht erwähnen, von wem
diese Länder regiert werden ({0})
Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern
unterstützen die von der Wirtschaftsministerkonferenz mit Beschluss vom 14./15.05.2003 vorgeschlagene Neuregelung der Sommerferientermine.
Sie sehen, hierfür gibt es eine breite Koalition.
({1})
- Es wäre schön, wenn ich jetzt weitersprechen dürfte.
Sie dürfen.
Ungeachtet der Tatsache, dass Frau Irber schon zu
Recht darauf hingewiesen hat, dass es ausgesprochen
positive Anzeichen für eine Verbesserung der Situation
bei den Übernachtungszahlen gibt - das Sommerhoch
„Michaela“ hat sicherlich ein Stück weit dazu beigetragen -, muss, um die ganze Wahrheit darzustellen, selbstverständlich auch gesagt werden, dass die Sommerferienregelung, die 1999 beschlossen worden ist,
negative Auswirkungen gehabt hat, die wir dieses Jahr
zum ersten Mal gespürt haben. Die Zahlen von 2003 hätten nämlich noch besser sein können. Das soll nicht unerwähnt bleiben.
Auf der Basis der Zahlen von Schleswig-Holstein
- die bundesweiten Zahlen liegen mir noch nicht vor kann ich feststellen, dass es in den Monaten von Januar
bis Juli ein deutliches Minus von 5 bis 8 Prozent an
Übernachtungen in Pensionen, Ferienwohnungen und
Jugendherbergen gegeben hat. Man könnte auch andere
Einrichtungen betrachten; ich habe aber diese Unterbringungsmöglichkeiten zum Beleg herangezogen, weil sie
unter anderem für Familien besonders interessant sind.
Das Minus bei den Übernachtungszahlen in diesem Zeitraum hängt natürlich mit der Ferienregelung zusammen,
weil sich ja erst Ende Juli 41 Millionen Einwohner Baden-Württembergs, Bayerns und Nordrhein-Westfalens
fast gleichzeitig auf den Weg in die Ferien begeben
konnten. Das hat zu dramatischen Engpässen in unseren
Ferienregionen, auch in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, geführt und stellte natürlich auch
ein Ärgernis für die betroffenen Urlauberinnen und Urlauber dar. Ich würde mich freuen, wenn die Länderchefs, die in den südlichen Ländern Verantwortung tragen, einen Beitrag zu einer weiteren Optimierung der
Sommerferienregelung leisten würden.
({0})
Tatsache ist aber auch, dass das Supersommerwetter im
August die Gesamtstatistik noch einmal deutlich verbessern wird. Bei den Übernachtungsformen, die ich gerade
angesprochen habe, verzeichnen wir in Schleswig-Holstein für diesen Zeitraum teilweise ein Plus von bis zu
18 Prozent.
Zu Ihrem Antrag ist schließlich noch zu sagen: Das
Urheberrecht, die Probleme richtig erkannt zu haben, die
Sie in Ihrem Antrag darstellen, können Sie nicht für sich
beanspruchen
({1})
und die Lösungsvorschläge, die Sie dazu machen, sind
völlig kontraproduktiv. Wir können unter anderem deshalb Ihrem Antrag nicht zustimmen, weil darin gefordert
wird, dass sich der Bund in eine Sache einmischt, für die
die Zuständigkeit allein bei den Ländern liegt. Meine
Damen und Herren von der CDU/CSU, wir haben gerade vor einer Woche gemeinsam eine Kommission ins
Leben gerufen, die die Zuständigkeiten zwischen Bund
und Ländern parteiübergreifend und im Dialog zwischen
Bund und Ländern neu definieren soll. Da können wir ja
gemeinsam über diese Dinge diskutieren. Aber sich jetzt
von Bundesseite, wie Sie es wünschen, in eine Länderangelegenheit einzumischen, ist sicherlich nicht der richtige Weg. Ein solches Vorgehen würde von den Ländern
mit Sicherheit auch nicht begrüßt werden.
Darüber hinaus regen Sie an, dass Vertreter der Tourismuswirtschaft in Zukunft bei Beschlüssen der Kultusminister ein Wörtchen mitreden sollen. Damit würden
wir ein völlig systemfremdes Element einführen.
({2})
Das ist auch nicht nötig, weil die Ministerpräsidentenkonferenz auf Vorschlag von Frau Simonis bereits am
27. März dieses Jahres beschlossen hat, dass die Kultusministerkonferenz nur im Einvernehmen mit der Wirtschaftsministerkonferenz eine neue Beschlusslage herbeiführen soll.
({3})
- Das ist richtig; das ist gut so. Dabei handelte es sich
aber um eine Initiative von Frau Simonis und nicht um
eine, die von Ihrer Seite ausgegangen ist.
({4})
Vor diesem Hintergrund - ich muss zum Schluss
kommen - möchte ich noch eines sagen: Sie werden mit
Sicherheit, wenn es um eine weitere Optimierung geht,
die SPD-Fraktion, die Tourismusverbände und insbesondere auch die Länder Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern an Ihrer Seite haben.
({5})
- Es wäre schön, wenn Sie mich ausreden lassen würden. - Der Kompromiss, den jetzt die Ministerpräsidenten erreicht haben, wird ja für eine deutliche Verbesserung der Terminierung der Ferienzeiten sorgen. Das
bedeutet bei 1,05 Millionen Übernachtungen und einem
Durchschnittspreis von 69 Euro pro Ferientag ein Plus
für die Tourismuswirtschaft von 385 Millionen Euro,
das ab 2005, wenn die neue Ferienregelung greift, zu erzielen sein wird.
Es wäre allerdings viel besser gewesen, wenn sich die
Wirtschaftsminister der Länder Schleswig-Holstein und
Mecklenburg-Vorpommern durchgesetzt hätten. Dann
wäre es nämlich zu einer Ferienregelung gekommen, die
in den nächsten Jahren bis 2010 im Durchschnitt für sieben weitere Ferientage gesorgt hätte. Das hätte zu einem
weiteren Plus von 420 Millionen Euro pro Jahr aufseiten
der Tourismuswirtschaft geführt.
Sie sehen: Wir werden mitarbeiten, die von Herrn
Burgbacher hier genannten hausgemachten Hemmnisse,
die es in Deutschland gibt, zu beseitigen.
({6})
Der von Ihnen so gerne erzeugte Eindruck, dass für diese
Hemmnisse immer die SPD-geführte Bundesregierung
zuständig ist,
({7})
ist von mir an dieser Stelle widerlegt worden. Wie so häufig gilt: Der Knüppel liegt bei den Ländern des Südens.
({8})
Es wäre schön, wenn Sie Ihren Einfluss geltend machen
würden, an dieser Stelle für Bewegung zu sorgen.
Danke.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Klaus Brähmig, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung und dankt ausdrücklich den Mitarbeitern des Tourismusreferats im Superministerium für Wirtschaft und Arbeit.
Dieser Bericht ist eine wichtige Grundlage für die Diskussion über die richtigen Strategien, die notwendig sind,
Deutschland als Tourismusstandort zu stärken. Bisher
wird unser Land in der Öffentlichkeit meist nur als Industriestandort wahrgenommen. Diese einseitige Sichtweise
ist aber angesichts der beeindruckenden Umsatz- und Beschäftigungszahlen im Tourismusbereich nicht gerechtfertigt.
({0})
Die Kollegen, die vor mir gesprochen haben, haben darauf schon hingewiesen. So steht Deutschland im internationalen Reiseverkehr bei den Gästeankünften immerhin auf Platz 10. Wie wir diese Position halten und
sogar verbessern können ist Inhalt der heutigen Debatte.
Grundsätzlich mangelt es dem vorgelegten Bericht
aber an Strategien für die Zukunft; er ist fast ausschließlich rückwärts gewandt. Der Teil, der die Ziele und die
Instrumente der Tourismuspolitik der Bundesregierung
darstellen soll, ist mit nicht einmal einer halben Seite
nun wirklich sehr knapp, wenig wegweisend und nicht
sehr konkret.
({1})
Zusätzlich werden ernsthafte Probleme der Tourismusbranche wie etwa die Wettbewerbsverzerrung durch
unterschiedliche Mehrwertsteuersätze im Gastgewerbe
innerhalb der EU, die Ökosteuer oder die Probleme bei
der Nutzung von Urheberrechten totgeschwiegen. Die
CDU/CSU-Fraktion schlägt deshalb grundsätzlich die
jährliche Vorlage des Tourismusberichts vor, der neben einer reinen Marktbeschreibung auch Zukunftsperspektiven und Handlungsempfehlungen aufzeigen sollte.
Ich nenne zum Beispiel die Probleme bezüglich der Demographie, Entwicklung der Kaufkraft, Reiseverhalten,
neue Trends und anderes mehr.
In Verbindung mit fundiertem und umfassendem Zahlenmaterial - ich nenne zum Beispiel das OSGV-Tourismusbarometer - könnte der Bericht als grundlegende
Planungshilfe für die gesamte Branche dienen. Die Bundesregierung widmet sich auch anderen Bereichen mit
jährlichen Berichten. So gibt es den Waldzustandsbericht, den Migrationsbericht, den Agrarbericht und einen
Strahlenbelastungsbericht. Warum soll es nicht einen
jährlichen Tourismusbericht geben? Leider wird dem
Tourismus vonseiten der Bundesregierung nicht die Bedeutung beigemessen, die ihm eigentlich zukommen
müsste.
Sehr geehrter Herr Minister Clement, Sie haben in Ihrer Rede das Ruhrgebiet erwähnt. Ich bin der festen
Überzeugung: Gerade Rhein und Ruhr sind touristisch
noch sehr unterentwickelt. Dort gibt es riesige Potenziale. Wie in den letzten 20 Jahren der Strukturwandel
gerade im Bereich von Tourismus und Dienstleistung
vollzogen wurde, ist schon sehr respektabel.
Im Rahmen der engen deutsch-französischen Zusammenarbeit ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass es in Frankreich wie in vielen anderen Ländern einen Staatssekretär
für Tourismus gibt. Da der Tourismus in Deutschland
etwa denselben Anteil am Bruttoinlandsprodukt wie in
Frankreich hat, bleiben wir bei unserer Forderung, dass
es auch in Ihrem Hause einen Staatssekretär geben
sollte, der sich hauptsächlich dem Tourismus widmet.
({2})
Mit der Koordination tourismuspolitischer Fragestellungen in den Bundesressorts und der Verbesserung der
Kommunikation mit den zuständigen Ressorts in den
Bundesländern dürfte ein Staatssekretär ausreichend
ausgelastet sein.
In diesem Zusammenhang muss festgestellt werden,
dass auch das Fachreferat Tourismus im Bundeswirtschaftsministerium logistisch und personell zu schlecht
aufgestellt ist. Durch die Zusammenlegung der Ressorts
Wirtschaft und Arbeit ist die Bedeutung dieses Referats
noch weiter geschrumpft. Aus diesem Grund fordert die
CDU/CSU eine deutliche Stärkung der Stellung des Tourismusreferats innerhalb dieses Bundesministeriums.
({3})
Eine der volkswirtschaftlich wichtigsten Branchen muss
auch von einem schlagkräftigen Team betreut werden.
Herr Clement, Sie empfinden zwar durchaus Sympathie für den Tourismus, doch weder Sie noch Ihr Vorgänger haben sich mehr als einmal im Jahr im zuständigen
Ausschuss blicken lassen. Diese Aussage sollten Sie
auch als Einladung auffassen.
Wie wichtig es für die Tourismusbranche wäre, dass
beim Bund eine zentrale Anlaufstelle zur Koordinierung
der Tourismuspolitik installiert würde, zeigt sich am
Beispiel der Sommerferienregelung. Ich habe gestern
den Vorschlag gemacht, eine weitere Anhörung der betroffenen Branche zu diesem Thema durchzuführen und
gemeinsam mit den Ländern nach weiteren Lösungen zu
suchen. Ich lade alle Kolleginnen und Kollegen dazu ein.
Das Statistische Bundesamt meldet für den Juli 2003 gegenüber dem Vorjahresmonat - da gab es noch keinen Einfluss des Hochwassers; dieser kam erst im August - einen
deutlichen Rückgang bei den Übernachtungszahlen, und
zwar um insgesamt 4 Prozent auf - in Euro ausgedrückt 40 Millionen Euro. Diese Entwicklung beruht ausschließlich auf der sinkenden Zahl von Übernachtungen inländischer Gäste. Zu Recht hat der Deutsche Hotel- und
Gaststättenverband darauf hingewiesen, dass das unter
anderem die katastrophalen Folgen der neuen Ferienregelung sind. Wegen der Verkürzung des Sommerferienzeitraums auf 75 Tage durch die Kultusministerkonferenz konnten in der ersten Hälfte des Monats Juli
wesentlich weniger Bundesbürger in Urlaub fahren.
({4})
Ein Teil der Betten hat daher leer gestanden. Im August
gab es dank des Jahrhundertsommers einen großen Ansturm auf deutsche Reiseziele: Die Zimmer hätten doppelt oder dreifach vergeben werden können.
Mit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
Juni 2003 zu einer Neufeststellung der Ferienregelung
von 2005 bis 2010 sind die Probleme aus Sicht der
CDU/CSU und der Tourismuswirtschaft noch immer
nicht befriedigend gelöst. Zu dem von der CDU/CSU
geforderten Gesamtferienzeitraum von 90 Tagen gibt es
keine Alternative.
({5})
Die Bundesregierung muss koordinierend tätig werden,
wenn auch - das ist uns klar - in vielen Fragen die Zuständigkeit bei den Bundesländern liegt.
In der Tourismuspolitik beobachten wir seit einigen
Jahren ein Phänomen, das wir auch aus anderen Politikbereichen kennen: Hinweise auf sich abzeichnende Probleme und Meldungen über eine negative Entwicklung
quittiert die rot-grüne Bundesregierung mit der Argumentation, die Opposition rede unser Land schlecht und
betreibe Panikmache.
({6})
Tatsache ist aber, dass Hotels, Gaststätten, Reisebüros
und Reiseveranstalter gegenwärtig unter der allgemeinen
Konsumzurückhaltung, der weit verbreiteten Angst
um die Arbeitsplätze sowie steigenden Steuern und Abgaben leiden.
({7})
Die kurzatmigen Reformversuche der Bundesregierung,
die ohne übergreifendes Konzept eine Notfalllösung
nach der anderen produziert, verunsichern die Bevölkerung zusätzlich. Die Folgen: Es wird weniger gereist und
viel weniger ausgegeben.
({8})
Die nur leicht rückgängigen Übernachtungszahlen
zeigen aber noch lange nicht den dramatischen Ernst der
Lage.
({9})
Die Umsatzeinbrüche führen zu Entlassungen, Betriebsauflösungen in der Tourismuswirtschaft, im Einzelhandel und auch im Handwerk sowie im Dienstleistungssektor.
({10})
Im Moment steht pro Tag 1 Million Betten leer, wie der
DEHOGA neulich anmerkte. Es geht aber nicht nur darum, dass die Betten belegt werden, sondern wichtig ist
auch, von wem und zu welchem Preis sie belegt werden.
Das gilt nicht nur für das Hotel oder die Pension, sondern für die gesamten Dienstleistungs- und Einzelhandelsunternehmen in einer Stadt oder Region. So sind
etwa ausländische Gäste, Geschäftsreisende oder Messeund Kongressbesucher besonders ausgabefreudig und
haben mehr Kaufkraft als andere.
({11})
Meine Damen und Herren, um diese Potenziale wirksam auszuschöpfen, gibt es die Deutsche Zentrale für
Tourismus, die - mit Unterstützung des Bundes - im
Ausland für Reisen nach Deutschland wirbt. Ich möchte
an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, sehr geehrte Frau Kollegin Irber, dass falsche Sachverhalte auch
dann nicht richtig werden, wenn man sie ständig wiederholt.
({12})
Während wichtige Konkurrenzländer ihre öffentlichen Ausgaben für touristische Vermarktung massiv erhöhen, bleibt der Mittelansatz im Bundeshaushalt 2004
für die DZT mit einer Erhöhung um 1 Million Euro auf
24,5 Millionen Euro vergleichsweise sehr gering.
({13})
Spanien zum Beispiel investiert in die nationale Tourismuswerbung fast viermal so viel öffentliche Mittel wie
Deutschland, Großbritannien fast dreimal so viel und
selbst das kleine Österreich fast doppelt so viel. Beim
Vergleich der Pro-Kopf-Ausgaben für die öffentliche
Förderung des Auslandsmarketings bildet Deutschland
innerhalb der Europäischen Union sogar mit Abstand
das Schlusslicht.
Den Glauben an die Macht des Marketings hat die
rot-grüne Bundesregierung schon, aber nur dann, wenn
es um die eigenen Interessen geht.
({14})
Für ihre eigene Öffentlichkeitsarbeit will sich die Bundesregierung für 2004 einen satten Zuwachs, von 78 Millionen Euro auf 88 Millionen Euro, genehmigen - Selbstbedienung vom Feinsten.
({15})
In diesem Zusammenhang lehne ich auch einen Subventionsabbau nach Rasenmähermethode, wie im Koch/
Steinbrück-Papier vorgeschlagen, ab.
({16})
Bei den DZT-Mitteln handelt es sich nicht um eine
künstliche Maßnahme zur Lebensverlängerung eines
nicht wettbewerbsfähigen Industriezweiges, sondern um
Investitionen in eine Zukunftsbranche, die vor allem
dem Mittelstand in Deutschland zugute kommen.
({17})
Neben den positiven wirtschaftlichen Effekten ist eine
intensivere Werbung für den Tourismusstandort
Deutschland grundsätzlich auch eine verbesserte Imagewerbung, die Deutschland insgesamt als Wirtschafts-,
Wissenschafts-, Kultur- und Verkehrsstandort sichert
und stärkt.
({18})
Mehr Werbung für den Tourismusstandort Deutschland
ist auch deswegen wichtig, weil der Tourismus eine besonders arbeitsplatzintensive Branche mit Beschäftigungspotenzialen auch für gering qualifizierte Arbeitnehmer ist. Der große Vorteil ist: Diese Arbeitsplätze
sind nicht exportierbar. Produziert werden müssen diese
Dienstleistung und der Service an Ort und Stelle, also
hier in Deutschland.
Sehr geehrter Herr Minister Clement, wenn Sie die
Jobmaschine Tourismus wieder flottmachen wollen,
müssen Sie als Wirtschaftsminister endlich das Steuer
herumreißen. Wir brauchen eine Aufbruchstimmung
sowie klare Signale für mehr Wachstum und Beschäftigung statt eines kleinkarierten Stopfens von Haushaltslöchern ohne übergreifendes Konzept. Die Tourismusbranche wird zu den ersten Gewinnern in unserem Land
gehören, wenn die Verunsicherung der Verbraucher und
die Angst um den Arbeitsplatz von hoffnungsvolleren
Zukunftsaussichten abgelöst werden.
({19})
Meine Damen und Herren, es gibt keine rechte oder
linke Tourismuspolitik, sondern nur eine gute oder
schlechte Politik. Es gibt in unserem Land viel zu tun.
Lassen Sie uns dies gemeinsam anpacken!
({20})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/1303, 15/1329 und 15/1595 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/1799 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 15/1303 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 d, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus, Drucksache 15/1286, zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Schaffung einer familienfreundlichen, verkehrsentlastenden und wirtschaftsfördernden Ferienregelung“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/934
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({0}), Dr. Christian Ruck,
Christa Reichard ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verantwortung für die Sicherung der Welternährung übernehmen - Chancen der grünen
Gentechnik nutzen
- Drucksache 15/1216 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Peter Carstensen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({3})
Herr Präsident! Erst einmal auch von mir nachträglich
herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich habe Ihnen kein Geschenk mitgebracht. Aber ich bin gestern extra zum Friseur gegangen, weil ich Ihnen ordentlich gegenübertreten wollte.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Planungssicherheit ist in der Politik ein hoher Wert. Die Bundesregierung ist von Planungssicherheit weit entfernt.
({1})
Die Halbwertszeit einiger Beschlüsse - ob das in der Sozial-, in der Renten-, aber auch in der Agrarpolitik ist wird immer geringer. Nur in einem Bereich kann man
sich darauf verlassen, dass die Feindbilder gleich bleiben: in der Agrarpolitik.
({2})
Eines der größten Feindbilder der Regierungskoalition ist die grüne Gentechnik. Wer eine Zukunftstechnologie, wie es die Biotechnologie ist, derart ideologisch
und mit Vorurteilen behandelt, wie es die Bundesregierung tut, macht sich doppelt schuldig.
({3})
Zum einen werden Investitionen zurückgehalten und
zum anderen werden Forschungs- und Entwicklungsarbeiten nicht mehr von deutschen Wissenschaftlern und
Studenten an den heimischen Universitäten durchgeführt. Diese wandern vielmehr ins Ausland ab.
Peter H. Carstensen ({4})
Die Bundesregierung wird damit nicht nur ihrer nationalen Verantwortung nicht gerecht, sondern verhält sich,
auch global betrachtet, verantwortungslos.
Die Gentechnik ist eine der Schlüsseltechnologien
der Zukunft und wird helfen, die Welternährung im
21. Jahrhundert zu sichern. Dies ist im Übrigen nicht
nur meine private Einschätzung, sondern auch die Auffassung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen.
({5})
Fatal und makaber an der momentanen Politik sind
zwei Dinge: Zum Ersten werden die Auswirkungen nicht
heute, sondern erst übermorgen sichtbar, wenn uns die
Entwicklung der Weltbevölkerung dazu zwingen wird,
die Erträge pro Hektar auf ein Vielfaches des heutigen
Niveaus zu steigern. Zum Zweiten werden die Leidtragenden einer falschen Weichenstellung von heute nicht
die Länder der Weichensteller wie die satte Bundesrepublik sein, sondern die Länder Afrikas und Südostasiens.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich habe mich gefragt, wie Menschen, die in
der Verantwortung stehen, gegen gute Argumente so resistent sein können. Wenn die besseren Argumente seit
1998 immer wieder von der Opposition kommen,
({6})
dann kann ich es ja begreifen, wenn eine Regierung sie
nicht zur Kenntnis nimmt. Aber ich habe kein Verständnis für die Taubheit, wenn die gleichen Argumente aus
den Reihen von Wissenschaftlern an die Regierung herangetragen werden und sie trotzdem nicht zur Kenntnis
genommen werden.
({7})
Vonseiten der Grünen und von Teilen der SPD - ich
sage ganz bewusst: von Teilen der SPD - wird immer
wieder gern behauptet, wir würden das Argument der Sicherung der Welternährung nur instrumentalisieren, um
unsere Vorstellungen in den Gesetzgebungsverfahren
durchzudrücken.
({8})
Dazu kann ich nur sagen: Das stimmt. - Aber wenn wir
dieses Argument nicht einmal mehr vorbringen dürfen
und über grüne Gentechnik nicht gesprochen werden
darf, lieber Kollege Weisheit, obwohl 820 Millionen
Menschen auf dieser Erde hungern, dann ist dies ein
trauriges Faktum.
({9})
Für die Union ist die grüne Gentechnik ein zentrales
Instrument, um die Ernährung der Weltbevölkerung im
21. Jahrhundert sicherzustellen.
({10})
- Engstirnig? Also sind diejenigen, die sich öffnen, engstirnig, während diejenigen, die von Ideologie behaftet
sind, offen sind. Liebe Frau Kollegin Wolff, Sie sind
ganz schön weit von der Wirklichkeit entfernt.
({11})
Ich wiederhole: Für die Union ist die grüne Gentechnik ein zentrales Instrument, um die Ernährung der Weltbevölkerung im 21. Jahrhundert sicherzustellen.
({12})
Aber bitte unterstellen Sie uns nicht, dass wir die Komplexität des Hungers nicht verstünden und davon überzeugt wären, dass die grüne Gentechnik das einzige Instrument zur Lösung des Hungerproblems ist. Spätestens
seit der grünen Revolution in Asien wissen wir aber,
dass die Weitergabe von Wissen und Technologie ein
sehr wirksamer Ansatzpunkt ist, mit dem der gordische
Knoten des Hungers zerschlagen werden kann. Die
grüne Revolution ist vor allem durch die Entwicklung
ertragreicher Reissorten vorangetrieben worden.
Wir müssen uns darauf einstellen, dass im Jahre 2020
zwischen 7 und 8 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden. Diese Bevölkerung ausreichend mit Nahrung, Wasser, Gesundheitsdiensten, Bildung und Arbeit
zu versorgen ist die größte globale Herausforderung der
kommenden Jahre. Dieser Herausforderung werden Sie
nicht mit Flächenstilllegung und Extensivierung gerecht,
sondern dadurch, dass wir auf den begrenzten Flächen
die Produktion um 60 Prozent erhöhen.
Meine Damen und Herren, die Frage ist erlaubt, welche Probleme die Gentechnik mit sich bringen kann. Seit
zehn Jahren wird sie angewandt und wir machen den
Menschen immer noch vor, dass es bei uns überall von
Gentechnik freie Nahrung gäbe. Wir haben bei uns einen
weißen Kreis. Aber diejenigen, die Verantwortung übernehmen wollen, dürfen sich nicht nur fragen, was passieren wird, wenn Gentechnik eingesetzt wird, sondern sie
müssen sich genauso fragen, welche Folgen es haben
wird, wenn Gentechnik nicht eingesetzt wird.
({13})
Deswegen empfinde ich es schon als makaber, dass die
Reichen und Satten dieser Welt denjenigen eine neue
Technologie vorenthalten, die sie brauchen.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich erteile Bundesministerin Renate Künast das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach übereinstimmender Auffassung aller internationalen Hilfsorganisationen und der Vereinten Nationen
sind die Hauptursachen für Hunger und Armut fehlender
Zugang zu Ressourcen wie Land, Saatgut und dem LeBundesministerin Renate Künast
bensmittel Nummer eins, Wasser, das Fehlen geeigneter
Lager- und Transportbedingungen, unfaire Handelsbedingungen und eine unfaire Agrarpolitik sowie Krieg,
Korruption und Misswirtschaft.
({0})
Man muss deshalb meines Erachtens sagen, dass
800 Millionen von Hunger bedrohte Menschen Folge eines tief greifenden Politikversagens sind. Ich freue
mich deshalb, aus den Worten des Herrn Carstensen
schließen zu können, dass auch er für eine Agrarwende
innerhalb der EU ist. Na endlich, Herr Carstensen!
({1})
Wenn wir bei der Bekämpfung des Hungers erfolgreich sein wollen, müssen wir bei den konkreten Lebensund Arbeitsbedingungen der Menschen ansetzen. Wir
stellen fest: Von den über 800 Millionen Menschen, die
auf der Welt hungern, leben 70 Prozent im ländlichen
Raum; das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: 70 Prozent der Hungernden leben dort, wo Mann
und Frau normalerweise Lebensmittel produzieren.
Das besonders Perfide daran ist, dass sie zu einem
großen Teil sogar in der Landwirtschaft arbeiten. Aber
sie arbeiten auf großen Plantagen zu extremen Hungerlöhnen, mit denen sie ihre Familien nicht ernähren können. Sie arbeiten meist auf Plantagen, die Futtermittel
herstellen. Herr Carstensen, es sollte uns christlich Erzogenen eigentlich in der Seele wehtun, dass man in der
Sojaproduktion zum Beispiel, statt das Produkt zu nutzen, um viele Menschen zu ernähren, das Prinzip umdreht und Soja dem Tierfutter beimischt. Statt mit dieser
Menge Soja zehn oder 20 Menschen zu ernähren, landet
das Fleisch später als kleines Steak auf unseren Tellern.
Das tut mir in der Seele weh.
({2})
Das ist falsch organisiert, weil man die gleiche Menge
Soja, statt sie durch das Tier zu schicken, nutzen könnte,
um viel mehr Menschen zu ernähren.
Für diese Menschen ist nicht die erste Sorge, wie sie
jedes Jahr ohne Nachbaurecht das teure gentechnisch
veränderte Saatgut kaufen können, sondern ihre Frage
lautet: Wie kann ich hier und heute die Ernährung meiner Familie organisieren?
({3})
Wir wissen, dass die teure grüne Gentechnik für den
kommerziellen Landbau entwickelt wurde und entsprechend designed ist. Deshalb ist die erste gentechnisch veränderte Pflanze Soja, Futtersoja.
({4})
Produktentwicklungen zur Bekämpfung des Hungers der
Menschen standen nicht im Vordergrund. Sonst hätte als
Erstes gentechnisch verändertes Maniok entwickelt werden müssen; denn das essen die Menschen zum Beispiel
in Afrika.
({5})
Doch es ging nicht darum, Produkte im Interesse der
Hungrigen zu entwickeln.
Es ist mir ehrlich gesagt mittlerweile egal, wie oft Sie
die ideologische Keule ins Feld führen.
({6})
Die Gentechnikfirmen haben Soja für das Tierfutter und
nicht die Nahrungsmittel entwickelt, die die Menschen
in den Regionen gewöhnt sind.
({7})
Sie sagen oft - das steht auch in vielen Werbebroschüren -, dass zum Beispiel Vitamin-A-haltiger Reis
der große Retter in Hungergebieten sei, um mangelernährte Menschen vor Blindheit zu schützen.
({8})
Vandana Shiva, die alternative Novelpreisträgerin, hat
die Sache klar auf den Punkt gebracht, als sie fragte:
Wenn sich die Menschen in diesen Gebieten nicht einmal normalen Reis kaufen können, wie sollen sie sich eigentlich gentechnisch veränderten Reis als Saatgut kaufen können? Das ist eine logische Frage.
({9})
Er ist teurer, weil man das dazu passende Herbizid
braucht
({10})
und weil die Menschen dort kein Nachbaurecht haben.
({11})
Sie dürfen den Samen nicht selber herstellen, sondern
sind wegen der Patentrechte verpflichtet, jährlich neu zu
kaufen.
({12})
Deshalb ist er teurer.
({13})
- Das ist nicht falsch. Die in dem von Ihnen so geschätzten Landwirtschaftsministerium tätigen Mitarbeiter haben es recherchiert; deshalb kann es nur richtig sein,
Herr Carstensen. Sie selber sagen doch immer, ich soll
auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hören. Das
tue ich.
({14})
Wir wollen etwas anderes: Wir wollen Hilfe zur
Selbsthilfe und nicht neue finanzielle Abhängigkeiten.
Deswegen haben wir und hat auch unsere Entwicklungshilfepolitik hier einen ganz anderen Ansatz. Ich will Ihnen sagen, wie das geht: So hat beispielsweise der brasilianische Staatspräsident Lula mit einem Aktionsplan
zur Bekämpfung von Hunger angefangen.
({15})
Auch Sierra Leone hat damit angefangen. Wir meinen,
dass nicht immer nur die Eliten in einem Land von Geld
profitieren sollen, sondern dass Aktionspläne zur Bekämpfung von Hunger tatsächlich ein zwingender Bestandteil von Good Governance werden sollen. Deshalb
gibt es jetzt zum Beispiel in Sierra Leone mithilfe der
GTZ entsprechende Projekte. Dabei geht es darum, das
regionale Saatgut der Menschen zu sichern und sie im
Kampf gegen Hunger zu unterstützen.
Ich meine - das muss ich an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU sagen -, Sie
versuchen, mit dem Stichwort Hungerbekämpfung ein
Deckmäntelchen über Ihre Position zur Gentechnik zu
legen.
({16})
Sie versuchen, an dieser Stelle unter dem Schlagwort
„Verantwortung für die Welternährungssituation“ eine
ganz andere Diskussion zu führen. Das ist aus mehreren
Gründen falsch: Wir müssen zunächst - das ist meine
Leitlinie - Wahlfreiheit für die Landwirte hier herstellen. Ihr Text enthält die Aussage: Wir sollen hier verstärkt mit Gentechnik veränderte Pflanzen anbauen, damit wir das Welthungerproblem lösen können.
({17})
- In Ihrem Antrag steht hinter einem Spiegelstrich, die
Bundesregierung solle dafür Sorge tragen, hier mehr
gentechnisch veränderte Pflanzen anzubauen, damit so
ein Beitrag zur Sicherstellung der Welternährung geleistet werden kann.
Ich sage Ihnen: Die hiesigen Landwirte wollen das zu
70 Prozent nicht. Wir müssen hier also die Wahlfreiheit
geben und an dieser Stelle entsprechende Regeln einführen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Carstensen?
Bitte.
Bitte schön.
Frau Ministerin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unser Antrag nicht auf die Ausweitung des
Anbaus von gentechnisch veränderten Pflanzen in der
Bundesrepublik Deutschland zielt, sondern dass wir dafür sorgen wollen, dass gerade unsere Forschungseinrichtungen in diesem Bereich wieder wesentlich mehr
tun können, damit sie ihre Ergebnisse an die Länder der
Dritten Welt weiterleiten können?
({0})
Ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie die Forschung an dieser Stelle ausweiten wollen. Ich glaube
auch, dass es durchaus gute Forschungsergebnisse gibt.
Es sollte allerdings nicht wieder für die Tierhaltung, sondern mit Blick auf eine Lösung der Probleme der Menschen vor Ort geforscht werden.
({0})
Herr Carstensen, die Frage lautet: Was will man über die
Gene von Pflanzen wissen?
Unter einem Spiegelstrich fordern Sie aber auch den
Anbau grüner Gentechnik hier in Europa, damit ein Beitrag zur Bekämpfung des Welthungers geleistet werden
kann. Jetzt habe ich Ihren Antrag nicht hier, sondern nur
meine eigene Rede, sodass ich Ihnen die entsprechende
Passage aus Ihrem Antrag nicht vorlesen kann.
({1})
Ich habe beides in Ihrem Antrag wiedergefunden.
Ich meine, Sie sollten den Mut haben, die Debatten
über Welternährung einerseits und über die Gentechnik
hier und ihre Bedingungen andererseits zu trennen. Sie
sollten auch wissen, dass Sie neue Abhängigkeiten
schaffen, wenn Sie hier Nahrungsmittel für andere produzieren.
Der richtige Weg heißt Hilfe zur Selbsthilfe. Genauso
machen wir unsere Entwicklungshilfepolitik. Die Menschen sollen in ihren Ländern, in ihren Regionen Nahrungsmittel anbauen können. Wenn sie hungern, dann
sollen sie Lebensmittel aus ihren jeweiligen Regionen
und nicht aus dem Überfluss des Nordens zukaufen.
({2})
Ich meine, dass die katholische Soziallehre an dieser
Stelle nicht falsch ist. Auch sie betont: Hilfe zur Selbsthilfe ist das Prinzip.
({3})
In Großbritannien zum Beispiel, einem Land, das nun
wirklich nicht verdächtig ist, eine kritische Haltung zur
roten oder grünen Gentechnik einzunehmen, haben neueste Befragungen unter Wissenschaftlern ergeben - auf
diese Untersuchungen hat Herr Carstensen gar nicht BeBundesministerin Renate Künast
zug genommen; ich würde mich freuen, wenn Sie auch
so etwas einmal sehen würden -, dass sich die grüne
Gentechnik negativ auf die Artenvielfalt auswirkt. Da
wir alle christlich erzogen sind, gehe ich davon aus, dass
auch die CDU/CSU die Artenvielfalt erhalten möchte.
({4})
Nach all dem kann man meines Erachtens nur eines
sagen: Der Einsatz gentechnisch veränderten Saatguts
zur Bekämpfung von Hunger will gut überlegt sein. Wir
sollten uns an dieser Stelle genau überlegen, ob wir gut
beraten wären, über die Köpfe anderer hinweg zu agieren. Es gilt auch, die Wahlfreiheit der Menschen, die
hungern, zu berücksichtigen.
({5})
- Herr Carstensen, die haben selber viele gute Forderungen wie zum Beispiel die, dass wir unsere Agrarpolitik
ändern, damit sie Produkte anbauen können und darüber
zu Deviseneinnahmen kommen, um in ihren Ländern die
hungernde Bevölkerung in den Städten zu ernähren.
({6})
- Genau, für solche Gespräche fahre ich nach Brasilien.
Ich werde bestimmt mit vielen Informationen für Sie zurückkommen.
({7})
In Ihrem Antrag hat mich am meisten die Aufforderung irritiert, im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit Freilandversuche zu genehmigen und zu unterstützen. Ich
komme ja auf brillante Ideen, aber auf den Gedanken,
Freilandversuche mit Gentechnik zwecks Öffentlichkeitsarbeit durchzuführen, bin ich nun nicht gekommen
und möchte auch nach Lektüre Ihres Antrags nicht darauf kommen.
({8})
Die größten Ursachen von Hunger und Elend kann
man nur beheben, indem man den Menschen in den Ländern selbst die Möglichkeit gibt, Anbau zu betreiben.
({9})
Damit wir hier zu einem Ergebnis kommen, müssen wir
die guten und positiven WTO-Verhandlungen unterstützen. Es muss ein Recht auf Nahrung geben. Diese Länder müssen - unterstützt durch unsere Entwicklungshilfe
und wirtschaftliche Zusammenarbeit - dafür sorgen,
dass die Menschen ihre Lebensmittel selber produzieren
können. Darin liegt die Lösung und nicht darin, zu versuchen, Umwege über die grüne Gentechnik zu gehen.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Künast, Pflanzenzuchtunternehmen richten ihre
Strategie nach ihren eigenen Verdienstmöglichkeiten aus
und das ist auch gut so. Ansonsten müssten wir den Mitarbeitern Sozialhilfe bezahlen.
({0})
Sie, Frau Künast, richten Ihre Strategie nach den grünen Klientelinteressen satter Menschen aus.
({1})
Deswegen haben die Menschen der armen Länder bei Ihnen keine Chance. Das kann man sehr deutlich daran erkennen, dass Sie in einer solchen Debatte als Erstes die
Frage der Wahlfreiheit thematisieren. Als ob derjenige,
der Hunger hat, gerne wählen möchte!
({2})
Er möchte einfach nur essen und satt werden, nichts anderes.
({3})
Sie haben hier Hilfe zur Selbsthilfe propagiert. Das ist
richtig. Das ist übrigens ein liberales Prinzip. Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis: 6 Millionen Kleinbauern in
den Schwellenländern und in der Dritten Welt bauen bereits transgene Pflanzen an und haben damit gute Erfahrungen gemacht; denn jedes Jahr werden es mehr.
({4})
Haben Sie die FSE, die Farm Scale Evaluations,
wirklich einmal gelesen? Dabei geht es nicht um Negativwirkungen transgener Organismen, sondern um nichts
weiter als um Unkrautmanagement. Dort, wo weniger
Beikräuter wachsen und es weniger Tiere und Insekten
gibt, die auf diesen leben, sind die Erträge höher. Von
daher ist dieses Beispiel absolut ungeeignet.
({5})
Die Ernährungsprobleme in der Dritten Welt sind
groß. Ursache sind die Armut und die Verantwortungslosigkeit totalitärer Regime - dazu zählt zum Beispiel das
kommunistische Regime in Nordkorea -, aber auch die
wachsende Weltbevölkerung, der kaum vermehrbare
Ackerflächen gegenüberstehen. Daraus ergibt sich die
Notwendigkeit, die Intensität der landwirtschaftlichen
Produktion zu steigern, damit alle Menschen statt werden.
Die Probleme bei der Welternährung konnten in den
letzten Jahrzehnten deutlich verringert werden. Es wurden neue Sorten entwickelt. Wir können erwarten, dass
mit gentechnischen Methoden Erträge weiter gesichert
und die Qualität der Nahrungsmittel weiter verbessert
wird. Deutsche Unternehmen wollen sich ihrer Verantwortung bei der Entwicklung neuer Sorten stellen. Dafür
brauchen sie praktikable Rahmenbedingungen, die ihnen
die rot-grüne Regierung noch immer verweigert.
Der Bundeskanzler ist einmal angetreten, im kritischen Diskurs eine verantwortbare Position zur Gentechnik zu finden. Im Zuge von BSE hat ihn der Mut verlassen. Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, allein Ihre
Abwesenheit dokumentiert:
({6})
Welternährung ist nicht Ihr Thema,
({7})
grüne Gentechnik ist es auch nicht mehr.
({8})
Sie haben grüne Gentechnik wegen BSE kurz vor dem
erfolgreichen Abschluss gestoppt. Schade!
({9})
- Herr Westerwelle weiß, dass ich eine gute Rede halte.
Er muss nicht hier sein.
({10})
Dennoch muss der Streit zwischen Frau Künast und
Herrn Clement sowie Frau Bulmahn endlich im Sinne
der grünen Gentechnik entschieden werden. Herr Bundeskanzler, nehmen Sie Ihre Richtlinienkompetenz
wahr, sprechen Sie ein Machtwort, beenden Sie die Grabenkämpfe und bringen Sie diese Innovation in Deutschland voran!
({11})
Mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung mit der grünen
Gentechnik zeigt: Die grüne Gentechnik ist verantwortbar, durch ihr Innovationspotenzial hilft sie, in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen, und sie ist zur Verbesserung der Ernährung der Menschen in den ärmsten
Ländern der Erde ethisch geboten. Daher unterstützt die
FDP den Antrag der CDU/CSU-Fraktion im Grundsatz.
Herr Kollege Carstensen, in einem Punkt widersprechen wir dem Antrag aber ausdrücklich:
({12})
Kennzeichnungsschwellenwerte oberhalb der technischen Machbarkeitsgrenze sind anders, als Sie es sagen
und als Sie es in Ihrem Antrag fordern, sehr wohl akzeptabel.
({13})
Bei der Festlegung der Schwellenwerte müssen die technischen Machbarkeitsgrenzen berücksichtigt werden,
aber nicht mehr. Dabei orientiert man sich am Umweltund Gesundheitsschutz.
Transgene Pflanzensorten werden geprüft wie andere,
sie haben dieselben Risiken wie andere und sie verhalten
sich in der Umwelt wie andere, auch wenn die Grünen
meinen, etwas anderes behaupten zu müssen. Eine Sonderstellung transgener Sorten ist daher durch nichts gerechtfertigt.
({14})
Das sieht auch Staatssekretär Catenhusen, SPD, aus dem
Forschungsministerium so. In einem Interview in der
„Zeit“ hält er gesonderte Haftungsregelungen für den
Umgang mit transgenen Sorten für nicht erforderlich. Ihr
Staatssekretär hat Recht. Wer Recht hat, soll auch Recht
behalten.
Gesundheitsschäden werden in unserer Gesellschaft
zumeist durch falsche Ernährung und Umweltschäden,
insbesondere durch den Schadstoffeintrag, verursacht.
Das haben auch die Bürgerinnen und Bürger erkannt.
Deswegen finden sie es gut, wenn mit gentechnischen
Methoden Pflanzen und Tiere gezüchtet werden, die gegen Schädlinge immun sind. Nach einer Umfrage, die
vom Bundespresseamt in Auftrag gegeben wurde, sind
46 Prozent dafür. Die Grünen sind dagegen. Aber: Welche in der Zeit seit ihrer Gründung etablierten Zukunftstechnologien haben die Grünen jemals befürwortet?
({15})
Kurzzeitig oder längerfristig wurden abgelehnt: die
friedliche Nutzung der Kernenergie, der Computer - der
Beschluss existiert noch immer -, das Handy, der Transrapid, die PET-Flaschen und die rote Gentechnik.
({16})
- Danke, Herr Carstensen.
Der jetzige Außenminister hat im Hessischen Landtag
die Turnschuhe eingeführt und den Bau der Anlage zur
gentechnischen Herstellung von Humaninsulin 14 Jahre
lang verzögert. Mit dieser Lebensleistung wurde er dann
Außenminister.
({17})
Mit dem Kulturpessimismus der Grünen wären die
Ernährungsprobleme Europas nie gelöst worden.
({18})
Daher ist der Kulturpessimismus der Grünen auch nicht
geeignet, den Menschen in den ärmsten Ländern der
Erde zu helfen.
({19})
Noch immer folgen die Grünen ganz treu Karl Valentin:
Die Zukunft war früher auch besser.
({20})
Warum unterstützt eine SPD, die sich immer auf ihre
soziale Verantwortung beruft, diese Politik? Sie ist unDr. Christel Happach-Kasan
ethisch, weil sie verhindert, dass die Möglichkeiten der
grünen Gentechnik zur Entwicklung leistungsfähiger
Sorten genutzt werden. Sie ist umweltfeindlich, weil sie
die Potenziale der grünen Gentechnik zur Verminderung
des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln nicht nutzt. Sie
ist verbraucherfeindlich, weil sie sich nicht am Wunsch
der Verbraucher nach sicheren Lebensmitteln orientiert
- transgene Sorten werden besser geprüft als andere.
Schließlich ist sie unsozial, weil sie die Abwanderung
von Arbeitsplätzen ins Ausland fördert.
Ich fordere die SPD auf, eine derartig dem Gemeinwohl zuwiderlaufende Politik des grünen Koalitionspartners zu verhindern.
({21})
Laufen Sie den Grünen nicht wie die Lemminge hinterher und springen Sie nicht in den Abgrund!
In den letzten zehn Jahren wurden transgene Sorten
mit sehr interessanten und für die Ernährungssituation
der Menschen in den ärmsten Ländern der Erde wichtigen Eigenschaften entwickelt. Golden Rice ist das bekannteste Beispiel; es gibt einige andere mehr. Die
Frage, ob transgene Sorten verantwortbar sind, ist beantwortet: Sie sind verantwortbar. Inzwischen stellt sich die
Frage, ob es ethisch verantwortbar ist, den Landwirten in
den Entwicklungsländern diese Sorten weiter zu verweigern.
({22})
Professor von Weizsäcker hat in seiner Rede zum Cartagena-Protokoll über ein Beispiel aus Indien berichtet, bei
dem sich der Anbau einer transgenen Sorte nicht bewährt
haben soll. Das mag so sein. Vor solchen Sorten muss aber
niemand geschützt werden. Professor von Weizsäcker, ich
bedauere sehr, sagen zu müssen: Dieses einzige Beispiel in
Ihrer Rede zum Cartagena-Protokoll war unter Ihrem Niveau. 6 Millionen Landwirte haben im vergangenen Jahr
transgene Kulturpflanzen angebaut. 75 Prozent davon waren Kleinbauern in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Ihre Anzahl ist von Jahr zu Jahr gestiegen.
Der Beauftragte für Welternährungsfragen des Evangelischen Entwicklungsdienstes stuft den Beitrag der
grünen Gentechnik zur Sicherung der Welternährung als
gering ein und sieht die Gefahr der Abhängigkeit der
Kleinbauern von Patentinhabern. Die Realität sieht anders aus. Den theoretischen Vorbehalten stehen ganz
konkrete Vorteile der grünen Gentechnik gegenüber, wie
zum Beispiel sichere Ernten durch Bt-Mais in China.
Das Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften in
München hat einen Leitfaden entwickelt, mit dem transgene Sorten nach ökologischen, ökonomischen und sozialen Kriterien individuell bewertet werden können. Ein
solcher Leitfaden ist ethisch sehr viel wertvoller als die
grüne Fundamentalopposition gegen die grüne Gentechnik.
({23})
Er ermöglicht es, die Eignung einzelner Sorten zu bewerten, statt alle pauschal zu verdammen. Eine wachsende Weltbevölkerung stellt steigende Anforderungen
an die Landwirtschaft. Diese Herausforderungen können
wir nur meistern, wenn wir Armut und totalitäre Regime
bekämpfen
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
- ich bin beim letzten Satz - und die Intelligenz sowie
den Erfindungsreichtum von Menschen für die Weiterentwicklung der Landwirtschaft nutzen. Die grüne Gentechnik kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Herta DäublerGmelin, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Carstensen und Frau Happach-Kasan, ich schätze
Sie beide sehr. Aber ich muss sagen: Nach Ihren beiden
Redebeiträgen ist, glaube ich, auch dem letzten Zuhörer
klar, worum es Ihnen heute Morgen geht: Es geht um das
alte Ritual: „Wie beschimpft die Opposition die Regierung?“ und das wieder möglichst laut in der Öffentlichkeit. Ich finde es außerordentlich schade, dass Sie die
wichtige und ernste Frage der Bekämpfung des Welthungers und die Frage, was wir dazu beitragen können, mit
diesem Ritual vermischen. Das tut dem Thema nicht gut
und das tut auch dem Deutschen Bundestag nicht gut.
({0})
Dabei sind und waren wir schon weiter. Die Frage des
Welthungers und seiner Bekämpfung beschäftigt Sie genauso wie uns im Agrarausschuss. Gerade gestern haben
wir über einen Antrag - übrigens der SPD - zur Frage
der Landreform geredet, die selbstverständlich mit der
Frage der Bekämpfung des Welthungers zu tun hat; denn
in den Entwicklungsländern bedarf es insbesondere der
Sicherung von bäuerlichen Familienexistenzen und einer
vernünftigen Sozialstruktur. Das fehlt jedoch in Ihrem
Antrag; das wissen Sie auch.
Gerade gestern hat der Kollege Deß von der CDU/
CSU einen sehr bemerkenswerten Beitrag geleistet. Er
hat darauf hingewiesen, dass auch im Zusammenhang
mit der Zuckerordnung sehr sorgfältig auf die Sicherung
der bäuerlichen Familienbetriebe und damit den Aufbau
von Sozialstrukturen in der Dritten Welt geachtet werden
muss, die für die Bekämpfung des Welthungers dringend
erforderlich sind. Wo ist denn das in Ihrem Antrag?
({1})
Ich habe den Eindruck, dass Sie wieder einmal eine
polemische Diskussion und keine seriöse Diskussionsgrundlage gesucht haben. Ich kann das nur bedauern und
alle auffordern, das im Zuge der weiteren Diskussion zu
ändern; denn es ist doch völlig klar: Das Recht auf Nahrung gehört zu den Grundrechten jedes Menschen. Darüber wird sich dieses Haus doch wohl auch im Klaren
sein.
({2})
Wenn Sie, Herr Carstensen, was ich gut finde, die Dokumente der FAO zitieren, dann tun Sie es doch bitte
richtig.
({3})
Ich lese es Ihnen gerne noch einmal vor. In der letzten
Woche, nämlich am 16. Oktober, war Welternährungstag. Am Welternährungstag hat der Generaldirektor der
FAO ausdrücklich dazu aufgefordert, gemeinsam eine
Allianz gegen den Hunger zu bilden, die die Ursachen
für den Hunger bekämpft. Zu den Ursachen des Hungers gibt es eine Menge an wirklich wichtiger internationaler Übereinstimmung. So weist zum Beispiel der Welternährungsgipfel deutlich darauf hin, dass „Hunger
sowohl Ursache als auch Auswirkung von extremer Armut ist, durch den die Armen dieser Welt davon abgehalten werden, von neuen Entwicklungen zu profitieren“.
Das müssen wir berücksichtigen und angehen.
Da spielt natürlich auch die deutsche Agrarpolitik und
die europäische Agrarpolitik eine große Rolle. Wir alle
wissen ganz genau, dass die Agrarmärkte der Entwicklungsländer auch durch die Subventionen der EU beim
Agrarexport mit kaputt gemacht werden. Mit den Überlegungen, das zu ändern, haben wir uns in diesem Sommer beschäftigt. Mich ärgert, dass die CDU den deutschen Bauern immer wieder erklärt, das gehöre zu der
schlechten Agrarpolitik dieser Regierung oder der EU.
({4})
- Sehen Sie, das ist gerade die Widersprüchlichkeit, die
mich dazu bringt, zu sagen: Es geht Ihnen eben um Polemik und Rituale, nicht etwa um die Sicherung der Welternährung.
({5})
Zur Stabilisierung der Märkte - bitte akzeptieren
Sie auch das - sind Landreformen in vielen Teilen der
Welt notwendig. Wenn Sie das genauso sehen, dann unterstützen Sie es doch.
({6})
Wichtig sind auch Technologie- und Wissenstransfer. Wer will das denn bestreiten? Wir alle wissen, dass
die Erwartungen an die Biotechnologie - ich meine nicht
nur die grüne Gentechnik, Sie müssen den Gesamtbereich sehen - sehr hoch sind. Wir dürfen aber nicht nur
diese Erwartungen sehen, sondern wir müssen auch die
Erfahrungen und Probleme zur Kenntnis nehmen. Diese
werden übrigens in allen internationalen Dokumenten
- außer Ihrem Antrag - auch diskutiert. Das ist auch erforderlich, um das Thema richtig anzugehen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Carstensen?
Später gerne. Zunächst möchte ich ein paar Punkte,
die vielleicht seine Zwischenfrage beantworten werden,
weiter ausführen. Aber keine Sorge, die Zeit für Ihre
Zwischenfrage habe ich noch.
Richtig seriös wäre es, wenn Sie diese Aspekte in Ihrem Antrag nennen würden. Aber auch Ihr Beitrag hat
gezeigt, dass Sie daran kein Interesse haben. Ihr Antrag
ist eine ärgerliche Mischung aus Einbahnstraßendenken
- er vermittelt den Eindruck, als könne man mit einem
Knopfdruck und der richtigen Technik die Welternährungsprobleme lösen ({0})
und Vernebelungstaktik, wo es um klare Feststellungen
gehen müsste, zum Beispiel bei der Kennzeichnungspflicht. Darauf werde ich gleich noch eingehen. Außerdem liest sich Ihr Antrag streckenweise wie der Werbewaschzettel der entsprechenden Industrie, die ihr
Produkt verkaufen will. Das gilt auch für Functional
Food, die ja mit Gentechnik nicht zwangsweise etwas zu
tun haben muss. Diese Art von Lebensmitteln wird heute
schon vielfach ohne Gentechnik hergestellt.
Ich finde Ihren Antrag deswegen so ärgerlich, weil
der Generalsekretär der Vereinten Nationen in seinem
jüngsten Bericht, der jetzt in der Generalversammlung
diskutiert wird, den Industrieländern viel konkreter
Richtiges und Verpflichtendes ins Stammbuch geschrieben hat. Er hat deutlich gemacht, dass die Abhängigkeit
der Entwicklungsländer nicht vergrößert werden darf,
sondern vermindert werden muss. Was aber finden wir in
Ihrem Antrag? Die Bundesregierung soll sicherstellen,
dass Kleinbauern nicht abhängig werden, sagen Sie und
wollen gleichzeitig deren Abhängigkeit von Patenten erhöhen. Auch Ihr Widerstand gegen die EU-Agrarreform
muss in diesem Zusammenhang benannt werden.
({1})
Sie müssen einmal laut sagen, was Sie wollen, und sich
nicht in Unverbindlichkeiten ergehen. Lesen Sie einmal
nach, was Genetiker aus Äthiopien vom „Goldenen
Reis“ und vor allem von seinen Auswirkungen auf die
Ernährungslage oder die Sozialstruktur im ländlichen
Raum halten. Das ist doch keineswegs nur positiv, sondern sehr problembehaftet.
Ich komme zu einem Punkt, der mich zusätzlich ärgert: Ihre Äußerungen zur Kennzeichnungspflicht. Da
habe ich Frau Happach-Kasan überhaupt nicht verstanden. Ich habe immer gedacht, Sie würden mit mir die
Grundauffassung teilen, dass die Wahlfreiheit der Landwirte und der Verbraucher ein hohes Gut ist. Wenn Sie
die grüne Gentechnik mit Schwellenwerten einführen
wollen, von denen Sie gerade gesprochen haben, hat weder der Verbraucher noch der Landwirt irgendeine
Chance zu Wahlfreiheit. Sie als Biologin müssten das
eigentlich laut sagen. Ich halte nichts davon, den Menschen - unter welchem Vorwand auch immer - ein X für
ein U vorzumachen. Wer Wahlfreiheit und die Chance
für Koexistenz will, darf bei der Kennzeichnung nicht
über die technische Nachweisgrenze gehen.
(Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU] meldet
sich zu einer Zwischenfrage.
Ich bedaure es sehr, dass die Union in ihrem Antrag
einen sehr vagen Begriff von „technischer Machbarkeit“
benutzt und nicht klar herausstellt, dass der Grenzwert
von 0,1 Prozent beim Saatgut - das muss jetzt entschieden werden - die Grundlage für Wahlfreiheit und
Koexistenz ist.
Frau Kollegin, inzwischen wollen zwei Kollegen eine
Zwischenfrage stellen. Herr Kollege Carstensen, bitte
schön.
Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, dass Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen haben.
({0})
Ich habe weiterhin den Eindruck, dass Sie mir nicht zugehört haben. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen - das ist Ihnen vielleicht entgangen -, dass die grüne
Gentechnik für die Union ein Instrument ist und sie sehr
wohl um die Komplexität des Themas Hunger weiß.
Können Sie mir aufgrund Ihres landwirtschaftlichen
Sachverstands sagen, wie Sie den Herausforderungen
der nächsten Jahre begegnen wollen? Die FAO spricht
davon, dass wir eine Steigerung der Erträge um 60 Prozent brauchen, davon notwendigerweise 80 Prozent
durch eine Steigerung des Flächenertrags. Wie wollen
Sie diese Steigerung erreichen, wenn Sie den Entwicklungsländern nicht moderne Technologien zur Verfügung stellen?
Lassen Sie mich bitte eine letzte Frage stellen. Wenn
das Thema so wichtig ist, wieso gibt es eigentlich keinen
Antrag zu diesem Bereich von der Koalition?
({1})
Warum haben Sie nicht die Möglichkeit genutzt, Ihre
Position in einem Antrag deutlich zu machen? Wieso
gibt es denn einen Streit zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Umweltminister und dem Verbraucherschutzministerium? Die Forschungsministerin und
der Wirtschaftsminister sagen, wir müssten viel mehr
Geld in die neuen Biotechnologien investieren, andererseits aber wird die Biotechnologie abgeblockt. Wir können Ihre Politik nicht mehr begreifen. Können Sie uns
das erklären?
Lieber Herr Carstensen, es würde eine Antwort viel
leichter machen, wenn nicht aus jedem Wort herauszuhören wäre, dass Sie die Antwort eigentlich gar nicht interessiert.
({0})
Ich will es dennoch probieren. Lassen Sie mich noch
einmal wiederholen: Ich habe jedem Wort, das Sie vorhin gesagt haben, ehrfürchtig, so wie es der Respekt vor
Ihnen gebietet, zugehört. Natürlich haben Sie auch diesen Satz vorgetragen. Jetzt haben Sie ihn wiederholt. Ich
bin froh darum, weil er dadurch vielleicht eine größere
Bedeutung bekommt. Er hat vorher auch nicht länger gedauert als wenige Sekunden und Sie haben insgesamt
rund 7,5 Minuten geredet. Das war der einzige Satz.
({1})
Über die Frage Ihrer Gewichtung und der damit verbundenen Wertigkeit sollten Sie jetzt vielleicht noch einmal
nachdenken.
Der zweite Punkt ist folgender: Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Hungerproblem - Sie wissen,
dass ich gerade bei der FAO in Rom war - zeigt, dass es
in der Tat richtig ist, dass die Erwartung von Mitte der
90er-Jahre, man könne die Zahl der Menschen, die auf
der Welt Hunger leiden, bis 2015 halbieren, im Moment
skeptisch beurteilt wird. Wenn man sich anschaut, welche Länder der Welt bei der Verbesserung der Hungersituation Erfolg haben und welche Länder nicht, dann
stößt man auf das auch von Frau Happach-Kasan, allerdings in falschem Zusammenhang, erwähnte Indien.
Indien ist ein Land, das seit Jahren GMOs einsetzt,
das Nahrungsmittel exportiert und ein steigendes Hungerproblem hat, trotz all der hervorragenden Ergebnisse,
die Indien unzweifelhaft erreicht hat. Schon dieses
müsste jedem sagen, dass das Hungerproblem, was auch
auf dem World Food Summit gesagt wurde, ein Verteilungs- und Armutsproblem ist. Dass die Technik und der
Techniktransfer aus den verschiedenen Zonen der Welt
eine Rolle spielen, ist gar keine Frage, aber keine entscheidende. Schauen Sie doch einmal in den Bericht des
UN-Generalsekretärs! Dann werden Sie genau das feststellen. Ich will Ihnen die Passage gerne zitieren, damit
Sie nicht meinen, ich würde etwas Falsches sagen. Der
Generalsekretär schreibt in seinem Bericht an die Generalversammlung der Vereinten Nationen:
Biotechnology has yet to deliver products in agriculture, health industry and environment in developing countries.
({2})
- Er spricht nun einmal Englisch. Ich finde gut, dass Sie
so deutlich machen, dass Sie es verstehen.
({3})
Ich übersetze es aber bei Bedarf auch gerne. Er führt
fort: Es gibt ein bisher ausgesprochen begrenztes Interesse des privaten Sektors, transgene Produkte von einigermaßen großer Bedeutung an die sich entwickelnden
Länder zu übergeben.
({4})
Das sind die Probleme, mit denen wir es zu tun haben.
Da geht es um Geld und Gewinne, nicht um die Überwindung des Welthungers. Das ist in Ihrem Antrag, der
durch Einbahnstraßendenken gekennzeichnet ist, leider
Gottes in keiner Weise ersichtlich.
({5})
Herr Kollege Heiderich, ich gehe wegen Ihrer Reaktion davon aus, dass Ihre Frage bereits vom Kollegen
Carstensen gestellt worden ist. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie können fortfahren.
Frau Happach-Kasan hatte sich auch noch gemeldet.
Frau Happach-Kasan hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet, wenn ich das richtig verstanden habe.
Ich bitte um Entschuldigung.
Lassen Sie mich noch einmal Folgendes sagen: Ich
fände es ausgesprochen gut, es gäbe in diesem Haus einige Zukunftsthemen, die wir von allen Seiten mit vergleichbarer Seriosität behandeln würden, und - ({0})
- Zur Seriosität gehört auch, Herr Goldmann, dass man
zunächst einmal die erste Hälfte eines Satzes anhört, bevor man gleich in Jubel oder Klagen ausbricht. Die Bekämpfung des Welthungers und die Frage, was wir dazu
beitragen können, gehört ohne Zweifel zu den wichtigen
Zukunftsthemen.
({1})
Wie gesagt, das Recht auf Nahrung - dazu gehört auch
die Sicherung der Pflanzen und der so genannten genetischen Ressourcen in allen Ländern - ist ein Menschenrecht.
Deswegen - das darf ich noch ausführen, bevor Frau
Happach-Kasan ihre Kurzintervention vorträgt - sind
Ihre Ausführungen zur Artenvielfalt und deren Sicherung problematisch. Ich bin sicher, dass wir noch öfter
über dieses Thema diskutieren werden. Aber wenn Sie
die neue Studie, die in England erstellt wurde, einfach
abtun, werden wir nicht vorankommen.
Ich hatte gestern die Gelegenheit, mit einigen englischen Kollegen zu reden. Auch die Biologen bzw. Molekularbiologen oder Genetiker unter ihnen nehmen sich
die Zeit, die Studie sehr sorgfältig zu prüfen, bevor sie
sie bewerten. Das sollten auch wir tun.
Danke schön.
({2})
Ich erteile der Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan
zu einer Kurzintervention das Wort.
Liebe Frau Däubler-Gmelin, Sie haben mich als Biologin nach meiner Meinung gefragt, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Denn ich meine, dass gerade in
der grünen Gentechnik Biologiekenntnisse sehr wohl
von Bedeutung sind.
({0})
Ich habe mich in der Tat mit den Farm Scale Evaluations beschäftigt. In diesem Zusammenhang habe ich
mich mit Botanikern auseinander gesetzt und mich über
die tatsächlichen Ergebnisse informiert. Festzustellen ist,
dass die Ergebnisse nicht so eindeutig sind, wie Sie und
auch Ministerin Künast es darstellen.
Aus den Ergebnissen geht schlicht und ergreifend hervor, dass bei dem Anbau von herbizidtolerantem Raps
die Menge der Unkräuter sinkt. Wenn es in einem Rapsfeld weniger Beikräuter gibt, ist auch weniger Nahrung
für Insekten vorhanden, die auf solchen Beikräutern
leben. Von daher ist es richtig, dass die Artenvielfalt in
einem Rapsfeld - in dem allerdings ohnehin in erster
Linie Raps wachsen soll - dadurch sinkt. Gleichzeitig
steigt aber auch der Ertrag, weil der Boden verstärkt dem
Raps zugute kommt statt den Beikräutern.
({1})
Das ist eine Frage des Unkrautmanagements; es geht
dabei nicht darum, auf welche Art und Weise die Herbizidtoleranz in einem Rapsfeld hergestellt wurde. Das ist
mit gentechnischen Methoden wie auch mit anderen
Zuchtmethoden möglich. Im Ergebnis kommt es zu einer
geringeren Artenvielfalt im Rapsfeld. Das bedeutet aber
nicht, dass sie außerhalb des Rapsfeldes ebenfalls sinkt.
Von daher rate ich Ihnen Frau Kollegin: Beschäftigen
Sie sich doch ein bisschen gründlicher mit dieser Thematik und fragen Sie auch einen Botanikprofessor nach
der Frage der Artenvielfalt im Rapsfeld, unabhängig davon, ob es sich bei der angebauten Pflanze um eine
transgene Sorte handelt oder nicht!
Ich darf auch darauf hinweisen, Frau DäublerGmelin, dass sich der Antrag der CDU/CSU-Fraktion
auch mit der Sicherung der Welternährung befasst. Wenn
wir diese Aufgabe Ernst nehmen, dann spielt die Wahlfreiheit, die nur in satten Gesellschaften, nicht aber in
der Dritten Welt ein Thema ist, in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Das gilt auch für die Kennzeichnungspflicht. Sind Ihnen die Zahlen bekannt, wie viele Menschen in den
ärmsten Ländern der Erde lesen und schreiben können?
Was hilft diesen Menschen eine Kennzeichnung, wenn
sie hungrig sind und nicht lesen können?
Sie sprechen Punkte an, die in der Auseinandersetzung in Deutschland an Relevanz gewonnen haben, weil
wir eine reiche und satte Gesellschaft sind und es uns
leisten können, die Trennung von aus transgenen Pflanzen und aus anderen Pflanzen hergestellten Lebensmitteln zu fordern.
Ich bitte Sie herzlich, das Thema Welternährung in
den Mittelpunkt zu stellen, statt sich an Fragen abzukämpfen, die nur in der Auseinandersetzung innerhalb
Deutschlands ein Rolle spielen.
Zur Erwiderung hat nun Frau Kollegin Dr. DäublerGmelin das Wort.
Frau Happach-Kasan, Sie wissen, dass ich immer für
Ratschläge dankbar bin. Aber darf ich Ihre geschätzte
Aufmerksamkeit auf den letzten Spiegelpunkt auf
Seite 3 des Antrags der CDU/CSU lenken. Dort wird auf
die Frage der Kennzeichnung ziemlich ausführlich eingegangen. Darauf habe ich mich bezogen. Vielleicht
sollten Sie - wenn ich das zurückgeben darf - den Antrag einfach einmal lesen. Dann werden Sie feststellen,
dass die Frage der Kennzeichnung sehr wohl angesprochen wird. Dort, wo der Kennzeichnungsschwellenwert
als klare Voraussetzung für Wahlfreiheit und Koexistenz
eine Rolle spielen sollte, muss man sich festlegen. Man
kann man nicht argumentieren - das tun Sie bedauerlicherweise -: Einerseits, andererseits, ich meine aber gar
nichts! Wer so verfährt, nimmt unseren Bauern jede
Chance für Wahlfreiheit und Koexistenz.
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass zum Beispiel der
Träger des Alternativen Nobelpreises des letzten Jahres,
ein Biologe und Genetiker aus Äthiopien, der sicherlich
auch Ihren strengen fachlichen Ansprüchen genügt, sehr
deutlich die Mängel des Goldenen GV-Reises kritisiert
hat. Er meinte auch, das die Grundsätze von Wahlfreiheit
und Nichtabhängigkeit, auf die wir für unsere Bauern
Wert legen, auch für die Bauern in den sich entwickelnden Ländern gelten müssten. Er wies auch deutlich auf
die Probleme von GMO beispielsweise für Auswirkungen auf die Sozialstruktur und die Abhängigkeit von gewerblichen Schutzrechten hin. Er befürchtet sogar, dass
sich das Armutsproblem durch den Einsatz der grünen
Gentechnik vielfach verschärfen werde - aber auch das
ist zunächst nur eine Meinung -, und weist außerdem
darauf hin, dass man die Bedeutung der Artenvielfalt,
also der Biodiversität, selbstverständlich auch unter biologischen Gesichtspunkten zur Kenntnis zu nehmen
habe. Das ist das, was auch ich tue und empfehle.
Lassen Sie mich nochmals deutlich sagen, dass bei einem Schwellenwert über der technischen Nachweisbarkeit für die Kennzeichnung von Futtermitteln die Chancen
für Wahlfreiheit und Koexistenz nicht mehr bestehen. Das
ist so. Und darüber, welche der Erwartungen an Biotechnologie und grüne Gentechnik tatsächlich erfüllbar sein
können, sollten wir - dafür habe ich plädiert - sehr sorgfältig beraten.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt zu der Studie aus England ansprechen. Ich habe es mir angewöhnt,
dass ich eine neue Studie - die jetzt vorliegende ist in der
Tat im Internet zu bekommen und ist sehr dick - erst einmal lese und sie dann mit Kollegen und Fachleuten bespreche. Da die Studie aus England erst in dieser Woche
veröffentlicht wurde, wird man noch Zeit benötigen, um
sie genau einzuschätzen. Ich denke, dazu wird in unserem Ausschuss jede Möglichkeit bestehen. Wenn Sie,
Frau Happach-Kasan, diese Studie offenbar per Handauflegen bewerten können, dann sage ich Ihnen: Ich
kann das nicht und bisher hat nur Carlo Schmid so etwas
geschafft.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Tagen trifft sich die FAO in Rom, um dort erneut
über den „Kampf gegen den Hunger“ zu debattieren. Sie
wird dort sicherlich die Forderungen betreffend die Nutzung der Bio- und Gentechnik fortschreiben, die sie bereits beim Weltgipfel im vergangenen Jahr formuliert
hat. Frau Künast und Frau Däubler-Gmelin, auch das ist
Bestandteil der Forderungen internationaler Organisationen. Warum wird genau dieser Punkt von Ihnen in allen
Ihren Reden unterschlagen? Auch das sollten Sie eigentlich erwähnen.
({0})
Denn alle Fachleute kommen weltweit übereinstimmend
zu dem Ergebnis, dass diese Technologie in den nächsten
Jahrzehnten wichtige Beiträge zur Ernährung der Weltbevölkerung leisten kann. Wir behaupten nicht, dass sie
die Ernährung der Weltbevölkerung alleine sicherstellen
kann. Aber sie kann, wie gesagt, einen Beitrag leisten.
Wenn man sie verhindert, dann verhindert man auch eine
positive Entwicklung.
Zwei Entwicklungen stehen unverrückbar fest: Erstens. Die Weltbevölkerung wird sich in absehbarer Zeit
mehr als verdoppeln. Zweitens. Die verfügbare landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf wird auf weniger als die
Hälfte zusammenschrumpfen. Als Fachleute behaupten
wir nicht, dass diese Herausforderungen alleine mit der
Biotechnik zu meistern seien. Aber sie werden auch
nicht alleine durch Ihren Antrag zur Landreform sowie
das, was Sie jetzt vorgetragen haben, gemeistert werden.
Die Erfolge der grünen Revolution haben jedenfalls gezeigt, wie deutlich solche neuen Technologien zur Bekämpfung des Hungers beitragen können.
Die Biotechnik steht noch am Anfang, obwohl sie bereits auf 60 Millionen Hektar eingesetzt wird. Aber sie
bietet unendlich viele Möglichkeiten, die wir uns gerade
erst zu erarbeiten beginnen. Trotzdem, Frau Künast, blockiert die Bundesregierung deren Erforschung, Entwicklung und Anwendung in Deutschland bereits seit Jahren.
Was Sie eben zu den Grenzwerten vorgetragen haben,
Frau Däubler-Gmelin, wird diese Blockade weiter erhöhen.
Ich bringe Ihnen einmal eine Warnung der deutschen
Wissenschaft zur Kenntnis, die aktuell an uns gerichtet
worden ist: Mit diesen neuen Gentechnikregeln von Frau
Künast wird Forschung zur grünen Gentechnik in
Deutschland nicht mehr möglich sein. - Die Leute wissen, wovon Sie reden.
({1})
Inzwischen ist die Bundesregierung in sich völlig zerstritten. Die BMBF-Ministerin Bulmahn hat am Montag
dieser Woche erklärt: Nach weltweiten Schätzungen wird
im Jahr 2020 jede zweite Innovation mit einem biotechnologischen Verfahren zusammenhängen. - Der BMWAMinister Clement - er war vorhin noch hier - sagte im
Mai 2003 in Washington: Ich werde mit Nachdruck dafür eintreten, dass Europa sein De-facto-Moratorium bei
gentechnisch veränderten Produkten aufgibt. - Liebe
Frau Däubler-Gmelin, würden Sie sagen, dass auch diese
beiden jede Seriosität in der Diskussion um dieses
Thema vermissen lassen, oder haben Sie da eine andere
Messlatte, als wenn Sie über uns reden?
({2})
Die positiven Einstellungen werden durch die ideologische Verklemmung von BMVEL-Ministerin Künast
ständig ausgebremst und konterkariert. Die Ministerin
redet öffentlich zwar immer von Wahlfreiheit, meint damit aber wohl eher, dass sich jeder in diesem Lande ihrem einseitigen Weltbild völlig unterwerfen müsse.
({3})
Sie haben uns vorhin vorgeworfen, dass wir Polemik
in die Diskussion hineinbringen. Ich sage Ihnen: Die
Rede von Frau Künast war eine einzige Attacke auf unseren Antrag und auf die Auffassung der CDU/CSUBundestagsfraktion.
({4})
Ich will einige wenige Beispiele dazu vortragen, wie
wir nach unserer Auffassung die Biotechnik hilfreich im
Kampf gegen den Hunger einsetzen könnten. Ich meine,
dass wir als Technologienation genau an dieser Stelle etwas leisten müssen, damit die Entwicklungsländer transgene Innovationen in ihren landesüblichen Pflanzenanbau einbringen können. Die Labors haben ja schon
einiges entwickelt, zum Beispiel Süßkartoffeln mit einer
eingebauten Virusresistenz, wodurch die heute üblichen
Ertragsverluste von bis zu 80 Prozent vermieden werden
können, oder Bananenpflanzen, die gegen den SigatokaPilz resistent sind. Auf Hawaii ist der Papaya-RingspotVirus durch Gentechnik erfolgreich bekämpft worden.
({5})
Die Papayaproduktion auf Hawaii ist heute überhaupt
nur noch möglich, weil eine solche Veränderung stattgefunden hat. Aber das interessiert Frau Künast natürlich
nicht. Sie redet lieber mit anderen, statt sich solche Argumente anzuhören.
Ein weiteres Beispiel ist die Bekämpfung der Wurzelunkräuter in der Saharazone in Afrika. Heute müssen
die Menschen dort, im Wesentlichen die Kinder und die
Frauen, jeden Tag auf das Feld gehen und diese Unkräuter von Hand ausreißen. Trotzdem müssen sie am
Schluss einen Ernteverlust hinnehmen. Frau DäublerGmelin, wo ist da Ihr Blick auf die Sozialstruktur? Haben Sie auch einmal über dieses Thema nachgedacht?
({6})
Es gibt eine ganze Menge Möglichkeiten, die bereits
vorhandenen Entwicklungen auch zum Nutzen der Entwicklungsländer umzusetzen, aber wir müssen etwas dafür tun. Da frage ich Sie, Frau Künast: Wo sind der Beitrag Ihres Ministeriums und der Beitrag Deutschlands als
Forschungsnation, um den Entwicklungsländern in dieser Frage zu helfen? Eines ist doch klar: Die großen privaten internationalen Organisationen kümmern sich zunächst um die weit verbreiteten Nahrungsmittel, weil sie
ja ihren Ertrag erzielen müssen. Aber wir mit unseren
Universitäten und Institutionen hätten die Möglichkeit,
etwas für die für die Entwicklungsländer so wichtigen
Früchte und Nahrungsmittel zu entwickeln und mit ihnen gemeinsam so umzusetzen, dass diese Technik dort
erfolgreich angewendet werden kann. Hier liegt unsere
Aufgabe. Wir sollten einiges tun, um den Entwicklungsländern, wie Sie gesagt haben, Hilfe zur Selbsthilfe zu
geben.
Gerade die kleinen Landwirte dort brauchen keine
neue technische Ausstattung. Sie müssen keine großen
Kapitalinvestionen vornehmen, um mit dem biotechnisch fortentwickelten Saatgut Erfolge erzielen zu können. Es geht doch nicht an, dass wir uns verpflichten,
den Entwicklungsländern zu helfen - in der letzten Woche haben wir den Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll von Cartagena verabschiedet -, und gleichzeitig,
wenn es um diese Fragen geht, außen vor bleiben und
lieber über Bürokratieabbau in Deutschland statt über
Erfolge für die Entwicklungsländer diskutieren. Hier
sind wir in der Pflicht und hier muss die Bundesregierung endlich etwas tun.
Schönen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege René Röspel, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den Hunger in der Welt bekämpfen, das ist eine
Vorstellung, die wir alle teilen. Den Hunger in der Welt
mit grüner Gentechnologie bekämpfen, das ist eine
große, eine sehr interessante Herausforderung. Aber ist
es eine realistische Herausforderung? Diese Frage muss
erlaubt sein. Ist der Hunger in der Welt zum Beispiel
nicht eher - Frau Ministerin Künast und auch Herta
Däubler-Gmelin haben darauf hingewiesen - ein Problem der ungerechten Verteilung? Müsste dieses Problem nicht politisch gelöst werden?
({0})
Kann man ein politisches Problem mit einer technischen
Antwort lösen?
({1})
Ich glaube, auch das ist eine interessante Frage.
Ich habe meine Zweifel, ob grüne Gentechnologie die
richtige Antwort auf diese Frage ist. Ich will das auch
begründen. Wir haben einigen Optimismus gehört. Wenn
man optimistisch ist, dann kann man sagen, dass der verstärkte Anbau gentechnisch veränderter Organismen und
Nahrungsmittel die Produktion der Entwicklungsländer
erhöhen könnte. Aber ist diese optimistische Sicht realistisch? Ich stelle diese Frage, weil der Zeitraum der Erfahrungen, die wir mit grüner Gentechnologie haben, gemessen an der Evolution sehr klein ist. Ist es nicht
geradezu notwendig, Pro und Kontra in einer Angelegenheit, die möglicherweise nicht rückholbar ist, abzuwägen?
Herr Carstensen und Sie von der FDP haben heute
wie üblich behauptet, wir seien vorurteilsbehaftet und
ideologieverblendet. Es wird langsam langweilig. Es war
fast herausragend, dass Herr Heiderich auch einmal ein
paar positive Beispiele genannt hat. Ich will Ihnen einige
Argumente nennen, die mindestens zum Nachdenken anregen sollten.
Mein Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker hat letzte
Woche von dieser Stelle von seiner Reise nach Indien in
diesem Monat berichtet. Er traf dort Bauern, die eine
gentechnisch veränderte Baumwollart anpflanzen. Dieser Baumwollart wurde ein Gen aus einem Bodenbakterium eingepflanzt, das das Insektizid gegen den ärgsten
Feind selbst produziert. Dieses Saatgut ist zwar viermal
so teuer wie das bisher verwandte konventionelle; aber
die Mittel für die höheren Kosten sollten dadurch wieder
hereinkommen, dass die Bauern weniger Pestizide einsetzen müssen.
Diese Rechnung ist nicht aufgegangen; das Gegenteil
ist eingetreten. Der Pestizideinsatz der Bauern ist größer
geworden, weil auch andere Schädlinge auftraten, und
der Ernteertrag war deutlich geringer als beim Einsatz
des konventionellen Saatgutes. Den Schaden haben nun
die Bauern in Indien, die weit weg von diesem Hause
sind. Ich glaube, das muss man berücksichtigen.
({2})
Das Bt-Insektengiftgen ist übrigens eines der Vorzeigeprodukte der grünen Gentechnologie. Auch wird immer propagiert, wie sinnvoll der Einsatz des so genannten Bt-Maises gegen den ärgsten Feind des Maises, den
Maiszünsler, sein könne. Man ist zunächst geneigt, zu
glauben, dass man im Vergleich zu normalen Maispflanzen weniger Pestizide, also weniger Insektengift, ausbringen muss.
Bt ist übrigens das einzige im ökologischen Landbau
zugelassene Gift. Es wird bei Befall der Pflanzen in seiner inaktiven Kristallform auf die Felder versprüht. Erst
im Magen der Insekten wird es - diese interessante Variante kennen wahrscheinlich die wenigsten - in die aktive, giftige Form umgewandelt. Wenn es von den Insekten nicht aufgenommen wird, dann wird es vom
Sonnenlicht binnen weniger Stunden zerstört; das Gift
kann nicht mehr aktiv werden und es bilden sich keine
Resistenzen.
Genau das ist der elementare Unterschied zum gentechnisch veränderten Mais; er produziert dieses Gift
nämlich ständig in seiner aktiven Form. Untersuchungen
haben gezeigt, dass dieses Gift nach der Ernte im Pflanzenabfall noch persistent ist. Das führt schlicht und einfach dazu, dass die Gefahr sehr groß ist, dass die Schadinsekten Resistenzen ausbilden. Wenn Resistenzen
ausgebildet werden, dann bedeutet das automatisch das
Aus für den ökologischen Landbau und die Nutzung des
Bt-Giftes.
Herr Röspel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heiderich?
Ja.
Herr Kollege Heiderich, bitte, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Röspel, da Sie hier über die Frage des
Bt-Maises sprechen, sind Ihnen sicherlich auch die Studien aus Nordamerika bekannt, die genau zu diesem
Problem der Resistenzen gemacht worden sind. Im Endergebnis hat man in allen Studien festgestellt, dass es
selbst dort nicht zu solchen Resistenzen gekommen ist,
wo man keine Refuges, also Bt-Mais-freien Zonen,
eingerichtet hat. So hat sich das Problem, das Sie eben
angesprochen haben, in der landwirtschaftlichen Praxis
nicht bewahrheitet.
Das stimmt in dieser Konsequenz nicht. Es gibt zwar
in der Tat diese Studien, es gibt aber auch andere Studien, die zu anderen Ergebnissen gekommen sind. Das
hat dazu geführt, dass die US-amerikanische Umweltbehörde, die für die Zulassung zuständig ist, die EPA, den
Anbau von Bt-Mais nur zulässt, wenn ein Insektenresistenz-Managementprogramm nachgewiesen wird. Das
wiederum beinhaltet, dass auf 20 Prozent jeder Anbaufläche konventioneller Mais angebaut werden muss. Der
wissenschaftliche Beirat bei der EPA hat übrigens einen
Anteil von 50 Prozent gefordert, das heißt, man hätte auf
der Hälfte der Fläche konventionellen Mais anbauen
müssen, um sicherstellen zu können, dass es zu keinen
Resistenzen kommt. Gerade aufgrund der Erkenntnisse
in den USA, dass es Resistenzen gibt, hat die EPA, die
nun wirklich nicht technikfeindlich ist, dieses Management in den USA vorgeschrieben.
An diesem Punkt wird deutlich, dass diese Technologie schlicht und einfach nicht dazu geeignet ist, unter in
Entwicklungsländern herrschenden Bedingungen angewandt zu werden. Dort gibt es in der Regel wenig große
Flächen. Außerdem setzt diese Technologie ein Vorgehen und eine Kenntnis von Landwirtschaft voraus, die
üblicherweise in den kleinbäuerlichen Strukturen nicht
vorhanden sind.
({0})
Es gibt übrigens andere Wege - es wird ja immer nach
Alternativen gefragt -: 65 000 Kleinbauern in Bangladesh versuchen künftig, ohne Chemie Landwirtschaft zu
betreiben, das heißt auch ohne Abhängigkeit von Importen und großen Konzernen. Sie bauen im Wechsel
Früchte wie Zwiebeln, Knoblauch, Rettich, Linsen, Kartoffeln, Kürbisse und Zuckerrohr an. Statt Kunstdünger
nehmen sie stickstoffhaltige Hülsenfrüchte oder Wasserhyazinthen; man kann immer noch dazulernen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Sie bezeichnen in Ihrem Antrag an anderer Stelle - das
haben wir heute schon mehrfach gehört - den so genannten goldenen Reis als mögliche Waffe gegen VitaminA-Mangel, der ja leider sehr häufig Kinder in der Dritten
Welt betrifft. Was ist das nun für ein Reis? In diesen hat
man gentechnisch Betacarotinmoleküle eingebaut, die
die Vorstufe von Vitamin A darstellen. Die Chemiker
und Biologen, verehrte Kollegin von der FDP, wissen,
dass Betacarotin ein fettlösliches Molekül ist. Das heißt,
Sie können es nur für den Körper verfügbar machen,
wenn Sie geeignete fettreiche Nahrung zu sich nehmen.
Deswegen essen wir den Salat mit Öl, um diese Moleküle überhaupt mobilisieren zu können. Nun gibt es aber
gerade in den Bereichen, wo Vitamin-A-Mangel kombiniert mit anderen Mangelerscheinungen auftritt, keine
Möglichkeit, sich fettreich zu ernähren. Das heißt, wer
will, dass Golden Rice als Mittel gegen Mangelerscheinungen geliefert und angebaut wird, muss auch für fettreiche Ernährung sorgen, damit dessen Wirkungen überhaupt mobilisiert werden können. Ansonsten wird
Betacarotin vom Körper ausgeschieden, ohne dass es in
Vitamin A umgewandelt wurde. Das ist schlicht und einfach wissenschaftliche Erkenntnis, die berücksichtigt
werden muss. Golden Rice bringt also auch Schwierigkeiten mit sich.
Das Verrückte an dieser ganzen Geschichte ist: Der
ursprünglich in den Entwicklungsländern angebaute
Reis, der braune Reis, enthält in seiner Schale genug
Betacarotin und sogar Vitamin A. Er ist aber von dem in
der westlichen Zivilisation bevorzugten weißen Reis
verdrängt worden. Dadurch, dass kein brauner Reis mehr
angebaut bzw. dieser nicht mehr ungeschält gegessen
wird, entstand das Vitamin-A-Problem.
({1})
Eines ist allen Technologien gemeinsam, die wir in
die Dritte Welt exportieren: Sie werden einheimische,
standortgerechte, bodenständige, traditionelle Verfahren
und Saatgute verdrängen und neue Abhängigkeiten von
großen Konzernen der ersten Welt schaffen und wahrscheinlich kleinbäuerliche Strukturen dauerhaft zerstören. Es ist nicht zu erwarten, dass diese teure Technologie den Entwicklungsländern dauerhaft gratis zur
Verfügung gestellt wird. Das Eigeninteresse der Industrieländer wird natürlich bestehen bleiben. Einige Kollegen und ich haben das gestern wieder direkt erfahren
können.
Wir hatten Besuch von einem Reisbauern aus Thailand. Dieser Besuch wurde vermittelt von einer Organisation, die nicht unbedingt verdächtig ist, der Gentechnik mit Vorurteilen zu begegnen, nämlich von Misereor,
dem Hilfswerk der katholischen Kirche. Dieser Reisbauer aus Thailand hat uns nicht nur die Situation seiner
Familie, sondern auch die Situation von 5 Millionen
Kleinbauern in der Region, in der er lebt, geschildert.
Diese Bauern leben vom Anbau des Jasminreises. Das
ist ein Reis mit einem besonderen Aroma, der in die
USA exportiert wird. Damit erzielen die Bauern einen
Teil ihrer Erlöse.
Die USA versuchen nun im Rahmen eines Forschungsprojekts, diesen Reis mit gentechnischen Verfahren an die klimatischen Bedingungen in den USA anzupassen. Gelingt der Anbau in den USA, wird den
thailändischen Bauern die Existenzgrundlage entzogen.
Dann werden wir wieder eine Debatte führen und uns
wahrscheinlich überlegen, mit welchen gentechnischen
Methoden wir diesen Bauern helfen können.
({2})
Regelmäßig erscheinen neue wissenschaftliche Arbeiten zu den Auswirkungen der Gentechnologie auf
die Umwelt, manchmal mit gegensätzlichen Aussagen:
Mendelsohn et al. relativieren in der September-Ausgabe
von „Nature Biotechnology“ die Auswirkungen von BtPflanzen auf die Umwelt. In Großbritannien gibt es die
weltweit größte Studie zu den Auswirkungen gentechnisch veränderter Nutzpflanzen. Im Rahmen dieser StuRené Röspel
die wird von massiven Auswirkungen auf die Vielfalt
von Ackerkräutern und auf die Insektenfauna gesprochen. Wir wissen also nicht eindeutig, welche Folgen
das Ausbringen von gentechnisch veränderten Pflanzen
in die Natur haben kann.
Ich habe vor einigen Wochen zusammen mit Herrn
Bundestagspräsident Thierse von der Aktion „Mensch“
das Ergebnis der Kampagne „www.1000fragen.de“
überreicht bekommen. Eine der Fragen hat mich sehr beeindruckt: Dürfen wir ein Spiel spielen, dessen Regeln
wir nicht verstehen? Wenn wir nicht wissen, welche
Konsequenzen es haben kann, ein Gen aus einem Bodenbakterium in eine höhere Pflanze einzubauen, ist es
dann nicht sinnvoller, eher zurückhaltend zu sein? Sollten wir nicht gerade gegenüber den Entwicklungsländern
aufhören, zu glauben, dass unsere Technologie besser sei
als ihre Tradition?
({3})
Mein letzter Punkt. Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass Gentechnik helfen könnte, Pflanzen zum Beispiel gegen Salz toleranter zu machen. Vielleicht sind
die Entwicklungsländer schon weiter, als wir glauben.
Ein thailändischer Forscher hat sich die 7 000 einheimischen Reissorten vorgenommen und hat 230 Varietäten
unter salzhaltigen Bedingungen in seinem Institut angebaut. Vier Sorten haben diese salzhaltigen Bedingungen
ertragen. In ihrem Anbau liegt die Zukunft in dieser salzhaltigen Region: ohne Gentechnik und mit Sorten, die
die einheimischen Bauern bezahlen können und die sie
selbst vermehren können, weil diese Sorten seit Jahrhunderten an die dortigen Bedingungen angepasst sind.
Ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig erläutern können,
warum ich glaube, dass wir das Problem der Welternährung nicht technisch lösen können. Die wichtigsten Ursachen haben andere schon erwähnt. Technik hilft da
wenig.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Deß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Bedeutung der grünen Gentechnik für die Welternährung gibt
Gelegenheit, auf die Chancen der modernen Biotechnologie hinzuweisen und die Öffentlichkeit erneut über die
unsinnige Bremserrolle von Rot-Grün bei der Nutzung
dieser Zukunftstechnologie aufzuklären.
({0})
Dass immer noch über 800 Millionen Menschen,
hauptsächlich in den Entwicklungsländern, an Unterernährung leiden, ist schlichtweg ein Skandal. Neben
eigenen Anstrengungen der betroffenen Länder ist die
Völkergemeinschaft politisch und moralisch gefordert,
alles zu tun, um die Eigenversorgung der von Unterernährung betroffenen Länder zu verbessern.
Ein Mittel zur Hungerbekämpfung stellt ohne Zweifel
der Einsatz der grünen Gentechnik zur Produktivitätssteigerung in den Entwicklungsländern dar. Diese moderne Technologie, Herr Kollege Röspel, ergänzt die
konventionellen Verfahren zur Ertragssteigerung. Für
eine gesicherte Ernährung der rasant wachsenden Weltbevölkerung ist der Einsatz der grünen Gentechnik unverzichtbar.
({1})
Jüngstes Beispiel ist die genetische Schaffung des so
genannten Goldenen Reises - er wurde gerade schon
angesprochen - durch Professor Ingo Potrykus von der
Technischen Hochschule in Zürich und Professor Peter
Beyer von der Universität Freiburg. Beide Biologen haben die Gene von Reispflanzen so verändert, dass sie
Vitamin A produzieren. Diese revolutionäre Entwicklung ist für mehr als 2 Milliarden Menschen in der Dritten Welt, die sich hauptsächlich von Reis ernähren, von
größter Bedeutung. 400 Millionen Menschen hat die einseitige Ernährung krank gemacht. Denn herkömmlichem
Reis fehlt das lebenswichtige Vitamin A. Wegen dieses
Vitaminmangels wird jedes Jahr rund eine halbe Million
Kinder blind geboren.
Wie das ZDF am 29. Juli 2003 in „Frontal 21“ eindrucksvoll berichtete, kann laut Professor Potrykus mit
einer Tagesration von 200 Gramm von diesem Goldenen
Reis der Vitamin-A-Mangel für rund 2 Milliarden Menschen beseitigt werden. Wenn hier behauptet wird, dass
dadurch eine Abhängigkeit von Konzernen geschaffen
werde, ist das - das sage ich mit aller Deutlichkeit - gerade in diesem Fall eine glatte Lüge und nichts anderes.
({2})
Dieser Goldene Reis geht kostenlos, ohne Einschränkungen und ohne irgendeine Limitierung an die Reiszüchter
in den Entwicklungsländern und wird zurzeit weiterentwickelt, um dort die notwendigen lokalen und regionalen Sorten für die Bevölkerung herzustellen. Wie wollen
Sie hier eine Abhängigkeit erklären, wenn die Patente
kostenlos dorthin geliefert werden?
Vitamin-Gene werden in traditionelle Reissorten eingekreuzt. Reisforscher sprechen von einem historischen
Ereignis: Goldener Reis werde - Rot-Grün wird das
nicht verhindern - die Gesundheit der Menschen verbessern. In den USA gelten die Erfinder schon als Nobelpreiskandidaten. Die Heimatländer der Erfinder aber,
Deutschland und die Schweiz, bewilligen ihnen nicht
einmal Forschungsgelder.
So kann man mit seinen führenden Wissenschaftlern
nicht umgehen. Deshalb fordere ich die rot-grüne Bundesregierung auf, ihre ideologischen Scheuklappen abzulegen und die Forscher Professor Ingo Potrykus und
Professor Peter Beyer als Nobelpreisträger vorzuschlagen.
({3})
Die selbst ernannten Menschheitsbeglücker von
Greenpeace aber kritisieren den Goldenen Reis als Trojanisches Pferd der Saatgutindustrie und beschwören angebliche Gefahren. Wie der genannte ZDF-Bericht zeigt,
bringt Greenpeace aber nicht Frieden, sondern Unfrieden: So zerstörte kürzlich eine Greenpeace-Gruppe ein
gentechnisches Versuchsfeld in Gotha, das vorher von
den zuständigen Bundesbehörden genehmigt worden
war. Wo, Frau Ministerin Künast, bleibt Ihre eindeutige
Distanzierung von diesem Gesetzesbruch?
({4})
Frau Künast lehnt die Gentechnik als Mittel zur Hungerbekämpfung ab, schließt sich der Desinformation von
Greenpeace an und behauptet in dieser ZDF-Sendung
sogar, dass die grüne Gentechnik nur den Interessen der
internationalen Saatguthersteller diene. Frau Künast,
wenn Sie etwas für die Kleinbauern in der Dritten Welt
tun wollen, dann - ich habe das gestern in der Ausschusssitzung angesprochen - müssen Sie sich bei der
WTO für eine ganz andere Richtung einsetzen, als sie
heute verhandelt wird. Denn wenn die Agrarmärkte vollständig liberalisiert werden, werden die Leidtragenden
die Kleinbauern in den Entwicklungsländern sein, weil
dann nur noch die Agrarkonzerne in den Industrieländern und in den Entwicklungsländern überleben werden.
Aber dazu habe ich von Ihnen nichts gehört.
({5})
Biologen in der Dritten Welt halten die Ablehnung
der grünen Gentechnik als Mittel zur Welthungerbekämpfung zu Recht für westliche Arroganz und werfen
den Industrieländern vor, den weltweiten Hunger nicht
ernst zu nehmen. Ein Professor aus Nairobi sagte in
dieser Sendung:
Das reiche Europa hat die Wahl: Genfood - ja oder
nein? Segen oder Fluch? - Hungerländer haben sie
nicht.
Wir sollten den Ländern, in denen Hunger herrscht,
helfen, indem wir ihnen die Ergebnisse unserer Forschung kostenlos zur Verfügung stellen, damit sie den
Hunger im eigenen Land besser bekämpfen können.
Dies wäre wirkungsvolle Entwicklungshilfe.
Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Mit sozialistischen Ideen lässt sich der Hunger in der Welt nicht bekämpfen. Da kann mit grüner Gentechnik wesentlich
mehr erreicht werden.
({6})
Wie unglaubwürdig die Bundesregierung ist, möchte
ich an einem Beispiel darstellen. Bundeskanzler
Schröder besuchte im Juni 2000 die Saatgutfirma KWS.
Er sprach dort den Forschern und Unternehmern im Bereich der grünen Gentechnik höchstes Lob aus und bot
ihnen an, dass der Staat und die Wirtschaft gemeinsam
ein Anbau- und Forschungsprogramm fördern.
({7})
Das ist doch genau das Gegenteil von dem, was heute
von Rot-Grün vorgetragen wird. Aber Widersprüche gehören zu dieser Bundesregierung; das sind wir gewohnt.
Wir werden mit unserem Antrag dafür sorgen, dass in
der Öffentlichkeit über die grüne Gentechnik im Zusammenhang mit der Welternährung sachgerecht diskutiert
wird.
Vielen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bedanke mich ganz herzlich bei der CDU/
CSU-Fraktion für die Möglichkeit, diese Debatte heute
zu führen. Damit hört der Dank aber auch schon auf;
denn ich finde Ihre Argumente wirklich gruselig. Sie
sind voller Ideologie.
({0})
Ihre Ideologie, die Sie unter dem Deckmantel, das Hungerproblem in der Welt - das nehme ich Ihnen übel - mit
der Gentechnik lösen zu wollen, verbreiten, finde ich infam. Das ist ein leeres Versprechen, von dem keiner satt
wird.
({1})
Ich gehe noch einmal - eigentlich wollte ich es nicht
tun - auf den Golden Rice, diese angebliche Wunderwaffe, ein. Erstens wird er - das Bundesministerium für
Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft hat
hier nachgeforscht - nicht kostenlos abgegeben.
Zweitens ist diese Art von Zwangsmedikation - das
möchte ich den Ausführungen meines Kollegen Röspel
hinzufügen - keineswegs positiv für die menschliche
Gesundheit. In der EU wurden extra, von Deutschland
unterstützt, Grenzwerte in Bezug auf Betacarotin eingeführt, weil die Verwendung von Betacarotin für die Gesundheit problematisch ist.
Drittens beinhaltet das Recht auf Nahrung die Möglichkeit - damit komme ich noch einmal auf die WTOKonferenz in Cancun zurück; das möchte ich den Ausführungen der Ministerin hinzufügen -, die Zwangsbeglückung in Form von gentechnisch veränderten Nahrungsmittelhilfe zurückzuweisen, wie das Sambia nach
den Problemen, die in Mexiko bestehen, zu Recht getan
hat. Das betrifft darüber hinaus die Aspekte der Nachhaltigkeit. Denn die Ackerflächen gehen doch aufgrund
nicht standortgemäßer Bewirtschaftung verloren. Hier
muss etwas getan werden.
({2})
Erneuerbare Energien wären zum Beispiel ein gutes Mittel, um die Armut in diesen Ländern bekämpfen zu helfen und die Hilfe zur Selbsthilfe voranzutreiben.
({3})
Den Ausführungen über Indien will ich hinzufügen:
Dort ist gerade die gentechnisch veränderte Sorte eines
Partners von Monsanto zurückgewiesen worden, weil sie
die lokalen bzw. regionalen Sorten gefährdet, die eine
bessere Resistenz gegen einen dort vorherrschenden
Schädling haben.
Damit komme ich zum Thema Resistenzen - Sie berücksichtigen offensichtlich überhaupt nicht die in diesem Zusammenhang gewonnenen Erkenntnisse -: In den
USA - davon hat der Kollege Röspel gesprochen - gibt
es die Erkenntnis, dass es drei neue Mutationen gibt, und
zwar im Zusammenhang mit dem Bt-Mais. Auch hier
gibt es warnende Schilder, die in Anbaumanagementplänen gipfeln und die in allen betroffenen Ländern - auch
bei uns - eingeführt werden müssten.
Ich möchte auf die Studie aus Großbritannien zu sprechen kommen. Sie ist die aktuellste; einige Teile liegen
seit längerem vor. In ihr werden wesentliche Punkte dargestellt: Erstens ist der Einsatz von gentechnisch veränderten Agrarprodukten und Lebensmitteln - das
deckt sich übrigens mit unseren Erkenntnissen - unwirtschaftlich, weil sie unverkäuflich sind. Der Markt will
sie nicht; der LEH lehnt sie ab.
({4})
- Aber natürlich. Es gibt Dutzende von Untersuchungen
in Großbritannien. - Sie sind zweitens unwirtschaftlich,
weil sie nicht zu gesicherten höheren Erträgen führen;
die entsprechenden Studien kann man zuhauf wiederholen. Zudem führen sie zu geringeren Kosten.
Sie sind drittens umweltschädlich; sogar die Vögel
sind bedroht. Die Auskreuzungen sind wesentlich bedrohlicher, als bisher angenommen. Bisher ging man
von 800 bis 900 Metern aus. Jetzt ist in Großbritannien
von 26 Kilometern die Rede. Das heißt, man muss diese
Erkenntnisse einbeziehen.
Das „Handelsblatt“ schreibt heute: „Die Gentechnik
ist tot.“ Es verweist darauf, dass Monsanto Großbritannien verlassen hat. Ich sage einmal: Monsanto hat es
wahrscheinlich getan, weil es sowieso pleite ist.
({5})
Wir brauchen - das ist für uns wichtig - klare Regelungen zur Sicherung der gentechnikfreien Produktion; dies ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Koalitionsvertrages. Sie ist die Voraussetzung für die
Wahlfreiheit der Verbraucher, die Sie doch alle wollen.
All das, was an gesetzlichen Rahmenbedingungen dazugehört, ist keine Formalität, sondern zwingende Notwendigkeit:
({6})
verursachergerechte Haftung, Standortregister, Monitoring, Schutz der ökologisch sensiblen Gebiete. All dies
gehört zur Wahlfreiheit. Wer sich diesen Regelungen
von der Industrieseite widersetzt - die uns immer gesagt
hat, die Koexistenz sei möglich, jetzt aber plötzlich
Zweifel äußert und anders lautende Aussagen trifft -, der
muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass dies ein Angriff auf die Demokratie, die Souveränität der Menschen
und die Freiheit von Unternehmern und Verbrauchern
ist. Der Mensch ist, was er isst; das ist seine Intimsphäre.
Wer sie verletzt, verletzt damit auch die Persönlichkeitsrechte des Menschen.
Deswegen begrüßen wir mit allem Nachdruck, dass
die Ministerin Künast in Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie ein neues Gentechnikgesetz
({7})
in die Diskussion und in die Ressortabstimmung gebracht hat. Ihnen, insbesondere denen, die vor allem die
Wirtschaft im Auge haben, lege ich nahe, was die Bauern sagen. Sie sagen, sie brauchten den Frieden in den
Dörfern, sie brauchten Schwellenwerte - die 0,1 Mikrogramm sind gerade nach den britischen Studien wichtig -,
({8})
die es in der Praxis ermöglichen, dass man die Food- und
Feed-Verordnung tatsächlich einhalten kann. Ferner sagen die Bauern, sie wollten keine Kosten für diejenigen,
die gentechnikfrei produzieren. Ich füge hinzu: Wir wollen auch nicht, dass der Bundeshaushalt mit weiteren
Kosten belastet wird.
Der Bundesverband für Verbraucherschutz lehnt
ebenfalls jede Maßnahme ab, die die Wahlfreiheit der
Verbraucher gefährden könnte.
In diesem Sinne werden wir in die Diskussion gehen,
um den Schutz der gentechnikfreien Produktion zunächst einmal national zu gewährleisten; die EU hat sich
ja um Regelungen herumgedrückt.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Wir werden - auch unterstützt von der heutigen Diskussion; hier bin ich ganz zuversichtlich - damit erfolgreich sein.
Danke schön.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christa Reichard,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich
beginne mit einer Meldung von gestern: In Deutschland
haben mittlerweile jedes fünfte Kind und jeder dritte
Teenager Übergewicht. Die meisten essen zu viel, zu fett
oder zu süß. Mit einer groß angelegten Kampagne will
Bundesverbraucherministerin Renate Künast nun dem
Übergewicht der Jugend in Deutschland zu Leibe rücken. Die Welternährungsorganisation meldet zur selben
Zeit, dass über 800 Millionen Menschen an Hunger litten und weitere 1,5 Milliarden von Mangelernährung betroffen seien, und sagt, es seien verstärkte Anstrengungen erforderlich, um das Millenniumsziel überhaupt
noch erreichen zu können. Diese Meldungen zeigen uns,
dass sowohl der Mangel als auch der Überfluss Probleme bereiten.
Wir können und dürfen nicht zusehen, wenn Millionen von Menschen hungern. Im Gegenteil, wir im reichen Norden stehen gerade deshalb in der Verantwortung, weil wir mit unserem wissenschaftlichen und
technischen Know-how dazu beizutragen können, diese
Not entscheidend zu lindern. Fruchtbares Ackerland ist
in den meisten Entwicklungsländern ein knappes Gut,
das durch Wüstenbildung sogar zusätzlich gefährdet ist.
Daher muss auf derselben Fläche eine höhere Ernte erzielt werden, möglichst ohne Böden und Grundwasser
stärker zu belasten. Dafür brauchen wir auch neue Ansätze und müssen die Erkenntnisse von Wissenschaft
und Forschung für diese Aufgaben nutzbar machen. Natürlich sind gute Regierungsführung, der Zugang zu
Wasser und Land und funktionierende Märkte von großer Bedeutung; das will hier niemand infrage stellen.
Aber es wird eben auch die grüne Gentechnik gebraucht.
Sie schließt keine der anderen Strategien aus.
Mit unserem Antrag wollen wir besonders die Chancen der grünen Gentechnik bei der Bekämpfung von
Hunger und Mangelernährung in den Mittelpunkt einer
parlamentarischen Debatte stellen.
({0})
Durch gentechnische Methoden können Pflanzen gegen
tierische Schädlinge, aber auch gegen Virus- und Pilzerkrankungen resistent werden. Der Verlust von Ernten
ließe sich entscheidend reduzieren. Gentechnik kann
helfen, Pflanzen in Bezug auf Einflüsse von Dürre und
Salz tolerant zu machen, sodass sie auch auf schlechten
Böden besser wachsen können. Auch die Qualität von
Nahrungsmitteln ließe sich deutlich verbessern.
Wir haben es schon mehrfach gehört: Durch Vitaminanreicherung im Reis könnte die Kindersterblichkeit
um etwa ein Viertel gesenkt werden. Das glaubt nicht irgendwer, sondern das ist die Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation.
({1})
Besonders hervorheben möchte ich die positiven Umweltaspekte. Resistente Pflanzen können zu einem deutlich reduzierten Einsatz von chemischen Pflanzenschutzund mineralischen Düngemitteln führen. Dagegen
spricht auch nicht das eine oder andere Beispiel, bei dem
das nicht der Fall ist. Aber durch diese Technik erhalten
wir Chancen.
({2})
Sie helfen uns, Böden und Grundwasser vor Belastungen
zu schützen.
Ist Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, eigentlich klar, dass die grüne Gentechnik
auch große Chancen für den Naturschutz bietet? Ertragreiche Sorten können helfen, die Rodung von Regenwäldern und Savannen zu verhindern. Sie leisten damit einen Beitrag zum Klimaschutz.
({3})
- Das ist überhaupt nicht zum Lachen, Herr Kollege.
Vor allem aus ideologischen Gründen verschließen
Sie die Augen vor dieser Schlüsseltechnologie. Lassen
Sie mich auf ein Beispiel aus meinem Wahlkreis verweisen.
({4})
Dort will die Bundesanstalt für Züchtungsforschung
nach langjähriger, öffentlich finanzierter Forschung genveränderte Apfelbäume freisetzen, um die Resistenz gegen Schädlinge zu testen. Grüne Bundestagsabgeordnete
kämpfen nun gegen die Freisetzung dieser Bäume und
stellen damit den Erfolg dieser Investition infrage.
({5})
Um den Erhalt dieser Forschungseinrichtung hatte ich
mich vor Jahren erfolgreich bemüht
({6})
und bin über die zukunfts-, forschungs- und standortfeindliche Aktion dieser Abgeordneten entsetzt.
Natürlich dürfen wir mögliche Risiken nicht außer
Acht lassen. Auch die Risikobewertung muss Teil der
Forschung sein und bleiben. Das ist doch selbstverständlich. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Öffentlichkeit endlich objektiv und nicht einseitig über die
grüne Gentechnik zu informieren.
({7})
Ich erwarte, dass das angekündigte 100-Millionen-EuroProgramm für Biotechnologieunternehmen, das am
Montag dieser Woche verkündet wurde, auch für die
Förderung der grünen Gentechnik eingesetzt wird.
Angesichts der Potenziale der grünen Gentechnik für
die Welternährung und die Umwelt ist eine Politik, welChrista Reichard ({8})
che Forschung, Entwicklung und Anwendung der grünen Gentechnik hemmt, einfach verantwortungslos. Wir
haben die Chance, einen Beitrag gegen Hunger und
Mangelernährung zu leisten. Nutzen wir sie!
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Hemker,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Antrag, über den wir heute debattieren, wird mit
Recht auf den Welternährungsgipfel des Jahres 1996 und
seine Abschlusserklärung verwiesen. Es wird im Antrag
deutlich, dass die Nachfolgekonferenz im Jahr 2002
noch einmal die Brisanz der Welternährungskrise bewusst gemacht hat. In der Abschlusserklärung wurde
auch betont, dass weltweit kaum Fortschritte erzielt wurden.
({0})
Vor allem wurden die Rahmenbedingungen national
und international nicht so verbessert, dass mit besseren
Produktionsbedingungen für Nahrungsmittel sowohl in
quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht zu rechnen
ist. Der im Antrag erwähnte so genannte versteckte Hunger, also Mangelernährung, konnte nicht eingeschränkt
werden.
Die Bemühungen im Rahmen des Welternährungsprogramms, auf das verwiesen wird, für und in bestimmten Notstandsgebieten haben im Übrigen dazu beigetragen - zum Teil mit Miniüberlebensrationen aus
gentechnisch verändertem Mais bzw. Soja -, dass die
Zahl der Verhungerten bzw. Verhungernden vorübergehend zurückgegangen ist und weiter zurückgeht, Herr
Carstensen. Allerdings wurden und werden damit keine
Chancen für ein lebenswertes Leben eröffnet. Aber - das
ist das Entscheidende - insgesamt ist die Produktions-,
Verteilungs- und damit auch die Versorgungssituation
zurzeit so, dass - darauf ist schon hingewiesen worden die Ziele des Aktionsprogramms 2015 weltweit auch
nicht annähernd erreicht werden können. Das ist das
eigentliche Problem und der eigentliche Skandal.
Ein Mangel an Nutzung der Chancen der grünen Gentechnik bestand und besteht in diesem Zusammenhang
- so stellt es auch die FAO dar - nicht, wie es die CDU/
CSU in ihrem Antrag direkt oder indirekt unterstellt.
Aber es besteht nach wie vor ein Mangel darin, die
Auswirkungen der Kolonialzeit abzustellen und die Bedingungen der Globalisierung sowie die ungerechte
Welthandelsordnung mit tief sitzenden spürbaren strukturellen Problemen zu ändern. Dafür müssen wir uns
einsetzen.
({1})
Hinzu kommt, dass sich die Besitz- und Eigentumsverhältnisse nicht geändert haben. Diese wurden oft sogar politisch und ökonomisch stabilisiert und verstärkt.
Das ist ein weiterer Skandal. So führen zum Beispiel
fehlende Bestimmungen über Mindestbetriebsflächen,
das Fehlen einer Grundsteuer in vielen Ländern, fehlgeleitete Subventionen und Steuervorteile und die allgemeine Orientierung der bestimmenden Gesetze am
Prinzip des Großfarmbetriebes weiterhin zu einer ungerechten Landverteilung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Deß?
Gerne.
Herr Kollege Hemker, ich bin Ihrer Meinung, dass in
vielen Entwicklungsländern die Besitz- und Eigentumsverhältnisse nicht in Ordnung sind. Aber sind Sie mit
mir der Meinung, dass in Simbabwe durch die Veränderung der Besitzverhältnisse, die dort vorgenommen worden ist bzw. wird, die Ernährungssicherung für das Land
verstärkt wird, sodass dort die Einkommenssituation der
Bevölkerung verbessert wird?
Lieber Kollege Deß, Sie wissen, dass ich in letzter
Zeit an der Erarbeitung vieler Anträge beteiligt war, in
denen auf die skandalöse Landverteilung sowie die daraus resultierenden Konflikte hingewiesen worden ist.
Einen solchen Konflikt gibt es in der Tat in Simbabwe
im Zusammenhang mit den schlimmen und ungerechten
Methoden des Regimes und der Mobilisierung von jungen Kräften, den so genannten Green Bombers, die abseits aller gesellschaftlichen Strukturen gelebt haben und
deswegen mobilisiert werden können. Genau deswegen
- darauf verweise ich noch einmal - geht es darum, die
strukturellen Bedingungen grundsätzlich zu verbessern,
({0})
damit nicht Diktatoren oder solche Leute wie in Simbabwe, zum Beispiel Herr Mugabe, diese Menschen mobilisieren können. Das ist unser Anliegen. Darum geht es
bei jeder Welternährungsdebatte.
Es muss klar sein, dass der größte Teil der Bevölkerung - das gilt und galt übrigens auch in Simbabwe keinen direkten Zugang zu eigenen nutzbaren Landflächen hat. Oder sie haben wie in vielen Entwicklungsländern viel zu kleine Flächen - und dann auch noch ohne
Besitztitel - für eine angemessene, effiziente Produktion.
Daraus folgt nicht nur für mich - darüber müssen wir
bei einem solchen Antrag wie dem heute vorliegenden
diskutieren -: Die Welternährungskrise ist vor allem
durch strukturelle Probleme bedingt. Dieser Aspekt
muss folglich auch bei den Reformbemühungen als
wesentliche Ursache berücksichtigt werden, an denen
sich im Übrigen unser Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung seit fünf Jahren international und national sehr
intensiv beteiligen.
({1})
Neben dem Regelungsrahmen der Konvention über
biologische Vielfalt und des Cartagena-Protokolls - darüber wurde hier vor einiger Zeit debattiert - ist für die
Reformen, die Lösungsansätze und Programme die Vereinbarung für die Schaffung eines internationalen
Rechts auf Nahrung von entscheidender Bedeutung.
Lieber Kollege Carstensen, dazu haben wir im Übrigen
vor einigen Monaten bereits einen Antrag vorgelegt.
Ich hoffe nun, dass durch den Druck der USA und der
international im GVO-Bereich tätigen Konzerne die anstehenden Vereinbarungen nicht aus wirtschaftlichen
und politischen Eigeninteressen boykottiert und das Setzen auf GVO-Produkte einseitig verfolgt wird, wie das
teilweise in der Vergangenheit der Fall war.
Für die Lösungen bedarf es politischer Entscheidungen für umfassende Agrar- und Bodennutzungsreformen, die nicht durch ein einseitiges - da bedanke ich
mich insbesondere bei dem Kollegen René Röspel, weil
er die Details schon dargestellt hat - technisches Konzept ersetzt werden.
({2})
Hinzu kommt: Politische Entscheidungen zur Bekämpfung der Welternährungskrise müssen zunächst in
den Industrieländern getroffen werden; auch darauf ist
schon hingewiesen worden. Diese müssen darauf zielen,
dass Subventionen für solche Produkte Schritt für Schritt
gekürzt werden, die von uns aus in den Export und in
den Handel gehen, und dass der Import solcher Produkte
gefördert wird, die mit dem Transfair-Siegel ausgestattet
sind und die aus den Ländern der Dritten Welt zu uns
kommen.
Die Bekämpfung der Hungerkrise sollte also vor allem durch eine Optimierung der Landnutzung erfolgen,
die unter anderem durch eine effektivere und am Standort ausgerichtete Gestaltung der Bodennutzung, durch
Qualifizierung der Farmbesitzer und der Arbeiter, durch
Berücksichtigung des Nachhaltigkeitsaspektes und
durch verbesserte Arbeitsbedingungen erreicht werden
kann.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Carstensen?
Ja, gerne.
Herr Kollege Hemker, Sie wissen, dass ich Ihnen
gerne zuhöre, weil Sie sehr sachkundig und sehr überlegt
reden. Ich stimme Ihnen zu, dass bei der Bekämpfung
des Hungers in der Welt eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig sind. Aber können Sie mir erläutern, warum Sie noch immer gegen eine dieser Maßnahmen in
diesem großen Bündel, nämlich die technische Maßnahme Gentechnologie - sie stellt eine bestimmte Facette dar -, argumentieren?
({0})
Lieber Kollege Carstensen, Sie verweisen in Ihrem
Antrag darauf - und zwar, wie ich finde, ein wenig kritisch -, dass sich zum Beispiel die Consultative Group of
International Agricultural Research mit diesen Fragen
beschäftigt. Weiter schränken Sie sich insoweit ein, als
Sie sagen, insbesondere die Förderung der grünen Technologie müsse weiter ausgebaut werden, was auch die
Einschätzung dieses Institutes ist. Dieses Institut wird
übrigens von den USA gefördert; ich nenne nur die
Rockefeller-Stiftung. Das müssen wir hier aber nicht im
Detail besprechen, sondern können das auf die Ausschussberatungen verschieben.
Sie erwähnen an dieser Stelle aber nicht, dass es eine
Reihe von internationalen Instituten gibt, die sich zum
Beispiel für die Weiterentwicklung traditioneller Saatgutsorten einsetzen und zum Beispiel durch Mischung
oder durch Verzicht auf Monokulturen bessere Ergebnisse erreichen als diejenigen Institute, zu denen hier
heute auch schon kritische Anmerkungen zu hören waren.
({0})
Bei der Bekämpfung der Welternährungskrise geht es
nicht nur darum, sich hinter die FAO und diese Institute
zu stellen, sondern man muss sich zunächst auf die Rahmenbedingungen konzentrieren und darf nicht einen
Teil besonders hervorheben und besonders positiv darstellen. Wir haben doch das Problem, lieber Kollege
Carstensen, dass für all die Maßnahmen zur Bodennutzungs- und Landreform und zur Unterstützung der internationalen Institute noch kein Geld vorhanden ist, aber
dass sich auf der anderen Seite viele Konzerne mit Unterstützung zum Beispiel der US-amerikanischen Regierung oder der kanadischen Regierung dafür einsetzen,
die grüne Gentechnik weiter nach vorne zu bringen. Eigentlich besteht gar kein Mangel bei der Förderung der
grünen Gentechnik. Stattdessen sollte etwas mehr für die
Verbesserung der Rahmenbedingungen getan werden.
Das ist ein anderer Ansatz.
Sie haben vorhin darauf hingewiesen, wir hätten zu
dieser Frage keine parlamentarischen Initiativen entwickelt. Das stimmt einfach nicht. Sie haben in Ihrer Intervention eben sogar Initiativen genannt. Wir haben vor
den Verhandlungen in Cancun einen sehr umfangreichen
Antrag vorgelegt, in dem wir auf die Rahmenbedingungen eingegangen sind. Wir haben einen Antrag zur Bodennutzungs- und Landreform vorgelegt; darüber haben
wir gestern im Fachausschuss sogar noch gesprochen. Es
gibt darüber hinaus einen Antrag von uns - er ist noch
nicht in der parlamentarischen Beratung, ist aber schon
eingebracht -, der sich mit der Frage Recht auf Nahrung
beschäftigt; darauf hat Frau Ministerin Künast in ihrer
Eingangsrede dankenswerterweise hingewiesen. So gesehen, lieber Kollege Carstensen, haben wir das Gesamtkonzept dargestellt; in diesem Zusammenhang wäre
auch über Ihren Antrag zu diskutieren. Aber dass Sie
diese Diskussion so eng führen, das lehnen wir ab.
({1})
Ich möchte Ihnen deswegen sagen: Es kommt jetzt
darauf an, dass wir dies in der parlamentarischen Debatte und dann in den Debatten in den Ausschüssen deutlicher machen.
Herr Kollege Hemker, sehen Sie bitte einmal auf die
Uhr.
Ich beantworte doch die Frage des Kollegen
Carstensen.
({0})
Nein, Sie beantworten die Frage des Kollegen
Carstensen schon lange nicht mehr. Ich habe genau darauf geachtet, dass die Uhr während Ihrer Beantwortung
angehalten wurde.
({0})
Ich war der Meinung, dass ich noch die Frage beantwortet habe.
Ich werde dem Kollegen Carstensen dies im Ausschuss noch einmal erläutern, damit er versteht, in welchem Gesamtzusammenhang nicht nur mein, sondern
unser politisches Engagement steht.
Ich komme zum Abschluss.
Nein, Herr Kollege Hemker, Ihre Redezeit ist deutlich
abgelaufen. Bitte schließen Sie schnell ab.
Ja, ich schließe mit drei ganz kurzen Hinweisen aus
einem Papier ab.
({0})
Herr Kollege Hemker, ich lasse diese drei kurzen
Hinweise nicht mehr zu. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Gut.
Dann sage ich nur noch: FAO ist eben nicht nur GMO
({0})
und Welternährung ist mehr als Gentechnik. Schauen Sie
sich die Erklärung von „Misereor“ und „Brot für die
Welt“ sehr genau an!
({1})
Dort wurden kritische Anmerkungen für die Öffentlichkeit gemacht.
Herzlichen Dank.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Voodoo, Zauberei, schwarze Magie, Hexenwerk manchmal könnte man meinen, man spräche von solchen Machwerken, wenn die grüne Gentechnik angeschnitten wird.
Mittlerweile sind wir weit davon entfernt, sachlich
über die Gentechnik - gar nicht zu sprechen von der grünen Gentechnik - diskutieren zu können. Ich muss sagen: leider. Die Medien spielen auf dieser Klaviatur
ebenso gerne mit. Horrorszenarien werden aufgemalt
und damit Emotionen sowie Ressentiments in der Bevölkerung geschürt, die für meine Begriffe der Sache nicht
gerecht werden, sondern ihr eher schaden.
Die Prämisse der Bundesregierung, unter der sie ihre
Haltung zu diesem Thema darlegt, scheint Handeln
durch Nichthandeln zu sein.
({0})
Im Falle des De-facto-Moratoriums auf europäischer
Ebene hat die Bundesregierung ebenso durch Nichtstun
geglänzt. Der Vorstoß von Wirtschaftsminister Clement
in diesem Frühjahr war, wie ich meine, richtig. Was ist
damit geschehen? Er wurde unter Protest von Rot-Grün
begraben.
({1})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Ja, gerne.
Frau Kollegin, im „Handelsblatt“ steht heute, dass die
Versicherungen in Großbritannien das Risiko im Zusammenhang mit der Gentechnik ähnlich bewerten wie das
Risiko des Terrorismus oder die Gefährdungen durch
Contergan und ähnliche Dinge. Würden Sie das auch als
Voodoo bezeichnen?
({0})
Das bezeichne ich nicht als Voodoo, aber es passt zu
dem, was ich vorhin gesagt habe, dass Medien nämlich
sehr gerne - fast ausschließlich und in erster Linie Horrorszenarien aufnehmen. Deshalb wurde das logischerweise auch als Erstes aufgenommen.
({0})
Im Übrigen stellt unsere Frau Ministerin für Verbraucherschutz Künast Unternehmen der Biotechnologie öffentlich an den Pranger. Frau Ministerin Künast, das haben Sie auch heute wieder getan. Haben Sie unseren
Antrag überhaupt gelesen? Sie haben nämlich nur herzlich wenig dazu gesagt, dass die grüne Gentechnik als
Chance begriffen werden kann. Lehrer würden in diesem
Zusammenhang sagen: Thema verfehlt.
Sie haben mit Recht auf Risiken hingewiesen. Chancen, die zweifelsohne auch vorhanden sind, haben Sie
aber mit keinem Wort erwähnt. Sie haben es ungeprüft
abgelehnt, zur Kenntnis zu nehmen, dass Chancen existieren. Das halte ich für Ideologie pur.
({1})
Es ist der falsche Weg, Unternehmen der Biotechnologie schlechtzureden. Die deutschen Unternehmen
der Biotechnologie verlieren ihre Kompetenz, betroffene
Unternehmen wandern ins Ausland ab und der Standort
Deutschland ist um Arbeitsplätze wesentlich ärmer. Dies
nimmt die Bundesregierung billigend in Kauf. Das ist
eine falsche Politik. Sie hilft Deutschland nicht und sie
verdeckt die vorhandenen Chancen der grünen Gentechnik völlig. Die Politik ist ideologisch motiviert. Uns,
liebe Frau Kollegin Höfken, Ideologie vorzuwerfen halte
ich doch für etwas verfehlt.
({2})
Ich plädiere daher vehement dafür, dass wir zu einer
sachlichen und offenen Auseinandersetzung über das
Thema zurückkehren. Dabei - das sehe ich genauso wie
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün - dürfen
die Risiken nicht außen vor bleiben. Jede Medaille hat
zwei Seiten, auch diese. Es lohnt sich, beide zu betrachten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Deß?
Gerne.
({0})
Frau Kollegin Pfeiffer, ich habe vor kurzem gelesen,
dass die Grünen vor etwa 20 Jahren einen Parteitagsbeschluss gefasst haben, mit dem sie sich gegen die Einführung der EDV-Technik ausgesprochen haben. Meine
Frage ist: Sind Sie mit mir der Meinung, dass die Grünen
mit ihrem Widerstand gegen die grüne Biotechnologie
weltweit genauso scheitern werden, wie sie mit ihrem
Widerstand gegen die Einführung der EDV-Technik gescheitert sind?
({0})
Herr Kollege Deß, jeder, der Zukunft nicht zur Kenntnis nimmt, jeder, der, ideologisch verbrämt, sich die Zukunft selbst verbaut, jeder, der Zukunftstechnologien
nicht als Chance begreift, wird zwangsläufig scheitern;
das ist keine Frage.
({0})
Wir sind uns darin einig, werte Kolleginnen und Kollegen, dass die Themen Welternährung und Gesundheit,
Hunger und Armut auch uns betreffen. Grüne Gentechnik kann unter anderem oder auch - das bitte ich zur
Kenntnis zu nehmen: unter anderem oder auch - als Ergänzung oder Lösung dafür dienen. Diese Ergänzungen
zur Kenntnis zu nehmen ist, denke ich, auch Ihre Aufgabe, die Aufgabe von Rot-Grün. Dies sage ich auch im
Anschluss an das, was Kollege Deß eben gesagt hat.
Die grüne Gentechnik könnte dem versteckten Hunger den Kampf ansagen. Die vielfältigen Möglichkeiten
muss Politik zur Kenntnis nehmen, müssen wir zur
Kenntnis nehmen. Wir dürfen sie nicht von vornhinein
ablehnen. Es geht nicht an, dass wir sie nicht zur Kenntnis nehmen oder überhaupt nicht darüber diskutieren. Im
Gegenteil: Man sollte ihnen in Teilbereichen nachgehen.
Ich fordere Sie auf, genau das zu tun, nämlich von Ihrer kategorischen Ablehnung zurückzukehren zu einer
sachlich geführten Diskussion, damit wir nicht mehr
über Hexenwerk, Teufelswerk, schwarze Magie und
Ähnliches reden müssen.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1216 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 f sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
19 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung steuerlicher Vorschriften ({0})
- Drucksachen 15/1621, 15/1798 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses ({2}) des Rates
vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von
Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der
schweren Kriminalität ({3})
- Drucksache 15/1719 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Internationalen Übereinkommens
von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens
auf See und zum Internationalen Code für die
Gefahrenabwehr auf Schiffen und in Hafenanlagen
- Drucksache 15/1780 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfunddreißigsten
Strafrechtsänderungsgesetzes zur Umsetzung
des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 28. Mai 2001 zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln
({6})
- Drucksache 15/1720 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Innenausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. November 2002 zur Änderung
des Europol-Übereinkommens und des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten für
Europol, die Mitglieder der Organe, die stellvertretenden Direktoren und die Bediensteten
von Europol
- Drucksache 15/1648 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. April 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen
Republik über die Festlegung der Grenze auf
den ausgebauten Strecken des Rheins
- Drucksache 15/1650 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion
Seib, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für mehr Wettbewerb und Flexibilisierung im
Hochschulbereich - der Bologna-Prozess als
Chance für den Wissenschaftsstandort
Deutschland
- Drucksache 15/1787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter H.
Carstensen ({11}), Dr. Peter Paziorek,
Bernhard Schulte-Drüggelte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Multitalent nachwachsender Rohstoff effizient
fördern
- Drucksache 15/1788 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Heinen, Julia Klöckner, Uda Carmen Freia
Heller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Verbraucher aufklären und schützen - Innovation und Vielfalt in der Produktentwicklung
und Werbung für Lebensmittel erhalten
- Drucksache 15/1789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorge-
schlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 c bis
20 j sowie den Zusatzpunkt 3 auf:
20 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Übergangsregelung zum
Kindschaftsrechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete Eltern
- Drucksache 15/1552 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 15/1807 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Irmingard Schewe-Gerigk
Sibylle Laurischk
c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung luftverkehrsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 15/1469 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({17})
- Drucksache 15/1793 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Peter Danckert
d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. März
2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Verlauf der Staatsgrenze in
den Grenzabschnitten Bargen/Blumberg,
Barzheim/Hilzingen, Dörflingen/Büsingen,
Hüntwangen/Hohentengen und Wasterkingen/
Hohentengen
- Drucksache 15/1187 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({19})
- Drucksache 15/1717 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Ernstberger
Bernd Schmidbauer
Dr. Ludger Volmer
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({20})
Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
- Drucksache 15/1614 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 65 zu Petitionen
- Drucksache 15/1701 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 15/1702 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
- Drucksache 15/1703 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 68 zu Petitionen
- Drucksache 15/1704 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
- Drucksache 15/1705 ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({26}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk,
Rainer Funke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Sorgerecht für nichteheliche Kinder vor In-
Kraft-Treten der Kindschaftsrechtsreform re-
geln
- Drucksachen 15/757, 15/1807 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Ute Granold
Irmingard Schewe-Gerigk
Sibylle Laurischk
Es handelt sich um Beschlussvorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 20 a: Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Einführung einer Übergangsregelung zum Kindschafts-
rechtsreformgesetz für nicht miteinander verheiratete El-
tern, Drucksache 15/1552. Der Rechtsausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 15/1807, den Gesetzentwurf in der Aus-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses
angenommen.
Zusatzpunkt 3: Unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 15/1807 empfiehlt der
Rechtsausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 15/757 mit dem Titel „Sorgerecht für nicht-
eheliche Kinder vor Inkrafttreten der Kindschaftsrechts-
reform regeln“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 c: Abstimmung über den Ge-
setzentwurf des Bundesrates zur Änderung luftverkehrs-
rechtlicher Vorschriften, Drucksache 15/1469. Zu die-
sem Tagesordnungspunkt liegen zwei schriftliche
Erklärungen nach § 31 GO vor.1) Der Ausschuss für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf
Drucksache 15/1793, den Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 20 d:
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom
5. März 2002 mit der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft über den Verlauf der Staatsgrenze in bestimmten
Grenzabschnitten, Drucksache 15/1187. Der Auswär-
tige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1717, dem
Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe-
ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 20 e: Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 15/1614 zur
1) Anlage 2
Übersicht 4 über Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 20 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 65 zu Petitionen
- Drucksache 15/1701 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 65 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 15/1702 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 66 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
- Drucksache 15/1703 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 67 ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der
FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 68 zu Petitionen
- Drucksache 15/1704 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 68 ist mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU
gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
- Drucksache 15/1705 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Sammelübersicht 69 ist mit den Stimmen der
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({32}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung
und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({33})
- Drucksachen 15/1104, 15/1800 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Rolf Mützenich
Dr. Ludger Volmer
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Petra Ernstberger, Hans Büttner ({34}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Marianne Tritz, Volker Beck ({35}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen durch Abrüstung und
kooperative Rüstungskontrolle
- Drucksache 15/1786 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({36})
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war ein guter Tag für die Politik der Nichtverbreitung. Wir alle haben mit Erleichterung das Ergebnis
der Gespräche der drei europäischen Außenminister
- Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands - mit
Teheran zur Kenntnis genommen und die gute Nachricht
in den Ausschüssen diskutiert.
({0})
Iran sagt zu, das Zusatzprotokoll der Internationalen
Atomenergie-Organisation zu zeichnen, das weit reichende Inspektionen der Atomanlagen ermöglicht. Iran
sagt außerdem zu, dieses Protokoll schon vor der Ratifizierung zu implementieren. Iran sagt weiterhin zu, die
Urananreicherung und Wiederaufarbeitung auszusetzen
und volle Transparenz bezüglich seines Atomprogramms herzustellen.
Dies ist ein großartiger Erfolg einer weisen Dialogund Verhandlungsdiplomatie. Ich möchte Herrn Außenminister Fischer und seinen beiden Kollegen ausdrücklich von dieser Stelle aus danken. Dies ist ein schöner
Erfolg. Frau Staatsministerin, wir bitten Sie, das weiterzusagen.
({1})
An dieser Stelle sagen wir aber auch der IAEO für ihre
stringenten Bemühungen Dank, Iran zu einer völligen
Offenlegung der Nuklearprogramme zu bewegen. Dieses
Ergebnis ist möglicherweise ein dramatischer Wendepunkt in der Frage der Eindämmung von nuklearer Proliferation, vorausgesetzt, diese Vereinbarungen werden
auch umgesetzt. Iran muss seine Zusagen schnell und
ohne Abstriche erfüllen. Es muss darauf verzichten,
einen geschlossenen Brennstoffkreislauf aufzubauen,
und damit auch auf die Option verzichten, waffenfähiges
Spaltmaterial zu produzieren. Tut es dies nicht, steht
nicht nur die Stabilität einer ganzen Region auf dem
Spiel, sondern auch das ohnehin gefährdete Gefüge des
Nichtverbreitungsregimes.
Mich erfüllt die Hoffnung, dass dieses Lösungsmodell auch ein Lösungsmodell für den schwierigen Fall
Nordkorea sein kann. Mit dem KEDO-Prozess wurde
ein solcher Versuch bereits früher unternommen. Er ist
leider gescheitert. Aber wir haben keine andere Chance,
als einen Dialog und eine Verhandlungslösung zu suchen.
Präemptive Militärschläge stellen keine Lösung dar,
weder für Nordkorea noch für Iran oder sonst ein anderes Land. Sie sind völkerrechtswidrig und führen zur Eskalation und zur Destabilisierung. Sie unterminieren das
System kollektiver Sicherheit, das Grundlage der UNCharta ist. Es gibt keine Alternative zur Stärkung multilateraler Rüstungskontrollregime, wenn die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen
unser Ziel ist. Diese Regime müssen gestärkt werden. Es
ist völlig richtig, wenn die USA die kollektive Verantwortung aller Teilnehmerstaaten für die Einhaltung der
Nichtverbreitungs- und Abrüstungsverträge einklagen,
wie es der Vertreter der USA, Herr Rademaker, soeben
vor dem Ersten Ausschuss der UN gemacht hat. Gelingen kann dies allerdings nur, wenn alle Teilnehmerstaaten ohne Ausnahme ihre Verpflichtungen vollständig erfüllen.
({2})
Die Umsetzung der Vertragsbestimmungen, aber auch
die Fortentwicklung der Verträge angesichts neuer
Herausforderungen ist notwendig. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Die Universalisierung, also das
Drängen auf Beitritt aller Staaten zu den Konventionen,
muss ein zentrales Anliegen multilateraler Rüstungskontrolle sein.
Lassen Sie mich das einmal am Beispiel des Nichtverbreitungsvertrages durchdeklinieren. Vor 30 Jahren
hatte man noch befürchtet, dass um das Jahr 2000 etwa
25 Staaten über Nuklearwaffen verfügen würden. Tatsächlich haben aber viele Staaten ihre heimlichen Nuklearprogramme aufgegeben und sind dem Nichtverbreitungsvertrag beigetreten, zum Beispiel Südafrika,
Brasilien und Argentinien. Im Jahr 1995 gelang es, diesen Vertrag unbegrenzt zu verlängern. Das ist ein wichtiger Punkt.
Nicht zuletzt der Abrüstungsprozess zwischen den
großen Nuklearmächten mag dazu beigetragen haben,
aber vor allen Dingen auch das Versprechen der Atommächte, alle Atomwaffen abzurüsten. Ein schrittweiser
Prozess der Einlösung der Abrüstungsverpflichtungen
aus dem Art. VI zeichnete sich ab. Der Atomteststoppvertrag lag auf dem Tisch, ein Mandat zum Abkommen
über den Stopp der Produktion waffenfähigen Spaltmaterials - das ist der so genannte Cut-off - wurde diskutiert.
Im Jahr 2000 einigte sich die Überprüfungskonferenz auf
13 Punkte zur Stärkung des Nichtverbreitungsvertrages
und zur Einlösung dieser Verpflichtungen.
Seither aber gab es leider fast keine Fortschritte. Der
Atomteststoppvertrag ist nicht in Kraft getreten, Verhandlungen zu einem Cut-off finden nicht statt, der
ABM-Vertrag ist aufgekündigt worden, der START-IIVertrag zur Abrüstung strategischer Waffen wird nicht in
Kraft treten. Dafür ist ein Vertrag zwischen Moskau und
den USA geschlossen worden, der keine bindende Verpflichtung zur Abrüstung von Nuklearwaffen enthält.
Die Umsetzung dieses Vertrages ist umkehrbar, nicht verifizierbar und nicht transparent.
Indien, Pakistan und Israel sind die einzigen Staaten,
die dem Nichtverbreitungsvertrag nicht beigetreten sind.
Sie entwickeln stattdessen ihre nukleare Rüstung weiter.
Nordkorea hat den Nichtverbreitungsvertrag aufgekündigt und droht mit nuklearer Aufrüstung. Japan und
Saudi-Arabien stellen Überlegungen an, sich nukleare
Abschreckungspotenziale zuzulegen. In den USA werden Forschungen zur Entwicklung neuer, operativer Nuklearwaffen angestellt und es ist vielleicht nur noch eine
Frage der Zeit, dass das Testmoratorium fällt.
Kolleginnen und Kollegen, das alles zeigt, dass es
Zeit für neues Denken in der Nichtverbreitungspolitik ist
und dass neue Instrumente notwendig sind.
({3})
Die bereits erwähnten 13 Punkte aus dem Überprüfungsvertrag von 2000 sind zum Teil überholt. Das ist deutlich
erkennbar. Deshalb müssen diese 13 Punkte - auch wenn
nicht alle obsolet geworden sind - überprüft werden. Es
gibt dazu bereits Vorschläge, zum Beispiel von der
Middle Powers Initiative, die ich allen Abrüstern und
Abrüsterinnen zur Lektüre empfehle.
Ich bitte die Bundesregierung an dieser Stelle ganz offiziell, in diesem Jahr im Ersten Ausschuss der Resolution der New Agenda Coalition zuzustimmen.
({4})
Es gibt nicht einen Punkt in dieser Resolution, den wir
mit unserer Politik nicht voll unterstützen würden und
den die Bundesregierung ablehnen müsste.
({5})
- Das ist hervorragend; noch eine gute Nachricht.
Es gibt keinen Multilateralismus à la carte. Bisherige
Abkommen können nicht selektiv genutzt werden.
Konsensbildung - so mühsam sie ist - ist nicht ein Auslaufmodell des Kalten Krieges, wie der bereits erwähnte
Assistant Secretary of State der USA, Rademaker, vor
dem Ersten Ausschuss der VN erklärt hat. Sie ist vielmehr eine zwingende Notwendigkeit, wenn man die
Welt nicht in gute Staaten und Schurkenstaaten aufteilen
will.
Multilateralität bedeutet, die Sicherheitsbedürfnisse
aller Staaten zu beachten, Stabilität durch Vertrauensbildung zu fördern sowie Transparenz und Überprüfbarkeit
der Einhaltung von Verpflichtungen zu garantieren. Die
Beteiligung an multilateralen Abkommen muss eine
win-win-Situation für alle gewährleisten. Ich glaube, für
das jetzt verabredete Prozedere mit dem Iran liegt der
Charme genau darin, dass für beide Seiten eine absolute
win-win-Situation entsteht. Nur dann kann die
„noncompliance“ - das heißt die Nichteinhaltung von
Verträgen - mit Fug und Recht von der internationalen
Staatenwelt sanktioniert werden.
Die Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen auf Staatenebene bleibt die größte Herausforderung der Nichtverbreitungspolitik. Aber ein
weiteres Kernanliegen zukünftiger Nichtverbreitungspolitik muss die Sicherung von atomaren, chemischen und
biologischen Stoffen vor unbefugtem Zugriff, zum Beispiel durch Terroristen, sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich die G-8-Initiative „Globale Partnerschaft“ hervorheben, die auf diesem Felde eine hohe Priorität besitzt. Jeder einzelne
Staat, der über solche Stoffe verfügt, trägt selber große
Verantwortung für ihre Sicherung. Aber es ist auch in
unserem eigenen Interesse, anderen Staaten bei der Sicherung dieser Stoffe zu helfen, wenn das für diese
Staaten - an dieser Stelle ist Russland namentlich zu
nennen - mit großen Schwierigkeiten verbunden ist.
({6})
Deswegen möchte ich noch einmal darauf hinweisen,
dass wir in diesem Bereich schon sehr viel getan haben,
zum Beispiel mit der Anlage in Gorny zur Vernichtung
chemischer Waffenbestände in Russland. Wir werden
das im Rahmen der G-8-Initiative in Kambarka weiterführen, wo ein ähnliches Projekt aufgelegt wird. Wir
werden des Weiteren in die Sicherung nuklearer Stoffe
einsteigen. Ich halte das für einen sehr wichtigen Bereich, in dem wir in Zukunft noch mehr tun sollten.
Darüber hinaus gibt es ein Projekt im Zusammenhang
mit der Entsorgung von U-Booten, die in der SaidaBucht liegen. Das alles sind sicherlich sinnvolle Projekte. Ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung
einen Beitrag von 1,5 Milliarden Euro über zehn Jahre
zugesagt hat, mit denen diese Projekte vorangetrieben
werden sollen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
noch kurz die neue Proliferation Security Initiative
anführen, die den illegalen Transfer von Massenvernichtungswaffen verhindern und zur Stärkung und Verbesserung internationaler Nichtverbreitungsinitiativen beitragen soll. Wichtig ist, dass die Bundesregierung und
die anderen europäischen Regierungen - dafür bedanke
ich mich - darauf dringen, dass dies immer im Rahmen
des internationalen Rechts geschieht. Das ist ein wichtiger Punkt.
Der Jahresabrüstungsbericht 2002 zeigt Erfolge und
die Wichtigkeit multilateraler Nichtverbreitungsabkommen, aber auch Stagnation, die Rückschläge und die Gefährdung des Erreichten auf. Kooperative Sicherheit
- das sollte ein Leitgedanke sein - ist kein veraltetes
Modell des Kalten Krieges, sondern eine Chance, auch
den neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu
begegnen. Dazu möchten wir mit unserem gemeinsamen
Antrag von Rot-Grün einen Beitrag leisten.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die
Unionsfraktion fand, dass gestern, als die Nachricht über
das Einlenken der iranischen Regierung kam, ein guter
Tag war. Wir sehen das als einen ersten wichtigen Schritt
an, der zu Hoffnungen berechtigt. Ich hoffe - ich glaube,
das tun wir alle -, dass man im Rückblick das, was gestern gelungen ist, als einen entscheidenden Durchbruch
bezeichnen wird. Auch wir zollen der Leistung unserer
Diplomaten und des Außenministers Anerkennung.
({0})
Es gibt aber auch ein Jubiläum. Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren, am 22. Oktober 1983, hat die große
Demonstration gegen die Nachrüstung und gegen den
NATO-Doppelbeschluss auf den Bonner Hofgartenwiesen stattgefunden.
({1})
Damals gab es einen tiefen Konflikt darüber, ob Abrüstung einseitig oder gleichgewichtig und kontrolliert erfolgen solle. Unsere Position - Frieden schaffen mit
immer weniger Waffen - erschien damals vielen Demonstranten als unglaubwürdig und illusionär; das weiß
ich noch genau. Heute wird in dem von der Bundesregierung vorgelegten Jahresabrüstungsbericht 2002 der Moskauer Vertrag, der im Jahre 2002 zur strategischen Abrüstung zwischen den USA und Russland geschlossen
wurde und der eine Reduzierung der Zahl der nuklearen
Offensivwaffen um zwei Drittel bis zum Jahre 2010 vorsieht, richtigerweise als Erfolg verbucht. Heute könnte
also die Formel „Frieden schaffen mit immer weniger
Waffen“ unser aller gemeinsames Ziel beschreiben.
Grundsätzlich gibt es ja eine große Übereinstimmung im
Unterausschuss „Abrüstung und Rüstungskontrolle“.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird festgestellt,
dass sich die Rüstungskontrolle in einer Krise befindet.
Ich stimme dieser Feststellung ausdrücklich zu. Es gibt
einen neuen Rüstungswettlauf in Asien und im Nahen
Osten. Besonders besorgniserregend ist dabei, dass er
auch eine nukleare Dimension hat; denn Nordkorea und
Iran streben - vermutlich oder tatsächlich - nach Atomwaffen.
Welches sind die Ursachen für die Krise der Rüstungskontrolle? Erstens. Die bestehenden Mechanismen
der Rüstungskontrolle wurden für den Ost-West-Konflikt entwickelt. Man hat auf eine gleichwertige gegenseitige Abrüstung und gegenseitige Kontrolle gesetzt.
Man ging außerdem von der Grundprämisse einer gegenseitigen Abschreckung aus. Man unterstellte sich damit gegenseitig ein kalkulierbares und rationales Verhalten.
Zweitens. Die Mechanismen, die wir bisher kennen,
wurden im Hinblick auf die Rüstung von Staaten entwickelt. Man hat gemeinsam bestimmte Kategorien von
Massenvernichtungswaffen und Trägersystemen verboten. Man hat multilaterale Abkommen geschlossen, multilaterale Überprüfungen festgelegt und gemeinsame Institutionen wie etwa die IAEO zur Überwachung und
Kontrolle geschaffen. Aber heute - das macht die veränderte Lage aus - gibt es zusätzliche oder veränderte
Konfliktlagen und Bedrohungswahrnehmungen. Innerstaatliche Kriege, also Bürgerkriege, werden von den
bisher bestehenden Rüstungskontrollregimen gar nicht
erfasst. Die Privatisierung des Krieges wird davon nicht
erfasst. Wir haben das Problem von Terrorismus und
Failed States, also zerfallenen Staaten, sowie das Problem der Verbindung von Terrorismus und Staaten, die
uns Sorgen machen, die von den Amerikanern „Rough
States“ genannt werden.
Wenn man über die Krise der Rüstungskontrollbemühungen spricht, muss man sich natürlich auch mit den
Ursachen für die Hochrüstung und für die zunehmenden
Rüstungsanstrengungen auseinander setzen. Es sind im
Wesentlichen fünf Ursachen:
Erstens: die jeweilige Bedrohungswahrnehmung.
Zweitens: das Streben nach Vormacht, nach Einfluss,
nach Prestige.
Drittens: innenpolitischer Machterhalt. Denken wir
nur daran, dass Saddam Hussein nicht nur die eigenen
Streitkräfte zur Absicherung der diktatorischen Herrschaft gedient haben; er hat sogar die Massenvernichtungswaffen unter diesem Aspekt eingesetzt.
Viertens: Unternehmer in Sachen Gewalt, die Rüstung als lukratives Geschäft betreiben. Denken wir zum
Beispiel an die Situation der Warlords in Afghanistan.
Fünftens: terroristische Ziele einschließlich des Strebens nach Massenvernichtungswaffen.
Ich komme zu einem sehr schwierigen Punkt, der aus
meiner Sicht ebenfalls eine Ursache für Rüstung sein
kann, wahrscheinlich auch schon ist. Ich meine die Nebenwirkungen - so will ich es einmal nennen - unserer
Sicherheitsstrategien. Wenn die Streitkräfte von klassischer Landesverteidigung auf Interventionsfähigkeit umgestellt werden, wenn wir aus humanitären Gründen intervenieren - aus unserer Sicht völlig berechtigt; wir
haben es auch gemeinsam beschlossen -, dann bedeutet
das in der Wahrnehmung mancher Dritte-Welt-Staaten
- wie man verkürzt sagen könnte - natürlich eine latente
Bedrohung und führt zu zusätzlichen Rüstungsanstrengungen.
Auch die Erforschung so genannter Mini-Nukes,
durch die die Schwelle eines Atomwaffeneinsatzes gesenkt wird - jetzt nur auf der Forschungsebene, aber es
besteht die Gefahr, dass das dann auch operativ umgesetzt wird -, ist sicherlich eher rüstungstreibend als rüstungsbegrenzend. Natürlich gehört in diesen Kontext
auch die Diskussion über Prävention und Präemption.
Der Koalitionsantrag stellt also zu Recht fest, dass
sich die Rüstungskontrolle in einer Krise befindet und
deshalb neuer Impulse bedarf. Er umfasst 21 Punkte und
- ich habe es gezählt - 13 Unterpunkte. Das zeigt auf der
einen Seite, dass Sie ganz fleißig waren, und auf der anderen Seite zeigt es natürlich auch die Dichte des bisherigen Regelwerks. Im Grunde lauten die Vorschläge, die
Sie zur Weiterentwicklung machen, in aller Regel: mehr
von demselben, dasselbe noch etwas besser. Das sage ich
gar nicht kritisch. In die Richtung geht es im Wesentlichen.
Dass Sie die Bundesregierung ausdrücklich auffordern, finanzielle Zusagen auch einzuhalten - das habe
ich mit etwas Schmunzeln gesehen -, versteht in diesem
Hause angesichts der finanzpolitischen Unzuverlässigkeit der Bundesregierung nun wirklich jedermann.
({2})
- Klar, aber es kommt noch mehr.
Sie haben in Ihrem Antrag eine Strategie, die präemptive Militärschläge zulässt, ausdrücklich abgelehnt. Das
ist angesichts der Diskussion um das Solana-Papier
eine, glaube ich, voreilige Festlegung. In dem Papier
steht immerhin, dass man in Europa eine strategische
Kultur entwickeln soll, die ein frühzeitiges, rasches und,
wenn nötig, robustes Eingreifen begünstigt. In dem Solana-Papier heißt es auch: Für eine normgestützte Weltordnung gilt, dass die Gesetze mit den Entwicklungen
wie Proliferation, Terrorismus und globale Erwärmung
Schritt halten müssen.
Auch in einem anderen Punkt haben Sie sich meines
Erachtens falsch festgelegt. Sie fordern Beschlüsse des
UN-Sicherheitsrats als zwingende Voraussetzung für
die Verhängung von Sanktionen. Das geht weit über das
gegenwärtige Völkerrecht hinaus. Das gegenwärtige
Völkerrecht lässt Sanktionen auch ohne Beschluss des
UN-Sicherheitsrats zu. Ich weiß nicht, ob es klug ist,
dass sich die Europäische Union beispielsweise eines
solchen Instruments begibt, so wie Sie das in Ihrem Antrag fordern.
({3})
Um zu Abrüstungserfolgen zu kommen, müssen auch
die neuen Konflikte angegangen werden. Im Hinblick
auf Failed States ist Nation Building erforderlich. Gefordert ist eine Antiproliferationpolitik mit Exportkontrollen, aber auch dem Abfangen von Lieferungen von Massenvernichtungswaffen zum Beispiel auf hoher See. Da
sind Sie schon an einem Punkt, an dem das Völkerrecht
weiterentwickelt werden muss.
Auch bei der Terrorismusbekämpfung werden Sie
ohne den Gedanken der Prävention nicht weiterkommen.
Dort ist eine Weiterentwicklung des Völkerrechts erforderlich. In der Präventionsdebatte geht es nämlich vor
allen Dingen um die letzten beiden Punkte: Antiproliferation und Terrorismusbekämpfung. Natürlich muss jede
gefundene Regelung - an diesem Punkt sind wir uns sicherlich einig - allgemein gelten, also auch für Indien
und Pakistan, und sie darf nicht konflikteskalierend wirken.
Um zu erreichen, dass weitere Staaten, die miteinander im Konflikt stehen, abrüsten, dürfte es darauf ankommen, ob und wieweit es gelingt, den Grundgedanken
durchzusetzen, dass man Sicherheit nicht gegen oder vor
einem anderen Staat gewinnen kann, sondern nur miteinander.
Nun komme ich auf den Nahen Osten zurück. Man
sollte die Bundesregierung auffordern, sich für nahöstliche Rüstungskontrollgespräche stark zu machen. Es hat
sie nach der Nahostkonferenz von Madrid von 1992 bis
1995 schon gegeben. Die Veränderungen, die im Irak zuletzt stattgefunden haben, und auch die Veränderungen,
die sich im Iran hoffentlich abzeichnen, könnten ein Momentum für solche Gespräche darstellen.
({4})
Ich mache mir keine Illusionen: Ein Abkommen zur
Abrüstung ist im Nahen Osten vorläufig nicht zu erreichen; aber ein Forum könnte dazu dienen, Bedrohungswahrnehmungen der beteiligten Staaten auf den Tisch
zu bringen. Syrien könnte, anders als damals, bereit
sein, teilzunehmen. Es hat nämlich selbst vorgeschlagen, die amerikanischen Vorwürfe, man habe Massenvernichtungswaffen, nicht bilateral mit den Amerikanern, sondern im internationalen Rahmen zu behandeln.
Natürlich müssten, anders als damals, auch der Iran und
der Irak - notfalls die dortige Übergangsregierung dazu eingeladen werden.
Solche nahöstlichen Rüstungskontrollgespräche wären auch eine Chance für die USA und den Iran. Es gibt
aus unterschiedlichen Gründen für beide Regierungen
bisher keine offiziellen Möglichkeiten, sich in bilateralen Gesprächen auszutauschen; aber im multilateralen
Rahmen könnte man Positionen gegenseitigen Interesses
klären.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Letztlich wäre eine solche Initiative - an ihr müssten
Europäer und Amerikaner nämlich in jedem Fall teilnehmen - auch ein Signal, dass Frieden und Sicherheit im
Nahen Osten ein gemeinsames transatlantisches Interesse ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Bundesregierung hat jetzt die Staatsministerin
Kerstin Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht erst
seit dem 11. September 2001 wissen wir, dass sich die
Sicherheitslage seit dem Ende des Kalten Krieges völlig verändert hat. Wir sind mit ganz neuen, komplexeren sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert - Kollege Polenz hat einige davon erwähnt -: mit
der Terrorismusgefahr, regionalen Instabilitäten, der
Gefahr der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Failed States. Angesichts dieser neuen, komplexeren Herausforderung brauchen wir die Rüstungskontrolle mehr denn je.
Da dabei kein Staat im Alleingang Aussicht auf Erfolg haben kann, setzt die Bundesregierung auf Zusammenarbeit und natürlich auf Konfliktprävention, und
das vor allem im multilateralen Rahmen.
({0})
Ich stimme den Prämissen des Koalitionsantrages
ganz ausdrücklich zu. Ein Ansatz, der allein auf militärische Mittel zur Gewährleistung von Sicherheit setzt, ist
verfehlt. Wir müssen die zur Verfügung stehenden internationalen Rüstungskontrollmechanismen effektiv nutzen und verbessern, um adäquate und wirksame Antworten auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
zu finden und um vor allem das Risiko zu mindern, dass
Terroristen Zugriff auf solche Waffen erhalten könnten.
Die Gespräche der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands vorgestern in Teheran
wurden hier erwähnt. Diese Gespräche haben uns gezeigt, dass eine kooperative Sicherheitspolitik mit den
Mitteln der Diplomatie erfolgreich sein kann, auch wenn
es schwierig ist. Der Iran hat sich zur vollen Kooperation
mit der IAEO sowie zur Zeichnung und Umsetzung des
Zusatzprotokolls klar bekannt. Er hat zugesagt, alle Aktivitäten zur Urananreicherung und zur Wiederaufbereitung vorläufig zu suspendieren. Damit werden zentrale
Forderungen der internationalen Gemeinschaft in der Tat
vorerst erfüllt.
Ich glaube, das Ergebnis eröffnet wirklich die Chance
für eine längerfristige Lösung und dafür, dass internationales Vertrauen wieder hergestellt werden kann. Es
stärkt aber auch insgesamt das Nichtverbreitungsregime
bzw. den Nichtverbreitungsvertrag. Wir hoffen wirklich,
dass es nun auch zur Umsetzung dieser Zusagen kommt.
Darauf wird vor allen Dingen die IAEO, darauf werden
aber auch wir achten.
Das Beispiel zeigt: Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung sind der beste Ansatz für friedliche
Lösungen auf globaler wie regionaler Ebene. Es muss
mehr denn je darum gehen, die vorhandenen Instrumentarien im Abrüstungs- und Nichtverbreitungsbereich zu
stärken. Darum bemüht sich die Bundesregierung. Angesichts neuer Rüstungswettläufe - das wurde schon erwähnt - hoffe ich wirklich, dass wir dabei mit den Mitteln der Diplomatie in Zukunft erfolgreich sein werden.
({1})
Im Kampf gegen Proliferation spielen aber auch die
Ausfuhr von kleinen und leichten Waffen, zugehöriger
Munition und entsprechender Herstellungsausrüstung
sowie die Lieferungen von Dual-use-Gütern in Drittländer eine sehr große Rolle. Sie erlauben, dass ich auch in
der Debatte zum Jahresabrüstungsbericht auf dieses
Thema eingehe. Hier leistet die Bundesregierung einen
wichtigen Beitrag, weil sie auf diesem Feld eine äußerst
restriktive Rüstungsexportpolitik betreibt. So sollen unter anderem künftig in Drittländern außerhalb von
NATO und EU keine neuen Herstellungslinien für Kleinwaffen oder entsprechende Munition mehr eröffnet werden. Ferner beabsichtigen wir, den Exportgrundsatz „neu
für alt“ anzuwenden, wo immer dies möglich ist. Das
heißt, Lieferverträge sollen so gestaltet werden, dass außer Dienst gestellte Kleinwaffen zu vernichten sind und
so dem Weiterverkauf entzogen werden.
({2})
Wir haben für diese Politik auch auf der Ersten VNKonferenz zum Kleinwaffenaktionsprogramm im Juli
dieses Jahres in New York nachdrücklich geworben und
uns für die Kontrolle von Rüstungsexporten und Waffenvermittlungsgeschäften eingesetzt. Dies ist uns eine zutiefst humanitäre Verpflichtung wie auch unsere fortgesetzten Bemühungen für ein umfassendes Verbot von
Antipersonenminen.
Außerdem ist die Genehmigungspraxis der Bundesregierung bei der Ausfuhr von Dual-use-Gütern, die neben
ihrem regulären zivilen Zweck auch für Massenvernichtungswaffenprogramme missbraucht werden könnten,
seit langem sehr restriktiv; sie genießt nicht zuletzt deswegen internationale Wertschätzung. Mit Blick auf die
fortgesetzten Beschaffungsversuche einiger Staaten und
auf die Gefahr des Zugriffs von Terroristen auf Massenvernichtungswaffen arbeiten wir hier aktuell an einer
Verschärfung bei der Umsetzung der einschlägigen Instrumentarien der Exportkontrolle.
Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich Ihnen allen noch einmal für Ihre Unterstützung bei dieser
schwierigen Aufgabe der Abrüstung, Rüstungskontrolle
und Nichtverbreitung danken. Ich hoffe, dass wir auch
zukünftig mit Ihrem Rückhalt rechnen können, wenn es
darum geht, diese Herausforderungen als ein prioritäres
Aufgabenfeld für die EU fest zu verankern. Da stehen
wir am Anfang. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir
auch hier weiterkommen und zukünftig eine wichtige
Rolle bei Abrüstung und Rüstungskontrolle spielen werden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Leibrecht von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen zu verhindern ist wichtiger und dringlicher als je zuvor. Das hat die aktuelle Situation im Iran gezeigt. Ich
selber war vor wenigen Tagen mit dem Auswärtigen
Ausschuss im Iran, um mir selbst ein Bild über die Lage
vor Ort zu machen. Während dieses Besuchs versuchte
die iranische Führung, uns davon zu überzeugen, dass
sie mit ihrem Nuklearprogramm nur zivile Nutzung
anstrebt. Wie Sie wissen, waren wir jedoch anderer Meinung. Inzwischen scheint die iranische Regierung umzudenken: Sie wird das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag unterschreiben und Inspektionen vor
Ort zustimmen. Dies, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, ist in der Tat ein bemerkenswerter Erfolg unseres Außenministers und seines britischen und seinem
französischen Amtskollegen. Hierfür drücke ich die Anerkennung auch der FDP-Fraktion aus.
({0})
Wie Sie wissen, ist die FDP mit der derzeitigen deutschen Außenpolitik nicht immer einverstanden, so auch
in der Frage des Kunduz-Einsatzes in Afghanistan. Am
Dienstag hat sich gezeigt, dass eine einheitliche europäische Außenpolitik erfolgreich sein kann. Bei aller Zuversicht muss ich dennoch sagen: Der Iran muss den
Worten jetzt Taten folgen lassen. Ich hoffe nicht, dass
der Iran irgendwann sein Atomwaffenprogramm fortsetzt. Das jetzt zugesagte Aussetzen des Programms
stimmt zwar optimistisch, lässt aber Hintertüren offen.
Auch ohne dieses Nuklearprogramm geht vom Iran eine
potenzielle militärische Gefahr aus. Wie Sie wissen, verfügt der Iran über Langstreckenraketen, die Israel erreichen können. Das Beispiel Iran zeigt, wie schnell eine
internationale Bedrohung von einem Land ausgehen
kann, wenn es Massenvernichtungswaffen entwickelt
oder herstellt.
Wir müssen in diesem Bereich die Ursachen sozusagen an der Wurzel packen. Ohne Material und Knowhow aus dem Ausland wäre selbst ein Land wie der Iran
kaum in der Lage, ein Nuklearprogramm voranzutreiben. Ob durch Unterstützung russischer Unternehmen
oder durch Unterstützung aus Nordkorea: Immer wieder
weisen Spuren in diese Länder, wenn es um Nuklearprogramme geht. Wir müssen dazu beitragen, dass Rüstungsexporte, die der Herstellung von Massenvernichtungswaffen dienen, endlich unterbunden werden.
Iran ist abrüstungspolitisch ein wichtiges Thema, aber
bei weitem nicht das einzige. Der Abrüstungsbericht der
Bundesregierung für 2002 ist schön aufgearbeitet und
liest sich in weiten Teilen wie eine einzige Erfolgsstory.
({1})
Dass dieser Bericht aber nicht nur schön, sondern leider
auch schönfärberisch geschrieben ist, zeigt schon die
Tatsache, dass die Regierungsfraktionen zum Abrüstungsbericht heute einen eigenen Antrag einbringen.
({2})
In diesem Antrag ist die Aussage enthalten - Herr
Polenz hat schon darauf hingewiesen -:
Die Rüstungskontrolle befindet sich in einer Krise
und bedarf deshalb neuer Impulse.
Das ist wohl wahr.
Viele der unzähligen Abrüstungsabkommen stammen in der Tat aus der Zeit, als die Welt noch in Ost und
West geteilt war. Sie passen heute nicht mehr. Für die
Bewältigung der neuen Herausforderungen sind diese
Abkommen unzureichend. Das ist der Grund dafür, dass
einzelne - wie wir wissen: ganz maßgebliche - Länder
sich nicht mehr auf die multilateralen Instrumente der
Rüstungskontrolle verlassen, sondern auf Bedrohungen
inzwischen unilateral reagieren.
Abrüstungspolitik braucht deshalb - mehr als ein
Jahrzehnt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts dringend eine Bestandsaufnahme. Damit meine ich nicht
eine Auflistung der unterschiedlichen Instrumente; diese
Auflistung ist in dem Abrüstungsbericht enthalten. Ich
meine eher eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit den Fragen, was diese Instrumente heute noch
leisten können, wie wir sie an grundlegend veränderte
Situationen anpassen können und wie neue Instrumente
möglicherweise aussehen sollten. Genau das bietet der
Abrüstungsbericht eben nicht.
In der ersten Lesung des Abrüstungsberichts haben
Sie, Frau Staatsministerin Müller, für die Bundesregierung angekündigt:
Wir müssen die vorhandenen Abrüstungs- und
Nichtverbreitungsinstrumente stärken und schärfen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, das nicht nur anzukündigen, sondern auch in diesem Bereich zu handeln
und gleichzeitig mit den Partnern auf internationaler
Ebene zu prüfen, ob wir möglicherweise neue, effektivere Instrumente brauchen.
Gerne hätte ich in diesem Abrüstungsbericht gelesen,
was vonseiten der Bundesregierung getan wird, um Rüstungskontrollen in Zukunft zu verbessern.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Ernstberger von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Leibrecht, es gibt eine ganz
einfache Möglichkeit, nämlich unserem Antrag zuzustimmen.
({0})
Auch ich möchte, wie schon viele Vorrednerinnen
und Vorredner, Erleichterung über und Dank für den Erfolg zum Ausdruck bringen, den die Außenminister
Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens auf ihrer
Iran-Mission errungen haben.
({1})
Man stelle sich nur einmal vor, was passiert wäre, wenn
der Erfolg ausgeblieben wäre. Der Iran gehört nämlich
zu den Unterzeichnern des Nichtverbreitungsvertrages.
Die Glaubwürdigkeit vertragsgestützter Abrüstung und
Rüstungskontrolle steht und fällt doch mit der Bereitschaft der Staaten, die Verträge, die sie unterschrieben
haben, einzuhalten. Ein Vertragsbruch bzw. der Ausstieg
aus diesem Nichtverbreitungsvertrag hätten sowohl für
die Region als auch für die Politik der Rüstungskontrolle
zu unabsehbaren Konsequenzen führen können. Sogar
eine Eskalation bis hin zu einem Krieg wäre denkbar gewesen.
Im Augenblick können wir aufatmen; aber es ist keinesfalls so, dass alle Fragen geklärt wären. Das Zusatzprotokoll bezüglich der Safeguards der IAEO ist noch
nicht unterschrieben. Die Urananreicherung ist lediglich
ausgesetzt. Es bleiben also noch offene Fragen. Es ist
eine Tür aufgestoßen worden; jetzt muss weitergearbeitet werden.
Wir begrüßen die Schritte der drei Außenminister,
weil sie zur Deeskalation beigetragen haben. Sie haben
gezeigt, dass die Europäer in der Frage der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen handlungsfähig sind und
erfolgreich sein können, wenn sie in den Zielen und bei
den einzusetzenden politischen Mitteln einig sind und an
einem Strang ziehen.
({2})
Deswegen macht es Sinn, die Politik der Deeskalation
weiterzuentwickeln. Staaten dagegen zu einer „Achse
des Bösen“ zu zählen ist in meinen Augen wenig hilfreich und kann das Gegenteil von Deeskalation bewirken. Wir dürfen deshalb nicht darin nachlassen, nach
Wegen einer politischen Einbeziehung zu suchen, auch
wenn uns der Charakter von bestimmten Regimen nicht
gefällt. E kommt auf die richtige Mischung aus politischem Druck und politischer Einbeziehung an.
({3})
Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung enthält
zahlreiche Beispiele dafür, was unter Einbeziehung zu
verstehen ist, und zahlreiche Gründe dafür, warum hierdurch Sicherheit und Stabilität zu gewinnen sind. Die
wichtigste Maßnahme, um die Sicherheit durch Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge zu erhöhen, ist die
Universalisierung bereits bestehender Abkommen.
Es müssen alle beitreten, liebe Kolleginnen und Kollegen, eben auch „die Bösen“.
Bei der Nichtverbreitung von Atomwaffen ist das bereits weitestgehend gelungen. Nach dem Beitritt Kubas
zum Nichtverbreitungsvertrag im letzten Jahr sind es eigentlich nur noch drei Staaten, die nicht beigetreten sind
und sich somit auch nicht den Verpflichtungen des Vertrages unterworfen haben, nämlich Indien, Pakistan und
Israel. Es ist sicherheitspolitisch sinnvoll, auch diese drei
Staaten nicht auszugrenzen oder mit Sanktionen zu belegen; man muss ihnen vielmehr Möglichkeiten der Mitwirkung beim internationalen Dialog und eine Mitsprache bei Entscheidungen über globale Sicherheitsfragen
einräumen.
Indien hatte sich früher beklagt, bei wichtigen internationalen Sicherheitsfragen keine Beachtung zu finden.
Das hat sich geändert - seit den indischen Atomtests.
Diese Verquickung können wir nicht wollen. Deshalb
müssen wir künftig mehr tun, um sie unattraktiv zu machen.
Bei den beiden anderen Massenvernichtungswaffen,
den C- und B-Waffen, sowie den Trägersystemen ist
noch längst keine Universalität erreicht. Insbesondere
die Länder des Nahen und Mittleren Ostens müssen gedrängt werden, die Verträge zu unterzeichnen und den
daraus erwachsenden Verpflichtungen nachzukommen.
Der Abrüstungsbericht 2002 ist - wie alle seine Vorgänger - informativ und eine gute Basis für die Arbeit in
unserem Unterausschuss. In diesem Jahr ist er besonders
von den Terrorangriffen am 11. September 2001 und den
Entwicklungen im Irak geprägt. Er spiegelt die BemüPetra Ernstberger
hungen der Einzelstaaten und der verschiedenen internationalen Organisationen und Allianzen um die Bekämpfung des Terrorismus wider und thematisiert
insbesondere die Möglichkeit, dass Massenvernichtungswaffen in die Hände von Terroristen gelangen.
Für die Beurteilung all dieser Maßnahmen ist es
zweckmäßig, sich die bisherigen Daten über den Einsatz
von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen vor
Augen zu halten. In den letzten 25 Jahren hat es vier signifikante Angriffe von Terroristen, also nicht von Staaten, gegeben, die Giftgas, Krankheitserreger oder radioaktives Material als Waffe eingesetzt haben. Der erste
Fall war 1984, als eine religiöse Sekte im Zusammenhang mit Lokalwahlen den Salat eines Restaurants in
Oregon mit Salmonellen vergiftete: 751 Erkrankte. Der
zweite Fall war 1990, als die Liberation Tigers of Tamil
Eelam, die LTTE, die Streitkräfte von Sri Lanka mit
Chlorgas angriffen: 60 Verletzte. Der dritte Fall fand
1995 statt, als die japanische Aum-Shinrikyo-Sekte
die U-Bahn von Tokio mit flüssigem Sarin angriff. Der
letzte Fall fand im September 2001 nach den Terroranschlägen in den USA statt, als es Angriffe mit Milzbrand- und Anthraxbriefen gab. Im Abrüstungsbericht
werden zusätzlich Ricinfunde in Großbritannien und
Blaupausen zum Bau radiologischer Waffen bei nicht
näher charakterisierten Terroristen thematisiert.
Dies ist eigentlich eine relativ schmale Datenbasis für
verallgemeinerbare Kenntnisse über die Bereitschaft von
Terroristen, Massenvernichtungswaffen zu erwerben, zu
produzieren oder sie direkt einzusetzen. Entsprechend
beliebig erscheinen die im Abrüstungsbericht aufgeführten Maßnahmen, um dieser Problematik Herr zu werden.
Einleuchtend und relativ naheliegend sind alle Maßnahmen, die sich auf die Sicherung von nuklearen Materialien, Nuklearwaffen und chemischen Substanzen sowie
auf die Vernichtung von C-Waffen in Russland beziehen.
Frau Kollegin Zapf hat bereits die Global Partnership erwähnt, die ein Erfolgsmodell Deutschlands ist, weil wir
im Rahmen der Anlage in Gorny Vorarbeit für die Vertrauensbildung mit Russland geleistet haben.
({4})
Dies ist wirklich gut angelegtes Geld; denn die Kontrolle der Risikobestände von hoch angereichertem
Uran, Plutonium und der chemischen Waffen in Russland ist besonders vordringlich. Ebenso bedeutsam wäre
es, einen Vertrag über ein Verbot der Produktion von
spaltbarem Material für Waffenzwecke abzuschließen.
Auch das Thema Cut-off-Abkommen hat Frau Kollegin
Zapf bereits angesprochen. Diese Verträge, über die im
Prinzip schon seit 1978 verhandelt wird, scheitern immer wieder daran, dass die Interessenlage Chinas und
der USA sehr unterschiedlich ist.
Es ist sehr anzuerkennen, dass im vorliegenden Abrüstungsbericht nicht nur die Erfolge und die positiven Schritte
der bisherigen Abrüstungsarbeit dargestellt, sondern auch
verpasste Chancen thematisiert werden. Zu einer dieser verpassten Chancen gehört die Uneinigkeit über ein brauchbares Kontrollregime für den B-Waffen-Vertrag und den
Teststoppvertrag, die beide nach wie vor noch nicht in
Kraft sind, obwohl hierfür bereits vor längerer Zeit in
Wien eine Kontrollbehörde geschaffen wurde.
Die so genannten neuen Bedrohungen, das heißt die
Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln, der Terrorismus und die unkontrollierte Macht
von kriminellen Organisationen in schwachen oder zerfallenden Staaten, haben neue Anforderungen an die
Rüstungskontrolle gestellt. Die Staatenwelt muss sich
insgesamt sicher sein, dass die Verträge, die die Staaten
unterschreiben, auch wirklich eingehalten werden. Dafür
müssen die entsprechenden Überprüfungsmechanismen
deutlich erweitert werden.
({5})
Wenn wir all dies nicht hätten und nicht weiter forcieren würden, wäre die Alternative, Zwangsmittel einzusetzen oder militärische Gewalt anzuwenden. Aber wir
Abrüster können, so glaube ich, einstimmig sagen: Abrüstung durch Krieg ist für uns völlig unakzeptabel.
({6})
Diese Position, liebe Kolleginnen und Kollegen, können
wir aber nur durchhalten, wenn es uns gelingt, Abrüstung durch Verträge als eine realistische Strategie darzustellen, die zum Erfolg führt.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Karl Lamers von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute über den Jahresabrüstungsbericht 2002.
({0})
Rüstung und Abrüstung haben schon immer in der Geschichte die Geister bewegt. Der britische Journalist und
Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton hat einmal gesagt
- ich empfehle dieses Zitat Ihrer Aufmerksamkeit -:
Es ist nur verständlich, dass die Wölfe die Abrüstung der Schafe verlangen, denn deren Wolle setzt
dem Biss einen gewissen Widerstand entgegen.
({1})
So kann es natürlich nicht gehen, meine Damen und
Herren. Abrüstung heißt nicht, dass die Starken die
Schwachen zur Abrüstung zwingen, um anschließend
umso leichtere Beute zu haben. Abrüstung heißt, Vertrauen zu bilden, Stabilität zu schaffen und Sicherheit zu
stärken.
({2}) und der Abg. Claudia Roth [Augsburg]
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dr. Karl A. Lamers ({3})
Das wichtigste abrüstungspolitische Ereignis dieser
Tage war in der Tat die Nachricht aus Teheran, dass der
Iran eingelenkt und sein nukleares Anreicherungsprogramm ausgesetzt habe. Das hört sich gut an. Ich bitte
die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass dies im Ergebnis auch gut wird;
({4})
denn der Iran gehört nach dem vorliegenden Abrüstungsbericht zu den so genannten Problemstaaten, deren
Nuklearprogramm nicht eindeutig eine militärische Nutzung ausschließt. Der Verdacht ist gewiss nicht von der
Hand zu weisen, der Iran entwickle Nuklearwaffen - ein
Alptraum für die ganze Welt!
Alle Zeitungen haben es berichtet: Der britische, deutsche und französische Außenminister haben die Zusicherung des Iran erreicht, entsprechende Nuklearprogramme
auszusetzen und nur noch friedliche Atomenergienutzung
zu betreiben. Ich erlaube mir nur die Frage: Wo war Solana? Wäre es nicht besser gewesen, Europa mit einzubeziehen?
({5})
Unabhängig davon gibt ihnen der Erfolg Recht.
Meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt, was
gemeinsamer, entschlossener und entschiedener Druck
in einer solchen Angelegenheit erreichen kann, wenn
Amerikaner und Europäer gemeinsam Seite an Seite
deutlich machen, dass sie nicht bereit sind, den Appetit
von weiteren Staaten auf Atomwaffen hinzunehmen.
({6})
Genau dies ist im Fall Iran geschehen. Da haben alle
an einem Strang gezogen: Die Amerikaner auf ihre
Weise und die Europäer, die bemerkenswerterweise
diesmal zusammenstanden: Deutschland, Frankreich
und Großbritannien.
Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass man aus Fehlern
lernen kann. Wie man sieht, mit Erfolg: Im Irak war die
Weltgemeinschaft gespalten. Besser gesagt, sie wurde
gespalten, nicht zuletzt durch den deutschen Bundeskanzler,
(Zuruf des Abg. Winfried Nachtwei ({7})
der im Wahlkampf erklärte - das müssen Sie sich anhören, Herr Nachtwei -, egal was die Waffeninspektionen
zutage förderten, Deutschland werde sich auf keinen Fall
an Maßnahmen gegen den Irak beteiligen, auch nicht im
Rahmen der Vereinten Nationen.
({8})
Das war schlimm; denn hier wurde Außenpolitik innenpolitisch instrumentalisiert und die Weltgemeinschaft
durch eine neue Achse Berlin-Paris-Moskau gespalten.
Dies hat der Abrüstung einen Bärendienst erwiesen.
({9})
Solche Spaltungen nützen immer dem, den man eigentlich zur Ordnung rufen will. Das war damals Saddam
Hussein.
Ich freue mich, dass es im Iran jetzt offensichtlich anders
ist. Für mich ist diese Erkenntnis auch die Quintessenz aus
einem persönlichen Gespräch mit dem Chief Inspector
Hans Blix im Dezember des vergangenen Jahres in New
York, der sagte, die Weltgemeinschaft habe bei der Abrüstung nur dann Erfolg, wenn sie wirklich zusammenstehe. Aber gerade dies war damals nicht der Fall. Vielleicht hätten wir den Krieg verhindern können, wenn wir
glaubwürdig, geschlossen und mit einer Stimme aufgetreten wären.
({10})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung verfolgt nach ihren eigenen Worten einen kooperativen und
präventiven sicherheitspolitischen Einsatz. Das geht in
Ordnung. Ich frage aber, ob sie hier nicht schon wieder
einen Gegensatz zur Haltung unserer amerikanischen
Freunde aufbaut, wenn sie in diesem Bericht wörtlich
ausführt, dass „der Schwerpunkt des US-Ansatzes ... in
Maßnahmen zur Counterproliferation sowie militärischer Abschreckung“ liege, die sich alle Optionen der
hoch entwickelten US-Militärtechnologie offen halte.“
Um es klar zu sagen: Ich sehe darin keinen Gegensatz,
für mich gehört beides zusammen.
Wir alle wollen eine Welt mit weniger Waffen. Wir
wollen keine weitere Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Kampfmitteln. In Afghanistan hat
die Weltgemeinschaft ein Zeichen gesetzt, dass sie nicht
willens ist, Gewalt und Terrorismus hinzunehmen. Auch
im Irak gibt es ein entsprechendes Signal. Die Welt hat
in beiden Fällen Verantwortung übernommen. Ein
Scheitern hier wie dort würde das Ende jeder Abschreckung bedeuten und nur die Falschen ermuntern.
Im Jahresabrüstungsbericht sind Erfolge, aber auch
Defizite und Schattenseiten aufgelistet worden. Bezüglich des Iraks habe ich darauf hingewiesen, dass es die
Möglichkeit gegeben hätte, gemeinsam erfolgreich zusammenzustehen. Nordkorea ist jetzt in der Tat ein Krisenherd. Ich meine, wir sind alle gut beraten, der nordkoreanischen Regierung ein deutliches Signal zu geben.
Auch hier muss die Weltgemeinschaft zusammenstehen.
Nordkorea braucht keine Nuklear- und Langstreckenwaffen, um in der Zukunft bestehen zu können, sondern
Reis, Brot und Energie.
({11})
In dieser Welt sind alle Verantwortlichen aufgerufen,
dem Konfrontationskurs Nordkoreas so zu begegnen,
dass es nicht zu einer Katastrophe kommt. Reden wir
miteinander und zeigen wir dem Regime in Nordkorea
die Grenzen auf!
Dr. Karl A. Lamers ({12})
Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung zu
den Ausführungen über die Entwicklung des Streitkräftepotenzials in Deutschland machen. In dem Bericht steht
etwas von Reform der Bundeswehr. Von neuen Prioritäten und Herausforderungen ist die Rede. Dann aber
kommt die Sache mit dem Geld. Wir haben gestern im
Verteidigungsausschuss deutlich gemacht, dass wir den
Verteidigungshaushalt ablehnen, Herr Staatssekretär - Sie
wissen das, Sie sind ein ehrlicher Mensch -,
({13})
weil wir überzeugt sind, dass Sie mit diesem Haushalt in
Höhe von 24,3 Milliarden Euro die alten und neuen Aufgaben der Bundeswehr nicht bewältigen können.
({14})
Wir brauchen einen klaren Auftrag der Bundeswehr
und, daraus abgeleitet, das dafür notwendige Geld. Das,
was Rot-Grün macht, geht auf keinen Fall. Es können
nicht immer mehr Aufgaben und Einsätze mit deutlich
weniger Geld bestritten werden.
({15})
So kann man Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in
diesem Land nicht gestalten.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Einen Satz noch. - Lassen Sie mich mit Robert
Schuman enden, der einmal gesagt hat: Die Abrüstung
der Geister muss der Abrüstung der Waffen vorausgehen.
({0})
Das entspricht auch meiner Überzeugung.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung hat erneut einen umfangreichen Bericht zur Abrüstung vorgelegt. Großen Raum nehmen
darin die Massenvernichtungswaffen, deren Nichtverbreitung und Rückbau ein. Meine dreiminütige Rede bezieht sich weniger auf das, was Sie an Positivem auflisten, sondern mehr auf das, was Sie schwammig
umschreiben oder ganz verschweigen.
Erstes Beispiel: Sie verweisen darauf, dass Nordkorea
aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten ist. Sie
kritisieren das zu Recht und warnen vor den unkalkulierbaren Risiken. Sie verschweigen aber, dass Indien, Pakistan und Israel, ebenso mutmaßlich Kernwaffen besitzende Staaten, dem Vertrag bislang überhaupt noch nicht
beigetreten sind. Sie verschweigen darüber hinaus, dass
die USA an der Entwicklung einer neuen Generation von
Kernwaffen arbeiten, dafür neue Testgelände erschließen
und so eklatant gegen bestehende Verträge verstoßen.
Ich vermisse auch eine eindeutige Position zum Einsatz von uranangereicherter Munition durch die USA
und Großbritannien wie jüngst im Irakkrieg.
({0})
Hinzu kommt: Die Wahrscheinlichkeit ist riesengroß,
dass sich weitere Länder in ein nukleares Abenteuer
stürzen, nachdem die USA völkerrechtswidrig einen Eroberungskrieg gegen den Irak geführt haben. Diese Bedrohungen sind nicht minder groß als die von Ihnen aufgelisteten. Daher gehören auch sie in einen seriösen
Bericht.
Zweites Beispiel: Sie schreiben mehrfach über bessere Kontrollen, um Rüstungsexporte einzudämmen.
Sie widmen sich in Abschnitt VII des Berichts den so
genannten Kleinwaffen, leichten Waffen und Antipersonenminen. Das tun Sie wiederum zu Recht; denn die bewaffneten Konflikte der vergangenen Jahre, zum Beispiel in Afrika, wurden zu einem großen Teil mit solchen
Kleinwaffen ausgetragen. Jemand hat sie einmal die
Massenvernichtungsmittel der heutigen Kriege genannt.
Zu den am meisten exportierten und eingesetzten
Kleinwaffen aber zählt neben der Kalaschnikow das
deutsche G3-Schnellfeuergewehr von Heckler & Koch.
Davon wurden 7 Millionen exportiert. In 17 Ländern
wird es in Lizenz gebaut und in 64 Ländern wird es eingesetzt. Sie erklären, Sie wollen Rüstungsexporte eindämmen. Gut, dann fangen Sie zu Hause, hier in
Deutschland an und nehmen Sie endlich auch Ihre eigenen Richtlinien ernst.
({1})
Demnach untersagen Sie sich nämlich selbst, Rüstungsgüter in Krisenregionen zu exportieren. Sie tun es dennoch unvermindert, wie auch das Beispiel Israel zeigt.
Drittes und letztes Beispiel: Sie widmen im vorliegenden Bericht dem internationalen Terrorismus viel
Platz. Das war zu erwarten. Das macht den Bericht allerdings nicht besser. Die PDS im Bundestag bleibt dabei:
Den Kampf gegen den Terrorismus kann man gewinnen,
einen Krieg dagegen nicht; denn Krieg löst keine Probleme, Krieg schafft neue Probleme. Deshalb ist auch
die NATO-Strategie falsch, die Sie im Bericht loben,
ebenso die Militarisierung der EU.
Da wir hier über wirkliche Abrüstung reden: Die laufende Hoch- und Umrüstung der Bundeswehr ist das Gegenteil davon. Das steht auch nicht in dem Bericht, gehört jedoch dazu.
Ein letzter Punkt: Eigentlich hätten wir schon heute
Morgen in der Kernzeitdebatte, als wir hier das weite
Thema Tourismus behandelt haben, über einen echten
Abrüstungsschritt reden müssen, nämlich darüber, endlich das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide zu
schließen, statt in ein solches Tourismusgebiet einen
Bombenabwurfplatz hineinzupflanzen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie
gestatten, dass auch ich mit gestern anfange, allerdings
mit gestern vor 20 Jahren, als Hunderttausende von
Menschen in der damaligen Bundesrepublik auf die
Straße zogen, um gegen neue Atomwaffen in der Bundesrepublik zu protestieren. So viele Positionen sich
sonst auch in der Zwischenzeit geändert haben mögen:
Dieser Protest damals war und ist richtig. Es war ein
Protest gegen den Wahnwitz der Atomrüstung.
({0})
Heute, 20 Jahre danach, ist der Ost-West-Konflikt
Gott sei Dank überwunden und sind die riesigen Atomwaffenarsenale erheblich abgebaut worden. In diesem
Zusammenhang kann ich allerdings nicht verstehen, warum laut Presseberichten noch 64 Atombomben mit einer Sprengkraft von 600 Hiroschima-Bomben in der
Bundesrepublik lagern. Dies ist ein Überbleibsel des
Kalten Krieges und meiner Auffassung nach nicht zu
rechtfertigen.
({1})
Zugleich stellt die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen an neue staatliche und nicht staatliche Akteure eine neue Herausforderung dar. Der Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung macht deutlich, wie
vielfältig die Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sind und dass diese sehr zu
Unrecht im Schatten öffentlicher Aufmerksamkeit stehen.
Auch ich will hier nur zwei gute Beispiele nennen, die
weitgehend unbekannt sind: Das ist erstens die G-8-Initiative „Globale Partnerschaft“, die im vorigen Jahr
von Kanzler Schröder und Präsident Putin angestoßen
wurde, um mit den Altlasten des Kalten Krieges im Bereich der Massenvernichtungswaffen aufzuräumen. Die
Bundesrepublik leistet in diesem Bereich hervorragende
Beiträge. Das erste gemeinsame deutsch-russische Projekt zur Chemiewaffenvernichtung ist das einzige Projekt in Russland, welches in diesem Bereich überhaupt
funktioniert.
({2})
Das zweite gute Beispiel ist die Selbstverpflichtung
der Bundesregierung, alle ausgemusterten Kleinwaffen
der Bundeswehr, eben gerade die G3-Gewehre, zu vernichten. Das sind Hunderttausende von Gewehren.
({3})
Wir müssen aber auch sehr nüchtern feststellen: Das
letzte Jahr war ein schlechtes Jahr für Rüstungskontrolle,
Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die verschiedenen Aspekte sind - das ist
schon genannt worden - der deutliche Anstieg der Weltrüstungsausgaben, die zerfallenen Staaten mit der privatisierten Gewalt, Rüstungswettlauf in Asien und - leider
treibend bei der Krise der Rüstungskontrolle - die USRegierung, die mit der Nuclear Posture Review und der
Entwicklung von Kleinstatomwaffen die Schwelle für
den Einsatz von Atomwaffen deutlich absenkt und deren
so genannter Präventivkrieg gegen den Irak ein Schlag
gegen das Völkerrecht und die multilaterale Abrüstung
war.
({4})
Ich kann nicht verstehen, Kollege Lamers, und zwar
heute noch weniger als damals, dass Sie dieser Art von
völkerrechtswidrigem Krieg im Grunde genommen noch
immer zustimmen. Das sprechen Sie nicht ehrlich und
offen aus, aber Sie äußern hier indirekt Zustimmung.
({5})
Vor dem Hintergrund der neuen Herausforderungen
und der Krise der Rüstungskontrolle ist der Antrag der
Koalitionsfraktionen von besonderer und höchster
Aktualität. In ihm wird die Krise der Rüstungskontrolle
partnerschaftlich, aber deutlich beim Namen genannt. Er
macht deutlich, dass neue Impulse unbedingt notwendig
sind, um zu einer Stärkung und Universalisierung der
multilateralen Abkommen zu kommen.
Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, das Instrument der multilateralen Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung wirksamer zu machen. Wodurch soll es
wirksamer gemacht werden? Erstens kann das über den
politischen Dialog geschehen, bei dem die Sicherheitsinteressen der anderen Seite wahrgenommen werden und
bei dem man nicht einfach davon ausgeht, dass die anderen die Bösen sind, die dann sozusagen platt gemacht
werden. Zweitens kann die Verifikation, also die Überprüfung, mit Sanktionsmöglichkeiten dazu beitragen.
Aber politisch wirksam werden diese Maßnahmen nur,
wenn sie auf dem Boden des Völkerrechts und mit der
Stärke des Rechts durchgeführt werden.
({6})
Ich empfinde es als ausgesprochen ermutigend, dass
sich die Europäische Union mit ihrem Entwurf einer Sicherheitsstrategie auf diesem Weg befindet. Ich empfinde es als ausgesprochen ermutigend, dass die AußenWinfried Nachtwei
minister von Großbritannien, Frankreich und der
Bundesrepublik auf dieser Basis gegenüber dem Iran
agiert haben und einen ersten Durchbruch erzielt haben.
Schließlich finde ich es ermutigend, dass wir in der
Frage Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung in diesem Hause - vor allem der erste Sprecher der
Unionsfraktion hat das deutlich gemacht - weitgehend
an einem Strang ziehen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Karl-Theodor Freiherr
von und zu Guttenberg von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrter Herr Kollege Nachtwei, ich unterstütze Sie bei dem, was Sie in Ihrem letzten Satz gesagt
haben, dass wir in vielen Punkten weitgehend an einem
Strang ziehen.
Ich will nicht auf gestern zurückblicken, weil ich die
Bewertung mit allen in diesem Hause teile. Ich will aber
einen Blick zurück in den vergangenen Juni werfen sowie einige Kritikpunkte nennen, die sich insbesondere
auf den Antrag, den wir heute behandeln, beziehen. Im
vergangenen Juni war ein hörbarer Seufzer der Erleichterung in der Bundesregierung zu vernehmen, dass endlich und ohne eigenes Zutun der Entwurf einer
europäischen Sicherheitsstrategie auf den Weg gebracht wurde. Diese Strategie in Form des Solana-Papiers enthält, wie wir gehört haben, wichtige Ansätze zur
Abrüstung und Rüstungskontrolle. Diese Strategie ist in
ihren wesentlichen Inhalten auf die einvernehmliche Zustimmung der derzeitigen und kommenden europäischen
Mitglieder gestoßen. Im Dezember ist aller Voraussicht
nach eine Entscheidung bezüglich dieses Papiers zu erwarten.
Es gibt viele Punkte in Ihrem Antrag, die sehr lobenswert sind. Es verwundert aber doch, dass nur vier Monate später und so kurz vor jenem Dezember ein Antrag
zur Beratung vorliegt, der in elementaren politischen
und strategischen Punkten insbesondere im Begründungsteil eine Abstimmung mit den Vorschlägen
Solanas nicht erkennen lässt. So schließt der Text des
Solana-Papiers - es mag vielleicht ein wenig schwärmerisch sein, aber nicht minder bedeutsam - mit einem Appell an die transatlantische Zusammenarbeit, nämlich die
europäische und die amerikanische Sicherheitsstrategie,
die ebenfalls essenzielle Abrüstungs- und Rüstungskontrollfragen umfasst, aufeinander abzustimmen.
Diesbezüglich ist es lohnend, den Begründungsteil Ihres Antrags zu überprüfen. Im Ergebnis bietet er - das
kann ich Ihnen leider nicht ersparen - ein ärmliches
Bild, weil hier erneut lediglich Pauschalurteile und Verurteilungen mit einer Konzentration auf die Vereinigten
Staaten abgegeben werden. Die „nationale Sicherheitsstrategie“ der Vereinigten Staaten wird wie immer
holzschnittartig - das mussten wir so oft hören - auf den
Begriff Präemption verkürzt. Ähnlich wird die „Strategie
zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen“ behandelt. Ich glaube, wir werden in dieser Zeit aufpassen
müssen, dass wir unsere Stammtische durch den sprachlichen Stil nicht aufrüsten. Das wäre der falscheste Beitrag, den wir mit der Begründung eines durchaus richtigen Antrages leisten könnten.
({0})
Frau Zapf, die vielen durchaus begrüßenswerten und
nicht unvernünftigen Einzelforderungen - Ruprecht
Polenz hat sie benannt - erfahren mit einer solchen Ummantelung eine bedauerliche Abwertung.
({1})
Wenn Sie diese Diktion in Ihrem Antrag beibehalten,
dann leisten Sie einen erneuten Beitrag zur Pflege der
transatlantischen Verwerfungen. Das wünscht niemand
in unserem Haus.
({2})
Wie auf diese Weise die notwendige Zusammenführung und Feinabstimmung der beiden vorhandenen großen Strategien bewerkstelligt werden sollen, bleibt Ihr
Geheimnis. Allerdings ist es dann konsequent - diesen
Punkt konnte ich auch nicht finden -, dass kein wirklich
überzeugender Zusammenhang innerhalb der Bedrohungstrias Proliferation, internationaler Terrorismus und
Failed States hergestellt wird. Damit fällt es leicht, jeglichem Einsatz von militärischen Mitteln, so wie Sie es
tun, scharf entgegenzutreten und diesem im Forderungsteil durch ein geradezu apodiktisches Nichtnennen eine
entsprechende Wertung zuteil werden zu lassen.
({3})
Das mag Ihrer respektablen Überzeugung sicher sehr
entsprechen. Allerdings muss man die Frage stellen, ob
man in diesem Gesamtzusammenhang damit einen europäischen Konsens herstellt.
Sie schreiben in Ihrem Antrag: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf - ich darf das zitieren -,
die Erarbeitung einer europäischen Nichtverbreitungs- und Sicherheitsstrategie zu nutzen, um die
Bedeutung vertraglich verankerter und kooperativer
Rüstungskontrolle zu stärken …
Schön und gut und richtig. Weiterhin steht in Ihrem Antrag, dass die internationale Gemeinschaft geschlossen
auf Verletzungen von Abrüstungs- und Nichtverbreitungsregeln reagieren soll.
Wenn Ihr Beitrag zur Geschlossenheit im Begründungsteil in der Nichtbeachtung gewisser gemeinsamer
- europäischer und amerikanischer - Erkenntnisse besteht, nämlich dass beispielsweise - was sicherlich nie
wünschenswert ist - als Ultima Ratio auch der Einsatz
militärischer Mittel nicht ausgeschlossen werden kann,
dann leisten Sie - ich sage es noch einmal - keinen gewichtigen Beitrag zu jener Geschlossenheit und für die
Zusammenführung dieser Strategien. Deshalb darf man
schon die Frage stellen - in eineinhalb Monaten stehen
wir möglicherweise vor ihr -: Wollen Sie nun Solana
oder nicht? Ich erwarte von der Bundesregierung und der
rot-grünen Koalition irgendwann eine Festlegung, damit
wir wissen, woran wir hier sind.
({4})
Sie fordern zu Recht ein multilaterales Handeln. Effektiver Multilateralismus gründet sich gelegentlich aber
auch auf einen angemessenen Tonfall und entsprechende
Umgangsformen mit unseren Partnern. Beides lassen Sie
in diesem Antrag - wiederum im Begründungsteil - vermissen. Effektiver Multilateralismus verbietet auch unreflektierte Pauschalierungen wie Kritiklosigkeit. Natürlich muss, darf und soll Kritik auch gegenüber unseren
Partnern möglich sein. Das müssen wir uns ohne Frage
gegenseitig gestatten. Wir müssen nur sehr aufpassen,
dass wir in all diesen Dingen Kritik nicht zur Manie werden lassen, nämlich dann, wenn man die Suppe vor lauter Haaren nicht mehr schmeckt.
({5})
Das transatlantische Verhältnis bzw. der Atlantik scheint
in meinen Augen aber noch voll von Haaren zu sein.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Jahresabrüstungsbericht 2002 der
Bundesregierung, Drucksachen 15/1104 und 15/1800.
Der Ausschuss empfiehlt, den Bericht zur Kenntnis zu
nehmen und die Bundesregierung zu bitten, mit der jährlichen Berichterstattung fortzufahren. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der beiden fraktionslosen Abgeordneten angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1786 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldzustandsbericht 2002
- Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Sören Bartol,
Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Cornelia Behm, Volker Beck
({1}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldzustandsbericht 2002
- Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings - Drucksachen 15/270, 15/745, 15/1027 Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Cornelia Behm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sieht
es in unseren Wäldern aus? Aus dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung wird deutlich: Seit 1995 hat
sich der Zustand unserer Wälder nicht weiter verschlechtert. Das in Deutschland befürchtete Waldsterben konnte
gestoppt werden. Das ist ein Erfolg, aber leider auch nur
ein sehr schwacher Trost; denn noch immer sind zwei
von drei Bäumen in unseren Wäldern krank. Die rotgrüne Bundesregierung hat deshalb in den letzten Jahren
enorme Anstrengungen zum Schutz der Wälder unternommen. Bedauerlicherweise ist jedoch schon heute abzusehen, dass sich die Situation auch im kommenden
Jahr kaum verbessern wird.
Woran liegt das? Ich bin mir sicher, wir alle hier haben die südeuropäischen Sommermonate bei uns in
Deutschland sehr genossen. Für viele Wälder sind die
Folgen dieses Sommers mit lang anhaltender Trockenheit jedoch katastrophal. In einigen Regionen sind ganze
Kulturen und Jungbestände von Aufforstungen abgestorben. Die Trockenheit hat zu einer massiven Vermehrung
der Borkenkäfer geführt. Die Käfer haben den durch die
Dürre gestressten Bäumen vor allem in strukturarmen
Monokulturen im wahrsten Sinne des Wortes den Saft
abgedreht. Um das Problem der massenhaften Ausbreitung der Borkenkäfer in den Griff zu bekommen,
mussten die befallenen Bäume vorzeitig abgeholzt und
verkauft werden. Das wiederum führt zu einem Überangebot, drückt auf die Holzpreise und zwingt einige
Forstbetriebe in die Knie.
Sind wir der Situation hilflos ausgeliefert? - Nein,
meine Damen und Herren, das sind wir nicht. Wir können etwas tun und wir müssen etwas tun, damit unsere
Wälder die zunehmenden Klimaschwankungen, zum
Beispiel Dürre und Sturm, langfristig besser überstehen.
({0})
Wir brauchen dafür keine aufwendigen Aufforstungsprogramme, keine teuren und umweltbelastenden Pestizideinsätze, zum Beispiel gegen die Borkenkäferplage
oder gegen schädlichen Pilzbefall. Wir brauchen auch
keine flächendeckenden Düngungen. Sie sind nicht nötig, um unsere Wälder in wetterextremen Zeiten wachsen zu sehen.
({1})
Die Lösung ist recht einfach: Wir müssen den eingeschlagenen Weg der naturnahen Bewirtschaftung
unserer Wälder konsequent fortsetzen.
({2})
Es hat sich gezeigt, dass Mischwälder mit naturnahem
Wirtschaftskonzept Trockenperioden deutlich besser
überstehen als Monokulturen. Die gefährlichen Killerkäfer haben in einem Mischwald sehr viel geringere Chancen, sich auszubreiten. Auch Jungbestände, die sich
selbst angesamt haben, sind durch Wetterextreme in der
Regel nicht gefährdet. Das Geld für Neuanpflanzungen
können wir hier also einsparen.
({3})
Es ist deshalb richtig, naturnahe Waldbewirtschaftung
im Bundeswaldgesetz verpflichtend festzuschreiben.
Dafür setzen wir uns ein.
({4})
Wir brauchen starke, widerstandsfähige Wälder.
({5})
Monokulturen sind in Deutschland Kunstwälder. Sie gehören nicht in unser Land. Sie sind zu anfällig, zu teuer
und deshalb betriebs- und volkswirtschaftlich höchst
problematisch.
({6})
Wälder bilden die wirtschaftliche Grundlage für die
vielen Waldbauern und die Holz verarbeitende Industrie
in unserem Lande. Daher ist es ein wichtiges Ziel - dies
haben wir in unserem vorliegenden Antrag genau beschrieben -, die Rahmenbedingungen für die Forstund Holzwirtschaft in Deutschland zu verbessern.
({7})
Mehr als 700 000 Arbeitsplätze hängen an diesem wichtigen Wirtschaftszweig. Das sind mehr als in der chemischen Industrie, im Kohlebergbau und in der Stahlerzeugung zusammen. Auf diese Arbeitsplätze werden wir
nicht verzichten.
({8})
Wir müssen uns noch mehr anstrengen, die Waldwirtschaft voranzubringen und als wichtigen Wirtschaftsfaktor in Deutschland zu stärken. Wie können wir das erreichen?
({9})
Wir müssen die Schadstoffeinträge weiter reduzieren;
das ist gar keine Frage. Wir brauchen hohe Qualitätsstandards, um auf dem Markt bestehen zu können. Ich
nenne ein Beispiel: Der Möbelriese Ikea - er ist uns allen bekannt - will zukünftig nur noch Massivholzmöbel
mit Qualitätssiegel auf höchstem Niveau verkaufen. Andere Unternehmen stehen ebenfalls in den Startlöchern.
Wir dürfen dieses deutliche Signal hin zu hochwertigen
Zertifizierungsstandards in Deutschland nicht verschlafen.
({10})
Wir müssen uns massiv anstrengen, damit genügend entsprechend zertifiziertes Holz aus Deutschland zur Verfügung steht; denn die Konkurrenz - da bin ich mir ganz
sicher - schläft nicht, während wir in Deutschland im
Gezänk um Qualitätsstandards wichtige Marktchancen
aus den Augen zu verlieren drohen. Die Möbelindustrie
wird ihr Holz dann aus europäischen Nachbarländern beziehen. Da ist man im Übrigen schon sehr viel weiter als
bei uns. Der englische Staatswald ist bereits nach FSC
zertifiziert. Aber auch über die EU hinaus gibt es immer
mehr Bestrebungen, sich hohen Standards zuzuwenden.
In Russland gibt es immer mehr zertifizierte Betriebe.
Das sollte uns aufrütteln.
Wir brauchen hohe Qualitätsstandards. Wir müssen
uns zur Stärkung der heimischen Forst- und Holzwirtschaft aber auch gegen ruinöse internationale Wettbewerbsverzerrungen zur Wehr setzen. Ich bin sehr froh,
dass sich auf EU-Ebene endlich etwas bewegt und die
Mitgliedstaaten einen Aktionsplan gegen illegale Holzimporte erarbeiten. Billigholzimporte schwächen den
europäischen und auch den heimischen Holzmarkt und
gefährden den Bestand der letzten Urwälder auf unserer
Erde.
Die Waldbestände vor allem in den Entwicklungsländern sind durch Raubbau enorm zurückgegangen. In
den letzten fünf Jahren wurde eine Waldfläche von der
Größe Frankreichs vernichtet. Sie ist unwiederbringlich
verloren. In Deutschland nehmen die Waldbestände Gott
sei Dank wieder zu.
({11})
Uns steht ein jährliches Potenzial von rund 60 Millionen
Kubikmetern Holz zur Verfügung. 20 Millionen Kubikmeter bleiben jedoch zurzeit ungenutzt. Das bedeutet,
dass noch enorme Kraftreserven zum Klimaschutz in un5946
seren Wäldern schlummern. Diese Kraftreserven müssen
wir mobilisieren.
({12})
So sichern wir Arbeitsplätze, stützen die heimische
Forst- und Holzwirtschaft und tun gleichzeitig etwas für
die Umwelt.
({13})
Wie machen wir das? Das ist eigentlich ganz einfach.
Holz ist genug da.
({14})
Am Absatz mangelt es. Wir fördern also den Absatz. Wir
schmieden ein weitreichendes Aktions- und Organisationsbündnis in Deutschland, die Charta Holz, um Holz
vor allem in den Bereichen Wohnen, Bauen und Heizen
aus seinem derzeitigen Schattendasein herauszuholen.
({15})
Die Skandinavier machen uns vor, wie es geht. Sie
verbrauchen pro Kopf zwei- bis dreimal so viel Holz wie
wir. Da sind also noch enorme Potenziale. Holz als nachwachsender Bau- und Heizstoff wird bei uns leider noch
nicht so akzeptiert und hat sich noch nicht so durchgesetzt, wie es nötig wäre. Das wollen wir ändern. Das
macht ökonomisch und ökologisch Sinn. Das machen
wir mit der Charta Holz. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Charta Holz einen wichtigen Prozess in
Gang gesetzt. Im Dezember sollen die ersten Ergebnisse
vorliegen. Ich bin sehr gespannt und ich bin guter Hoffnung, dass wir hier einen Schritt weiterkommen.
({16})
Es ist schon erstaunlich: In Deutschland wird ganz offensichtlich der Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.
({17})
Obwohl wir tolle Waldbestände in Deutschland haben,
wird Holz bei Bauvorhaben häufig sträflich benachteiligt.
({18})
Ich nenne ein Beispiel: Es lag ein Angebot vor, die Messehalle in München in Holzbauweise zu errichten, das
sogar noch 20 Millionen Euro günstiger als ein anderes
Angebot war. Trotzdem hat man sich gegen dieses Angebot entschieden. Woran liegt das? Ganz offensichtlich ist
die Stahl- und Betonlobby in Deutschland besser aufgestellt als die Forst- und Holzwirtschaft. Diese Schieflage
wollen wir mit der Charta Holz ein wenig geraderücken.
Die hohe Qualität von Holz auch bei Großkonstruktionen ist inzwischen bewiesen. Ich nenne als Beispiel das
Holzgroßbauprojekt auf dem ehemaligen EXPO-Gelände. Diese Halle erhielt das größte Holzdach Europas.
Es geht also.
Holz sollte nicht nur bei Neubauten verstärkt zum
Zuge kommen, auch bei Renovierungs- und Sanierungsmaßnahmen gibt es einen enormen Bedarf an Holz. In
Deutschland sind zurzeit 25 Millionen Wohnungen modernisierungsbedürftig. Da könnte man Holz sehr gut
einsetzen. Auch als Heizstoff ist Holz eine Alternative
zu Kohle, Öl und Gas.
({19})
Warum nutzen wir diesen attraktiven nachwachsenden
Rohstoff nicht noch viel stärker?
({20})
Tun wir es doch! - Ich hoffe, dass wir mit der Charta
Holz den Durchbruch in Deutschland schaffen werden,
und bedanke mich.
({21})
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Schirmbeck von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Hiller-Ohm, wenn Sie heute die
Charta Holz statt eines prosaischen Entschließungsantrags vorgelegt hätten, dann wären wir einen Schritt weiter. Ich kann Ihnen nur zustimmen, dass Holz ein idealer
Baustoff ist und wir Holz viel stärker energetisch nutzen
könnten. Aber diese Feststellung, über die wir uns alle
einig sind, braucht man nicht zum siebenundzwanzigsten Mal zu wiederholen. Man muss vielmehr konkrete
Schritte einleiten, damit die Marktnachteile, die zurzeit
vorhanden sind - was Sie über die Lobby ausgeführt haben, kann man auch nur unterstreichen -, ausgemerzt
werden und wir damit einen Schritt weiterkommen.
Wir sprechen heute über den Waldzustandsbericht
2002. Die Daten, die darin enthalten sind, stammen teilweise aus dem Jahr 2001 und berücksichtigen nicht die
reale Lage. Frau Hiller-Ohm, Sie haben richtig gesagt,
dass der Sommer für alle, die Urlaub machen wollten,
gut, für den Wald aber eine Katastrophe war. Deshalb ist
die Lage erheblich schlechter, als sie in dem jetzt vorliegenden Bericht, den wir hier diskutieren, zum Ausdruck
kommt.
Aber was braucht der Wald? Notwendig sind konkrete
Maßnahmen, wenn wir auf die bestehende Situation reagieren wollen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel,
wo Sie als Regierung etwas bewegen können. Viele
Neuanpflanzungen, die gefördert worden sind, sind in
diesem Jahr nicht hochgekommen. Wenn im nächsten
Jahr die Anpflanzung wiederholt werden muss, stellt
sich die Frage, ob dafür in allen Bundesländern erneut
Fördermittel fließen. Wenn Ihre Ministerin gemeinsam
mit der Agrarministerkonferenz und den Bundesländern
in diesem Zusammenhang entsprechende Regelungen
erarbeiten würde, dann wäre das eine konkrete Hilfe.
Aber wie sieht die reale Lage aus? Festzustellen ist,
dass diese Fördermittel, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe bereitgestellt werden, gekürzt werden.
Das heißt, auch in diesem Bereich, in dem Fördermittel
aus dem Bundeshaushalt und aus den Landeshaushalten
zur Verfügung gestellt werden
({0})
- ich komme gleich auf diesen Punkt zu sprechen -, ist
aufgrund der Kürzungen keine zusätzliche Maßnahme
möglich.
Entlarvend war Ihre Äußerung, dass im Wald nicht
gedüngt werden soll. Unter Düngen verstehen Sie doch
wahrscheinlich das Waldkalken. Es ist die erklärte Aussage Ihrer Bundesregierung, dass die Waldkalkungen
für die Waldböden, die teilweise sauer wie Essig sind,
noch über einen sehr langen Zeitraum notwendig sind.
Faktisch finden aber in diesem Jahr keine Waldkalkungen mehr statt, weil die Spitzenfinanzierung nicht mehr
sichergestellt ist. Wir wissen, dass eine hundertprozentige Finanzierung bei der derzeitigen Gesetzeslage nicht
möglich ist. Die Mitfinanzierung über die Kommunen,
die in der Vergangenheit üblich war, ist nicht mehr möglich, weil die Kommunen wegen Ihrer Wirtschafts- und
Finanzpolitik pleite sind. Faktisch finden keine Kalkungen mehr statt, sodass eine sinnvolle Sanierungsmaßnahme nicht mehr umgesetzt wird.
Das, was Sie auf den Weg bringen könnten, wenn Sie
es denn wollten - das gehört zu Ihren Regierungsaufgaben -, unterlassen Sie. Sie schaden damit unserem Wald.
({1})
Sie haben ausgeführt, Ikea werde zukünftig nur noch
gutes Holz aus zertifizierten Beständen verarbeiten. Sie
sollten in diesem Zusammenhang auch zur Kenntnis
nehmen, dass im Privatwald durch die Initiative der Eigentümer mittlerweile 60 Prozent des Bestandes nach
PEFC zertifiziert sind, das das in Europa vorherrschende
System ist. Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass im
Privatwald diejenigen, die ein besonderes Interesse am
Wald haben, aus eigenem Antrieb tätig sind!
In Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie, Systeme
zur Zertifizierung zu unterstützen, die pestizidfrei wirtschaften. Sie sollten den Grafen Hatzfeld fragen, ob das
für die FSC-Zertifizierung zutrifft. Die Umsetzung Ihrer
Forderung hätte zur Folge, dass es in Deutschland gar
kein System zur Zertifizierung mehr gäbe. Sie sollten insofern die Realität berücksichtigen, statt Forderungen zu
stellen, die an den Fakten vorbei gehen.
Nach wie vor besteht ein wesentliches Problem darin,
dass die Schadstoffe durch die Luft eingetragen werden.
Von entscheidender Bedeutung für die Luftqualität sind
die vom Verkehr verursachten Belastungen. Ich habe gelesen, dass Sie den Verkehr durch geeignete Maßnahmen
- Genaueres bleibt, wie üblich, im Dunkeln - reduzieren
wollen. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin,
dass Ihre Regierung angegeben hat, dass der Verkehr
- sowohl von LKW als auch von PKW - in den nächsten
Jahren noch drastisch zunehmen wird. Die Realität sieht
also anders aus.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl, Herr Präsident. - Insofern helfen uns Ihre
prosaischen Ausführungen nicht weiter. Sie müssen vielmehr endlich handeln, soweit konkrete Regierungsmaßnahmen erforderlich sind. Für die Sicherung der Qualität
unseres Waldes brauchen wir keine Worte, sondern Taten.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schirmbeck, dann wollen wir einmal von den Reden zu den Taten kommen.
({0})
Ich glaube, dass der Wald es verdient, dass wir innerhalb dieses Hauses einen Konsens entwickeln, nämlich
dass die Waldpolitik eine stärkere Aufmerksamkeit verdient, als sie in den vergangenen Jahren gelegentlich
vorhanden war. Denn mir fällt immer wieder auf, dass
diejenigen, die sich für den Wald interessieren - sowohl
die Waldbesitzer als auch die Umweltschützer -, viel
mehr gemeinsame Interessen haben als Streitpunkte.
Dennoch ist die politische Diskussion hauptsächlich von
dem Streit geprägt.
Es ist das konkrete Ziel der Bundesregierung, auf den
Gemeinsamkeiten aufzubauen. Deswegen habe ich mich
sehr darüber gefreut, dass wir in der Diskussion über das
Nationale Waldprogramm ein sehr umfangreiches Papier
beider Seiten bekommen haben, das sich mit der Frage
der Zukunft unseres Waldes befasst.
Ein wesentlicher Bestandteil - Frau Hiller-Ohm hat
darauf hingewiesen - ist die naturnahe Waldwirtschaft.
Wenn sich beide Seiten einig sind, dass die Zukunft dem
naturnah bewirtschafteten Wald gehört, also einem
Wald, der sich selber regenerieren kann, in dem die
Baumarten wieder von selbst wachsen und bei dem man
nicht auf Monokulturen, sondern auf Vielfalt und auf
Pflanzen setzt, die standortverträglich sind, dann rechne
ich fest damit, dass Sie unserem Entwurf eines Bundeswaldgesetzes, den wir noch vorlegen werden, zustimmen
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
werden; denn genau in diesem Gesetzentwurf werden
wir die naturnahe Waldbewirtschaftung zum künftigen
Standard erheben. Schließlich wollen wir nicht, dass sich
die Fehler der Vergangenheit - das sind die großen
Monokulturen - in der Zukunft fortsetzen. Diese Fehler
bereiten uns ja hauptsächlich Sorgen.
({1})
Wann immer Stürme über das Land hinweggefegt sind,
wiesen die Monokulturwälder die Hauptschäden auf.
Auch bei der momentanen Diskussion über die Probleme
mit dem Borkenkäfer - dazu gibt es eine Anfrage der
Abgeordneten Happach-Kasan - stellt man fest, dass das
Hauptproblem bei den Wäldern besteht, die wir künftig
nicht mehr wollen. Unterstützen Sie also unser Ansinnen, naturnahe Waldwirtschaft künftig nach vorne zu
bringen.
Ein weiteres Beispiel ist die Naturverjüngung von
Wäldern. Jeder, der sich mit Wäldern auskennt, weiß,
dass der zu hohe Wildbestand uns in den allermeisten
Wäldern große Probleme bereitet, weil dadurch die Naturverjüngung enorm erschwert wird. Nun wird aus dem
Bundesjagdgesetz, dessen Reform eine notwendige
Maßnahme ist, um die Naturverjüngung der Wälder
nach vorne zu bringen, ein heiliger Gral gemacht. Angesichts dessen, was hier abläuft, kann ich manchmal nur
den Kopf schütteln. Auch bei dieser sehr konkreten
Maßnahme könnte die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag statt eine Lobby, die Einzelinteressen
vertritt, die Waldbesitzerinnen und Waldbesitzer sowie
die Umweltverbände in Deutschland sehr tatkräftig unterstützen.
({2})
- Herr Kollege Deß sagt gerade, dass die Jäger ganz anständige Menschen seien. Diese Meinung teile ich vollkommen. Wir wollen durch die Reform des Bundesjagdgesetzes auch nicht die Jagd verbieten, sondern die
Jägerinnen und Jäger in die Lage versetzen, den Wald so
zu bewirtschaften und in ihm so zu jagen, dass letztendlich das Gleichgewicht zwischen Wald auf der einen
Seite und Tieren auf der anderen Seite zu einer Verbesserung der Situation führt. Hier brauchen wir in der Tat die
Unterstützung der Jägerinnen und Jäger, nicht aber derjenigen, die meinen, dass ein Gesetz, das 1934 vom
Reichsjägermeister Göring geschaffen worden ist, bis in
alle Zukunft zu gelten habe.
Ausweislich des Waldzustandsberichts 2002 ist der
Gesundheitszustand der Eichen relativ gut. Meine beiden Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass es
nächstes Jahr aufgrund der besonderen Situation in diesem Jahr - es herrschte sehr große Trockenheit - Probleme geben wird. Das kann man schon jetzt aufgrund
der Daten für den Waldzustandsbericht 2003 sagen. Die
Situation wird insbesondere für die Eichen ernster. Wir
werden hier mit großen Problemen zu kämpfen haben.
Diese kann man in der Tat durch Emissionsminimierung
bekämpfen. Wenn es stimmt, dass der Verkehr zunimmt,
dann ist auf jeden Fall eine Politik notwendig, die für
eine Verteuerung von Treibstoffen sorgt sowie Innovationen wie zum Beispiel Benzin sparende Autos fördert.
Hier brauchen wir Ihre Unterstützung und nicht Ihre Belehrung, Herr Kollege Schirmbeck.
({3})
Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die mir einfallen, auf die alle ich aber aus Zeitgründen nicht eingehen
kann.
Wichtig ist mir, dass es uns gelingt, gemeinsam das
Produkt Holz stärker nach vorne zu bringen. Ich denke,
auch das ist ein Feld, auf dem wir mit der Charta Holz
gemeinsame Initiativen ergreifen können. Ich teile Ihre
diesbezügliche Einschätzung: Der Worte sind viele gewechselt. Wir sollten versuchen, den Streit zwischen
verschiedenen Zertifizierungsorganisationen produktiv
aufzulösen. Das bedeutet aber, dass wir Standards definieren sollten, an die sich alle halten müssen. Das wird
die Bundesregierung mit der Vorlage einer nationalen
Beschaffungsrichtlinie in den nächsten Monaten tun.
Wir werden Ihnen 2003/04 - das ist im Koalitionsvertrag verankert - die Entwürfe eines Bundeswaldgesetzes
und eines Bundesjagdgesetzes, Zertifizierungsstandards
für den Wald sowie den Entwurf einer Charta Holz vorlegen, die helfen wird, gerade die ökonomischen Fragen
des Waldes zu beantworten. Wir haben die Hoffnung,
dass wir mit diesen Maßnahmen etwas für die Waldpolitik tun. Ich habe die herzliche Bitte, dass wir dafür die
Unterstützung des ganzen Hauses bekommen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Herr Kollege Berninger, erlauben Sie noch sozusagen
eine Abschlussfrage des Kollegen Schirmbeck?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Ja.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie durch die nationale Beschaffungsrichtlinie praktisch FSC-Standards festschreiben wollen?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft:
Nein. Ich glaube, dass ich mich anders ausgedrückt
habe. Ich möchte, dass wir durch die nationale Beschaffungsrichtlinie Standards definieren, die die naturnahe
Waldwirtschaft befördern.
Parl. Staatssekretär Matthias Berninger
Ich bin für Wettbewerb der Zertifizierungsorganisationen. Alle die, die diese Standards einhalten können,
sollen bei der nationalen Beschaffung besonders berücksichtigt werden. Wir sind nicht nur für die Forsten, sondern auch für den Verbraucherschutz zuständig. Was wir
nicht wollen, ist eine nationale Beschaffungsrichtlinie,
an deren Ende Etikettenschwindel steht.
({0})
Wir wollen eine Zertifizierung unterstützen, die eine naturnahe Waldbewirtschaftung fördert.
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Waldbauern in
Deutschland und auch möglichst viele in Deutschland tätige Zertifizierungsorganisationen mitmachen. Bei der
Zertifizierung gilt das, was in der Waldpolitik insgesamt
gilt: Der Konsens unter denen, die sich da bemühen, ist
eigentlich größer als der Dissens. Wir streiten uns bei der
Zertifizierung in einem Kleinkrieg über mehrere Fragen,
die wir im Detail im Ausschuss diskutieren können und
von denen ich glaube, dass sie lösbar sind. Die Bundesregierung wird in Abstimmung von Wirtschaftsministerium, Umweltministerium und Verbraucherschutzministerium handeln. Die Zertifizierungsorganisationen
können, denke ich, einen Kompromiss finden, an dessen
Ende steht: Mehr Holz aus Wäldern, die naturnah bewirtschaftet werden, wird bei der Beschaffung des Bundes und hoffentlich auch der Länder und der Kommunen
berücksichtigt.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel HappachKasan von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist hier ein kleiner, aber offensichtlich ausgesprochen
waldinteressierter Kreis. Ich hoffe, dass wir ihn in Zukunft etwas vergrößern können.
({0})
Herr Berninger, Sie haben die Maßnahmen angesprochen, die sich die Bundesregierung vorgenommen hat.
Ich möchte dazu anmerken: Global betrachtet ist der illegale Holzeinschlag in vielen Wäldern anderer Erdteile
das gravierende, das ganz große Problem. An diesem
Problem ändern wir nichts, wenn wir in Deutschland
weitere Regelungen schaffen. Ihr Waldgesetz wird weitere Regelungen und zusätzliche Standards zur Zertifizierung enthalten. Wir brauchen ein bisschen mehr Vertrauen in unsere Waldbesitzer, die ihre Wälder in
Jahrzehnten ordentlich entwickelt haben. Stattdessen
sollen sie mit weiterer Bürokratie belastet werden.
({1})
Der Wald wächst, die Holzbodenfläche nimmt zu
und der Holzvorrat nimmt ebenfalls zu. Die Apokalypse
des Waldsterbens ist erkennbar nicht eingetreten. RotGrün hat daran, glaube ich, keinen Anteil.
({2})
Gleichzeitig - darum kann man nicht herumreden werden in alten Waldformen deutliche Schäden beobachtet. Das ist kein Widerspruch. Das eine schließt das
andere nicht aus. Darüber kann auch eine Äußerung von
Ministerin Künast nicht hinwegtäuschen. Sie hat davon
gesprochen, dass der Trend gestoppt ist. Leider ist er es
nicht.
Der Zustand der Waldböden ist besorgniserregend.
Die Schadstoffeinträge haben die Waldflächen großflächig verändert und in ihrer Funktionsfähigkeit stark beeinträchtigt. Als Gegenmaßnahme empfiehlt der Bericht
Waldkalkungen. Ich möchte Ihnen vorlesen, was die
ehemalige Ministerin Martini in Rheinland-Pfalz gesagt
hat:
Nichtstun gibt die Waldböden teilweise irreparablen Schäden preis und gefährdet die Nachhaltigkeit der Waldwirtschaft und die Qualität unserer
Wasserressourcen.
Ich fordere die Regierungskoalition auf, die Maßnahmen gegen Waldschäden, die im Bericht genannt werden, auch zu realisieren. Dazu gehören Waldkalkungen.
Dafür brauchen wir angesichts der schlechten Ertragssituation der Wälder eine öffentliche Förderung. Außerdem muss deutlich gemacht werden: Nur gesunde
Waldböden können gesunde Wälder tragen. Anders
funktioniert es nicht.
Der heiße Sommer hat dramatische Borkenkäferschäden in den Wäldern zur Folge gehabt. Die Schadbilder,
die ich in den vergangenen Wochen gesehen habe, sind
ausgesprochen schlimm. Es steht zu befürchten, dass für
einige Bestände der Kahlschlag der einzige Weg ist, die
Voraussetzungen für die Neubegründung von Wald zu
schaffen. Die Borkenkäferkalamität hat aber auch deutlich gemacht, dass die eigentlichen Probleme in Fehlern
vergangener Jahrzehnte liegen - es gibt Wälder, die
nicht stabil sind; es gibt Monokulturen, die so nicht weiter betrieben werden können; deswegen werden wir ja so
große Schäden haben -, dass FSC und die Polarisierung
zwischen zwei Zertifizierungssystemen nicht die Antwort sind, die wir brauchen.
Frau Hiller-Ohm, Sie haben darauf abgehoben, dass
Sie die Arbeitsplätze im Wald erhalten wollen. FSCHolz erzielt zurzeit einen geringeren Preis als anderes
Holz. Damit ist es kaum geeignet, die Arbeitsplätze im
Wald zu erhalten.
Solange die Zertifizierungssysteme nicht darauf Rücksicht nehmen, dass in Deutschland eine sehr kleinteilige
Struktur gegeben ist - 1,3 Millionen Waldbesitzer -, und
solange nicht sichergestellt ist, dass die Standards in den
einzelnen Länder gleich sind, kann ein solches Zertifizierungssystem meines Erachtens keinen Bestand haben.
Ich fordere die Regierung auf, die Berichte, die sie
verfasst, auch wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Wir
können es uns nämlich sparen, Geld für solche Berichte
auszugeben, wenn sie hinterher nicht konsequent umgesetzt werden.
({3})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein Satz zum Antrag der Regierungskoalition: Er
enthält - ich habe ihn in meiner ersten Rede bewertet durchaus Sinnvolles - das will ich hier deutlich sagen -,
aber es fehlt sehr viel und einiges ist überflüssig.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Cajus Caesar von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Bedeutung des Waldes muss zukünftig mehr Beachtung geschenkt werden.
Schauen wir uns die positiven Wirkungen des Waldes
an. Ich nenne hierzu die Stichworte Luft, Wasser, Klima,
Boden, Artenvielfalt und, nicht zu vergessen, die Wirtschaft; die rund 800 000 Arbeitsplätze in diesem Bereich
sind nicht zu vernachlässigen.
Der Waldzustandsbericht beinhaltet eine Analyse und
eine Zustandsbeschreibung. Beides ist richtig und wichtig. Wo sind aber die Taten der Regierung? Wir suchen
sie vergebens. Außer Papier und Reden findet man herzlich wenig.
({0})
Wir haben Erfolge bei der Schadstoffreduzierung zu
verzeichnen; aber in der Statistik werden nicht umsonst
die Zeiten der CDU/CSU-geführten Regierung wesentlich einbezogen. Von 1990 bis 2000 ist die Emission von
Schwefeldioxiden um 85 Prozent zurückgegangen; die
Emission von Stickoxiden ist um 41 Prozent zurückgegangen.
({1})
Dennoch gibt es dringenden Handlungsbedarf; aber
Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, die notwendigen Dinge auf den Weg zu bringen. Die Bodenversauerung schreitet weiter voran: 80 Prozent der Flächen weisen einen pH-Wert unter 5 auf. Einige Standorte weisen
einen pH-Wert unter 3 auf. Sie wissen: Ein Sinken des
pH-Wertes um zwei Punkte bedeutet eine Verhundertfachung der Versauerung. Das hat eine Verdrängung von
Pflanzennährstoffen, einen Verlust an Vitalität, die Anreicherung von Schwermetallen, einen Verlust von Artenvielfalt und, Herr Staatssekretär, insbesondere eine
Verringerung des Laubholzanteils zur Folge; denn
gerade das Laubholz benötigt einen hohen pH-Wert.
Darüber sollten Sie nachdenken.
Verehrte Kollegin, Sie haben vorhin vorgetragen, dass
möglichst keine Düngung und damit keine Waldkalkung auf ganzer Fläche vorgenommen werden soll. Ich
darf Ihnen darstellen, was die Regierung auf eine Anfrage von mir aus diesem Jahr geantwortet hat:
Die Bodenschutzkalkung ist - neben Luftreinhaltemaßnahmen - die einzige praktikable Maßnahme,
um weiteren Bodenschäden durch Nährstoffauswaschung und Bodenversauerung entgegenzuwirken.
Sie haben es doch erkannt. Tun Sie auch etwas!
Tatsache ist auch: Die Kalkungsfläche der Staatswälder ist von 70 000 Hektar auf 39 000 Hektar zurückgegangen. Die Kalkung der Privatwälder wurde ausgeweitet. Die entsprechenden Bundesmittel sind von
5,5 Millionen Euro auf 4,4 Millionen Euro zurückgegangen. Das sind die tatsächlichen Zahlen, die die Bundesregierung hier auf den Tisch legt. Das können wir nicht
hinnehmen. Wir von der Union wollen uns für die
1,3 Millionen Waldbesitzer in der Bundesrepublik
Deutschland weiterhin einsetzen und sie unterstützen.
({2})
„Keine Zukunft vermag gutzumachen, was man in der
Gegenwart versäumt.“ Das hat Albert Schweitzer gesagt.
Es ist ein Zitat, das Sie sich zu Herzen nehmen sollten.
Sie führen stattdessen immer mehr Bürokratie und Belastungen - Steuern, wie die Ökosteuer, sowie Gesetze,
Verordnungen, Leitbilder, Richtlinien, Verbote, Gebote
und Festsetzungen - ein. Das sind Ihre Handlungsvorgaben. Sie legen mit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes und des Bundesjagdgesetzes noch eins drauf. Sie
wollen dem einzelnen kleinen Waldbesitzer vorschreiben, auf welchem Quadratmeter er welche Pflanze in
welcher Größe und von welcher Sorte pflanzen soll.
Gleichzeitig vernachlässigen Sie Ihre internationale
Verantwortung. Wo sind denn die Gelder für den Tropenwald, wo täglich Tausende von Hektar verloren gehen? Sie kürzen sie doch! Das ist nicht unsere Politik;
das ist nicht die Politik der Union.
({3})
Wir wollen Taten statt Worte: Wir wollen, dass mehr
Forschung sowie Marketing für Holz und Wald - es tut
beiden gut - betrieben wird, dass die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten des nachwachsenden Rohstoffes
Holz ausgenutzt werden. Das wollen wir voranbringen.
Es wäre ein Beitrag zur Reduzierung von CO2, zum Klimaschutz und zur Verbesserung der Ertragslage. Es fördert die Waldpflege und stärkt insbesondere unseren
ländlichen Raum.
Dies ist eine Chance für unser Holz, für unseren
Wald, für die Biomasse. Diese haben es verdient.
Sie sind gefordert, Ihrer Verantwortung gerecht zu
werden: Bewahren Sie das Erbe eines gesunden Waldes
für die Bürger unseres Landes, aber auch für unsere Kinder.
Herzlichen Dank.
({4})
Abschließend hat der Kollege Albert Deß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen SPD und Grüne zum Waldzustandsbericht 2003,
über den wir hier bereits im April ausführlich debattiert
haben, bringt nur wohlfeile Waldlyrik. Der Wald wird
dort fast ausschließlich unter dem Ökoaspekt betrachtet.
Die Umweltfunktion des Waldes ist aber nur die eine
Seite. Genauso wichtig ist die wirtschaftliche Funktion
des Waldes.
Fast ein Drittel unseres Landes ist mit Wald bewachsen. Durch die Aufforstung weiterer Flächen nimmt die
Waldfläche in Deutschland im Gegensatz zu anderen
Ländern, wo leider riesige Waldflächen gerodet werden,
zu. Allein in Bayern wurden in den vergangenen zehn
Jahren 20 000 Hektar neue Waldfläche geschaffen. Der
Aufwuchs von 1 Festmeter Holz entzieht der Atmosphäre 1 Tonne Kohlendioxid. Wird Holz nach dem Aufwuchs zum Beispiel beim Bau verwendet, bleibt dieses
CO2 für lange Zeit gebunden. Der vermehrte Einsatz von
Holz in den verschiedensten Bereichen, verbunden mit
einer sinnvollen Waldwirtschaft, gibt uns die Möglichkeit, eine noch bessere CO2-Bilanz zu erreichen. Weil
ich immer großen Wert darauf lege, dass Reden und
Handeln zusammenpassen, habe ich beim Umbau meines Wohnhauses im vergangenen Winter möglichst viel
Holz verwendet; das Ganze schaut auch noch gut aus.
({0})
Nur wenn wir das Ökosystem des Waldes bewahren
und stärken, können wir seine für uns ebenso wichtigen
Funktionen als Erholungsraum und Erwerbsgrundlage
dauerhaft nutzen. Der Wald bietet vielfältige Möglichkeiten zur Entspannung und schafft Einkommen und Arbeitsplätze in der Forst- und Holzwirtschaft. Es ist ein
Fortschritt, dass selbst von den Grünen, den Panikmachern und -profiteuren der Nation, nicht mehr der
Alarmruf „Waldsterben!“ in den Mund genommen wird.
({1})
Es gab in den 80er-Jahren fast keine Veranstaltung der
Grünen, in der das Thema Waldsterben nicht auf der Tagesordnung stand.
({2})
„Der Wald stirbt!“ war eine der unverantwortlichen Parolen zu dieser Zeit. Ich bin froh, dass sich die Waldbesitzer davon nicht entmutigen ließen und die Pflege ihrer
angeblich hoffnungslos erkrankten Wälder nicht aufgegeben haben.
({3})
Sie haben trotz der grünen Panikmache weiter in die
Wälder investiert. Damit haben sie einen großen Beitrag
dazu geleistet, dass die Situation unseres Waldes trotz
negativer Umwelteinflüsse nicht schlechter geworden
ist. Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und den
Forstbesitzern, den echten Grünen, die durch unermüdliche Arbeit unseren Wald pflegen und erhalten.
({4})
Von den selbst ernannten grünen Aposteln braucht
sich die Holz- und Forstwirtschaft nicht vorwerfen lassen, dass sie den ökologischen Aspekt des Waldes nicht
beachtet. Die Forst- und Holzwirtschaft war es, die den
Begriff der Nachhaltigkeit geprägt und seit langem ihre
Praxis danach ausgerichtet hat. Nachhaltigkeit in der
Forstwirtschaft lässt sich aber nur mit den Betroffenen,
vor allem den rund 1,3 Millionen Kleinwaldbesitzern,
verwirklichen und nicht gegen sie.
({5})
Unsere Waldbauern brauchen keine Belehrungen von
Sachunkundigen, die mit Modulationsmitteln dem Wald
helfen wollen, die vorher meinen Berufskollegen aus der
Tasche gezogen wurden.
({6})
Die Waldbauern wären schon zufrieden, wenn sie bei der
Bewirtschaftung ihrer Waldflächen von Rot-Grün nicht
ständig schikaniert würden.
Überflüssig ist auch die besonders von den Grünen
geforderte Novellierung des Jagdrechts. Ich bin kein
Jäger. Deshalb kann ich ohne Hintergedanken sagen:
Hier wollen sich die grünen Ideologen eine neue Spielwiese schaffen, auf der sie ihren Vorurteilen gegen die
Jagd und Jäger freien Lauf lassen können. Das Jagdrecht
ist untrennbar mit dem Eigentum an Grund und Boden
verbunden und darf nicht angetastet werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
uns alle einig, dass bei der Novellierung des Energieeinspeisegesetzes die Biomasse einen höheren Stellenwert
erhalten kann. Wenn die Bundesregierung und Rot-Grün
dies vorhaben, dann werden wir als Opposition bei diesem Punkt konstruktiv mitarbeiten.
Herr Kollege Deß, kommen Sie bitte zum Schluss!
Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Die
thermische Verwertung von Holz bietet eine interessante
Perspektive. Wir sollten die Möglichkeiten, die damit
verbunden sind, nutzen.
Ich möchte mich zum Schluss bei allen bedanken, die
heute gekommen sind, um bei dieser Walddebatte dabei
zu sein. Ich möchte mich besonders, ohne dass ich damit
andere zurücksetzen will, bei meinen drei Fraktionskollegen Ulla Heinen, Gitta Connemann und Peter Bleser
bedanken, die auf meinen Wunsch hin gekommen sind,
obwohl sie einen anderen wichtigen Termin gehabt hätten.
({0})
Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.
({1})
Herr Kollege Deß, die Anwesenheit von Kollegen bedarf keines besonderen Dankes. Das gehört zu ihren
Aufgaben.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 15/1027 zum Waldzustandsbericht 2002 und zu dem Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
hierzu. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Waldzustandsberichts 2002 auf Drucksache 15/270 den Entschließungsantrag auf Drucksache 15/745 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
({1})
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Ich darf fragen, ob es eine andere Meinung gibt? - Das
ist nicht der Fall.
({2})
- Sie können sicher sein, dass abgezählt wurde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des
Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes
zum Bürgerlichen Gesetzbuche
- Drucksache 15/1490 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe
ich dem Kollegen Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am heutigen Tag debattieren wir den Gesetzentwurf des Bundesrats zur Aufhebung der in den neuen Ländern geltenden
Sonderregelung zur Verwertungskündigung, die dort
ausgeschlossen ist. Hintergrund des Gesetzentwurfs ist
insbesondere die in den neuen Ländern bestehende Leerstandsproblematik und damit ein wichtiges und durchaus
komplexes Problem. Der Gesetzentwurf reagiert dabei
auf eine Entwicklung, die vor einer Dekade in dieser
Schärfe sicherlich kaum vorhersehbar gewesen ist.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands stand dem
Gesetzgeber noch ein ganz anderes Bild vor Augen. Damals befürchtete man eine Welle von Kündigungen in
den neuen Ländern und damit die Verdrängung von Mietern aus ihren Wohnungen, aus ihrer vertrauten Umgebung. Das sollte vermieden werden. Deshalb hat man für
das Gebiet der neuen Länder ein Verbot der Verwertungskündigung in das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch aufgenommen.
Heute tut sich mit den erheblichen Leerständen in
den Städten und Kommunen Ostdeutschlands allerdings
ein völlig anderes Szenario auf. Eine Verdrängung von
Mietern ist angesichts des großen Angebots von Mietraumwohnungen derzeit nicht zu befürchten. Ganz im
Gegenteil: Die Wohnungswirtschaft bei uns im Osten
wirbt um jeden Mieter.
Bereits im Rahmen der Mietrechtsreform vor etwas
über zwei Jahren hatte die Bundesregierung den neuen
Bundesländern signalisiert, dass sie das Verbot im Rahmen der Reform aufheben würde, wenn sich die Länder
darauf einigen könnten.
Dazu kam es damals jedoch nicht. Nach der Reform
gab es stattdessen vonseiten der Länder Vorschläge für
ein spezielles Sonderkündigungsrecht mit ganz neuen
städtebaulichen Tatbestandsmerkmalen. Ein solches
Sonderkündigungsrecht war unter den Ländern aber leider nicht konsensfähig.
Über den Vorschlag des Bundesrates, der jetzt auf
dem Tisch liegt und der in der Vergangenheit bereits andiskutiert worden ist, sollten wir nun ernsthaft nachdenken. Die hinter der Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung stehende Intention ist klar: Damit würde
für noch aus der DDR stammende Mietverträge der vermutlich letzte große mietrechtliche Unterschied zwischen Ost und West beseitigt. Die Aufhebung des Verbots würde also mitnichten zu einer Sonderbehandlung
bzw. Schlechterstellung ostdeutscher Mieter mit Altverträgen führen. Sie würden lediglich gleich behandelt
werden wie alle anderen Mieter.
Wichtig ist für mich als Rechtspolitiker aber auch der
verfassungsrechtliche Aspekt, den wir hier sicherlich
nicht aus den Augen verlieren sollten. Das Verbot der
Verwertungskündigung berührt nämlich das in Art. 14
des Grundgesetzes geschützte Eigentumsrecht, das auch
für Vermieter gilt. Beschränkungen der Rechte von
Eigentümern müssen verhältnismäßig sein. Angesichts
des zunehmend entspannten Wohnungsmarktes in Ostdeutschland sehe ich die Verhältnismäßigkeit des Verbots der Verwertungskündigung mittlerweile infrage gestellt. Wir sollten also sorgfältig prüfen, ob nicht die
Aufhebung des Verbots inzwischen schon allein mit
Blick auf das Eigentumsrecht der Vermieter verfassungsrechtlich geboten ist.
Von der Pflicht zur sorgfältigen Prüfung entbindet uns
meiner Auffassung nach auch nicht die Rechtsprechung
zur so genannten Abrisskündigung. Diese Rechtsprechung hat bisher nur in extremen Einzelfällen eine Kündigung durch den Vermieter ermöglicht, nämlich dann,
wenn ein einziger Mieter in einem großen und ansonsten
leer stehenden Wohnkomplex verblieben war. Eine Prognose, ob diese Rechtsprechung auch in anderen Fällen zu
einer zulässigen Kündigung führt - wenn zum Beispiel
der Leerstand nicht 90 Prozent, sondern nur 75 Prozent
oder 80 Prozent beträgt und der Abriss vom Grundsatz
her genehmigt ist -, ist nicht möglich. Unklar ist auch,
wie die Rechtsprechung bei einem Fortbestehen des Verbots der Verwertungskündigung mit den übrigen von der
Verwertungskündigung erfassten Fällen, wie etwa dem
einer umfassenden Sanierung, umgeht.
Voraussichtlich für das nächste Jahr können wir zu diesem Themenbereich eine Stellungnahme des Bundesgerichtshofes erwarten, dem diesbezüglich gerade ein Urteil des Landgerichtes Gera zur Entscheidung vorliegt.
Unabhängig von dieser Entscheidung meine ich, dass
uns deswegen nicht die Hände gebunden zu sein brauchen, hier gesetzgeberisch aktiv zu werden. Ganz im Gegenteil, denn wenn der BGH die Rechtsprechung zur
Abrisskündigung nicht bestätigen sollte, bliebe bei einer
Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung die
Möglichkeit, auf diese zurückzugreifen. Damit stünden
in der Praxis in jedem Fall verlässliche Instrumentarien
zur Verfügung, mit denen auf das Leerstandsproblem reagiert werden könnte.
Den Mieterschutz sehe ich hierdurch - das ist meine
Meinung als Rechtspolitiker - nicht gefährdet. In der
Regel werden Mietverhältnisse in Abrissfällen ohnehin
einvernehmlich beendet. Ist dies nicht der Fall, bleibt ein
ausreichender Mieterschutz auch bei Aufhebung des
Verbots der Verwertungskündigung sichergestellt; der
Kollege Spanier wird das in dieser Debatte noch näher
ausführen. Die Hürden für eine Verwertungskündigung
sind bereits so hoch, dass der Mieter hinreichend geschützt ist. Im Übrigen gibt es noch die so genannte Sozialklausel, also das Recht zum Widerspruch gegen die
Kündigung, und den Räumungs- und Vollstreckungsschutz.
Ich meine deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen
- damit komme ich zum Abschluss -, dass wir dem Gesetzentwurf des Bundesrates aufgeschlossen gegenüberstehen und ihn ausführlich diskutieren sollten.
({0})
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst, Herr Kollege Manzewski, sei mir gestattet, Folgendes zu sagen: Ich finde es sehr erfreulich, dass von
der SPD-Fraktion jetzt - im Gegensatz zu der Debatte,
die wir im Juli dieses Jahres geführt haben - zumindest
Prüfbedarf gesehen wird.
({0})
- Sie haben damals nicht geredet, das ist richtig. - Wenn
Sie das schon etwas früher erkannt hätten, dann hätte
auch die Prüfung schon etwas eher erfolgen können.
Nichtsdestotrotz: Da ich nicht sicher bin, ob das auch
Ihre Kolleginnen und Kollegen erkannt haben, glaube
ich, dass zu der Entstehung dieser Regelung noch einiges gesagt werden sollte.
Die hier in Rede stehende Sonderregelung des Art. 232
§ 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen
Gesetzbuch erweist sich - das habe ich bereits in meiner
Rede im Juli gesagt - zunehmend als Hemmschuh für
die weitere wohnungswirtschaftliche Entwicklung in
den neuen Ländern.
Diese Regelung verbietet es dem Vermieter, sich bei einem vor dem 3. Oktober 1990 abgeschlossenen Mietverhältnis - das betrifft noch eine große Zahl an Mietern auf ein berechtigtes Interesse für eine Kündigung zu berufen, wenn er durch die Fortführung des Mietverhältnisses an einer angemessenen wirtschaftlichen Verwertung gehindert wäre. Die Anwendung des Kündigungstatbestandes in § 573 BGB, den Sie schon ansprachen
und der dies ermöglichen würde, ist für diese Mietverhältnisse nach der genannten Vorschrift ausdrücklich
ausgeschlossen.
Durch diese besondere Rechtslage wird es den Eigentümern erschwert, Gebäude grundlegend zu sanieren,
um- oder neu zu gestalten, abzureißen bzw. in ihrer Gesamtgröße oder in ihrem Gesamtzuschnitt den geänderten Verhältnissen auf dem Wohnungsmarkt anzupassen.
Diese Vorschrift gilt, wie schon ausgeführt, nur für
die neuen Länder; sie geht auf den Einigungsvertrag zurück. Zweck war es, wie ebenfalls schon richtig angesprochen, Mieter von preisgünstigem Wohnraum in Anbetracht der herrschenden Wohnungsknappheit in der
ehemaligen DDR vor Kündigung zu schützen. Fortgeführt wurden aber auch - ich denke, das sollten wir hier
erwähnen - die mietrechtlichen Schutzvorschriften des
ZGB der ehemaligen DDR, in denen aufgrund der völlig
anderen Eigentümerstruktur im Bereich des Wohnraumes eine Kündigungsmöglichkeit zur Verwertung des
Grundstücks nicht vorgesehen war.
Wenn man sich nochmals die Wohnraumsituation zum
Zeitpunkt der Wiedervereinigung vergegenwärtigt, so
hatte diese Regelung zu diesem Zeitpunkt durchaus ihre
Berechtigung. Mittlerweile hat sich jedoch auf dem Wohnungsmarkt vieles grundlegend verändert - und das nicht
erst im letzten halben Jahr. Wir sollten beispielsweise die
in großem Umfang getätigten Sanierungen oder die vielen
Neubauten und nicht zuletzt den seit Ende der 90er-Jahre
wieder erhöhten Abwanderungsdruck im Osten nicht
aus den Augen verlieren. Allein in den letzten vier Jahren ist der Leerstand, bezogen auf das Gebiet der neuen
Länder, um mehr als 300 000 Wohnungen auf nunmehr
rund 1,2 Millionen Wohnungen angestiegen. In einigen
Gebieten steht fast jede fünfte Wohnung leer. Damit einhergehend steht genügend preiswerter, sanierter Wohnraum zur Verfügung.
Der Ausschluss der Verwertungskündigung führt nun
dazu, dass Vermieter, wenn sich Mieter weigern auszuziehen - das sind nach meiner Einschätzung leider keine
Einzelfälle -, die Gebäude in mehr oder weniger unverändertem Zustand erhalten müssen. Mit den Mieteinkünften kann aber vielfach nur ein kleiner Teil der Kosten für die Gebäudeunterhaltung abgedeckt werden.
Gerade die kommunalen Wohnungsbaugenossenschaften und -gesellschaften, die in den neuen Ländern in sehr
großer Zahl vorhanden sind, sind in ihrer Existenz oftmals dadurch bedroht, dass gerade Plattenbauten, aber
auch andere Altbauten nicht abgerissen werden können.
Vielfach bleibt nur die Möglichkeit, den letzten verbliebenen Mieter mit großzügigen Umzugsprämien - wenn
man sie so bezeichnen will; wenn man mit den Betroffenen spricht, ist teilweise von fünfstelligen Summen die
Rede - dazu zu bewegen, auszuziehen. Aber selbst darauf lassen sich Mieter teilweise nicht ein. Sie bestehen
vielmehr darauf, in ihrer Wohnung wohnen zu bleiben.
Eigentümer müssen dann Vermögensverluste hinnehmen,
denen sie mangels Verkäuflichkeit des Grundstücks - das
ist leider traurige Realität - nicht ausweichen können.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Diese Sonderregelung
gefährdet den Erfolg des „Stadtumbaus Ost“ insgesamt.
({1})
Eine Wohnungsgenossenschaft, die ein zum Abriss ausgewähltes Quartier derzeit nicht leer ziehen kann, wird
resignieren und nicht Jahre später, wenn die Rechtslage
geändert wurde, wieder mit neuen Planungen beginnen
und neue Konzepte entwerfen - falls es diese Genossenschaft dann überhaupt noch gibt. Die Entwicklung der
Mietpreise - auch das sei an dieser Stelle gesagt - gefährdet bereits jetzt den Wohnungsmarkt in den neuen
Ländern nicht unerheblich.
Deshalb ist eine Aufhebung der Sonderregelung geboten, zumal es sich um die einzig verbliebene mietrechtliche Sonderregelung in den neuen Ländern seit
Überführung des Mietrechts des ZGB in unser BGB im
Bereich des Kündigungsschutzes handelt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang Folgendes klarstellen: Es geht uns nicht - das konnte ich jüngst in der
„Mieter-Zeitung“ des Deutschen Mieterbundes lesen - um
ein „Sonderkündigungsrecht Ost“. Wir wollen - ganz im
Gegenteil - ein nicht mehr zu rechtfertigendes „Sonderrecht Ost“ aufheben und damit die Rechtslage in Ost und
West in einem Rechtsgebiet vereinheitlichen, in dem kein
sachgerechter Grund mehr für unterschiedliche Regelungen besteht.
Durch die Aufhebung dieser Sondervorschrift - Kollege Manzewski hat es angesprochen - werden keine berechtigten Interessen der Mieter verletzt. Zum einen
setzt § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB dem Kündigungsrecht des
Vermieters enge Grenzen, weil nur dann gekündigt werden darf, wenn der Vermieter andernfalls erhebliche
wirtschaftliche Nachteile erlitte. Zum anderen sind die
Mieter durch zu beachtende Kündigungsfristen geschützt. Außerdem bleibt ihnen die Möglichkeit, der
Kündigung zu widersprechen, wenn diese für sie eine
unzumutbare Härte bedeutete. Diese Schutzmechanismen haben sich in den alten Ländern selbst in Gebieten,
in denen Wohnungsknappheit vorherrscht, als praktikabel und zureichend erwiesen.
Mit den Kündigungsmöglichkeiten des allgemeinen
Mietrechts kann die gerade die neuen Länder betreffende
Leerstandsproblematik wesentlich entschärft werden, da
auch Kündigungen zum Zwecke des Gebäudeabrisses ermöglicht würden. Nun verweist die Bundesregierung - so
tat sie es zum Beispiel in der Debatte im Juli - auf vereinzelte Rechtsprechung aus jüngster Zeit, in der die
Auffassung vertreten wird, der bloße Gebäudeabriss sei
keine wirtschaftliche Verwertung. Diese Rechtsprechung
ist aber - so meine ich - ersichtlich aus der Not geboren.
Nur dadurch, dass die Gerichte davon ausgegangen sind,
der bloße Abriss sei kein Fall der Verwertungskündigung, war der Weg eröffnet, die Kündigung von Altmietverhältnissen trotz des Ausschlusses der Verwertungskündigung zumindest auf die Generalklausel stützen zu
können. Hätte man, was meiner Auffassung nach zutreffender ist, auch die Abrisskündigung der aufzuhebenden
Sondervorschrift unterworfen, wäre ein Rückgriff auf
die Generalklausel nicht möglich gewesen.
Diese Rechtsprechung wird im Übrigen in der Literatur gerade deshalb zu Recht heftig kritisiert. Wenn ein
Vermieter berechtigt ist, zur wirtschaftlichen Verwertung
zu kündigen, muss dies schon nach dem Zweck der Kündigungsregel erst recht gelten, wenn es darum geht, ohne
lukrativere Nutzungsmöglichkeit künftige wirtschaftliche Einbußen abzuwenden, die ohne den Gebäudeabriss
zweifellos einträten.
Zudem lagen den beiden in diesem Zusammenhang
bekannt gewordenen Entscheidungen der Amtsgerichte
Halle-Saalkreis und Jena ausgesprochene Extremfälle
zugrunde. Auch darüber haben wir in diesem Hause
schon gesprochen. In beiden Fällen waren die Gebäude
elfgeschossige Plattenbauten, die bis auf einen letzten
verbliebenen Mieter leer gezogen waren. In dem Fall,
über den das Amtsgericht Halle-Saalkreis zu befinden
hatte, standen jährliche Mieteinnahmen von 4 000 Euro
Kosten zur Unterhaltung des Gebäudes in Höhe von
mehr als 50 000 Euro gegenüber. Daher lässt sich sicherlich nicht behaupten, dass eine Aufhebung der Sonderregelung angesichts veränderter Rechtsprechung obsolet
geworden sei, zumal die weitere Entwicklung im Unklaren bleibt und von einer einheitlichen Entscheidungspraxis noch keine Rede sein kann.
Insoweit ist die Stellungnahme der Bundesregierung
zum vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates, dem
eine Initiative der Freistaaten Sachsen und Thüringen sowie des Landes Sachsen-Anhalt zugrunde liegt - drei der
neuen Bundesländer konnten sich also einigen -, zumindest schwer nachvollziehbar. Es heißt dort:
Es sollte aber im weiteren Verfahren geprüft werden, ob angesichts der Rechtsprechung eine Gesetzesänderung erforderlich ist.
Ich habe ihre Initiative anders, nämlich eher dahin gehend verstanden, dass es um eine sorgfältige Prüfung des
vorliegenden Antrages gehe. Das, was die Bundesregierung hier in ihrer Stellungnahme schreibt - sie stellt das
Ob und nicht das Wie infrage -, trifft das Problem also
nicht.
Das Abschaffen einer Sonderregelung und damit die
Geltung einer vorhandenen gesetzlichen Regelung im
gesamten Bundesgebiet ist doch besser geeignet, Rechtssicherheit zu schaffen, als eine sich langsam entwickelnde Rechtsprechung, die stets nur den Einzelfall betreffen kann. Außerdem wäre es für Sie, Kolleginnen
und Kollegen der Regierungsfraktionen, doch eine
schöne Sache, statt zu reden und zu prüfen - dies tun Sie
auch auf diesem Gebiet schon eine ganze Weile - einmal
etwas mit uns zusammen zu machen.
({2})
Den Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
„Stadtentwicklung Ost - Mehr Effizienz und Flexibilität,
weniger Regulierung und Bürokratie“ haben Sie abgelehnt. Geben Sie sich doch zumindest heute einmal ob
der überschaubaren Materie einen Ruck, sachpolitisch
und nicht ideologisch zu handeln.
({3})
- Dieses Eindrucks kann man sich zumindest bei den
Ländern nicht erwehren, deren Regierungen sich diesem
Antrag verweigert haben.
Die Sonderregelung begegnet auch im Hinblick auf
die Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz verfassungsrechtlichen Vorbehalten. Ich verkenne nicht, dass
der Eigentümer in Anbetracht der Sozialpflichtigkeit des
Eigentums umso größere Einschränkungen seiner Eigentumsbefugnisse hinnehmen muss, je stärker das Eigentumsobjekt soziale Funktionen erfüllt. Stets muss aber
ein sachlicher Grund für solche Einschränkungen gegeben sein.
Sachliche Gründe dafür, die Verwertungskündigung
gänzlich auszuschließen, sind aber nicht mehr ersichtlich, schon gar nicht, wenn die Beschränkung auf die
neuen Bundesländer begrenzt ist, in denen im Gegensatz
zu manchen Großstädten in den alten Bundesländern
ausreichend Wohnraum zur Verfügung steht. Jeder, der
für eine Angleichung der Lebensverhältnisse eintritt,
müsste schon aus diesem Grunde den Antrag unterstützen. Der Schutzzweck einer früher berechtigten Sondervorschrift hat sich ins Gegenteil verkehrt. Ich meine, wir
sollten sie daher aufheben.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
müssen sehen: Wir haben es hier mit zwei Themen zu
tun, die sich überlagern. Das eine ist der Anspruch,
Rechtsgleichheit zwischen Ost und West im Mietrecht
herzustellen - ich habe volles Verständnis dafür, dass das
vor allem den Rechtspolitikern sehr wichtig ist -, das andere ist der Anspruch, die Probleme des Leerstands im
Osten und des Stadtumbaus Ost mit dem Instrument der
Verwertungskündigung zu lösen. Ich möchte sehr deutlich für Prüfung und Nachdenklichkeit werben und das
auch begründen.
Zunächst zur Seite des Eigentümers: Ich finde es in
gewisser Weise schwierig, wenn der Eigentümer sagt,
eine angemessene wirtschaftliche Verwertung könne nur
dadurch vollzogen werden, dass er ein Haus abreißen
oder einen Teil des Gebäudes zurückbauen muss. Das
hat einen komischen Beigeschmack. Ähnlich ist es auf
der Seite des Mieters: Auch er hat ein eigenartiges Gefühl, wenn ihm zur Verwertung des Objekts gekündigt
wird und er weiß, dass es um den Abriss des Hauses
geht.
Es sollte also wirklich geprüft werden, ob das Instrument Verwertungskündigung für diesen Zweck - man
kann sicher darüber diskutieren, ob es für andere Zwecke sinnvoll ist - das richtige Instrument ist. Man sollte
dies vor allem vor dem Hintergrund tun, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Ost und West besteht:
Im Osten gibt es einen dramatischen Leerstand - darauf
haben meine beiden Vorredner schon hingewiesen -, im
Westen hat es ihn in dieser Weise nie gegeben; die Verwertungskündigung war dort glücklicherweise nie ein
Instrument, das in großem Umfang eingesetzt werden
musste. Dort gab es sie nur für Einzelfälle. Wir wünschen dem Westen, dass er nie in eine solche Situation
kommen wird.
Mein Hauptanliegen ist: Wir müssen beim Stadtumbau
Ost - das ist eine schwierige Situation für Vermieter und
Mieter - dafür sorgen, dass der soziale Frieden gewahrt
wird. Insofern müssen wir prüfen, welches das richtige Instrument ist. Auf der einen Seite darf der Vermieter nicht
in die Situation geraten, dass noch der berühmte letzte
oder vorletzte Mieter in seinem Haus wohnt und er die
Kosten für die Bewirtschaftung des ganzen Hauses tragen
muss. Auf der anderen Seite aber müssen auch die Interessen des Mieters bei einer Kündigung gewahrt bleiben.
Nur dann werden die Mieter - das ist bisher der Fall - in
konstruktiver Weise am Stadtumbauprozess mitwirken.
Wir dürfen also nicht ein Instrument beschließen, das den
sozialen Frieden, der zurzeit beim Stadtumbau herrscht,
gefährdet. Von daher werbe ich dafür, dass wir mit diesem
Instrument sehr achtsam umgehen
({0})
und nicht besserwisserisch vorab behaupten, das eine
oder andere wäre das Richtige.
Ich muss gestehen, dass ich zu denjenigen gehöre, die
meinen, eine Kündigung aus berechtigtem Interesse erfüllt diese Kriterien. Richtig ist - das wurde hier bereits
gesagt -, dass wir noch nicht wissen, wie es mit der
Rechtsprechung weitergehen wird. Das muss noch geklärt werden.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir wahrscheinlich im Zuge der Novellierung des Baugesetzbuches die
Möglichkeit eröffnen, Stadtumbaugebiete qua kommunaler Satzung definieren zu können. Auch insofern sollten wir prüfen, welches rechtliche Instrument geeignet
ist, entsprechend zu reagieren.
Ich möchte also dafür werben, dies zu prüfen und sich
die Stellungnahme des Bundesgerichtshofes anzusehen.
Anschließend können wir § 573 BGB zur Entscheidung
bringen. Ich glaube nicht, dass es hilft zu sagen:
Rechtsangleichung ist automatisch ein sinnvolles Instrument für den Umgang mit dem Stadtumbau Ost. So einfach ist es nicht. Wir brauchen den Interessenausgleich
zwischen Vermieter und Mieter. Insofern melde ich deutlichen Beratungsbedarf bei diesem sensiblen Thema an.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Günther von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates entspricht
den Vorstellungen der FDP. Das in den neuen Bundesländern geltende Sonderrecht, das die Möglichkeit einer
Verwertungskündigung ausschließt, wird der heutigen
Situation nicht mehr gerecht und sollte schnellstmöglich
verschwinden.
({0})
Bereits in den parlamentarischen Debatten zur
Mietrechtsreform 2001 haben wir darauf hingewiesen,
dass sich dieses Sonderrecht erledigt hat und es daher
schnell aus dem Gesetz herausgenommen werden sollte.
Auch zu diesem Zeitpunkt war das Wohnungsüberangebot im Osten Deutschlands schon bekannt und wussten
wir, dass es dort einen wachsenden Leerstand an Wohnungen geben würde. Inzwischen sind es 1,4 Millionen
leer stehende Wohnungen. Zum Glück hat sich die Einsicht in diese Richtung verändert. Ich finde es gut, dass
Sie mit uns darüber diskutieren wollen.
Aber die Leerstandsproblematik in den neuen Ländern hat sich weiter verschärft. Das muss man ganz deutlich sagen. Trotz des Programms Stadtumbau Ost, das
wir von seinem Grundanliegen her unterstützen, wächst
der Leerstand schneller, als Wohnungen im Osten
Deutschlands abgerissen werden. Das ist das Problem.
Heute geht es darum, den geplagten Wohnungsunternehmen aus einer groben Einengung ihres Verfügungsrechts herauszuhelfen. Die bekannten Fälle aus den
Amtsgerichten Halle und Jena haben bereits verdeutlicht, dass die rechtlichen Hemmnisse auf dieser Strecke
nach wie vor groß sind. Dazu gehört auch die hier in
Rede stehende Möglichkeit, Mietern zu kündigen, die
freiwillig nicht bereit sind, ihre Wohnung in einem zum
Abriss vorgesehenen Gebäude zu räumen.
Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein
elfgeschossiger Wohnblock in Erfurt mit 176 Wohneinheiten ist für den Abriss vorgesehen. Die meisten Mieter
waren bereit umzuziehen. Ein Mieter blieb wohnen. Nach
geltendem Recht musste das Wohnhaus weiter betriebswirtschaftlich erhalten werden, was die Gesellschaft jährlich 77 000 Euro kostete. Der eine Mieter von 176, der
noch dort gewohnt hat, hat eine Warmmiete von 310 Euro
im Monat gezahlt. Das kann sich kein Unternehmen mehr
leisten. Deshalb muss sich hier etwas ändern.
Dass sich die Wohnungsunternehmen hierbei um
soziale Abfederung bemühen, haben sie zur Genüge bewiesen. Diesem Mieter in Erfurt wurden eine vergleichbare Wohnung im Nachbarhaus, sogar ein Reihenhaus
plus 20 000 Euro Abstandszahlung angeboten. Ich finde
das ungerecht gegenüber den Mietern, die aufgrund der
Situation bereit waren auszuziehen. Dieser Ausnutzung
müssen wir einen Riegel vorschieben.
({1})
Das Gesetz schreibt die soziale Abfederung vor. Das
brauchen wir nicht weiter auszuführen. Im Übrigen ist
mir kein Wohnungsunternehmen bekannt, das bei solchen Umzügen bisher Druck auf die Mieter in der Form
ausgeübt hat, möglichst viele finanzielle Vorteile zu erreichen. Im Gegenteil. Sie haben mehr als den Umzug bezahlt und haben mit den Mietern ordentlich gesprochen.
Deshalb bin ich froh über den Entwurf des Bundesrates. Ich würde mich aber genauso freuen, Frau EichstädtBohlig, wenn wir nicht sehr lange über diesen Entwurf
diskutierten, sondern noch in diesem Jahr zu einem Ergebnis kämen.
({2})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich jetzt dem Kollegen Wolfgang Spanier von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich betrachte den Gesetzentwurf des Bundesrates aus dem
Blickwinkel eines Wohnungspolitikers. Es ist sicherlich
unsere gemeinsame Überzeugung, dass wir zwischen den
Rechten der Eigentümer und den Rechten der Mieter eine
Balance zu wahren haben. Deswegen war es richtig und
vernünftig, dieses Verbot einer Verwertungskündigung
in den Einigungsvertrag einzubauen. Schließlich war die
Situation damals eine völlig andere; vor allen Dingen
wollten wir Mieterinnen und Mieter nicht verunsichern
und verängstigen.
Problematisch finde ich es allerdings, Mieterschutzrechte mit der jeweiligen Situation am Wohnungsmarkt
in Zusammenhang bringen zu wollen. Ich finde, beides
müssen wir unabhängig voneinander betrachten. Deswegen ist für mich auch der Hinweis auf den wachsenden
Leerstand nicht das entscheidende Argument, um hier
über die Aufhebung des Verbots der Verwertungskündigung neu nachzudenken.
Vielmehr müssen wir die Eigentümerrechte unter dem
Aspekt des Stadtumbaus sehen. Das ist für mich entscheidend. Wir müssen nämlich nicht nur die finanziellen, sondern auch die rechtlichen Voraussetzungen dafür
schaffen, dass das Programm zum Stadtumbau Ost, das
so erfolgreich angelaufen ist, zum notwendigen Erfolg
führt. Zur Schaffung rechtlicher Voraussetzungen gehört
- Frau Eichstädt-Bohlig hat das bereits angesprochen -,
dass Änderungen im Baugesetzbuch vorgenommen und
Regelungen wie die, um die es heute geht, überprüft
werden.
Dass wir uns im Rahmen der Mietrechtsreform nicht
über eine Änderung verständigen konnten, lag schlicht
und einfach daran, dass sich in dieser Frage damals auch
die neuen Bundesländer uneins waren. Das hat die Regierung in ihrer Gegenäußerung noch einmal bekräftigt.
Heute ist die Situation anders, was wiederum eine ganz
andere Voraussetzung ist.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die
Rechtsprechung gezeigt hat, dass Abrisskündigungen
durchgesetzt werden können,
({0})
und dass der BGH möglicherweise im nächsten Jahr eine
Grundsatzentscheidung in dieser Frage treffen wird.
Dennoch stimmen wir mit den Rechtspolitikern in der
Koalition überein, dass wir, wie die Bundesregierung
schon angekündigt hat, die neuen Sachverhalte sorgfältig
prüfen müssen. Das ist kein fauler Kompromiss, sondern
ist angesichts der Güterabwägung das einzig Sinnvolle.
({1})
Für sehr problematisch halte ich alle Überlegungen zu
einem Sonderkündigungsrecht, auch wenn man es nur
für bestimmte Stadtquartiere aussprechen wollte. Ich
glaube, die Kernfrage, um die es in den nächsten Wochen geht, ist, ob wir das Verbot aufheben wollen oder
nicht.
Wichtig beim Stadtumbau ist, dass die Vermieter mit
dieser schwierigen Situation - es ist eine schwierige Situation, nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für
die Mieterinnen und Mieter - sorgsam umgehen; das hat
Frau Eichstädt-Bohlig bereits gesagt. In der Regel tun
die Unternehmen das auch, zum Beispiel durch das Angebot guter Ersatzwohnungen, durch Umzugshilfen etc.
Wir müssen aber auch erkennen - das ist vollkommen
richtig -, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass einzelne
Mieter die Möglichkeit zur Blockade erhalten. Die Extrembeispiele, die genannt worden sind, sind natürlich
mehr als ärgerlich. Aber in der Regel laufen solche Vorgänge einvernehmlich ab.
Wir haben zu prüfen, ob die guten Mieterschutzrechte, die wir glücklicherweise haben, auch in dieser
besonderen Situation des Stadtumbaus Ost ausreichen.
Das wird in den nächsten Wochen in den anstehenden
Sitzungen der Ausschüsse in Ruhe abzuwägen und zu
beraten sein. Ich denke, dass es am Ende eine Regelung
geben wird, die einen vernünftigen rechtlichen Rahmen
für den Stadtumbau im Osten und demnächst sicherlich
auch stärker im Westen unseres Landes bringen wird, die
aber auf der anderen Seite die gesicherten Mieterschutzrechte an keiner Stelle auch nur im geringsten in Frage
stellt.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1490 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dirk Niebel, Klaus
Haupt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes
- Drucksache 15/756 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({1})
- Drucksache 15/1593 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Thema, so scheint mir, ist unerschöpflich.
Gegen eine entsprechende Gesetzesänderung hat sich die
Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP sowie auf Schreiben der DEHOGA und
der NGG schon des Öfteren ausgesprochen. Zuletzt haben wir noch am 5. Juni dieses Jahres hier im Plenum
darüber diskutiert. Man könnte also meinen, das Thema
sei ausdiskutiert.
Ich sage gleich zu Beginn, dass wir diesen Antrag der
FDP ablehnen werden. Damit könnte die Diskussion für
uns beendet sein, weil wir uns schon beim letzten Mal zu
dieser Thematik ausgetauscht haben. Da ich aber davon
ausgehe, dass die FDP ihre Argumente noch einmal vortragen wird, will ich die Gelegenheit nutzen und dies für
die SPD auch tun.
Neue Erkenntnisse liegen aufgrund der Kürze der Zeit
natürlich nicht vor. Es stellt sich die Frage, was die FDP
mit ihrem Antrag will. Gemäß ihrem Gesetzentwurf
möchte die FDP-Fraktion den Beginn der Nachtruhe
für Jugendliche im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie im Schaustellergewerbe von bisher 22 Uhr auf
24 Uhr und an den Abenden vor Berufsschultagen von
bisher 20 Uhr auf 21 Uhr heraufsetzen. Mit den Änderungen - so die Argumentation - soll eine bessere Ausschöpfung des Ausbildungspotenzials in diesen Branchen ermöglicht und so der Jugendarbeitslosigkeit
entgegengewirkt werden. In dem Antrag heißt es weiter
weiter:
Zudem werden die Möglichkeiten von Haupt- und
Realschülern für eine Ausbildung … verbessert.
Die früheren Reifeprozesse und veränderten persönlichen Nachtruhezeiten der über 16-Jährigen
lassen diese punktuelle Lockerung der Vorschriften
zu, ohne dass der notwendige Schutz der arbeitenden Jugendlichen gefährdet würde.
Dies hört sich erst einmal gut an, vor allem dann, wenn
man bedenkt, dass es insbesondere um Ausbildungsplätze für junge Menschen geht.
Wenn man sich die uns vorliegenden Zahlen einmal im
Detail ansieht, dann erkennt man, dass sie jedoch eine ganz
andere Sprache sprechen. Mit den FDP-Maßnahmen wird
keine Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze erreicht
werden. Allerdings, so halten wir für uns fest, würden damit die Grundwerte des Jugendarbeitsschutzgesetzes
über Bord geworfen. Die FDP spricht von einer Lockerung, ich spreche von einer Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Die Gewährleistung einer ausreichenden Nachtruhe ist insbesondere für junge
Menschen, die in der Entwicklung stehen, wichtig. Im
Jugendarbeitsschutzgesetz wird den Besonderheiten im
Gaststätten- und Schaustellergewerbe durch Ausnahmeregelungen zur Nachtruhe schon jetzt Rechnung getragen. Die Nachtruhe vor Berufsschultagen soll sicherstellen, dass Jugendliche am Folgetag ausgeruht und
aufnahmefähig am Berufsschulunterricht teilnehmen
können.
Was sagen die Zahlen? Im Gegensatz zu anderen
Branchen, in denen durchgängig ein Rückgang an Ausbildungsplätzen feststellbar ist, konnte im Hotel- und
Gaststättengewerbe ein Plus von 0,3 Prozent neu abgeschlossener Ausbildungsverträge verzeichnet werden.
Bricht man diese Aussage konkret auf das Gaststättengewerbe herunter, dann erkennt man, dass es im Jahre 2002
- dies sind die letzten Zahlen, die mir vorliegen 91 900 Ausbildungsplätze gab. Dies bedeutet eine Steigerung von fast 50 Prozent in den vergangenen zehn
Jahren. Ich meine, man sollte dem Gewerbe einmal Dankeschön sagen, dass es sich für junge Menschen engagiert einsetzt.
({0})
- Herr Burgbacher, Sie sagen, dass da noch viel mehr getan werden kann. Auch wir sind dieser Auffassung. Es
bleibt dem Hotel- und Gaststättengewerbe selbst überlassen, hier noch mehr zu tun. Dies wird sich aber nicht
an einer oder zwei Stunden festmachen lassen. - Diese
hervorragende Ausbildungsleistung erfolgte trotz des
geltenden Jugendarbeitsschutzgesetzes. Negative Auswirkungen auf die Ausbildungsbereitschaft sind deshalb
nicht zu erkennen.
Die vorliegenden Daten belegen zudem, dass volljährige Auszubildende bei der Einstellung gegenüber
Haupt- und Realschülern nicht bevorzugt werden. Die
Branche bildet erheblich mehr Haupt- und Realschüler
als Abiturienten aus. Einige Beispiele: Bei den Restaurantfachleuten sind rund 78 Prozent Haupt- und Realschüler, bei den Fachkräften im Gaststättengewerbe sind
es rund 70 Prozent und bei den Hotelfachleuten sind es
64 Prozent usw. usf. Hier ist nicht die Differenz zu erkennen, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben.
Die geltenden Regelungen stellen somit kein Ausbildungshindernis dar. Es erscheint mir deshalb wichtig, an
dieser Stelle nochmals auf den besonderen Wert des Jugendarbeitsschutzgesetzes im Arbeitsrecht hinzuweisen.
Ein wie auch immer verändertes Ausgehverhalten als
Begründung für eine Gesetzesänderung heranzuziehen
ist nicht stichhaltig. Mögliche Freizeitaktivitäten beeinflussen weder die besondere Schutzbedürftigkeit Jugendlicher im Erwerbsleben noch den Schutzzweck des
Gesetzes. Zudem, so meine ich, besteht ein wesentlicher
Unterschied darin, dass die Jugendlichen die Dauer ihrer
Freizeitaktivitäten selbst bestimmen können, während
sie sich einer täglichen Arbeitszeit bis 24 Uhr nicht entziehen können.
Ich fasse zusammen: Die SPD-Fraktion wird den Antrag aus zwei Gründen ablehnen. Zum einen erreichen
wir mit den von der FDP vorgeschlagenen Maßnahmen
nicht das angestrebte Ziel. Die zugrunde gelegte BewerWolfgang Grotthaus
tung, das geltende Recht behindere die Schaffung von
Ausbildungsplätzen, habe ich anhand der dargestellten
Zahlen widerlegt. Zum anderen ist die Begründung, die
Jugendarbeitsschutzregelung aufgrund veränderten Freizeitverhaltens vernachlässigen zu dürfen, mehr als dürftig. Dies gilt für den gesamten Antrag der FDP: Er ist
mehr als dürftig. Deswegen lehnen wir ihn ab.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang
Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es geht bei dem Antrag nur vordergründig um
die Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Das eigentliche Anliegen des FDP-Antrages ist es, an einer
Stelle eine Korrektur vorzunehmen, durch die ein
Hemmnis abgebaut werden kann, um so die Schaffung
von mehr Ausbildungsplätzen zu ermöglichen.
Es ist nicht ganz stichhaltig, Herr Grotthaus, dass Sie
sagen, in diesem Bereich seien es plus 0,3 Prozent. Was
hindert uns daran, durch eine Regelung einen Beitrag
dazu zu leisten, dass in dem Bereich plus 0,5 oder plus
0,6 Prozent neue Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze entstehen?
({0})
Der Antrag geht in die richtige Richtung; denn er zielt
darauf ab, ein Stellschräubchen zu korrigieren, wodurch
ein Hemmnis, das im Gaststätten- und Hotelgewerbe gesehen wird, abgebaut werden kann.
Da ich eine relativ lange Redezeit habe, möchte ich
den Versuch unternehmen, in die Betrachtung die Situation einzubeziehen, in der wir uns momentan befinden.
Wir haben in dieser Woche das Herbstgutachten der
Wirtschaftsforschungsinstitute bekommen. Darin wird
festgestellt, dass die Zahl der Erwerbstätigen in diesem
Jahr alles in allem um rund 600 000 niedriger sein wird
als im Jahre 2002. Des Weiteren wird festgestellt, dass
wir in diesem Jahr im Schnitt 4,4 Millionen Arbeitslose
haben werden und dass diese Zahl um rund 330 000 über
der des letzten Jahres liegen wird.
Nun sagte die Bundesregierung, vertreten durch Minister Clement, gestern in der Ausschusssitzung und
auch hier im Plenum, dass wir in diesem Jahr im Schnitt
4,39 Millionen Arbeitslose haben werden. Laut Herbstgutachten werden wir im nächsten Jahr 4,45 Millionen
Arbeitslose haben, während die Bundesregierung die
Zahl von 4,36 Millionen nennt. Auf den Streit, ob es um
60 000 nach oben oder um 30 000 nach unten geht, will
ich mich gar nicht einlassen. Aber die Frage, ob es im
nächsten Jahr 30 000 Arbeitslose weniger sein werden,
wie es die Auffassung der Bundesregierung ist, oder ob
es 50 000 mehr sein werden, wie es die Verfasser des
Herbstgutachtens sagen, zeigt, über welche Größenordnung wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit reden. Das ist eine Marge, bei der es sich wirklich lohnt,
an jeder Stelle zu schauen, ob wir nicht noch ein paar
Stellschräubchen haben, durch die wir Hilfestellung leisten können.
Wenn Sie die Situation am Ausbildungsmarkt verfolgt haben, dann wissen Sie, dass diese in diesem Jahr
besonders schwierig war. Ende September waren - das
sind die Eckdaten, die immer Ende September kommen 14 800 Ausbildungsstellen noch unbesetzt. Es gibt aber
noch 35 000 Bewerber, die als nicht vermittelt gelten.
Auch diese Zahlen zeigen, dass es uns wirklich jeden
Schmalz Wert sein muss, ein bisschen darüber nachzudenken, ob wir nicht an kleinsten Stellen, sozusagen als
Testfall für die Flexibilität der Fraktionen Rot-Grün,
Stellschräubchen ändern können.
({1})
Ich glaube, der Antrag geht in die richtige Richtung.
Es geht nämlich nicht darum, Herr Grotthaus, wie Sie
gesagt haben, den Jugendarbeitsschutz auszuhöhlen oder
den Gesundheitsschutz auszusetzen. Es geht auch nicht,
wie das in der ersten Lesung von einem Vertreter der
Grünen gesagt worden ist, um Ausbeutung oder Frühkapitalismus. Ich finde, wir sollten uns solche Vokabeln
nicht an den Kopf werfen.
({2})
Es geht allein um die Frage, ob in bestimmten Fällen
Veränderungen möglich sind. Ich will an einem konkreten Beispiel verdeutlichen, worum es geht. Die Frage ist,
ob ein 17-jähriger Kochlehrling im Hotel- und Gaststättengewerbe um 22 Uhr den Löffel fallen lassen, durch
den Hinterausgang seinen Arbeitsplatz verlassen und
durch den Vordereingang wieder hineinkommen kann,
um dort zu essen und ein Bier zu trinken, weil er bis
24 Uhr ausgehen darf. Dieser Fall ist möglich.
({3})
Ich will das Freizeitverhalten der jungen Leute nicht als
Begründung heranziehen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir offensichtlich beim Jugendarbeitsschutz
und beim Jugendschutz mit zweierlei Maß messen. In
beiden Gesetzen sind Schutzgrenzen verankert.
Es stellt sich die Frage, ob dieser 17-Jährige im Hotelund Gaststättengewerbe einen Ausbildungsplatz bekommt, weil dort bis 23 Uhr gearbeitet wird. Betriebe
des Hotel- und Gaststättengewerbes klagen zunehmend
darüber, dass dies ein Ausbildungshemmnis für Hauptund Realschüler darstellt. Schauen wir uns einmal das
Ausbildungseintrittsalter im Hotel- und Gaststättengewerbe an! Ich nenne Ihnen die Zahlen. Im Bereich der
Fachleute für Systemgastronomie sind 85 Prozent
18 Jahre oder älter. Bei Hotelkaufleuten sind fast 90 Prozent 18 Jahre oder älter. Selbst bei den Hotelfachleuten
sind 63 Prozent über der Grenze von 18 Jahren. So
könnte man alle Berufsgruppen durchgehen. Das heißt,
die Auszubildenden sind überwiegend 18 Jahre alt.
Diese Regelung ist eine Bremse für Haupt- und Realschüler.
({4})
Sie sind nämlich wesentlich jünger. Dadurch entsteht
eine Hürde bei der Einstellung. Es geht also darum, diese
Hürde abzubauen, nicht darum den Jugendschutz auszuhöhlen. Diese Zahlen haben wir übrigens nicht erfunden,
sondern sie stammen vom Bundesinstitut für Berufsbildung.
Es geht einfach um die Frage, ob wir nicht auch denjenigen eine Chance geben wollen, die mit 16 oder
17 Jahren ihren Haupt- oder Realschulabschluss gemacht haben und nun eine Ausbildung beginnen wollen.
Die FDP stellt einen Antrag, Jugendliche bis 24 Uhr arbeiten zu lassen. Wir als CDU/CSU haben schon in der
ersten Lesung einen Vermittlungsvorschlag gemacht
und vorgeschlagen, die Grenze bei 23 Uhr festzulegen.
Wir wollen nicht um Stunden feilschen, sondern diese
Grenze bei 23 Uhr gibt es schon. Sie wissen, dass in
mehrschichtigen Betrieben auch 17-jährige Auszubildende bis 23 Uhr arbeiten müssen.
Nun frage ich mich ernsthaft, wie Sie das mit dem
Gesundheitsschutz und dem Jugendarbeitsschutz in
Übereinstimmung bringen wollen. Ich möchte Ihnen ein
Beispiel nennen, um zu zeigen, dass diese Regelungen
unlogisch sein können: Es ist erlaubt, dass bei
McDonald’s die Ausbildung bis 23 Uhr dauert. In dem
kleinen Restaurant nebenan aber ist dies nicht möglich.
Mit Gesundheits- und Jugendarbeitsschutz hat diese Regelung nichts zu tun; denn in dem kleinen Restaurant ist
ein Auszubildender nicht schützenswerter oder weniger
gesund als bei McDonald’s.
({5})
- Nein, das ist kein Grund, das abzuschaffen, aber ernsthaft darüber nachzudenken. Warum ist die Arbeit bis
23 Uhr in dem einen Bereich erlaubt und in dem anderen
nicht? Warum ermöglichen wir nicht auch den kleinen
und mittelständischen Betrieben, in denen nicht mehrschichtig gearbeitet wird, Ausbildungsplätze dadurch
bereitzustellen, dass Jugendliche länger arbeiten dürfen?
An dieser Stelle lohnt sich die Überlegung.
Für mich ist das der Testfall, ob Sie sich an dieser
wirklich kleinen Stelle, die von der Logik des Jugendarbeitsschutzes vorgegeben ist - dort ist die Uhrzeit von
23 Uhr festgeschrieben -, bewegen. Das zeigt, wie reformfähig wir in Deutschland sind, wenn Rot-Grün an
der Regierung ist.
Ich fasse zusammen: In dem einen von Ihnen geschützten Bereich in Betrieben, in denen mehrschichtig
gearbeitet wird, können Jugendliche im Alter von
17 Jahren bis 23 Uhr arbeiten, dort gilt der Jugendarbeitsschutz und der Gesundheitsschutz für Jugendliche.
In dem anderen Bereich liegt diese Grenze bei 22 Uhr.
Logisch begründen können Sie das nicht mehr.
({6})
Das ist dasselbe Alter und das ist dieselbe Gruppe. Es
handelt sich einfach nur um einen anderen Betrieb.
({7})
Den Testfall haben wir leider in der zweiten und dritten
Lesung nicht hinbekommen können, in der Ausschussberatung auch nicht. Deswegen ist das ein Bereich, in
dem wir auch mit kleinen Kompromissen nicht weiterkommen. Wir reden nicht über die großen Reformen der
Agenda 2010, nicht über Hartz III und Hartz IV. Das
sind große Gesetze. Da kann man sich an vielen Stellen
schwer tun. Wir reden über ein kleines Stellschräubchen,
über eine Bestimmung, mit der wir einen Beitrag leisten
könnten, in diesen kleinen Gastronomiebereichen 300,
400 oder 500 Ausbildungsplätze mehr zu schaffen. Das
wird nicht gelingen, weil Sie Gesundheits- und Jugendarbeitsschutz auf zweierlei Art und Weise interpretieren.
In dem einen Bereich darf man bis 23 Uhr arbeiten, im
anderen nicht.
({8})
Logisch ist das jedenfalls nicht mehr zu begründen.
Wir haben uns im Ausschuss für die 23-Uhr-Grenze
statt der von der FDP vorgeschlagenen 24-Uhr-Grenze
ausgesprochen, um Ihnen eine Brücke zu bauen. Aber
selbst dazu waren Sie nicht bereit. Ich kann das jedenfalls keinem Vertreter des Hotel- und Gaststättengewerbes erklären
({9})
und auch keinem 16- oder 17-Jährigen, der mit einem
normalen Hauptschul- oder Realschulabschluss dort eine
Ausbildungsstelle haben möchte, sie aber nicht bekommt, weil das als Ausbildungshemmnis angesehen
wird. Wenn Sie das versuchen, wird Ihre Logik durcheinander geraten.
({10})
Ich will das jetzt nicht weiter ausführen. Ich wollte an
diesem einfachen Beispiel nur zeigen, wo wir die Möglichkeit hätten, etwas zu ändern. Selbst bei solch kleinen
Stellen gibt es starre Fronten, keine wirkliche Beratung
im Ausschuss, kein Aufeinander-Zugehen. Wir werden
uns heute der Stimme enthalten,
({11})
weil wir die 24-Uhr-Grenze nicht wollen. Wir sehen das
Problem auch. Ich war in der vorletzten Periode Berichterstatter für Jugendarbeitsschutz und weiß, worüber ich
rede. Ich lasse mir von Ihnen nicht vorwerfen, dass wir
den Jugendarbeitsschutz aushöhlen, ganz bestimmt
nicht. Wir haben deswegen als Vermittlungsvorschlag
die 23-Uhr-Grenze angeboten. Die ist im Gesetz schon
vorgesehen. Sie hätten leicht mitmachen können. Aber
offensichtlich ist die Zusammenarbeit auch an kleinen
Stellen nicht gewollt.
Wir haben noch die Möglichkeit, das über den Vermittlungsausschuss zu korrigieren. Ich vermute aber, dass
wir das da auch nicht hinbekommen werden, weil dann
andere Größenordnungen eine Rolle spielen. Ich bedauere, dass selbst solch kleine Schritte nicht möglich sind,
weil Sie nicht mit uns den Versuch gemacht haben, diese
Logik ins Gesetz zu bringen.
({12})
Der nächste Redner ist der Kollege Josef Winkler,
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Zunächst ein Wort an den Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion. Wenn Sie Ihre Reformfähigkeit dadurch beweisen, dass Sie sich, wenn zwei Vorschläge auf dem Tisch liegen, enthalten, dann gute
Nacht, Deutschland.
({0})
Jetzt zur FDP. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
wollen Sie, meine Damen und Herren von der FDP, den
Beweis antreten, das unser jetziges Jugendarbeitsschutzgesetz geändert werden muss, weil es zu starr sei, nicht
mehr gut genug sei und sich zulasten der jungen Menschen auswirke. Die Änderungen, die Sie vorschlagen,
wurden jetzt schon mehrfach vorgetragen. Damit wollen
Sie erreichen, dass die Ausbildungsmöglichkeiten für
Haupt- und Realschüler verbessert werden. Der Jugendarbeitsschutz soll aufgeweicht werden, weil der aus
Ihrer Sicht frühere Reifeprozess von Jugendlichen eine
Lockerung angeblich zulässt.
Ich sage Ihnen klipp und klar: Es stimmt laut Statistik
überhaupt nicht, dass Haupt- und Realschüler benachteiligt sind, weil Unternehmer angeblich volljährige Auszubildende bevorzugen, die in der besonders arbeitsintensiven Phase zwischen 23 und 24 Uhr eingesetzt
werden könnten. Alle vorliegenden Daten belegen, dass
Abiturientinnen und Abiturienten bei der Einstellung im
Hotel- und Gaststättengewerbe eben nicht bevorzugt
werden.
({1})
Fast drei Viertel aller Auszubildenden sind Haupt- und
Realschüler. Ich kann Ihnen das noch einmal aufschlüsseln. Es geht nicht nur um das Alter, sondern auch darum, welcher Ausbildungsgang besucht wurde. 78 Prozent der Auszubildenden im Bereich der
Restaurantfachleute sind Haupt- und Realschüler. Im
Gastgewerbe sind es immer noch 70 Prozent.
Unter den Hotelfachleuten sind es 64 Prozent, unter den
Fachleuten für Systemgastronomie 57 Prozent und selbst
bei den Hotelkaufleuten ist es noch ein gutes Drittel.
Was die FDP bewogen hat, in ihren Antrag auch noch
das Schaustellergewerbe mit aufzunehmen, bleibt ihr
Geheimnis.
({2})
Unseres Wissens hat sich kein einziger Schausteller gegenüber der Bundesregierung für eine Verkürzung der
Nachtruhe ausgesprochen. Insofern ist der angebliche
Bedarf völlig aus der Luft gegriffen. Weil beide Gewerbe in § 14 des Gesetzes geregelt sind, haben Sie sich
wahrscheinlich gedacht - so erkläre ich mir das -, man
könne das in einem Abwasch regeln. Ich meine, das war
schludrig gearbeitet, meine sehr verehrten Damen und
Herren von der FDP.
({3})
Es ist schon mehr als abenteuerlich, dass das veränderte Ausgehverhalten von Jugendlichen dafür herhalten soll, sinnvolle Regelungen zum Schutz der arbeitenden Jugend abzuschaffen. Es liegt in der Natur der
Sache, dass sich das Ausgehverhalten in den letzten
Jahrzehnten verändert hat. Dass meine Großeltern ein
anderes Unterhaltungsprogramm haben als ich oder als
es meine Kindern haben werden, verstehen wir sicherlich alle.
Dadurch wird aber kein Sinnzusammenhang nach
dem Motto „Wer mit 16 Jahren in die Disko gehen kann,
der kann auch bis 24 Uhr kellnern“ erkennbar. Es ist ein
völlig neuer Aspekt, wenn Sie Arbeit und Freizeitverhalten in einen Sinnzusammenhang bringen.
({4})
Ich habe das bisher immer so verstanden, dass das
eine Entspannung und Vergnügen und das andere Konzentration und harte Arbeit bedeutet.
({5})
Ihre Aussage, wenn das eine möglich sei, dann müsse
auch das andere erlaubt sein, tragen wir nicht mit. Denn
in der persönlichen Freizeitgestaltung kann sich jeder
selbst entscheiden und gehen, wann er will. Aber hinsichtlich der täglichen Arbeitszeit ist das doch wohl in
den seltensten Fällen möglich.
({6})
Wenn man dann noch berücksichtigt - das wurde bereits erwähnt -, dass eine Steigerung um fast 50 Prozent
auf über 90 000 Ausbildungsverhältnisse stattgefunden
hat, ohne dass das Gesetz geändert wurde, dann wird Ihr
Gesetzentwurf endgültig zur Lachnummer.
Die CDU/CSU hat in der ersten Beratung im Juni
festgestellt: Wir müssen die Jugend vor diesem Gesetz
schützen. Richtig ist hingegen, dass wir die Jugendlichen
mit diesem Gesetz schützen müssen,
({7})
und zwar zum einen, damit die Ausbildungsqualität erhalten bleibt, und zum anderen, weil junge Menschen
besonders geschützt werden müssen, damit ihre Entwicklung ungestört verläuft und ihre Gesundheit nicht
gefährdet wird.
Meine Damen und Herren, hier soll ein Gesetz geändert werden, das sich in der Praxis bewährt hat. In Wirklichkeit geht es der Opposition nicht um den Abbau von
Jugendarbeitslosigkeit, sondern um den Abbau von Ihnen lästigen Schutzrechten für junge Menschen und damit auch von Arbeitnehmerrechten.
({8})
Gerade weil junge Menschen in der Regel das
schwächste Glied einer Kette sind, werden wir das nicht
zulassen. Insofern lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Winkler, Sie hätten die Werturteile, die Sie
gebracht haben, besser weglassen und sich stärker auf
Ihre eigenen Argumente konzentrieren sollen.
({0})
Ich habe heute Morgen in der Tourismusdebatte festgestellt, dass ein Problem von Rot-Grün darin besteht
- das ist manchmal unerträglich -, dass Sie manchmal
eine ideologisch verbrämte Politik betreiben. Sie haben
gerade den Beweis dafür angetreten.
({1})
Es geht doch nicht um die Ausweitung von Arbeitszeiten und um den Abbau von Jugendschutzrechten. Sie
haben vorhin ausgeführt, Herr Grotthaus, Grundwerte
des Jugendarbeitsschutzgesetzes würden über Bord geworfen. Was soll dieser Unsinn? Es geht doch um etwas
ganz anderes. Es gibt Schutzvorschriften und selbstverständlich bekennen wir uns alle zum Jugendschutz wie
zum Jugendarbeitsschutz. Wenn sich solche Schutzrechte aber darin auswirken, dass Jugendlichen Chancen
genommen werden, dann müssen sie infrage gestellt
werden. Das tun wir auch, und zwar in sehr verantwortungsvoller Weise.
Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Zunächst zu den
Zahlen, die Sie beide genannt haben: Die Prozentzahlen
sind völlig unsinnig; denn die Praxis sieht anders aus. In
der Praxis wird ein Haupt- oder Realschüler nicht nur
abgelehnt, vielmehr wird ihm geraten, ein oder zwei
Jahre zu überbrücken und es erneut zu versuchen, wenn
er 18 Jahre geworden ist. In der Zwischenzeit besucht er
dann eine Schule, wie Sie das übrigens zum System machen.
({2})
Das ist die Praxis, die auch Sie einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Mir wird niemand den Sinn einer Regelung
erklären können, wonach ein Jugendlicher, der einen
Ausbildungsplatz will, noch ein, zwei Jahre etwas anderes machen muss, nur weil er angeblich noch nicht alt
genug für eine Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe ist.
Ich möchte auf zwei konkrete Beispiele eingehen.
Erstens. Viele Hotels, vor allem die Spitzenhotels,
nehmen praktisch nur noch Abiturienten, und zwar nicht
weil sie Abiturienten generell bevorzugen, sondern weil
sie, wenn sie jüngere Schulabgänger nehmen, Probleme
mit dem Alter der jugendlichen Auszubildenden bekommen. - Sie sollten nicht den Kopf schütteln. Sie sollten
sich lieber die Praxis einmal anschauen.
Zweitens. Als ich in bestimmten Betrieben - ich kann
Ihnen gerne die Namen der betreffenden Betriebe nennen, aber nicht jetzt - darauf hingewiesen habe, dass ein
Teil der Belegschaft, der noch nach 23 Uhr arbeitet,
keine 18 sei, wurde mir gesagt, dass die Betreffenden
nur eingestellt worden seien, weil die Eltern versprochen
hätten, nichts dagegen zu unternehmen. Auch das ist
Praxis. Ich meine, dass man aus einer sich verändernden
Situation Konsequenzen ziehen muss.
({3})
Verändertes Ausgehverhalten bedeutet nicht nur,
dass Jugendliche durchschnittlich länger aufbleiben. Ich
möchte natürlich keinen direkten Zusammenhang zwischen Freizeit und Arbeitszeit herstellen. Aber dass es
auch hier wesentliche Verschiebungen gibt, sollte man
schon zur Kenntnis nehmen. Übrigens hat die Kollegin
Homburger völlig Recht, wenn sie Sie auffordert, sich
lieber um die Einhaltung von Lärmschutzvorschriften in
den Diskos zu kümmern. Aber hieran wagen Sie sich
nicht.
Auch in der Gastronomie hat sich vieles verändert,
weil sich die Zeiten, zu denen man essen geht, nach hinten verschoben haben. Es war früher bei uns nicht übErnst Burgbacher
lich, spät zu essen. Das bürgert sich aber immer mehr
ein. Die Hauptarbeitszeiten der Restaurants sind also
später.
({4})
Zeigen Sie mir bitte die jungen Menschen, die im Hotelund Gaststättengewerbe lernen und die um 22 Uhr, wenn
der Betrieb brummt, sagen: Tschüs, ich muss jetzt gehen. - Die meisten jungen Menschen bleiben natürlich.
Das wollen sie auch selber; denn zum Glück gibt es
nicht nur ideologisch verbildete Jugendliche, die das Gesetz unter dem Arm tragen, sondern auch Jugendliche,
die in den Betrieben vernünftig mitarbeiten wollen.
({5})
Ich weiß, dass das nicht in Ihr Weltbild passt. Deshalb
machen Sie auch nichts.
({6})
Wo wir nur können, drehen wir im Augenblick an den
Stellschrauben, um Jugendlichen mehr Chancen zu geben. Hier könnte man eine Veränderung vornehmen, die
niemandem schaden und nichts kosten würde. Trotzdem
macht man nichts. Man belastet die Menschen, wie man
will. Aber hier, wo man etwas machen könnte, tut man
nichts, weil es nicht ins Weltbild passt.
Lassen Sie mich noch ein paar Takte zur CDU/CSU
sagen. Ganz ehrlich, ich verstehe Ihr Verhalten nicht
ganz. Herr Dr. Göhner hat während der ersten Lesung
eine flammende Rede zugunsten unseres Vorschlags gehalten. Er wollte sogar noch über ihn hinausgehen. Sie
haben das im Prinzip auch heute wieder getan. Daher
verstehe ich nicht ganz, warum Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen. Natürlich können wir über
den Kompromissvorschlag reden, den Beginn der Nachtruhe für Jugendliche im Hotel- und Gaststättengewerbe
und im Schaustellergewerbe auf 23 Uhr festzulegen.
Aber nach allem, was Sie gesagt haben, müssten sie unserem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen.
Ich halte es für bedenklich, mit welcher Nonchalance
über einen Vorschlag hinweggegangen wird - er wird
sogar lächerlich gemacht -, der Jugendlichen zusätzliche
echte Ausbildungschancen bieten könnte, wenn er umgesetzt würde. Ich stelle wieder einmal fest: Die FDP ist
die einzige Partei mit einem klaren Kurs. Ich bin ganz sicher, dass wir in dieser Legislaturperiode noch einmal
darüber diskutieren werden. Wie in so vielen anderen
Fällen werden Sie uns auch hier wieder folgen und das,
was wir vorgeschlagen haben, mit zeitlichem Verzug
umsetzen. Wir werden Sie dabei unterstützen. Dann können Sie wieder sagen, dass Sie es gewesen seien. Das
wird uns aber völlig egal sein, wenn nur unser Vorschlag
im Interesse der jungen Menschen umgesetzt wird, die
einen Ausbildungsplatz suchen.
Vielen Dank.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute werden
wir in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf der
FDP zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes ablehnen. Dafür gibt es gute Gründe. Ich meine, dass wir
einen anderen Blickwinkel haben. Er ist stärker werteorientiert.
({0})
Herr Burgbacher, Sie von der FDP haben die Forderung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes
eins zu eins übernommen,
({1})
und zwar völlig unreflektiert. Sie beklagen, dass durch
das starre Arbeitsrecht das Ausbildungspotenzial im
Gaststätten- und Schaustellergewerbe nicht ausgeschöpft
werden kann. Nach der bestehenden Ausnahmeregelung
- das haben wir heute schon oft gehört - dürfen Jugendliche ab 16 Jahren bereits jetzt bis 22 Uhr und im Schichtbetrieb bis 23 Uhr arbeiten. Sie fordern, darüber hinaus
die Beschäftigung bis 24 Uhr zu ermöglichen. Dass ein
Bedarf für eine solche Gesetzesänderung besteht, ist völlig aus der Luft gegriffen. Ich rate Ihnen, mehr mit den
Jugendlichen und Auszubildenden zu sprechen
({2})
und nicht immer nur die Sicht der Arbeitergeber und der
Arbeitgeberinnen darzustellen.
({3})
Als Jugend- und Tourismuspolitikerin freut es mich,
dass die Ausbildungsquote gerade im Gastgewerbe mit
12 Prozent deutlich über dem Durchschnitt der Wirtschaft liegt.
({4})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meckelburg?
Nein. Was er sagen will, habe ich vorher schon gehört.
Im Jahr 2002 gab es im Hotel- und Gaststättengewerbe 91 968 Ausbildungsverhältnisse.
({0})
- Ja.
({1})
Während die Zahl der Beschäftigten in der Branche
deutlich zurückgegangen ist, wurde die Zahl der Ausbildungsplätze in den vergangenen zehn Jahren um fast
50 Prozent gesteigert. Drei Viertel aller Auszubildenden - ich führe das noch einmal an; Herr Winkler hat es
schon vorhin im Einzelnen deutlich gemacht - sind
Haupt- und Realschülerinnen und -schüler.
({2})
Diese Daten belegen, dass volljährige Auszubildende,
also Abiturientinnen und Abiturienten, im Hotel- und
Gastgewerbe nicht bevorzugt werden.
Seit circa acht Jahren - das wissen auch Sie - werden
verstärkt Abiturientinnen und Abiturienten für Ausbildungsberufe mit neuen Zusatzqualifikationen, die
speziell auf Abiturientinnen und Abiturienten zugeschnitten sind, geworben.
({3})
Ich nenne die Hotelfachfrau oder den Hotelfachmann
mit Euroqualifikation, das heißt mit Kenntnissen in
drei Fremdsprachen und im Hotelmanagement. Damit
soll - das haben Sie vorhin auch kurz erwähnt - die
Qualität unseres Tourismusstandorts gesteigert werden.
Mit großer Sorge erfüllt mich, dass 60 Prozent nach
der Ausbildung die Branche wechseln. Beunruhigend ist
auch die hohe Zahl derer, die - das gehört, finde ich,
ebenfalls in diesen Zusammenhang - ihre Ausbildung
abbrechen. Die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverhältnisse im Verhältnis zu den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen insgesamt lag in BadenWürttemberg im Jahr 2001 bei 22 Prozent. Die Quote im
Hotel- und Gaststättenbereich ist mehr als doppelt so
hoch. Sie liegt bei 46,4 Prozent. Das muss man sich einmal vorstellen!
({4})
Als Gründe nennen die Jugendlichen insbesondere - ich beziehe mich auf die Antwort der Landesregierung von Baden-Württemberg auf eine Große Anfrage
der SPD aus dem Jahr 2002 -: Es gibt Schwierigkeiten
mit den Vorgesetzten, mit den Ausbildern. Die Ausbildung entspricht nicht ihren Vorstellungen. Dabei wird
explizit erwähnt: unattraktive Arbeitszeiten, keine Wochenarbeitszeitpläne.
({5})
- Sie müssen sich einmal überlegen, wie das alles so zusammenkommt. - Darüber hinaus werden finanzielle
Gründe angeführt. Das hat etwas damit zu tun, dass die
Bezahlung geringer ist als beispielsweise in der Industrie. Es geht also darum, wie attraktiv wir diese Berufe
gestalten. Ich bin der Meinung, dass Sie da ein Stück
rückwärts gehen.
Auffällig ist, dass es eklatante Verstöße gegen das bestehende Jugendarbeitsschutzgesetz gibt. Das ist innerhalb und außerhalb der Branche bekannt. Sie haben hier
Beispiele dafür genannt, auf welche Ideen Arbeitgeber
kommen. Darüber hinaus kritisiert der Bericht der Bundesregierung über Kinderarbeit in Deutschland insbesondere die Ausbeutung von Kindern im Gaststättenbereich.
({6})
- Aber da gibt es doch eine Tendenz!
({7})
- Ich habe da wohl einen wunden Punkt getroffen.
Herr Burgbacher, Sie führen an - Sie haben es heute
wieder getan -, dass sich das Freizeitverhalten der Jugendlichen verändert hat. Das Argument, das da immer
wieder kommt, lautet: Wer nachts in die Disko gehen
kann, kann in dieser Zeit auch arbeiten. - In meiner Freizeit entscheide ich, wie lange ich ausgehe oder wie lange
ich aufbleibe. Wenn die Arbeitszeit bis 24 Uhr geht,
kann ich mich dem nicht entziehen.
Wir haben der Branche geholfen, indem wir die
Trinkgeldbesteuerung abgeschafft und Minijobs ermöglicht haben. Übrigens, späte Arbeitszeiten sind natürlich
auch mit Minijobs sehr gut auszufüllen. Anstatt dem Fetisch der Flexibilisierung beim Jugendarbeitsschutzgesetz anzuhängen, könnte ich mir vorstellen, dass man die
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit, deren Umfang gerade im Hotel- und Gaststättengewerbe beschämend groß ist, fördert.
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit überschritten.
Die bundesweite Schwerpunktaktion von Zoll und Bundesanstalt für Arbeit Ende August 2003 hat ergeben,
dass bei jeder vierten beschäftigten Person Anhaltspunkte für das Vorhandensein von Unregelmäßigkeiten
bestehen. Sie hätten einmal mithelfen sollen, dagegen
vorzugehen.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der
Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, Drucksache 15/756. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
empfiehlt auf Drucksache 15/1593, den Gesetzentwurf
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der CDU/CSU und gegen die
Stimmen der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas
Strobl ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen
- Drucksache 15/1328 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Günter Baumann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union
zehn neue Mitglieder aufnehmen. Deutschland wird damit ins geographische Zentrum des vereinten Europas
rücken.
Dieser Prozess erfüllt uns angesichts der Vergangenheit Europas, von Kriegszeiten und von Vertreibungen
gekennzeichnet, mit großer Freude und natürlich auch
mit Hoffnungen. Das vereinte Europa bietet für alle beteiligten Länder, auch für die gegenwärtig wirtschaftlich
recht schwachen Regionen Ostdeutschlands, große
Chancen.
Es birgt aber auch Risiken. Diesen Risiken können
und müssen wir durch gezielte Maßnahmen frühzeitig
begegnen, zum Beispiel durch eine Verbesserung der Arbeit des Bundesgrenzschutzes. Das ist der Kerngedanke
des Antrages „Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung tauglich machen“, den die CDU/CSU-Fraktion
dem Deutschen Bundestag heute vorlegt.
Die Grenzsicherheit ist - ich denke, da stimmen wir
überein - ein unverzichtbarer Faktor der inneren Sicherheit. Das haben die Fahndungsergebnisse des BGS gerade in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen;
aber der Grenzschutz steht heute angesichts der EU-Erweiterung vor neuen großen Herausforderungen, auf die
er aus unserer Sicht noch nicht ausreichend vorbereitet
ist. Ich erinnere an die gegenwärtigen Probleme der organisierten internationalen Kriminalität: Schleusungen,
Menschenhandel und Schmuggel gefährlicher Güter. Die
entsprechenden Zahlen brauche ich nicht zu wiederholen, da wir sie hier bereits letzte Woche diskutiert haben.
Da die Beitrittsstaaten den Schengenstandard noch
nicht sofort umsetzen können, darf es in den kommenden Jahren beim Bundesgrenzschutz keinen Abbau geben; vielmehr müssen wir ihn technisch wie personell
auf das notwendige Niveau bringen.
({0})
Dabei sind wir - das möchte ich eindeutig feststellen - in den vergangenen Jahren ein großes Stück vorangekommen. An dieser Stelle möchte ich den Chef der Gewerkschaft der Polizei des Bundes, Knut Paul, zitieren:
Der BGS ist eine spezialisierte Fahndungspolizei
geworden mit Erfahrungen bei der Identitätsfeststellung, der Bekämpfung illegaler Einwanderung
und bei Abschiebemaßnahmen. Diese Fähigkeiten
wollen wir ausbauen.
Die Erfolge des BGS bei der verdachtsunabhängigen
Personenkontrolle haben wir hier bereits letzte Woche
diskutiert und, wie ich finde, auch parteiübergreifend gewürdigt. Wer noch einmal das Plenarprotokoll vom vergangenen Donnerstag zur Hand nimmt, der kann erkennen, dass es eine breite parlamentarische Mehrheit für
die Erweiterung dieser Befugnisse gab.
Das Protokoll dokumentiert aber auch die sicherheitspolitische Selbstblockade innerhalb der Regierung. Der
Bundesinnenminister sprach sich nämlich ausdrücklich
dafür aus - Zitat -, „dass wir das Gesetz unbefristet gelten lassen sollten“.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine
Befristung von dreieinhalb Jahren vorgesehen. Wir von
der CDU/CSU fordern fünf Jahre.
({1})
Diese Diskrepanz zwischen Rot-Grün bzw. der Regierung und uns sollte geklärt werden. Ich denke, wir sollten uns hier auf eine Frist einigen.
({2})
Wenn der Bundesinnenminister eine sicherheitspolitische Koalition der Vernunft in einzelnen Punkten wirklich will - ich denke, Herr Staatssekretär Körper, da sind
wir uns einig -, steht die CDU/CSU mit ihrem sachlich
fundierten Antrag für eine solche Übereinkunft zur Verfügung.
({3})
Unser Antrag geht auch auf die Notwendigkeit ein,
die Bekämpfung der organisierten Kriminalität besser zu
vernetzen. Eine technische Voraussetzung dafür ist und
bleibt der Digitalfunk. Ich möchte, Herr Staatssekretär,
den Disput der vergangenen Woche nicht fortsetzen,
aber es ist absolut erfreulich - das haben wir diese
Woche im Innenausschuss diskutiert -, dass das Bundesinnenministerium 2004 mit der Ausschreibung beginnen will und dafür 5 Millionen Euro einstellt. Dies entspricht der Aufgabe des Bundesinnenministers: Er muss
unserer Meinung nach bei der Verbesserung der sicherheitspolitischen Infrastruktur das Tempo vorgeben. Gewiss haben dann auch die Länder hierbei einen wichtigen Teil der Verantwortung mitzutragen. Herr
Staatssekretär, Sie können aus dieser Debatte mitnehmen, dass wir mit den von uns regierten Ländern sprechen werden, um dieses Vorhaben anzuschieben.
Deutschland muss in diesen zentralen Bereichen der
modernen Sicherheitstechnik endlich vorwärts kommen. Der viele Hickhack der letzten Jahre hat uns überhaupt nichts gebracht.
({4})
Es wäre auch ein wichtiges Signal für die noch im Aufbau befindliche EU-Grenzschutzagentur, wenn man solche Voraussetzungen schaffte. Es muss jetzt darum
gehen, durch gezielte Investitionen in unsere Bundespolizei BGS Maßstäbe für einen europäischen Grenzschutz zu setzen, der den Gefahren von Morgen effektiv
begegnen kann. Bitte stimmen Sie unserem Antrag zu.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Einführung von lagebildorientierten Kontrollen des Bundesgrenzschutzes liegen in der Tat zwei Gesetzentwürfe vor,
die jeweils eine Befristung vorsehen: der Koalitionsantrag dreieinhalb Jahre mit einer entsprechenden Evaluierungsmöglichkeit und der Antrag der CDU/CSU fünf
Jahre. Ich bin der Meinung, dass diese Differenz von anderthalb Jahren hinsichtlich der Befristung sich nicht
dazu eignet, zu streiten.
({0})
Bevor man auf die Frage der Einstellung und sachlichen Orientierung des Bundesgrenzschutzes auf die Erweiterung der EU eingeht, sollte man - das ist ganz
wichtig - das Verfahren kennen. Eine Mitgliedschaft in
der EU bedeutet noch lange nicht, dass man auch Mitglied des Schengenverbundes ist. Hier ist für die neuen
EU-Mitgliedstaaten ein von der Ratsgruppe entwickeltes
Prüfungsverfahren vorgesehen. Dies dient insbesondere
der Sicherheit in Europa. Von daher ist es gut, dass es
dieses Verfahren gibt.
({1})
Es geht bei dem Verfahren darum, festzustellen, ob
das Schengenniveau erreicht ist und ob ein ordnungsgemäßer Betrieb des Schengener Informationssystems
gewährleistet ist. Es ist aber auch zu prüfen, ob die so
genannten gemeinsamen Schengenvisa ordnungsgemäß
erteilt werden und ob grenzübergreifende Observation
und Nacheile möglich sind. Es geht also darum, diese
Kriterien einzuhalten. Wir werden dafür Sorge tragen,
dass bei den EU-Beitrittsstaaten diese Kriterien auch zukünftig eingehalten werden.
({2})
Ich finde, dass wir auf diesen Prozess stolz sein können. Es ist ja nicht so, dass wir das Rad neu erfinden müssen. Diesen Prozess haben wir an den Westgrenzen
unseres Landes schon vollzogen. So muss der Bundesgrenzschutz eben auch an den anderen Grenzen seine Arbeit neu einrichten, wenn weitere Grenzkontrollen der
Vergangenheit angehören werden. Es gibt beispielsweise
nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 des Bundesgrenzschutzgesetzes
die Möglichkeit der verstärkten Kontrollen im grenznahen Raum, in der so genannten 30-km-Zone. Wir haben
auch deswegen diesen Gesetzentwurf vorgelegt, weil wir
die Möglichkeit für lagebildorientierte Kontrollen in Zügen und auf Bahnanlagen in der Zukunft schaffen wollen.
Wenn man ein Resümee zieht, dann braucht man
keine Befürchtungen zu haben, dass dieses Verfahren
nicht der Sache dient. Wir sind hier auf einem guten
Weg, insbesondere was die Arbeitsmöglichkeiten des
Bundesgrenzschutzes anbelangt.
({3})
Angesichts der heutigen technischen und personellen
Ausstattung des Bundesgrenzschutzes kann man dankbar sein, dass wir diese Möglichkeiten geschaffen haben.
({4})
Ich bin sehr froh, dass der Bundesgrenzschutz technisch hochwertiges Gerät einsetzen kann, ob das im Bereich der Hubschrauber oder der Wärmebildtechnik der
Fall ist. Wir haben es erreicht, dass fast alle Angehörigen
des Bundesgrenzschutzes, die im operativen Bereich tätig sind, mit Schutzwesten ausgestattet sind. Mit Blick
auf die Ausstattungsquote in den Länderpolizeien sage
ich: Auch darauf können wir stolz sein.
({5})
Auch was die personelle Vorsorge anbelangt, können
wir uns sehen lassen. Wir haben nicht umsonst ein Hebungsprogramm im Bereich des Bundesgrenzschutzes
initiiert. Auch auf die Möglichkeit, diese Hebungen im
Personalbereich vorzunehmen - die Beamtinnen und Beamten des Bundesgrenzschutzes leisten eine hervorragende Arbeit -, sind wir stolz.
({6})
Ich bin sicher, dass der Bundesgrenzschutz die innovative Fähigkeit hat, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Wir haben Sorge dafür getragen, dass er dies erfolgreich tun kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Bundesgrenzschutz arbeitet gut und erfolgreich.
({0})
Damit dies auch in Zukunft so bleibt - auch nach der
EU-Osterweiterung -, gilt das, was die FDP ansonsten
im Bereich der inneren Sicherheit als Maxime vertritt.
Wir brauchen die drei Säulen: eine optimale technische,
finanzielle und personelle Ausstattung des Bundesgrenzschutzes.
({1})
Dann kommt lange nichts. Erst danach kommt die Frage,
ob denn neue gesetzliche Bestimmungen notwendig
sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
leider zeigen Sie immer die Tendenz, diese letzte, in
Wahrheit nachrangige Frage überzubetonen. Wenn man
Ihre Anträge liest, dann erkennt man, dass Sie dauernd
Gesetzesänderungen fordern, die man nur zum Teil
braucht und die daher manchmal entbehrlich sind.
({2})
Ich komme zurück zur Ausstattung.
Erstens die technische Ausstattung. Herr Staatssekretär, heute vertreten Sie die Bundesregierung. Sie sind
von einem etwas duldsameren Naturell als der Minister,
({3})
sodass ich wage, folgenden Punkt anzusprechen: Wir brauchen so schnell wie möglich eine optimale Ausstattung des
Bundesgrenzschutzes im Bereich des Digitalfunks.
({4})
Das ist kein Vorwurf an die Bundesregierung, sondern
eine Willenserklärung von uns allen, dass Sie im Bund
und wir in den Ländern, in denen wir Mitverantwortung
tragen, dafür sorgen, dass diese Technik endlich eingeführt und der versprochene Zeitpunkt - nämlich zur Fußballweltmeisterschaft 2006 - auch eingehalten wird.
Zweitens die finanzielle und personelle Ausstattung. Das ist schon ein kritischer Punkt in Zeiten, in denen die öffentliche Hand sparen muss. Die FDP ist der
Meinung, dass die Motivation, auch beim Bundesgrenzschutz, durch einseitige Sparmaßnahmen wie etwa die
Abschaffung oder Einschränkung von Urlaubs- und
Weihnachtsgeld nicht gefördert wird. Das heißt nicht,
dass man bei den Personalausgaben nicht sparsam sein
sollte. Aber der Kollege Burgbacher hat vor wenigen
Wochen an dieser Stelle ein neues Konzept für eine moderne Beamtenbesoldung vorgestellt, das mehr auf Flexibilität und Leistungsanreize setzt. Auch im Zusammenhang mit der Zukunft des Bundesgrenzschutzes ist
es notwendig, dass wir endlich darüber diskutieren und
dass endlich die Anhörung dazu durchgeführt wird, die
wir schon lange verlangen.
({5})
Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang
gehört übrigens auch die Modernisierung der Beförderungsrichtlinien, die vom Bundesgrenzschutz-Verband
zu Recht angemahnt wird.
Dagegen haben wir wenig Bedarf an neuen Gesetzen.
Es ist richtig: Wenn die Kontrollen an der Grenze zwischen Tschechien und Polen wegfallen, wird eine Schleierfahndung im 30-Kilometer-Grenzraum erforderlich
werden. Das sehen auch wir so. Aber die Fortführung
der verdachtsunabhängigen Kontrollen, die die CDU/
CSU in ihrem Antrag von letzter Woche befristet, in dem
heute vorliegenden Antrag unbefristet fordert - da ist die
Koordinierung nicht ganz geglückt -,
({6})
muss mit einer kritischen Diskussion darüber verbunden
werden, dass die verdachtsunabhängigen Kontrollen
Grenzkontrollen ersetzen sollen und es deshalb einen
Bezug dazu geben muss.
({7})
Da scheint uns das momentan geltende Recht verbesserungsbedürftig. Dazu werden wir im Ausschuss Ausführungen machen.
({8})
Mein letzter Punkt.
Nein, Herr Kollege Stadler, Ihre Redezeit ist schon
überschritten.
Ich komme zum Schluss. - In Richtung CDU/CSU
sage ich: Ihren pauschalen Vorschlägen, dass zum Beispiel die Kompetenzen des Bundesgrenzschutzes an
Bahnhöfen und Flughäfen ausgeweitet werden sollten,
werden wir sicher nicht zustimmen. Da müssen Sie
schon sagen, wie, was und warum.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Ich bin nicht hier, um Ihnen Vergnügen zu bereiten.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
Mittwoch hat das italienische Parlament mit einer
Schweigeminute der 13 Flüchtlinge gedacht, die tot in
einem Fischerboot vor der Insel Lampedusa aufgefunden
wurden. Die Flüchtlinge, die auf dem Fischerboot verhungerten und verdursteten, stammten vermutlich aus
Somalia. Sie waren auf dem Weg nach Europa. In der
anschließenden Debatte im italienischen Parlament
sprach Innenminister Pisanu zu Recht von einer Tragödie, die tonnenschwer auf dem Gewissen Europas laste.
Ich wähle diesen Einstieg, um deutlich zu machen,
dass wir auch im Deutschen Bundestag über die Dimension der europäischen Grenzpolitik und Grenzsicherung diskutieren müssen und den Begriff des Schengenraums nicht auf die nationale Sicherheit Deutschlands
reduzieren dürfen, sondern den Schengenraum im europäischen Kontext als Garant von Freiheit, Sicherheit und
Recht sehen müssen.
Mir fehlt bei dem CDU/CSU-Antrag der Bezug auf
die europäische Vereinbarung der vergangenen Jahre
und der Gedanke, dass es unsere Aufgabe ist - was RotGrün durchaus so sieht -, die auf EU-Ebene getroffenen
Vereinbarungen zum Grenzschutzmanagement in Europa auf den deutschen BGS, die deutsche Bundespolizei,
zu übertragen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grindel?
Ich möchte heute keine Zwischenfragen beantworten.
Die letzten Zwischenfragen von Herrn Grindel haben
nicht zur Erhellung des Themas beigetragen.
({0})
Heute möchte ich meine Gedanken im Zusammenhang
vortragen. Herr Grindel, wenn Sie sich die Zeit nehmen,
zuzuhören, dann führt das vielleicht dazu, dass wir von
der CDU/CSU in Zukunft Anträge vorgelegt bekommen,
die nicht eine Klein-klein-Gesetzesveränderung für den
BGS darstellen, sondern das aufnehmen, was auf europäischer Ebene beschlossen worden ist.
Ich beziehe mich auf den Beschluss des Rates der
Europäischen Union vom Juni 2002 hinsichtlich des
Plans für den Grenzschutz an den Außengrenzen der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich kann hier
nur anreißen, welche Herausforderung dies für den deutschen BGS bedeutet. Natürlich ist der Reformprozess
des BGS nicht abgeschlossen. Wir haben vielmehr noch
einige Punkte, zum Beispiel gemeinsame Standards in
der Ausbildung und den Aufbau der europäischen
Grenzpolizei, umzusetzen sowie die deutsche Beteiligung an der Finanzierung eines europäischen Grenzmanagements zu klären. Zumindest in den anderen nationalen Parlamenten wird über diese Punkte im Rahmen der
Grenzsicherung diskutiert. Auch bei uns sollte diese Diskussion geführt werden.
Eine weitere Vereinbarung auf der letzten Justiz- und
Innenministerkonferenz in Brüssel betraf die Einführung
einer europäischen Grenzschutzagentur, die wir hier
umsetzen müssen. Es würde sich lohnen, wenn wir uns
im Innenausschuss einmal vom Innenministerium erläutern lassen würden - deswegen unterstütze ich Ihren
Vorschlag einer Anhörung -, wie der Plan vom Juni
2002, der rund 40 Seiten umfasst, sehr viele interessante
Maßnahmen enthält und von einem integrierten Konzept
ausgeht, umgesetzt werden soll. Damit könnten wir dem
BGS mehr Sicherheit und mehr Perspektive vermitteln.
Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung zu
§ 22 des BGS-Gesetzes machen: Wir tun uns wirklich
keinen Gefallen, wenn wir dies weiter öffentlich im Plenum erörtern. Die CDU/CSU hat letzte Woche einen Gefälligkeitsantrag eingebracht - ich habe schon darauf
hingewiesen -, in dem sie gesagt hat: Wir wollen eine
Befristung. In Ihrem heutigen Antrag schreiben Sie zum
selben Paragraphen, dass sie ihn ohne weitere Diskussion entfristen wollen.
({1})
Wir gehen an dieses Thema sachlich heran und sagen:
Wir führen eine Evaluierung durch. Dafür brauchen wir
nur wenig Zeit. Nach der Evaluierung sollte zeitnah eine
Befristung erfolgen. Das ist sachgerecht. Es kann doch
bei der Regelung solcher Befugnisnormen nicht darum
gehen, wer dem Vorschlag des Innenministers parteipolitisch am nächsten kommt. Sie machen sich mit diesem
Vorgehen lächerlich. Lassen Sie uns darüber sachlich im
Innenausschuss diskutieren! Dann werden wir zu der Regelung kommen, dass zunächst eine erneute Evaluierung, dann eine kurze Befristung und schließlich eine
Entscheidung erfolgen sollte.
Danke schön.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Ralf Göbel, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im nächsten Jahr wird die Europäische Union
um zehn weitere Länder erweitert. Es wird aber noch etliche Jahre dauern, bis die Beitrittsländer im Osten die
Voraussetzungen, die im Schengen-Abkommen festgelegt sind, erfüllen werden. Auch wenn dies der Fall sein
wird, wird die Sicherung der Binnengrenzen noch immer
eine wichtige und bedeutende Aufgabe sein.
({0})
Dass dies so sein wird, sehen wir schon heute. Denn die
Migrationsströme nach Deutschland kommen nicht nur
aus dem Osten, sondern auch aus dem Westen. Sie kommen zunehmend aus dem Schengen-internen Flugverkehr
im Rahmen der Billigflüge. Deshalb ist es wichtig, unsere
Sicherheitsbehörden in die Lage zu versetzen, auch in Zukunft im europäischen Raum der Sicherheit, der Freiheit
und des Rechts ihrer Aufgabe nachzukommen. Das ist Ziel
des vorliegenden Antrags. Wir sollten die rechtlichen Regeln und Befugnisse überprüfen und die technischen, organisatorischen und personellen Vorbereitungen treffen.
Auf den offenen Dissens zwischen Minister Schily
und den Regierungsfraktionen, was die Befristung betrifft, will ich nicht weiter eingehen. Ich will nur sagen:
Ich finde es nicht lächerlich, wenn die CDU/CSU-Fraktion und der Bundesinnenminister der gleichen Auffassung sind. Ich denke, auch das darf einmal vorkommen.
({1})
Zum Digitalfunk - Herr Baumann hat es schon angesprochen; ich will es hier nicht vertiefen - muss eines,
Herr Körper, auch gesagt werden: Das Schengen-Abkommen betrifft auch den Digitalfunk.
({2})
Es ist doch ein etwas seltsamer Zustand, wenn wir zwar
darauf achten, ob die neuen Beitrittsländer die SchengenVoraussetzungen erfüllen, wir selber aber bei einer zentralen Voraussetzung, bei der technischen Verfügbarkeit
des Kommunikationssystems, die Letzten in Europa sind.
({3})
Der Wegfall der Außengrenzen wird mit einer erheblichen Reduzierung der Zahl der Zollbeamten an der
Grenze verbunden sein. Damit wird natürlich auch ein
Teil des bisherigen Sicherheitsgefüges an der Grenze
wegbrechen. Die Bundesregierung hat im März dieses
Jahres in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage versprochen, dass ein Konzept vorgelegt werden wird, aus dem
ersichtlich wird, wie die Kompensation stattfinden soll.
Es ist nun höchste Zeit, diese Konzeptphase endlich zu
Ende zu bringen und uns ein Konzept vorzulegen, wie
künftig die Sicherheit an der Grenze nach Wegfall des
Zolls gewährleistet sein wird.
Auf europäischer Ebene wird über die Schaffung
einer operativen Gemeinschaftsstruktur verhandelt; Frau
Stokar hat es erwähnt. Auch ich wäre sehr dankbar,
wenn die Bundesregierung von sich aus hier eine Konzeption vorlegte und es im Deutschen Bundestag zu
einer Debatte über dieses Thema käme. Es geht dabei
um eine neue Organisation der Sicherheitsstruktur an
den Grenzen, aber auch um die Einführung weiterer
technischer Systeme.
In diesem Zusammenhang greife ich die heutige Tagespresse auf und gehe auf die Einführung biometrischer
Identifikatoren in Visa und Aufenthaltstitel ein. Wir haben auch hierüber im Bundestag mehrfach gestritten. Bei
der Einbringung des Haushalts wurde uns erklärt, dass hier
noch Untersuchungsbedarf dahin gehend bestehe, welche
Methode zu wählen sei; deshalb seien nur Mittel für Modellprojekte in den Haushalt eingestellt worden. Unterdessen schlägt die EU-Kommission in einem Verordnungsentwurf vom 24. September 2003 mit ausführlicher
Begründung und unter Bezug auf mehrere Studien vor, die
Gesichtsfelderkennung europaweit als zweites Merkmal
nach dem Fingerabdruck vorzusehen. Ich frage mich, ob
die Bundesregierung überhaupt davon wusste und, wenn
ja, warum wir immer noch Gelder bereitstellen, um die
Iriserkennung zu erforschen. Wir haben beim Digitalfunk
schon genug europäischen Flickenteppich erlebt; dies
brauchen wir bei der Biometrie nicht zu wiederholen.
({4})
Auf Bundesebene müssen die Kompetenzen gebündelt und die Zusammenarbeit unter den Bundesbehörden
verbessert werden. Hierzu gibt es etliche ernst zu nehmende Vorschläge, die einer vertieften Diskussion würdig sind. Auf eine entsprechende Frage der CDU/CSUFraktion antwortete die Bundesregierung - Bundestagsdrucksache 15/722 - Folgendes:
Die Zusammenarbeit zwischen dem BGS und dem
BKA besteht auf enger partnerschaftlicher Grundlage innerhalb der gesetzlich zugewiesenen Zuständigkeiten.
Das, meine Damen und Herren, ist ein Satz, der einem
nur dann einfallen kann, wenn wirkliche Zukunftsperspektiven fehlen.
Erfolgreiche Polizeiarbeit bedeutet aber nicht nur gute
technische Ausstattung und ausreichende rechtliche Kompetenzen. Der Erfolg hängt auch von der Motivation der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. In diesem Zusammenhang lobe ich ausdrücklich die Arbeit der Beamtinnen und Beamten des Bundesgrenzschutzes und der anderen Sicherheitsbehörden an der Grenze. Ich weise aber
auch darauf hin, dass es vielfältige Verstimmungen unter
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt, die nach Aussage der Personalvertretungen darauf zurückzuführen
sind, dass Entscheidungsprozesse nicht transparent sind
und die interne Kommunikation verbesserungsbedürftig
ist. Auch aus eigenen Gesprächen mit Angehörigen des
BGS ist mir bekannt, dass viele nicht wissen, wie ihre persönliche Zukunft vor allem hinsichtlich ihrer weiteren
dienstlichen Verwendung in den künftigen Strukturen des
Bundesgrenzschutzes aussehen wird.
Transparenz fördert Akzeptanz. Diesem alten Grundsatz der Personalführung muss in diesem Zusammenhang mehr Geltung verschafft werden. Die Sorgen der
Beschäftigten müssen ernster genommen werden.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich teile die Freude meines Staatssekretärs Fritz Rudolf
Körper über den guten Ausbildungs- und Ausrüstungsstand des Bundesgrenzschutzes. Ich teile ebenso die
Freude meines Kollegen Günter Baumann über die künftige Osterweiterung. Damit enden unsere Gemeinsamkeiten, Kollege Baumann;
({0})
denn die CDU/CSU versucht mit ihren Anträgen und
Wortbeiträgen, ein weiteres Mal den Eindruck zu
erwecken, als ob es schlecht um die innere Sicherheit
der Bundesrepublik und damit auch um die Sicherheit
der Menschen in der Bundesrepublik stehe.
Die Fakten sind andere. Es gibt keine Sicherheitslecks. Die innere Sicherheit ist bei dieser Regierung und
dieser Koalition in guten Händen.
({1})
Ihre Redebeiträge und Ihr Antrag dienen ausschließlich
dem Ziel, Unsicherheit zu verbreiten. Sie jagen den
Menschen Angst ein und veranlassen sie, ein Stück persönlicher Freiheit aufzugeben. Angst ist ein schlechter
Ratgeber. Die Menschen geben mit der Einschränkung
der persönlichen Freiheit ein Stück Lebensqualität auf.
({2})
Sie scheuen sich nicht einmal, diese Angstgefühle in
Richtung Osterweiterung zu lenken. Das ist einer Partei,
die sich einmal ihrer Europafreundlichkeit gerühmt hat,
ziemlich unwürdig.
({3})
Da Sie wiederholt die Aussage des Innenministers zur
Entfristung angesprochen haben, will ich auf diesen
Punkt eingehen. Das Bundesgrenzschutzgesetz ist geändert worden. Der Bundesgrenzschutz hat die Möglichkeit, auf Verkehrsflughäfen, Bahnanlagen und im grenznahen Raum verdachtsunabhängig zu kontrollieren. Sie
haben zwei Anträge gestellt und ich möchte jetzt auf die
Diskrepanz hinweisen. In der letzten Woche haben Sie
einen Antrag gestellt - wir haben auch darüber diskutiert -, in dem Sie die Änderungen des Bundesgrenzschutzgesetzes auf fünf Jahre befristen wollten.
({4})
In dieser Woche diskutieren wir über einen inhaltlich ähnlichen Antrag. Nun wollen Sie die Veränderungen des Bundesgrenzschutzgesetzes entfristen. Sie müssten sich zumindest in der eigenen Fraktion einmal darüber klar werden,
was Sie wirklich bei der inneren Sicherheit wollen.
({5})
Es gibt überhaupt keinen Streit darüber, dass die Veränderungen des Bundesgrenzschutzgesetzes richtig waren.
Die Erfolge liegen auf der Hand.
Sie fordern weiterhin mobile und flexible Einsatzeinheiten im Grenzraum. Lesen Sie doch bitte nach, was
Sozialdemokraten und Gewerkschaft der Polizei bei der
Bundesgrenzschutzreform II, die von Ihrem Innenminister
zusammen mit Ihnen auf den Weg gebracht worden ist,
gefordert haben. Sie haben die Installierung flexibler und
mobiler Grenzschutzeinheiten gefordert. Dieser Forderung sind Sie nicht gefolgt. Bei der Bundesgrenzschutzreform II haben Sie eine andere Variante gewählt und heute
beklagen Sie die Folgen Ihrer eigenen Fehlentscheidung.
({6})
Die heutigen Gesetze reichen aus. Der Bundesgrenzschutz kann an den wichtigen Schnittstellen verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen. Ich bin sicher,
dass er das mit großem Einsatz und Erfolg tun wird. Wir
haben eine engagierte und motivierte Bundespolizei und
der Bundesgrenzschutz hat mein volles Vertrauen. Ich
bin sicher, dass er mit Rückendeckung der Politik - er
sollte sich auch auf Ihre Rückendeckung verlassen können - gute Arbeit leistet und den Aufgaben gerecht wird.
({7})
Im Übrigen will ich darauf verweisen, dass mit der
EU-Osterweiterung im nächsten Jahr keinesfalls eine
Veränderung der Grenzkontrollen einhergeht. Ganz im
Gegenteil: Ein Wegfall der Grenzkontrollen zu den Beitrittsstaaten ist frühestens im Jahr 2006 zu erwarten,
nämlich erst dann, wenn sie den Schengen-Standard erfüllen. Das Theater, das Sie hier veranstalten, ist völlig
überflüssig.
({8})
Zur Vermeidung von Sicherheitsdefiziten und Sicherheitslecks kann der Bundesgrenzschutz gemäß § 22 des
Bundesgrenzschutzgesetzes Personen anhalten und sie
gemäß § 23 kontrollieren. Lagebildabhängig kann er
auch Kontrollen in Zügen und auf Flughäfen vornehmen. Das ist gut und richtig. Diese Instrumente sind effektiv und reichen aus.
Ich will Ihnen das erklären, damit Sie es richtig verstehen.
({9})
Wenn Sie einen Fisch in einem Fluss fangen wollen,
dann tun Sie das normalerweise an den Engstellen des
Flusses, spätestens aber an der Flussmündung. Sie warten nicht, bis der Fisch das offene Meer erreicht hat, und
fangen dann erst an, ihn zu suchen. Genau diese Instrumente hat der Bundesgrenzschutz
({10})
zur Kontrolle oder - wenn Sie es so ausdrücken möchten - zum Angeln von Straftätern
({11})
an die Hand bekommen. Sie werden wirken und sie sind
gut.
Zum Ausbildungsstand möchte ich Ihnen eines sagen. In der Regierungszeit der rot-grünen Bundesregierung hat es ein großes Stellenhebungsprogramm mit
einer Vielzahl von Beförderungen gegeben.
({12})
- Herr Grindel, stellen Sie eine Zwischenfrage, dann
werde ich Ihnen diese beantworten, damit Sie daraus lernen. Aber hören Sie auf, dazwischenzuschreien.
({13})
Wie gesagt, es hat eine Vielzahl von Stellenhebungen
mit riesigen Beförderungsmöglichkeiten gegeben. Das
hat zu einem engagierten und zufriedenen Bundesgrenzschutz geführt. Sie sollten sich einmal mit den Leuten
unterhalten.
({14})
Das Attraktivitätsprogramm des Bundesinnenministers
trägt zusätzlich dazu bei.
Ausbildung und Ausrüstung sind stark verbessert
worden. Schauen Sie sich einmal die GSG 9 an. Dort
gibt es gute Hubschrauber, moderne Wasserfahrzeuge
und anderes hochwertiges Einsatzgerät.
({15})
Der BGS See hat hervorragende Schiffe. Die Grenzeinsatzkräfte haben hervorragende Fahrzeuge und Wärmebildgeräte.
Im Übrigen möchte ich noch ein Wort zum BOSFunk sagen, weil das Thema wiederholt angesprochen
worden ist.
Herr Kollege, das eine Wort muss aber kurz und
knapp sein, bitte.
Ich werde nur ein kurzes Wort sagen, Frau Präsidentin.
({0})
Es ist so, dass die Bundesregierung sich bemüht, auch
den Bundesgrenzschutz mit dem BOS-Funk auszustatten. Allerdings bejammern Sie die Blockade Ihrer eigenen Bundesländer. Sprechen wir mit den Bundesländern,
damit es hier keine Probleme mehr gibt.
({1})
Wir sind auf einem guten Weg. Leisten Sie einen Beitrag dazu. Das können Sie am besten, indem Sie Ihren
überflüssigen Antrag mit einem Ausdruck des Bedauerns zurückziehen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1328 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo
Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Neue EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie
- Drucksache 15/1564 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen zehn
Jahren haben sowohl die internationalen als auch die
europäischen Finanzmärkte eine rasante Entwicklung
durchgemacht. In Europa ist das Geschehen nicht zuletzt
durch das Bemühen geprägt worden, den rechtlichen
Rahmen für einen echten europäischen Finanzmarkt zu
schaffen. Maßgeblich für die angestrebte Finanzmarktintegration sind und waren dabei - neben unseren nationalen Aktivitäten - die Aktivitäten der Europäischen
Kommission. Mit dem Financial Services Action Plan,
FSAP, hat die Kommission 1999 eine offene Agenda für
ihre weiteren Aktivitäten im Bereich der Finanzmarktintegration vorgestellt.
Jenseits des heute diskutierten Antrages will ich festhalten, dass wir als Deutscher Bundestag noch immer
nicht optimal auf die Europäisierung der Finanzmarktgesetzgebung reagiert haben. Angesichts der Tatsache,
dass heute zwei Drittel der deutschen Kapitalmarktgesetzgebung auf europäischem Recht beruhen, ist klar,
dass wir als nationaler Gesetzgeber nur dann eine
Chance haben, nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung unserer Finanzmärkte zu nehmen, wenn wir die
Prozesse auf europäischer Ebene frühzeitig begleiten.
({0})
Trotz großer Fortschritte in diesem Bereich - ich darf sagen: insbesondere auf unserer Seite des Hauses - bleibt
hier noch viel Verbesserungspotenzial, wenn wir den Finanzplatz Deutschland in Europa optimal positionieren
wollen.
Die geplante EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie
als Bestandteil des Financial Services Action Plan stellt
insgesamt ein sehr gutes Beispiel für das eben Gesagte
dar. Dies beginnt leider damit, dass unser heute formal
eingebrachter Antrag aufgrund der neuesten europäischen Entwicklungen - inzwischen gibt es im Rat einen
Kompromiss, der sich weit gehend an den Vorschlägen
des Europäischen Parlamentes orientiert - nicht mehr in
allen Punkten auf dem aktuellsten Stand ist.
Dadurch ändert sich aber nichts an unserer inhaltlichen Positionierung. Wir werden durch Änderungsanträge, die wir den beratenden Ausschüssen in Kürze
vorlegen werden, lediglich einige Aktualisierungen vornehmen.
Diese Tatsache zeigt deutlich, wie sich der Sachverhalt durch die Vorschläge der Europäischen Union
innerhalb von wenigen Monaten ändern kann, was wir
wiederum berücksichtigen müssen. Der Bundestag muss
angesichts der Entwicklung auf der europäischen Ebene
noch schneller agieren als bisher.
({1})
Beispielhaft für die eingangs beschriebene Entwicklung ist die geplante Wertpapierdienstleistungsrichtlinie
selbst. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Motivation für
diese Richtlinie. Die Vorgängerrichtlinie von 1993 ist
angesichts des besagten Wandels nicht mehr zeitgemäß.
Neue Produkte und Dienstleistungen, neue Handelsformen und weitere Veränderungen haben in der Zwischenzeit eine Neufassung der Richtlinie unumgänglich gemacht.
Die Ziele der neuen EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, mit der die Kommission eine weitere Stärkung
der europäischen Finanzmarktintegration erreichen will,
lassen sich dabei in drei Gruppen aufteilen. Als erstes
Ziel ist die Erweiterung des Anwendungsbereiches der
Richtlinie zu nennen. Als zweites Ziel ist die Stärkung
des Anlegerschutzes durch eine Garantie der bestmöglichen Orderausführung vorgesehen. Drittens hat die
Richtlinie zum Ziel, die Markteffizienz durch eine Harmonisierung der Anforderungen an unterschiedliche
Handelssysteme zu sichern.
Vor welchem Hintergrund ist das dritte Ziel, Sicherung
der Markteffizienz, zu sehen? In den letzten Jahren
konnten wir eine zunehmende Fragmentierung der Wertpapiermärkte beobachten. Diese ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Banken und Wertpapierdienstleistungsunternehmen verstärkt Wertpapieraufträge von
Kunden nicht an Börsen weiterleiten, sondern auf institutsinternen bilateralen Systemen gegen eigenen Handelsbestand bzw. gegen andere Kundenaufträge ausführen.
Diese so genannte Internalisierung ist für Anbieter
und Kunden zunächst attraktiv. Die Bank kann mit einer
erhöhten Kundenbindung, höheren Erträgen aus der
Ausnutzung des Spreads sowie der Einsparung von Börsengebühren rechnen. Der Kunde kann seinerseits mit
einer Preisstellung rechnen, die mindestens so gut ist wie
der Referenzpreis an der Börse. Gleichzeitig kann er sich
über niedrigere Transaktionskosten freuen.
Für die Effizienz des Gesamtmarktes kann eine übermäßige Ausweitung der so genannten Internalisierung
jedoch dann negative Folgen haben, wenn den Börsen
dadurch zu viel Liquidität entzogen wird. Dieses Absinken der Markteffizienz würde sich dann in Form einer
Qualitätsverschlechterung der Referenzpreise, die an der
Börse erzielt werden, widerspiegeln. Eine solche Verschlechterung würde wiederum auch die Anbieter, vor
allem aber die Kunden von Internalisierungssystemen
treffen. Die Anleger im Internalisierungssystem wären
am Ende trotz der geschilderten Vorteile dieses Verfahrens insgesamt schlechter gestellt als bei üblicher Börsenabwicklung.
Da nicht nur Anleger, sondern auch emittierende Unternehmen in Form höherer Kapitalkosten von einem
übermäßigen Liquiditätsentzug der Börsen betroffen wären, gilt es, Vorkehrungen zu treffen und zu einem angemessenen Interessenausgleich zwischen Wertpapierdienstleistungsunternehmen und Kunden zu kommen.
({2})
Der dritte Punkt, den ich gerade angesprochen habe,
ist in der Diskussion um die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie mit der wichtigste Punkt. Wir wollen diesen
wichtigen Interessen Rechnung tragen. Das Europäische
Parlament hat sich gemeinsam mit dem Rat auf den Weg
begeben, diese Frage zu klären. Auch wir sollten, wie
wir es in solchen Fragen häufig tun, interfraktionell
einen Weg suchen. Deshalb bitte ich Sie, unseren Antrag
zu unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Florian Pronold,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Der Antrag der Union ist ein gutes Beispiel dafür,
dass in unserem Haus nicht immer vernetztes Denken Einzug hält. Heute haben wir den Waldzustandsbericht behandelt. Mit diesem Antrag haben Sie, liebe Kollegen von der
Union, unsinnigerweise einen Baum geopfert.
({0})
Sie haben schon selber eingestanden, dass Ihr Antrag
ein wenig hinterherhinkt. Denn bereits am 7. Oktober
hat der Ecofin-Rat alle wesentlichen Dinge, die Sie in
Ihrem Entschließungsantrag fordern, beschlossen.
Eigentlich müssten wir diesen Antrag mit dem Vermerk
„Erledigung durch Zeitablauf“ zu den Akten legen.
({1})
Es ist doch schön, zu sehen, dass die Bundesregierung
die Neugestaltung der EU-Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, über die wir heute reden, ernster als die Union
nimmt, weil sie nämlich rechtzeitig handelt und die Weichen richtig stellt.
({2})
Zur Zufriedenheit der Börsen- und Bankenwelt in
Deutschland hat sie am 7. Oktober übrigens etwas erreicht, das breite Zustimmung findet und das, wie Sie sicherlich wissen, nicht besonders leicht war, weil es im
Ecofin-Rat - das war ein seltener Moment - nur eine
qualifizierte Mehrheit dafür gegeben hat. Bei der Abstimmung haben sich also nicht alle Länder einheitlich
verhalten. Umso besser war es, dass die Bundesregierung dort eine vermittelnde Position einnehmen konnte
und einen Kompromiss zustande gebracht hat, der jetzt
nicht nur von allen Seiten begrüßt wird, sondern der
auch dazu führt, dass Börsen und Banken auf dem EUMarkt zukünftig gleichberechtigt behandelt werden.
Ich will jetzt gerne noch zu den einzelnen Punkten Ihrer Forderung Stellung nehmen. Zu den Punkten 1 bis 5
kann ich sagen: Im Großen und Ganzen wurden diese
- übrigens in Unkenntnis der Bundesregierung über Ihren Entschließungsantrag - durch den Beschluss des
Ecofin-Rates bereits erfüllt.
({3})
Das wird vom ganzen Haus und natürlich auch von unserer Seite geteilt.
Punkt 6 überrascht mich ein wenig, weil die Regulierung der öffentlich-rechtlichen Börsenstruktur schon Gegenstand der Beratungen in diesem Hause war. Dies hat
mit der Wertpapierdienstleistungsrichtlinie überhaupt
nichts zu tun.
({4})
- Nein, das hat gar nichts damit zu tun.
Über das Thema „Stärkung des Finanzplatzes Deutschland“ hat der Bundestag bereits einvernehmlich diskutiert. Ich weiß wirklich nicht, was das hier verloren hat.
Über die Anforderungen, die in den Punkten 8 bis 10
stehen, können wir im Finanzausschuss vielleicht noch
reden.
({5})
Unter Punkt 9, schreiben Sie, die Bundesregierung
möge sich dafür einsetzen,
dass über den vorliegenden Richtlinienvorschlag
hinaus gemeinsam mit den Verbänden der freien Finanzdienstleister Wohlverhaltensrichtlinien sowie
Aus- und Fortbildungsordnungen erarbeitet werden,
die weitgehend ohne staatliche Aufsicht ein Maximum an kostengünstigem Schutz bei privaten Anlageentscheidungen sicherstellen …
({6})
Dieses Antragsdeutsch ist wirklich schön. Das brauchen
wir hier; denn das führt zu einer breiten Verständlichkeit
in der Öffentlichkeit.
Dies wirft hier eine entscheidende Frage auf, die Sie
offensichtlich sehr einseitig beantworten. Wir sehen es
anders. Wenn man die freien Finanzdienstleister nämlich etwas näher unter die Lupe nimmt, dann sieht man,
dass es dort nicht nur weiße Schafe, sondern auch viele
graue und schwarze Schafe gibt und dass es dort sehr
wohl einer sehr genauen Regelung bedarf. Die Richtlinie
lässt uns die Möglichkeit offen, diese auf nationaler
Ebene auch zu treffen.
({7})
Zusammenfassend kann man sagen: Die Forderungen, die Sie hier eingebracht haben - ich weiß ja nicht,
ob Sie den Antrag selbst geschrieben haben -,
({8})
sind von der Bundesregierung zum großen Teil bereits
erfüllt worden. Wir können die Bundesregierung jetzt
nicht mehr mit einem Antrag auffordern, etwas zu tun,
weil sie schon gehandelt hat. Wir könnten allenfalls das
Europäische Parlament, welches das in zweiter Lesung
beraten wird, auffordern. Ich glaube allerdings, dass das
unüblich wäre.
({9})
Wir werden den Antrag an den Finanzausschuss überweisen. Dort werden wir uns vielleicht auch den Anlegerschutz und die grauen und schwarzen Schafe auf dem
Finanzdienstleistungsmarkt genauer anschauen. Ich
denke, das wäre sinnvoll.
({10})
Alle anderen Dinge sind bereits zur Zufriedenheit erfüllt
worden.
Ich glaube, Sie sollten Ihren Antrag umformulieren.
Die Sätze, in denen Sie die Bundesregierung auffordern,
Folgendes durchzusetzen, zu streichen und zu ersetzen,
sollten Sie ändern in: Wir danken der Bundesregierung,
dass sie das alles schon umgesetzt hat.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Professor
Dr. Andreas Pinkwart, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt meiner
Ansicht nach einen sehr wichtigen Impuls dafür, dass
wir uns im Plenum und im Ausschuss mit dieser wichtigen Richtlinie über Wertpapierdienstleistungen auseinandersetzen.
({0})
Herr Kollege Pronold, Ihre Arroganz ziert Sie nicht
unbedingt; denn Sie hätten Ihre Regierung ermuntern
können, mit diesen Informationen in die Beratungen des
Finanzausschusses zu gehen. Dann wären Sie tatsächlich
proaktiv tätig geworden. Sie sind uns in Ihrem zeitlich
sehr umfangreichen Beitrag allerdings eine Aussage
dazu schuldig geblieben, was denn im Einzelnen bei den
Punkten erreicht worden ist, die seitens der CDU/CSUFraktion vorgetragen worden sind. Es bestünde ja auch
Gelegenheit, an dieser Stelle einmal auf die Punkte einzugehen, die Gegenstand dieses Antrages sind.
Zielsetzung der Dienstleistungsrichtlinie ist es, den
Anlegerschutz zu verbessern und eine EU-weite Tätigkeit
der Wertpapierhäuser sicherzustellen. Es soll also durch
eine Harmonisierung ein Beitrag für mehr Wettbewerb
und für mehr Effizienz auf diesem wichtigen Wachstumssektor in Europa geleistet werden. Diese Ziele unterstützen wir nachdrücklich.
({1})
Man muss sich natürlich auch fragen, nach welchen
Prinzipien wir zu mehr Wettbewerb und für mehr Effi5974
zienz auf den Märkten beitragen können. Voraussetzung
dafür sind Transparenz, Offenheit der Märkte und Rechtssicherheit. Letztere soll hier geschaffen werden.
In dem Antrag klingt an, dass neue Handelssysteme,
die sich im Intrabankenmarkt abspielen, zugelassen werden sollen. Ich bin gespannt darauf, was uns die Bundesregierung im Finanzausschuss dazu sagen wird. Ich
frage mich, ob wir das tatsächlich tun werden oder ob
wir - ich sage das aus meiner Sicht - durch überhöhte
Anforderungen an die Transparenz, wie sie in dem Antrag zum Teil vorgeschlagen werden, einen Markt, der
sich zumindest für private Anleger bislang noch gar
nicht so stark herausgebildet hat, möglicherweise bereits
in seinem Entstehen unterminieren. Ich möchte diese
Frage jedenfalls einmal in den Raum stellen. Deswegen
habe ich einige Vorbehalte, was die Transparenz im
Vorhandel anbetrifft. Es ist nicht etwa so, dass sie aus
Sicht des Anlegers nicht wünschenswert wäre, soweit es
sich um eine Marktinformation handelt. Marktinformationen, die von Anbietern kostenlos zur Verfügung gestellt werden, mindern immer die Transaktionskosten
und steigern damit die Effizienz. Das begrüßen wir natürlich außerordentlich.
Wenn allerdings mit dieser Vorhandelstransparenz
auch eine Art Kontrahierungszwang für die preissetzenden Banken verbunden sein sollte, so könnte sie, gerade
was die privaten Anleger, aber auch was den Handel mit
großen Paketen anbetrifft, dazu führen, dass der europäische Markt für Finanzdienstleistungen im internationalen
Wettbewerb seine Standortvorteile verliert. Letzteres
wollen wir auf keinen Fall. Deswegen werden wir hier im
Hinblick auf die Internalisierung sehr kritisch im Finanzausschuss nachfragen, Herr Pronold, was Ihre Regierung
auf diesem Gebiet in Brüssel so erfolgreich erarbeitet hat.
({2})
Wir haben unterschiedliche Signale dazu vernommen,
ob das tatsächlich gelungen ist. Wir werden jedenfalls in
den Beratungen Wert darauf legen, dass neue Handelssysteme im Wettbewerb auch mit den Börsenmärkten
zugelassen werden, damit die Transaktionskosten für
alle Anleger gesenkt werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Dautzenberg, Sie haben mit Ihrem Antrag
den Eindruck zu erwecken versucht, die Bundesregierung bräuchte in dieser Frage ein wenig Nachhilfe von
der Opposition,
({0})
so als wären Dinge, die dringend gemacht werden müssen, nicht gemacht worden. Diesen Eindruck hat schon
der Kollege Pronold zu Recht zurückgewiesen. Ich
weise ihn nochmals zurück.
Ich denke, gerade wenn es um den Finanzplatz
Deutschland und um den Finanzmarkt insgesamt geht,
hat sich diese rot-grüne Bundesregierung nichts vorzuwerfen.
({1})
Diese rot-grüne Bundesregierung hat den Finanzmarkt in
den letzten Jahren enorm nach vorne gebracht. Ob es das
Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, ob es die Schaffung
der BaFin war, ob es - um ein aktuelles Beispiel zu nennen, das wir gestern im Ausschuss beraten haben - das Investmentmodernisierungsgesetz war, mit dessen Hilfe wir
jetzt sogar Finanzmarktinstrumente wie Hedgefonds in
Deutschland zulassen, um den Produktions- und Vertriebsstandort Deutschland zu stärken - all diese Dinge
sind von dieser Bundesregierung auf den Weg gebracht
worden. Dies wurde im Wesentlichen - das muss man
ebenfalls sagen; Herr Dautzenberg, Sie haben es schon
angedeutet - zusammen mit der Opposition zustande gebracht. In diesen Punkten wurden immer sinnvolle Absprachen getroffen und es wurde immer vernünftig miteinander umgegangen. Ich denke, das sollte so bleiben.
({2})
Das Thema Finanzmarkt gebietet es, dass man im Parlament relativ einig agiert.
({3})
Man darf aber auch nicht vergessen, wie wichtig gerade der Finanzmarkt für den Wirtschaftsstandort
Deutschland ist. Man muss sich einmal die nüchternen
Zahlen vergegenwärtigen, die den meisten nicht bekannt
sein dürften: In der Automobilbranche in Deutschland
arbeiten 1 Million Menschen. In der Finanzbranche
sind 1,5 Millionen Menschen tätig. 4,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden von der Finanzbranche erarbeitet, nur 3 Prozent von der Automobilbranche. Unabhängig von der Tatsache, dass wir den Finanzmarkt
dringend brauchen, um unsere Unternehmen, insbesondere die Mittelständler, durch die Finanzmärkte ordentlich zu kapitalisieren, egal ob durch Versicherungen,
Banken oder Finanzdienstleister, werden eine ganze
Menge Arbeitsplätze geschaffen.
({4})
Aber der Antrag, den Sie heute gestellt haben, geht
ins Leere; das wissen Sie auch. So gut wie alles von
dem, was Sie in diesem Antrag formuliert haben, hat die
Bundesregierung auf EU-Ebene bereits ausgehandelt.
({5})
All diese Punkte sind bereits im Ecofin-Rat eingebracht
worden. Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist ein weißer
Schimmel. Sie rennen mit Ihrem Antrag offene Türen
ein. Sie wissen: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Nichts ist so alt wie der Antrag vom letzten Monat.
({6})
Übertroffen werden kann das nur noch von der Tranfunzeligkeit der FDP, die in den meisten Fragen völlig
abgetaucht ist. Herr Dr. Pinkwart, Sie könnten - das haben Sie eben vergessen - dem Running Gag des Deutschen Bundestages, Herrn Westerwelle, einen Aufbaulehrgang in Sachen Finanzmarkt sponsern. Wenn er beim
nächsten Mal in einem Container sitzt, kann er etwas
Neues erzählen. Das wäre vielleicht ganz hilfreich.
({7})
Doch nun zur Sache.
({8})
Wie es der Kollege Pronold schon angedeutet hat,
halten wir es für sinnvoll, diesen Antrag nicht strittig zu
behandeln, sondern ihn im Finanzausschuss ernsthaft zu
beraten.
({9})
Vielleicht können wir mit einem unterstützenden Antrag
das, was die Bundesregierung auf diesem Feld an Erfolgen erzielt hat, deutlich machen. Ich muss es noch einmal erwähnen: Diese gesamte Debatte wird auf europäischer Ebene sehr strittig geführt. Es gibt die Südschiene
und die angelsächsische Schiene. Von dieser Seite wurde
mit aller Kraft versucht, das zu verhindern, was ansonsten auf EU-Ebene mittlerweile Konsens ist. Angesichts
dessen kann es sinnvoll sein, dass das Parlament erklärt:
Die Bundesregierung hat in diesem Bereich richtige und
gute Arbeit geleistet; wir unterstützen sie in diesem oder
jenem Punkt. - Insofern macht es Sinn, darüber im Ausschuss zu reden.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Pronold, wenn Ihnen zu
diesem Thema nichts Besseres als der Vergleich mit dem
Waldschadensbericht einfällt, werden Sie beiden Themen aus zwei Gründen nicht gerecht: Erstens. Der Waldzustandsbericht ist nicht so überzeugend, dass man damit gute Witze machen kann. Zweitens - das müssten
Sie gerade als Vertreter der jungen Generation eigentlich
anerkennen -: Mit der Fragestellung, wie wir Wertpapierdienstleistungen und damit Investment- und Anlagekultur in Deutschland behandeln, debattieren wir einen
wesentlichen Punkt, der für die junge Generation hinsichtlich der Sicherung ihrer Altersbezüge von wesentlicher Bedeutung ist.
({0})
Dabei kommt dem Zusammenspiel zwischen Börsen
einerseits und Banken andererseits große Bedeutung zu.
Ich will deutlich machen - der Kollege Dautzenberg
ist dabei schon in Vorlage gegangen -, dass es uns als
dem Deutschen Bundestag darum geht, wie wir mit den
Entwicklungen auf der europäischen Ebene umgehen,
wie wir uns in einem der wesentlichen Bereiche für die
deutsche Volkswirtschaft - Herr Kollege Ulrich, Sie haben die Zahlen genannt - positionieren und ob wir zulassen, dass Entwicklungen, die den deutschen Finanzmarkt
in wesentlichen Teilen betreffen, ohne das Votum des
deutschen Parlaments geschehen.
({1})
Auch Ihr Vorwurf, wir wären zu spät dran, geht ins
Leere, denn Sie wissen genau, dass wir momentan in der
Situation sind, dass einerseits das Europäische Parlament, also der dafür zuständige Wirtschafts- und Währungsausschuss, einen Richtlinienvorschlag erarbeitet
hat und andererseits der Ecofin, also die Vertretung der
Regierungen auf europäischer Ebene, einen gegensätzlichen Antrag erarbeitet hat.
({2})
Die Stellungnahme des Europäischen Parlaments unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Stellungnahme der Regierungen. Unsere Aufgabe ist es, uns damit
auseinander zu setzen, welchen Weg wir eher gehen wollen, und der Bundesregierung an der einen Stelle den Rücken zu stärken, ihr aber vielleicht auch an anderer Stelle
durch Beschlüsse Aufgaben mit auf den Weg zu geben
und zu prüfen, ob sie sie durchsetzen kann oder nicht.
({3})
Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Wenn
Sie die Zeit gehabt hätten, was offensichtlich nicht der
Fall war, hätten Sie sich mit der Beschlusslage auseinander setzen können. So fordert zum Beispiel das Europäische Parlament, dass systematische Internalisierer, also
diejenigen Banken, die eigene Systeme aufbauen, um
Börsenhandel und börsenähnlichen Handel zu treiben,
für Transaktionen in standardmäßigen Marktgrößen
einen verbindlichen Geld- und Briefkurs offen legen.
Die Vorstellung des Ecofin geht aber nur dahin, dass dieselben Eigenhändler nur Kursofferten, also nur Quotes,
zu veröffentlichen haben. Man muss genau lesen und
sich mit der Sache auseinander setzen. Dann kommt man
zu dem Ergebnis, dass das Europäische Parlament verbindliche Handelspreise fordert, der Ecofin aber nur unverbindliche Angebote fordern will.
({4})
Das ist ein wesentlicher Unterschied. Damit müssen wir
uns auseinander setzen und müssen möglicherweise der
Bundesregierung zum Schutz der Anleger und der Investoren mit auf den Weg geben: Wenn schon Transparenz,
dann verbindliche Handelspreise.
({5})
Sie haben den Antrag und die weitere Debatte falsch
verstanden, wenn Sie glauben, wir wollten in diesem
Teilbereich einfach nur auf die Regierung schimpfen.
Nein, wir wollen so wie in vielen anderen Bereichen, die
den Finanzplatz angehen, zusammenarbeiten. Ich nenne
das Vierte Finanzmarktfördergesetz, das wir im Übrigen
gemeinsam hier im Hause in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben und das nicht strittig war,
({6})
ich nenne das Investmentmodernisierungsgesetz, das uns
momentan im Finanzausschuss beschäftigt und das wir
ebenfalls, soweit es sich momentan abzeichnet, gemeinsam nach vorne bringen und verabschieden werden, und
ich nenne Basel II, das uns gemeinsam beschäftigt und
woran wir gemeinsam arbeiten wollen.
({7})
Nur weil Sie nicht vorbereitet sind, zu sagen, wir wären
zu spät dran, ist zu kurz gesprungen und wird dem
Thema nicht gerecht.
({8})
Wir müssen uns schon damit auseinander setzen, was
wir in diesem Bereich noch Gutes tun können, und müssen uns fragen, ob wir an der einen oder anderen Stelle
nacharbeiten müssen.
Ich will Ihnen ein weiteres konkretes Beispiel nennen,
das uns beschäftigt. Die aktuelle Beschlusslage des Ecofin-Rates geht auf eine Initiative Hollands zurück, die
zum Ziel hat, dass den Internalisierern die Möglichkeit
gegeben wird, quasi einen Mengenrabatt auf Handelsgeschäfte zu geben. Das führt dazu, dass jemand, der einen
Preis annimmt, gegenüber seinem Händler einen Mengenrabatt vereinbaren kann, bevor er abschließt. Es
klingt im normalen Wirtschaftsleben ganz interessant,
wenn man für einen großen Kauf einen Mengenrabatt
haben will. Gerade in Bezug auf Börsenpreise und Börsenpreisfeststellungen ist aber die Tatsache, dass nach
dem Abschluss noch ein Mengenrabatt gegeben wird,
eine Preisverfehlung, die der anderen Öffentlichkeit
nicht mitgeteilt wird und deshalb den Preis verzerrt. Das,
lieber Herr Kollege Pronold, können wir meines Erachtens nicht durchgehen lassen. Es ist unsere Aufgabe als
deutsches Parlament, einzuschreiten und die Bundesregierung mit einer anderen Position auszurüsten, um den
Börsenplatz Deutschland zu stärken.
({9})
Ich möchte Ihnen zum Schluss noch ein Wort des
„Börsenpapstes“ André Kostolany mit auf den Weg geben. Er hat gesagt, dass in den 20er-Jahren in New York
an jeder Straßenecke aus Kaffeehäusern Banken gemacht wurden. Normale Finanzmarktarbeit sei erst dann
wieder zu machen, wenn aus den Banken, die vorher
Kaffeehäuser gewesen seien, wieder Kaffeehäuser würden.
Vor diesem Hintergrund freuen wir uns auf die Debatte mit Ihnen und wollen erneut zum Ausdruck bringen, dass wir durchaus in der Lage sind, unseren Antrag
den Entwicklungen auf europäischer Ebene anzugleichen und gemeinsam auf eine gute Wertpapierdienstleistungsrichtlinie in Europa hinzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/1564 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung
des Hochschulrahmengesetzes ({0})
- Drucksache 15/1498 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Minister
für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg, Professor Dr. Peter Frankenberg.
Dr. Peter Frankenberg, Minister ({2}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Bundesrat hat am 11. Juli 2003 den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes beschlossen und dem Bundestag zugeleitet. Dabei
handelt es sich um eine Initiative aller 16 Bundesländer.
({3})
Das Ziel ist die Verstärkung der Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen - primär die Universitäten - in Studiengängen mit bundesweitem Bewerberüberhang, bei denen bisher die Zuweisung der
Studierenden an die Hochschulen über die ZVS erfolgte.
Warum sind wir - also alle 16 Bundesländer - für
eine verstärkte Auswahl der Studierenden durch die
Hochschulen? In der Lehre - gerade in der universitären
Lehre - muss die Verantwortlichkeit der Hochschulen
für die Studierenden gestärkt werden. Notwendig ist
auch eine bessere Betreuung bzw. eine bessere Betreuungsmentalität. Dies beginnt für die Hochschulen mit
der Auswahl ihrer Studierenden.
({4})
Gerade in unseren Universitäten sind die Abbrecherquoten viel zu hoch. Diese Quoten zeigen, dass es zu
viele Studierende gibt, die entweder für die entsprechenden Studiengänge nicht motiviert oder nicht dafür geeignet sind. Es zeigt sich, dass das Abitur als alleiniges Prognoseinstrument für ein erfolgreiches Studium nicht
ausreicht.
({5})
Die Unterschiedlichkeit der schulischen Qualifikationen und die immer stärkere Ausdifferenzierung der
Minister Dr. Peter Frankenberg ({6})
Studiengänge machen es notwendig, die Passgenauigkeit
zwischen der Befähigung der Studierenden und dem Angebot der Hochschulen zu verbessern. Das Abitur bleibt
in unserem Gesetzentwurf ein wesentliches Kriterium.
Es geht aber nicht nur um die Studierfähigkeit, sondern
auch um die Berufsfähigkeit.
Durch den Numerus clausus ist eine Mentalität der
permanenten Notenverbesserung an unseren Schulen
entstanden. Aber man muss sich doch fragen, ob ein
Abiturient, der das Abitur mit 1,0 bestanden hat, schon
damit für das Medizinstudium geeignet ist. Es mag zwar
sein, dass er das Studium gut bewältigt, aber wird er
dann auch ein guter Arzt? Das kann eben nicht allein
über das Abitur festgestellt werden.
({7})
Für die Studierenden bedeutet die verstärkte Selbstauswahl der Hochschulen, dass sie sich in ihrem Studienwunsch und in ihrer Qualifikation noch einmal selber überprüfen können. Wir, die Länder, legen zwei
Modelle vor. Wir haben sie aufeinander abgestimmt; sie
sind zeitlich getaktet. Den Studierenden wird kein Nachteil daraus entstehen, dass es zwei Modelle gibt.
Das eine Modell ist mit dem Namen Baden-Württemberg verbunden: Vorab vergeben die Hochschulen
50 Prozent der Studienplätze an Studierende, die sie
selbst auswählen. Weitere 25 Prozent der Studienplätze
werden an die Abiturbesten vergeben. Die übrigen
25 Prozent werden nach den bisherigen ZVS-Kriterien
vergeben.
Das so genannte Nordrhein-Westfalen-Modell beginnt mit 25 Prozent der Studienplätze, die an die Abiturbesten vergeben werden. Dann folgt die 25-prozentige
Selbstauswahl durch die Hochschulen. Die übrigen
50 Prozent werden durch die ZVS vergeben.
Warum sollen in Deutschland nicht unterschiedliche
Verfahren, die aufeinander abgestimmt sind, zugelassen
werden? Nach fünf Jahren könnte evaluiert werden, welches Instrument wie gewirkt hat.
Die Kultusministerkonferenz hat sich in diesem Punkt
als funktionsfähig erwiesen. Wir haben uns in einem einstimmigen Beschluss auf diese beiden Modelle geeinigt.
Die Umsetzung dieses Vorhabens wäre ein großer Schritt
vorwärts für die Autonomie der Hochschulen und die
Verbesserung der Lehrsituation an unseren Hochschulen.
({8})
- Sie sagen es, Herr Rachel. Ich wollte gerade zu den
Kritikpunkten der Bundesregierung kommen. Es scheint
fast, dass wir uns abgestimmt haben.
({9})
- Richtig, das ist reiner Zufall.
Die Bundesregierung behauptet unter anderem, die
Quote sei zu gering. Aber eine 50-prozentige Auswahlquote ist im Vergleich zu der bisher nicht existierenden
vorrangigen Auswahlquote ein großer Schritt nach vorne.
Die Bundesregierung macht sich übrigens viele Argumente von Baden-Württemberg zu Eigen. Wir haben bei
den Verhandlungen über den Kompromiss auf der Kultusministerkonferenz nicht alles erreicht. Aber wir halten
den nun vorliegenden Kompromiss für sehr vernünftig.
Ein anderer war zwischen den Ländern nicht erreichbar.
Es wird des Weiteren darauf hingewiesen, die Abgewiesenen könnten über das zweite Verfahren dennoch
aufgenommen werden. Das ist rechtlich kaum anders
machbar. Wenn man aber zu 50 Prozent die Bestgeeigneten ausgewählt hat, dann kann man vielleicht auch tolerieren, dass der eine oder die andere, der bzw. die vorher
abgewiesen worden ist, doch noch studiert.
Außerdem wird gefragt, warum nicht auch diejenigen
Studiengänge in ein solches Gesetz einbezogen würden,
bei denen es keinen bundesweiten Bewerberüberhang
gibt. Ich mache darauf aufmerksam, dass wir es hier mit
einem Rahmengesetz zu tun haben. Warum soll ein solches Gesetz etwas regeln, was gar kein bundesweites
Problem ist? Für landesweiten Bewerberüberhang gibt
es in den jeweiligen Ländern längst entsprechende Regelungen. So gibt es auch in Baden-Württemberg eine entsprechende Selbstauswahlgesetzgebung.
Es wird auch gefragt, warum die Detailkriterien nicht
geregelt seien. Das ist eine typische Fragestellung für ein
zum Teil zur Überregulierung neigendes System.
({10})
Wir wollen den Hochschulen doch gar keine Detailregelungen vorgeben. Es gibt zwar einen Grundsatzbeschluss,
dessen Eckpunkte in die jeweiligen Landesgesetzgebungen gefasst werden müssen. Aber die Hochschulen werden nach eigenen Detailkriterien auswählen müssen. Eine
juristische Fakultät der Universität A kann andere Primärkriterien festsetzen als die der Universität B. Wir wollen damit den Wettbewerb der Hochschulen stärken. Wir
wollen keine Gesetzgebung, die alles so gleichmacht,
dass sich gleich nicht Professoren, sondern Computer mit
der Auswahl beschäftigen könnten.
Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass man erst
den Beschluss des Wissenschaftsrates abwarten müsse.
Der Wissenschaftsrat ist genauso wie die HRK für eine
verstärkte Selbstauswahl der Studierenden.
Manche fragen dann noch, wer das machen solle. Ich
glaube, die vorlesungsfreie Zeit in unseren Universitäten
ist lang genug, dass sich Professorinnen und Professoren
zwei Wochen lang mit der Auswahl der Studierenden beschäftigen können.
({11})
Das lohnt sich, weil man dann die besten Studierenden
hat.
Machen Sie den Weg für die Initiative der
16 Bundesländer frei! Das, was wir hier gemacht haben,
ist ein Ausweis positiven Föderalismus. Gehen Sie mit
uns den Weg der Verbesserung der Lehrsituation an den
Hochschulen! Der jetzt vorgeschlagene erste Reformschritt ist groß genug. Wir, das heißt Baden-Württemberg, wären sicherlich weiter gegangen. Aber wir sind
Minister Dr. Peter Frankenberg ({12})
froh, dass die übrigen Länder wenigstens die Hälfte unseres Weges gegangen sind. Treten Sie mit uns, den
16 Ländern, für eine entscheidende Verbesserung unseres Hochschulsystems ein!
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Christoph Matschie.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Initiative des Bundesrates zur Ausweitung der Auswahlrechte der Hochschulen begrüßen wir in ihrer
Zielstellung.
({0})
Ich glaube, dass das sinnvoll ist. Die Hochschulen fordern dies übrigens schon seit Jahren. Der Bundesgesetzgeber hat schon in der vierten Novelle zum HRG von
1998 erstmalig Auswahlrechte eingeräumt. Allerdings
müssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen, Herr
Kollege Frankenberg, warum die Hochschulen bisher
nur in Ausnahmefällen von ihren Rechten Gebrauch machen. Ich werde auf diese paradoxe Situation gleich noch
zurückkommen.
Welchem Zweck soll das Auswahlrecht der Hochschulen beim Zugang dienen? Wir sind der Meinung,
dass es uns um die Steigerung der Leistungsfähigkeit
des deutschen Hochschulsystems und insbesondere um
den Wettbewerb der Hochschulen gehen muss, der dabei unverzichtbar ist. Dazu gehört die Profilbildung in
der Forschung, aber auch in der Lehre. Im Bereich der
Lehre sind die bundesweit geltenden Rahmenprüfungsordnungen aufgegeben worden. Es gibt nun eine Akkreditierung der Studiengänge, die Profilbildung ermöglicht und die sehr viel differenzierter die Situation der
jeweiligen Hochschule sowie die Zielstellungen widerspiegeln kann. Damit - das sehen wir ganz genauso kommt natürlich auch der Auswahl des Hochschulstandorts eine größere Bedeutung als bisher zu.
Wettbewerb im Bereich der Lehre bedeutet aber nicht
nur Profilbildung bei den Angeboten, sondern auch
Wettbewerb der Hochschulen um möglichst leistungsstarke Studienbewerber. Auch dieser Wettbewerb muss
möglich sein.
Die KMK hat sich im März auf Eckpunkte verständigt. Aus diesen Eckpunkten ist ein Gesetzentwurf geworden, der jetzt vorgelegt worden ist. Ich bedaure ausdrücklich, dass der Bund bei der Erarbeitung der
Eckpunkte und des Gesetzentwurfs nicht einbezogen
worden ist.
({1})
Es wäre gut gewesen, wenn wir in dieser Frage von
vornherein zusammengearbeitet hätten.
({2})
Auch wenn wir uns im Ziel der Neugestaltung des
Hochschulzugangs einig sind, hat sich die Bundesregierung gegen den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung ausgesprochen. Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Wir sind der Überzeugung, dass die Verfahren, die Sie
gewählt haben, nicht wirklich praktikabel sind. Dafür
möchte ich einige Gründe nennen:
Erstens. Sie haben die Abbrecherquoten angeführt.
Wenn man das Problem der Abbrecherquoten angehen
will, dann muss man, glaube ich, die gesamte Studieneingangsphase in den Blick nehmen. Dazu gehört die
Zulassung. Dazu gehört aber mehr. Dazu gehört die Ausgestaltung der Eingangsphase, beispielsweise mit verbesserten Studienbedingungen und verbesserter Studienberatung.
({3})
Wenn wir über eine verbesserte Eingangsphase und
über die Auswahl reden, dann sollten wir nicht nur über
die zulassungsbeschränkten Studiengänge reden. Vielmehr - davon bin ich überzeugt - müssen wir über alle
Studiengänge reden, wenn wir über den Hochschulzugang und die Auswahl von Studienanfängern reden.
({4})
Der Wissenschaftsrat - das ist schon erwähnt worden - erarbeitet zurzeit Empfehlungen für eine umfassende Neuordnung des Hochschulzugangs. Ich kann
beim besten Willen nicht verstehen, warum Sie nicht bereit sind - Sie haben es auch heute nicht erklären
können -, diese Empfehlungen des Wissenschaftsrats,
die Anfang kommenden Jahres vorliegen werden, abzuwarten. Warum können wir nicht gemeinsam auf der Basis der Empfehlungen des Wissenschaftsrats an diese
Aufgabe herangehen und eine vernünftige Eingangsphase für das Studium gestalten?
({5})
- Herr Rachel, weil Sie so dazwischenrufen, sage ich Ihnen: Die Länder sind an dieser Arbeit des Wissenschaftsrats beteiligt. Trotzdem legen sie einen eigenen
Entwurf vor, bevor der Wissenschaftsrat seine Arbeit beendet hat.
({6})
Ich finde das zumindest nicht logisch.
Zweitens. Die Hochschulen haben sich bei dem bisherigen Verfahren darüber beklagt, dass Bewerber, die von
ihnen im Auswahlverfahren abgelehnt wurden, im weiParl. Staatssekretär Christoph Matschie
teren Zulassungsverfahren plötzlich doch in der Hochschule ankommen.
({7})
Das Modell, das Sie uns präsentiert haben, hilft an dieser
Stelle überhaupt nicht weiter; im Gegenteil: Es wird
dazu führen, dass die eine Hälfte ausgewählt und die andere Hälfte wieder nach dem üblichen Zulassungsverfahren zugeordnet wird. Damit sind die, die abgelehnt
worden sind, in aller Regel trotzdem in der Hochschule.
Dann fragt sich jede Hochschule: Warum mache ich
überhaupt ein Auswahlverfahren, wenn ich am Ende die
Studenten, die ich abgelehnt habe, doch in der Hochschule habe?
Drittens. Ein erleichtertes Auswahlrecht - die Hochschulen nehmen das Auswahlrecht bisher nicht wahr,
weil es für sie zu kompliziert ist - setzt praktikable
Auswahlverfahren voraus. Dazu sagt Ihr Gesetzentwurf
überhaupt nichts. Auch das bedauere ich sehr. Damit
wird an dem Problem, das die Hochschulen jetzt haben,
nichts geändert.
Im Übrigen ist ein Vorziehen des Bewerbungsschlusses zur Problemlösung allein nicht ausreichend. Die
meisten Bewerber verfügen zu dem Zeitpunkt noch nicht
über das Ergebnis der Abiturprüfung.
Viertens. Der Verzicht auf Regelung der Kriterien
für die Auswahl ist aus meiner Sicht auch verfassungsrechtlich problematisch; denn er führt zu 16 unterschiedlichen Auswahlregelungen in den 16 Ländern, die für die
Bewerber eigentlich kaum noch überschaubar sind. Wir
wollen aber einen überschaubaren und klar definierbaren
Zugangsweg. Den können Sie mit Ihrem Modell nicht
anbieten.
Ich komme zum Schluss. Die Bundesregierung wird
sich dafür einsetzen, dass wir möglichst schnell zu einer
durchdachten Neugestaltung des Hochschulzugangs
kommen.
({8})
Für mich sind dafür drei Bedingungen ausschlaggebend:
Das Auswahlverfahren muss gerecht sein. Es muss für
die Hochschulen praktikabel und es muss für die Bewerber leicht durchschaubar sein.
Ich glaube, dass wir auf der Grundlage der Empfehlung des Wissenschaftsrates zu einem entsprechenden
Modell kommen können. Ich fordere Sie noch einmal
auf: Versuchen Sie, ein solches Modell mit uns gemeinsam zu entwickeln! Die Hochschulen werden es uns danken.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Hartmann,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir brauchen in Deutschland eine grundlegende
Hochschulreform. Unser Bildungssystem ist auch im
Hinblick auf das Studium von Bürokratisierung und
staatlichen Eingriffen geprägt. Wir brauchen ein anderes
Bildungssystem, das einen wirklichen Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen ermöglicht, das die
Verantwortung auf die Schulen sowie auf die Hochschulen überträgt und das es nicht bei der Kultusbürokratie
belässt.
({0})
Wir brauchen eine autonome Verantwortung und
Profilbildung der Hochschulen. Wer dazu aber Ja sagt,
der muss den Hochschulen die Möglichkeit geben, sich
die Studenten selbst auszusuchen, und er muss auch den
Studenten die Möglichkeit geben, sich ihre Hochschule
selbst auszusuchen. Das kann die ZVS nicht leisten. Wer
dazu Ja sagt, der muss den Gesetzentwurf des Bundesrates ebenfalls begrüßen.
Wir sind uns durchaus bewusst, dass das nicht der
Weisheit letzter Schluss ist. Es reicht uns, der FDP, nicht,
dass sich die Hochschulen - je nach Modell - 25 Prozent
bzw. 50 Prozent der Studenten aussuchen dürfen. Wir
hätten uns mehr gewünscht; aber es ist immerhin ein
Schritt in die richtige Richtung.
({1})
Herr Staatssekretär, das ist besser als gar kein Schritt;
deswegen müssen Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({2})
Alle Gegenargumente, die Sie hier vorgebracht haben, überzeugen nicht; denn wenn wir uns über das Ziel
einig sind, dann sollten wir heute beginnen und die Reformen nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag oder auf
das nächste Jahr verschieben. Wenn die von Ihnen regierten Länder zugestimmt haben, müssen wir das, was
Sie auch in diesem Haus gesagt haben, als reine Verzögerungstaktik entlarven.
({3})
Wir müssen die Nachfragemacht der Studentinnen
und Studenten und die Verantwortung der Hochschulen
stärken; denn wenn Studierende wirklich entscheiden
können, an welcher Hochschule sie studieren, dann bekommen wir, was wir brauchen: einen Wettbewerb der
Hochschulen um möglichst qualifizierte Studierende.
Nur wenn das Hochschulrahmengesetz grundsätzlich
reformiert wird, können sich die Hochschulen wirklich
ohne bürokratische Regelungsdichte entfalten. Wir brauchen - auch zur Finanzierung der Hochschulen - Marktmechanismen. Wir sind für eine Verschiebung der Kompetenz, aber nicht hin zu den Bürokratien der Länder,
sondern hin zu den Hochschulen.
({4})
Wer zu einer wettbewerbsfähigen Hochschullandschaft wirklich Ja sagt, der muss den Schritt zur
Christoph Hartmann ({5})
autonomen Verantwortung der Hochschulen gehen. Dieser Gesetzentwurf ist ein - wenn auch nur kleiner Schritt in die richtige Richtung; deswegen ist er zu unterstützen.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Grietje Bettin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Lage an den Hochschulen ist wirklich
schlecht: Es fehlt an Personal; es fehlt eine vernünftige
Qualitätssicherung; in Deutschland herrscht ein echter
Akademikermangel; auch die Studienabbrecherquote in
Deutschland ist enorm hoch.
({0})
Wir müssen unsere Politik - übrigens im Bund wie im
Land - daran messen lassen, ob es uns gelingt, diese zukunftsgefährdenden Probleme, die wir alle, wie ich
denke, gleich einschätzen, gemeinsam zu lösen. Das ist
auch die Messlatte, die wir an das Hochschulrahmengesetz anlegen müssen. Das gilt insbesondere für das Recht
der Hochschulen, einen Teil ihrer Studierendenschaft
selbst auszuwählen. Ein solches Recht hat viele Vorteile:
Die Hochschulen können so die geeignetsten Bewerberinnen und Bewerber für ein Studienfach auswählen.
Das sind nicht immer jene Schülerinnen und Schüler, die
die beste Abiturnote haben.
Für ein solches Auswahlrecht müssen aus unserer
Sicht aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
Erstens. Das Auswahlrecht darf auf keinen Fall Menschen von einem Studium abschrecken oder abhalten.
({1})
Im Gegenteil: Wir wollen, dass mehr Menschen ein Fach
studieren, das ihren jeweiligen Begabungen entspricht.
({2})
So können wir die Abbrecherquote senken und das Niveau der Hochschulen insgesamt heben.
Zweitens. Das Auswahlverfahren verlangt einen enormen organisatorischen, zeitlichen und finanziellen Aufwand, vor allem aber erfordert es fachliche Sorgfalt. Das
alles aber gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn durch das
Auswahlrecht Aufgaben von der ZVS an die deutschen
Hochschulen verlagert werden, müssen auch die finanziellen Mittel entsprechend umgelegt werden. Eine Regelung bezüglich der Kompensation dieser Kosten fehlt
aber in dem Vorschlag des Bundesrates, den wir hier
heute diskutieren. Im Gegenteil: Die zusätzlichen Kosten werden ausdrücklich den Unis und Fachhochschulen
aufgedrückt.
({3})
Mit solchen unausgegorenen Konzepten führen Sie die
ganze Idee des Auswahlrechts ad absurdum, gerade auch
aufgrund der großen Personalkrise an den Hochschulen.
({4})
Sollten die Vorschläge des Bundesrates Wirklichkeit
werden, besteht die Gefahr, dass die Universitäten und
FHs bei der Auswahl ihrer Studenten auf Schmalspurlösungen setzen, um den Aufwand möglichst gering zu
halten. Die Hochschulen würden somit gezwungen, nur
auf formale Gesichtspunkte wie etwa die Abiturnote zu
setzen; das wurde ja schon angesprochen.
({5})
Bei der Auswahl der Studierendenschaft sollte aber
nur die tatsächliche Eignung der Bewerberinnen und
Bewerber zählen. Die Eignung erwirbt man aber nicht
nur im Schulunterricht. Gerade Aktivitäten jenseits der
Schule führen häufig zu einem fundierten Berufswunsch. Wenn eine Abiturientin mit dem Notenschnitt
2,6 schon lange begeistert als Sanitäterin beim Roten
Kreuz arbeitet, sollte sie eher Medizin studieren dürfen
als ein Einser-Abiturient, der kein Blut sehen kann.
({6})
Wenn solche Kriterien nicht Inhalt eines Auswahlverfahrens werden, dann brauchen wir die ganze Reform meiner Meinung nach nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein neues Auswahlrecht für Hochschulen sehen wir Grüne als weiteren
Schritt in Richtung Autonomie der Bildungsinstitution
Hochschule. Deshalb muss das Auswahlrecht ein Recht
bleiben. Wenn, wie in Baden-Württemberg, dieses Recht
zur Pflicht gemacht wird, dann bekommen wir Bürokratie statt Autonomie.
({7})
Wir Grüne wollen, dass die Fachbereiche selbst festlegen, ob und nach welchen Kriterien die besten Studierenden für ihre jeweiligen Studiengänge ausgewählt
werden sollen. Diese Kriterien müssen für Bewerberinnen und Bewerber offen einsehbar und überprüfbar sein.
({8})
Landeskinder dürfen durch die Kriterien weder bevorzugt noch benachteiligt werden und das AuswahlverfahGrietje Bettin
ren muss für die Bewerberinnen und Bewerber kostenlos
sein.
Ein Auswahlrecht kann aber nicht die einzige Maßnahme bleiben. Wir brauchen
({9})
insbesondere schon in der Schule eine bessere Vorbereitung auf die Studien- bzw. Berufswahl. Unser Bildungssystem muss auch für Begabte ohne Abitur durchlässiger
werden.
({10})
Warum soll der talentierte Krankenpfleger von seiner
Oberärztin nicht zum Auswahlverfahren für ein Medizinstudium vorgeschlagen werden können?
({11})
Es geht uns dabei nicht darum, das Abitur abzuwerten.
Es muss seinen Status als allgemeine Studienberechtigung beibehalten. Es muss uns darum gehen, die Begabungsreserven in Deutschland zu erschließen. Die
Öffnung des Studiums für beruflich Qualifizierte ist
hierbei ein erster sehr wichtiger Schritt;
({12})
ein effektives Auswahlverfahren der Hochschulen ein
zweiter. Der Wissenschaftsrat wird hierzu Anfang
nächsten Jahres ausführliche Vorschläge machen.
({13})
Erst danach sollten sich Bund und Länder zusammensetzen, um gemeinsam die beste Lösung zu finden.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Rachel,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die freie Auswahl der Studenten ist die dringlichste
Hochschulreform in Deutschland.
Das empfiehlt Gerhard Casper, emeritierter Präsident der
Stanford University. Casper wörtlich:
Universitäten sollen selbst entscheiden, wen sie für
geeignet halten.
Doch in Deutschland herrscht bei den NC-Fächern bislang staatlicher Dirigismus. Nur die privaten Hochschulen dürfen ihre Studierenden selbst aussuchen. Die öffentlichen Hochschulen hingegen haben einen viel zu
engen Gestaltungsspielraum.
Die bestehende Praxis wird weder den Interessen der
Studienbewerber noch den Interessen der Universitäten
gerecht.
({0})
Deshalb muss die Verteilung von Studienplätzen in den
zulassungsbeschränkten Studiengängen durch die ZVS
dringend reformiert werden. Die Unionsfraktion begrüßt
daher die Initiative der Kultusministerkonferenz unter
Führung von Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen, das Auswahlrecht sowohl der Hochschulen als auch das der bestqualifizierten Bewerberinnen und Bewerber zu stärken. Herr Matschie, SPDgeführte Bundesländer wie Rheinland-Pfalz, NordrheinWestfalen und sogar Mecklenburg-Vorpommern sind dafür. Und Sie von der Bundesregierung? - Sie sitzen wieder einmal im Bremserhäuschen und sind dagegen.
({1})
Sie lehnen diesen Vorschlag mit fadenscheinigen Argumenten ab. Für Sie gilt der Satz des ehemaligen Präsidenten der Westdeutschen Rektorenkonferenz, Professor
Roellecke:
Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme
ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen:
die Gefängnisse und die Universitäten.
({2})
Diesen Zustand wollen Sie mit Ihrer Blockadehaltung
fortschreiben.
({3})
Die Bundesratsinitiative schlägt zwei sinnvolle Modelle
vor. Nach dem ersten Modell können die Hochschulen
vorab bis zu 50 Prozent der gesamten Studienplätze vergeben. Nach dem zweiten Modell vergibt zuerst die ZVS
25 Prozent der Studienplätze an die Abiturbesten. Danach vergeben die Hochschulen weitere 25 Prozent der
Studienplätze. Ihnen geht das angeblich nicht weit genug. Trotzdem machen Sie keinen eigenen Vorschlag.
Sie wollen in Wirklichkeit die Veränderungen auf die
lange Bank schieben. Wir wollen aber jetzt weg vom
staatlichen Dirigismus und hin zu einem individuell angelegten Auswahlverfahren.
({4})
Wir wissen dabei die Hochschulrektorenkonferenz an
unserer Seite; denn sie fordert, „dass die Neuregelung
nicht unnötig verzögert wird“.
({5})
Da sollte es in Ihren Ohren klingeln.
Von Ihnen, Herr Tauss, kommen in diesen Tagen nur
Tiefschläge für den Hochschulstandort Deutschland.
Erst kürzen Sie die Mittel für den Hochschulbau um
135 Millionen Euro, sodass es im nächsten Jahr keinen
Hochschulneubau in Deutschland geben wird. Seit
Sonntag setzen Sie dem Ganzen noch die Krone auf, indem Sie die Studienzeiten nicht mehr als Beitragszeiten
für die Rente mehr anerkennen wollen. Das ist ein Skandal und ein Tiefschlag für die Studierenden in Deutschland.
({6})
Sie bestrafen gerade diejenigen, die mit persönlichem
Einsatz in ihre Qualifikation investieren.
Heute haben Sie die Gelegenheit, Ihre Reformfähigkeit unter Beweis zu stellen. Nutzen Sie diese Chance!
Die Initiative des Bundesrates ist ausgewogen. Sie berücksichtigt die Interessen der Studierenden wie die der
Hochschulen. Auch die SPD-geführten Länder wollen
das und geben Rückenwind. Warum wollen Sie da nicht
mitmachen?
Der jetzt erzielte Kompromiss ist ein wichtiger Schritt
nach vorne. Denn alle Erfahrungen zeigen, dass Studenten besser motiviert sind, wenn sie sich ihren Studienplatz selbst aussuchen können und nicht von der ZVS
gegängelt werden.
({7})
Was ist besser für Universitäten und Fachhochschulen
als motivierte Studierende? Motivierte Studenten heißt
auch weniger Studienabbrecher.
Die Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen ist
eine zentrale Voraussetzung für ein wettbewerbliches und
international konkurrenzfähiges Hochschulsystem. So
machen wir die deutschen Hochschulen stark im Wettbewerb um die besten Köpfe und diesen müssen wir angehen.
({8})
Durch die Zuweisung an eine Hochschule durch die
ZVS wird den Studenten heute eine Entscheidung über
die Einschreibung praktisch genommen. Das ist planwirtschaftliche Zuteilung, die wir beenden wollen. Dafür wird die ZVS ihr Profil ändern müssen. In Zukunft
sollte sie sich als Serviceeinrichtung der Universitäten
gerade bei Mehrfachbewerbungen engagieren. Es muss
damit Schluss sein, dass überbesetzte Ministerialverwaltungen die Hochschulen „mithilfe von Kaskaden von
Verordnungen und Verwaltungsvorschriften wie nachgeordnete Behörden behandeln“. So Klaus Landfried bei
seiner Verabschiedung als Präsident der Hochschulrektorenkonferenz.
Geben Sie den Hochschulen deshalb die Chance zur
Profilbildung und zur Qualitätssteigerung durch Wettbewerb! Wenn Sie schon nicht selbst die Initiative ergriffen
haben, dann geben Sie den Hochschulen wenigstens mit
der Initiative des Bundesrates mehr Freiheit! Machen Sie
endlich Ernst mit der Stärkung des deutschen Hochschulstandortes! Stimmen Sie der Bundesratsinitiative zu!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute
Berg, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im wahren Leben habe ich häufiger einmal das letzte
Wort, im Parlament heute zum ersten Mal; das ist auch
ganz schön.
Es ist schon erstaunlich, welche Schwierigkeiten bei
Entscheidungen auftreten können, bei denen doch letztlich alle - das unterstelle ich jetzt einmal - dieselben
Ziele haben: Bund, Länder und Hochschulen wollen den
Hochschulstandort Deutschland voranbringen. Alle wollen, dass die Zulassung zum Hochschulstudium neu geregelt wird.
({0})
Alle sind sich einig, dass die Hochschulen mehr Autonomie brauchen, um institutionell gestärkt zu werden, eigene Profile zu entwickeln und im Wettbewerb bestehen
zu können. Alle wollen - folgerichtig -, dass Hochschulen in der Lage sind, einen Teil ihrer Studenten selbst
auszusuchen. Darüber hinaus wollen alle, dass es den
bestqualifizierten Bewerbern und Bewerberinnen um einen Studienplatz ermöglicht wird, den gewünschten Studiengang und die gewünschte Hochschule auszuwählen.
Über die angestrebten Ziele besteht also keine
Uneinigkeit - über den Weg dorthin schon.
Der Bundesrat hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Vergaberegeln für bundesweit mit einem Numerus clausus belegte Studiengänge - nur auf
solche bezieht er sich - neu geregelt werden sollen. Der
Minimalkonsens, den die Länder gefunden haben, lautet:
Zwei Modelle stehen zur Auswahl - das so genannte
NRW-Modell und das Baden-Württemberger Modell und jedes Land soll nun selbst entscheiden können, welches Modell es einführen will.
Das ist wahrlich keine überzeugende Lösung. In einer
Zeit, in der unsere Bemühungen auf einen einheitlichen
europäischen Hochschulraum abzielen - Stichwort
Bologna-Prozess -, schaffen wir es noch nicht einmal innerhalb Deutschlands, in dieser Frage zu einer einheitlichen Lösung zu kommen.
({1})
Abgesehen davon ist es das erklärte Ziel des Bundesrates, dass über den Gesetzentwurf auch noch ganz
schnell und endgültig entschieden wird, damit der Start
des neuen Zulassungssystems mit dem Wintersemester
2004/2005 erfolgen kann.
Ist dieses Ziel aber realistisch zu erreichen? Wie sieht
es mit der konkreten Umsetzbarkeit aus? Das BadenWürttemberger Modell - es wurde gerade schon vorgeUte Berg
stellt - sieht vor, dass die Hochschulen in Fächern, die
bundesweit mit einem NC belegt sind, 50 Prozent ihrer
Studenten selbst aussuchen können. Zurzeit liegt dieser
Anteil bei 24 Prozent.
({2})
Die Hochschulen nehmen ihr Recht bisher nicht einmal
in diesem Umfang in Anspruch, weil sie vielfach noch
keine objektiven, transparenten und gerichtsfesten Kriterien entwickelt haben und/oder den Aufwand, den die
Auswahl von Studenten bereitet, insgesamt scheuen.
Von bundesweit 225 Fakultäten, die NC-Fächer wie Medizin, Psychologie oder Betriebswirtschaft anbieten, machen bis jetzt nur 31 von ihrem Recht Gebrauch, Studierende auszusuchen. Davon wählen die meisten einfach
nach dem Notendurchschnitt aus, weil sie - wie eben
schon erwähnt - sonst überfordert wären.
Angesichts dieser Situation sehe ich also keine Veranlassung, jetzt einen politischen Schnellschuss abzugeben, der womöglich an der Zielscheibe vorbeifliegt und
dabei auch noch Schaden anrichtet.
({3})
- Herr Rachel, Sie reden gerne - das weiß ich -, aber Sie
reden zu laut. Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie möchten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zum
Bundesrat strebt die Bundesregierung transparente bundesweite Regelungen an, die den Hochschulzugang für
sämtliche Bewerberinnen und Bewerber und in allen
Studiengängen regeln.
({4})
- Nein, es gibt noch keinen Vorschlag, weil wir nämlich
auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates warten.
Das ist auch sehr sinnvoll.
({5})
Der Wissenschaftsrat wird sich voraussichtlich im
Januar 2004 umfassend zur Frage des Hochschulzugangs
äußern. Er arbeitet zurzeit - wie Sie wissen - entsprechende Empfehlungen aus, damit angehende Studenten
den für sie geeigneten Studiengang wählen und - das ist
wohl das Hauptziel - erfolgreich absolvieren können.
Die Vorbereitung auf die Berufswahl schon durch die
Schulen, die Verbesserung der Studierfähigkeit - auch
der Herr Minister hat eben darauf hingewiesen -, die Zulassung zum „richtigen“ Studiengang und eine verbesserte Studieneingangsphase können eben nicht isoliert
betrachtet werden, sondern gehören in einen Gesamtzusammenhang. Dieser Tatsache trägt der Wissenschaftsrat
bei seinen Empfehlungen für eine Neuregelung des
Hochschulzugangs Rechnung.
Jetzt frage ich Sie: Warum um alles in der Welt sollen
wir jetzt, unmittelbar vorher, im Hauruckverfahren ein
Gesetz durchpeitschen, das alles andere als überzeugend
ist?
({6})
Warum sollen wir uns über die Empfehlungen des Wissenschaftsrates, eines wirklich hochkarätigen und allseits anerkannten Expertengremiums, einfach ignorant
hinwegsetzen?
Meine Fraktion jedenfalls plädiert dafür, dieses Gutachten abzuwarten und zu prüfen. Dann allerdings sollten sich der Bund und die Länder in einem zügigen Verfahren zu gemeinsamen Lösungen durchringen.
({7})
Es darf keine Hängepartie geben; da bin ich mit Ihnen,
Herr Rachel, einer Meinung. Denn das würde die Hochschulen und die Studierenden zu Recht frustrieren.
({8})
- Herr Hartmann, sehr richtig: Deshalb warten wir auf
eine fundierte Grundlage.
({9})
Meine Aufforderung an die Bundesregierung und an
die Länder nach der Vorlage der Empfehlungen des Wissenschaftsrates, also mit dieser fundierten Grundlage,
lautet: Es gibt viel zu tun. Packt es unverzüglich an!
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/1498 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. Oktober 2003,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.